Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Die neuen Serapionsbrüder. Erster Band#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
Fassung
2.5: Transfer von Text und Kommentar nach TEI
Letzte Bearbeitung
03.2022

Text#

Die neuen Serapionsbrüder.#

Roman in drei Bänden.#

Erster Band.#

1 Erstes Kapitel.#

Wie –? Was –? rief man von allen Seiten. Die Trottoirkrankheit –?

Eine neue Nervenkrankheit –? Unglaublich!

Erzählen Sie –! Berichten Sie!

Dieser lebhafte, unparlamentarisch geordnete Ausdruck der Neugier fand statt auf irgend einem Punkte der deutschen Landkarte, an einem norddeutschen Platze, dessen Namensursprung in’s graue Alterthum zurückgeht, wo die Menschen noch wie die Biber auf Pfählen hausten. Jetzt aber giebt es auch dort Steuern und herrliche Paläste genug, und eben scheint die Sonne gar traulich in eine Weinstube des neunzehnten Jahrhunderts. Sogar noch über das Jahrhundert hinaus erleuchtete Köpfe, andere freilich nach der Tagesmode immer nur zurück mit dem Affenursprung beschäftigt, Gelehrte, Beamte, gebildete Industrielle, begrüßten sich hier freundschaftlich 2 ohne Freundschaftszwang. Und das an jedem Morgen der alten Göttin des Mondes. Die Wände scheinen eher grau als grün zu sein. Letzteres sollten sie eigentlich. Aber die Cigarre entwickelt einen changirenden Farbstoff. Das Beste waren die vielen blankmessingnen Kleiderhaken, wo man nur hinsah. Da konnten sich die „Neuen Serapionsbrüder“, wie sich ganz gemüthliche, unverschworene, auf den Umsturz nicht einmal eines Weinglases ausgehende Menschen, in Erinnerung an den alten berühmten Erzähler E. T. A. Hoffmann, nannten, versammeln und keinen andern Zweck verfolgen, als mit jener Eile, welche in dieser Stadt selbst die Schnecke und das Aï, das Faulthier, gehabt haben würden, wenn diese Bewohner der Gärten oder der Aquarien moralischer Impulse fähig sein könnten, flüchtig ein Frühstück zu verzehren, es mit einem halben oder ganzen Schoppen eines höchst zahmen „Mosel“ hinunterzuspülen und nach kurzer Plauderei wieder in den „Kampf um’s Dasein“ zurückzukehren, der bei allen Bewohnern dieser Stadt, sogar den Renten- und Kapitalbesitzern, immerdar ein harter und beinahe die ausschließliche Lebensaufgabe geworden schien.

Daß dann auch noch am Montag die verheiratheten Ehemänner die Sonne ihrer beglückten Häuslichkeit in den Wendekreis der Wäsche treten sahen, daß am 3 Montag keine Zeitungen erschienen, vermehrte, ohne den Ehefrauen oder den Zeitungen zu nahe treten zu wollen, den Reiz dieser Zusammenkünfte nicht wenig.

In der That, Sanitätsrath Eltester hat gestern einen Vortrag über eine neue Krankheit gehalten, die Trottoirkrankheit – wiederholte ein auch in diesen Kreisen unvermeidlicher Commerzienrath.

Dem nun folgenden Fragestellen, dem Versichern eines belesenen Assessors, daß auch ihm ein ärztlicher Freund von einem gestrigen Vortrage Eltesters, den dieser im „Aerztlichen Verein“ gehalten hätte, im Vorüberfluge gesprochen (Alles hat hier Flügel, selbst die Freundschaft, woraus man nicht schließen darf, daß sie immer zu helfen bereit ist), beugte das in diesem Augenblicke erfolgende Eintreten des „Wolfes in der Fabel“ vor. Der kleine scharfblickende Sanitätsrath mit der stets lächelnden, das Sterbenmüssen versüßenden Miene kam nur auf wenig Augenblicke. Sein mit der neuesten medicinischen Journalistik zum Lesezimmer eingerichtetes elegantes Coupé ließ er vorm Hause halten, den Kutscher sich einer Lectüre über die eingemauerte Nonne von Krakau ergeben und erfreute sich der ein für allemal schon getroffenen Abkürzung an den Sitzungen der „Neuen Serapionsbrüder“, daß die Bedienung schon wußte, wie mäßig seine Bedürfnisse waren und über 4 Kaviar und einige Scheiben Lachs nicht hinausgingen. Um vom „Kutscher“ zu reden, der Glaube an den „Mosel“ des Wirths schien ansteckend. Auch für ihn wirkte der milde Trarbacher seiner Meinung nach medicinisch wie Aepfelwein. Die Stadt, wo wir uns so gemüthlich postirt haben, gilt für destructiv und sie ist es auch. Aber zu gleicher Zeit steht sie im Nachbeten am Fuß des Sinai. Moses kann herunterbringen, was er will; es wird geglaubt und befolgt.

Die Trottoirkrankheit! Sanitätsrath! Was ist es damit? begann Baurath Omma, ein Friese, den die neuesten politischen Veränderungen hierher verpflanzt hatten. Seine im Bau begriffenen Ideen inspicirte er nur zur hohen Mittagsstunde, wenn die strikesüchtigen Arbeiter im tiefen Schlummer lagen und ihre rebellischen Geister mit ihnen.

Lassen Sie ihn nur erst sich stärken! sagte ein berühmter Antragssteller, Stadtrath Pfifferling. Es wird von unseren Granittrottoiren die Rede sein, von der Nachsicht unserer Baupolizei, die da erlaubt, daß so viele Hausbesitzer eine Ewigkeit brauchen, bis sie sich entschließen, auch an ihren Gärten, Zimmer-, Holz- und Steinplätzen entlang nicht blos zu pflastern, sondern auch Trottoirs von Granitplatten zu legen und Menschenleben –

5 St! St! hieß es allgemein. Aber der Sanitätsrath hatte seine Stärkungsmittel noch vor sich und sah nur auf das Ende des langen mit grünem Wachstuch überzogenen Tisches und sprach: Hm! Die Zeitungen erscheinen ja heute nicht! Morgen wird der Bericht über die Trottoirkrankheit überall zu lesen sein! Wir reden und studiren und leben ja nur für die Presse –

Für die Oeffentlichkeit! verbesserten von einigen Seiten die Optimisten.

Meine Herren! begann der Sanitätsrath in aller Ruhe und mit seinem berühmten todtversüßenden sardonischen Lächeln. Ich habe einen Vortrag über Nervenleiden gehalten und dabei als Nachtrag zu unserm seligen Romberg bemerkt, daß jetzt das Leben in großen Städten gewisse Formen der Nervosität mit sich bringt, die man früher nicht gekannt hat. Wie die Börse Einfluß auf Nerven hat – nun das wissen Sie ja Alle!

Wie mit unbewußter Reflexbewegung zogen einige der Anwesenden die Uhr. Noch war die Börsenstunde in nicht zu naher Sicht. Der einzige Sohn Israels, der in dem Kreise nicht fehlte, Bankier Ascher Ascherson, behauptete, die Börse nur als Psycholog zu besuchen.

Die Vapeurs der Damen, fuhr der vielbegehrte Arzt fort, sind abgekommen! Das weibliche Geschlecht hat jetzt angefangen, sich weit mehr zu tummeln als 6 sonst, mehr dem Hause zu leben, zu reiten, in die Bäder zu gehen, Wein und Bier zu trinken! Ich höre da einige stille Seufzer – unterbrach sich der Sprecher mit trockenem, aber zündendem Humor und trank.

Man lachte . . .

Dem Idole der Frau von heute, dem Luxus und der Toilette, fuhr der gründliche Kenner so vieler Familien fort, kann die Tochter Eva’s nicht leben, wenn sie wie im vorigen Jahrhundert ewig seufzend und klagend in einer Sophaecke liegen wollte.

Manche verbinden doch noch Beides! bemerkte kleinlaut eine Stimme in der Gesellschaft zu allgemeiner Heiterkeit. Es war das dünne Stimmchen eines sich freiwillig meldenden Ehemärtyrers.

Aber wir sprechen zunächst von den Männern! fuhr der Sanitätsrath fort. Die Veränderung z. B. der Weinsorten, die man trinkt, hat ja auf die Abnahme des Podagra eingewirkt, das nur noch auf der Bühne existirt! Auf der andern Seite hat das Uebermaß an Kohlensäure, das man jetzt zu sich zu nehmen pflegt – die Unterbrechung: Champagner! und die Correctur: Sodawasser! verstanden sich von selbst – ich sage, dies Uebermaß, dazu dann die Cigarre haben wieder andere Krankheiten erzeugt. Bei uns hier – zu Lande kann man ja sagen, da wir bald eine Provinz bilden werden – haben wir 7 jetzt eine Krankheit, die von der unseligen Einrichtung unsrer Trottoirs herrührt! Wer diese Mode, vor den Häusern einen einzigen schmalen Streifen von vier Fuß Breite zur Passage zu bestimmen, eingeführt hat, zuletzt sogar polizeilich befahl, daß diese Steine gelegt werden mußten, verdiente als einer der größten Uebelthäter – sagen wir der Kürze wegen, da er ja doch begnadigt wird – gehängt zu werden!

Sie scherzen! rief man allgemein und sah auf einen jungen Mann, einen Händler mit Holz und solchen Steinen, wie sie genannt wurden, einen Herrn Canzianus.

In die Zweifel, in die Spannung, die zu mannigfaltigem Ausdruck kamen, hinein rief plötzlich eine aus vollster Brust ertönende sonore Baßstimme die nicht im mindesten ironisch, sondern ernst klingenden Worte: Ich selbst hänge den Kerl! Leider ist er längst todt!

Alles blickte auf den Sprecher. Es war ein vielgenannter Bildhauer. Seine stattliche Gestalt war überall bekannt. Jetzt konnte man diese kaum erkennen, da er wie gewöhnlich im „Montag“ zusammengekauert saß, den Kopf auf sein Weinglas gerichtet. Lang fluthete vom Haupte sein Haar. Es war schon silbergrau, wie vom Marmorstaub seines Ateliers bedeckt. Sein braunes Auge funkelte unter noch schwarzen Brauen. Die große 8 gewaltige rechte Hand, die mit Schwielen bedeckt war, lag auf dem Wachstuch des Tisches lang ausgestreckt.

Aber Althing! Althing! hieß es allgemein oder, wenn man mit dem meist schweigsam, nur aufhorchenden Manne nicht auf dem Fuß erlaubter Vertraulichkeit stand, „Herr Professor Althing!“

Der Herr Sanitätsrath hat das Wort! entgegnete der Bildhauer und deutete an, daß er das, was er selbst über diesen Gegenstand zu sagen haben würde, vorläufig in sich verschließen wollte.

Meines Bleibens wird heute nicht lange sein können, nahm Eltester wieder das Wort, nach der Uhr sehend, ich will mich kurz fassen. Sie kennen die Geschichte von Kants gestörter Sammlung, als dem großen Denker am Rock eines seiner Zuhörer ein Knopf fehlte. Er hatte sich gewöhnt, auf diesen während seines Vortrags zu blicken. Nicht minder bekannt wird Ihnen die Macht des Blickes überhaupt sein. Ein nervenschwaches weibliches Wesen vermag die durchbohrende Gewalt eines so zu sagen concentrirten Blicks nicht lange auszuhalten. Sie alle, als Ihrer Kraft bewußte Männer, werden darüber lachen, wenn Jemand behaupten wollte, es könnte Sie irgend ein scharfes Fixiren Ihrer Person irgendwo im Salon in eine Erregung, Verlegenheit, sichtliche Unruhe versetzen. Und wenn es geschähe, würden Sie 9 aufstehen, würden sich, dessen ganz unbewußt, etwas zu schaffen machen, nur um die magische Störung abzulenken. Das Auge ist beim Menschen thätiger als das Ohr! sagten schon die Alten. An Mimer’s Quell trank man Weisheit, mußte aber, wie Odin, Ein Auge zurücklassen! Nun, meine Herren, denken Sie sich eine Bevölkerung von nahe einer Million auf schmalstem Gangboden aneinander vorüberschreitender Menschen, Einer berührt den Andern. Zuweilen muß man warten, bis sich die langsam Gehenden verzogen haben! Auf die gepflasterte Fläche nebenan zu treten, liegt schon nicht mehr in der Uebung des Fußes, ja es hat sich eine gewisse Kunstfertigkeit ausgebildet, in Schlangenwindungen aneinander vorüber zu schlüpfen.

Alles blickte zu dem Bildhauer hinüber, der die Rede immerfort mit einem grellen Lachen, womit Bestätigung ausgedrückt werden sollte, begleitete.

Nun, fuhr Doctor Eltester fort, nun nehmen Sie die unerträgliche Neugier unserer Bevölkerung hinzu –

Wißbegier! verbesserten die Optimisten.

Auf diesem schmalen Trottoir, fuhr der Sprecher fort, sind alle Stände gemischt! Der in’s Bureau mit krampfhaft hochgezogenen Schultern eilende Geheimrath, die auf den Markt zusteuernde Köchin, deren umfangreicher Handkorb durch die zunehmende Höflichkeit 10 unserer Generation nicht im Mindesten eine Bewegung macht, anderer Leute Rippen zu schonen; der Arbeiter mit seinen eisernen spitzen Werkzeugen; die Maurer im Schurzfell, oft ihrer vier, ja sechs Mann hoch, Abends in „seliger“ Armverschränkung, Alles behauptet diesen schmalen Steg und die cupiditas rerum novarum, wie ich’s mit Cäsar nennen will, glotzt und starrt und stiert sich im Gehen an, und wer nicht gradezu stumpfsinnig ist, hat von jeder Miene irgend einen Eindruck, ein wenn auch noch so flüchtiges Interesse, einen Embryo von einem Gedanken. Jede Miene läßt ein Bild in unsrer Seele zurück. Die tausendfachen Lebensziele, denen Alles nachrennt, beirren uns in der Verfolgung unsres eignen, ja es geschieht wohl, daß gedankenlose lässige Naturen diese unausgesetzt wechselnden Eindrücke so stark auf sich wirken lassen, daß ihre Nerven darunter leiden, ihr ganzes Wesen überspannt wird. Statt durch diesen Wechsel, dies Ansehen und tausendfache Angesehenwerden, sich zu zerstreuen, überreizen sie sich. Und trägt nun gar Jemand irgend eine Bürde in seiner Seele, ein Familienleid, einen Irrthum, den er begangen, die Reue mit sich über falsche Schritte, die er gethan, oder sonst eine innere Reizbarkeit, so kann, wie schon ohnehin das Leben in großen Städten und die dichtgedrängten Bevölkerungen die Körperkräfte in Anspruch nehmen, dieser 11 einzige schmale Trottoirsteg durch ein Labyrinth, diese enge Gasse durch ein Bildermuseum die Nerven entweder unendlich abspannen oder überreizen. Ich habe einer Anzahl Damen meiner Praxis rathen müssen, sich eines Wagens zu bedienen, wenn sie Ausgänge zu machen haben. Andern, besonders Gelehrten und Börsenmännern, habe ich befohlen, nur Straßen zu passiren, wo sie ständig in der Mitte der Straße bleiben können. Meine Herren, Rückenmarks- und Gehirnirritation ist heutigen Tages kein leeres Wort!

Sie vergessen Eines, Sanitätsrath! ergänzte der erregte Künstler den mit lautlosem Staunen aufgenommenen Vortrag. Wenn man dann der Menge noch erscheint sozusagen wie ein bunter Hund! Wenn sie uns vielleicht auslacht, weil wir nicht Thorwaldsen heißen! Wenn sie uns angrinzt, weil ein Schulpedant ihnen gesagt hat, wir seien keine Schiller! Weil ein Kritiker über unsre Arbeit eine Pfeffersauce gegossen! Dann diese Mienen, dann diese dreisten, hochmüthigen: Wie geht’s Ihnen? Die Blicke von Augen, die alle Zeitungen lesen, die Alles wissen, Zungen, die Alles verbreiten –

Halt! Halt! unterbrach der wohlmeinende Arzt. Da hör’ und seh’ ich schon vollständige Trottoirkrankheit! Bester Herr Althing – Professor wollen Sie ja nicht 12 genannt werden. Sie wohnen im großen Park draußen und laufen täglich eine halbe Meile in die neue Kirche, die Sie mit ihren wunderschönen Basreliefs schmücken helfen! Kein Mensch denkt wahrhaftig an Ihren, wie Sie vielleicht glauben, verkannten Genius, an Ihren durch einen Zeitungsartikel geschmälerten Ruhm, aber Sie bilden sich’s ein, weil Ihnen auf dieser Promenade Tausende von Menschen in’s Gesicht gaffen müssen und das mit ganzer Schärfe thun. Nun erscheinen Ihnen die unschuldigsten Gesichter Fratzen! Und das Peinlichste ist Ihnen weit eher die gräuliche Gleichgiltigkeit für Ihr Wirken und Schaffen, als die Vorstellung, man wüßte noch etwas von dem witzhaschenden Feuilleton, das vielleicht eine Ihrer Arbeiten schlechten Einfällen opferte!

Der Sanitätsrath empfahl sich immer mitten in seiner Rede. Bald hörte man seinen Wagen abrollen. Die übrigen Genossen der Tischrunde bemühten sich, dem Bildhauer das Schönste über seine Leistungen zu sagen. Aber der Künstler hörte aus Allem nur einen Ton des Mitleids heraus. Wußten doch auch Alle, daß der vortreffliche Meister seine Laufbahn mit einem großen Unglück begonnen hatte. Er hatte eine Gruppe: „Amor und Psyche“ zur Ausstellung schicken wollen. Sie war noch im Thon, kaum getrocknet. Die ungeschickten Arbeiter ließen die Masse von dem Brett, auf dem sie 13 die allbewunderte Arbeit eines jungen Künstlers trugen, im Eingang des Ausstellungsgebäudes niedergleiten! Der nachfolgende Schöpfer stand vor einem Haufen Lehm. Seit dieser Zeit war ein krankhafter Zug in den trefflichen Mann gekommen. Später verheirathet, Familienvater, kämpfte er vielleicht mit Sorgen. Althing wurde in dem Montagskreise, so selten er kam, niemals übersehen. Seine Einsilbigkeit schien immer nur die Vorbereitung zu den zündendsten Gedanken, die zuweilen über seine Lippen polterten.

Während sich die Gesellschaft allmälig zerstreute, hatte sich Althing seiner Wohnung zugewendet und befolgte dabei heute gleich das vom Sanitätsrath empfohlene System der Isolirung. Er hielt sich an die Mitte der Straßen, obschon Wagenhindernisse, Schmutz und Geschrei auch hier dem Hypochonder genug entgegentraten.

Plötzlich wurde ihm an einem ziemlich frei und still gelegenen Platze von einem jungen Mann unter den Arm gegriffen, der ihn mit frischgerötheter Wange und treuherzigem Lachen in’s Antlitz sehend anredete: Guten Morgen, Papa! Wie geht’s? Warst wohl heute in Deinem Montag?

Ottomar –? Nicht im Gericht? Nicht bei Luzius? erwiderte der im Anschauen seines stattlichen Sohnes glückliche Vater.

14 Geschäfte überall –! antwortete Ottomar Althing, der junge Rechtskundige, der noch bei einem Advocaten arbeitete, des Bildhauers einziger Sohn, eine schlanke, einnehmende Erscheinung. Helene hieß des Künstlers einzige Tochter. Der Sohn wohnte nicht mehr bei den Eltern.

Was treiben nur Deine Serapionsbrüder eigentlich? fragte Ottomar mit heller, fester Stimme. Jeder trägt wohl eine Anekdote vor? Nicht wahr? Hast Du auch etwas erzählt? Aus Italien? Das Ganze ist à la Tieck oder E. T. A. Hoffmann? Oder habt Ihr andere Zwecke?

Tieck oder Hoffmann! Das ist für unsere Zeit vorbei! brummte der Alte. Schon eine Wohlthat, daß man nur überhaupt einmal unter Männern sitzen kann, die nicht ewig vom Reichstag, von Wahlen, Parteien, vom Hof, den kaiserlichen Reisen, den Paraden und den Theaterprinzessinnen erzählen. Bei Tieck, fuhr er im Gehen fort, während sich der Sohn traulich anschloß, hießen die Leute, die sich Geschichten vorlasen und dann ästhetisch besprachen, Eduard, Heinrich, Wilhelm, und ebenso bei Hoffmann. Hoffmann dachte an einen Mönch Serapion, der ein wunderlicher Bruder gewesen sein soll. Man versammelte sich auch nur Abends. Ich sehe noch 15 ein Mitglied dieser „Närrischen Leute“, einen Criminal-Director – als Eduard figurirte er in jenem Kreise! Der Mann schlenderte, die Arme auf dem Rücken, durch unsere Straßen, stand an jedem Schaufenster, das ihm auffiel, still und wäre jetzt als Bummler verrufen und ein Spott der Straßenjungen geworden. Damals wuchs Gras in unseren Straßen.

Man hatte keine Trottoirs –! fiel Ottomar bedeutungsvoll, wie von einem hohen Fortschritt des Jahrhunderts sprechend, ein.

Der Vater lächelte still und schwieg. Wozu Alles widerlegen! hieß ein Satz seiner Philosophie.

Inzwischen hatte der Sohn den Alten über einige Trümmerhaufen niedergerissener Häuser geführt. Man sah in neuprojectirte Straßen, stand unter alten, nun aufgehobenen Existenzen, hier neben einem blosgelegten Apfelbaum, der seither nur in einem Hinterhofe geblüht hatte, dort sah man noch die blautapezierte Stube eines Kutschers bei einem Grafen, dessen Palais der Erde gleichgemacht war.

Warum bist du gestern nicht zu Tisch gekommen? unterbrach sich bei diesen Betrachtungen der Alte. Den Sonntag bleibt ein Sohn seinen Eltern schuldig! Kinder, die Sonntags ihre alten Eltern vergessen –

16 Nun, nun, nun, nun –! unterbrach des Sohnes ruhige Rede das Poltern des Alten. Man hatte hier das eigenthümlich moderne Verhältniß: Zwei Generationen, die ihre Plätze wechselten. Die jüngere ist die ruhigere, die ältere die aufgeregtere. Der Sohn, nicht etwa phlegmatisch, im Gegentheil, eine strebsame, fleißige, weitblickende Natur, hatte den Krieg mitgemacht, trug ein Ehrenzeichen und war Offizier der Reserve. Der Vater dagegen war beinahe Phantast, zuweilen ganz unklar, doch blieb er liebenswürdig für den, der sich in den Grund seines Wesens vertiefen konnte; er war ein offnes Buch dem Sohne, seiner lieblichen Tochter, seiner edlen Gattin, ein Buch, in dem sie das Herrlichste und Beste lasen, während der Künstler gegen diesen Inhalt seines Herzens zuweilen protestirte, sich vielmehr aller Leidenschaften anklagte und eine wahre Hölle im Busen zu tragen behauptete. Seine drei Lebensgenossen lachten dann herzlich und noch immer war das Schicksal so hold und freundlich gewesen, daß alle ihre guten Voraussetzungen vom Leben und dem guten Willen der Menschen wahrgemacht wurden.

In einiger Entfernung lag ein alterthümlicher Palast. Siehe da! sagte der Sohn. In dem Palast da dinirte ich gestern! Graf Treuenfels, mein alter Studiengenosse, hielt mich fest den ganzen Tag! Den Abend war ich 17 bei meinem Principal wieder einmal zum Thee und Tanz. Es hat bis vier gedauert! Man setzt einen wahren Wetteifer darein, daß der eine Ball um soviel Minuten länger dauert als der andre!

Der Vater blickte nach dem bezeichneten Palais. Es hatte eine Aufgangstreppe. Am Fuße derselben stand in diesem Augenblick eine Art Stallmeister und ein Reitknecht, jener zu Pferde, dieser das seinige und ein mit Damensattel versehenes am Zügel haltend. Es war ein einziger Zaubermoment, daß die drei Rosse an’s Portal sprengten, eine junge Dame wie ein Zephyrhauch aus dem Hause schwebte und mit einem Satze auf die vom Reitknecht hingehaltene nervigte Hand sprang und sich quer in den Sattel warf, ihr langes hellgraues Reitkleid ordnend, den kleinen Cylinder fester auf die dunkeln Flechten drückend, das ganze Wesen Elastizität und Leben. Kein Stuhl, keine Umständlichkeit. Der Reitknecht genügte mit seinen angezogenen Armmuskeln.

Das ist ja beinahe plastisch! sagte der Vater. Wer ist die Dame?

Ottomar hörte nicht die Frage des Vaters, der mit Künstleraugen die schön modellirte Gestalt in sich aufnahm. In der energischen Situation, die Wangen geröthet von der Lust, das Feuer des glänzend schwarzen Arabers zu zügeln, hatten an der Dame die weichen 18 Formen des Kopfes und des Oberkörpers Nichts von ihrer reizenden Weiblichkeit verloren.

In leichtem Trabe flog die jugendliche Amazone an den Herren vorüber. Ein plötzliches Aufleuchten der Züge Ottomars, ein warmer Blick des Erkennens aus dunkeln, strahlenden Augen streifte den jungen Mann. Ein graziöses Neigen des schönen Kopfes erwiderte seinen ergebenen Gruß.

Erröthet, gefesselt verfolgte er das Wehen des Schleiers, bis die Erscheinung in der Ferne verschwand.

Der Vater erfuhr endlich, daß er Ada von Forbeck gesehen hatte, die Verlobte des jungen Grafen Udo Treuenfels. Wahrscheinlich hätte sie der alten Gräfin, die vor einiger Zeit Wittwe geworden, einen Besuch gemacht.

Das Debetur puero reverentia („vor Kindern soll man nichts Ungeziemendes sagen oder thun“) traf hier vollkommen ein. Auch der Bildhauer war erröthet, als er die Anmuth und den holdseligen Gruß beobachtete, der hier geboten wurde. Aber er war gefangen genug, zu sagen: Den Reitknecht möchte man beneiden!

Graf Treuenfels ist in Trauer! Wie konntest Du so lange bei ihm bleiben? fuhr er dann im Weiterwandeln zu dem ganz zerstreut und schweigsam gewordenen 19 Sohne fort. Dein unheimlicher Justizrath preßt Euch ja wie die Citrone Sonntags und Werktags aus.

Unheimlich? fuhr endlich der Sohn, den Vater unterbrechend, auf. Das könnte er doch nur durch die Brille erscheinen, die er trägt!

Oder durch meine! lachte der Vater. Er trug jedoch keine.

Luzius läßt uns, wenn wir es wünschen, jede Freiheit! entgegnete der Sohn. Ich bin sogar im Begriff, eben wieder zum Grafen zu gehen! Die Tante des Grafen, wie Du vielleicht weißt, eine geborne Prinzessin Rauden, will ihrem Gatten ein prachtvolles Denkmal setzen lassen. Es versteht sich von selbst, daß man die Bestellung nur bei Dir machen wird.

Da stand plötzlich der Vater still, sah sich um, ob Niemand Zeuge seines Unwillens war, und rief aus: Ottomar! Unterstehst Du Dich, mir solche Dinge –

Die Rede wurde gar nicht vollendet. Des alten Künstlers graue lange Locken schüttelten sich auf den Schultern. Sich anbetteln! rief er nach einer Weile aus. Zufällige Bekanntschaften ausnutzen! Pfui! pfui! Das ist nie meine Sache gewesen!

Papa, das wird Alles mit Anstand und Takt gemacht –! beschwichtigte der Sohn, sich nicht minder der Zeugen wegen besorgt umblickend.

20 Soll ich’s machen, wie meine Collegen? Antichambriren bei den Großen? Lauern, bis der Moment zum Portrait reif ist? Diese Sorte von Künstlern habe ich schon in Italien satt gehabt. Und wenn sie, wie Pompeo Marchese, vor Hochmuth über all’ ihre Ordenssterne mit der Nase an die wirklichen Sterne stießen! Freilich, die Modelieferanten schicken ja auch für jede Hochzeit, die sie nur von ferne wittern, schon ihre Preiscourante für die Ausstattung. So soll man sich jetzt rühren, um durchzukommen!

Und die Trauermagazine schicken die schönste Auswahl von Crèpe de deuil bei Sterbefällen! parodirte Ottomar und der Vater griff, sich stellend, als wenn er den Stock suchte, den er doch schon in der Hand hatte, um sich. Ein großer überwinternder Kirschlorbeerbaum stand dicht neben ihm. Seine Blätter glänzten im hellen Mittagsstrahl. Er zog die Hand zurück, weil sie ihn empfindlich stachen.

Ottomar war schon lachend davongesprungen. Noch aus der Ferne rief er: Papa, am nächsten Montag! Aber das Monument bekommst Du! Und zehntausend Thaler!

21 Zweites Kapitel.#

Das gräflich Treuenfels’sche Palais, welchem Ottomar Althing, den schönen braungelockten Kopf stolz im Nacken wiegend, zuschritt, indem er dabei theils nur an die schöne Reiterin, theils an das sonderbare Beiwort für seinen trefflichen Principal, Justizrath Luzius, „unheim­lich“ dachte, zeigte die Spuren des vorigen Jahrhunderts. Darunter manche, die wieder angefangen haben, für schön zu gelten. Die Zeit bewegt sich in der Form der Spirallinie. Wir sind durchaus nicht sicher, daß wir wieder auf den Zopf zurückkommen.

Graf Wilhelm Treuenfels, der kinderlose steinreiche Majoratsherr, war vor einigen Monaten mit schreckhafter Plötzlichkeit gestorben. Seine Gemahlin, eine geborene Prinzessin Ingenheim-Rauden, trauerte um ihn mit Beweisen ihrer Liebe, die man noch in dem mächtigen Treppenhause an den Amoretten und wunderlichen Laternenhaltern angebracht sah. Um die rothplüschnen Schnüre, an denen man sich beim Beschreiten der Stufen 22 halten konnte, einer neuern Zuthat zu dem zopfig imposanten Eintritt, waren Flöre und schwarze Bänder gewunden. Der Portier trug die Abzeichen der Trauer am Hut und Bandelier. Der Diener, der soeben den jungen Referendar Ottomar Althing begleitete, um ihn beim Grafen Udo anzumelden, nicht minder auf der Achsel. Ueber einigen der hohen Thüren hingen Immortellenkränze.

Ist sie noch sehr traurik die Excellenza Madame, sagte der Diener im gebrochenen Deutsch.

Der zu Meldende wußte schon, daß sich sein ehemaliger Universitätsgenosse während des großen Krieges zur See befand. Graf Udo, Neffe des Grafen Wilhelm, wollte die Marinecarriere einschlagen. Aber das gelbe Fieber befiel ihn in Valparaiso. Sein Oheim untersagte dem Genesenen die Fortsetzung seiner gefahrvollen Lauf­bahn und veranlaßte, daß Graf Udo, der die Rückreise noch nicht wagen durfte, in Valparaiso als Consul blieb und somit in die diplomatische Carriere trat. Seitdem kam er an größere Plätze, war schon öfter wieder in Europa in der Residenz, und eben erst von Lissabon gekommen, wo er dem Gesandten als erster Attaché beigegeben war. Er hatte sich einen Franzosen, ein Factotum der Legation, der seit Jahren in ausländischen Anschauungen leben mußte, einen Kosmopoliten ohne alle 23 Revanchegelüste, von den Ufern des Tajo mitgebracht, mit dem Versprechen, ihn nach Regelung der Hinterlassenschaft seines Oheims und nach dem Antritt des ihm zufallenden Majorats fast wie ein Staatsgut wieder zurückzubringen oder zurückzuschicken, falls er, wie seine Absicht war, die Staats-Carriere ganz aufgäbe.

Ist Baron Forbeck beim Grafen? fragte Ottomar.

Ottomar meinte den Bruder seiner reizenden Ama­zone, deren Gruß sich ihm wie ein Lichtbild auf die Tafel der Seele eingeprägt hatte.

Monsieur la Rose sprach bald portugiesisch, bald französisch, bald italienisch, bald etwas annectirtes Deutsch. Si! Si! hatte er gesagt und schon vernahm man ein lautes Peroriren, das dem sonstigen stillen Ton dieser Räume nicht entsprach. Die Frage beantwortete sich dadurch von selbst. Der Bruder Adas, Max von Forbeck, ein unangenehmer Gesell, war zugegen.

Der Franzose lobte die Lustigkeit des Barons und meinte: Es sein die gute Miene, die man muß maken zu der bösen Laune von Geschick –!

Durch ein großes, vorzugsweise durch eine mächtige in der Mitte auf einem Postament stehende Vase geschmücktes Zimmer hindurch kam man in die, früher ausschließlich vom Onkel, Grafen Wilhelm, bewohnt gewesenen Räume. Die Wittwe ließ Alles in thunlichster 24 Weise ganz in demselben Zustande, wie ihr heißgeliebter Gatte es so viele Jahre hindurch bewohnt hatte. Neben seinem geräumigen Arbeitszimmer befand sich das Cabinet, wo ihn, den rüstigen, in den ersten Sechszigen befindlichen Mann, der sogar jünger als seine Gattin war, der Tod ereilt hatte. Die Dimensionen, in denen hier Alles gehalten war, ließen an Ausdehnung Nichts zu wünschen übrig. Die Herbstsonne schien durch die schweren Fenstergardinen auf weichwollene Teppiche, die in den lebhaftesten Farben schimmerten.

Als Ottomar gemeldet und eingetreten war, begrüßte ihn Graf Udo ebenso in Gegenwart eines Dritten, wie gestern, als sie allein gewesen. Daran erkennt man die Menschen, wie sie es wahrhaft mit uns meinen. Im Kreise Anderer sich als dieselben wohlwollenden, gütigen Freunde zeigen, wie unter vier Augen, das ist die Probe der Aechtheit.

Mit zugekniffenen Augen und süßsaurer Freundlichkeit grüßte Baron von Forbeck. Auch er fing an, sich herablassend und im Junkerton der Studienzeit zu er­innern. Ottomar gab zu, daß sich Beide, wenn sie auch in verschiedenen Corps standen, ein Semester hindurch als Commilitonen hätten betrachten können. Ohne sich im Mindesten durch den Besuch stören zu lassen, setzte der in den Offizierstand Uebergegangene, der den Krieg 25 mitgemacht und dann plötzlich quittirt hatte (Andere sagten, quittiren mußte), Cigarrenwolken entsendend (Graf Udo bot dem Eingetretenen, nach gegenseitiger Vorstellung der sich seither Entfremdeten, die offene Kiste dar und schien wohl der Tante wegen erfreut, als Ottomar ablehnte und nicht rauchte, wie er selbst), Forbeck setzte, sagen wir, seinen Vortrag fort, der den Reminiscenzen an den Krieg galt: Nun, Sie haben ja auch die Campagne mitgemacht! sprach er zu Ottomar. Ich erzähle von unsern Champagnerjagden! Die auf einer Rothschild’schen Villa war geradezu famos! Wir wußten, daß, wenn im Keller Nichts zu finden war, irgendwo anders der Stoff gelagert sein mußte. Transport per Eisenbahn – da sagte ja überall die militärische Bahnverwaltung der Franzosen: Ist nicht! Na, Patrouillen ausgeschickt und nun Schnee oder Erde oder Moos untersucht, wo Verdacht! Richtig! In einer Einsiedelei, einem Ding, in das kein Mensch hineingekrochen wäre, weil Alles mit Fichten umstanden war und sozusagen geradezu gräulich aussah – auch wohl Franktireurs und offenbare Meuchelmörder drin verborgen sein konnten – kurz, unsere Jungens kriegten die Geschichte bald weg; die Kohlen über’m Boden fielen gleich auf und da hatten wir dann den klaren Epernay. Was nicht genossen wurde, zerschlugen die Bursche und so überall – leider war das Vergnügen 26 immer nur kurz. Es kam Alarm – wir mußten auf Posten.

Graf Udo, im schwarzen Trauerkleide vom Kopf bis zu den Füßen, ernst und sinnend, schlank wie Ottomar, aber hochblond und mit gelocktem Haar, machte eine düstere Miene.

Ottomar lächelte gezwungen und meinte: Die Germanen sind leider so! Für manche unserer Mitcombattanten hatte sich der Feldzug in eine großartige Verpflegungsfrage verwandelt! Die Lebensmittelanschaffung trat durch die allgemeine menschliche Natur immer in den Vordergrund!

Graf Udo sagte ernst: Wie schwungvoll muß der Geist der Mehrheit und der Führer in diesem Kriege gewesen sein, wenn die heilige Sache unter diesem Rückfall in unser altes germanisches Landsknechtwesen nicht gelitten hat –!

Na natürlich! war die platteste Zustimmung, wie man sie von Baron von Forbeck nur erwarten konnte.

Jetzt erst entdeckte Ottomar, daß auf einem Tische in einer Ecke eine Flasche Wein mit zwei Gläsern stand. Das eine Glas war voll und schien nicht angerührt. Das andere hatte dagegen unfehlbar die Absicht, den ganzen Inhalt der Flasche aufzunehmen. Doch der Franzose brachte schnell ein drittes Glas und wollte dies 27 für Monsieur Althing füllen, woran ihn jedoch dieser verhinderte.

Graf Udo schien in trüber Stimmung. Er runzelte die Stirn und sagte: Sie erinnern mich an mein Unglück, daß ich an dem herrlichen Kriege nicht habe theilnehmen können. Ich war gerade in der Südsee und wurde zum zweiten Male krank –! Meine Krankheit brachte mich immer tiefer in die Diplomatie. Wo ich Reconvaleszent sein mußte, sorgte mein guter Oheim dafür, daß ich es als Generalconsul war! Schade, die Erbschaft bringt mich wieder aus der Carriere heraus. Auch hält Ada alle Diplomaten für geborene Heuchler. Da werde ich diesen Weg aufgeben müssen und meinen Dank dem Staate leider nicht abtragen können.

Ada war des Grafen durch besondere Umstände testamentarisch verfügte Braut.

Graf Udo ging hin und her. Sein Aeußeres stellte eine von der Natur bevorzugte Persönlichkeit dar. Er glich dem zürnenden Sonnengott in jener Nische des römischen Belvedere, vor dem wir Alle mit der Frage gestanden haben: Was will der ernste Blick des so mächtig ausschreitenden Gottes sagen? Der röthlichblonde üppige Bart und das kurze helllockige Haar (Farbe des Bartes und des Haupthaares widersprachen sich) paßte freilich nicht zu dem antiken Bilde. Aber ein 28 eigenthümlich weicher Zug lag über den Augen. Eine kleine Hiebwunde aus akademischer Zeit (ihm beigebracht von – Ottomar Althing!) wurde an der freien offenen Stirn kaum bemerkt. Ein Hausfreund, Hofmaler Triesel, jener berühmte Künstler, der ganz so, wie ihn Althing gegeißelt, die Porträtirungsgelüste der hohen Herrschaften gleichsam abfing, ein Gourmand, der sich von Gastmahl zu Gastmahl zu laden wußte, sagte von diesem kleinen rothen Streifen einmal zur alten Gräfin, die auch den Grafen, ihren Neven, abgöttisch verehrte: Die Chinesen setzen allen ihren Kunstwerken absichtlich noch einen Fehler hinzu, als Zeichen, daß ihre großartigen Leistungen doch immer nur Menschenwerk seien! Der kluge Epicuräer (übrigens ein Hauptsprecher bei den neuen Serapionsbrüdern) schmeichelte der Dame, die an Bildern ihres Gatten einen Ueberfluß hatte und nun schon seit einigen Monaten von einer Statue und dem Mausoleum oder einem großen Grabdenkmal für die ganze Familie sprach. Bis zur Ankunft des Grafen Udo hatte das Alles vertagt bleiben sollen.

Die Gräfin war es denn auch, die eine Unterbrechung und Beendigung der lästigen Anwesenheit des Barons Forbeck herbeiführte, ein Erfolg, den sie durch ein leises Oeffnen einer hohen, mit Portièren verhängten Thür zu Stande brachte.

29 Die Tante hat eine Besprechung mit Herrn Althing! Nimm es nicht übel –! sagte Graf Udo, schenkte aber bei alledem seinem künftigen Schwager den Rest des Rüdesheimer ein.

Ich verhindere Nichts – wegen meiner – sagte der Baron, sein vom Wein geröthetes, gedunsenes Antlitz im Spiegel fixirend. Er schien andeuten zu wollen, daß Althing ja in die Zimmer der Excellenz, Gräfin oder Prinzessin Durchlaucht – die Anreden wechselten – eintreten könnte.

Die Besprechung muß hier stattfinden! unterbrach Graf Udo und blickte dabei im Zimmer um sich, und nun erst bemerkte Ottomar, daß ein großes Schreibbureau offen stand, daß Papiere, Briefschaften rings zerstreut lagen, einige Packete, wohlgeordnet, mit rothen oder grünen Seidenfäden zugeschnürt, Blechkapseln, Etuis. Forbeck mußte hier plötzlich eingetreten sein und den Grafen in einer Revision der Geheimnisse des Grafen Wilhelm überrascht haben. Gestern sah Graf Udo viel heiterer aus.

Na, dann auch gut! sagte Forbeck mit einem mißgünstigen Blick auf Ottomar, trank gewissermaßen gezwungen sein Glas mit einem Zuge aus und war mit einem Guten Morgen! verschwunden. Ein: Mama erwartet Dich jeden Abend sehnsuchtsvoll –! wurde noch 30 mit frivolem Ton unter der Thür zurückgeschleudert. Die Zunge lallte; der Graf begleitete den künftigen Schwager mit einigen Ausdrücken wiederholter Entschuldigung und bat, Grüße an die schöne Reiterin auszurichten.

Sie wissen vielleicht nicht, lieber Althing, begann der junge Graf zurückkehrend und den Angeredeten zum bequemen Sitzen auf den schwellenden Divan nöthigend, daß mich ein ganz eigenthümliches Schicksal an diesen – unter uns gesagt – unausstehlichen, erbärmlichen Menschen fesselt?

Ich erinnere mich nicht ganz, erwiderte Althing nach einigem Besinnen; wie sich denn dergleichen verwischt, wenn man nicht selbst daran betheiligt ist! Aber in die kurze Zeit, die ich mit Ihnen – in Bonn verbrachte, fiel ja auch wohl dieser böse Unglücksfall nicht –? – Unwillkürlich streifte des Grafen Hand die Stelle, über die eine scharfe Prime Althings gefallen war und die – dennoch Ursache ihrer Freundschaft geworden war.

Mein Onkel hat den alten Forbeck im Duell tödtlich verwundet und das Duell hat wegen meiner stattgefunden! erklärte Graf Udo. Ich selbst stand ja wie gegen Sie gegen diesen Forbeck auf der Mensur, nur mit dem Unterschied, daß wir Beide aus Corpsrücksichten los-31gingen, Forbeck aber mich persönlich beleidigt hatte. Die deutschen Universitäten sind ja dazu da, unsre rohen Sitten zu verewigen! Ich wurde schwer am Arm verwundet. Eine gewisse Steifigkeit ist geblieben. Mein Onkel, immerdar väterlich um mich besorgt, kommt nach Bonn. Der Zufall will, daß Forbeck’s Vater, General a. D. von Forbeck, auch zugegen ist. Die alten Herren erhitzen sich über uns, beleidigen sich und folgen dem Beispiele ihres Sohnes und Neffen! Die Waffe, das Pistol, war diesmal tödtlich. Der General wurde verwundet und starb. Es sind für mich, da mein Onkel das edelste Herz von der Welt besaß, daraus Verpflichtungen entstanden, die – doch davon ein andermal, unterbrach sich der Erzähler selbst, wie wenn er ver­meiden wollte, von etwas Unangenehmem zu reden. Das Nothwendigste, was wir jetzt zu verhandeln haben, lieber wieder aufgesuchter und gefundener Freund, fuhr er fort, ist, daß ich Sie meiner Tante zuführe und Sie mit ihr besprechen, wie wir Ihren Papa für das projectirte Grabmal erobern. Das hat die gute alte Excellenz schon ausgesprochen: Er muß die eheliche Treue verherrlichen – die Liebe über das Grab hinaus – den Glauben – oder – mit einem auffallenden Seufzer blickte Graf Udo nieder und stockte – den Wahn – nun, Sie werden mich verstehen.

32 Der Sohn des Bildhauers horchte auf. Den Wahn? Welcher Wahn? Im Glauben an die eheliche Treue oder an das Jenseits? Er gestand, Nichts zu verstehen.

Wollen Sie mir nicht zürnen, fuhr Graf Udo, der in seinen leichten, weltmännischen Formen sich gleich blieb, fort, daß ich erst noch eine Bemerkung mache. Verhandeln Sie mit der Tante, aber auch mit Ihrem Papa fest und bestimmt. Es hat sich die Nachricht verbreitet, daß die Wittwe des Grafen Wilhelm 6000, meinetwegen 10,000 Thaler an das Monument, das Material nicht gerechnet, verwenden will. Kaum angekommen, bemerkte ich in Folge dessen schon Intriguen, Verleumdung, Protectionssucht, natürlich Anerbietungen über Anerbietungen.

Um Alles! erhob sich Althing. Ahnt das mein Vater, so lehnt er Ihren Antrag ab! Er ist von einer Empfindlichkeit, wie ein junges Mädchen! Und nun gar in Concurrenz zu treten mit den Menschen, die in den Salons glänzen, mit Menschen, die sich auf ihre Orden berufen, Matadoren der Zeitungen, die zu den Prinzessinnen gerufen werden, um ihnen Gypsabgüsse zu erläutern – da macht er lieber Reliefs zu „Berliner Oefen“! Dort steht ein moderner Ofen! Der Pan da, den die Nymphe beim Blasen der Flöte aus dem Schilfe 33 heraus belauscht, ist von ihm! Er kann nicht einmal leiden, wenn ich zu oft in sein Atelier komme!

Darum lassen Sie uns kategorisch handeln! sagte Graf Udo. Wir geben noch keine Diners! Erst nächstens ein Souper für Damen, für die Damen des Frauenvereins! Der geistreiche Mephisto der hiesigen Künstlerwelt ist nicht zu fürchten. Aber wir haben Photographieen von schon vorhandenen Mausoleen oder Grabmonumenten genug erhalten, ein artistischer Zwischenhandel drängt sich ohnehin schon lange zwischen den Käufer und den Arbeitenden

Sie studiren gründlich unser hiesiges Leben! fiel Althing ein, sich gerührt abwendend. Ja, ja, das ist es, was meinem Vater so früh das Haar gebleicht hat! Grade dieser Zwischenhandel! Diese kaufmännische Kunstkennerschaft, die etwas für 25 Thaler kauft, was sie später für das Zehnfache wieder verkauft! Nie hat mein Vater verstanden, das Glück an seine Fersen zu bannen. Wie ihm damals sein herrliches Thonbild Amor und Psyche, Sie werden davon gehört haben, in einen Haufen Lehm zum Wegkehren mit dem Besen zusammenbrach, so ist es ihm mit hundert Entwürfen in den Augen des irregeleiteten Publikums gegangen! Er kann nicht schmeicheln, kann nicht renommiren, nicht wie Christian Rauch den olympischen Jupiter als Goethe der Plastik 34 sich selbst darstellen oder wie Rietschel sich selbst als den gotttrunkenen Schiller! Seine Weise ist die Einfachheit und Schlichtheit und am wenigsten versteht er die Politik der Hintertreppe –!

Kommen Sie sofort! unterbrach der Graf. Wir überraschen die Trauernde! In der Hauptsache ist sie vorbereitet! Sie lebt nur dem Gedanken an meinen herrlichen Pflegevater! Das Monument hat für sie etwas Tröstendes, Beruhigendes, es beschäftigt sie ganz! Hat sie Ihnen in Bezug auf Ihren Vater von dem Auftrag gesprochen, so bringt sie kein Kaiser oder König von ihrem gegebenen Worte wieder ab! In dieser Noblesse der Gesinnung habe ich die gute, aber – leider nie schön, nie fesselnd gewesene Frau, die älter als mein Onkel war, immer erkannt.

Althings inneres Widerstreben half nichts. Er stand dann, noch betroffen über das seltsame Hervorheben „nicht anziehender“ Eigenschaften, plötzlich vor einer kleinen, ganz in Schwarz gekleideten Dame, die sich etwas erhob, als er, er wußte nicht wie, bei ihr eingetreten war. Mechanisch sprach er ihr sein Beileid aus. Aufmerksam schien das schwarze, im dunkeln Zimmer weilende Wesen zuzuhören. Er wurde sich zu setzen aufgefordert. Rings war wenig zu erkennen. Das Zimmer stellte eine Rotunde vor, die wohl nie gesellschaftlich belebt gewesen 35 sein mochte. Hohe Blattpflanzen, das unterschied Ottomar allmälig, unterbrachen die Portièren, die bronzenen Armleuchter, die Gueridons. Graf Udo zog eines der Fensterrouleaux auf. Da fiel ein Widerstrahl der Mittagssonne blitzend aus einem Spiegel heraus, auf ein Porträt in Lebensgröße, vor dem, in Betrachtung versunken, die ehrwürdige Dame saß.

Der junge Graf hatte es leicht, den Willen der Tante zu lenken. Denn die als Prinzessin von einem strengen Vater erzogene willenlose Frau hing mit abgöttischer Verehrung an den Lippen des so lange ihr entzogen gewesenen einzigen jüngeren Verwandten, den sie, außer einem Sonderling, dem Fürsten Rauden, der nicht weit von ihr wohnte, besaß. Sie hatte den Grafen Wilhelm wider den Willen ihrer Familie geheirathet und die Spannung war geblieben. Graf Udo hatte das Majorat ererbt. Sie, die Gräfin, auf ihr reiches Witthum angewiesen, ließ ihn schalten und walten. Sein fleißiger, interessanter Briefwechsel hatte sie früher für die Entbehrung seines Umgangs entschädigt. Ihr heißgeliebter Gatte hatte die Sitte, Abends im adligen Casino zuzubringen. Darüber hatte sie allerdings freudlose Stunden. Aber sie zürnte darum nicht dem Grafen Wilhelm und ihr Wirken für Wohlthätigkeit zerstreute sie. Sie fühlte sich glücklich, den Grafen in seinen 36 Neigungen befriedigt zu sehen. Die Denkmalfrage stand nach dem Sonnenstrahl bald fest. Ein Studiengenosse Udos – der Ursprung der Narbe blieb noch verschwiegen – und ein so anziehender junger Mann und sein Vater Bildhauer – da war die Bestellung so fest, daß nur die Zustimmung des Alten selbst und das Ein­reichen seiner Pläne fehlte. Da der junge Al­thing in allem Ernst versichern konnte, daß selbst ein persönlicher Besuch des Vaters durch den Grafen und des Vaters Erscheinen hier vor dem „meisterhaft“ gemalten Bilde (der junge Graf beklagte das „meisterhaft“, das die Tante gebraucht hatte; Triesel hatte es gemalt) problematisch sein würde, so brach Udo die Angelegenheit mit dem Bemerken ab: Ich überrasche Ihren Vater heut Abend im Familienkreise! Im Atelier durchkreuzen andere Gedanken seinen Kopf! Die Sache ist abgemacht. Tante, Du wirst der Ruhe bedürfen. Wollen sie Dich also doch schon wieder zu Deinen Comitésitzungen haben! Trage mir nur Alles auf, was es zu schreiben giebt! Ich will so lange Euer Secretär sein, bis wir einen bessern finden! Wir bringen Dir nur Cigarrendunst herüber –

Sie empfahlen sich Beide.

Sieh, sieh, sagte der Graf beim Zurückkehren in seines Onkels großes Zimmer, das ist ja Alles gut 37 gegangen! Den Rest mache ich heute Abend ab. Ich besuche Ihren Vater in seiner Wohnung. Seien Sie doch auch da! Sie sollen ja eine hübsche Schwester haben?

Die aber dem Vater nicht Modell steht! erwiderte der Bruder, etwas verletzt durch diese plötzliche Gedankenverbindung.

Der Graf schien so reinen Sinnes, daß er sich die bei ihm vorausgesetzte Gedankenreihe erst erklären mußte. Der junge Althing versank immer mehr in eine brütende Stimmung. Er meinte, er würde auf den überraschenden Besuch weder Mutter noch Schwester vorbereiten. Sonst sei der Vater im Stande, in den Künstlerverein zu laufen, an einen Ort, wo er noch zuweilen, wie er zu sagen pflegte, einen richtig construirten Menschen fände. Ein echter Künstler könnte denn doch, meinte er, lebenslang sein Rom und Neapel nicht vergessen!

Lieber Althing, was ist überhaupt der Mensch! rief der Graf, mit einem sonderbaren plötzlich ausbrechenden bisher wie zurückgehaltenen Gefühl. Seine Worte schienen Scherz zu sein und doch begleitete sie in seinen Mienen ein tiefer Ernst. Aufrichtig gestanden, fuhr er fort, ich bin in der Lage, jetzt wie König Philipp auf der Bühne auszurufen: Gütige Vorsehung, gieb mir einen Menschen –!

38 Althing mußte des Tones staunen und legte die Cigarre fort, die er nun wirklich auch genommen hatte.

Ja, ja, fuhr der Graf fort, um bei den Dichtern zu bleiben, es fällt mir auch Hamlets Wort ein, wie sich die Vertrauten zu benehmen pflegen, die Achseln zuckend, man wisse wohl etwas, man könnte etwas ausplaudern, wenn man nur wollte –? Althing, raffte er sich endlich zusammen und sprach mit leiser Stimme, ich habe Vertrauen, wahre Freundschaft für Sie; die Art, wie Sie sich nach unserem Rencontre in Bonn gegen mich benahmen, ist mir unvergeßlich. Jetzt sind Sie reifer als ich, kennen die Welt, während ich Menschen und Affen, Wasser und Luft studirte. Ich möchte Sie zum Mitwisser, aber auch zum Mitträger eines Geheimnisses machen!

Ist Horatio dem Dänenprinzen nicht treu geblieben? Im Augenblick weiß ich es wahrhaftig nicht! sagte Ottomar, der durch die äußeren Lebensformen oder sonst ein Hinderniß immer noch vor dem Drang des Grafen, ihn ganz und gar seinen Freund und Vertrauten zu nennen, zurückwich.

Wir können ja nachschlagen, sagte der Graf träumerisch, stutzte eine neue Cigarre zurecht, reichte das Feuer und drängte Althing auf den Divan zurück. Im 39 Zimmer war die Veränderung eingetreten, daß alle kleinen Briefpackete, alle noch ungeordneten Scripturen verschwunden waren. Der Graf hatte sie während Forbecks Bramarbasiren nach und nach sorgfältig eingeschlossen und darüber gewacht, daß der künftige Schwager dem Tische nicht zu nahe kam.

Ich brauche einen Arm, der statt meiner handelt, einen Mund, der statt meiner spricht, ein Ohr, das statt meiner hört! sagte der Graf.

Ich bin Jurist und arbeite vorab bei einem Advokaten – antwortete Althing auf diesen sonderbaren Eingang. Da könnte ich mich ja tummeln –

Nichts mit Ihrem Luzius –

Hat er nicht manche Vermögensverhältnisse Ihres Onkels unter den Händen?

Keine Klage herrscht darüber! Die Hinterlassenschaft an irdischen Gütern befindet sich in Ordnung. Das Vermögen des Onkels ist von dem der Tante getrennt. Einst bin ich Herr vom beiderseitigen Besitz. Nein, nein – fuhr der Graf niederblickend fort – es ist eine andere Erbschaft zurückgeblieben, des Onkels Ehre, die ich zu wahren habe, die ich vor meiner guten Tante unter allen Umständen vertreten sehen muß – sein guter Ruf. –

Natürliche Kinder –? rieth Ottomar.

40 Etwas Aehnliches –

Die beiden jungen Männer schwiegen. Das Talent, leichthin von den Fehlern andrer Menschen zu sprechen, schien keiner von ihnen zu besitzen. Es erlernt sich erst in späteren Jahren durch die ansteckende Verläumdungslust oder frühe durch eigne Schlechtigkeit.

Graf Udo erzählte: In jenem Schreibtisch habe ich von etwa vorhandenen Kindern Nichts gefunden. Mein Onkel starb so plötzlich, daß ihm eine Ordnung in seine Papiere zu bringen nicht gestattet war. Er kam wie gewöhnlich gegen 11 Uhr Abends vom adligen Casino, fühlte sich unwohl und war plötzlich todt. Meine gute Tante, die ihn anbetete, die auch er selbst mit jeder nur erdenklichen Zuvorkommenheit und Güte behandelte, glaubte, daß er regelmäßig vom Casino kam – vier, fünf Jahre hat sie das geglaubt – ohne Grund geglaubt – ich bin über diesen Flecken – doch wer mag moralisiren? Da macht mich die Geschichte mit ihren Folgen, die sie nun hat, doch recht unglücklich –

Althing wollte nicht dem Ausdruck, sondern nur der Heftigkeit des sittlichen Schmerzes wehren, wenn er sagte: Mein Vater soll auf dem Monument keinen Anker anbringen!

41 Sehen Sie, rief der junge Graf, daß Sie schon Motive finden, die Hamlet’sche Zeichensprache zu reden! Gerade soll er einen Anker anbringen! Er soll Nichts weglassen, was die Gefühlsweise meiner Tante begehrt! Sentimental erzogen, gefällt sie sich im Auskosten eines Schmerzes, und wenn sie das allein trösten kann, das allein beglücken, wer wollte ihr diese Religion stören? Ist man doch der Affentheorie und dem uns künftig erwartenden Nichts gegenüber froh genug, wenn man noch Jemanden die Leiter wohlgemuth besteigen sieht, die an den alten Regenbogen der jenseitigen Hoffnungen ange­lehnt ist –!

Althing wußte Nichts von einer Frau Edwina Marloff, die jetzt nach einem Gange durchs Zimmer vom Grafen leise genannt wurde. Er erhielt auch nicht den Auftrag, sich nach dieser Adresse, die der Graf selbst wohl nicht kannte, zu erkundigen. Aber es schien, als sei Frau Edwina verheirathet mit einem Elenden, der sie an den verstorbenen Grafen verkauft hatte. Die Beunruhigung für den jungen Treuenfels war die, daß sich schon einmal dieser Marloff im gräflichen Hause eingefunden hatte, gemeldet worden war und mit den Dienern gesprochen hatte. Damals waren die Umstände so günstig, daß der Zudringliche Niemanden von der Herrschaft zu sprechen bekommen konnte. Er hatte gesagt, er wollte 42 schreiben. Das hatte er denn auch jetzt gethan, glücklicherweise in einem Briefe an den jungen Grafen. Er verlangte die letzten Verfügungen des verstorbenen Grafen in Betreff seiner Frau zu wissen. Der Anspruch auf dreißigtausend Thaler sei ihm zum mindesten gewiß.

Der Unverschämte! erhob sich Althing. Wahrscheinlich ein Spieler dieser Mensch oder sonst ein Charakter der tiefsten Verworfenheit!

Seinen Drohbrief will ich Ihnen anvertrauen. Er verlangt darin Eile, schnellen Entschluß –

Und wie zur Bestätigung dieser letzten mit Heftigkeit, aber nur halblaut hervorgestoßenen Worte klopfte es. La Rose trat herein mit der schüchternen Meldung, daß jener Herr Marloff wieder da sei, von dem der Graf schon neulich gesagt hätte, daß er ihn nicht hätte empfangen wollen.

Ein Lump! Man riecht die gekaute Kaffeebohne, die den Weingeruch vertreiben soll! rief Graf Udo zitternd in französischer Sprache, während Ottomar Althing, ergriffen wie von einem Abenteuer, bei dem er dem Freunde handgreiflich beizustehen hätte, sich an der Stuhllehne festhielt.

Au contraire, Monseigneur! Un homme comme il faut! A peu près un ancien professeur! lautete 43 der Spruch einer geprüften Welterfahrung. La Rose hatte im diplomatischen Dienst soviel problematische Physiognomieen studirt, daß man auf sein Urtheil etwas geben konnte.

Graf Udo unterbrach jedoch den Ausdruck seiner Verwunderung mit der entschiedensten Ablehnung, den Herrn „Geometer“ Marloff zu empfangen, der auch seine Karte übergeben hatte. Er würde ihm nächstens schreiben, oder zu ihm schicken – so ließ er hinaussagen.

Es ist ein Bettler! rief Ottomar.

La Rose schüttelte den Kopf und lächelte. Er hatte über vagirendes Lumpenthum Consulatserfahrungen. Doch verstand er zugleich, die erhaltene Weisung mit ebenso viel Bestimmtheit wie Delicatesse an den Mann zu bringen.

Althing ahnte, daß er hier eine Vermittlerrolle spielen sollte, die vielleicht mehr für seinen Principal, Justizrath Luzius, gepaßt hätte. Dieser fiel freilich bei ähnlichen Erpressungsfällen gleich mit der Thür in’s Haus. An die Gerichte geht man in solcher Lage nicht gern des Aufsehens wegen. Luzius half sich in der Regel mit dem Hervorkehren des Uebermaßes seiner Geschäfte. Kurz und bündig! war seine Methode. Und in der That, man sah den Mann keuchen vom Stadtgericht zum Polizeigericht, vom Vormundschaftsamt zum Obergericht. 44 Hörte man, wie er mit dem größten Cynismus jedes Ding beim rechten Namen nannte, Nichts unterschrieb, was ihm nicht plausibel war, jede Illusion zerstörte, die sich ein Proceßführender etwa von seinem Rechte machte, so war die Verständigung auch in einer halben Stunde fertig. Er glich den Aerzten, die nur von 2 bis 3 zu sprechen sind und zwanzig Patienten empfangen.

Geben Sie mir den Brief des Mannes! Ich will mich nach ihm erkundigen und werde zu ihm gehen! Von einer Zahlung, einem Einblick in die letztwilligen Verfügungen kann keine Rede sein!

Dann haben wir einen Proceß! fiel der Graf ein, hocherfreut über seine mit Erfolg belohnte Hoffnung, daß ihm Althing diese peinliche Erörterung abnehmen würde.

Selbst wenn Sie 30,000 Thaler zahlen sollten, würden Sie nicht das Todtschweigen vorziehen? entgegnete der junge Jurist.

Gewiß! Gewiß! antwortete dieser und sah nach den Zimmern der verwittweten Gräfin hinüber.

Ottomar ging. Seine eigne Tischzeit war längst vorüber. Am Abend hofften die jetzt freilich eng Verbundenen sich wieder zu sehen. Auf der Stiege bemerkte der Abwärtssteigende, daß hier und da aus welken Blättern und schlaffen Bändern noch ein Anker, das Zeichen der Treue, zu erblicken war. Ein eigner Klang 45 aus der Harmonie des Lebens, ein Mißton, ein schmerzlicher Weheruf drang an sein Ohr. Im lebendigen Nachgefühl des Eindrucks, den ihm die Trauer des so glücklich wiedergefundenen Freundes gemacht und die zarte Schonung der Matrone, mochte er auch nicht allzuschnell hier das Richteramt üben.

46 Drittes Kapitel.#

Wieder war ein zeitungsloser Montag erschienen. Wieder standen die kleinen Flaschen des geschickten rheinischen Weinmischers auf dem grünen langen Wachstuchtische. Wieder wurde jeder der Ankömmlinge dieser wunderlichen Gesellschaft mit einem freudigen Ah! begrüßt. Sogar der trottoirnervenkranke Bildhauer war erschienen. Sanitätsrath Eltester saß für eine Viertel­stunde neben ihm und fühlte ihm den Puls, den er ausgezeichnet fand. Er sagte ruhig: Ich habe dieser Tage mehrere Todte begraben! Da kann ich schon ein halb Stündchen unter den Serapionsbrüdern ausharren, und Bildhauer und Arzt arbeiten sich ja in die Hände.

Serapionsbrüdern! rief aus einer dunkeln Ecke eine helle scharfe Stimme. Den Namen aus Hoffmanns alter Zeit, den sollten wir eigentlich nicht festhalten, sondern uns Serapisbrüder nennen! Zwar habe ich ihn noch gekannt, den Mann mit dem Eulengesicht und der Eulennatur, der diesen Namen für eine Sammlung 47 Novellen verschiedenen Werthes wählte. Aber seine Serapionsbrüder kamen ebenso zusammen wie wir und beriefen sich auf alte Mönche, von denen viele Serapion hießen. Nur weiß ich von Einem einen prächtigen, echtkatholischen Legendenzug. Er war arm. Da traf er eine Wittwe, die ihn um Rettung in bedrängter Lage anflehte. Armes Weib, ich kann Dir Nichts geben! sprach er. Aber warte! Ein Trupp Schauspieler zog vorüber, diesen will ich mich als Sklave verkaufen. Den Erlös will ich Dir schenken. Die Comödianten waren so gerührt von dem Edelmuthe dieses Mönches, daß sie ihm das Geld und die Freiheit gaben.

Ließe sich das nicht modernisiren? hieß es durcheinander und theilweise, der Schauspieler wegen, mit Lachen.

Als Posse –?

Der Mönch muß die Lichter bei den Schauspielern putzen!

Er muß als Claqueur dienen, die Reclame besorgen –!

Man bat um Ruhe. Andere wollten von dem „prächtigen Stoff“ abstrahiren und von den Serapisbrüdern hören.

Der Kenner der Legende war der mit allen Orden der christlichen und orientalischen Höfe bedachte Triesel 48 gewesen. Althing war beim Eintritt stumm auf den kleinen Mann zugegangen, hatte ihm die Hand geschüttelt, sich aber erst gesetzt, als sich trotz der collegialen, durchaus gemüthlich aussehenden Begrüßung eine entferntere Unterkunft ermöglichte.

Eben dachte Althing vor sich hin: Er ist im Loben, Anerkennen begriffen! Das ist ja selten. Aber was er lobt, muß immer schon todt sein! Und Triesel ließ sich zuletzt auch die Serapionsbrüder, die er erklärte, nicht nehmen. Traurig waren die Ausgänge der alten Serapionsbrüder, erzählte er. Bei einem Italiener, in einem Hinterstübchen einer Delicatessenhandlung, hatten sie angefangen, erzählten sich bei Ungarwein und schwerem italienischen Asti allerlei Schnurriges aus dem „Taschenbuch zum geselligen Vergnügen“der alte Ramberg machte die nöthigen Bilder mit dem obligaten Kätzchen und Mops dazuin einem großen Weinhause, wo dann nur getrunken wurde, hörten sie auf. Das war die thebaische Wüste, in die sie sich zurückgezogen hatten.

Der Sanitätsrath bekam Lust für die Serapisbrüder. Er nannte Serapis den egyptischen Aesculap. Nur mit dem Unterschiede, setzte er hinzu, daß Serapis zu gleicher Zeit die Sonne der Nacht gewesen wäre.

Alles horchte auf und wiederholte: Die Sonne der Nacht?

49 Ja, fuhr der Sanitätsrath fort, ein tiefer Gedanke, diese egyptische Annahme eines Gottes der Nachtsonne, der uns des Nachts abgewandten Sonne, recht eines Bildes der Wissenschaft, des geheimnißvollen Lebens der Natur. Und bei den Egyptern war dann auch die Religion noch des guten Nebenzwecks wegen da, den Arzt für den Leib zu machen. Die Geistlichen heilten die Krankheiten theils mit Gebeten, wie ja das auch noch im neunzehnten Jahrhundert in München und Westfalen und wohl auch bei uns der Fall gewesen ist, theils mit den kindlichen Anfängen unsrer materia medica. Daß die Serapispriester eine Brüderschaft bildeten und Nichts auf einander kommen ließen, liegt im Charakter jeder Lehre, die den Zweifel ausschließt. Unser heutiges Parteiwesen kommt dem nahe. Wer in die eleusinischen Geheimnisse einer Fraction aufgenommen ist, muß zu Allem, was der Führer will, Ja! sagen. Alles wird wieder Loge! Loge, meine Herren, Freimaurerloge! Nicht etwa Lüge –

Logos! Logos! riefen die anwesenden Philologen. Es waren die Enthusiasten für die neuen Zustände.

Das überwiegend Medicinische, kritisirte jetzt schon Triesel und zog die goldene Brille in die Höhe, stört mich doch an Ihrer Erklärung. Und wir tagen ja auch nicht bei Nacht. Bleiben wir bei unsern einfachen neuen Serapionsbrüdern!

50 Der Sanitätsrath hatte Eile, sah nach der Uhr und brach auf, während er noch immer für die Serapisbrüder plaidirte und scherzhaft ausrief: Der Gott der abgeschiedenen Seelen! Die Unterweltssonne! Nachts um ein Uhr wird ja auch leider oft genug an der Doctorglocke gezogen!

Er gab die Thür, wie man zu sagen pflegt, nur Andern in die Hand. Das Zimmer füllte sich mit neuen Ankömmlingen, die erfreut waren, die Versammlung so zahlreich und so angeregt zu finden.

Da sehen Sie, meinte eine Stimme, wie wenig unsere Zeit noch erlaubt, bei einander zu sitzen, ohne über Etwas zu streiten oder einander zu belehren. Nun zanken wir uns sogar über den eignen Namen!

Einer, der leider schon aufstand und sich zum Gehen rüstete, bemerkte: Eigentlich ist unsere Serapionsbrüderschaft eine zu lose Verbindung! Grade wie in den katholischen Ländern die Leute, die auf den Markt gehen, nebenbei auch noch ein Stück Messe mit anhören, dreimal vor dem Altar knixen und sich mit Weihwasser benetzen und dann zu Kartoffeln und Rüben übergehen!

Es war der Justizrath Luzius, der da sprach und eben gehen wollte.

Halt da, Justizrath! rief dem schon die Thürklinke in der Hand Haltenden Triesel nach: Das Bild ist gut 51 gewählt! So kauft man sich auch gleichsam von der Verpflichtung für das Schöne und Erhabene durch den Kunstverein ab! Für 5 Thaler jährlich erhält man das Recht, sich das ganze Jahr über um keinen Kunstgegenstand mehr zu bekümmern! Nicht so, Meister Althing ?

Er muß durchaus von manchen Menschen Beifall haben! brummte Althing unhörbar. Der sogenannte „allgemeine Beifall“ genügt ihm gar nicht mehr. Und als sich aus Triesels Bemerkung ein allgemeines Seufzen: Wie soll es besser werden? entwickelt hatte, antwortete Althing endlich mit kräftiger Stimme: Wenn sich Jeder befreit von seiner Ichsucht! Eine Welt auch noch hat außer seinem Jagen nach Ehre, Auszeichnung, Verdienst! Und das von oben an, von der äußersten Spitze herab. Denn in den Kirchen gesehen werden, oder in der Comödie, das ist Nichts für den Beweis von Respect vor dem Weltgeist. Die gewohnten Gleise gehen, durch diese oder jene Handlung, deren Motive auf Gefühl deuten sollen und höchstens Vorhandensein von etwas Takt verbürgen, sonst aber niemals den Lauf der Alltäglichkeit, das Streben nach Macht, das Zertreten seiner Gegner unterbrechen, das kann die innere Einkehr nicht sein, die ich meine. O verbraucht nur recht die alten Ueberlieferungen und werft sie wie Rechenpfennige aus, 52 Phrasen sozusagen aus Schiller und Goethe, die geflügelten Worte werden bald zu Kalauern geworden sein, der Pegasus ein alter Droschkengaul, der Staat ein toller Hund, dem Jeder aus dem Wege geht –

Althing! Althing! rief man von allen Seiten.

Der Justizrath war verschwunden. Er hatte doch noch bis zuletzt zugehört, ging aber, ohne die Miene zu verziehen. Er überließ die hinterlassene These einer, wie sein durch die Brille verschärfter Blick sofort wahrnahm, sich zur Lebhaftigkeit rüstenden Debatte, deren Reigen denn auch mit „sittlicher Entrüstung“ der ordengeschmückte Hofmaler begann.

Die weiten Entfernungen in der Stadt und die außerordentliche Fülle von Geschäften, die auf den Schultern des eigenthümlichen, Vielen räthselhaften Mannes lagen, hätten diesen längst bestimmen sollen, den dringenden Wunsch seiner Gattin und Töchter zu erfüllen, sich Wagen und Pferde anzuschaffen. Der schwer zugängliche, an Blutandrang oder innerer Verstimmung leidende Mann erklärte jedoch, möglichst frei bleiben zu wollen, was er mit Equipage nicht sein könnte. Denn dann würde er der Sklave des unvernünftigen Viehes, der Mucken seiner Pferde, und auch des Thierischen bei vierzehntäglich wechselnden Kutschern. Er bediente sich der Fiaker, die ja an jeder Ecke zu haben waren.

53 So winkte er denn auch jetzt einem solchen und war bald in seiner Wohnung, der Bäckerstraße, wo zu jeder Stunde eine reiche Clientel nach ihm fragte oder auf ihn wartete. Hausbesitzer, Speculanten, Frauen, die gern geschieden sein wollten, andere, die es schon waren und neue Beschwerden hatten; Alles durcheinander fand sich bei dem auch in den Zeitungen immer mit glücklichen Vertheidigungen bezeichneten Rechtsbeistand ein.

Der starke corpulente Mann, der sich bei rascher Bewegung von einem leichten Asthma nicht frei fühlte, immer thätig, vielleicht immer darüber grübelnd, woher er mit Anstand Geld nehmen könnte, hätte in seinem Leben schon selbst Anfälle haben dürfen, seinerseits auch an Trennung von seinem Weibe zu denken. Denn die Justizräthin, mit ihren Töchtern Sascha und Zerline, hatte schon wieder das Hülfspersonal des Vaters für einen Ball in Anspruch genommen. Statt daß diese im Bureau saßen und die Einreden und Appellationen aufsetzten, deren Entwürfe ihnen der Justizrath mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit gemacht hatte, wurden Ottomar Althing, Jean Vogler und Edmund Dieterici von ihren Sesseln abgerufen, um Cotillontouren zu erfinden. Die jungen Männer, die diese Frauen einfach als die bezahlten Sklaven ihres Gatten und Vaters ansahen, sollten Ideen angeben, die sich bei Glasern, 54 Tapezierern, Händlern im Fach unschuldiger Sprengstoffe, Blech, Papierreifen u. s. w. vorausbestellen ließen.

Aber Sie wissen heute auch gar Nichts! rief Sascha mit kokettem, auf Ottomar Althing gerichtetem Blick.

Sonst war der beste Mitarbeiter ihres Vaters in solchen Fällen immer guter Laune. Heute ging ihm eher Alles durch den Kopf, nur nicht die Erfindung eines originellen Cotillongedankens.

Wenden Sie sich an Theodorich! antwortete er und wollte gehen.

Althing, rief der Gemeinte, Referendar Dieterici, eine schmale blasse Figur mit blondgekräuseltem Haar, daß auch Sie diesen unqualificirbaren Witz, meinen Namen zu verdrehen –

Ostgothe! rief der dritte, Jean Vogler, eine große, sogar schon zum Embonpoint neigende Figur; warum wollen Sie das tragische Geschick Ihres Hauses nicht anerkennen! Jetzt, wo Sie einen Bund mit den Sarmaten geschlossen haben und sich mit vereinten Kräften auf Rom stürzen könnten

Bei alledem lächelte Dieterici. Er verstand die Anspielung auf seine neue hübsche Wirthin, die eine Deutschpolin und katholisch war und noch dazu eine hübsche schwarzhaarige Schwester hatte.

55 Ach, lassen Sie das jetzt, Herr Vogler! riefen die Damen und würden in der That die kostbare Zeit der Mitarbeiter ihres Vaters mißbraucht haben zu Cotillonserfindungen, wenn es nicht plötzlich geheißen hätte: der Vater!

Die Ankunft des Justizraths erlaubte allen Dreien, sich dem Wetteifer der sich in Naturlauten Ueberbietenden, die denn doch zuweilen noch von einer vorhandenen Großmutter mit den Worten abgetrumpft wurden: Das giebt Feuersgefahr! zu entziehen. Jean Vogler behauptete, blaue Flecken am Arm zu haben, so hätten ihm die Mänaden mit ihrer Dringlichkeit zugesetzt. Dieterici, Theodorich genannt, der hinter dem Schein der Milde und Sanftmuth viel Eitelkeit und Pedanterie zu verbergen schien, erklärte geradezu, tètes-à-tètes dieser Art mit den Damen im Hause nicht wieder anknüpfen zu wollen. Denn nicht nur, daß es der kleinen Zerline nur ein Leichtes war, auf ein: Fräulein, ich weiß wahrhaftig Nichts, als Knallbonbons ziehen! flottweg zu erwidern: Ach, Sie sind ein Simplex! er trug ihr auch Zurücksetzungen und öffentliche Verläugnungen bei Bällen, bei nicht eingehaltenen Tanztouren nach. Die Mutter konnte sich vornehmen, solche herausplatzende Aeußerungen ihrer Töchter, auf Befehl der Großmama, rügen zu wollen, aber den Vorsatz auszuführen, dazu blieb das ganze Jahr 56 über – vor Besuche machen und empfangen, vor Rennen und Laufen in dies und jenes Theater, in dies und jenes öffentliche Vergnügen, im Sommer vor den Bade- und Schweizerreisen keine Zeit. Und wie hier nicht für die Bildung ihrer Töchter, so für Tausenderlei nicht. Man nannte das alles Natürlichsein. Aus einigen Schriftstellern, die diesen Ton begünstigten und ihn „reizend“ nannten, holte man sich artige Namen für das „Unartige“. „Grille“ zu spielen war allgemeine Mode und – Ottomar versank nicht wenig in Grübeln, wenn er sich sagte, daß auch die testamentarisch Verlobte seines Freundes und des ihm nunmehr so vertrauten Grafen Treuenfels, Ada von Forbeck, ganz das gleiche Wesen hatte –!

Althing wollte den Justizrath, der schon nach einer halben Stunde wieder auf die Uhr und in den Termin­kalender sah, in’s Gerichtsgebäude begleiten. Die Clienten wurden auf die an der Thür bezeichneten Sprechstunden verwiesen. Eine Strecke durch die halbe Stadt hindurch zu machen, hatte wieder ein Fiaker geholfen. Althing hatte Acten zu vergleichen. Namentlich aber wollte er zu dem großen schwarzen Buche zu gelangen suchen, worin die Namen derjenigen verzeichnet stehen, die eine Strafe abgebüßt haben. Es war eine „Zeitgenossen-Galerie“ eigener Art, ein Werk voll Gewissenhaftigkeit; jeder „Rückfall“ war verzeichnet. In diese Senkgrube der 57 Menschheit wollte er hineinblicken und nach dem Namen: Geometer Marloff forschen.

Kennen Sie einen gewissen Marloff, Geometer? fragte er schon den Justizrath während des Fahrens.

Dieser verneinte und setzte sogleich hinzu: Wie so? Althing wich der Frage aus und murmelte etwas von Häuserbau und Vermessungen.

Will sich Ihr Vater ein Haus bauen? Ich habe ihn eben gesprochen. Er schien heute in einer gehobenen herausfordernden Stimmung, die ich an ihm gar nicht kannte. Ist ihm etwas Anregendes widerfahren? Widerwärtiges oder Gutes?

Der Sohn hütete sich wohl zu sagen: Das bestellte Mausoleum regt ihn auf! Auch rührte es ihn zu hören, daß seinen Vater ein Glück so heben, so erfreuen konnte! Er konnte nicht anders sprechen, als durch die Miene des staunenden Aufhorchens.

Ich will ihm wünschen, daß kein Spion zugegen war! fuhr Luzius eigenthümlich blinzelnd fort. Wir kommen ganz wieder in die alten Zustände zurück! Die Gemeinheit kann keine Größe ertragen und gewisse Große und Bevorrechtete, die doch nur ihre Pflicht gethan haben und in der Lage waren, diese mit etwas mehr Effect zu thun, als Unsereinem möglich war, diese plagt der gemeine Neid auf den wahren Genius –! Auch das 58 verbündet diese Herrschaften den Communisten, denn auch diese plagt der Neid auf den Genius und die Bildung! Ihr Freund Wolny hat schon wieder Spectakel mit seinen Arbeitern!

Ich las es in der Zeitung. Die unseligen Aufhetzer –!

Wolny war ebenfalls eine Bekanntschaft Ottomars von einer süddeutschen Universität her. Wolny war dort schon Lehrer. Der strebsame junge Mann erzürnte sich mit dem Rector seines Gymnasiums, einem Pedanten und Tyrannen, fand auch als Privatdocent keine Beförderung und ging in die Residenz. Hier nahm er eine Hauslehrerstelle bei einem reichen Fabrikanten und heirathete zuletzt dessen Wittwe. Er war wohl zehn Jahre älter als Ottomar. Seine Studien hatte er, wie man zu sagen pflegt, an den Nagel gehängt und war ganz Techniker geworden.

Zu langen Erörterungen ermunterte der Straßenlärm nicht, nicht das Gerassel des Wagens, nicht die dem jungen Althing schon bekannte Erfahrung, daß sein Justizrath Alles, was nicht auf seine Praxis ging, schnell abbrach. Seit der Erwähnung des obengenannten Buches verfiel er in ein unheimlich brütendes Schweigen.

Ottomar war nach dem erhebenden Sonntag, wo Graf Udo gekommen, die Mutter sich so würdig, der Vater gemäßigt, Helene so weltgewandt bewiesen, nicht 59 wieder draußen im Park gewesen. Er vergegenwärtigte sich, wie es dem Vater neuen Schwung gegeben, sich zur Herstellung eines gewiß vielfach zur Besprechung kommenden Denkmals erwählt zu sehen, wie es ihn beruhigte, dafür eine Summe zu erhalten, welche die gemeine Sorge um das Nächste auf einige Zeit wieder in den Hintergrund drängte. Graf Treuenfels war an dem schönsten Herbstabende gekommen. Der Sohn hatte wohlweislich der Mutter und der Schwester keinen Wink über den zu erwartenden Besuch gegeben. Denn die geringste Spur, daß dies geschehen würde oder ein verrätherisches Anzeichen, daß eine größere Sorgfalt auf das bescheidene Abendmahl gelegt worden wäre, hätte den vergrämelten Mann verstimmt und gegen die Anerbietungen des Grafen mißtrauisch gemacht. Ottomars Schwester, Helene, ein Mädchen von holdseligem Liebreiz, bestrickender Anmuth des Benehmens, ein Mädchen voll Geist und Bildung, seine Mutter, eine noch anziehende, nur etwas von körperlichen Leiden gebeugte Frau, trugen nicht wenig dazu bei, den Abend so gemüthvoll verlaufen zu lassen, daß Graf Udo in dem großen Park, den Beide beim Nachhausegehen – Ottomar begleitete ihn – durchschneiden mußten, ohne Schwärmerei und rein nur als etwas Selbstverständliches seinem alten Studiengenossen sagte: Wir sollten uns eigentlich Du nennen! Die 60 Accolade lassen wir auf gelegenere Zeit! Es war still um sie her. Die Bäume standen feierlich. Fern rauschte das großstädtische Gewühl. Beiden mußte dasselbe Bild vor Augen geblieben sein, das kleine Zimmer im vierten Stock eines an sich prachtvollen Hauses, das man auf Teppichen beschritt. Die Treppe war von Marmor, das Geländer Gußeisen in gefälligster Gestaltung. Nur die Möglichkeit, im Garten ein Atelier zu haben, hatte für die Wahl dieser sonderbaren Wohnung unterm Dach entscheiden können. Ein Maler hätte das trauliche Beisammensein, die Beleuchtung durch ein halbgedämpftes Lampenlicht, die frugale Mahlzeit, das Erröthen, das Lächeln, Selbstbedienen, Vorlegen Helenens, die scheue prüfende Zurückhaltung des Grafen, der von Ada von Forbeck nur flüchtig sprach, wiederzugeben versucht sein können. Es giebt Bilder, von denen man Nichts als das Licht und die von ihm bestrahlten Physiognomieen behält.

Natürlich war später das Gespräch auch auf die geheimnißvolle, Ottomar übertragene Mission zurückgekommen. In einem Fichtenhain, wo sich manche in seinem Bereich aufgestellte Marmorstatue vor dem Gesindel zu schämen scheint, das hier nicht selten nächtlich zu lagern wagt, hatte der Graf nach längerer Pause ausgerufen: Mein armer Onkel Wilhelm! Ich lese jetzt in seinem Nachlaß! Alles war doch edel und gut an ihm!

61 Ottomar schwieg. Sein Schweigen war Widerspruch.

Die Verirrung mit jener Frau – das Räthsel muß sich lösen.

Ottomar besaß nun den Brief des ehrlosen Gatten, der sein junges unfehlbar schönes Weib an einen Andern verkauft hatte. Aber der Graf hatte ihn beim Nachhausegehen mit einer Bitte aus dem Portefeuille gezogen. Es war, wie wenn der Lichtglanz der Reinheit, in deren goldnem Dämmer sie sich eben befunden hatten, auch die Vorstellungen, die in seinem Innern lebten, verklärend ergriff. Er bat Ottomar, mit seinen Erkundigungen noch etwas innezuhalten; er wollte es noch auf einige Tage im Zuwarten ankommen lassen und nur die Briefe überwachen, die an die Tante gingen. Darüber waren nun acht Tage verstrichen. Am gestrigen Sonntage hatte der Graf den Freund und auch dessen Vater zu Tisch gehabt und ihn mit flüchtiger Vertraulichkeit gebeten, nun vorwärts zu schreiten und wenigstens das Persönliche festzustellen. Graf Udo war noch nicht völlig frei von dienstlichen Verpflichtungen und wurde von der Gesellschaft über die Maßen in Anspruch genommen. Daß er den Staatsdienst verließ, gehörte zu den Bedingungen des ersten Eintretens in’s Majorat.

In jenem schwarzen Buche, das von keinem unsichtbaren Engel der Reue gehütet wird, eher umkreisen es 62 hohnlachende Teufel oder wie würde Kaulbach den Geist des „Rückfalls“ gemalt haben –? fand sich der Name Marloff nicht. Mit einem überführten Verbrecher hatte man also nicht zu thun. Die Wohnung, die angegeben war, lag in der Vorstadt. Der Brief war kurz und bündig. Er verlangte 30,000 Thaler, um die Versprechungen des alten Grafen wahr zu machen.

Althing nahm einen Fiaker und stieg am Thore aus. Es war leider nicht dasjenige Viertel, wo sein Freund Wolny wohnte und die beste Freundin seiner Schwester, eine Martha Ehlerdt, die in dem reichen Hause der ehemaligen Commerzienräthin Rabe, jetzigen Frau Doctor Wolny, Gesellschafterin war.

Es war Mittag. Die Arbeiter der Vorstadt ruhten. Ausgestreckt lagen sie zwischen den Neubauten, von denen die sonst nur aus Gärten und kleinen einzeln gelegenen Häusern bestehende Vorstadt durchzogen wurde. Hier wird er irgendwo in einem der neuen Häuser wohnen, die an zwei Seiten umzufallen drohen, weil ihnen die Anlehnung fehlt. In einer Volksküche wird er vielleicht zu Mittag speisen! Es giebt solche Incognitos! sagte sich Ottomar. Ist er nicht zu Hause, so giebst du deine Karte ab, schreibst einige Zeilen darauf und meldest deinen wiederholten Besuch an!

63 Es war ein schönes neues Haus, das Ottomar endlich betrat, aber die Nachfrage nach seinem Mann wies ihn in den Hinterhof, der allerdings hell und freundlich war. Zwei Stiegen sollte er hinaufgehen! Er, der sich gerüstet hatte, einem Mann zu begegnen, der nur in den feinsten Restaurants leben, auf schwellenden Divans sich strecken konnte! Zwei enge, wenig sauber gehaltene Treppen! Verwundert klopfte er an eine Thür, die wirklich mit dem Namen des Gesuchten bezeichnet war. Ein einfaches kleines Arbeitszimmer empfing ihn, wo sich auf einem großen dicht an’s Fenster gerückten Tische, Schreibbücher, Bücher, Zirkel, Meßinstrumente und ähnliche Arbeitsbeihülfen eines mit dem Messungswesen beschäftigten Technikers vorfanden. Schon öffnete sich eine Nebenthür und ein mittelgroßer wettergebräunter Mann mit weißen Haaren, mit feurigschwarzen Augen, in einer gestreiften Jacke, ohne Tragbänder für die schlaff herabhängenden Beinkleider, der eben sein Mittagsmahl zu halten schien, herrschte ihn mit den Worten an: Was wünschen Sie? Was wollen Sie? Womit kann ich dienen? Sind Sie nicht irre gegangen?

Sicher ein Geizhals! dachte Ottomar. Er fand nicht sogleich die Sprache. Denn dieser Gatte einer leichtsinnigen jungen Frau, dieser Schlemmer und Schuldenmacher hatte eben einem auf einer Tischkante servirten 64 Mahle zugesprochen, einem Mahle, das kaum aus Fleisch bestand. Wenigstens entdeckte sein schneller Ueberblick nur Kartoffeln, gelbe Rüben und Wurst.

Ich wünsche den Geometer Herrn Marloff zu sprechen – und scheine allerdings irre gegangen –

Der bin ich! Ich habe Aufträge genug! Nehme jetzt keinen mehr an – lautete die unwirsche Bestätigung. Der Mann, dessen Antlitz sich immer mehr röthete, schien den Besucher durch die Thür in’s Vorderzimmer und auf den Vorplatz drängen zu wollen.

Ich komme im Auftrag des Grafen Treuenfels und soll Sie fragen, mit welchem Rechte Sie die unerhörte Forderung von –

Ist nicht mehr meine Sache! unterbrach der Alte mit zornfunkelndem Antlitz. Meine Frau hat die Sache selbst in die Hand genommen! Sie hat nun selbst an den jungen Grafen geschrieben! Lassen Sie mich mit dieser Angelegenheit in Ruhe! Sie berührt mich nicht mehr. Sie stören mich bei meinem Mittagsmahl!

Ich muß gestehen, entgegnete Althing, daß ich von Ihrer wahrscheinlich in Glanz lebenden Gattin mehr Sorge für den Comfort ihres toleranten Mannes vorausgesetzt hatte –

Hahahahaha! lachte der in seinem Mahl gestörte Diogenes mit mephistophelischer Wildheit auf. Herr! 65 fuhr er fort, mit welchem Rechte mischen Sie sich in meine Angelegenheiten? Comfort! Comfort! Ich werde schon wissen, welche Kost mir wohlthut. In drei Teufels Namen – der Gegenstand ist abgemacht! Meine Frau will ihre Forderung selbst betreiben. Der Graf hat ihren Brief heute erhalten und damit lassen Sie mich persönlich in Ruhe! Den Gegenstand berühre ich, wie Sie sich wohl denken können, ungern und ich bin froh, daß ich mich auswärts in der Welt herumtreibe. Uebrigens war Graf Wilhelm ein Ehrenmann. Wir haben nichts Böses im Werke, nur was nothwendig ist! Herr, die Welt ist so, daß man nicht immer ist, was man scheint! Gehorsamer Diener! Adieu!

Es fehlte nicht viel und der Polternde hätte den Bevollmächtigten, der hier kaum seinen Namen nennen, kaum seine Visitenkarte hatte abgeben können, zur Thür hinausgeworfen. Ottomars edle Erscheinung und das „Lieutenant der Reserve“ milderten das Benehmen des Grobians. Rücksicht auf das ärmliche, kalt werdende Mahl und die Anerkennung des Grafen Wilhelm bestimmten Ottomar, sich schon von freien Stücken zurückzuziehen. Aber darum muß ich Sie doch bitten, sagte er sich wendend, dabei aber die Stimme erhebend, den jungen Grafen, meinen Freund, der mich hergesandt hat, weder mit Ihren Besuchen, noch mit Briefen zu 66 beunruhigen! Daß Ihre Gemahlin den Schritt wagt, selbst die Feder zu ergreifen, ist eine wahre Grausamkeit gegen ein trauerndes Herz und eine Unvorsichtigkeit sonder Gleichen gegen die Tante des Grafen!

Die letzten Worte sprach Althing schon auf dem Vorplatz für sich allein. Denn der Alte, in dessen gefurchten Gesichtszügen sich auch keine Spur von einer tiefer gehenden Theilnahme für die ihn so nahe berührende Angelegenheit zeigte, schloß schon die Thüre zu, wie wenn sie nur aus Versehen offen gestanden hätte und warf die innere ebenfalls heftig in’s Schloß. Noch hatte der so spröde Zurückgewiesene in einer Ecke Visirstangen mit bunten Fähnchen, auch an der Wand einen Revolver erblickt. Er hörte nur noch ein unausgesetztes widerwärtiges Papperlapap!

Daß sich hier ein geheimnißvoller Lebensconflict offenbarte, schien nun dem Sendboten außer Zweifel zu sein. Ottomar vergegenwärtigte sich die Beschämung seines Freundes, Zeilen von jener Hand zu erhalten. Es hatten sich welche im Nachlaß vorgefunden. Heruntergekommen bis zum Bettler schien dieser Alte doch nicht. Der mit Scripturen bedeckte Tisch deutete auf eine regelmäßige Beschäftigung. Ein Glaskasten mit ausgestopften Vögeln gehörte vielleicht dem Vermiether der Zimmer an. Aber eine reiche Anzahl von wohlgeordneten Büchern 67 zwischen denen der Revolver gehangen hatte, mußte doch wohl dem vielleicht mit der Welt zerfallenen Sonderling angehören. Er hat vielleicht eine junge Frau geheirathet, sagte sich Ottomar, der seinerseits wie so viele junge Juristen die Gemeinheit der Lebensbeziehungen erst aus der Wissenschaft des Rechts kennen gelernt hatte, sie ist ihm davongelaufen, er mag sie gar nicht wieder haben! Das Einfordern der Abfindungssumme war ein Gefallen, den er ihr noch that. Jetzt will sie selbst handeln. Sie will nun den jungen Grafen zu erobern suchen! – Vor diesem letzten Ergebniß seiner Grübeleien blieb Ottomar wie vor einem grauenhaften Blick in die Zukunft stehen. Es war wie ein elektrisches Licht, das plötzlich eine in Dunkel gehüllte Gegend erleuchtete. Er sah wie in einem Zauberspiegel den Grafen in den Armen einer Circe, sah sich aber auch selbst und Ada Forbeck auf Rossen durch den Park reiten und seine Schwester Helene in der Ferne weinend stehen. Was combinirt sich nicht im Gehirn des Menschen aus den Ansammlungen empfangener ungewohnter Eindrücke!

Und wieder traf ihn ein Gruß, ein holdseliger, diesmal aus einem Wagen. Ada von Forbeck mit ihrer Mutter und sogar dem Bruder jagten an ihm vorüber, schon in gräflich Treuenfels’scher Equipage. Justizrath Luzius hatte ihm merkwürdige Dinge über diese Generalin 68 von Forbeck erzählt. Die Mutter der schönen jungen Braut in schwarzseidenem Kleide mit hellgelben Spitzen und ponceaufarbnen Schleifen, im leichten schwarzen Federhütchen mit rothen Blumen, verwies schon jetzt ihre Rechnungen bei den Mode- und Möbelhändlern auf die Kasse des Grafen und die böse Welt sagte: Max von Forbeck wüßte dabei seine Schulden heimlich mit einzuschmuggeln!

Der Anblick eines Restaurants erinnerte Ottomar an die Mittagszeit und an die Befriedigung seines irdischen Menschen.

69 Viertes Kapitel.#

Einen Bildhauer hat das in solchen Dingen ganz grob fühlende Alterthum einen – Handwerker genannt, nicht einen Künstler!

Vielleicht war das Uebermaß an Statuen, die man im Alterthum setzte, Schuld, wenn Lukianos, der Spötter, die Wissenschaft (nicht die Kunst) der Bildhauerei gegenüberstellte, gleichsam das Geistige dem Gemeinen und einen Jüngling fragte: Willst Du lieber in einem schmutzigen Aufzuge erscheinen, mit Marmorstaub bedeckt, Schwielen an der Hand und wärst Du ein Phidias oder Polyklet in Deinem Fache oder würdest Du Dich nicht schämen, immer nur ein Handwerker, ein Lohnarbeiter zu sein? Fünfhundert Jahre nach der Freundschaft des Perikles mit Phidias, nach eines Apelles’, noch unsern guten Richard Wagner überbietendem colossalen Größenwahn konnte man so über die Stellung der Kunst zur Wissenschaft urtheilen!

70 Althing senior würde im Montagsclub gesagt haben: Das kam daher, weil die alten Künstler arbeiteten und nicht nebenbei über ihre Kunst schriftstellerten! Unsere Recensenten sind ja lauter verdorbne Producenten! Die haben die Maßstäbe dann zum Aerger der Andern, die was können, bis in’s Ungeheure übertrieben!

Wahr ist freilich, ein Bildhaueratelier muß schon sehr von hochgezogenen Myrthen und Oleandern beschattet sein, muß sorgsam gepflegte Beete mit allerlei ausgewählten Saisonblumen und bunter Steinchenmosaik und Berieselung durch ein Springbrünnelein um sich haben, um die Spuren des theilweise in die gewöhnliche Steinmetzarbeit übergehenden Geschäfts zu verdecken.

Für den Handwerker im Bildhauer treten untergeordnete Hülfsarbeiter ein, sogenannte Punktirer, die nach bestimmten, vom Meister angezeigten Punkten den Marmor behauen und ihn dem Bilde, das der edle Stein vorstellen soll, entgegenführen.

Plümicke und Blaumeißel hießen Meister Althings seit Jahren beschäftigte Punktirer. Der erstere wohnte sogar im obersten Stock des Ateliers, also einer Dachwohnung, wo der Mensch beständig gebückt und wider Willen demüthig einhergehen mußte. Er hatte das Wächteramt über die etwas tief im Garten des so „hochfeinen“ Hauses, das Althing bewohnte, gelegene Werk-71stätte. Einige noch nicht von der Bau-Manie vertilgte Tannen, eine grüne Fläche sogar, sorgfältig von Buchsbaum eingefriedigt, aber doch zum Wäschetrocknen bestimmt, doch nur für den Hauswirth, reizte diesen Herrn, einen ehemaligen Bierwirth, jetzt Rentier, zuweilen an ein Losschlagen dieser noch etwas an die alte Vorzeit erinnernden einst waldigen Gegend zu denken. Dann würde an seinen Tannen, an einigen weißschimmernden Birken das verhängnißvolle Wort „Baustelle“ erblickt worden sein. Die Dryade, wie die Lyriker sagen würden, würde geweint und Althing sein stilles, bequemes Atelier verloren haben.

Plümicke war hier der unfreiwillig demüthige „Waldbewohner“, Junggesell, während Blaumeißel für Familie gesorgt oder zu sorgen hatte und täglich durch die Pferde-Eisenbahn wie aus einer andern Weltgegend herüberkommen mußte, wo die Miethen wohlfeiler waren, obschon er en gros miethete. Denn er vermiethete chambre garnie. Der Meister sorgte, daß wenigstens Plümicke immer bei ihm zu thun hatte. Blaumeißeln gab er, wenn er diesen selbst nicht beschäftigen konnte, zuweilen leihweise in andere Ateliers, in die der vom Hof begünstigten Civil- und Militärstatuenbildhauer, die, wenn sie sonst Nichts zu thun haben, Jahr ein, Jahr aus Victorien machen, die immer abgehen, jedoch mit dem 72 Versprechen, bei ihm wieder einzutreten, so oft er seiner bedurfte. Das hatte er ihm auf Handgelöbniß als Verpflichtung abgenommen und noch war kein Contractbruch erfolgt, obschon Blaumeißel eine Frau hatte, die ihren Mann zu Socialdemokratie reizte. Denn Frau Blaumeißel – Halbpolin aus dem Osten – war vergnügungssüchtig, hübsch und reizte ihren Mann, an den Versammlungen theilzunehmen, wo man bei einem Seidel Bier nach dem andern so viel Kräftiges über das „Elend des Volks“ zu hören bekam; Referendar Theodorich war jetzt ihr Miether und sprach entzückt von ihrem Schmorbraten. Er hatte Talent zum Gourmand und ließ sich ganz von ihr verköstigen.

Das Atelier bestand aus zwei großen Räumen und allerlei kleinem Winkelwerk. Selbst eine Hundehütte, die zum Ganzen gehörte, aber unbelebt war, wurde für das Handwerkszeug benutzt.

Meister Althing ließ die Verbindungsthür gern offen. Er sprach wenig, hörte aber gern zu, wenn Andere sprachen, und seine beiden Gehülfen konnten schweigend nicht arbeiten. Die Bildung fängt erst da an, wo man die Kraft besitzt, seinen Aeußerungstrieb zu meistern.

Plümicke, thun Sie das nicht! sagte heute Meister Althing im Arbeiten, als dieser, ein zum Glück kleiner, aber doch breitschultrig gebauter Mann mit treuherzig 73 blauen Augen und nicht übermäßig intelligenten Gesichtszügen, auf ein Lieblings­thema zurückgekommen war, thun Sie das doch nicht! Muß ich mir schon die Tortur für Ihr Rückgrat da oben denken, wie nun erst, wenn Sie sich diesen Schaden noch freiwillig anthun wollen.

Herr Professor! fiel Blaumeißel ein. Plümicke droht auch nur damit! Es sind die grünen Gemüse, die hier im Garten wachsen könnten! Die bringen ihn auf Spinat und Eier! Bei uns braucht er nur zu riechen und er kehrt wieder um. Ein Metzger wohnt mir ja gegenüber.

Prrrr! sagte Plümicke, sich schüttelnd.

Und denken Sie auch an den Luxus! fuhr Althing in guter Laune fort und rügte sogar den „Professor“ nicht, den sich Blaumeißel aus andern Ateliers angewöhnt hatte, Sie wollen sparen und was die Eier jetzt für eine Ausgabe sind – Er verschluckte die Worte: Das hör’ ich ja täglich bei Tisch.

Was die Eier anbelangt, rief Blaumeißel, so will er sich an eine Glanzlederfabrik wenden! Die kauft die Eier tausendweise und kann nur das Weiße brauchen. Das Gelbe wird tonnenweise an die Hotels und Restaurationen verkauft! Ein schöner Mansch! Aber warum? Er kann sich immer so einen Topf voll Eiergelb zum 74 Eierkuchen oder so was halten. Butter ist ja bei dem Schwindel erlaubt.

Plümicke war schon etwas Bramine geworden. Schwindel! rief er, durch den Gemüsegenuß zu Schopenhauers „schmerzlichem Mitleiden“ gestimmt. Leider fehlte ihm noch der rechte Muth, das auszuführen, was er im Princip durchaus anerkannte. Eine Bratwurst aus einer nahe gelegenen Garküche, von Blaumeißel vor seinen Augen boshaft verzehrt, konnte ihm doch noch immer Tantalusqualen bereiten. Oft schon wollte er mit der Wirthin einer nahe gelegenen Restauration über diesen Fortschritt der Zeit eine ernste Verhandlung einleiten, da aber fiel sein Blick auf den Speisezettel, der täglich auf ein saubres Tischtuch gelegt wurde, und der Muth, dies Papier für ein Verderben der Menschheit zu erklären, entsank ihm. Bei jener letzten lange währenden Beschäftigung in der auszuschmückenden entlegenen Kirche wäre er nahe daran gewesen, ganz „überzutreten“; denn die Verpflegung in jenem Viertel war für theures Geld „unter der Würde“. Das Pferdefleisch dominirte. Er war in Bezug auf Pflanzenkost noch auf dem Standpunkt Gretchens beim Blumenzupfen: Liebt er mich? Liebt er mich nicht? Blaumeißel berührte ihn an einer empfindlichen Stelle, seiner Unentschlossenheit. Es ging ja auch so bei ihm mit dem Heirathen.

75 Blaumeißel that sich auf seine Polakkin, eine geborne Ziporovius, ungemein viel zu Gute und rühmte deren Kochkunst, worauf aber der Meister Schweigen gebot. Sein Sohn Ottomar hatte einmal bei Frau Micheline gewohnt und war bald fortgezogen. Sein Nachfolger Dieterici schien an den zwei Parterrezimmern mehr Gefallen zu finden.

Die Mutter Helenens pflegte nach Tisch ein wenig zu ruhen. Der Vater ging gleich wieder an die Arbeit. Helene nahm sich dann ein Buch oder eine weibliche Arbeit und benutzte denjenigen Theil des Gartens, der als die nächste Umgebung des Ateliers den Bewohnern des vierten Stocks nicht versagt werden konnte. Vorn, wo noch die schönsten Dahlien prangten, noch eine halbverwelkte Gardeniengruppe an den berauschenden Duft erinnerte, den sie in ihrer Blüthe verbreitet hatte, dort, wo eine aus einer Fabrik gekaufte broncene Flora mit zu kurzen Armen und zu langen Beinen unter symmetrisch geordneten Blumen stand – Althing hätte das Machwerk immer mit dem Fuß umstoßen mögen – da war nur die gebildete Familie des Wirths zu Hause, die ehemalige Schänkmamsell, der ehemalige Hausknecht. Die andern Miether – und ob das Parterre auch der brasilianische Gesandte bewohnte, den ersten Stock ein General, den dritten ein Aristokrat, der 76 zum Glück fast den ganzen Sommer in Bädern oder auf seinen Gütern war – waren vom Gartengenuß ausgeschlossen.

Helene trat bei der warmen Herbstluft noch im fast sommerlichen hellgrauen Kleide von leichtem Wollenstoff, die Stickerei einer kleinen Spitze in der Hand, in den Raum ein, an dem man sich mit der Benennung Park versündigte. Ihr röthlich blondes Haar lag in dichten Flechten bis in den Nacken. Ihre Haut war durchsichtig weiß. Ihr Lächeln zeigte kleine weiße Zähne. Das Ebenmaß ihres Baues ließ sie groß erscheinen, obschon sie es nicht war. Sie reichte ihrem Bruder mit dem Kinn nur bis an die Schulter und mußte sich auf die Zehen stützen, wenn sie ihm zu seinem Geburtstag einmal auf die Wange einen Kuß geben durfte. Sonst kommt dergleichen bei ihm nicht vor! konnte sie wohl mit scherzhafter Trauer sprechen.

Helene hörte jetzt nur sprechen. Sie schwieg. Lange konnte das Gebot des Schweigens im Vorzimmer nicht gehalten bleiben.

Plümicke macht Eure Vereinsspäße mit! hatte denn auch der Meister selbst etwas nachdrucksvoll gesagt. Die Anwesenheit seiner Tochter störte ihn nicht in seiner Arbeit. Er modellirte in Thon. Ihr, die Ihr Künstler seid, solltet Euch doch nicht mit solchen Cigarren-77wicklern auf eine und dieselbe Linie stellen! meinte er brummend.

Herr Professor, da ist – wollte eben Blaumeißel sagen, wurde jetzt aber von diesem mit einem ärgerlichen: Laßt den verfluchten Titel! unterbrochen. Ich werde Euch gar nicht mehr ausleihen, Blaumeißel! Ihr kommt mir, mit Respect zu sagen, wie ein Jagdhund vor, den man auch zu seinem Verderben ausleiht! Kommt so ein Vieh zurück, so hat’s manchmal Manieren zum Todtschießen!

Prr! Papa, Papa! rief Helene in die Arbeitsräume hinein. Sie hatte das letzte Wort gehört.

Plümicke schüttelte den Kopf und sah den Collegen Blaumeißel an, der doch wissen mußte, was hier in diesem Atelier über den Professortitel gelten mußte.

Ich bin Professor, rief Althing. Sie haben mir diesen Titel geschickt, als die Modelle zu den Ornamenten der Kirche in der Ausstellung hingen! Ich war darüber außer mir. Ein Professor und ein Künstler reimen sich nicht! Professor ist für’s Zünftische, Abgelernte, und bildende Kunst ist frei. Meinetwegen mag es auch Kunstprofessoren geben. Aber der Künstler ist fast immer hin, sobald er Professor wird! Da hängt einem der Zopf ellenlang über den Rücken und kriegt Prätensionen wie die Gicht von der feuchten Mauer, an der man des 78 Nachts schläft! Ich konnte die Auszeichnung, die man mir zu geben glaubte, nicht ablehnen – wer setzt sich gern der Rache einer Behörde aus oder des Menschen, der die Behörde vorstellt? Aber Gebrauch habe ich von meinem Professor nicht gemacht und hänge ihn, wie manchen andern Professor, an den Nagel. Also, Blaumeißel! Gute Freunde! Aber nicht Professor!

Dann kam Althing, wieder mildreich geworden, auf die Enthüllungen über das Besuchen der Vereine und wollte Genaueres hören.

Künstler, Herr Pro –, fing Blaumeißel schon wieder an, verbesserte sich aber sogleich: Herr Althing! Da haben Sie Recht! Das fühle ich mich auch und davon lasse ich mich nicht abbringen. Blaumeißel! sagte ich mir, als ich in Schlesien geboren wurde, wollte ich sagen, als ich über meinen Namen nachzudenken anfing. Aber das war schon frühe – Meißel? Was ist ein Meißel? Folglich Steinmetz! sagte ich mir, und dann noch höher, die liebe Blaumeise, der Vogel! Daß ich dies blos mit Verkleinerung aus purer Liebkosung heiße, wie meine Frau behauptet, ich glaube das nicht. Aber der Schein kann trügen. Und das ist eigen an meiner Frau. Sie hat das Gesumme Abends in der Gesellschaft so gern. Wenn so die Lichter in den Tulpengläsern brennen und die Musikanten spielen und die Kellner rennen und die 79 Seidel rasseln und von links und von rechts kommt der Bratenduft –

Dann regt sich die ehemalige polnische Köchin! sagte Althing entschieden.

Dieser Bratenduft, den Sie da eben schildern, meinte Plümicke, der kann seines üblen Gestankes wegen zum Vegetarianer machen.

Helene las immer fort in ihrem Buche und hörte nur halb zu.

Ach, wenn Plümicke erst mein Schwager wird – sagte Blaumeißel, wie ihn bohrend.

Plümicke schien außer sich über diese Indiscretion. Seine Blicke der Beschämung und des Zornes fing der Marmor auf.

Was? fragten Althing und Helene zu gleicher Zeit.

Ja, meine Schwägerin! Die hat’s ihm angethan, fuhr Blaumeißel unliebsam fort. Josefa heißt sie und ist erst angekommen aus Polen. Freilich muß sie dienen und hat auch gleich einen guten Posten bekommen bei – Wer war’s doch?

Plümicke unterstützte die Gedächtnißschwäche seines Collegen mit Nennung des Namens Frau von Marloff.

Er stotterte die Ergänzung vor Verlegenheit.

Der Künstler lebt nicht, wie man gewöhnlich behauptet, im Reich des Unbewußten. Seine Welt ist ihm 80 im Gegentheil sehr wohl bewußt. Nur für den gewöhnlichen Lauf der Dinge thut er vieles unbewußt und so begrüßte Althing sein „goldenes Lenchen“ auch erst nach einer Partie in der Vorzeichnung des Monumentes, an die er sich machte, ehe er auf sie achtete. Hier giebt’s Hochzeit! sagte er jetzt wie im Traume und als wenn Helene es nicht selbst gehört hätte; Plümicke geht auf Freiers Füßen!

Herr Althing! Herr Althing! protestirte dieser heftig.

Er wird Socialdemokrat, Vegetarianer, wenn es seine Frau erlaubt, er heirathet eine Schwester von Frau Michaeline Ziporovius. Dann kann die Mutter endlich oben die Dachkammer für ihr altes Gerümpel kriegen! Stehlen wird uns ja doch hier Keiner was!

Nun, das wäre ja noch schöner! rief Plümicke, als sich sogar Helene anschickte ihm zu gratuliren. Hier wollen Sie Sicherheit? Vorgestern haben sie 25 Individuen aufgegriffen, die bei „Mutter Grün“ geschlafen haben. Und ich habe sie überhaupt erst zweimal gesehen, diese Mamsell! Jetzt ist sie in eine Stellung gezogen bei einer einzelnen, von ihrem Manne getrennten Dame. Wer weiß, ob ich sie je wieder zu sehen bekomme! Nein, Herr Althing, der Kampf um’s Dasein wird zwar immer schwieriger, immer kostspieliger und zwei Hände mehr, die da zugreifen und verdienen helfen –

81 Kampf um’s Dasein? Das sind Streikgedanken, mit denen Ihr umgeht, Plümicke! rief Helene. Das habt Ihr aus den Versammlungen mitgebracht! Martha Ehlerdt hat mir Schreckensdinge davon erzählt! Was seh’ ich! Da ist sie ja! unterbrach sie sich mit freudigem Ausruf, sprang zum Atelier hinaus und eilte einem jungen Mädchen, das in wärmerer Herbstkleidung, stahlblauer, einfacher Straßenkleidung, über und über erröthet, rasch eilend in den Garten sprang, Helene umarmte und küßte mit den Worten: Ich wollte Dich nur im Vorbeifahren begrüßen! Draußen steht unser Wagen! Ich muß herumkutschiren, um all die Commissionen auszuführen für den Frauenverein, die unsere Commerzienräthin übernimmt, als wäre sie noch die Rüstigste, und hernach ist sie krank und Alles fällt auf mich –!

Helene kannte schon die wunderlichen Verhältnisse im Hause des Doctor Wolny, den ihr Bruder oft den unglücklichsten Menschen unter der Sonne nannte.

Inzwischen war Martha schon in’s Atelier gesprungen und hatte die Hülfsarbeiter und den Meister begrüßt. Sie schüttelte diesem kräftig die Hand, die er eine Weile freigeben mußte von seiner Arbeit. Warum so eilig? fragte er ruhig.

Helene war nachgekommen.

82 Du kommst so selten! Ich rufe die Mutter herunter, sagte sie.

Nein, nein, ich springe hinauf! erwiderte die schlanke, plastisch geformte Martha. Ach, was sind mir vier Treppen! Und gar die Euern! Wie beim Kaiser sind die ja prächtig! Aber die Treppen, die ich heute schon gestiegen bin! Bei Wöchnerinnen, Wittwen, buckligen Lehrerinnen, erblindeten Stickerinnen – und dabei Commissionen für alle Modemagazine und beim Italiener in der Frankenstraße für die neuesten Ankömmlinge aus der See, für Lachs und Hummer – und bis zur Mittagsstunde, vier Uhr (wir haben ein Diner) muß Alles wieder zur Stelle sein –

Und dabei, fiel Althing mit Schärfe und seiner Arbeiter wegen Schroffheit ein, wie ich in der Zeitung lese, Streik in Ihrer Fabrik! Ihr Bruder, der Hauptaufwiegler der Leute! Sagen Sie ihm nur, daß ich Debatten vermeiden und ihm nicht gern begegnen möchte!

Das junonisch gewachsene Mädchen, das dem Künstler immer den der „Sonne der Nacht“ angehörenden Gedanken weckte: Das wäre recht ein Modell! bebte zusammen. Eine Thräne schlich sich in ihr Auge. Helene sagte, den Arm um die Freundin schlingend: Papa meint es nicht so bös! Sie zog Martha wieder hinaus in’s Freie.

83 Nun regte sich Althings weiches Gemüth. Er stand rasch auf, begleitete den Besuch und fing ganz leutselig mit ihm zu plaudern an. Aber warum gehen Sie schon? Die Mutter wird sich recht freuen, Sie zu sehen! Sie waren lange nicht da! Und dazu noch diese Modekrankheit, das menschliche Elend lindern! Haha! lachte er, doch ohne Bitterkeit; wie sich das nun ausnimmt! Die Frau Doctorin oder wie sie sich aus ihrer ersten Ehe lieber nennen hört, Frau Commerzienrath, sitzt mit Gräfinnen und Geheimräthinnen Comité und Sie, das Fräulein Ehlerdt, müssen die Sache selbst besorgen –

Ich thu’ es gern! Ich thu’ es gern –! erwiderte Martha tonlos. Daß der Professor ihrem Bruder gleichsam das Haus verboten hatte, war ihr ein schmerzlicher Stich in’s Herz. Denn ihr Bruder, ein wissenschaftlich und praktisch gebildeter Techniker, hatte von je (nachbarliches Wohnen hatte die Freundschaft der Familien veranlaßt; Marthas Eltern waren früh gestorben) an Helenen, wie an seinem Ideal gehangen. Aber freilich, wie hatte sich der noch jetzt zuweilen sich einfindende Bewerber verändert! Einsilbig folgte Martha ihrer Freundin, um noch die Mutter zu begrüßen.

Althing, der, heute ein Nonplusultra von Höflichkeit, Begleitung bis über die abscheuliche „Flora“ hinaus, zu Stande gebracht hatte, kehrte in sein Atelier zurück.

84 Ein schönes Mädchen! sagten jetzt beide Gehülfen mit dem für Althing wohlverständlichen Accent, als wollten sie sagen: Wenn Die Act stehen wollte! Das gäbe eine Minerva mit Schild und Speer!

Und Althing träumte dergleichen wohl auch, als er zurückkehrte zu seinen trüben Grabesideen. Aber schon längst war Alles das bei ihm – Reminiscenz! Er war in Italien gewesen, er hatte in München gelebt, hatte Schönes, das die Natur geschaffen, Lebenvolles, nachgebildet. Reich war seine Mappe an Eindrücken und er sagte wohl: Der Hauch der Erinnerung, der mir aus diesem schönen Einst entgegenweht, es kann ihn mir keine noch so blühende Gegenwart ersetzen!

Wie Raimund Ehlerdt die Massen bezauberte, davon bekam der Professor jetzt ein Beispiel. Er hatte gewiß deutlich genug seine Abneigung gegen den in Wolnys Fabrik angestellten Dirigenten der Ciselirwerkstätte ausgesprochen und doch sagte Blaumeißel ganz vernehmlich (er stritt mit Plümicke): Ach was! Wer soll denn die Kinder zu Hause bewachen! Und wir gehen ja auch nur, wenn Herr Raimund Ehlerdt spricht! Das kommt doch nicht alle Tage vor!

Althing hatte sich gesetzt und wieder zu arbeiten angefangen.

85 Nach einer Pause sagte Plümicke: Ich versichere Sie, Herr Althing, wenn ich nicht im Begriff wäre, Vegetarianer zu werden und allem Fleischgeruch aus dem Wege zu gehen, so würde ich blos einmal in die Thierarzneischule gehen und da fragen, ob der Ochse oder der Mensch stärkere Lungen hat. Denn wenn dieser Mann, dieser Ehlerdt, das Wort „Capital“ so über fünfhundert Köpfe und tausend Bierseidel (fünfhundert sind leer und noch nicht ausgespült) hinwegschleudert, ich sage Ihnen, das ist denn doch grade, wie wenn ich immer bei Schillern gelesen habe: Personenverzeichniß von Wilhelm Tell – der Stier von Uri!

Und nun „der Bourgeois“ –! meinte Blaumeißel. Hurrah!

Und „Schulze-Delitzsch“ ergänzte etwas schüchtern Plümicke. Das ist doch gerade, als wollte er diesen Mann in den Abgrund werfen, wo Heulen und Zähnklappern ist!

Kommt auch Leichenverbrennung vor? fragte der Meister, der eben eine umgekehrte Fackel modellirte.

Dies etwas schauerliche Thema bildete sonderbarer Weise einen Grenzstein, auf welchen allgemeines Stillschweigen erfolgte. Denn beide Gehülfen wußten, daß Althing die Leichenverbrennung als das Ende der Plastik bezeichnet hatte. Nun hatte aber grade neulich Helenens Mutter hier unten beim Plaudern im Atelier Einspruch 86 gethan und gesagt, grade im Alterthum, wo die Leichen verbrannt wurden, hätte sich doch die Bildhauerkunst in einem so überaus blühenden Zustande befunden! Worauf aber der Herr Principal mit dem Bemerken erwiderte, die moderne Bildhauerkunst sei auf den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele begründet. Die Alten hätten diese feste Zuversicht der Christen nicht nöthig gehabt, da die Motive ihrer Kunstpflege in andern Dingen gelegen hätten. Diese letzteren wären nun fast sämmtlich bei uns untergegangen. Kein Gott hätte wahre Kunstliebe in den Zeiten der Barbarei, wie sie gegenwärtig herrschten, wieder heraufbeschwören können! Die Kunstliebe hätte sich immer hinter etwas flüchten müssen, was ihr gleichsam einen nothdürftigen Vorwand zum Existiren gegeben hätte. Das Verbrennen der Leichen nun, hatte Althing gesagt, wird uns ein paar Bestellungen zu Urnen bringen; aber die machen zuletzt die Töpfer aus gebranntem Thon auch. Unserm Hauptverdienst, die Gräber zu schmücken, fehlt mit Leichenverbrennung die Unterlage, die Liebe zur festgehaltenen menschlichen Gestalt. Mit dem Bilde der sofortigen Zerstörung derselben geht unbewußt im Menschen auch das Interesse, diese Gestalt sich in der Erinnerung zu erhalten, verloren. Wenn man nicht glaubt, daß über die Kirchhöfe in stillen Nächten bei Mondenglanz weiße Nebelgestalten wallen, sich um die Leiden der Zurück-87gebliebenen härmen, gern von dem furchtbaren Geheimniß der Schöpfung sprechen möchten, wenn ihnen nicht der Mund geschlossen wäre, dann ist es auch nichts mehr mit unsern Monumenten und Statuen. Aus Nichts wird Nichts – ! Also hatte der Alte gesprochen und nun hüteten sich Blaumeißel und Plümicke wohl, die Sache auf’s Tapet zu bringen.

Inzwischen kam die Tochter des Meisters wieder zurück und nicht allein. Nicht wenig überrascht war Althing, als er wieder aufstehen und sein Käppchen ziehen mußte.

Er erblickte den neulichen Besuch, den Grafen Udo. Freundlich schon mit Helenen, die ihn am Hausthor beim Zurückbegleiten der in eine prächtige Equipage einsteigenden Martha empfangen hatte, lenkten Beide ihre Schritte dem Atelier zu. Der Graf war in Trauer. Am Hut sah man den Flor.

Ich wollte doch, sprach er mit der ihm eigenen, leichten wohltönenden Stimme, bei einem Spaziergang, der mich vorüberführt, die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, vorzusprechen in Ihrem Atelier, und wenn Sie Nichts dagegen haben, Herr Althing, thue ich das öfter!

Gehen Sie denn nicht sobald, erwiderte Althing ausweichend, in jenes schöne Land zurück – war es Spanien oder Portugal –?

88 Das allzuhäufige Auf-die-Finger-sehen liebte er nicht.

Wo die Mandeln röthlich glühn – fiel Helene ein, um die Schärfe der väterlichen Erwiderung zu mildern.

Und die Rosen schöner blühn, glauben Sie? fiel der Graf wieder ein und sog die Lichtstrahlen, die aus Helenens großen blauen Augen fielen, ein. Glauben Sie doch das nicht, Fräulein! Deutschland hat viel schönere Rosen, als Portugal!

Der Vater unterbrach diese Unterhaltung mit dem Poltern über das Nichtvorhandensein von Stühlen, da Alles mit Zeichnungen und Gypsmodellen belegt war.

Aber Graf Udo hatte schon den Fenstersims als Sitz erkoren, dicht neben dem Schemel des Meisters. Das doppelte Licht, das von oben und durch die Fenster fiel, gab allen Köpfen einen schärfern Ausdruck, hob die Schönheit dessen, der schön war, das Charakteristische da, wo man Charakter besaß. Mit scharfem Blick musterte der Graf aus geziemender Entfernung Althings Arbeit. Wie schöne Sachen Sie hier ringsum haben! sagte er und musterte dabei die Wände, die Winkel und sah doch immer nur auf die lichtbestrahlte goldhaarige Helene, die über die Rosen Deutschlands ihre Stickerei wieder vorgenommen hatte, und nach mehrfachem Bezeichnen des vom Grafen an den Wänden Entdeckten, ein auffallendes 89 Wort des fortarbeitenden Vaters: Unser Rechenknecht! dahin erläuterte: Papa meint die Arme, Beine, Köpfe, die da all’ herumhängen! Er besinnt sich nicht gern darauf, daß er ein ganzes Jahr auf der Universität Anatomie studirt hat! Die garstigen Gypsstücke müssen ihn dann daran erinnern! Nur bei Tisch, wo es gerade am wenigsten hingehört und wo Mama, die ihm das Tranchiren abgenommen hat, manchmal ihre Noth mit einem Braten hat, wendet er seine anatomischen Kenntnisse für die Lage der Rippen bei Gänsen oder die Flügelstücke bei Enten an –!

Der Graf lachte herzlich. Die Rede war so dreist, so unbefangen. Ada von Forbeck war ähnlichen Humors, aber ohne den Grundton des Gemüths. Er strich sich seinen Hut, dessen Florumhüllung etwas vom Kalkstaub abbekommen hatte. Plümicke brachte eine Bürste.

Wenn Sie mir vertrauen, sagte Helene, nähe ich Ihnen den Flor besser an. Hier habe ich mein Nähzeug nicht. Ich nehme ihn hinauf!

Vier Treppen! Um’s Himmels Willen nicht! rief der Graf. Mein Diener, ein Franzose, glaubt sich so gut auf die Nähnadel zu verstehen –! Sie haben Recht, der Flor wird bald abfallen.

Da geht man in einen Hutladen, sagte Helene, und läßt sich das von den Hutnähterinnen machen –

90 Das hätte ich auch gethan, Fräulein! Aber ich bin sehr, sehr geizig!

So wurde ganz leicht und zum Lachen hin und her geplaudert. Die Hutnähterinnen hätten die Debatte wieder beinahe in’s „sociale Problem“ gebracht, denn die Frauenloosfrage nahmen beide Mädchen, Martha und Helene, sehr ernst und jene hatte noch auf den Treppen von ihren Arrangements für die ihr empfohlenen Unglücklichen gesprochen.

Aber mit einem: Wie schön! Wie sinnig! unterbrach der Graf dann wieder das leichte Gespräch, wenn er ein Reliefporträt oder eine Gruppe, eine ideale Einzelfigur längere Zeit betrachtet hatte.

Wir können nicht Alle Siegesmonumente bauen, sagte Al­thing, oder auf die Eitelkeit unsrer großen Männer spe­culiren oder in den Büchern stöbern: Was könnte man wohl als Säcular­erinnerung in Trab bringen mit Hülfe eines guten Freundes? Welcher Dichter, welcher Musiker ist vor hundert Jahren geboren? Oder welche Stadt besitzt Mittel genug, um dem Einführer der Kartoffeln nach Europa ein Denkmal grade heraus wie aus dem Schulbuch zu setzen? Da muß man für die Industrie, die Bronzeure, die Ciseleure nachdenken! Sehen Sie dort den Untersetzer zu einer Lampe!

91 Auf dies Wort des Vaters sprang Helene hinzu, um Mehreres wegzurücken, was drei verbundene Graziengestalten verdeckte, die auf ihren ausgestreckten Armen die Lampe trugen. Die Schwingung der Gewänder und die Haltung der Körper war dabei so wohl bemessen, daß das Ganze in einem Salon einen reizenden Eindruck machen mußte.

Diese Tänzerin gleicht Ihnen, Fräulein! Unbedingt! Sie sind es! sagte der Graf.

Helene schwieg erröthend. Es sind Alles Porträts! Das ist eine Freundin von mir, die eben hier war – Martha Ehlerdt – das bin ich und das ist – Mama –!

Ich hätte auch Ihre Frau Mutter erkannt haben sollen! meinte der Graf.

Als sie jung war! rief der Vater, worauf Plümicke, der nicht gern allzulange schwieg, Oberwasser bekam und ausrief: Nicht wahr, Blaumeißel, die Form ist noch da?

So bestelle ich – drei Exemplare – ich verschenke die Lampen –! rief der Graf. Seine Stimme war dabei schwankend. War er doch nicht recht sicher, ob ihm gelang, dem Künstler einen Verdienst zuzuwenden und es doch nicht erkennen zu lassen, daß dies seine Absicht war. Sein wahres Motiv: Interesse an Helenens lieblichen Zügen, suchte er zu verschleiern.

92 Sie wollen uns in die Mode bringen! sagte Helene mit einer gewissen Zaghaftigkeit und blickte auf den Vater, von dem sie wußte, daß im Punkte des Erwerbs seine Worte seinen Empfindungen widersprachen. Die Erwerbsfrage war ihm im Künstlerleben das Allerwiderwärtigste. Dennoch konnte er mit Schärfe an jene eben angezogene Stelle eines alten Schriftstellers erinnern, aus der man ersah, daß der Hochmuth manches Künstlers, eines Phidias, eines Zeuxis, Apelles, sich herleiten läßt aus dem Gefühl, daß sie Alle Handwerker, keine freien Bürger waren.

Die Form zum Erzguß des hier in Gyps wiedergegebenen Modells befand sich in einer großen Broncefabrik. Für jedes verkaufte Exemplar hatte der Künstler einen Antheil.

Das wird Sie wieder ein schönes Geld kosten! sagte Helene zum Grafen, und am Ende sitzt einmal mein Bruder beim Schein dieser Lampe bei Ihnen und bekommt meines Vaters Arbeit und mein Gesicht so von Jemand, der Ihre Cigarren mitraucht, analysirt, daß wir die Bestellung bitter bereuen!

Der Graf mußte lachen. Und die Stimmung wurde so heiter, daß Plümicke förmlich wie freudig im Triumphton rufen konnte: Herr Ottomar!

Und nun keine Stühle! sagte Helene.

93 Jetzt bot der Bildhauer den seinigen. Er fürchtete sich, von seinem Sohne über die nicht abgelegte Gewohnheit des Weiterarbeitens bei Besuchen gezankt zu werden.

Ottomar war erstaunt, den Grafen zu finden, den er später zu besuchen gedachte. Er hatte sich, theils weil er des Grafen Eßstunde zu stören fürchtete, theils weil er noch einiger Sammlung für das von ihm Mitzutheilende und zu Erwartende bedurfte, den Spaziergang durch den Park und den Abstecher bei den Seinigen gönnen wollen.

Ich halte Dich heute für den vollen Abend fest, sagte der Graf zum Erstaunen des ganzen Ateliers über das eingeführte Du. Wir mußten heute viel früher unser Mittagsmahl nehmen als gewöhnlich, denn meine Tante thut heute den ersten Schritt wieder in die Welt. Mit der Erledigung der Denkmalfrage fiel es ihr wie ein Stein vom Herzen! Sie ist schon lange die Präsidentin eines Damenvereins für – ich weiß nicht – welche Zwecke – und da hat man sie so lange gequält –

Für Wohl und Bildung der Frauen – ergänzte Helene, gleichsam zurechtweisend.

Richtig! Gut, gut! Allen Respect! nahm der Graf seine Rede wieder auf. Aber die Sachlage ist die: Die Sitzungen haben seit einer Ewigkeit nicht stattgefunden, der Kassirer ist mit dem Gelde durchgegangen, 94 der Secretair ist auf einen Posten in der Provinz befördert worden, ich, ich wollte erst Protokoll führen – aber ich gestehe, ich gönne einem Andern dies ohnehin bezahlte Amt. Es bringt ihm die interessantesten weiblichen Beziehungen, eine jährliche Pension von dreihundert Thalern und jeden Falls zu jeder Weihnacht einen Pelz oder dergleichen. Lieber Althing, nimm Du die Stelle! Von jeder Dame bekommst Du vor Entzücken einen Kuß! Die Jüngste ist, glaube ich, fünf und fünfzig Jahre alt.

Ottomar schwieg. Das ganze Atelier war stumm. Der Vater war an sich vollkommen befriedigt. Und daß das hier so laut herauskam, störte ihn ebenfalls nicht. Der Sohn schien ja damit förmlich zu wachsen. Ottomar sagte entschlossen: Das kann man ja überlegen! Und Helenens kluge Art beugte jeder Mißstimmung durch die Bemerkung vor: Ach, darum war die arme Martha herumkutschirt! Diese Sitzungen haben also lange nicht stattgefunden! Nun kann ich mir denken, die vielleicht vor sechs Monaten der Commerzienräthin empfohlenen Unglücklichen wurden erst jetzt, rasch vor der Sitzung, besucht! Inzwischen sind die Armen verdorben und gestorben!

Ottomar begriff diese Bemerkung schnell, auch die anwesende Socialdemokratie und der Vater. Dunkler blieb sie dem Grafen.

95 Nun, sagte Ottomar, ich werde nur eine Bedingung stellen. Die Frau meines Principals, Frau Justizrath Luzius, hat mir die dringende Bitte an’s Herz gelegt, bei Dir und der Frau Gräfin dahin zu wirken, daß sie auch in’s Comité aufgenommen werde.

Die Sucht, sich mit hervorragenden Namen in den Blättern genannt zu sehen, eine von den kläglichen Offenbarungen, wie schlechte Folgen die besten Dinge nach sich ziehen können, kannte Graf Udo noch gar nicht. Das wird sich ja machen lassen! sagte er. Stelle nur diese Bedingung!

Wie wuchs Ottomar! Bisher hatte wohl Blaumeißel manchmal geflüstert: Lieutenant ohne Gage, Referendar ohne Gage, Lohnschreiber bei einem Advokaten, die Mutter besorgt seine Wäsche, und der Alte muß immer noch zuschießen . . . Ottomar hatte sein Chambre garnie bei ihm zu theuer gefunden und daß es bei ihm zuviel nach Zwiebeln röche.

Helenens Kunst der unterhaltenden Verstrickung zwischen den drei Männern, die jetzt sogar in den unerlaubten Räumen des Gartens auf- und abwandelten, ihre Kunst, lichte Fäden zu ziehen, die sich um die Wandelnden wie Sommerfäden legten, mußte dem Grafen bewunderungswerth erscheinen. Und dabei sah das kluge Mädchen, was der Graf gar nicht wußte, voll Angst, 96 wie der philisterhafte Sinn des Hausbesitzers sich schon regte und im Parterrefenster lange Gesichter glotzten mit Verwunderung. Kinder wurden in den Garten geschickt, die sich auf ihren Spielplätzen tummeln sollten. Zuletzt erschien die Mutter des ehemaligen Bierwirths und machte Miene, sich trotz der schon kühlen Abendluft in eine wie ein Vogelgebauer geformte putzige Laube von gefärbtem Draht zu setzen. Alles nur, um den Bildhauer an § 11 seines Miethscontractes zu erinnern.

Als Ottomar das Verhältniß erklärt hatte, sagte der Vater: Die den Urbewohnern dieser Stadt angeborne hämische Mißgunst leite ich von der Zeit der Pfahlbauten her. Die Stadt war früher Pfahlbaute, das Gewerbe Fischerei. Wenn die Fische in das Netz des Einen gingen, vermieden sie das Netz des Andern! Alle Seeleute sind Egoisten.

Jetzt sah man auch schon das rothe gedunsene Angesicht des Wirths an den Fensterscheiben der Küche, die in den kleinen mit großen Topfgewächsen geschmückten Hof ging. Graf Udo brach schnell ab und empfahl sich mit Ottomar, der ihn begleitete. Udo nahm seinen Arm. Vater und Tochter blickten ihnen erstaunend nach.

97 Fünftes Kapitel.#

Der große Park lag im Schmuck des Herbstes. Goldne Lichter, theils durch die Abendsonne hervorgebracht, theils durch die Abwechselungen in der Färbung des Laubes, spielten durch die Wege und das vorwiegende, unveränderte Tannengrün. Die Poesie des Herbstes, Käferleben, Obstsegen, seidene Fäden durch die Luft gesponnen, ist in einem solchen von strömenden Menschenmassen besuchten Lustwalde nicht zu finden.

Ottomar erzählte, so gut es vor Gerassel von Wagen und Geräusch von Menschen möglich war, sein in der Vorstadt mit dem Geometer erlebtes Abenteuer.

Und Graf Udo bestätigte, daß er den bewußten Brief schon erhalten hätte. Du sollst ihn lesen! Er ist kurz und bündig! Die Quintessenz ist, daß ich sie besuchen soll!

Sie will Dich selbst erobern!

Eine Pause trat ein. Der Lärm um sie her war zu übermäßig.

98 Ich bin nicht tugendhaft! sagte der Graf nach einer Weile, als er ruhiger geworden. Aber in Südamerika hörte ich eine Jesuitenpredigt, deren Thema lautete: Vermeidet die Gelegenheit zur Sünde! Die Tugend sei eine wohlberechnete Klugheit! Auch in Portugal habe ich diese Lehre besser von der Kanzel vortragen hören, als dergleichen von irgend einer evangelischen Kanzel gehört werden kann! Jetzt freilich – er drückte dabei seltsam Ottomars Hand – würde ich, und wenn die Frau noch so schön und verführerisch wäre, sie verlassen, wie ich gekommen.

Ottomar dachte an seine Verlobung, an die Heirath, die unmittelbar bevorstand –

Gefeit durch ein Wesen, das man liebt! fuhr der Graf mit Ekstase fort. Durch einen Engel, der in jeder Gefahr uns zur Seite steht! Ein weibliches Wesen, das den Himmel auf Erden in sich trägt! O, fuhr er fort, warum verleugnen wir doch die Natur! Warum folgen wir nicht dem Triebe, der uns sagt: Der Schöpfer wollte es so! Wer wagt es denn, Dich zu hindern, daß Du Dein Glück nimmst, wo Du es findest!

Ottomar, der des Freundes Gedankenreihen nicht begriff, sagte lächelnd: Nach dieser Theorie hat Dich die Marloff mit einem einzigen verführerischen Blicke weg! Sie soll wirklich sehr schön sein.

99 Der Graf schüttelte nur den Kopf.

Dennoch sagte er nach einer Weile: Wenn ich nur die rechte Verachtung meines Oheims in dieser Sache finden könnte, das würde mich noch mehr kräftigen und mir den Muth geben, zu der Frau zu gehen! Aber so bin ich nur berechtigt, ihn zu lieben, in ihm die Güte selbst zu sehen, die Weisheit, die Lebenserfahrung. Er erzog seine Frau, obgleich sie älter war, als er, und wie Du gesehen, recht häßlich. Aber sie liebte ihn mit Raserei. Sie war eine geradezu im Leeren und Nichtigen aufgewachsene Prinzessin, anspruchsvoll und dabei so zu sagen ganz Provinz! Wie geregelt habe ich alle seine Verhältnisse gefunden! Wie männlich trat er bei jeder Berufung an sein Ehrgefühl auf! Um meinetwillen setzte er in Bonn sein Leben auf’s Spiel! Seine Briefe an mich seit einer Reihe von Jahren sind so, daß man sie drucken lassen könnte, soviel Thatsachen, Voraussagungen über Politik, Urtheile über hervorragende Namen enthalten sie! Ich lasse mir auch nicht nehmen, daß die Annäherung an die Frau Deines Grobians unter Umständen stattgefunden haben muß, die für ihn entschuldigend sprechen. Finde ich doch in seinen Aufzeichnungen die Aeußerung, daß das ganze Geheimniß des Lebens im Verhältniß zwischen Mann und Weib läge und daß die Fortpflanzung eine stete Uebertragung der 100 Gottheit in Person sei, weshalb auch der Mißbrauch dieses Triebes unverantwortlich! Wen aber die Sehnsucht, im Weibe Sanftmuth, Güte, Ruhe zu finden, Ersatz für tausend versagte Erfolge des Lebens, verzehre, den solle man doch nicht verdammen, schreibt er, selbst wenn er sich in dieser Sehnsucht verirrte! Wenn er eine sanfte Wange suchte, um eine Weile die reine Weiblichkeit zu fühlen! Die meisten Moralisten seien Holzböcke!

Es war unmöglich, jetzt im Geräusch der Stadt, der man sich genähert hatte, sich über die Maßnahmen gegen das doch wohl nur auf Gelderpressung ausgehende Ehepaar zu verständigen. Ottomar lebte in juristischen Anschauungen und gehörte der Schule des gesunden Menschenverstandes an. Der Mann der verdächtigen Frau war ihm ein Geizhals, eine Boz’sche Figur. Er liebte die Engländer über Alles. Wie weit seine Theorie des gesunden Menschenverstandes ging, sah er recht aus den Chancen, die sich nun wirklich für die Frau Justizräthin Luzius eröffneten. Seine Frau Principalin wollte das Wohl des weiblichen Geschlechts befördern helfen und sein Gewissen hatte erwidert: Aber die edle Dame kann ja kaum orthographisch schreiben! Aber eine Gegenstimme sagte: Anfälle von Verstand hat sie doch!

Als Beide endlich einen Fiaker genommen hatten und vor dem Treuenfels’schen Palais anfahren wollten, 101 war die Einfahrt versperrt. Wagen reihte sich an Wagen. Man hätte glauben sollen, ein Ball würde im Hause gegeben. Es schlug sieben Uhr. Oben war die Begrüßung der noch vollkommen schwarz gekleideten Matrone im Gange. Alle Gasflammen brannten. Die Diener nahmen Shawls und Hüte ab. Verwandte waren dem Beispiel der Herrin des Hauses gefolgt und erschienen in Trauerkleidern, einen schwarzen Flor um ihr Antlitz, schwarze Floretthandschuhe an den Fingern. So die Generalin von Forbeck, eine lange, strengblickende Dame, die sofort, als Graf Udo den neuen Secretär vorgestellt hatte und dieser erst für die Wünsche seiner Principalin sprach, ihn mit der Lorgnette musternd die Statuten geltend machte, denen zufolge der Vorschlag eines neuen Mitgliedes drei Wochen vor der Wahl stattfinden müsse, und daß diese nie durch Acclamation, sondern immer durch geheime Ballotage stattfinden müßte.

Das ist eine Bedingung, rief Ottomar, sich mit Gewandtheit in diese plötzliche Begegnung mit siebzehn bis zwanzig ältern Damen von Stande findend, die meiner Clientin auf drei Wochen die Ruhe ihres Lebens rauben wird! Sie hat zwei Töchter! Da ist der Kopf einer Mutter vollends nur mit Toilettengedanken beschäftigt. Aber sie wird an Nichts denken, als daß sie durchfällt – die unglückliche arme Frau!

102 Haben Sie keine Sorge, lieber Herr Althing, sagte eine corpulente, stattliche Dame, die ihn schon lange kannte und herzlich begrüßt hatte. Der guten Justizräthin sind die weißen Kugeln gewiß! Wer sollte sie denn in unserm Kreise hassen! Und schon aus Dank, daß wir Sie erobert haben! Was werden Sie für Geduld mit uns haben müssen –! Mein Mann wollte die Stelle nicht annehmen –

Diese Stelle? Wolny? Ich dächte, der hätte Sorgen genug – entgegnete Ottomar.

Wie so? Ach so! Dieser Streik –? erwiderte die erst so freundliche, jetzt plötzlich verstimmte Dame und wandte sich ab. Es war die Commerzienräthin Rabe, jetzige Frau Doctor Wolny.

Immer mehr Bürgerliche! sagte die Generalin der Gräfin verdrießlich und lächelte wider Willen. Sie lächelte stets ungern. Denn ihre Zähne waren schadhaft. Ich hätte gewünscht, die Vorgeschlagene wäre von Familie! flüsterte sie einer andern Gebornen. Kurz, sie warb schon auf schwarze Kugeln.

Das Adelsthema ließ sich besonders wegen der vielen anwesenden Commerzienräthinnen nicht weiter erörtern. Diejenige, die erst so freundlich mit Ottomar gesprochen, machte den eigenthümlichen Eindruck, daß man nicht wußte: Ist sie noch schön und jung? Oder 103 ist sie alt und Alles, was an ihr jung erscheint, nur übertüncht und falsch? Sie gehörte zu den Besucherinnen aller Wohlthätigkeits-Bazars, fehlte bei keinem Opernhausball, wurde von den allerhöchsten Herrschaften nie unbeachtet gelassen. Ihr erster Mann hatte sich von unten heraufgearbeitet. Die an sich wohlmeinende Frau war krank, unheilbar krank. Sie verbarg ihren Zustand, theils aus einem den Frauen angebornen Sinn der Verheimlichung ihrer besondern Zustände, die ein edler Heroismus sie still für sich allein tragen läßt, theils aber auch aus Lebenslust und ihrem Gatten, ihrem ehemaligen Hauslehrer, zu Liebe, dem sie äußerlich den Schein nehmen wollte, als hätte er sich nur in eine reiche Wittwenexistenz hineingeheirathet. Martha Ehlerdt, Helenens Freundin, stand mitten inne in diesen psychologischen Erscheinungen.

Die Frage der „Speisemarken“ stand heute auf der Tagesordnung. Man suchte Mittel, einem förmlichen Börsengeschäft, das mit diesen Anweisungen auf ein Volksküchenmahl getrieben wurde, zu steuern. Die Juden können ihren Gegnern mit Stolz erwidern, daß es sich hier um eine Agiotage handelte, an der sie sich nicht betheiligen. Aber auch die eigentlichen Empfänger der Marken, die Bettler, essen nicht gern aus den Volksküchen, wo, wie sie sagen, die Gemüse nicht verlesen 104 würden, während sich zahllose Personen finden, Supernumerare aus allen möglichen Kanzleien, Lehrerinnen, selbstständige Confectioneusen, muthige Schwimmerinnen gegen den Strom des Lebens, die sich den meist in unterirdischen Localen servirten Tisch, auch wenn es nicht immer Speck und Sauerkraut giebt, wohlbekommen lassen.

Graf Udo hörte zwar noch, wie im Beginn sogar die beiden Fräulein Luzius, als Anstoß für die Generalin, die Mutter der schönen Ada, in die Debatte gezogen wurden, aber die dem Verein schuldige Discretion zwang ihn, den abtretenden Bedienten zu folgen. Glücklich, den Freund sich so geschickt in dies Amt finden zu sehen, ging er auf den Fußspitzen über die weichen Teppiche in die Zimmer seines Onkels zurück. Nach der Sitzung gab es die Reihe herum bei den Damen regelmäßig ein Souper.

Geschäftliche Zerstreuungen, Briefe, Anfragen, die zu erledigen waren, gab es für den wenig an Ada, immer an Helene Althing denkenden Grafen genug. Ada hätte ihm Alles hier durcheinander gewühlt, Helene Alles sauber zurecht gelegt. Ada hätte geschmollt und an die Fensterscheiben getrommelt, Helene sich mit ihm geneckt und ihre Ansichten, die Eindrücke ihrer Lectüre ausgesprochen. Gelegenheiten zur Bewährung von 105 Urtheilen gab es ja genug. Das Leben im Leben ist nicht wie das Leben auf der Bühne. Auf der Bühne scheinen alle handelnden Personen nur einen Zweck zu verfolgen. Nach Bühnengesetzen würde Graf Udo sogleich wieder nach dem Briefe der Frau Edwina Marloff greifen und einen Monolog voll Betrachtungen über Handschriften halten müssen, aber im wirklichen Leben hat Egmont soviel mit seiner Waffenhalle, mit seinem Stalle, mit seinen Gütern, mit seinen Pächtern zu thun, daß ihm die Freiheit der Niederlande zwar nicht mindern Werth behalten haben wird, als dann, wenn er mit Oranien spricht, aber sie beschäftigt seine Gedanken nicht allein. Goethe hat dies „Nebeneinander“ in der kleinen Plauderei Egmonts mit Ferdinand über die Pferde und in der gar nicht zur Handlung gehörenden Liebschaft des Schreibers vortrefflich angedeutet.

Endlich setzte sich der Graf in eine Sophaecke. Das in der Ferne in einem zum Hofe hinausliegenden Speisesaal angeordnete abendliche Mahl konnte ihn nicht stören.

Drei Frauengestalten gaukelten vor seinen Augen. Eine voll Unschuld und Lieblichkeit, voll Verstand und Urtheil, die andere eine Sirene, gewiß ein schönes Weib, ohne Zweifel darauf bedacht, sich vor ihm zu rechtfertigen, Scenen zu spielen, ihn zum Wiederkommen zu ver-106anlassen, ihn allmälig in dieselben Netze zu verstricken, in die ein ihm so theurer Name fiel. Die dritte, Ada von Forbeck, für ihn eine jener Dutzenderscheinungen der vornehmen Welt, immer leidenschaftlich bewegt, zornig, polternd, im Kundgeben ihres Willens rücksichtslos, in ihren Launen und Einfällen tyrannisch, schwatzhaft wie ein Kind, verurtheilend, wie ihr der Wind die Worte zutrug, die würdige Schwester, wie es ihm erschien, ihres mit Schulden belasteten Bruders, der seinerseits fast eine Ehrensache daraus zu machen schien, daß es zwischen dem Grafen Udo und seiner Schwester nun baldigst zur vollen Richtigkeit kommen müßte. Max von Forbeck war ein gefürchteter brutaler Raufbold.

Des Grafen Empfindungen waren heute um so erregter, als sich auch Ada zum Nachtessen hatte ansagen lassen; sie wollte mit ihrer Mutter noch in eine große Gesellschaft bei einem Minister fahren. Die Generalin hatte neben ihren schwarzen Floretthandschuhen noch violette in Bereitschaft.

La Rose, sprach er seufzend zu seinem Bedienten in französischer Sprache, wie gefällt Dir denn das Leben bei uns in Deutschland?

Ei, sagte dieser, ich bewundere die Betten, wie sie alle so klein sind!

Und was erscheint Dir zu groß an uns?

107 Der „Franzose ohne Revanche“, wie er zum Jubel des diplomatischen Kreises, dem Udo doch noch angehörte, wenn er seinen Austritt auch schon erklärt hatte, genannt wurde, nannte ein gewisses Geschirr, das Xantippe auf ihren träumerischen Gatten ausgoß, als dieser eines frühen Morgens nach Hause kam, den Hausschlüssel vergessen hatte und in Betrachtungen versunken stand, über welche unsere Professoren jetzt dicke Bücher schreiben.

Weiter haben sich Deine Studien noch nicht erstreckt? meinte der Graf, nach einer Cigarre suchend und die Consequenzen dieser beiden diplomatischen Aeußerungen mit Lächeln ziehend.

Jeder Schritt weiter würde die Welt sagen lassen, ich sei ein Spion! antwortete La Rose.

Wie kommt es, daß Du ohne alle Rachegelüste bist? fragte der Graf und suchte nach einer Cigarre.

Weil ich zwei Naturerscheinungen sehe, antwortete La Rose; die Franzosen sind ein Baum, der sterben will; denn Niemand heirathet bei uns, Alles ist Junggesell. Wenn es Ausnahmen giebt, so hat keine Mutter mehr als drei Kinder. Davon sterben gewiß noch zwei, weil die Mutter die Kinder nicht selbst verpflegt. Also Frankreich will sterben – Französisch – das wird werden, wie ehemals griechisch und jetzt jüdisch. Deutschland nun freilich – einen Baum nenne ich es nicht.

108 Warum nicht? Es ist ein Fels!

La Rose schüttelte den Kopf, kicherte und that, als wenn es geklingelt hätte; er lief mit den Worten: Auch in der Brutanstalt gehen zuweilen die Eier nicht auf! davon.

Mit solchen und ähnlichen Einfällen erheiterte der kosmopolitische, gesandtschaftliche Franzose, der die Schule des Auslandes durchgemacht hatte, seinen momentanen Gebieter, der große Lust hatte, ihn ganz zu behalten. La Rose hatte ihm einmal ein bedeutungsvolles Wort gesagt: Ich erleichtere Ihnen alles Natürliche! – Jeder Andere würde ihn auch schon zur Vermittlung mit der Marloff gebraucht haben.

Nach einer Weile kam La Rose wieder, brachte Zeitungen, machte sich Einiges zu schaffen und fragte dann mit trocknem Ernste: Ist es wahr, Herr Graf, daß sich Gott auch um die Mormonen bekümmert?

Wie kommst Du darauf? fragte der Graf im Aufblicke aus den Blättern.

Er soll es doch so eingerichtet haben, antwortete La Rose, der in Mußestunden las und immer noch in seiner durch das Aussterben in Frankreich und das Uebermaß von Menschen­erzeugung in Deutschland angeregten Gedankenverbindung lebte, er soll es doch so einge­richtet haben, daß die sämmtlichen Frauen, die Einer 109 nehmen kann, die jährliche Kinderernte keineswegs vermehren. Regen und Hagelschlag verderben den Ueberfluß und es ist, wenn die Herren von der Akademie kommen, um zu zählen, immer dieselbe Proportion wie überall, nur mit Ausnahme, wie ich gesagt habe, von meinem armen Frankreich!

Der Graf versprach sich zu erkundigen, wie es mit dem mormonischen Kindersegen aussähe. Er ließ sich die Cigarre von dem Franzosen anzünden. Statt ein Schwefelholz zu nehmen, zog dieser ein Billet aus der Tasche und sagte, soll ich dies dazu nehmen?

Dabei lächelte er fein und verschmitzt.

Graf Udo griff nach dem Billet. Wer brachte es?

Dasselbe anmuthige Mädchen von neulich! Sie war so schnell auf ihren Beinen davon, daß ich nicht einmal zu ihr sagen konnte: Muß es eine Antwort geben?

Und wieder stand ein Wagen draußen und wartete?

La Rose zuckte die Achseln. Diesmal, sagte er, habe ich den Wagen mit der verschleierten Dame nicht gesehen.

Der Diener verstand hinlänglich seine Stellung, um sich trotz seiner Vertraulichkeit mit seinem Herrn sofort zu entfernen und diesen, dem er ansah, wie aufgeregt, ja empört er war, allein zu lassen.

Der Graf las von derselben Handschrift wie vor einigen Tagen: „Herr Graf! Mich quälen einige 110 Unwahrheiten, die ich Ihnen schrieb. Die Stellen könnten mißdeutet werden. Gönnen Sie mir das Glück, mich vor Ihnen zu rechtfertigen! Schriftlich ist es unmöglich. Sie werden sich fürchten, meine Wohnung zu betreten. Ich schlage Ihnen vor, Sie in Ihrer diplomatischen Eigenschaft zu besuchen. Ein Zimmer, wo ich Ihnen eine sich auf Portugal beziehende Angelegenheit vortragen könnte, eine Erbschaft von 30,000 Thalern betreffend, wird sich doch wohl in Ihrem geräumigen Palais finden. Bitte um baldigen Bescheid und weisen Sie mich nicht ab, wenn ich komme oder wohl gar so dreist werde, wie Claudia in Emilia Galotti, die aller Anmeldungen spottend die Domestiquen zur Seite stößt und ausruft: Wo bist Du, mein Kind? Ich komme! Aber erschrecken Sie nicht über das Kind! Es ist nur von mir die Rede, die ihre Rechte reclamirt!“

Schon an der Stelle, wo die „diplomatische Eigenschaft“ erwähnt war, war Udo aufgesprungen. Vollends trieb ihn die Anspielung auf ein Kind im Zimmer hin und her. Er sah die Schreiberin dieser Zeilen, die entweder einige Bildung besaß oder sich diese Briefe von Jemand verfassen ließ, schon im Geist ohne Erlaubniß mit emancipirter Dreistigkeit, in einem rauschenden Gewande, die Treppe und die Zimmer erstürmen, er sah, wie sie sich seine Vertraulichkeit erzwang, Drohungen 111 ausstieß, die im Hause Aufsehen, die Tante erregen konnten. Er verwünschte die Sitzung, er hätte so gern endlich Ottomars Rath gehört. Sollte er sich La Rose anvertrauen? Er las beide Billets. Es hat sie ihr Jemand geschrieben! sagte er laut. Dann dachte er wieder an seines Onkels feine Bildung, des Onkels Belesenheit, seine geistreichen Lebensansichten. Da kamen ihm, wie aus einer verborgenen Kluft, aus den Zeilen warme Luftwellen entgegen. Er sah liebliche Bilder, Erinnerungen an seine Reisen, an die erhabene Natur Südamerikas, an südländische Frauen mit brennenden Augen, die zu ihm hinaufblickten. Er war im Geist versetzt in so manches Abenteuer, in das ihn wider Willen seine anziehende Erscheinung und eine gewisse Weichheit, die ihm eigen war, verstrickt hatte. Die Pariser Romantik beherrscht ganz Südeuropa und Amerika. Für Boz und die neuere deutsche Sittlichkeitsprahlerei in der Poesie fehlte ihm aller Sinn. Gern las er Longfellow. Nur trieb ihn der Hauch der Langenweile, der auf all’ diesem Geversel liegt, immer wieder zu den Franzosen zurück.

Warum? Konnte er sich nicht auch in dieser Schule jenes stille Gärtchen malen, wo ein auf gesellschaftliche Entsagung angewiesenes Mädchen ihre Welt darin fand, nur die Freude und die Stütze der Ihrigen 112 zu sein! Welch ein Schmerz doch im Frauengemüth, dachte er, als er sich endlich beruhigt hatte, sich sein Lebensloos nur so vom Zufall bestimmen zu lassen! Der dunkle Hintergrund der Tannen, die schimmernden Birken wurden ihm dann allmälig schöner, als alle Palmen und Sykomoren der tropischen Welt. Die Marmorblöcke belebten sich. Die Welt der Bildung, abdämpfend und abmildernd alles Wildnatürliche, trat wieder in edlen Umrissen hervor.

Und sich ganz vergessend, ganz der Trauer, der Comitésitzung, der Gräfin Wittwe uneingedenk, schlug er das Piano auf und wollte eben die Tasten mächtig berühren, als er die Worte hörte: Na, das ist schön! Sie machen Musik? die Trauer ist vorüber? Gott sei Dank! Da freue ich mich ja wie ein Hund!

Ada! rief er vorwurfsvoll. Diese Vergleichung ließ ihn sofort aufspringen. Leise war Ada eingetreten. Die Sitzung war vorüber. Sie war in reizender Toilette. Nur mittel von Gestalt, hob sie ein langer schwarzer Spitzenschleier, der ihr vom Kopf über den entblößten Nacken wallte. Dazu ihr schwarzes Haar, ihr brauner Teint, ihre sprühenden Augen; sie stand wie eine Spanierin, die zu Hofe geht. Sie war schon zu jener großen Gesellschaft gekleidet, in die sie noch mit der Mutter fahren wollte. Im Haar schimmerte eine einfache 113 Theerose, um den Hals zog sich eine mattrothe Korallenschnur, das gelbschimmernde, langschleppende Seidenkleid ließ Nacken und Arme frei. Sie durfte sich mit Wohlgefallen in den langen Spiegeln der Zimmer mustern. Der Graf war verdrossen über diesen Vergleich.

Ja aber, was hast Du denn dagegen? meinte die reizende Erscheinung sich prüfend am Spiegel links und rechts. Giebt es denn ein Wesen in der Welt, das seine Freude lebhafter ausdrückt, als den Hund? Unser Caro rennt durch den ganzen Garten, kobolzt über und über, wenn er mich kommen sieht – Man soll doch seine Vergleiche immer vom Treffenden hernehmen. Herr Althing! rief sie dem eben wie erschöpft Eintretenden und sich ihr mit Bewunderung Verbeugenden entgegen, Herr Althing, entscheiden Sie doch! Kann man nicht sagen, ich freue mich wie ein Hund?

O, sagte dieser, warum nicht gleich wie ein Pudel?

Nun machte Ada die Miene des Schmollens. Nun lassen Sie mich im Stich! sagte sie. Und doch sind Sie schuld an diesem Vergleich!

Wie komme ich zu der Ehre dieses mit Ihnen begangenen Verbrechens?

Sie sagten im vorigen Jahre auf dem Ball bei General Philo, alle Vergleiche müßten natürlich sein!

114 Und das haben Sie behalten? Sehr schmeichelhaft für mich! Aber Freude ist ein edler Begriff und folglich muß auch der Vergleich edel sein.

Wie? rief Ada aus, ein Hund wäre nicht edel? Ein Hund könnte nicht mit der Treue verglichen werden? Ich habe allen Respect für Udos Empfindungen für mich, aber so wie unser Caro liebt er mich doch nicht!

Danke für diesen Rivalen! entgegnete der Graf lachend und wandte sich, die Ordnung des nun beginnenden Mahles zu überwachen.

Herr Althing! sprach jetzt Ada ruhiger. Mit Ihnen kann man vernünftig sprechen. Indem sie auf eine Stutzuhr sah, die am goldumrahmten Spiegel stand, und diese mit der ihrigen verglich und letztere an ihr Ohr hielt, fuhr sie fort: Unser Professor in Aesthetik trug uns den Homer vor. Da waren mehrere Göttinnen, ich glaube gar die Majestät Juno selbst, ochsenäugig genannt, und die mobilen Colonnen, die gegen Troja anrückten, wurden immer mit Schafen und Gänsen verglichen. Die Gesichtsschärfe der Minerva – Offenbach würde ihr eine Brille aufsetzen – vergleicht er mit dem Blick der Eule in der Nacht und nennt sie die eulenäugige. Nun vergleichen Sie damit das große Gerede vom Vater Homer und Sie wollen mein: Ich freue mich wie ein Hund! unedel nennen.

115 Weinte Ada nun wirklich? Oder war das Ganze nur Schelmerei ?

Inzwischen untersuchte sie den Schreibtisch, forschte nach Cigarren und brummte, daß sie nichts für sie Passendes, Cigarretten, fände.

Ich begreife nicht, sagte sie in ihrem gemacht platten, natürlich sein sollenden Tone, wie sich Gräfin Tante schon hat so breitschlagen lassen, diese dummen Geschichten mitzumachen mit Volkswohl und Zubehör! Diese Menschheit, die immerfort bettelt, man sollte sie gar nicht berücksichtigen!

Ottomar entgegnete: Aber Ihre Mama macht ja Alles mit Leidenschaft mit! Sie führte heute in der Sitzung fast allein das Wort!

Werden Sie denn immer diese Redensarten mit anhören, antwortete sie, der Frage Ottomars ausweichend. Dabei warf sie sich der Länge nach auf’s Sopha, was sie der Toilette wegen mußte. Den Spitzenschleier breitete sie zur Seite. Ihr schwarzer Fächer ging mit Aufregung hin und her, während sie Ruhe zeigen wollte.

Ich schwärme für das edle Wirken dieser Damen! fuhr Ottomar fort und sah weg, um das schöne Bild nicht allzusehr auf sich wirken zu lassen.

Ach, Sie und schwärmen! sagte die junge Kokette und fixirte den seltsamerweise von ihr schon lange in 116 Gesellschaften ausgezeichneten jungen Mann, der sich ihr in jener Gesellschaft bei General Philo als ein Universitätsfreund ihres Verlobten vorgestellt hatte. Ihr Bruder Max von Forbeck hatte seine Gründe, diese in Aussicht stehende Verbindung überall zu proclamiren. Die Mutter nicht minder.

Von Mama urtheilen Sie ganz falsch! sagte Ada. Erstens hat Mama gar keine Leidenschaften und – noch weniger – setzte die scharfe, durch Rücksichtnahme nicht gebundene Tochter hinzu – hat sie eine bestimmte Meinung! Mutter horcht nur immer, wie der Wind bläst und woher! Kein Mensch weiß bei ihr, was kommt! Unter uns: Es ist Alles Commando bei ihr. Grade wie mit der Wagner’schen Musik. Erst stöhnte man vor Verzweiflung in Wagner’schen Opern und kam förmlich um vor dem ewigen Aufpassenmüssen, Textnachlesen, wie im Gesangbuch Vers 14. Nun aber das Alles von oben befohlen und mit besucht wird, findet man’s gottvoll. Ach, ist es denn wahr, unterbrach sie ihre ganze Gedankenreihe, daß Sie mit Udo eigentlich auch ein Duell gehabt haben?

Ottomar sagte: Auf der Universität paukt man sich ohne alle vorangegangene Beleidigung. Die Verbindungen brummen sich in Masse den dummen Jungen auf und man geht in Masse für die Verbindung im 117 sogenannten pro patria los. Da gab ich dem Grafen, der bei den Borussen war, einen derben Schmiß über den Kopf. Er ging etwas tief. Aus Besorgniß besuchte ich ihn und da die Jahreszeit sehr rauh war, der Schnee fußhoch lag, der Graf mit seiner verbundenen Stirn das Zimmer hüten mußte, so nahm er mein Anerbieten, ihm vorzulesen, an. Ich entdeckte interessante Bücher auf seinem Tisch. So habe ich täglich bei ihm zugebracht, bis er genesen, woher unsre Freundschaft –

Ach wie nett –! fiel Ada mit einem Ausdruck ein, der in jener Stadt nebst dem Worte „reizend“ üblich ist für Alles, was gefällt. Zwei Bände Aesthetik erledigen sich durch die beiden Worte.

Sie könnten mir Stunde geben –! sagte sie nach einer Pause.

Wenn Sie verheirathet sind, warum nicht? antwortete Ottomar.

Ich bin so schrecklich dumm! kam ganz ehrlich über die Lippen des hübschen immer schalkhafter werdenden Kobolds heraus.

Ottomar lachte laut auf. Naives Geständniß! sagte er.

Zum Beispiel das dritte Wort in der Zeitung unter Literarisch und Artistisch ist jetzt immer „Stimmung“. Sagen Sie mir um Gotteswillen, was ist denn Stimmung –?

118 Indem war Graf Udo zurückgekehrt, bot ihr den Arm und wollte sie zu Tisch führen, Ottomar war für die Gräfin Tante bestimmt und sprang in’s Sessionszimmer, seinem Part den Arm zu bieten.

Denn das weiß ich wohl, hörte er trotz alledem Ada neben sich reden (sie war ihm gefolgt), der Mond muß dabei über einen See schimmern und ein alter Thurm muß irgendwo im Schatten liegen und irgend was Stilles muß vor sich gehen, z. B. ein paar Rehböcke aus dem Walde schleichen, sich umsehen –

Oder ein paar Liebende umarmen sich! fiel Udo ein, den die natürliche Plauderei anzog.

Doch setzte sich Ada nicht neben ihn. Sie hatte im Sessionszimmer ihre lange Schleppe aufgenommen, sich rasch vom Arm des Grafen losgemacht und war nach dem Eßsaale geeilt. Ich komme gleich zurück! rief sie und ließ Ottomar und Udo unter den Damen, von denen Einige von ihren Sorgen um Volkswohl sehr erschöpft schienen und hungerten. Am meisten litt Frau Commerzienräthin Rabe, die sich auch vor dem Essen schon empfahl.

Ottomar, der neue Vereinssecretär, führte die Präsidentin, war aber nicht wenig erstaunt, als Ada rief: Hier ist Ihr Platz! Sie hatte die Sitze vertauscht. Graf Udo war zur Gräfin, Ottomar zu ihr gekommen.

119 Da ich nicht viel esse, weil ich noch in Gesellschaft gehe, kann ich Sie mit einigen Beweisen meiner Dummheit unterhalten! sagte sie, indem sie ihren Schleier über die Stuhllehne warf. Aber die „Dummheiten“ sprangen gleich auf die Damen Sascha und Zerline Luzius über und sagten ganz rücksichtslos: Wenn die Justizräthin durchfällt, kriegen Sie wohl von einem der hübschen Mädchen einen Korb? Von welcher?

Ottomar legte Messer und Gabel hin. Sie beleidigen mit jedem Wort, gnädiges Fräulein!

Ada lachte so natürlich, daß man allgemein fragte, was da so Interessantes besprochen würde. Eine vor Kurzem Ministerin gewordene Geheimräthin drohte sogar schalkhaft herablassend mit dem Fächer. Es waren kleine Versuche der Frau, bei ihrer Rangerhöhung natürlich zu bleiben.

Als die Tafel aufgehoben war, Alles sich nach einigem Geplauder im Stehen von der Hauswirthin, der wieder recht in Schwung gekommenen Gräfin, entfernt hatte, Ada zum größten Wohlgefallen der Generalin mit einigen Neckereien über ihre wohl nun bald bevorstehende Vermählung, waren Graf Udo und sein Freund allein, Ottomar verstimmt über die ihm von Ada verursachten unangenehmen Eindrücke. Sie hatte noch z. B. gesagt: Einen richtigen Mann nenne ich nur denjenigen, der im 120 Zoologischen Garten und wenn es noch so voll ist, für Stühle zu sorgen weiß!

Wie gefällt Dir Ada? fragte der Graf.

Sie kann sehr grob sein! antwortete Ottomar und berichtete einige von Adas verletzenden Aeußerungen.

In den Motiven gehst Du irr! entgegnete Graf Udo. Sie hat an Dir ein Talent gefunden, das die Frauen über Alles schätzen!

Den Shawl zu tragen –

Bewahre! Dem Kellner unter Umständen ein Trinkgeld oder eine Ohrfeige zu geben – Je mehr Sicherheitsgefühl, desto größer der Zauber –!

Renommage! Das ist das Wort der neuen Zeit! antwortete Ottomar und fühlte seinen ganzen Menschen empört. Ja, er war in der That entschlossen, handelte rasch, im Kriege war er in hundert Fällen darauf angewiesen. Aber er fing doch jetzt diese allgemeine Sucht, die nur auf das eigene Wohl bedacht war, zu hassen an. Sein Vater, Helene hatten ihm so oft Vorwürfe gemacht über die kalte Aeußerlichkeit seines Auftretens. Der idealistische Vater verlangte Seele, Vertiefung des Charakters, Gemüth, selbst wenn man im Leben zuweilen gegen Andre zu kurz käme.

Vom Grafen nach den Ergebnissen der gehaltenen Sitzung gefragt, rühmte er zerstreut den im Ganzen 121 verständigen Sinn, den er gefunden. Man hätte ihn mit dem Gedanken überrascht, daß es sich ja bei solchem Vereintwirken weniger um die wirkliche Hülfe als solche handle, als um den Schein derselben, durch dessen moralische Wirkung etwas Ermuthigendes, theils für die noch nicht verdorbenen Massen, theils für die Besitzenden zur Feststellung der Thatsache des Volkselends erzielt würde. Ein Geistlicher hatte diesen Gedanken in den Verein geworfen. Die Armen dürften dann doch nicht sagen, daß man sich nicht mit ihnen beschäftigte, und die Reichen nicht, daß die Armuth nicht da wäre. Nur die Generalin, berichtete Ottomar, ließ eine Phantasie los, die den Kampf der Cyklopen mit den Göttern schon in die nächste Zukunft rückt. Der Brocken des Harz wurde von ihr auf die Schneekoppe gestülpt, wie der Helikon auf den Ossa! Sie sah den Augenblick für möglich, wo sämmtliche Regimenter vom socialdemokratischen Gift durchfressen sein würden und beim Commando Rechts! Alles Links abschwenkte und die Welt aus wäre und mit ihr auch der Adel! Frau Wolny unterstützte diese gräßliche Phantasie, die mit Krupp und seinen Kanonen endete. Die neue Ministerin, die in Aufklärung und Freiheitsliebe machen mußte, bekam Nichts als wahre Alba-Ideen zu hören.

122 Udo zeigte stumm das zweite Billet.

Ottomar schüttelte den Kopf über die Vermessenheit und den Trotz der von ihm nachgelesenen Zeilen. Das Citat aus Lessing überraschte ihn; die Frivolität: Haben Sie keine Angst wegen eines Kindes! empörte ihn. Es steckt gewiß noch Jemand hinter ihr, der ihr diese Briefe schreibt!

Die alte Gräfin klingelte. La Rose erschien und holte die Zeitungen vom Tisch. Ich soll sie ihr noch vorlesen, bis sie entschlummert! sagte Graf Udo.

Gute Nacht! erwiderte Ottomar, als La Rose gegangen war. Antworte keine Silbe auf die Briefe! Ich werde mich mit Vorsicht der Schreiberin zu nähern suchen, ihr auf’s Zimmer rücken und ich hoffe, mit tausend Thalern baar ausbezahlt, ist die Sache erledigt. In drei Tagen ist Alles abgemacht.

Graf Udo drückte dem Freunde zum Zeichen seiner Dankbarkeit lebhaft und innig die Hand.

123 Sechstes Kapitel.#

Wieder hatte der Montag einen Theil der Freunde versammelt. Freunde durften sich die neuen Serapionsbrüder nennen in einer Zeit, wo die ausdrückliche romantische Freundschaftsversicherung aus der Mode gekommen ist.

Der Winter ließ sich ausnehmend milde an. Noch im November hatte man Tage, wo man versucht war, im Freien zu sitzen.

Das goldne Sonnenlicht schien auf die Physiognomieen einiger Männer, die sich in dem Kreise seltener zeigten. Heute war Doctor Wolny zugegen, ein Mann in den Dreißigen, der Miene nach etwas sorgenvoll, die Stirn gefurcht; sein Lächeln verschwand jedesmal so rasch wie es gekommen. In seinen weißen, nicht auf die Leitung einer Fabrik für Maschinenbedarf deutenden Händen ging ihm die Cigarre alle Augenblicke aus; so in Gedanken verloren saß er da. Er hörte die Anregungen, die von Anderen ausgingen, ohne selbst mitzusprechen. Sein Wissen war das eines Gelehrten der Alterthumskunde und jetzt des modernen Industrialismus zugleich.

124 Althing, der Vater, hatte ihn hier eingeführt. Auch dieser war wieder anwesend. Er müsse sich von seinem Sonntag ausruhen, sagte er. Denn gerade der Sonntag würde einem guten Familienvater besonders schwer gemacht. Da müsse immer etwas vorgenommen werden. Gestern sogar noch eine Wasserfahrt! Auf ein leises Sprechen zwischen ihm und Wolny hatte man immer nur, ohne diesen zu verstehen, von Jenem hören können: „Weiß ich nicht“ – und wieder ein „Weiß ich nicht“ – und zum dritten Mal ein „Weiß ich nicht“ – dann war er ernst geworden und ließ sich sogar, weil sich seine Erregung steigerte, seinen Schoppen erneuern. Tabak rauchte Althing nicht.

Das wiederholte Streiken der Arbeiter in der Rabe’schen Fabrik war Stadtgespräch. Auch daß man den Hauptagitator in Raimund Ehlerdt suchte, einem jungen Mann von ungewöhnlichen Gaben, dem seine Stellung immer einflußreicher zu machen gelang und der sich das Ideal gestellt zu haben schien, die Köpfe der Arbeiter durch einen einzigen Hochdruck von seiner Hand nach seinem Willen zu lenken. Eine Anzahl von, wie man zu sagen pflegt, „verbummelten“ Arbeitergenies, Faullenzern, die sich auf „Regimentsunkosten“ ernähren ließen und zuweilen ihrem breiten Brustkasten fürchterliche Drohworte und Schilderungen in den Versammlungen 125 entfahren ließen (die Polizei hatte das überraschende Princip, die Bestialität sich „ganz entwickeln zu lassen, damit man sie kennen lerne“), schaarte sich um sie. Ehlerdts Schwester führte die Wirthschaft im Hause des Doctor Wolny.

Woher kommt der Druck, sagte einer der anwesenden Industriellen, Fabrikant Schindler, gelegentlich bemerkt des Justizraths einzige Intimität, als Wolny über die Lage seines Hauses und seiner Fabrik sich im Ganzen nur zurückhaltend ausgesprochen hatte, woher kommt diese allgemeine Unzufriedenheit, selbst nach den glorreichen Siegen, die wir errungen haben? Nach der Neubildung eines als möglich ganz ungeahnten Einheitsstaates? Allerdings, der Wohlstand ist durch Ueberschwänglichkeiten der Speculation zerrüttet worden; aber darin liegt der eigentliche Grund des Mißmuths nicht, der auf den Gemüthern lastet –

Der nicht im Ernst gemeinte Einwurf: In der Kirchenfrage! In dem Mangel an Religion –! Und ein andrer: Im Schopenhauerthum! Im Pessimismus! wurden auch nicht für Ernst genommen. Das sind Fühler! rief eine Stimme vom untern Tische. Man lachte; denn Niemand biß auf die ausgestreckten Köder an. Das seltsame theologische Element der Stadt, ein feierliches und würdeanstrebendes Kirchenthum, war in 126 diesem Kreise nicht vertreten, sogar die Sonntagskirchengängerei nicht, die aus einem mit sich selbst (freilich auch mit Andern) kokettirenden sogenannten Gemüthe herstammte, gerade wie bei den Katholiken. Es ist das „Gemüth“ der Gewohnheit und des Wohlgefallens, das man über seinen eignen Werth empfindet.

Man brachte mancherlei Erklärungen einer Erscheinung, die man nicht in Abrede stellte. Das Unbehagen an den gegebenen Zuständen, der Mangel an sichtlicher Freude über das Errungene wurde zugestanden. Einige Erklärungen streiften das politische Gebiet. Dies wollte man nach einigen wenigen Paragraphen, welche die Statuten des nur lose geknüpften Bandes enthielten, „thunlichst“ vermeiden. Das „thunlichst“ war durch Luzius hineingekommen, der heute fehlte. Dieser hatte beim Entwerfen der Statuten gesagt: Ich bitte Sie, meine Herren, wie wollen Sie heutzutage auch nur zu zweit beisammensitzen und nicht in die Politik gerathen? Mir ist sie schon lange ein Haar im Essen; aber auf den Lebenstisch gehört sie für Jedermann selbstverständlich!

Daß eine Menge öffentlicher Beweise von Untreue, Verrath, Ueberläuferei, Gewalt, ohne die Züchtigung der öffentlichen Meinung durchgegangen ist, begann Wolny mit einer eigen­thümlich markigen, aber sich wenig erhebenden 127 Stimme, wie sie guten Lehrern eigen ist, das mag schwer auf uns Allen ruhen! Ich glaube, unsere Zeit ist gewissenskrank! Meliora probo, deteriora sequor! Das Bessere und Gute ist erkannt, das Schlechte, Falsche wird gepriesen und angenommen. Heute ist Montag, heute erscheinen keine Blätter. Nun kann man ja wohl sagen, wie in dieser viel zu großen Masse von Zeitungen (jedes Local-Ankündigungsblatt wuchs zu einer Zeitung und zuweilen auf Befehl) ein Wust von Thatsachen und Auffassungen gedankenlos nachgedruckt wird, wo man bei jeder Zeile innehalten und sagen möchte: Aber ist denn das nicht Alles erfunden? Oder: Ist das nicht Alles rücksichtsvoll auf Den und Den und Das und Das? Man lese doch nur diese Notizen über fürstliche Reisen, über Bälle der Großen, über die dabei entfalteten Toiletten! Der liberale Stolz, sich nicht um dergleichen zu kümmern, hat vollkommen aufgehört. Man buhlt nur um Gunst und flüchtige Ehre. Die deutschen Fürsten, durch den Bundestag schon längst zum Abdanken morsch geworden, sind wie neu befestigt! Dann ist das Judenthum nach langer Absperrung wie mit eingestemmten Armen in die Verkehrswelt eingedrungen und hat in den Gründungen und Consortien mit einem auf germanischem Boden ganz neuen Geschrei und mit seinen Geldmitteln das Unglaublichste geleistet. Das Geglaubte, ob es nun 128 wahr oder falsch, ob gerecht oder unbillig, ob echt oder nur zum Schein ist, entscheidet. Das Geglaubte wird nicht untersucht, nicht geprüft, man staunt nur, glotzt, reißt die Augen auf! Der Matador ist der Sieger! Und durch irgend ein Hinterpförtchen schließt sich selbst der Ehrliche, der Freisinnige, der Charakter Prätendirende dem Schwindel an. Gehen Sie in’s Theater! Das Stück ist erbärmlich! Man fühlt es, man weiß es! Aber die Claqueurs rasen und „Es wird doch gut gespielt!“ lautet das fast allgemeine Urtheil. Von der Ueberhebung des Unbedeutenden, von der ständigen Angewiesenheit des Bedeutenden auf ganz gewöhnliche Trompeterei, die aber das Stadtprivilegium hat, will ich nicht reden! Denn eine Aristokratie des Geistes giebt es nicht mehr. Nur eine Tyrannei der Faiseurs führt das Wort. Schopenhauer schrie zwanzig Jahre in’s Leere: Ist die Philosophie der Leute nicht die meine, so sind sie Dummköpfe! Allmälig wurde das gehört und geglaubt. Unsere Wissenschaftszustände, das Büchermachen, das Berufenwerden der Professoren von Abdera nach Thule und von Thule nach Abdera, über Alles das hat unsere Zeit – ein schlechtes Gewissen und daher die allgemein mangelnde Lebensfreude!

Eine Stille war eingetreten. Man hörte nur Althings schwerseufzendes: Sehr wahr! Aber keine andre 129 laute Zustimmung erfolgte. Aber auch den Redner zu widerlegen hatte Niemand den Trieb. Wolnys Aeußerungen würden in einer für ihn drückenden Weise verklungen sein, wenn nicht eine fast willkommene Unterbrechung eingetreten wäre. Der Zettel draußen an der Thür mit der Aufschrift: „Privatgesellschaft“ hatte zwei offenbar schon von starker Alkoholisirung beherrschte Männer nicht abgehalten, hier einzutreten. Sie gehörten nicht zum Kreise der Montagsgenossen. Es waren Adas Bruder Max und der Exassessor Rabe, der Stiefsohn Wolnys, den dieser hatte erziehen sollen, auch erzog, soweit sich eine grundverdorbene Natur erziehen ließ. Er gab ihn dann in strenge Pensionate und stand jetzt mit ihm, wie man zu sagen pflegt, blank.

Ach, Papa! rief er bei alledem. Er trug den Hut auf einem Ohr und schien aus einem sogenannten Delicatessenkeller zu kommen. Du hast ja gezwungene Ferien! Meine Herrschaften, odi profanum vulgus et arceo – das habe ich noch von ihm gelernt. Wir bleiben ein Bischen bei Ihnen –

Sie erlauben wohl, lallte Forbeck, daß wir einen Schoppen in Ihrem Kreise trinken! Dabei sank er schon auf einen Stuhl und griff nach einer der immer bereitstehenden gefüllten kleinen Flaschen.

130 Der Bart verwischt jetzt die Schärfe der Physiognomieen, der äußere Schliff der Civilisation nicht minder. Die kurze Nase und das sichere Dreinschauen des ersten Sprechers gab ihm Aehnlichkeit mit einem Mops. Der zweite hatte etwas von einem bösen, fauchenden, Jeden mit Angriff bedrohenden Truthahn.

Doctor Wolny bezahlte sein Frühstück und erhob sich sofort. Jedermann wußte, daß er mit seinem Stiefsohn so stand, daß sie sich kaum ansahen. Er hatte diesen sogar auf Reisen begleitet, nur durch wenige Jahre waren sie im Alter getrennt, ihre Verbindung hätte die innigste, von Seiten des Assessors Rabe (er hatte keine amtliche Thätigkeit mehr) die dankbarste sein sollen. Aber alles Schöne, was nur Lehrer und Schüler zu vereinigen vermag, so viele Weihestunden der Erinnerung, nächtliche Sternenblicke, Abend- und Morgensonnenfeuer in der Schweiz, Alles war ausgelöscht, weggeschwemmt, untergegangen in Haß, Verleumdung, Intrigue. Die Mutter ging dem Tode entgegen. Doch selbst im gesundesten Zustande wäre sie in diesem Conflict die Schwäche selbst gewesen. Eitelkeit vertrug sich bei ihr mit allen erdenklichen liebenswürdigen, sogar gutherzigen Eigenschaften. Auf ihren Tod hin war ihr Sohn einer der verrufensten Schuldenmacher und eleganten Herumtreiber der Stadt. Auf gleichen und ähnlichen Wegen, 131 die er wandelte, begegnete ihm Max Forbeck, Adas Bruder, der dreimal hintereinander durch’s juristische Examen gefallen war, die militärische Carrière ohne Glanz versucht hatte und durch Hindernisse in seinem Charakter höhernorts veranlaßt wurde, diese Carrière zu verlassen. Nun war er gezwungen, sich kürzer oder länger andauernde Existenzen aus dem Capital an gesunder oder fauler Gährung der großen Stadt herauszuschlagen. Der Hauptnachdruck war begründet auf das dem sterbenden Vater gegebene Versprechen des über die Wirkung seines Schusses bestürzten Grafen Wilhelm, sein Erbe sollte Ada von Forbeck heirathen. Der Zeitpunkt war schnell gekommen, unter besonders günstigen Umständen. Graf Udo wurde Majoratsherr! Die Anschaffungen für die Aussteuer waren im vollen Zuge. Mit jeder Rechnung wußte Max von Forbeck eine Durchstecherei, einen gemeinen Coup vorzunehmen.

Die ersten Anknüpfungen eines Gesprächs mit den Eindringlingen, denen Niemand sagen wollte: Scheeren Sie sich hinaus! waren peinlich genug. Der Streik im Rabe’schen Geschäft gab die nächste Handhabe einiger Aeußerungen des Bedauerns, der Nachfrage, zuletzt der Aufnahme des gesellschaftlichen Themas überhaupt, das Forbeck nach einer andern Weinsorte, die er bestellte, nur mit Kartätschen für lösbar erklärte.

132 Indessen floh Wolny einen Ort, wo ihm sonst ein kurzer Aufenthalt immer einen wohlthuenden Eindruck hinterlassen hatte. Lange nicht war er dem immer anregenden Bildhauer begegnet, seit lange nicht hatte ihn dessen Sohn besucht, der vor Jahren auf der Universität sein Hörer war, dann sich ihm hier näher befreundete. Wolny war um zehn Jahre älter als Ottomar, aber durch seinen ursprünglichen Beruf zum Unterricht und zur Erziehung allem Jugendlichen zugewandt. Bei allem Kummer, der über ihn hereingebrochen, hatte er eine offene empfängliche Brust für frische lebendige Eindrücke behalten. In einer jener Arbeiterversammlungen, die Wolny früher noch besuchte, jetzt aber ihres immer zügelloser gewordenen Tones wegen aufgegeben hatte, hatte er Ottomar so schwungvoll sprechen hören, so energisch die ihm gemachten Einwürfe ablehnen, so fest seinen Posten als freiwillig und aus Liebe zur Sache zum Sprechen gedrängter Redner sich behaupten, daß er auf ihn zugegangen war, mit ihm den Abend gemeinschaftlich verbrachte und vollends mit ihm Freundschaft schloß, als er auf die frühere Berührung zurückkam.

Die große Stadt trennt, die große Stadt verbindet.

Siehe da! hörte Wolny, der ruhig seinen Weg bis in eine weitentlegene Gegend vor dem Thore genommen hatte, hinter sich herrufen, siehe da! das trifft sich ja 133 wie bestellt! Eben wollte ich zu Ihnen! Die Zeitungen sind voll von dem neuen Rumor Ihrer Arbeiter! Ist denn wirklich dieser Ehlerdt so nichtswürdig und zettelt alle diese Dinge an?

Wolny zuckte die Achseln.

Ich wollte zu Ihnen, um Ihnen mein Beileid auszusprechen. Hat denn Fräulein Martha keinen Einfluß auf ihren Bruder?

Mein alter Buchhalter Wehlisch, der uns die beiden Geschwister als Waisen in’s Haus gebracht, war bis jetzt der Einzige, der noch ein Wetter über ihn loslassen konnte. Jetzt hört er auch auf diesen alten Freund seiner frühverstorbenen Eltern nicht mehr.

Aber die Schwester – warf Ottomar Althing ein.

Mit der rede ich nur, was nothwendig ist. Sie kennen die krankhafte Eifersucht meiner Frau und die förmlich polizeiliche Controle, unter der ich stehe!

Er meinte das Herumschleichen einer alten Schwester seiner Frau im Hause.

Schade! Schade! Ich muß Fräulein Martha sprechen! fuhr Ottomar lebhaft fort. Einigen Einfluß auf ihren Bruder wird sie doch noch haben. Wenn sich der Mensch unterstünde, je wieder unsre Schwelle zu betreten –

134 Wolny stutzte. Er wußte, daß sich Raimund Ehlerdt rühmte, die Liebe des schönsten und gebildetsten Mädchens, Helene Althing, zu besitzen. Lange hatte man in dem vierten Stock des Parkhauses und in dem tannenumfriedeten Atelier Nachsicht mit den Besuchen des jungen Technikers gehabt. Ottomar erzählte, daß der Freche gestern gekommen sei, als die Eltern zufällig ein wenig ausgegangen. Er wäre so zudringlich gewesen, daß sie den Eltern darüber Nichts hatte sagen wollen, am wenigsten den Vater aufreizen, der sich über die Unmöglichkeit, sich in solchen Fällen durch Ohrfeigen und Zurthürhinauswerfen zu helfen, so ärgern konnte, daß er auf Wochen krank wurde.

Ottomar kam auf die Ablehnung eines Gesprächs mit Martha zurück und sagte: Aber warum verläßt denn nicht lieber Fräulein Martha ganz Ihr Haus? Sie könnte doch wohl eine ähnliche Stellung in irgend einer andern Familie finden –

Das will die Eifersucht unter keiner Bedingung! entgegnete Wolny. Eifersucht will ihr Opfer immer unter Augen haben, will es beobachten auf Schritt und Tritt, will es zuweilen streicheln wie ein Kätzchen, dann zerreißen; denn das Kätzchen bekommt dann die grünen Augen eines Ungethüms, das sich immer größer aufbläht. O, anonyme Briefe sind die Schwimmflossen meines Daseins! 135 Das geht hin und her! „Sie nähren eine Schlange an Ihrem Busen“ und ähnlich. Oder: „Unglückliche Frau, man wartet auf Ihren Tod! Ihre Nachfolgerin ist die schöne Verführerin.“ Bei Tisch habe ich schon von Fräulein Dora hören können: Es ist erstaunlich, wie viel Fälle von heimlichen Vergiftungen von Ehefrauen durch die Männer und deren Geliebten es in der Geschichte giebt! Sie liest alle Leihbibliotheken durch.

Der Anlaß zum Lachen lag nahe und doch wurde er von keinem von Beiden ergriffen. Auf Wolny lag ein zu schwerer Druck.

Dennoch gab Ottomar seiner Erwiderung eine humoristische Wendung und bemerkte: Verschaffen Sie mir eine Anstellung, die heirathen läßt und ich ziehe Sie aus aller Verlegenheit! Fräulein Martha ist für den Kenner anziehend genug, um ihr sofort seine Hand zu bieten. Ich sage da wie Elias Krumm: „Ich heirathe sie vom Fleck!“ Haben Sie aber Vorrechte, so lasse ich sie Ihnen! Ich denke über Liebesaffairen vollkommen kühl wie Schopenhauer!

Wolny erwiderte Nichts.

Das bewußte schmale Trottoir hatte aufgehört. Man kam an unerträglich lange Holzhöfe, denen jede Nichtregulirung eines gangbaren Weges gestattet schien. Dann kamen wieder Häuserreihen wie nach der Schnur gebaut. 136 Endlich erblickte man einen durch gelblichrothen Anstrich besonders anziehenden Complex von Gebäuden, in deren Umgebung sich zur einen Seite ein baumreicher Garten erstreckte, zur andern jene Schornsteine gehörten, die ein höchst elegantes Wohnhaus, eine große, fast fürstliche Villa mit Nebengebäuden überragten.

Die Schornsteine dampfen ja! bemerkte Ottomar.

Die Fürsorge einiger älteren Arbeiter, die meist verheirathet sind und leichtere Arbeiten auch allein erledigen können! sagte Wolny. Uebrigens, setzte er leise hinzu, erwähnen Sie ja Nichts von Ihren Elias Krummgedanken vor meiner Frau! Humor verstehen kranke Menschen nicht!

Im Hause war die Eßstunde in der Regel spät. Die Commerzienräthin fuhr lange spazieren, wollte vom Hofe gesehen sein und machte Visiten. Sie trieb Alles wie die vornehme adlige Welt und da diese Nichts mehr ausschließt, als was physisches Unbehagen erweckt, die Nähe von Kranken zumal, so quälte sich die eitle Frau, gesund zu scheinen. Sie gab Diners und Bälle, lachte und setzte die Modehändler in Nahrung.

Ihre Schwester empfing den ihr heute zum erstenmal vorgestellten Referendar Althing gleichgültig. Sie las in einem Mühlbach’schen Romane und behauptete, ganz allein bei Maria Theresia zu sein. Die Zimmer 137 Wolnys lagen in einem Seitenflügel. Man durchschritt einen etwas dunkeln Corridor, auf welchem eine weibliche Gestalt an ihnen vorüberhuschen wollte, dann aber, als sie Ottomar erkannte, stillstand und freudig erregt nach dem Befinden der Seinigen fragte. Man hätte sie nun für eine Tochter des Hauses halten können, so gewählt war ihre Toilette, obschon diese in den Grenzen der Einfachheit blieb. Ein dunkles Kleid mit hellen Verzierungen und für die häufige Verpflichtung in die schon empfindliche Kälte, in den Zugwind hinauszutreten, ein blauweißes wollnes Gewinde im Haar standen der schlanken, scharfausgeprägten, plastischen Physiognomie, die sich ein feines Lächeln, ein seelenvolles Etwas geben konnte, anziehend genug.

Herr Althing will Ihnen etwas von seinem Fräulein Schwester ausrichten! Sie werden aber dafür gut thun, ihn in Ihrem Zimmer zu empfangen. Jetzt lassen Sie uns etwas Frühstück kommen. Wenn ich zweimal schelle, so führe ich Herrn Althing nach der Martha-Herberge. So nennen wir hier die Gegend, wo das Fräulein ihre Zimmer hat.

Man sah schon, daß Martha in hohem Grade aufgeregt war. Diese neue Ankündigung von etwas Unerwartetem, ja so feierlich Eingeleitetem schien auf ihre Nerven einen lähmenden Eindruck zu machen. Sie schien 138 einen Augenblick vergessen zu haben, daß sie anderweitige Aufträge zu verfolgen hatte. Ohnehin lag schwer genug das Unglück mit der durch ihren Bruder gestörten Fabrik auf ihrer Brust.

Es kam, was an kalter Küche, an Vorabkost vom Mittagsmahle, das erst um vier Uhr genommen wurde, gegeben werden konnte. Wolny hatte schon etwas gefrühstückt, doch nicht ausreichend. Für Althing bot der weite Weg, die herbstliche Luft Entschuldigungsgründe, wenn er so vielen „Umstand“ zu machen zuließ. Er erstaunte darüber, daß die Commerzienräthin mit keiner Silbe seines Eintritts als Protokollführer im Treuenfels’schen Palais Erwähnung gethan hatte. Kranke sind so mit sich selbst beschäftigt, daß ihr Gedächtniß zwar an sich nicht nachläßt, aber es entgleitet ihrem Interesse Alles. Die Furcht und der Schmerz vom Leben sobald scheiden zu sollen, beherrscht alle ihre Empfindungen.

Und hier im Hause herrschte allein das grauenvolle Ungethüm, die Eifersucht. Es blickte aus allen Winkeln. Anfänglich ein Roman-Phantasiegebilde der im Leben ganz nüchternen und prosaischen Dora bekam es Gestalt und wuchs, wuchs bis zur wildverzweifelnden Flucht an ein Fenster, um sich hinauszustürzen. Dann wirst Du doch Ruhe haben! rief wohl die Mutter des Ex-Assessors, die diesen Sohn schon so oft, förmlich wie auf der 139 Bühne die Ziegler heute noch thut, verflucht hatte, und doch folgte sie wieder seinen Rathschlägen, lächelte den Schmeicheleien seiner Frau, einer dürren, eitlen Kokette. Ottomar kannte die Sachlage. Wolny hatte ihm Alles erzählt, nur nicht, daß er Martha wirklich liebte. Das war ein Gefühl, worüber sich Wolny, früh vom Leben in die Schule genommen, selbst keine Geständnisse machte.

Ottomar hatte für die hier waltenden Conflicte schon manchen Rath gegeben. Auch heute wurde mit Discretion manches der verfänglichen Themen berührt. Erfreulich schien ihm der trotz des Streiks doch nicht ganz aufgehörte Verkehr, den man in den Waarenmagazinen beobachten konnte. Dort war Alles vom Kohlenstaub geschwärzt. Schwerhufige, langmähnige Rosse verrichteten ihre Dienste wie sonst. Freilich ebenso erblickte man auch an der Fronttreppe des Hauses Träger von Cartons, die auf Wolnys Gattin warteten. Da diese als von Putzgeschäften kommend bezeichnet wurden, so ließen sie wenigstens auf keine gebotene Einschränkung im Hauswesen schließen.

Wolny zog zweimal an einer mächtigen Glocke und begleitete Ottomar durch mehrere mit schweren Teppichen belegte Corridore an eine Stiege, von wo aus er ihm die Thür zeigte zur „Martha-Herberge“.

140 Ottomar klopfte. Er wartete auf ein Herein! Niemand antwortete. Er wiederholte sein Klopfen. Endlich klinkte er die Thür nieder und sah in’s Zimmer.

Noch war Niemand in dem freundlichen saubern Raume.

Treten Sie nur näher! hörte er eine von Husten und Athmungsbeschwerden unterbrochene Stimme. Fräulein Ehlerdt wird sogleich kommen!

Das war die Schwägerin von vorhin. Sie mußte hinter einer Mauerecke gestanden haben.

Martha kam.

Ottomar behielt nicht viel Zeit, sich im Zimmer umzusehen, wo er fast die Einrichtung seiner Schwester wiederfand, Kleiderschränke, Nähmaschine, Bücherbrett, eine Kommode mit Nippsachen, für deren Aufbewahrung nur die Pietät, das Andenken an die Kinderjahre sprechen konnte. Wenn Ottomar seiner Schwester auch nur das Geringste an diesen blauen mit Goldsternchen geschmückten Gläschen oder Büchschen störte, war für diese gewöhnlich die Welt aus den Fugen.

Eben kommt die Commerzienräthin! sagte Martha und deutete auf das von Ottomar unbeachtet gebliebene Anrollen eines Wagens. Martha schien in der größten Aufregung zu sein. Es war, als wenn eine Königin bedient sein wollte!

141 Mein Auftrag soll Sie nicht lange aufhalten, Fräulein! Ihr Bruder soll uns unter keiner Bedingung mehr besuchen! Ich sage das Ihnen, nicht ihm selbst, weil ich den Ehrenconflict vermeiden will. Sie verstehen mich. Sagen Sie es ihm, daß meine Schwester nie daran gedacht hat, eine Neigung für ihn zu haben! Eine Zeit lang konnten seine Talente, sein Geist, vor Allem die Verwandtschaft mit Ihnen fesseln, aber neulich, als er die Schwester allein fand, war er so zudringlich, daß die Sache aus ist. Ich bin der natürliche Anwalt meiner Schwester –

Um Gotteswillen! unterbrach das tiefbeschämte und erblaßte Mädchen die auf das Aeußerste gehende Drohung. Nimmermehr! rief sie und deutete die Möglichkeit eines Duells oder einer gewaltthätigen Begegnung an. Dann zog sie ihr Taschentuch und drückte Thränen aus den Augen.

Ottomars Bitte um Verzeihung, ihre eigne Antwort konnte kaum zum vollen Aussprechen kommen, da Martha durch ein in kurzen Intervallen erfolgendes zweimaliges Schellen abgerufen wurde.

Ich danke Ihnen, Herr Althing! war Alles, was sie noch erwidern konnte. Dann rief sie schon durch die geöffnete Thür ein Ja! Ja! in die Corridore hinaus, so daß sie kaum noch die Worte ganz gehört haben konnte, die Ottomar im Gehen sprach: Meine Schwester wollte 142 nicht schreiben, sondern schickte mich, damit Ihr Herr Bruder sieht, daß es sich um eine ernste und nachdrückliche Ablehnung handelt.

Ja, ja, ja! sagte Martha athemlos. Ihr schwindelten die Sinne. Denn wie im Geiste, so in persönlichen Beziehungen hatte sie sich längst von ihrem Bruder getrennt. Sie hatte an sich keinen Muth, mit dem Verwilderten anzubinden. Aber sie wollte das doch nicht dem verehrten Besuche eingestehen. Das eben machte sie halb ohnmächtig.

Ich verlasse mich fest, Fräulein Martha! war vielleicht grausam betont, wenn man voraussetzen konnte, daß Ottomar Alles kannte, was in der Brust des gebeugten Mädchens vor sich ging. Die Arme, die ihm so zu sagen noch würdevoll das Geleite gab, während ihre Nerven schon durch die ungeduldig klingelnde Commerzienräthin in Erregung waren! Denn diese schenkte ihr wohl, wenn sie in elegische, bereuende, vom Leben Abschied nehmende Stimmungen kam, kostbare Kleider und Schmuck, war aber rücksichtslos, wenn das kleinste Bedürfniß nicht nach ihrem Willen befriedigt wurde.

Ottomar fand Wolny nicht mehr in seinem Zimmer, hatte auch nicht die mindeste Lust, der Commerzienräthin, die ihn so übersehen, aufzuwarten, sondern schlich sich auf den Zehen durch den von Kohlenabfällen geschwärzten 143 Hof auf die Straße. Schlackenreste aus den Oefen bezeichneten ringsum die Wege, so sauber es auch im Innern des Hauses aussah. Er war der Wohnung der Marloff ziemlich nahe, Pallisadenstraße 13. Er wollte vigiliren, ob er es wagen konnte, sie bei Tage zu besuchen – – –

Inzwischen war um die Commerzienräthin schon jene Lebendigkeit eingetreten, die um sie her herrschen mußte, um sie in dem Glauben an die Unzerstörbarkeit ihres Lebens zu erhalten. Wenn sie nur Menschen sah, wenn ihr nur prächtige Kleiderstoffe entgegen lachten, Carossen der Aristokratie vorfuhren, dann hatte sie Anhalt an die Welt, von welcher die grausame Wirklichkeit ihres Leidens ausgeschlossen war. Dann konnte sie dem Arzte Versicherungen geben, daß sie keinen Ball besuche, dem Justizrath Luzius ein baldiges Testament versprechen, dem Sohn einen ernsten Vorhalt machen und zuletzt ihren „geliebten Mann“ umarmen und liebkosen. War sie aber allein, ohne Anregung und versagte ihr die Kraft, sich aufzuschwingen, Gesellschaft zu sehen, dann traten alle Schreckgestalten vor ihr Auge. Dann waren Wolny und Martha bereits verbunden! Dann verkaufte jener die Fabrik, zog in glücklichere Gegenden, in wonnige Gefilde, in die Schweiz, schwelgte mit der schönen schlanken Geliebten in Italien – während sie im Grabe moderte – ha! dann hätte nur ein Beweis geführt 144 werden müssen, und das ruchlose Treiben des Assessors auf Umstoßung des väterlichen Testaments, das ihn für abgefunden erklärte, wäre gekrönt worden. Sie hätte den Retter ihres Vermögens, den Erhalter ihres Namens in der gesellschaftlichen und der Geschäftswelt in einem neuen Testamente nur auf ein Pflichttheil der Erbschaft verwiesen und Alles ihrem Sohne zugeschrieben.

Muster waren angekommen, über deren Wahl Martha entscheiden sollte. Es war der Staatsanwalt Stracks da, der zu den Gästen des Hauses gehörte und von ihr wegen des Streiks citirt wurde. Der gefürchtete Mann erklärte sich für unfähig, gegen streikende Arbeiter etwas zu thun, da ein Gesetz wegen Contractbruchs fehle. Der Medicinalrath Flink kam, der an den Dorfbarbier in Schenks alter Oper erinnerte. Wie dieser alle Bauern nebeneinander setzt und sie sämmtlich mit einem einzigen großen Pinsel und mit einem Handgriff einseift und beinahe auch mit einem einzigen Messerstrich rasirt, so machte dieser Herr täglich die enorme Zahl von Patienten ab, die bei den colossalen Entfernungen der verschiedenen Wohnstätten dazu gehörten, ihm eine gesellschaftliche Stellung zu geben, Söhne studiren zu lassen, Töchter auszustatten und was außer zwei Bällen zum Kampf um unsre Existenz gehört. Flink hatte eine ihm angeborne Plauderlust. Aber durch die Umstände gezwungen, 145 hatte er diese unterdrückt. Die Manieren alter Aerzte nachahmend, scheute er selbst die Grobheit nicht, um nur Zeit einzubringen. Doch that er den Kranken damit wohl; ganz gegen sein Gewissen donnerwetterte er den Kranken auf den Kopf zu, daß sie gesund seien. Heute hatte er freilich doch gesagt: Schnürleib weglassen! Eingezogen leben! Wenig Gesellschaften sehen! Nicht überall mit dabei sein wollen! Haben wieder Comitésitzung gehabt! Ruhig auf dem Sopha liegen bleiben! Ein gutes Buch lesen! Am wenigsten in die kalten Kirchen gehen! Der liebe Gott kommt schon so zu Ihnen!

Mit diesem sehr zweideutigen Worte war er heute verschwunden, um nach zwei Tagen wiederzukommen.

Der Staatsanwalt stand in der Ferne und hörte die Conversation nicht. Als er zurückkehrte, fand er die Commerzienräthin bewegt. Er merkte Nichts. Solche berühmte Sprecher fangen immer da wieder an, wo sie aufgehört haben. In vieler Hinsicht, sagte er, stehen wir ja gegen die Republiken des Alterthums zurück! Wer sich damals so gemeinschädlich aufführte, wie diese Arbeiter, wurde sofort aufgehoben. Der gesellschaftliche Contract bringt es mit sich, daß man auch jetzt noch so verfahren sollte, und ich glaube, daß auch noch die Zeit kommen wird, wo man so einen Menschen, wie Ihren 146 Raimund Ehlerdt, geradezu am Kragen packt und nach Amerika transportirt!

Der Sprecher kannte die Beziehungen der eben mit dem Zusammenlegen der Kleiderstoffe beschäftigten Martha nicht, sondern fuhr sogar noch schärfer betonend fort: Ich meine Ihren Werkführer, den Herausgeber des „Socialnivellirers“.

Er soll den Streike nicht veranlaßt haben – entschuldigte ihn die Commerzienräthin mit Rücksicht auf Martha.

Er nicht direct, aber er macht den Generalstab, den neuen Lassalle! Um diesem ganz zu gleichen, fehlen nur einige frivole Weiber! Bonaparten gelang’s, durch Weiberprotection zur Weltherrschaft zu gelangen, Lassalle ist durch Liebestollheiten aller Art, die traurigste Parallele seines politischen Größenwahns, zu Grunde gegangen. Nun horchte Martha auf, als der Staatsanwalt fortfuhr: Ehlerdt wird zu einem jener Congresse reisen, die man unbegreiflicher Weise duldet; wohl zu diesem Ende hat er sich sans façon, wie mir Herr Wolny sagte, einen unbestimmten Urlaub genommen.

Die Commerzienräthin hörte doch voll Mitleid all diese Stiche, die Martha erdulden mußte, Tante Dora dagegen voll Wonne. Wenn Raimund Ehlerdt im Frack und in Glacéhandschuhen kam, nahm er sich stattlich 147 aus. Er war schön, gelockten Haares, und nur durch seine lebhaften Demonstrationen etwas anstößig, weil man bald erkannte, daß sie die Folge allzuvielen Trinkens waren.

Seinen „Socialnivellirer“, fuhr der Staatsanwalt fort, confiscire ich alle Augenblicke. Aber was hilft uns das? Aufrichtig und unter uns gesagt, es stützen sich die anderen Parteien auf diese ungebildete Masse und werfen sie, wie man auf Dampfschiffen einen eisernen Ballast auf Räderwagen hat, bald hierhin, bald dorthin, des Gleichgewichts wegen. Wenn wir den Begriff Staat nur zum Besten der Regierung, der Fürsten und der privilegirten Machtansprüche ausbeuten und nicht lediglich zum Besten der Gesellschaft, wenn wir nicht endlich die königliche Gnade abschaffen, die da Verbrecher schont –

Halten Sie inne, Sie Schrecklicher! unterbrach die Commerzienräthin den keineswegs auf die bloße Militärbedürfnißpolitik geschulten, sondern am Juristentag glänzenden Redner. Wollen Sie schon wieder alle Ihre Todesurtheile vollstreckt –? Nicht mehr das schöne Wort von der Gnade, die da „träufelt, wie Himmelsthau –“ wie heißt doch die Stelle bei – bei –? Martha, wo sind die neuen Photographieen – zu – zu –? Wer spricht doch da das schöne Wort von der Gnade?

148 Porzia! antwortete Martha, die in diesem Augenblick selbst Porzia war, sich als solche fühlen durfte. Mit demselben hoheitsvollen Auge, derselben klaren Stirn, demselben dunkeln, jetzt von dem weißen Tuch befreiten Haar stand sie da, wie ihre Vorgängerin vor Venedigs Consulta.

Schnell war sie zur Hand, um aus einer großen von ihr selbst ge­­stickten geschmackvollen Mappe eine Photographie herauszusuchen.

Der Staatsanwalt wollte indeß weiter sprechen, aber der Diener brachte auf einem metallnen Teller einen Brief an die Commerzienräthin, den diese mit krankhaftem Eifer ergriff und mit so auffallender plötzlicher Geistesabwesenheit durchlas, daß sich der Freund des Hauses empfehlen wollte und die endlich gefundene Porzia nur flüchtig und artig gegen „Fräulein Martha“ dankend ansah und den Hut ergriff.

Ein Anfall – meines Uebels! – hauchte die Commerzienräthin und verließ mit diesen Worten in der That Herrn Stracks, der mit Bedauern nur ein O! sprach, aber seine Rede zu Fräulein Dora so schloß, daß er die Thatsache anwachsen sah, wie sich unter dem Schutz einer falschen Ausbildung des Cultur- und Zeitbewußtseins eine Gefahr zusammenballte, die wie eine Lawine am Splügener Paß, nicht wie ein Schneeklumpen an der Sonne im Stadtpark endigen würde.

149 Wieder ein anonymer Brief! – sagte mit heiserer Stimme vom Fenster Fräulein Dora, als der pflichttreue Mann gegangen war.

Die Ahnung, daß sie selbst wieder der Gegenstand der anonymen Verläumdung war, wie sie’s in diesen Ausgeburten der Bosheit schon oft gewesen, ergriff Martha so mächtig, daß sie Miene machte, der Commerzienräthin zu folgen.

Sie werden doch nicht! vertrat ihr Fräulein Dora den Weg und sah sie groß mit ihren stechenden Augen an. Was geht Sie denn die Correspondenz meiner Schwester an? Mit diesen Worten folgte sie der Commerzienräthin. Neugier trieb sie, eine innige Theilnahme zu heucheln.

Martha stand und schlug sich mit der Hand an die Stirn. Das Benehmen ihres Bruders gegen Wolny, die gestörte Thätigkeit der Fabrik, die schimpfliche Verweisung desselben aus einem Kreise, wo sie sich oft so wohl gefühlt, mehr als im Hause der Commerzienräthin, eines Kreises, wo sie die weiche, die Seele sanft anfächelnde Luft der Bildung genossen hatte, alles das hatte ihr schon an sich den größten Schmerz verursacht. Nun wieder die Worte des Staatsanwalts und etwas neues Geheimnißvolles! Oder vielmehr nur das alte ewig Wiederkehrende, das sich in andern Formen wiederholte! Sie 150 sollte Wolny lieben! Er sie! O Gott – gab es denn darüber ein Gefühl in ihrer Brust? Sie hätte sich dem alten Wehlisch, dem sie nach dem Tode ihrer Eltern diese Unterkunft hier und die Versorgung, die Ausbildung des Bruders zum Techniker verdankte, schon so oft um den Hals werfen und ausweinen mögen. Aber ein solcher alter weißhaariger Mann denkt an Alles, nur nicht an die Gefühle eines jungen Mädchens. Da stand er schon wieder! Er hatte alle Hände voll Papiere, die von der Commerzienräthin unterschrieben werden sollten. Wolnys Procura war aus Schonung des Sohnes nicht einmal eine ganz vollständige. Wehlisch kam verdrießlich von der Commerzienräthin zurück. Er hatte die Papiere drinnen gelassen, um sie später abzuholen. Polternd wies er Marthas Fragen, was denn vorgefallen wäre, mit den Worten zurück: Ich wollte, ich hätte Euch hier nie in’s Haus gebracht!

Martha rief: Auch mich nicht?

Der Raimund – wich der Alte aus. Er stellt sich unschuldig an dem Streik und schiebt ihn auf den Mahlo, das saubre Subject. Aber seit Wochen schon will er krank sein und kommt nur ab und zu in die Fabrik. Jetzt bleibt er ganz aus und will auf den Congreß nach Leipzig. Dort wird er die Reden seines Principals, seines Wohlthäters, nur noch mehr herunter machen, als er es schon in seinem „Nivellirer“ gethan hat.

151 Er wird nicht reisen –!

Du wirst ihn nicht zurückhalten –!

Martha antwortete nicht. Sie warf den schönen Kopf mit seinen funkelnden Augen wie eine Seherin empor. Die Vereine bringen ihm für seine Reden und Schriften Ruhm und Kränze dar, sagte sie, nachdem der Stickkrampf in der Stimme vorüber war. Ich, ich will ihm das Schandmal, das ich auf seiner Stirne brennen sehe, fühlbar machen wie ein verzehrendes Feuer! Worte soll er hören, wie sie ihm von seinen Schmeichlern noch Niemand gesprochen hat.

Damit wankte das wie wahnsinnig in die Luft tastende Mädchen zur Thür hinaus in ihre Zimmer, um sich Mantel und Hut zu holen.

Wehlisch sah ihr mit einer Miene nach, die unter glücklicheren Stimmungen seines Gemüths als der Ausdruck der Zufriedenheit hätte gedeutet werden können. Dennoch ging ihm etwas wie: Doch ein Prachtmädchen! unter in dem Unbehagen über die Widerwärtigkeiten, die der Augenblick auf seine alten Schultern wälzte.

Ehlerdts Wohnung lag Palissadenstraße 13.

152 Siebentes Kapitel.#

Ottomar hatte das Haus gefunden, aber – sich noch nicht hineingewagt. Es war zu lebhaft ringsum. Er wollte das Abenddunkel abwarten.

Das betreffende Haus war eine jener Miethskasernen, die für alle Schichten der Bevölkerung zugleich gebaut scheinen. Im Keller, unter’m Dach, im Hinterhofe Proletarierexistenzen, in den sorgfältig verschlossenen Etagen Börsenspeculanten, Militärs mittlern Ranges, Beamte. Im Innern der Etagen gewiß sehr elegant, aber dem Hause fehlte der – Verschluß. Es ist also nicht „hochfein“. Ein sogenannter „stiller Portier“ zählt die Bewohner auf, eine Sitte, die dem „Vicewirth“ das ewige Auskunftgebenmüssen über etwaige Einwohner ersparte. Da stand: Frau Geometer Marloff – und im dritten Stock: Raimund Ehlerdt. Der Namen waren wohl zwanzig beisammen. Der Hof war düster und übervölkert. Frau Geometer Marloff wohnte in der Beletage. Durch ein Guckloch sah Ottomar, der so that, 153 als hätte er im zweiten Stock zu thun, ein Paar schwarze Augen, die ohne Zweifel der Deutschpolin Josefa Ziporovius angehörten. Das Guckloch war die Ausschau, die Thurmwarte auf den alten Ritterburgen.

Raimund Ehlerdt hatte es oberhalb seiner drei Treppen noch nicht zu einer eleganten Existenz mit rothsaffianenen Möbeln, rollbaren kleinen Voltaires, Bücherborden mit Einbänden à l’anglaise gebracht. Mit solchen Anfängen der literarischen Aristokratie würde er bei seinen Gesinnungsgenossen schön angekommen sein. Aber wenn man an dem Porzellanschild mit dem einfachen Namen Marloff vorübergegangen war, findet man bei einer Wohnungsvermietherin im dritten Stock doch drei recht hübsch möblirte luftreine Zimmer, die sich nur leider im Augenblick etwas im Derangement befanden. Bis tief in die Nacht hatte hier eine „Besprechung“ zum Wohle der Menschheit stattgefunden. Weinflaschen, meist leere, standen und lagen wie im Depot eines Hotels. Ein Rufer im Streit, soweit seine heisere Stimme reichte, Mahlo geheißen, auch wohl „Ehlerdts böser Genius“, war noch zugegen. Das hier vertretene Princip lautete: Wer sich selbst vertraut, dem vertrauen auch die andern Seelen. Noch war hier ein Piano zugegen, die Kunst also nicht ganz in’s Fabelreich verwiesen. Bücher, Zeichnungen, Maschinenabbildungen lagen genug umher. Aber 154 die Cigarrenkästchen waren Behälter der heterogensten Dinge geworden. Fast durchgängig hatte der ausgeleerte Cigarrenkasten eine Civilversorgung bekommen als Tintenfaßbehälter, Waschnecessaire, Lichtstumpfen- oder Streichhölzerreservoir. Eine Reihe leerer grüner Flaschen garnirte schon die Mauer unterm Fenster. Noch stand eine halbgefüllte auf dem Tisch, welcher seinerseits alle Wahrzeichen eines eben erst, gegen Mittag, genossenen Frühstücks trug. Ein Kalabreserhut hing über einer wenig gereinigten, einen nicht an Heliotrop erinnernden Geruch verbreitenden Petroleumlampe. Anfälle von Sparsamkeit bestimmen zuweilen den Junggesellen, sich selbst die Lampe füllen zu wollen und so entbehren sie jener sorgfältigen Pflege, die bei Lampen die Hauptsache ist.

Der schmächtige schon graubärtige Mahlo mit kahlem Scheitel und weinrother Nase hatte die Nacht hier geschlafen und sah in Raimunds winterlichem Reisepelz für einen humoristischen Maler herausfordernd genug aus. Die Stiefel waren schmutzig, das Hemd erinnerte an den Umgang mit der Kohle. Raimund dagegen war eine anziehendere Erscheinung, auch wirklich schon leidlich toilettirt und mit den rothen Tragbändern über’m Hemde – weiter war sein Anzug noch nicht gediehen – eine Erscheinung, die einnehmen konnte. Marthas Haar war kastanienbraun; ihres Bruders lockiges Haar, das an 155 Stirn und Schläfen schon Spuren – vielen Nachdenkens zeigte, war heller, die Nase vielleicht nur momentan zu roth, sonst die Züge einnehmend; der untersetzte Wuchs durchaus männlich, die Haltung stramm.

Das Nebenzimmer stand offen. Beim Auf- und Niederschreiten commandirte Raimund, statt zu sprechen. Er hatte die sichere Art, die unserm Jahrhundert imponirt und so lange Erfolge bringt, bis einmal das Schicksal in unerwarteter Gestalt dem Hochmuth ein Hinderniß bringt und das Schicksal ist ein Gespenst, das vor unserm Anruf nicht zurückweicht. Raimund und Mahlo rauchten Cigarren und dieser griff jedesmal, wenn die seinige soweit gekommen war, daß die Gluth seinen wulstigen Lippen wehe that, mit einer Art Wonne nach einer neuen aus einem offenen Havannakasten. Raimund, der sein lockiges, wie gesagt, schon etwas defectes Haar bis in den Nacken trug, und eine breitschultrige nur etwas zu kleine Figur für die Wiedergabe seines künftigen Standbildes vorstellte, controlirte bei alledem jeden Mahlo’schen Griff und verbot ihm zuletzt, sich nun noch ferner zu verproviantiren. Er hatte gemerkt, daß, wenn eine Cigarre genommen wurde, gleich eine andere mit in die Tasche wanderte.

Nun „raisonnirte“ Mahlo „inwendig“ und sagte dann laut im bierheisern Tone: Bist auch nach Chemnitz 156 gedampft das letzte Mal! Laß auch einmal einen Andern die Diäten schlucken!

Diäten schlucken! wiederholte Raimund spöttisch. Er hatte einen der Menschen vor sich, mit denen er, wie die Rappos im Circus, Fangball spielte. Schluck Du nicht ewig meine Cigarren! Diäten schlucken! Sein Lachen war homerisch. Dabei band er sich eine leichte Cravatte vor dem Spiegel zurecht.

Jetzt brachte Mahlo eine jener Schmeicheleien, ohne welche die Matadore, ob sie nun Staaten oder Stadttheater oder Journale oder Fabriken dirigiren, nicht bestehen können. Was rauchst Du auch so capitale Cigarren! Sie werden Dich im Verein noch in den Geruch von Aristokratie bringen –!

Darüber lächelte Raimund, das gefiel dem Gelockten, der in diesem Augenblick nur den Gedanken hatte, ob es nicht besser wäre, sein Haar kürzer zu tragen. Es kamen zuweilen bedenkliche Raufereien in der Hitze der Debatte vor, besonders bei dem eben angeregten Thema „Diäten“ mit dem frechen Zusatz des „Schluckens“! Als wenn ich nicht schon bei der Vereinskasse mehr als fünfzig Thaler zu Gute hätte! sagte er, und: Nein, unterbrach er sich, Dich zum Kassirer gewählt zu haben! Diese Tollheit! Nächstens werde ich auf Kassensturz antragen und wehe Dir, wenn Einnahme und Ausgabe nicht stimmen!

157 Dann, lieber Freund, entgegnete Mahlo, indem er, um seinen Schrecken zu verbergen, nach der Flasche griff und sich ein Glas einschenkte, dann giebt es ein verändertes Programm! Uebrigens, unterbrach er seine humoristisch sein sollende Drohung, da ist ein Jemand, der Dich zu sprechen wünscht.

Es war der Druckerbursche, der einen Abzug des „Socialnivellirers“ zum Corrigiren brachte.

Mit einer Keckheit, die vordem im Verkehr des gewerblichen Lebens mit Kunden und nun gar bei Druckern mit Autoren niemals Sitte gewesen, erklärte dieser Knirps im Auftrag des Factors eine blauangestrichene Stelle für „reinen Unsinn“.

Hat das der Factor gesagt? sprang Raimund mit grimmiger Wuth auf den Jungen zu, schüttelte ihn und auch Mahlo zeigte einen Anlauf zur Indignation.

Es ist freie Uebersetzung von dem Jungen! sagte der Adjutant. Der Junge heißt Stift. Ich kenne ihn, er kommt schon manchmal in den Verein! Aber der Herr Factor hat sich höflicher ausgedrückt.

Die vielen Correcturen wollen die Setzer jetzt überhaupt nicht mehr machen! fuhr Stiftchen fort. Schreiben Sie gleich Anfangs richtig!

Sagt das auch der Factor? rief Raimund wüthend.

158 Wieder freie Uebersetzung! rief Mahlo. Stift! Stift! Ich kenne Deinen Vater! Einen gesinnungstreuen Mitkämpfer! Wende Deinen Freimuth nicht an unrechter Stelle an! Wir sind ja Volksfreunde!

Damit gab er dem Jungen ein Stück Zeitungspapier, um sich eine Cigarre, die er wieder aus dem Kästchen nahm, als etwas Kostbares einzuwickeln. Raimund las die Correctur.

Streikt nur nicht, so lange Ihr den „Socialnivellirer“ druckt! meinte Mahlo. Er war sogar nicht abgeneigt, Stiftchen ein Glas Wein einzuschenken, woran ihn jedoch Raimund verhinderte. Sein mit kräftiger Stimme Gerufenes: ich corrigire jetzt! und der dabei auf die Flasche geworfene Blick belehrten Mahlo, daß er sich hier nicht zu sehr Herr fühlen sollte. Das Werben eines Claqueurs für Mahlos zuweilen abblitzende Meinungsäußerungen im großen Verein, Gartenstraße 819, unterblieb.

Es fehlen auch noch anderthalb Spalten, um die Nummer vollzukriegen! sagte Stift in anständigerm Tone. Er hatte eine Anzahl Cigarrenreste in Sicht genommen und annectirte diese mit Mahlos blinzelnder Zustimmung. Sonst pflegte Mahlo diese Lese selbst nicht zu verschmähen. Aber heute saß dieser, während Raimund corrigirte und dem „Unsinn“ Aufhellung gab, so zu sagen im Vollen.

159 Verdammt! stampfte Raimund auf. Sie haben ja von mir in der Druckerei Bücher genug! Daraus sollen sie füllen, womit es eben geht! Hartmann, Schopenhauer, Herwegh, Feuerbach, Marx!

Stift ließ sich in die Literatur ein, sprach die mißgünstigsten Urtheile über die zu allenfalls entstehenden Lücken gelieferten Werke, riß die gefeiertsten Namen Deutschlands als „alte Schweden“ herunter, mit denen man schon zu oft gekommen sei, bis Mahlo aufstand und im Ton der höchsten Verwunderung ausrief: Aber Herr Jesus, Ehlerdt, Du wirst doch nicht gar Deine göttliche Rede von neulich blos im Auszuge gegeben haben? Das wäre ja reiner Selbstmord. Dieser Strom von Beredtsamkeit! Den willst Du hemmen? Und das blos aus Rücksicht auf den Sonntagsingenieur, den Revolverprinzen, unsern gelehrten Doctor, den Du so ganz nach dem Leben getroffen hattest –?

Das waren Honigworte für den Matador! So lassen sich die gebornen Herrscher auf die Throne heben! Der Revolverprinz hieß Wolny, seitdem er einem stürmischen Verlangen der Arbeiter um verkürzte Arbeitszeit einmal mit der Waffe in der Hand entgegengetreten war.

Mahlo ergriff ein Zeitungsblatt, worin eine Rede abgedruckt war, die kürzlich Wolny in einem Bürgerverein gehalten hatte. Er parodirte den Inhalt: „Läßt sich 160 denn die Gesellschaft so über Nacht verändern?“ Fragezeichen! setzte Mahlo hinzu. „Wird sie eben nicht zu allen Zeiten das Schauspiel eines Wettkampfes verschieden vertheilter Kräfte bieten?“ Wiederum ein Fragezeichen! schaltete Mahlo ein. „Dem Capital den Krieg ankündigen heißt den Unternehmungsgeist lähmen, den Muth, das Vertrauen, den kühnen Einsatz hemmen –“ Junge, komm’ heute Abend, unterbrach er sich, in unsern Verein, ich werde das von dem „kühnen Einsatz“ von meinem Standpunkte aus widerlegen.

Stift lehnte lachend ab. Er machte schon Kalauer. Bei ihnen in der Druckerei könnte der Einsatz, er meinte die Einhebung der Bleiformen, nicht behutsam genug vor sich gehen. Uebrigens hätten sie Nachtarbeit! setzte er hinzu; da könnte er nicht kommen.

Nachtarbeit! rief Mahlo. Hast Du gehört, Ehlerdt? Europäisches Sklavenleben! Während das Capital in weichen Federdaunen schlummert oder in erleuchteten Sälen mit Damen in seidnen Gewändern – Jetzt tanzte Mahlo Galopp, ergriff dazu Stiftchen und ahmte „Hirsch in der Tanzstunde“ nach.

Wird es endlich Ruhe geben? stampfte Raimund mit dem Fuße auf. Du machst Deine Toilette! herrschte er Mahlo an. Laß den Jungen in Ruhe!

161 Mahlo kannte diese Stimmung seines Protectors und respectirte sie in jeder Beziehung. Schweigend zog er Raimunds Pelz aus, ging in’s Nebengemach, rumorte dort mit Krügen und Schüsseln nicht unbedenklich für Raimund und hörte leider nicht, daß Stiftchen erstens den Mutterwitz hatte zu sagen: „Na, im Verein, Gartenstraße 819, ist es des Nachts 2 Uhr auch noch nicht still“ – dann aber Gelegenheit fand, plötzlich noch als einen Auftrag, den er ganz vergessen, etwas Orthographisches anzubringen. Ja, Herr Jesus, daß ich’s ganz vergessen habe! „Henkersmahlzeit“ und „Prostemahlzeit“ sagt unser Herr Corrector, muß doch noch immer mit ’nem H geschrieben werden. Ohne H ist es noch nicht von oben befohlen!

Raimund las in seiner Correctur pathetisch: „Diese kleinen Concessionen der Principale, was sind sie denn anders als die letzten Henkersmahlzeiten, welche der Tyrann, das souveräne Capital –“ Nein, mein Junge! unterbrach er sich. Weg mit diesem H! Es ist ein unnützer Schmarotzer in Eurem Letternkasten!

Nun, sagte Stift etwas verlegen und zupfte verschmitzt an seinem Tüffelrock, nun, da sagt der Herr Corrector: Warum Sie denn selbst so viel unnütze Buchstaben in Ihrem Namen hätten? Sie hießen doch Ehlerdt und wären das überflüssige H und das D wahrscheinlich 162 Ihren Ahnen schuldig! Auch könnten Sie ’mal eine reiche Erbschaft kriegen, und wenn Sie nicht mehr Ehlerdt, sondern Elert heißen wollten, bekämen Sie sie gar nicht –!

Der Spaß machte Raimund lachen. Er faltete die Correctur zusammen, bestellte für die leeren anderthalb Spalten eine Stelle aus einer Broschüre, die er vom Bücherbord nahm, und entließ den Jungen. Das Blatt war ihm eine Last geworden. Es hinderte ihn in seiner freien Bewegung, wie er auch Mahlo sagte, der sich dem Druckerjungen anschließen wollte und den Freund noch auf dem Eisenbahnperron zu sehen hoffte. Sein schnelles Verschwindenwollen war Raimund verdächtig. Er hatte gewiß etwas annectirt, was Raimund später vermißte. Doch war er wie der Löwe, der nicht immer in der Laune ist, sich auf den Sprung zu stellen.

Im Begriff, ebenfalls auszugehen, noch für seine Reise nach Leipzig auf den Congreß einige Anordnungen zu treffen und sich zu erkundigen, wie weit die Verhandlungen des Strikecomités mit Wolny vorgeschritten seien, hörte er auf dem Vorplatz reden. Wetter! sagte er vor sich hin, ist das nicht meine Schwester? Sie will mir wohl die Leviten lesen –! Und dabei hatte er eine Mahnung des Gewissens an seine Stellung zur Fabrik, aber nicht im Geringsten an die Scene mit Helene Althing. Diese hatte doch mit einem empörten: 163 Verschonen Sie uns mit Ihren Besuchen! geendigt, aber Raimund hatte das Princip, daß die unangenehmen Gefühle dadurch verstärkt werden, wenn man zu oft an sie denkt. Er hatte die fatale Scene im Park, seine Anwendung des frivolen Satzes der Frau von Genlis: „Die Männer wissen gar nicht, was sie für Erfolge haben könnten, wenn sie nur mehr Courage hätten –“ eine plötzliche Umarmung Helenens, ganz vergessen.

Martha trat ein, das federgeschmückte Hütchen à la Rubens auf dem errötheten Antlitz, im herbstlichen carrirten Mantel. Bist Du allein? fragte sie noch unter der Thür.

Wie Du siehst! antwortete der Bruder, der schon nach Unbefangenheit rang. Denn er bemerkte sogleich die Zornesgluth auf der Stirn seiner Schwester. Oder erscheint es Dir nicht anständig einzutreten? Hast Du doch sonst mit mir hier zusammengehaust! Es sind immer noch dieselben drei Zimmer und immer noch ist’s die alte anständige Wirthin!

Die Du bald zur Kündigung zwingen wirst, wenn Du Deine nächtlichen Gelage nicht läßt! Wie sieht es hier aus! sagte sie näher tretend. Ueberall die Spuren der Völlerei! Auf dem Sopha hat Jemand die Nacht geschlafen!

Ich, liebes Kind! Dein alter Anbeter Mahlo campirte in meinem Bett! So verstehen wir den Socialismus! 164 Uebrigens, wenn ich ausgegangen bin, wird aufgeräumt! Er füllte sich seine Cigarrentasche mit Vorrath für den Ausgang.

Da sich Martha vom Steigen der Treppen und von ihrem Gange, den sie zu Fuß gemacht hatte, erst erholen mußte und sich setzte, so fand ihr Bruder Gelegenheit, ihrem Strafvortrage zuvorzukommen. Nimm nicht übel, daß ich Deinen letzten Brief nicht beantwortet habe! sagte er. Es soll nächstens geschehen. Jetzt aber verschone mich mit Deinen Vorwürfen!

Ich wollte Dir zunächst nur sagen, daß Du Dich nicht unterstehst und noch einmal zu den Althings gehst! begann Martha. Du verdirbst mir durch Dein Benehmen gegen Helene die einzige mir außerhalb des Hauses noch offenstehende vertrauliche Beziehung, die Freundschaft eines hochgebildeten Mädchens, die weisen Rathschläge ihrer Eltern –

Und die Gelegenheiten, fiel Raimund ein, seine Cigarre, die er anrauchen wollte, mit einigem Schreck, der ihn doch befiel, wegsteckend, mich anzuschwärzen! Was bildet sich denn dies Fräulein da draußen ein? – Ein Graf wird doch nicht kommen – Ja so! unterbrach er sich hämisch. Graf Treuenfels wurde genannt! Sieh! Sieh! Aber der wird ja bald Hochzeit machen. Das wäre freilich kein Hinderniß, daß er –

165 Lästre nicht, Elender! rief die Schwester.

Na, wer hat Dir denn den Auftrag gegeben? Papa, Mama, sie selbst?

Ihr Bruder: Lieutenant Althing! sagte Martha mit Entschiedenheit.

Das machte ihn schweigen. Aber dennoch wollte er obenauf bleiben und sagte frech: Doch in keiner Kosestunde das abgemacht –? Ja so, unterbrach er sich, Du sollst ja schon im Geheimen verlobt sein.

Mäßige Deine lose Zunge! sagte die Schwester mit erstickter Stimme.

Nun, Du wirst doch nicht leugnen wollen – fuhr der Bruder mit zweideutigem gemeinem Lächeln fort.

Leugne Du nicht, unterbrach ihn die empörte Schwester, daß Du Dich mit Deinem Kranksein als Lügner verstellst, daß Du zu einem Congreß nach Leipzig reist und die Arbeiter der Fabrik wieder aufgewiegelt hast. Neulich hast Du im Verein Satz für Satz eine Rede, die Wolny gehalten, lächerlich gemacht!

Widerlegt habe ich sie! wallte Raimund auf. Ansicht gegen Ansicht ausgetauscht! Seine Tiraden hätten einige Gimpel gefangen nehmen können. Uebrigens kann ich thun, was ich will. Mir steht die Welt offen.

Der alte Wehlisch sagt – meinte jetzt ebenfalls bitter lachend die Schwester: Dir steht entweder noch 166 das Narrenhaus offen oder ein noch schlimmeres Haus –!

Bist Du hergekommen, mir die Kindereien dieses alten Tropfes zu wiederholen? sprach der Bruder zornentflammt.

Der uns unterstützte, als wir Waisen waren, für unsere Erziehung sorgte, Dich in Wolnys Wirkungskreis einführte –! ergänzte Martha.

Was declamirt Wolny gegen uns? suchte Raimund das aufgeregte Gespräch in eine nicht zu schroffe Bahn zu lenken. Von Haus aus ist der Mensch ein armseliger Silbenstecher, ein Stubengelehrter – der es zu keiner Professur hat bringen können –!

Um so ehrenvoller für Euch, daß er sich in Eure Lage hineingearbeitet hat –

Die versteht man nicht, wenn man nicht im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat –!

Du im Schweiße Deines Angesichts! lachte die Schwester. Stellst Dich krank, beziehst Deinen Gehalt nach wie vor, machst Reisen, redigirst die verrückteste aller Zeitschriften – ich schäme mich, vor Wolny die Augen aufzuschlagen.

Jetzt kam Raimund mit einem brennenden Schwefelholz, das seine endlich präparirte Cigarre anzünden sollte, dem Auge der Schwester so nahe, daß diese auf ein 167 frivoles: Das wird wohl andere Gründe haben! ihn zurückstoßen und sagen konnte: Ich ersticke! Ueberhaupt, rief sie, um ihrer Wallung Herr zu werden, es ist eine Luft hier im Zimmer –!

Sie riß die Fenster auf.

Ich bitte Dich! Ich habe geheizt! sagte Raimund und schloß sie wieder.

Wo ein Mahlo geschlafen hat –! sagte sie und riß ein anderes Fenster auf.

Greif’ meine Freunde nicht an! rief Raimund und schloß auch dies Fenster. Mahlo ist, wenn er will, ein Genie!

Wenn er arbeitet! antwortete die Schwester. Am Schraubstock! Da will ich ihn anerkennen. Abends in der Feuergluth am Ofen! Beim Geheul des Ventilators! Aber Euer Lärm im Verein, Eure Einmischung in die Welt, in die Gesetze der Gesellschaft, in der wir leben! Was soll das? Schon zweimal habt Ihr gestreikt! Schon zweimal seid Ihr, hundert Mann in einer Linie, gegen den alten Wehlisch vorgerückt! Der Alte hatte keine Stimme, das Brüllen Eurer Stierlungen niederzudonnern. Wolny kam herbei, ergriff den Revolver und dennoch erfolgte eine Erhöhung der Löhne, eine Minderung Eurer Arbeitsstunden. Aber Ihr habt noch immer keine Ruhe! Immer weiter treibt Euch das 168 Gelüst! Schon hat man Arbeiter im Fiaker fahren sehen, die auf offener Straße Champagner tranken! Ihr verlangt Einsicht in die Bücher, wollt Theilung des Gewinnes, Tantièmen und was nicht Alles! Ich sage Dir, Du giebst die Reise nach Leipzig auf, treibst die Wolny’schen Arbeiter zu Paaren, kommst von morgen, spätestens vom Montag an wieder regelmäßig in die Fabrik oder ich sage zu Jedermann: Ich habe keinen Bruder mehr!

Die ausbrechenden Thränen des heldenmüthigen Mädchens brachten nicht die Wirkung der Rührung bei Raimund hervor, sondern steigerten im Gegentheil den Ausdruck seiner Entrüstung. Sich auf einer Schwäche ertappen zu sollen, das kam ihm nicht bei. Schon rüstete er sich, nach einem platten Schimpfworte: Dummes Gänsegeschnatter! eine andere Darstellung der Sachlage zu geben, als Martha selbst plötzlich auffuhr, die Stellung einer Horchenden annahm, mit tonloser Stimme sprach: Herr Wolny! und rasch die Thür des Nebenzimmers zu gewinnen suchte. Aber schon stand Wolny nach kurzem Klopfen im Zimmer und Martha konnte sich nicht mehr verbergen.

Ich besuche Sie, Herr Ehlerdt – wollte der Principal beginnen, als er Martha erblickte. Er unterbrach seine Rede und machte sogar Miene, sich zurückzuziehen, 169 falls er, wie er voraussetzte, ein geschwisterliches tète-à-tète gestört hätte.

Raimund kämpfte gegen die Schwäche, die ihn jetzt doch befiel. Er besaß nicht einmal so viel Selbstbeherrschung für den ersten Augenblick, daß er eine kurze bedeutungsvolle Verständigung, die zwischen seiner Schwester und Wolny in wenig Worten stattfand, bemerkte und verstand. Als Martha rasch ihre Mantille, ihren Regenschirm ergriffen und lächelnd gesagt hatte: Ich war eben im Begriff zu gehen! hielt sie Wolny noch an und sagte: Fräulein, meine Frau hat schon wieder eine Gesellschaft von achtzig Personen eingeladen, können Sie ihr denn das nicht ausreden? Achtzig Personen bei ihrem leidenden Zustande! Ja, so! unterbrach er sich. Es ist gut. Sagen Sie ihr lieber Nichts –! Ein feiner Beobachter hätte aus dem Blicke Marthas entnommen, daß sie etwa sagen wollte: Bin ich wohl die richtig gewählte Person, die einen solchen Auftrag an Ihre Gattin auszurichten vermag? In dem Ja so! der Besinnung lag – eine verschüttete Welt, die Kehrseite der Gestirne, die Sonne der Nacht.

Raimund war inzwischen beschäftigt gewesen, das Zimmer etwas aufzuräumen und sich zu sammeln. Letzteres gelang ihm so ziemlich, weil er an seine Genossen 170 dachte und an ein etwaiges: Du hast dich wohl in’s Bockshorn jagen lassen!

Als Martha gegangen, Wolny sich wie aus einem Traum erhoben hatte, begann Raimund mit fester Stimme und einen Stuhl darbietend: Herr Doctor, womit kann ich dienen?

Wann war ich doch zuletzt bei Ihnen? sagte Wolny ironisch. Richtig! Als ich Sie auf einen Arbeitertag nach Hamburg abgereist fand. Jetzt wollen Sie nach Leipzig reisen. Thun Sie das, so ist unser Verhältniß gelöst. Ich will Ihnen nicht abrathen. Eine geeignete Persönlichkeit habe ich für Ihre Stelle schon im Auge. Sehen Sie zu, wie weit Sie mit der (er hielt inne, um eine Bezeichnung zu wählen, die nicht beleidigte, und fuhr, als er keine fand, fort) traurigen Abhängigkeit von den Sammelbüchsen in den Kneipen kommen werden!

In den Werkstätten, Herr Doctor! verbesserte Raimund, noch ohne Erregung. Die blanke Kündigung und der Gedanke, sich ersetzt zu sehen, kamen ihm nicht bequem.

Sie sind Schriftsteller geworden! fuhr Wolny fort. Für Ihr Verbleiben auf Ihrem Posten habe ich auch noch diese Bedingung: Sie geben die Redaction des „Socialnivellirers“ auf!

171 Würde mich keine Ueberwindung kosten! sagte Raimund und trommelte mit den Fingern auf die Platte des Tisches, an welchem Beide saßen.

Ferner: Sie treten aus dem Vorstand des Gegenseitigkeits-Vereins.

Das kann ich nicht!

Was verhindert Sie?

Mein Gewissen –!

Fragen Sie einmal nachdrücklicher bei Ihrem Gewissen an! Es giebt keinen Instanzenzug beim Gewissen wie in einem Proceß: Stadtgericht, Kammergericht, Obertribunal –! Das Gewissen spricht immer nur dieselbe Sentenz! Aber manchmal doch mit zu schwacher Stimme für taube Ohren.

Herr Wolny, entgegnete Raimund, immer noch auf Vermittlung hoffend, ich führe noch in diesem Jahre das Präsidium! Es kommen zu ernste Fragen zur Debatte!

Dann sind wir geschieden! antwortete Wolny. Ich nehme an, daß Sie austreten. Ein schriftliches Zeugniß wird meinen Dank für Ihre frühern Leistungen aussprechen.

Mit diesen Worten stand Wolny auf, sah sich nach seinem Hut um und wandte sich zum Gehen.

Aber was verschlägt Ihnen denn das, daß ich präsidire? meinte der Beherrscher von mehr als 10,000 172 Köpfen, dem hier eine Abdankung zugemuthet wurde. Wollen Sie sich denn die Kündigung aller Ihrer Arbeiter zuziehen, Ihre alten Invaliden ausgenommen?

Weil Sie diese Kündigung befehlen würden? wandte sich Wolny zornerregt und mit schallender Stimme, todtenblaß, noch einmal um.

Die Bedingungen, die Sie mir hier gestellt haben, entgegnete Ehlerdt, nun schon trotziger, werden zur Discussion kommen. Die Generalversammlung im nächsten Monat ist souverän. Der Befehl könnte dann von – ihr kommen.

Also so rächt Ihr Euch! rief Wolny.

Selbstschutz, Herr Wolny! Organisation! Wir hängen wie die Glieder einer Kette zusammen.

Ja, einer Kette! nahm Wolny den Ausdruck auf und öffnete alle Schleusen seiner zurückgehaltenen Stimmung. Einer Kette, an der die Gesellschaft, die gesunde Vernunft wie der Verbrecher an seiner Kugel, jetzt zu schleppen gezwungen wird! Doch ich will Ihnen meinen Entschluß sagen. Euch bändigt nur der Mangel an Arbeit! Wenn alle Fabrikanten aufhören, arbeiten zu lassen, würdet Ihr schon zahm werden! Ich stehe nur durch Zufall an der Spitze eines großen Etablissements.

Nun ja, das meine ich auch! meinte Raimund höhnisch.

173 Wolny stutzte über diese Frechheit. Sie conspiriren wohl – entfuhr ihm, aber er sagte nicht: Mit meinem Stiefsohn! sondern er setzte den Versuch, sich zu beruhigen, fort: Ich habe eine Wittwe geheirathet, die ich in einer schwierigen Lebensstellung fand und die mir erklärte, nicht ohne mich leben zu können. Ich fand, daß ihre Jahre nicht den Eindruck ihrer Anmuth störten. Ich entdeckte ein reines edles Herz bei ihr und habe ihr Jahre lang meinen Beistand geleistet. Aber ihre Tage sind gezählt. Sie ist unheilbar krank. Der Sohn darf nimmermehr die Fabrik übernehmen. Dafür habe ich das Testament seines Vaters in meiner Verwahrung. Alle kennen den Inhalt! Ich liquidire und denke den Kampf mit dem Unverstand und dem bösen Willen nicht länger fortzusetzen.

Nachdem Sie zum zweiten Mal geheirathet haben werden – setzte Raimund boshaft und mit den Augen scharf blinzelnd hinzu.

Wolny fühlte den Abgrund unter sich. Wie unbewußt kam ihm der Gedanke, die Züge im hämisch verzerrten, lauernden Antlitz zu vergleichen mit denen seiner Schwester, auf welche die Worte gemünzt waren. Er mußte sich sagen, es fanden sich Spuren der Aehnlichkeit. Er hätte darüber weinen mögen. Er liebte wirklich Martha –

174 Ueber die sociale Frage, Herr Wolny, sagte Raimund, jetzt sich weidend an einer Verlegenheit, in die er nun denn doch seinen Gegner versetzt hatte, kommt unser Zeitalter nicht hinaus. Wer durch seiner Hände Arbeit dem Capital Vermehrung oder auch nur Erhaltung giebt, dem gebührt sein Antheil am Gewinn!

Das ist die Philosophie des Wegelagerers, erwiderte Wolny, sich allmälig sammelnd, der Ueberfall des Räubers in den Abruzzen! Fra Diavolo mußte so theilen mit seinen Gesellen. Neben ihm lagen Dolch und Pistolen. Er behielt sich den Löwenantheil vor. Sein Capital war der Schrecken seines Namens. Schwachmüthige Philanthropie, die schon hier und da als Weihnachtsbescheerung die Jahrestantième in dieser oder jener Fabrik eingeführt hat! Was ist denn das Capital im Geschäft? Nichts als die Möglichkeit, daß Letzteres überhaupt existirt. Es muß in Fülle, es muß aufgehäuft an einer Stelle gelagert sein, wie der Kohlenvorrath beim nicht ausgehenden Ofen! Der Muth zum Handeln muß durch die stete, sichere Nachhaltigkeit der Mittel gehoben werden! Ihr habt ja an Euren Gambrinushallen den Bock abgebildet mit dem Bierkruge in der Hand, aus welchem Euer Labsal überschäumend quillt. Der Schaum strömt in Masse heraus! Wenn der Säemann durch die frischgeackerten Furchen schreitet, so zählt er die Körner nicht, 175 die seine Hoffnung da und dorthin vergebens ausstreut! Euer Antheilnehmenwollen am Gewinn rückt aus einer ganz andern Welt, der Arbeitswelt, in die der Kaufmannschaft ein, deren Princip so alt wie die Welt ist! Die Kaufmannschaft wird nie aufhören! Immer wird der Mensch des eignen Betriebs seiner Schöpfungen müde werden. Wollt Ihr den Kaufmann tödten, so kommen wir zu den Hunnen-, Hussiten-, und Schwedenzeiten, wo man sein baares Geld vergrub!

Boshaft erwiderte Ehlerdt: Sie haben Ihre neuliche Rede gut memorirt! Es kamen dieselben Vergleichungen darin vor wie damals. Aber ich kann noch genug Latein, um das Sprichwort anzuwenden: Omne simile claudicat.

Wolny antwortete nicht, sondern corrigirte nur den falschen Accent, den Raimund auf simile gelegt hatte. Er hatte simîle gesagt.

Beschämt versuchte Ehlerdt einen vertraulichen Ton anzustimmen. Herr Wolny, sprach er begütigend und seine scharfen Augen listig zusammendrückend, Sie sind doch ehrgeizig! Die ganze Welt ist’s jetzt! Das Jenseits ist zweifelhaft. So will man es wenigstens hier so weit bringen, als möglich.

Nicht meine Philosophie –! murmelte Wolny, prüfend, wo hinaus der Verschmitzte wollte.

176 Warum halten Sie sich nicht an uns? Das allgemeine Stimmrecht nimmt uns doch kein Gott und ein Teufel noch weniger! Bei den Wahlen geben wir den Ausschlag! Warum machen Sie’s nicht wie die Andern! Verhandeln Sie doch mit den Arbeitern! Nehmen an unsern Geschäften Theil! Erklären sich wenigstens im Allgemeinen für uns –!

Ich würde mich verachten, lehnte Wolny ab, wenn ich mich auf den Schultern des Aufruhrs in die geheiligten Hallen der Gesetzgebung wollte tragen lassen! Die Saat geht auf, daß man Euch politischer Zwecke wegen schmeichelte, Stimmungen in Euerm Gemüthe wach rief, die Ihr sonst nie würdet gekannt haben! Aber wer mag streiten mit den Wahnverblendeten! Sie sind denn also aus meinem Wirkungskreise ausgeschieden und waren es eigentlich schon längst, nachdem ich Sie näher kennen gelernt hatte. Daß ich mich beherrschte, daß ich so viel Geduld an Sie verschwendete, verdanken Sie der Fürsprache des würdigen Wehlisch und einem weiblichen Wesen, das Sie Ihre Schwester zu nennen nicht würdig sind!

Mit diesen Worten verließ Wolny das Zimmer.

Raimund Ehlerdt war außer sich. Alle Geister der Rache tobten in ihm. Alle Scorpionen der Wuth kniffen ihn mit ihren Zangen. Er nahm einen Stuhl und zerstampfte ihn auf dem Fußboden, bis die Lehne brach. 177 Nur um einen Ableiter seines Zorns zu haben, griff er nach Diesem und Jenem. Der gewohnte Respect vor dem immer würdig, selbst im Scherze maßvoll auftretenden Principal hatte ihm zuletzt die Zunge gelähmt. Die Thatsache der Entlassung war auch peinlich. Seine dominirende Stellung in den Arbeiterkreisen war nicht ohne Opfer. Die Reise nach Leipzig mußte wieder von ihm selbst bestritten werden. Wie sich rächen? Wo? Womit? Oft schon hatte Assessor Rabe sich an ihn gemacht und ihm vom Tode seiner Mutter, dem Bestehenbleiben der Fabrik, von einem „verruchten Testament“ seines Vaters gesprochen.

Seltsam, daß ihm Rabe und eine andere Persönlichkeit, mit der sich jener zu ziehen pflegte, heute grade unten begegneten, wie sie Beide bei Frau Marloff klingelten und eine Stimme durchs Schlüsselloch „Nicht zu Hause!“ rief. Raimund, der die zweideutige Existenz des ersten Stockes längst kannte, aber nie gesehen hatte, grüßte lachend. Er hatte gewisse Erscheinungen des großstädtischen Lebens schon oft mit jenem Klingelzuge in Verbindung gebracht, dessen Besitzerin Keinem sichtbar wurde. Es hieß, die Dame sei eine „Ausgehaltene“. Ein Schleier ruhte über ihr.

Herr Ehlerdt, haben Sie Zeit? Kommen Sie doch in den Spanischen Keller! Baron von Forbeck – Herr 178 Raimund Ehlerdt, Dirigent bei uns – lautete Rabes Vorstellung. Trinken wir ein Glas, wissen Sie von dem rosarothen Portwein! Die Vinhos de feitoria sind nirgends so sicher als im Spanischen Keller!

Mit diesen lallend gesprochenen Worten zog Rabe den jungen racheschnaubenden Ehlerdt mit fort, hörte mit Wonne, daß der Mitgeschleppte, den Forbeck etwas mitleidig als wohl nicht börsengespickt betrachtete (Forbeck war auch Bauernfänger im höhern Styl), auf’s Aeußerste über seinen Stiefvater entrüstet war. Da konnte ja beim rosarothen Portwein und sonstigen Erfrischungen mancherlei besprochen und geplant werden.

179 Achtes Kapitel.#

Der Spätherbst hatte nun endlich die Gestalt des Winters angenommen. Nicht nur leichte Flocken Schnees, sondern ganze Massen und gefrorner Regen dazu waren gefallen und waren nicht wieder geschmolzen, sondern blieben gefroren und festgeballt – ein Glück für den Straßenverkehr. Auch für die kleine bescheidene Bildhauerwerkstatt, die sonst vor „Patsch“, wie Blaumeißel sagte, kaum zu erreichen war, wenn er des Morgens mit der Pferdebahn letzter Wagenklasse ankam und Plümicke, der mit dem Heizen des Ofens und mit seiner Junggesellensauberkeit in aller Frühe zu thun hatte, noch an ein „Bahnmachen für Fußgänger“ im Garten nicht gedacht hatte.

Die Beete waren größtentheils mit Strohgeflechten bedeckt. Manche sogar mit erwärmendem, zuweilen erneuertem Dünger. Hier und da lugte noch ein grüner Epheuzweig, eine Buchsbaumreihe oder ein junges Reis von einem Lebensbaum unter der Decke hervor. Die 180 von Gyps geformten Victorien, Generals- und Staatsmannsbüsten, die neben der kurzbeinigen Flora noch sonst in dem Garten zerstreut standen, waren in die Remisen des Hauswirths gekommen. Nur die Postamente standen noch. Die Springbrunnen plätscherten nicht mehr. Die Goldfischchen schwammen in einer Glaskugel im Putzzimmer der gestrengen Frau Hauswirthin, der ehemaligen Schänkmamsell.

Der Schnee stand den dürftigen Tannen ringsum, die das kleine Häuschen umgaben, wahrhaft malerisch. Einige Krähen kamen zuweilen aus unwirthbaren, der märkischen Poesie angehörigen, nicht zu weit entlegenen Gegenden geflogen und suchten Spuren menschlichen Daseins auf. Leider liebt die Krähe einen Begriff, den die Mutter zornig ihren Jungen zuruft, wenn sie diesen ein Weißbrot „von gestern“ mit mürrischer Miene verzehren und dabei die Krümel massenweise zur Erde fallen lassen sieht: Du veraasest ja die gute Gottesgabe! Steht auch ein „kühsättiger Junge“ in Grimms Wörterbuch? Genug, die Krähen krächzten dem Meister Althing die Ohren voll, ein Beweis für allerlei störende Ablagerungen und Fäulnißstätten ringsum.

Blaumeißel mußte sich zusammennehmen, die schlechte Meinung, die der Meister von ihm zu bekommen schien, im Keime zu ersticken. Er dankte seinem Freunde 181 Plümicke, daß dieser ihn mit Ernst und Würde auf die Gefahren der socialen Frage aufmerksam machte und ihn auf die Bahn des Guten zurücklenkte. Denn einmal kostete ihn dieser Spaß viel Geld. Ohne Versammlungsbesuche und fünf bis sechs Seidel allabendlich war die Theilnahme am Jahrhundert nicht zu bestreiten. Und warum eigentlich? Blaumeißel, hatte Plümicke bei seiner immer mehr entwickelten Pflanzenkosternährung mit ruhiger, indischer Braminenwürde gesagt, uns Punktirer geht das doch eigentlich Nichts an! Wenn wir auch an den Bau gehen und Steine hauen, so sind wir immer noch etwas Andres und von dem – er nannte dasjenige Kniee, was Andere Genie nennen – der großen Künstler abhängig! Das Ding mit der „productiven Rente“ ist recht schön, fuhr er fort, und ich sehe ordentlich das Ding so fortwachsen, immer mehr, immer mehr, wie bei der Nähmaschine; aber die Raupe hat der Ehlerdt blos im Kopf. Unser Alter würde uns schön ansehen, wenn wir sagten, wir hätten an seinem Verstand mitgearbeitet und wollten jetzt von dem Grafenmonument Dividende haben!

Blaumeißel besaß geringere Intelligenz, als der Bramine, dieser aber die mächtigere seiner Frau. Und dann hatte Micheline Ziporovius sich gar noch eine noch pfiffigere Schwester annectirt, die Josefa, die bei einer 182 „einzelnen Dame“ diente und vor Allem den hochintelligenten Zimmerherrn, den Referendar Dieterici. Ein wunderbares Talent für das Vornehme verband dieser Einmiether mit allerlei kleinen Neigungen für Volks­thümliches. Sein Bedürfniß, Abends, wenn er nicht irgendwo zum Thee oder Ball war, zu Hause zu soupiren und zwar „warm“, zog Frau Blaumeißel ganz von dem abendlichen socialen Schwindel, dem Besuch der Vereinslocale ab.

Auch war Blaumeißel weniger frivol als sonst. Er meinte, ihr Professor käme ihm manchmal erhaben vor, besonders wenn er im Atelier das Sopha abräumte, sich legte und an die Decke „stierte“ oder die Hände vor die Augen hielte. Mit einem Male stünde er dann auf und sagte blos: Wer hat denn die Bürste da wieder hingelegt? Oder: Das Petroleum ist, glaube ich, Thränenwasser aus der Hölle! oder dergleichen und dabei hat doch der Mann eben die Jacobsleiter erstiegen und mit dem Erzengel Michael gesprochen!

Plümicke fuhr förmlich zurück über diese Stylwendungen. Micheline und Josefa waren katholisch, diese konnten wohl Bü­cher mit Erzengeln und Jacobsleitern besitzen. Aber beide Frauen neigten durch den Verein zu freisinnigen Anschauungen. Die Deutschkatholiken machten zuweilen so gemüthliche Ausflüge! 183 Daraufhin war Frau Micheline der Kirche untreu geworden. Kurz, es kam heraus. Herr Dieterici liest uns Abends vor! erklärte Blaumeißel. Er übt zwar blos seine Stimme und will seine Brust erweitern, aber wir haben den Gewinn davon! Er erklärt auch das Dunkle!

Den Erzengel Michael –! wiederholte Plümicke.

Elias! Prophete und gespeist von Raben –! fügte Blaumeißel pathetisch zu Plümickes größtem Erstaunen hinzu.

Dieterici, der zuweilen Anläufe machte, sich bei Helene Althing in ein rosiges Licht zu stellen (er that es meist mit Vorlesung seiner Gedichte), hatte vom Bildhauer Althing in bewundernden Wendungen gesprochen. Diese waren bei Blaumeißel haften geblieben. Im Laufe der Unterhaltung kam auch die Thatsache zur Erwähnung, daß der berühmte Redner und Präsident des Vereins aus Wolnys Fabrik entlassen war, worauf sich Plümicke die Bemerkung erlaubte: Da werdet Ihr ihn im Verein ernähren müssen –

Wenn dafür gesammelt wird, trete ich aus! entgegnete Blaumeißel. Ueberhaupt –

Nun kam eine Andeutung auf erwarteten neuen Kindersegen. In dem einfachen: Aber Blaumeißel –! das Plümicke darauf erwiderte, lag ein ganzer Cursus über Finanzwissenschaft.

184 Im spätern Verlauf der Unterhaltung kam noch die Herrschaft zur Sprache, bei welcher Josefa „eigentlich diente“. Und als Blaumeißel leise berichtet hatte, daß man bei Josefas (leider nicht „recht richtigen“) Dame den jungen Herrn Althing, den mit 300 Thalern Angestellten, gesehen hätte, trat ein absolutes Schweigen ein. Es giebt Naturen, die zur Diplomatie geboren sind – Leute nur im Volk, wo man ihnen keine Gesandtschaftsposten anvertraut. Die berufenen Diplomaten leiden meistentheils an krankhafter Geschwätzigkeit.

Später hätten Ottomar die Ohren klingen dürfen. Denn als beide Punktirer wieder Sprache gewonnen hatten, analysirten sie den Charakter des jungen Althing. Dieterici schien seine Abendgespräche mit seinen Wirthsleuten umfassend zu machen. Beinahe hätte Blaumeißel etwas vorgebracht wie: Ottomar gehört dem Geist der allerneuesten Zeit an, welche ideale Strebungen nicht mehr kennt, ohne sie darum gering zu schätzen! Wer weiß, ob Dieterici nicht gesagt hatte: Diese Zeit verehrt die Tradition, macht sie aber nicht zu ihrer Unterlage! Der Staat, die Rechts­idee, eine Stellung, die Verheirathung genügen! Für die Verbesserung der Mängel, die sonst noch übrig bleiben, ist ja überall gesorgt! In einem einzigen offenbart sich jetzt nur noch Poesie: Man will dem Leben seinen Reiz abgewinnen! Diesen 185 in gedankenlosem Genuß zu finden, dabei die Wissenschaft auf Augenblicke gradezu zu vergessen, dazu haben neuere Poeten die Anleitung gegeben! Eins, schien Dieterici bei der Verdauung geäußert zu haben, ist ganz von der neuesten Mode: Das Auftreten der Juden mit ihren enormen Mitteln, ihrer zähen Willenskraft, ihren angebornen Gaben der Auffassung, ihrer scharfen Combination! Da hat sich für alle Lebensbeziehungen die Anstrengung steigern müssen! Ottomar liest zuweilen ein gutes Buch, kennt aber hunderterlei Dinge nicht aus den Quellen, sondern nur nach allgemeinen Bildungsredensarten, wie man von den Dichtern nur noch die Verse kennt, die in den Anthologieen stehen! Aber Leichtsinn beherrscht ihn gerade nicht – wir lassen Dieterici sprechen. Der College mußte Ottomars kategorischem Imperativ gute Zeugnisse gegeben haben. Sich gesellschaftlich verbrauchen lassen, gehörte zu den Gedanken, die Ottomar Althings Gewissen drückten, aber es sind leider Verpflichtungen, die man nicht abschütteln kann. Bei unserm Justizrath hat er leider vor, von sich ab Vieles auf mich und auf Vogler zu wälzen, was ihm sogar gelingt, seitdem die Justizräthin Hoffnung hat, Mitglied des Frauenvorstands zu werden. Einige neue Kleider sind für die Sitzungen schon vorausbestellt.

186 Dieterici, sieht man, ist Menschenkenner und Dichter. Im letztern Umstande sollte sein Herabsteigen bis zu seinen Wirthsleuten liegen, nicht in anderen Ursachen. „Dichter lieben nicht zu schweigen, wollen sich der Menge zeigen!“ Molière zog das gesunde Lachen oder das Gähnen seiner Haushälterin allen Urtheilen der Akademie vor. Leider konnte Blaumeißel nicht Alles so tief fassen, so ergreifend wiedergeben, wie Micheline, seine Gattin und Josefa das auffaßten, jene trotz ihrer drei Kinder, die im Schlafe zuweilen schrieen. Plümicke staunte nur und bewunderte.

Aber das war richtig. Ottomar hatte einigemal in Abendstunden, tief in seinen Paletot gewickelt, die Palissadenstraße durchstreift und endlich Edwina Marloff besucht. Als er seinem Freunde, dem Grafen zum ersten Male Bericht erstattete, fand er leider diesen dermaßen zerstreut, daß er sich nur kurz fassen konnte und die Details seines Besuchs obenhin berührte.

Denn unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte ihm der Graf anvertraut, daß ein großes starkes Leinwandcouvertpacket, das erbrochen vor ihm lag, eine Sammlung unbezahlter Rechnungen enthielt, die ihm die Generalin zuschickte. Es waren oder schienen die Ausgaben zu sein für die schon vorgenommene Ausstattung und Einrichtung seiner voraussichtlichen neuen Existenz, 187 die doch hier im Palais stattfinden sollte. Wozu diese Anschaffungen! Diese Möbelstoffe! Diese Tapeten! Es wird Alles bei der Generalin stehen bleiben!

Ottomar schwieg und sah die enormen Summen.

Da stecken die Schulden des Max darunter! rief der Graf ganz laut. Ich habe ja seine gemeine Natur schon auf der Universität erkannt und ging wegen einer Geldsache mit ihm los. Dann die bettelhafte Bedingung des Alten, daß ich seine Tochter heirathen sollte – ich bin empört!

Ottomar hütete sich zu schüren und schwieg.

Der Graf stützte sein Haupt auf den Mantel eines Ofens und sagte dann: O bitte, erzähle:

Ich mußte die Abendstunde wählen und mich doch tief in meinen Paletot hüllen, begann Ottomar. In demselben Hause wohnt der Bruder einer Freundin meiner Schwester und eine Person hatte mich auch gleich erkannt, das Mädchen, das mir öffnete. Ich muß die Kleine irgendwo gesehen haben.

Du verschwiegst Deinen Namen! schaltete der Graf ein.

Vorläufig, ja! Aber ich konnte mich ja auf den Gatten berufen, auf eine Mission, die ich übernommen hätte – der Name wurde nicht genannt. Es währte lange, bis ich vorgelassen wurde. Anfangs wurde ich ganz abgewiesen. Madame empfingen keine Besuche, 188 hieß es. Meinem Lächeln wurde Befremden entgegengesetzt. Erst als ich sagte: Ich käme als Bote auf ein Billet, das Frau Marloff geschrieben, wurde meine Meldung zum dritten, vierten Male ausgerichtet und nach einiger Zeit angenommen.

Es war wohl nur, um Zeit zu gewinnen, Toilette zu machen! sagte Graf Udo gespannt.

Möglich! Denn ich mußte denn doch eine Ewigkeit in einem fast dunkeln Vorzimmer warten –

Oder sie hatte Besuch –

Alles, Alles war möglich. Ich weiß es nicht. Die Einrichtung fand ich in hohem Grade elegant. Seidne Vorhänge, die Möbel, die Teppiche, die Bilderrahmen, Alles gehörte ohne Zweifel den Anordnungen Deines Oheims an –! Auch ein Schachbrett fehlte nicht, und es schien, als wäre eben erst darauf gespielt worden.

Graf Udo war denn doch gerührt. Sein guter, geistvoller Onkel, der ihn so innig liebte, der sein Leben für ihn in die Schanze schlug, war ein leidenschaftlicher Schachspieler. Er wußte das. Nun sah er ihn hier in den geheimnißvollen Abendstunden mit einem zweifelhaften Wesen bei seinem Lieblingsspiel –

Auf dem Tisch lagen sogar Bücher! Die Gedichte der Ada Christen ergriff ich zuerst! Ein College 189 Dieterici schwärmt dafür. Auch ich kannte die heinisirenden Ergüsse aus einzelnen Stellen, die meine Collegen bei Luzius recitirten. Der Eine spricht davon ganz wie von der Wagner’schen Musik, immer mit einem Aufschlag seiner leider meist vom Wein angelaufenen Augen – Jean Vogler sein Name – der Andre, Dieterici, faßt die Sache ernster. Er möchte das Problem lösen, wie sich hier Sentimentalität mit dem Hörselberg vereinigen konnten.

Er ist doch in Heinrich Heine, denk’ ich, längst gelöst! schaltete der Graf ein. Man baut hier die Poesie auf Reminiscenzen!

Ein Gedicht von dem Modell auf der Kunstausstellung las ich und fand es in der That ergreifend, fuhr Ottomar fort. Ich erinnerte mich freilich, etwas Aehnliches schon bei einem Franzosen, vielleicht Musset, gelesen zu haben. Ueberhaupt, ich hatte Zeit zum Grübeln und kam bei jener Lectüre auf den Gedanken, daß ich mich anheischig mache – mit einem Würfel gewisse Redensarten und Lieblingssituationen des Tages zusammenzusetzen und meine beiden Fräulein Luzius sollen die Resultate „göttlich“ finden.

Der Graf blieb verstimmt. „Reizend“ ist Adas Ausdruck, schaltete er ein. Und die übrigen Bücher? Vielleicht sogar Kupferwerke?

190 Behalte ich mir noch zu studiren vor! Es gab deren in der That. Aber die Dame erschien und ihr Eintreten war blendend!

In der That –? sagte Graf Udo, endlich angeregter. Es war der Effect der Dunkelheit –? setzte er zweifelnd hinzu.

Ich habe gute Augen! Der Wuchs war schlank, die Formen untadelhaft, der Kopf edel, die wunderschönen großen braunen Augen waren von schwarzen Wimpern und Augenbrauen beschattet; aber das Haar war aschblond.

Ein Naturspiel –? sagte der Graf zweifelnd. Sie hatte sich gepudert.

Aschblondes Haar – braune Augen – schwarze Wimpern und Brauen – Mein Vater würde darin das Dämonische, Unregelmäßige, eine Caprice der Natur erblicken, die auch dem Charakter etwas Anomales mittheilt und manchmal nichts Gutes bedeutet!

Die Augenbrauen waren gefärbt – erklärte der Graf, der immer noch nicht glauben wollte.

Die Augenwimpern konnten es doch nicht sein! versicherte Ottomar. Sie machte vollständig den Eindruck einer Unverheiratheten und sie ist es auch! Sie ist, um es kurz zu sagen, eine natürliche Tochter Deines Onkels!

191 Graf Udo war aufgesprunqen. Er hielt sich beide Hände vor die Augen. Ein: Schaudervoll! löste sich langsam von seinen Lippen. Freund, Freund, ich kenne die Geschichte – der – Lucrezia Borgia –!

Ottomar schwieg.

Hier spielt empörender Betrug die Hauptrolle! rief der Graf, entsetzt zugleich, daß er sich nicht mäßigte, wohl gar der Gräfin hörbar wurde. Ottomars Schweigen brachte ihn auf’s Aeußerste der schmerzlichen Spannung.

Mäßige Deine Gefühle! sprach Ottomar mit beruhigender Stimme. Hier liegen Räthsel verborgen. Sammle Dich! Die Thatsache steht fest, aber Dein Onkel bleibt, scheint mir, ein edler guter Mensch! Ich glaube dafür bürgen zu können! Gott im Himmel, was trägt nicht Alles diese Erde –!

Graf Udo athmete auf, während dann auch Ottomar aufgesprungen war und sich geschüttelt und durchfröstelt fühlte von der Macht der Erinnerung.

Nimm erst etwas Detail in Kauf! sagte er nach einer Pause und sogar wieder scherzend. Das Zimmer roch noch stark nach Petroleum und sogar die weißen langen Finger der Dame rochen zwar nicht nach diesem, aber nach der Seife, mit welcher sie sich eben erst von den Spuren des Wettkampfs mit ihrer Magd im „Es werde Licht!“ gereinigt haben mochte. Das Zimmer war 192 klein; es stellte ein Boudoir voll Traulichkeit und schönstem Comfort dar. Wohin man auch fiel, man fiel sanft. Gefahr war nirgends. Was die Fauteuils nicht leisteten, leistete der Teppich. Tropische Gewächse verdeckten das durch Portièren fest verschlossene Fenster. Ein Piano fehlte nicht. Ein Schreibtisch schien fleißig benutzt. Die an ihm befindlichen Kerzen waren halb heruntergebrannt. Das Sopha, auf dem die Schöne lag, war gelb –

Lag –? Schon lag –? unterbrach der Graf.

Als sie eintrat, fuhr Ottomar fort, streifte mich ein forschender Blick; sie fühlte sogleich, daß ich ihre Erscheinung bewundernd ansah. Mit nachlässiger Grazie legte sie sich auf eine Chaiselongue und forderte mich durch eine Handbewegung auf, auf dem nebenstehenden Sessel Platz zu nehmen. Ihre Augen leuchteten beim Lampenlicht noch dunkler, die Haare in lichteren Reflexen. Ein Schlafrock von hellblauem Cachemire mit türkischer Stickerei schmiegte sich in weichen Falten um die schöne Gestalt. Das Kleid wurde nur an der Taille von einem silbernen Gürtel gehalten. Von ihren Nadeln befreit wallte das Haar lang in den Rücken hinab –!

Du hast gut beobachtet! sagte lächelnd der Graf.

Erst beschäftigte sie der Tod des Grafen, ihr Vergessensein im Testamente. Sie streckte sich, um zu weinen, dann, wie es mir doch schien, um zu zeigen, 193 wie schlank sie gewachsen sei. Das Sopha war gelb wie das ganze Ameublement. Alles konnte als Folie ihrer schwarzen Wimpern dienen. Um es gleich zu sagen, sie scheint eine Mischung von viel Gutem und Bösem. Boshaft lachte sie über meinen Vorschlag, tausend Thaler sogleich und für 3 Jahre jährlich 500 Thaler anzunehmen! Oder sie lachte so lange, um ihre schönen Zähne zu zeigen. Ueberhaupt schloß sie alle ihre Widerreden, die sie mit einer entschiedenen Abneigung gegen meine Person zu verbinden wußte –

Wie so? Abneigung? forschte der Graf.

Ich hatte sie gleich a priori wahrscheinlich zu sehr als eine unter der Würde des weiblichen Geschlechts stehende Person aufgefaßt und meine Unbehaglichkeit verrathen, sie so von gemeiner Geldgier beherrscht zu finden. Ueberhaupt war ihr steter Refrain: „Was kommt Graf Udo nicht selbst? Was schickt er mir einen Vermittler? Sie sehen ja, es geht bei mir nur anständig zu! Wer will mir denn etwas anhaben? Ich bin eine Frau, das sagte sie Anfangs noch, lebe von meinem Mann zwar getrennt, aber in der größten Einsamkeit. Ich lese, ich zeichne, ich male. Ich bilde meinen Geist, wie jene Griechin that, – denke Dir, ich wiederhole wörtlich – Aspasia, der ich zwar an Schönheit nicht gleiche“ – sie glich ihr in diesem Augenblicke wirklich so, daß mir im 194 Geist eine Bestellung bei meinem Vater vorschwebte, die ihn gezwungen haben würde, sie zum Modell zu nehmen. „Die ich aber, fuhr sie fort, vollkommen zu würdigen verstehe – nämlich Aspasien. Der Umgang mit geistvollen Männern ist das Einzige, was Frauen von Verstand wahrhaft beglücken kann, alles Uebrige ist dummes Zeug und hat nur für den Moment und leider für die Mehrzahl unseres Geschlechts, das aus Gänsen besteht, Werth. Graf Treuenfels hat mir immer gesagt, sprach sie, träumerisch den schönen Kopf aufstützend, Aspasia war die Befreierin der Frauen aus dem dunkeln, abscheulichen Hinterhofe, wo die Mütter, Gattinnen, Schwestern, Kinder bei den Griechen leben mußten mit den Sklaven und Köchen zusammen, während die Männer wohlgemuth die Volksversammlungen und die Theater besuchten. Ei, sieh doch! sagte sie ganz naiv. Da liefen der Aspasia, die von anderwärts gekommen war, alle jungen Mädchen in Athen nach, stiegen über die Mauern – und blos, weil sie bei dieser gebildeten Person etwas lernen wollten, vor Allem, wie man mit Männern umgeht und für sie einen Werth erringen kann! Unsere Putz- und Vergnügungssucht ist ja doch ganz erbärmlich –!“

Eine lange Pause trat ein.

Dann sagte Graf Udo: Ich kann nur wie im Parlamente sagen: Hört! Hört! Aber, fuhr er fort, 195 wie kam sie zu der Lüge mit meinem Onkel? Denn anders, anders kann es unmöglich sein –!

Als ich auf ihr fortwährendes Begehren, mit Dir allein zu sprechen, aufbrechen wollte, und mein Ultimatum gesprochen zu haben erklärte, rief sie aufspringend: Ich brauche diese versprochenen 30,000 Thaler! Sie sollen mir eine würdige Stellung zum Leben geben. Und damit Sie Alles wissen, ich bin die Tochter des Grafen Wilhelm und meine Mutter war die Frau des Geometers Marloff! Damit öffnete sie die Thür und that meiner männlichen Eitelkeit die schmählichste Kränkung an. Sie schien nicht den mindesten Gefallen an mir zu finden und warf mich gewissermaßen zur Thür hinaus.

Graf Udo schritt unruhig auf und ab. Man wird ihr das ganze Capital auszahlen müssen – sagte er. Alles Andere muß ununtersucht bleiben! Freund, unterbrach er sich und schüttelte Ottomar die Hand, Du bringst mir das schwere Opfer Deines Rufes und doch – ich kann nicht zu ihr gehen! Engel giebt es, die mich zurückhalten, weiße Lichtgestalten –! Ich bin an sich kein Virtuose in Eurer sogenannten Tugend –

Seine Stimme erstickte, sein Auge blickte nach oben, dann sammelte er sich, verschloß das Packet mit Rechnungen und wollte auf gleichgültigere Dinge übergehen.

196 Ich bin noch nicht fertig, fuhr Ottomar fort. So leicht ließ ich mich nicht werfen. Ich trat voll Zorn zurück, gab ihrem Arm einen Druck, den sie fühlen mußte, schloß die Thür und sagte: Und eine solche freche Lüge rufen Sie hier vor dem Ohre Ihrer Dienstmagd aus? Die ganze Welt wird es erfahren, rief sie dagegen wild. Herr, ich habe schon mehr erlebt, als Sie! Ich war in Ungarn und der Türkei, habe schon als Kind von acht Jahren meine Augen aufthun müssen, nicht um zu kokettiren, sondern zum Entkommen vor Lebensgefahren –! Machen Sie ein Ende mit dem Ding. Ich brauche die 30,000 Thaler für meinen Lebensplan. Verstanden? Damit war ich wieder an der Thür.

Wär’ es denn möglich! rief der Graf einmal über das andere. Die Erinnerung an Papst Alexander den Sechsten schnitt alle Erörterungen ab. Nur die Frage that der Graf noch: Blieb denn Alles still bei ihr? Störte Euch Nichts? Hörte man die Dienerin nicht?

Das Mädchen, das ich schon einmal wo gesehen haben muß, berichtete Ottomar, brachte gerade bei der Aspasiastelle zwei Karten, die sie ansah und mir zeigte.

Wer wollte sie besuchen –?

Meines Freundes Wolny Stiefsohn, Assessor Rabe, und der Baron Max von Forbeck – Beweise, daß sie als problematische Existenz bekannt zu werden beginnt.

197 Wie nahe rückt das Alles in meine Lebenskreise! wehklagte der Graf.

Sie gab die Karten den Herren zurück und das Mädchen schlug draußen heftig die Thür zu, erzählte Ottomar. Der Schlag sollte gleichsam heißen: Meine Herren, Sie irren sich! Hier ist ein Kloster! Aber ich mochte nicht länger ironisiren, nicht länger Zweifel äußern; denn sie log offenbar als sie that, als ob sie diese Meldung nicht im hohen Grade aufregte. Im Gegentheil, sie verlor ihre gemachte Ruhe. Sie horchte und ich glaube fast, es war der einzige Moment, wo auch ich ihr nicht mißfiel.

Du legtest zuletzt den Arm um ihre Taille? Gesteh’ es nur! sagte der Graf, sich zum Scherze zwingend.

Das gerade nicht, entgegnete Ottomar, aber sie hatte ihre Kenntniß der Geschichte Aspasiens überraschend ausgedehnt und kokettirte damit. Da rückte ich mit dem Stuhle näher. Graf Wilhelm Treuenfels, sie nannte ihn immer „mein Beschützer“, war ein Weiser, war wie Sokrates, sagte sie! Sagen Sie dem Grafen – aber nein, nein, unterbrach sie sich dann wieder, er soll selbst kommen, um Alles zu hören! Warum denn nicht mir? fragte ich. Ich interessire mich auch für Sokrates. Der Mann war gerade so häßlich wie ich und Aspasia gab ihm doch wohl zuweilen einen Kuß!

198 Da raubtest Du ihr einen! Gesteh’ es nur! fiel der Graf ein.

Es war ein wunderlicher Moment, gestand Ottomar. Sie wehrte meine ausgestreckte Hand ab und näherte sich mir doch so, daß ich meinen Arm, sie war aufgestanden, nirgends anderswohin, als auf den Gürtel ihrer Taille zu legen vermochte. Mit einer bestrickenden Koketterie, halb ausweichend, halb nachgebend, bedeutete sie mich: Mein Sokrates behauptete: Der Mann habe das Bedürfniß, zuweilen das „Weib an sich“, nicht das Weib mit den tausend Nücken der Gattinnen, der Mütter, der Töchter, zu sehen und mit ihm umzugehen. Das „Weib an sich“ – das war ihm der Begriff, den die Dichter besungen hätten, den das Hohelied Salomonis besungen hat! Im gewöhnlichen, namentlich christlichen Leben existirt das „Weib an sich“ nicht mehr, nur im todten Mariendienst der Kirche. Es würde immer mehr abhanden kommen mit den Eisenbahn-Billeteusen, den Telegraphistinnen, den Medicinerinnen u. s. w., wenn wir nicht Poeten, Schwärmerinnen, das Mormonenthum und ähnliche Hülfsmittel hätten, die dem Manne das „Weib an sich“ erhielten! Und obschon ich ihr sagte: Es scheint, Sie haben Kant studirt! warf sie mich doch zuletzt gewissermaßen bei alledem zur Thür hinaus, wie mir ihr Mann oder Pflegevater gethan 199 – ich glaube übrigens, Marloff ist nur ihr Pflegevater!

Dem Grafen lagen Wolken auf der Stirn, nicht gewitterschwere, die sich entladen, sondern wie sie im Gebirge manchmal nicht mehr zu verschwinden scheinen. In den Papieren des Onkels hatten sich in der That einige dunkle Andeutungen über eine frühere Verirrung desselben gefunden. Die Höhe der geforderten Summe machte eine verdrießliche Rücksprache mit den Verwaltern des ererbten Besitzes nothwendig. Sein eignes Erscheinen bei einer so entschlossen scheinenden und offenbaren Widersacherin wagte er nicht. Er sagte ganz offen: Es fiele ihm aus dem Freischütz die Scene ein, wie Agathe im magischen Lichte auf hoher Felsenkanzel erscheint und mit ringenden Händen ihren geliebten Max bittet, nicht zur Wolfsschlucht niederzuschreiten! – – Und Adas Züge trug dies Geisterbild nicht –! sagte er – schweigend. Es waren Helenens Züge, die lieblichen der Schwester des hier so treu und aufopfernd befundenen Freundes! Die gute Gräfin, die Wittwe – die alle acht Tage das Atelier des Bildhauers besuchte und sich an den Symbolen der Treue aufrichtete – aufrichtete soweit, daß sie gar Nichts für die Trauer Unpassendes darin fand, wenn der Neveu mit Ada schon die Hochzeit feierte! Diese Hochzeit sollte in einem öffentlichen Locale ausgerichtet werden 200 und das junge Paar sogleich auf Reisen gehen! Die Forbecks drängten.

La Rose meldete, die Lampen wären angezündet. Die Dame des Hauses würde bald zu Tisch rufen.

Speise mit uns! Ich kann bei Tisch kein Wort sprechen. Die Gräfin wird meine Trauer sehen –! Vielleicht ist Ada zugegen –

La Rose bestätigte, daß sie schon gekommen sei, und ging.

Freund! rief Udo in mächtiger Erregung aus. Was leiden wir doch an Fesseln, die uns Vorurtheile und Herkommen auferlegen! Meine Brust möchte zerspringen, wenn ich an dies Wort unsres Sokrates denke: Das Weib an sich existirt nicht mehr! Ich sage: Die Natur existirt nicht mehr! Der Triumph der Natur würde sein, daß Ada den Charakter aller ihrer Empfindungen Männern gegenüber prüft und zu Dir nicht blos sagen würde, wie sie schon gethan hat: Der Althing ist nett! sondern ich liebe ihn!

Graf! rief Ottomar zurückspringend.

Es ist so! Ich rede ohne alle Eifersucht! sprach Adas Verlobter und zog den wie Erstarrten zur hohen geöffneten Flügelthür, wo ihnen Kerzenglanz entgegenströmte.

201 Neuntes Kapitel.#

Der Winter brachte die Montagsfreunde zahlreicher zusammen als der Sommer. Die Zahl der Dreißig sollte nicht überschritten werden, aber von Förmlichkeiten, Statuten, Wahlen kam man immer mehr ab, da man dergleichen im übrigen Leben bis zum Ueberdruß betrieben sah. Parlamentarismus an allen Ecken und Enden! Das Formenwesen drohte die gesundesten Lebensäußerungen zu unterbinden. Besonders konnte man bei den jungen Juristen einen Fanatismus für die Formalitäten des englischen Ober- und Unterhauses wahrnehmen.

Ottomar hatte sich eines Montags auf der Straße aus einem Gespräch über „die Berechtigung, auch nach bereits unterstütztem Schlußantrage doch noch zur Tagesordnung zu sprechen“ losgerissen, hielt vor dem Versammlungslocal der neuen Serapionsbrüder an, klopfte an die zettelbezeichnete Thür, steckte seinen Kopf in’s Zimmer und fragte: ob sein Papa, Professor Althing, nicht zugegen sei.

202 Sogleich riefen von den anwesenden zwanzig Gästen mehr als zehn: Bleiben Sie doch da, Herr Althing! Er wird gewiß noch kommen! Nehmen Sie doch Platz!

Wenn Sie es erlauben! sagte der junge Mann, zog seinen warmen Ueberzieher aus, hing ihn an einen Riegel, wo ihm sein Eigenthum in Sicht verblieb (man verzeiht diese Unterschätzung der öffentlichen Sicherheit in großen Städten) und staunte nicht wenig, als ihm mit dem sofort nahe gerückten Trarbacher Gewächs der Gemüthlichkeit auch die Anrede hörbar wurde: Sie sind ja auch Officier, Herr Althing! Wir discutiren die Behauptung, die gefallen, daß das Militär den ersten Stand im Staate bildet! Glauben Sie das auch?

Nachdem der junge Althing seinen Lieutenant als nur in der Reserve geltend und seinen Standpunkt als vollkommen nicht standeseinseitig bezeichnet hatte, sagte er: Ein junger Kamerad bewies mir diesen Satz, den Sie da aufstellen, einfach dadurch, daß er sagte: Nennen Sie mir einen Stand in der Welt, von dem ein Mitglied, einfacher Lieutenant, eben in der Residenz angekommen und, nachdem er vernommen, daß bei Hofe am Abend Ball ist, sofort auf die Commandantur gehen, sich anmelden und in Paradeuniform auf dem Schlosse beim Balle erscheinen darf –!

203 Dies argumentum ad hominem erregte allgemeines Erstaunen.

Die Frage wurde tiefer gelegt. Einige Beamte, der Schulrector Weigel, der annectirte Friese Omma u. A. behaupteten in allem Ernste, die sittliche und intellectuelle Grundlage des Staats sei die Armee. Ein begeisterter Gerichtsrath, Eller, erklärte geradezu: Verhehlen wir es uns doch nicht, daß wir durch die Börse sowohl, wie durch die Verirrungen der Wissenschaft und vollends die Erstarrung der Theologie in eine Abhängigkeit vom Kriegerstande gekommen sind, die ich schätze, selbst wenn ich Sie dabei mit der Enthüllung über die Bildung eines neuen Mönchthums erschrecken sollte. Ja, meine Herren, der Offizierstand ist der einzige haltbare Kitt der Gesellschaft! Er kann es aber nur sein durch seine sozusagen klösterliche Organisation. Militarismus heißt soviel wie neue Hierarchie. Die Präparandenschulen sind die Kadettenhäuser! Haben Sie noch nie bemerkt, wie die aus diesen Anstalten hervorgegangenen Zöglinge alle Merkmale des Lebens hinter Schloß und Riegel, alle Merkmale der Dressur eines militärischen Loyola, Lainez oder Sanchez tragen? Und können Sie leugnen, daß inmitten einer ewig schwankenden Gesellschaft, einer sozusagen immer mehr sich demoralisirenden GeselIschaft, einer Gesellschaft, innerhalb deren sogar die Rechtsprechung ein 204 förmlicher Parteienspielball geworden ist, so daß selbst der Begriff der Strafe den Richtern nicht mehr klar geblieben, grade das stramme militärische, das Offiziersleben ein Halt für Honnetität, Ehre, sich ziemenden Anstand, Würde, richtiges Auskommen und sogar Bildung geworden ist? Und rein das die Folge von einem, sagen wir es offen, den Jesuiten entlehnten System der gegenseitigen Beobachtung, der Verpflichtung zur Denunciation, der Conduitenliste, der Ausmerzung, – thut Nichts, diese Aehnlichkeit – es garantirt der Menschheit die feste Unterlage – denn alles Uebrige ist im Staate faul geworden.

Oberfaul! fielen wohl einige begeistert Zustimmende ein, während Andre murrten und der Fabrikant Schindler offen heraus sagte: Das heißt ja seine Ketten noch vergolden!

Man müßte demzufolge die Generale alle Sonntage predigen lassen! – meinte ironisch der Stadtrath Pfifferling.

Der Spötter kam aber übel an. Hofmaler Triesel, der Mann mit den vielen Orden, war zugegen und ihm gerade verdankte das Gespräch diese Wendung; denn er malte eine große Parade mit naturgetreuen Porträts und Jeder wollte ihm bewundernd entgegenkommen. Er hatte sich von oberster Instanz ausbedungen, daß er als Historienmaler keine geschniegelte Sonntagsparade wie 205 von Nürnberger Bleisoldaten, sondern eine in Staub gehüllte malte, wo die Gestalten nur ungefähr zu erkennen waren. Die Kritiker waren schon außer sich über den „genialen Gedanken“! So war man darauf gekommen, den Weltgeist zu preisen, der durch die furchtbare Last des Militärbudgets, die auf den Völkern läge, doch der Barbarei wehre, Segen verbreite, Haltung, Ehre, Conduite, Sittenstrenge, Anstand, Bildung, Verkehrsmöglichkeit, Sinn für die Traditionen der Geschichte befördere. Das ging so fort und Ottomar hörte nur zu.

Zuletzt durchbrach der kräftige Baß des Industriellen Schindler diese Schönfärbereien, wie er sie aus seiner Sphäre her zur Erweckung großer Heiterkeit nannte – er besaß eine großartige Färberei – und stellte im Gegentheil den Satz auf, daß die allgemeine Militärpflicht grade das Grundverderben des deutschen Volkes geworden sei, wie ja dieselbe schon eine faullenzende, in der Industrie um die Erlernung der nothwendigsten Handgriffe gebrachte Generation erzeugt habe. Der erregte Mann führte in sein Thema Zahlen und Namen ein wie aus dem statistischen Bureau. Ottomar war zu sehr in Apathie versunken, sonst hätten ihn diese Debatten reizen müssen, Antheil zu nehmen. Die Gegenstände, die da so heftig besprochen wurden, beschäftigten ihn ja sonst auf’s Lebhafteste. Aber er war in Lebensverhältnisse, 206 Lebensverwicklungen gerathen, die ihn über die Gebühr gefangen nahmen. Die neuliche Erklärung des Grafen über Ada, die er in der That bestätigt fand, die zwangsweisen Besuche bei Edwina Marloff nahmen ihm den Boden unter den Füßen. Jetzt sah er nur immer auf die Thür, ob endlich sein Vater kam, und da dieser ausblieb, so ruhte seine Hand lässig auf dem Tisch und er hörte nicht mehr, ob die Menschheit durch den Soldatenrock besser oder schlechter würde. Zur Zeit des „Simplicissimus“, sagte er einmal vor sich hin, als ein „Oberlehrer“ gesprochen, wurden die Menschen durch den Soldatenrock entschieden schlechter!

Sein Vater kam nicht. Er kämpfte lange mit sich, ob er aufstehen sollte und gehen. Er hatte nur den liebevollen Vater begrüßen, ihm die Hand drücken wollen. Denn – sie hatten gestern Beide eine böse, böse Stunde! Harte Worte, ungerechte Beschuldigungen waren gefallen! Der alte Bildhauer hatte den gestrigen Sonntag, wo der Sohn bei den Eltern zu speisen pflegte, zu einem dunklen Tage im Erinnerungskalender der Seinigen gemacht! Nur die winterlichen Doppelfenster hatten die Schallwirkung der mächtigen Worte gedämpft, die schon während des Essens, dann bei dem sonst so gemüthlich verlaufenden Kaffee durch die niedrigen Räume des vierten Stockes ertönten. Selbst die Thränen hätte man sozusagen 207 hören können, da das Schluchzen Helenens und der Mutter mit Worten begleitet war.

Ich bin kein solcher Bildhauer, hatte der Vater sich zu Helenen wendend gerufen, wie Du da einen in Deinem neuen Roman geschildert kriegst! Ich mache der deutschen Künstlerwelt nicht das Compliment, zwei Ateliers zu haben, eines, wo ich Christus dem Herrn diene, und eines, wo Venus und die Wollust herrscht! O über einen Dichter, der unter Künstlern lebt und sie so zu schildern im Stande war! Wir Künstler mögen zuweilen Thoren in unserer Richtung sein und die ganze deutsche Kunstgeschichte beweist ja, daß wir eigentlich immer in Extremen gelebt haben! Ist ein Gedanke da, so wurde er gleich breitgetreten! Jede Originalität erzeugt die Manier! Aber was wir sind und sein wollen, das sind wir auch – ganz. Machen wir Marien und Crucifixe, so ruht unsere Seele in dieser Formgebung des Steins! Malen wir Madonnen, so lassen wir uns das Lächeln frivoler Collegen gefallen! Aber wir kaufen uns nicht von dem froh getragenen Martyrium unserer Ueberzeugung durch ein zweites Atelier ab, wo der persönliche Penchant herrscht. Ihr werdet’s noch dahin bringen, daß ich das ganze Monument unten in Stücke zerschlage und Euren frivolen Grafen aus dem Hause weise!

208 O der Wunden, die da geschlagen wurden! Der stürmischen heißen Sprudelquellen, die da wie von einem unterirdischen Vesuvausbruch in die Höhe geschleudert wurden! Der Graf war seither so oft erschienen, daß Helenens Weinen die Gestalt eines Krampfes annahm, worüber sich der Zorn des Vaters nur steigerte. Seine Heirath mit dem Fräulein von Forbeck steht ja nahe bevor! rief er. Was er hier so oft nur wolle und sich in Betrachtungen und Maximen verlöre, die die ehrbare und gesunde Moral auf den Kopf stellten! Alles an ihm sei Schöngeisterei, Anempfindelei, die er hasse wie die Sünde! Dabei nahm er jenes Buch, von dem ihm die Frauen mit so hoher Befriedigung erzählt hatten, und schleuderte es auf die Erde. Die sanfte Mutter hatte ihn vergebens zu beruhigen gesucht. Du weißt noch nicht Alles, hatte er diese angefahren. Aber diese saubern Gesellen sollen mir den Boden hier nicht verunreinigen! Als sich Ottomar über diese Sprache beklagte und hören wollte, was ihnen Beiden, dem Grafen und ihm, denn vorgeworfen werden könnte, hatte die Antwort gelautet: Ich weiß, was ich weiß! Ottomar war hoch erröthet, die Schwester, die Mutter waren bestürzt. Die Schwester der Micheline Blaumeißel, Josefa, diente bei Edwina! Hüte Dich vor den kleinen Leuten! zischelte etwas um Ottomar und 209 der Vater sagte ausdrücklich: Es giebt Ohren und Augen!

Ottomar schwieg erst, dann sicherte er sich in scharfen Ausdrücken das Recht, nachgrade seine eignen Wege gehen zu dürfen, worauf der Vater wieder die Wege beschrieb, die ihm gefielen, was eine neue Replik zur Folge hatte, worauf Ottomar ging. Alles war dann still, sonntagsstill, nur das Rollen der Wagen hörte man. Die Mutter griff nach ihrem Album, um sich zu zerstreuen. Aber die Worte, die ihr ein Dichter hineingeschrieben: „Liebe wächst aus Körnern, die man keinen Säemann streuen sieht“, ließen sie das Buch wieder zuschließen. Sie mußte auf ihr liebes Kind Helene blicken, das an’s Fenster getreten war, licht und hell sich vom trüben Novemberhimmel abhob, den ächzenden, entlaubten Bäumen nachzuträumen schien, dann sich mit feuchten Augen an ihr Nähtischchen setzte und sich still mit einer Stickerei beschäftigte. Der Vater war ausgegangen.

Ottomar mußte die Hoffnung, sich am Tage darauf noch mit dem Vater zu versöhnen, aufgeben. Denn es blieb ihm für heute noch eine Menge von Pflichten auf den Schultern. Am Abend mußte er auf einem Balle erscheinen, zu welchem wirklich die sterbenskranke Frau Doctorin Wolny eingeladen hatte. Justizrath Luzius hatte ihm gesagt, sie wollte, wenn auch conform dem 210 Testamente ihres ersten Mannes, nun doch noch das ihrige machen. Natürlich fehlte Frau Luzius mit ihren Töchtern auf dem Balle nicht. Tänzer wie Vogler und Dieterici verstanden sich von selbst. Das Müssen auch für Ottomar lag in dessen Abhängigkeit, nicht von den Luzius’schen Töchtern, sondern von einem andern unglaublich starken Willen, von welchem er angefangen hatte, sich beherrschen zu lassen. Daß ihn schon der Damenverein hin und her jagte, war ihm an sich peinlich. Doch gehorchte er da, um der guten Sache willen. Aber Ada war es, die nicht endete, ihn, wie sie es nannte, in Trab zu bringen. Und warum? Sie sagte ihm geradezu „um ihn nur zu sehen“. Graf Udo war für einige Zeit auf die Güter seines Onkels gereist.

Ottomar schlich sich leise aus dem Serapionsbunde, der heute unter dem Hochdruck des von Triesel erwarteten Bildes stand, „die staubumhüllte Parade“. Auf dem Hausgange carambolirte er mit seinem Collegen Dieterici. Dieser war, wie immer, in gewähltester Kleidung, in hellen Handschuhen und selbst in Lackstiefeln, da das Wetter trocken. Sein blondes Schnurrbärtchen war an den Enden kosmetisirt und spitzgedreht.

Sie schießen ja wie der Marder vom Taubenschlag! sagte Dieterici in einem ihm sonst nicht eignen angeheiterten Tone.

211 Dagegen erstaune ich, entgegnete Ottomar, Sie an einem Orte zu finden, den Sie „principiell“ nicht zu besuchen pflegen.

„Principiell“ war eines der Lieblingsworte Dietericis.

Dabei lächelte er etwas selig und schwieg bedeutungsvoll.

Haben Sie, setzte Ottomar schärfer prüfend hinzu, indem Beide denselben Weg einschlugen, zum Suchen des Urproblems sich ein wenig anfeuchten müssen? Ja so, unterbrach er seine Frage, die auf einen stehenden Spott über Dieterici gerichtet war, wir sind ja heute Abend Alle zum Ball bei Wolny! Was werden Ihnen die Damen zusetzen mit der Unsterblichkeit!

Dieterici lächelte zum zweiten Male. Er war in der That in seiner Art ein Philosoph. Der hagere hectisch gebaute junge Mann mit einem nicht unschönen Kopf, nur zu dünnem blondem, sogar gelockten Haupthaar, mit tief wasserblauen Augen, mit viel Sommersprossen, doch immer in der saubersten Toilette, kein Raucher, vielmehr ein strenger Beobachter seines Ozonverbrauches, seiner Pulsschläge, seines Herzklopfens, der Tragweite seines Athems, wenn er Prüfungen am Fenster damit anstellte, es behauchte oder den Blüthenkopf eines Löwenzahns abblasen wollte beim Spazierengehen mit den Blaumeißels und mit Plümicke 212 in Stunden der Herablassung, kurz ein Hypochonder schon in jungen Jahren hatte sich eine Menge Maximen und Urtheile angeeignet, nach denen er leben zu wollen vorgab. Dazu gehörte auch trotzdem, daß er Jurist und demzufolge recht eigentlich auf Streitlust angewiesen war, die Maxime, sich bei keiner überflüssigen Widerlegung lange aufzuhalten. Sein College Jean Vogler konnte im hohen Grade grob gegen ihn werden, ihm beim Vertheilen der Luzius’schen Geschäfte und dem ruhigen Ablehnen dieses oder jenes Fascikels von Seiten Dietericis zornig sagen: Ich weiß, Sie haben sich schon auf der Universität nicht mit dem Touchirtwerden aufgehalten! Auch für eine solche nicht unverfängliche Bemerkung strengte Dieterici seine Lunge nicht an, sondern reservirte das, was ihm von seinem Studium und seinem Beruf an Lunge übrig blieb, einer Neigung theils zum Singen am Piano, dem er sogar viel Zeit widmete, theils dem Recitiren seiner eignen Gedichte. Dem Jean Vogler sagte er wohl: Wir könnten uns viel mehr Ausdehnung des Lebens erobern, lieber College, wenn wir uns nicht zu lange mit den Dummheiten der Menschen, ihren Urtheilen über uns und dergleichen Rückfall in’s ursprüngliche Affenthum aufhielten! In den Zwischenpausen der Gerichtsverhandlungen, Morgens beim Frühstück, wo Andre Zeitungen in Cafés lesen, Abends sogar in den 213 Foyers der Theater, die er gern besuchte, stärkte er sich durch irgend eine Lectüre zum Kampf gegen die Gedankenlosigkeit der Zeit. Er vermißte eben überall das Streben nach den Urproblemen der Menschheit. Dies Wort hatte er nur zweimal in Gegenwart Jean Voglers fallen lassen und der cynische, selten nüchterne College brachte es in alle Dicasterien und Notarstuben. Theodorich der Ostgothe war der Sucher des Urproblems. Manche, die ihn auf die Frage, die sie erstaunt an ihn richteten, mit einer gewissen großartigen Verachtung schweigen sahen, glaubten wirklich, daß sich der blonde Mann mit den Schnurrbartspitzen diese hohe philosophische Aufgabe gestellt hätte.

Sie werden heute Abend meinen neuen Frack bewundern! war auch jetzt seine ganze gelassene Antwort, als er neben Ottomar herschritt. Der Schneider wohnt hier nebenan. Das verlockte mich, etwas zu frühstücken. Der Kragen meines Fracks ist von Seide. Was sagen Sie dazu? Es ist die neuste Mode!

Von Seide? Da wird man ja glauben, der frühere Kragen sei abgenutzt gewesen. Sie hätten ihn doch lieber von Sammet nehmen sollen.

Frack mit Seidenkragen und Seidenrabatten! wiederholte Dieterici fest und bestimmt, ohne auf Einreden zu hören, ich sah’s im Modejournal! Imperialistische 214 Pariser Mode! Es sieht wie ein Hofkleid aus! Haben Sie schon Ihre Tänze in Ordnung? unterbrach er seinen Beweis guter Laune.

Da verlasse ich mich auf Zerline und Sascha! entgegnete Ottomar. Die haben immer soviel Freundinnen unterzubringen, daß ich beim Eintreten in den Saal meine Tabletten voll habe, ich weiß nicht wie.

Würde sich nicht der Gedanke empfehlen, meinte Dieterici, eine Tafel am Eingang des Tanzsaals mit allen Damennamen aufzuhängen und jede auszustreichen, die besetzt ist?

Oder wie an der Börse ausschreien zu lassen! meinte Ottomar.

Apropos, fiel Dieterici ein, wie kommt es, daß Ihr Fräulein Schwester niemals auf Bällen erscheint –? Und indem der etwas weingeröthete College einen seiner lyrischen Blicke in die Höhe warf, gab er zu: Sie ist doch so wunderbar anziehend!

Mein Vater liebt den Tanz überhaupt nicht und meine Schwester hat ebenfalls keine Neigung dafür –!

Das ist sehr unrecht! Principiell unrecht! Der Tanz ist die Turnkunst wider Willen! Man kann sie gar nicht oft genug üben! Die eleganteste Zimmergymnastik! Das Unbewußte auch im Leiblichen, wie ich z. B. heute früh eine Stahlfeder mit der rechten Hand erneuern will und sie mit 215 aller Anstrengung nicht herausbringen kann. Ich hielt die rechte Hand für meine stärkere, die linke ungeübte für die schwächere. Endlich nehme ich die linke Hand. Siehe da! die Feder geht im Nu heraus. Nur mein Wille hatte die rechte Hand bisher für stark gehalten. Es zeigte sich aber der Irrthum. Unbewußt war die Linke stärker – Solche Erfahrungen gehören zu unsern Urproblemen!

Oder die Stahlfeder war schon durch die rechte Hand wackliger geworden! sagte Ottomar und wandte sich mit einem kurzen Guten Morgen!

Er schwenkte rasch in eine Seitenstraße. Hatte er doch an Dieterici das den Maikäfern eigenthümliche Heben der Flügel zum Auffliegenwollen bemerkt, wo dann der College kein Ende wußte in seinen Erinnerungen aus Schopenhauer und Hartmann. Auch die Nennung seiner Schwester war ihm peinlich. Sowohl der Sucher des Urproblems wie Jean Vogler geberdeten sich, zu ihren besonderen Verehrern zu gehören. Das Wort Liebe war allerdings nach Dieterici eine Ueberschwenglichkeit im Ausdruck und aus seinem philosophischen Wörterbuche gestrichen. Bei alledem bedurfte er ekstatischer Ausdrücke für seine Empfindungen in der Lyrik. In einem Bande Gedichte hatte er einige zwanzig weibliche Wesen nacheinander begeisternd auf sich wirken lassen. In dem einen 216 Gedichte starb er, in dem andern lebte er wieder auf, ganz wie bei seinem Vorbild Heinrich Heine.

Die Versöhnung Ottomars mit dem Vater machte sich plötzlich überraschend leicht. Mitten auf der Straße, im größten Lärm rannten Beide gegeneinander. Und so ist die Gewohnheit im Menschen mächtig oder die Liebe ist es, daß eine Störung derselben gar nicht in die Willenssphäre tritt. Oder wäre wohl unter freiem Himmel, an einem dritten Orte, wo Gleichgültigkeit gegen Gleichgültigkeit die nichtssagenden Blicke austauscht, ein mit seinem Sohne schmollender Vater, ein mit seinem Vater schmollender Sohn aneinandergestreift und Beide wären gleichgültig aneinander vorübergegangen und hätten sich nicht versöhnt, selbst auf jenem von dem Alten verdammten krankmachenden so wenig Fuß breiten Trottoir! Das ursprüngliche Gehörenzueinander giebt sich plötzlich kund wie zwei aufeinander zuschießende Magnete. Es war von keiner Verstimmung mehr die Rede. Der Vater war eben auf der Akademie gewesen. Er schien die gestrige Aufwallung kaum noch im Gedächtniß zu haben, ja er theilte mit, daß am Abend Martha Ehlerdt von Wolnys gekommen sei, bei ihnen gemüthlich geblieben und recht viel Erfreuliches erzählt hätte. Der Bruder hätte den artigsten Reuebrief an Wolny geschrieben, hätte den „Socialnivellirer“ in andere Hände gegeben und wäre 217 auf die Gefahr hin, mit seinem Verein in gänzlichen Bruch zu gerathen, wieder in die Fabrik eingetreten! Ein Theil der Streiker, die ihm zu überreden gelungen sei, wäre mit ihm gekommen! Nur der durchtriebene Mahlo und einige zu sehr in die Sustentationskasse verliebte arbeitsscheue Subjecte wären noch fern geblieben. Die überraschende Aussöhnung ihres Bruders mit Wolny sei so gründlich erfolgt, daß Fräulein Martha sogar mit einer kleinen stolzen Pikirtheit wegen Helenens Ablehnung des zudringlichen jungen Mannes hervorgehoben hätte, ihr Bruder sei sogar zum heutigen Balle eingeladen.

Nun, sagte Ottomar, ich mag ihn darum doch nicht als Schwager.

Der Vater lachte. Seine vom weißen Bart umflutheten Gesichtsformen drückten neben dem Lachen Besorgniß aus. Er zuckte die Achseln. Es war der Vater, der eine Tochter hat! Kann es Vätern nicht zuweilen Thränen in die Augen drücken, sich ein Kind wie auf einem Kahne auf wildbewegtem Wasser dahingleiten und noch in der Ferne mit dem Tuche Abschied winken zu sehen, und – wie selten ist der Räuber da –!

Inzwischen hatte der Trottoir-Strudel den Vater fortgerissen. Es war, als wenn Nichts zwischen ihnen gelegen hätte. Laß Dich bald sehen! klang es noch in des Sohnes Ohr.

218 Die peinlichste Sorge, die Ottomar auf dem Herzen lag, galt dem heutigen Abend. Ada wollte erscheinen! Die Generalin hatte zwar Umstände gemacht; man würde auf Krethi und Plethi stoßen! Ada aber verlangte die Zusage, die natürlich Graf Udo, wenn er zugegen gewesen wäre, der Trauer wegen für sich nicht hätte geben können. Die Trauer bindet ja auch Dich! hatte die Generalin rücksichtslos in Gegenwart des jungen, alle Augenblicke von ihr zu einer Recherche entbotenen Vereinssecretärs gesagt. Aber die kecke Antwort lautete: Nach oben, aber nicht nach unten! Ottomar verstand diese Erklärung, die Ada selbst hinterher ihm heimlich in’s Ohr als „unsinnig“ bekannte, vollkommen und erklärte sie für eine Beleidigung seines Freundes Wolny; er würde nicht mit ihr tanzen, sagte er, zur Strafe für diese Aeußerung. Tanzen werde ich überhaupt nicht! hatte dann wieder Ada gesagt, geärgert durch seinen „Demokratendünkel“. Darin hat die Mutter Recht! trotzte Ada. Ottomar hörte im Geist seinen Vater poltern. Da hast Du das aristokratische Volk! Diese Bettelbagage, die den Staat ausnagt! Auch Ottomar mußte sich sagen: Sie will eigentlich nur mit der Lorgnette von einer Estrade aus zusehen, wie sich dergleichen beim Bürgerpack ausnimmt! Auf die Generalin paßte das vollkommen. Längst hatte der junge Vereinssecretär Vornehmthuerei und wahre 219 Vornehmheit zu unterscheiden gelernt. Die alte Gräfin Wittwe war in der That vornehm, ihr Neffe nicht minder, eines oder das andere Mitglied des Frauenvorstandes verrieth den Geist der Bildung, der Herzensgüte, einen Geist, der trotz des Bewußtseins einer hervorragenden gesellschaftlichen Stellung doch natürlich blieb. Aber die Vornehmthuerei der Generalin! Diese Frau stammte von einem ärmlichen, überzahlreichen, wenn auch mit Lorbern geschmückten Fahnenadelgeschlecht. Sie war mit den Ideen spanischer Adligen, die sich ihre Lumpen selbst flicken müssen, auf die Welt gekommen. Mit Anmaßung ihr ständiges Deficit verdecken, das war die Kunst, die die Frau früh erlernen mußte. Noch eine andere Vornehmthuerei lernte Ottomar kennen, die der gesellschaftlichen Streber. Das war geradezu ein Schandfleck der Zeit. In diesen Kreisen buhlte Alles nach oben hin. Jede Bekanntschaft, die man machte, wurde nach ihrem äußern Werthe erwogen. Ist es eine Staffel für die Mehrung Deiner Würde? Im Gespräche mit einem Hochgestellten verlor man die Besinnung, wenn man einen noch Höhergestellten erblickte, dem man sich nähern zu können hoffen durfte.

Mit Ada stand Ottomar auf dem seltsamsten Fuße. Das braune, schwarze, gazellenartige Wesen liebte ihn in der That. Sie liebte ihn trotzdem, daß sie in der 220 nächsten Zeit die Gräfin Treuenfels werden sollte und auch sein wollte und – werden mußte. Ihr Denken war darin ganz frivol. Und Ottomar schauderte, daß er sah, wie sein Freund Graf Udo eine ebensolche Auffassung hatte. Dieser liebte offenbar seine goldgelockte Schwester. Der Bruder sah Helenen in ihrer Einsamkeit leiden. Helenens Phantasie war vom Bilde des Grafen, von seinen geistvollen Tändeleien, seinen Rückblicken auf die großartigen Natureindrücke, die er empfangen, von kleinen erlaubten Aufmerksamkeiten mit Bildern, Photographieen und dergleichen eingenommen. Sollte er den Freund nicht ernstlich über die Gefahren für Leib und Seele seiner geliebten Schwester zur Rede stellen? Aber da hörte er dann diesen von Adas Neigung zu ihm sprechen, vom Drängen der Generalin, vom Drängen des mit Schulden belasteten aus der Armee gestoßenen Bruders. Alles, was Forbeck hieße, wartete mit Verzweiflung auf den Tag der Vermählung. Graf Udo hatte so viel Schulden für diese Familie zu bezahlen, daß sich schon dadurch allein sein Gemüth gegen Ada verdüsterte und verschloß. Sogar vor dem Freunde fing er kurz vor seiner Reise an geheim zu thun. Ottomars erneuerter Besuch bei der Marloff stellte ihre Lebensgeschichte nur noch fester. Seitdem waren ihm die Fäden der Verhandlung entglitten.

221 Ottomar hatte das Princip, Frauenreiz nicht früher auf sich wirken zu lassen, bis er im Stande war, eine Familie zu erhalten. Aber er hatte nicht vermocht, sich durch Adas Schroffheiten, durch ihre jeweilige gänzliche Vernachlässigung eines angenehmen Eindrucks, den sie hätte hervorbringen sollen, durch ihre bittern Ausdrücke und wechselnden Launen bestimmen zu lassen, sich mit ihr zu beschäftigen. Und das war doch gefährlich! Ihr Bild begleitete ihn wie sein Schatten. Alles erinnerte ihn an Ada! Was bei Sascha und Zerline nur als gewöhnlich herauskam, dieser Humor des plötzlichen Greifens beim Arm, diese gemachten Zorngeberden, diese Redeweisen im Infinitiv oder mit gewissen aus den Theatern hergeholten Schlagwörtern, wie „Ist nicht“ oder „stimmt“ oder ähnlichen Annäherungen „an die Sphäre der Droschkenkutscher –“ wie einmal Ottomar empört herausfuhr, als ihm die Nachahmung der „Grille“ oder des Spiels des ehemaligen Fräuleins Goßmann und ihrer Nachäfferinnen denn doch zu viel wurde. Das war Alles bei Ada ebenfalls vorhanden. Aber es kam anders heraus. Elfenartig im Geiste eines Puck, der die Welt mit Blüthenstengeln neckt! Von ihrem Bruder wurde sie zuweilen ein Affe genannt. Und der Affe war da, in seinen Sprüngen, seinen Drolerien. Wie Schopenhauer vor einem Affenhause sitzen und mit einer am Weltzweck ver-222zweifelnden Andacht den im Affen verschlossenen Intellect, die gebundene Menschenseele heraussuchen wollte, so sah auch Ottomar, und zuweilen mit wahrer Wehmuth, in der lieblichen Ada das Kind einer verwahrlosten, aristokratisch sein wollenden Erziehung. Schon lange hatte sie für ihn Momente, wo unter den Schlacken ihres Wesens wahre Goldkörner aufblitzten. Oft, wenn sie mit ihrer tiefliegenden sonoren Stimme ein schönes Wort gesprochen hatte, eine edle Empfindung geäußert, ihrer Mutter den Widerpart gehalten, dann jedoch selbst dem offenbaren Unverstande nachgegeben, um nur nicht die Mutter zu überreizen und bei dieser gar zu Unschönes hervorzurufen, rührte ihn das verborgene Gemüth. Wenn sie den abwesenden Bruder vertheidigte, den anwesenden einen dummen Bengel, Bummler, Strick und ähnlich nannte, unbeschadet der Gegenwart des Grafen oder seines Freundes, so fragte er sich: Welches mag die ursprüngliche moralische Triebkraft in diesem seltsamen Wesen sein? Nahe lag ihm, an die Gerechtigkeitsliebe zu denken. Vielleicht war diese edle, aber so gefahrvolle Tugend Adas Ureigenstes. Die Göttin Themis, mit welcher Ottomar nur in einer Vernunftehe lebte, sah ihn auch bei Ada mit verbundenen Augen an. Die Wagschaale vorstreckend, auf ihr Schwert gestützt, zeigte Themis Attribute, die ihn noch immer nicht in die 223 rechte Juristentagbegeisterung hatten bringen können. Und „verbundene Augen“! Der Vergleich traf doch nicht ganz zu! Adas verschmitzte dunkle Augen waren im Gegentheil das Unverbundenste an ihr, immer schienen sie sagen zu wollen: Das war wohl schon wieder nicht recht? Schon wieder werfen Sie mich in die Rumpelkammer? Sie wollen mich wohl etwas lehren, was ich nicht kenne? Ich kenne z. B. das Weinen nicht! Die Thränen des Zornes nahm sie aus. Manchmal sagte sie, sie wolle gut werden.

Der Tag verging mit Ottomars gewohnten Geschäften. Nicht, daß nicht dabei seine Gedanken zuweilen stockten und sein Blick unwillkürlich in die Ferne gerichtet war. Bald sah er seine geliebte Schwester Helene über Dächer und Baumwipfel hinweg einen Blick wie in’s Unendliche werfen, hörte die Mutter doch noch über des Vaters wunderliches „Ich weiß, was ich weiß“ seufzen, sah Ada mit einer Schneiderin über ein kostbares Costüm für den Abend im Kampf, den Grafen Udo – ein Zerrbild der Phantasie zeigte ihm den Freund – nicht auf Reisen, sondern in den Armen Aspasias. Er mußte freundlichere Vorstellungen heraufbeschwören und da dachte er mit Rührung an Martha Ehlerdt, die durch die gelobte Besserung ihres Bruders so beglückt worden war.

Um acht Uhr fuhr er den weiten Weg, den er bis zu den Rabe’schen Fabrikgebäuden zu machen hatte, in 224 einfacher Toilette. Er war anziehend durch seine wohlgebaute Gestalt, durch sein offenes klares Auge, edle ruhige Züge, durch die Abwesenheit jeder Apathie und Blasirtheit. Mit seinem Eintreten in die überfüllten, von glänzenden Lichtwirkungen widerstrahlenden Räume kam in die überaus zahlreiche und wenigstens äußerlich glänzende Gesellschaft gleichsam ein Impuls zu einer Bewegung. Seine Tänze waren schon vorher vergeben. Er machte sie nicht alle durch. Denn Ada selbst wollte ja nicht tanzen, nur mit ihm plaudern.

Fast das ganze Haus, im obern und untern Stockwerk, war zu den Festräumlichkeiten hinzugezogen.

Dietericis Frack war schon im vollen Zuge, bewundert zu werden. Jean Vogler, sein College, der junge Epikuräer, ging wie sein Prophet durch die sich vom Tanz zuweilen ausruhenden Reihen und fragte Jedermann mit einer Art erhabener Andacht: Haben Sie schon Theodorichs Pariser Frack gesehen? Vogler that, als handelte es sich um das achte Wunder der Welt. Komisch war, daß Dieterici diese Bewunderung halb und halb als ächt einkassirte.

Auch der Assessor Rabe und Max von Forbeck waren erschienen. Dem Staatsanwalt Stracks fiel auf, daß Beide oft die Köpfe mit Raimund Ehlerdt zusammensteckten, einem auf seiner Liste stehenden Observanden. Aber 225 alle drei standen seit einiger Zeit auf diesem zweifelhaften Ehrenplatz. Die Kundschafter aus den Kellern hatten ihm berichtet, daß sich diese drei Herren bald da, bald dort, bald mit, bald ohne Damen, besondere Zimmer geben ließen, die sie verriegelten und dann Vielerlei mit gedämpfter Stimme sprachen, so daß selbst durch die Holzwände Nichts zu erlauschen war.

Rabe hatte sein Assessorat scheinbar freiwillig aufgegeben, seitdem auf dem Vormundschaftsgericht das Testament seines Vaters verschwunden war.

226 Zehntes Kapitel.#

Ei, Herr Mahlo, Herr Mahlo, guten Morgen! rief ein Arbeiter der Rabe’schen Fabrik, an dem Tage, wo der Ball stattfinden sollte, einen vorsichtig aus dem Herrschaftshause tretenden leidlich anständig gekleideten und mit stark gerötheter Nase behafteten Mann an. Wo kommen Sie denn schon so frühe her? Ich glaube, es hat kaum sieben geschlagen. Wollen Sie auch mit dem Doctor Frieden machen?

Der Sprecher war ein einfacher kohlengeschwärzter Heizer, der mit Ungeduld den Kaffee erwartete, den ihm seine Ehehälfte zu bringen hatte. Er wollte die Straße hinunterschauen, ob die gute Frau nicht endlich mit dem ersehnten Korbe erschien.

Dem bisher störrisch gebliebenen Mahlo schien die Begegnung und Begrüßung nicht angenehm zu sein. Habe nur etwas bestellt! sagte er. Frieden machen mit Euch? Klein beigeben wie Ehlerdt? Das sollte mir einfallen!

227 Damit war die Conversation abgebrochen, Mahlo schon über dem schwarzen Fabrikfußboden verschwunden. Hier und da hörte man Fensterläden aufklappen. Es schlug wirklich eben erst sieben. Wie Mahlo in das Herrschaftshaus hatte kommen können, das doch des Nachts von innen verschlossen wurde – der Schlüssel blieb freilich trotz aller Verbote in der Regel stecken – begriff der Heizer nicht, konnte aber darüber nicht weitere Nachforschungen anstellen, da ihn sein Amt sofort an seinen Posten zurückrief und ihm nur zunächst an seinem Kaffee gelegen war.

Mahlo lief mit eiligen Schritten. Er fror vor Kälte. Seine Kleidung war leicht, fast sommerlich. Die Straße war stark besetzt von Berufsgenossen, die auf Arbeit gingen. Er grinste höhnische Grüße und bekam sie durch laute Lache, Androhungen von Prügeln erwidert. Zuletzt führte ihm der nicht zu ändernde Weg auch den im Düffelrock bis an den Hals zugeknöpften düsterblickenden Raimund Ehlerdt entgegen.

Ehlerdt stutzte und blieb stehen wie zum Kampfe. Mahlo, der diese Bewegung vorausgesetzt hatte, ging stramm an ihm vorüber mit einem trockenen Guten Morgen! Hohn maß sich gegen Hohn.

Der Neubekehrte mußte wohl die Regung fühlen, still zu stehen, Mahlo nachzurufen und ihm zu sagen: 228 Hältst Du denn mein ganzes Betragen für aufrichtig gemeint? Glaubst Du denn wirklich, daß ich um die Ehre, eine im Grunde doch solide Natur genannt zu werden, hier des Morgens um sieben Uhr Winters auf Arbeit laufe und meine Feldherrnstelle im Arbeitercorps einer großen Stadt aufgegeben habe? Welche Tollheit –!

Das war die Sachlage. Er spielte nur Comödie!

Doch überwand er jene Regung. Seine Pulse schlugen mächtiger. Gedanken der Furcht beschlichen ihn vor diesem seinem ehemaligen Trabanten. Man hatte ihm den Tod, nächtlichen Ueberfall gedroht. Da kamen ihm Bilder edler Märtyrerschaft! Wenn er’s ernst nähme mit seiner Umkehr! Könnten sich nicht den sanften zärtlichen Worten seiner Schwester, die sie ihm jetzt wieder sprach, auch eben solche von den süßen Lippen ihrer Freundin Helene Althing verbinden? Vergebung und volle Beglückung versprechen? Es war eine kurze Regung, ein süßer Schauer. Sogleich ringelten sich wieder in seinem Herzen die Schlangen des Hasses, des Ehrgeizes, der Rache, der Mißachtung überlieferter Meinungen und Satzungen. Wolnys Besuch, die persönliche Kündigung, die persönliche Geringschätzung seiner Leistungen hatten ihn so aufgebracht, daß er sich der Versuchung zum Bösen, die ihm in Gestalt zweier Menschen nahte, nicht mehr erwehren konnte. Rabe kannte 229 Ehlerdts schwache Seiten. Hier und da war er ihm begegnet, hatte ihm auch über seine Zeitung geschmeichelt. Schon lange benutzte er ihn als Spion gegen Wolny. Glauben Sie doch das nicht, daß Der einst Ihre Schwester heirathet! hatte er ihm gesagt. Er wird sich, wenn Mama todt ist, in seiner neuen Sphäre durch eine reiche Erbin zu heben suchen! Dann morde ich ihn! hatte Raimund gerufen. Mit kaltem Blute schieß’ ich ihn nieder! Auf solche Ausbrüche trat in den italienischen und spanischen Kellern immer jenes erwähnte Flüstern ein.

Für heute hatten sich alle drei zu einem gewagten Vorhaben verständigt. Rabes Mutter mußte bald, wie der liebevolle Sohn sich zuweilen ausdrückte, „abfahren.“ Starb sie ohne Testament, so trat die Strenge seines Vaters gegen ihn in Kraft. Alles gehörte der Mutter und wenn sie wieder heirathete, was ihr Mann wohl voraussetzte, und wenn der neue Gatte die Fabrik fortführte, sogar nach ihrem Tode diesem. Der Assessor galt in Folge seiner vielfachen Verschwendung und der großen Summen, die er schon bezogen, für väterlich und mütterlich abgefunden. Da fehlte plötzlich das strenge, aber gerechte Testament auf dem Gericht. Eine andre beglaubigte Abschrift besaß Wolny. Wolny durch ein noch von der Mutter gemachtes Testament zu verderben, wurde Anfangs versucht. Unausgesetzt liefen anonyme Briefe bei 230 der Commerzienräthin ein, die ihren Mann der Untreue beschuldigten. Namentlich wurde das Verhältniß zu Martha Ehlerdt als ein erwiesenes, sogar von ihrer ältern Schwester, der Romanleserin, bestätigtes dargestellt. Manchmal kamen anonyme Briefe, wo Rabe hohe Schwüre that, er wüßte nicht, wer sie geschrieben. Wolny sollte dann selbst entscheiden und riß die Briefe an sich, um sie zu lesen, wenn er guter Laune wäre. Anonyme Briefe, sagte er, muß man nur liegen lassen! Die Handschrift verräth sich nach Jahren durch irgend einen Zufall! Die Mutter wollte etwas von Scheidung (aus Liebe, sagte sie mit elegischem Schmelz), nie aber etwas vom Testament wissen. Von ihrer früheren Schönheit, ihrer Eleganz, ihren vornehmen Verbindungen war sie zu sehr erfüllt, ja sie konnte zuweilen förmlich rasen gegen die Vorstellung vom Tode, die man ihr immerfort einzuprägen wagte. Sie wollte jung, schön, wenigstens an Abenden bei blendendem Gaslicht mit diesem Eindruck erscheinen. Sie mochte wohl dem allerdings jüngern Manne nicht mißtrauen, verwarf alle Verleumdungen, zog ihn auch an sich, küßte ihn, und seine Sanftmuth, seine offenbare Güte wirkten, sagte sie, heilend, belebend auf sie – da war dann von keinem Testament die Rede! Dann aber wieder dauerte sie doch der Sohn, es schmeichelte ihr dessen Gattin, eine gewandte herzlose 231 Verfolgerin ihres Vortheils, und die Intriguanten wußten es so einzurichten, daß sie die Verleumdungen in schlechten Stimmungen doch glaubte und Luzius und Zeugen rufen wollte, um den Ehemann auf ein Pflichttheil zu setzen, den Sohn zum alleinigen Erben zu machen. Aber das Alles stockte immer wieder an ihrer Todesfurcht.

Raimund Ehlerdt wurde in den Kellern ausersehen, Fluß in diese Stockung zu bringen. Noch murmelte damals Ehlerdt, die Stiege in der Palissadenstraße 13 niedersteigend, an Wolny denkend: Schurke! Ich habe durch meinen Verein die Kraft, wie mit dem Zudrücken eines einzigen Hahns im Gasometer Abends eine ganze Stadt in Finsterniß zu versetzen! Da traten Rabe und Max Forbeck zu ihm heran, zogen ihn mit sich und wiegelten ihn erst mit den vergeblichen Hoffnungen seiner Schwester auf. Wäre der Mann im Stande, rief Ehlerdt mit glühendem Antlitz und sein Glas beinahe auf den Tisch werfend, meine Schwester zu betrügen – ich wäre, rief er aufstehend und den Stuhl ergreifend –

St! St! fielen damals die Verführer ein.

Und wohl wissend, daß die denunciationsverpflichteten Kellner horchten, begann Rabe leise: Es verbreitet sich immer mehr, daß jeder französische und italienische, kurz jeder romanische Gerichtshof Mörder und Diebe frei-232spricht, wenn sie in Familienangelegenheiten ohne Raub handelten! Unsere Juristentage müssen es auch bei uns noch dahin bringen. Die Helden des jüngern Dumas werden, wenn sie ihre untreuen Frauen todtschießen, alle freigesprochen. Eigentlich ist das so auch bei den Germanen gewesen. Ueberhaupt – was man aus gerechtfertigter Leidenschaft thut, muß der Geschworene freisprechen –! Zuletzt rückte Rabe mit einem Vorschlage heraus – dem Raimund damals noch die Geistesgegenwart hatte, zu erwidern: Was geht die Sache mich an! Wenigstens müssen Sie bei dem, was Sie da wollen, mit zugegen sein! Darauf waren die Verführer nicht gefaßt. Forbeck namentlich steckte in zu vielen Unternehmungen, „Bauten“, „Grundstückerwerbungen“ – er war Aristokrat, Pferdewettrenner – doch nach einiger Zeit hatte ihn Rabe durch eine Summe Geldes bestimmt. Beide gaben dem Verlangen Raimunds nach, und nun hieß die Losung: Es steht ein Secretär in dem grünen Parterrezimmer neben dem Schlafzimmer der Mutter, wo Wolny zuweilen arbeitet, um in bedenklichen Krisen der Mutter näher zu sein! Seit lange ist er nicht dort gewesen! Aber es ist dort sein geheimes Archiv verwahrt! Ich sah den Secretär noch neulich offen stehen, sagte Rabe. Die Klappe des Secretärs, an dem er geschrieben, als der Mutter besonders schlecht gewesen, war nicht geschlossen. Da sah ich die blecherne Kapsel, 233 die seine geheimsten Sachen enthält, in der linken Schublade! In diesem Kasten liegt auch das Testament, das er mir einmal lachend zeigte, aber nicht vorgelesen hat! Auf dem Vormundschaftsgericht fehlt es – ich denke, die Mutter hat es aus Liebe zu mir, die zuweilen doch noch aus ihr hervorbricht, mit Bestechungen dahin gebracht, daß es gar nicht dort deponirt wurde. Aber es existirt bei Wolny! Finden wir dann noch Briefe, die seine Amouren entlarven, so ist die aufgebrochene Klappe belohnt! Für die Schlüssel sorgen Sie, Herr Ehlerdt! Aber vorläufig söhnen Sie sich scheinbar herzlich mit ihm aus!

Was Comödie war an diesem teuflischen Vorschlag, wurde ausgeführt. Martha war auf einen an Wolny gerichteten Reuebrief des Bruders selbst zu ihm gestürzt. Das gutmüthige Mädchen rief aus: Hat denn noch Friede in mein Herz einziehen sollen! Sie war dem Bruder mit alter Liebe um den Hals gefallen, hatte seine Kleidung gemustert, ihm fehlende Knöpfe angenäht, seinen Kalabreser mit einem noch im Schranke befindlichen Cylinder vertauscht, ihn civilisirt, wie sie es nannte, und so im Triumph erst zum alten Wehlisch, dann zur Fabrik geleitet. Wehlisch war Zweifler gewesen, er hatte gemeint: Er wird nur Geld brauchen und dann wieder heidi! Aber Raimunds Haltung blieb seinen Versprechungen 234 gemäß. Man ehrte ihn durch die Einladung zum Ball. Und für diesen Ball eben war das Werk der drei Verbundenen angesetzt. Gewiß würde sich, hatte man verabredet, wenn sie sich nicht zum Tanzen verpflichteten, ein günstiger Moment finden, wo man sich jener Gegend des Hauses, wo das selten benutzte Arbeitszimmer lag, still nähern, den Schrank öffnen und jener blechernen Kapsel bemächtigen könnte. Die Anklage konnte, behauptete Rabe, nur auf unerlaubte Selbsthülfe in Familienangelegenheiten lauten, und die Strafe milderte sich dadurch, daß sie sich auf drei Personen vertheilte; der Scandal sollte die Mutter beschämen und sie zum Abfassen eines Testamentes zwingen, worin der Sohn bedacht wurde. Rabe citirte Paragraph auf Paragraph aus den Gesetzen. Im Grunde machte er sich Nichts aus einer Gefängnißstrafe.

Alledem sann Raimund Ehlerdt, als er am Morgen des verhängnißvollen Tages weiterging, nach, als stünde es schon in voller Lebendigkeit vor ihm. Da Mahlos Erscheinen auf der Landstraße schon Mehreren aufgefallen war und der Heizer sogar von einem Frühbesuch im Hause des Principals berichtet hatte, so zog Ehlerdt voll Erstaunen Erkundigung ein, was Mahlo in solcher Frühe dort gewollt haben konnte. Aber die Nachricht kam Allen überraschend. Alles fiel aus den Wolken. Niemand 235 wußte etwas von einem derartigen Besuche und Wolny kam geradezu außer sich. Es ist ja, als hätte er die Nacht im Hause zugebracht! rief dieser. Man wird sich vor dem Menschen zu hüten haben! Eine genauere Durchsuchung aller Räumlichkeiten wünschte Tante Dora nicht, da bereits am Abend vorher für den Ball Alles so zugerichtet, alle Canapés, Sessel so gestellt waren, daß Nichts mehr daran gerückt werden durfte. Der Eßsaal, die alten Herren, die jungen Herren, der Tanzsaal, die Gesprächs-, die Rauch-, die Spielzimmer, das war von jeher wie eine richtig gezeichnete geographische Karte. Die gesammte Atzung der achtzig Personen, die man erwarten wollte, übergab man in solchen Fällen einem Unternehmer, der dergleichen in der Stadt überhaupt besorgte und später seine Rechnung schickte. Auch jene Männer mit den schwarzen Fracks und den weißen Baumwollhandschuhen fehlten nicht, die ehrlichkeitsbeflissenen Lohndiener. Charakteristisch für das Zeitalter des Luxus und des Genusses, daß alle Innungen und Gewerke in ihrer scharf hervorgehobenen Ausschließlichkeit aufgehört haben; nur die sogenannten „Tafeldecker“ behaupteten noch die Privilegien des Mittelalters. Sie machen eine streng auf die Moralität und die Preise haltende Innung aus.

Der Abend brach endlich an. Die Kerzen und die Gasflammen leuchteten. Frau Doctor Wolny, heute 236 immer nur wieder Frau Commerzienrath genannt, nahm ein Pulver nach dem andern, um sich aufrecht zu erhalten. Ihr Spiegel zeigte ihr, daß ja die große Begebenheit der Toilette, an welcher alle Mägde und vor Allen Martha, selbst Dora, Rollen zu übernehmen hatten, für den ersten Eintritt in die obern Salons gelungen war. Es war Alles an ihr so hinterasiatisch wie möglich. Den Shawl, den sie nur für die Treppe trug, konnte gelegentlich selbst die neue Kaiserin von Indien tragen. China, Japan, diese beiden so geschmackvollen Länder, haben ja in ihren Dschonken und Theegärten schwerlich je geahnt, daß sie für Europa noch einst so maßgebend werden würden! Bei den Straßentoiletten der Damen hat man jetzt immer Angst, die schönen Töchter Evas möchten vor Enge der Kleider umfallen.

Man muß die Commerzienräthin bewundern! So lautete das allgemeine Geflüster in den sich bildenden Gruppen. Man meinte nicht nur um der reichen Toilette willen, sondern auch um jene wunderbare Selbstbeherrschung der Frau, die dabei doch nur im Allgemeinen von den Gästen gewürdigt, nur von ihrem Gatten mit tiefem Schmerz verstanden werden konnte. Wolny, dem man über die Möglichkeit, daß eine, wie man mildernd umschrieb, kränkliche Frau sich noch so erheben konnte, sein Erstaunen ausdrückte, sagte: Der Mensch weiß oft selbst 237 nicht, woher er seine Kraft nimmt! Er nimmt sie von der Wahrheit, vom Irrthum, vom Wahn! Ja, von noch viel gewöhnlichern Gegenständen, vom Lichterglanz, vom Beginn einer Tanzmusik, von einem neuen Kleide, das er trägt!

Ein Wirth, der einen Ball giebt, hat nicht Zeit, seine angefangenen Sätze zu vollenden. Auch Wolnys zu einem Geistlichen gesprochenen Worte brachen ab, da eine Gruppe nach der andern zu begrüßen war. Die Commerzienräthin suchte sich neben ihm aufrecht zu erhalten, lächelte Jedem holdselig und meinte es in der That freundlich und wohlwollend im Gemüth gegen Jedermann. Sie hatte gefunden, daß Haß und Zorn die Menschen entstellten und das bis auf den Eindruck ihrer Gesichtszüge. Und wie oft hatten ihr die ständigen Freunde des Hauses, in frühern Zeiten sogar mehr Geistliche als jetzt, gesagt, daß sie die schönste Erscheinung einer Priesterin auf der Bühne, einer Iphigenie, einer Sappho gewesen sein würde! Sie hatte das auch heute noch nicht vergessen. Sie hatte geträumt, es sei Alles wie sonst. Die böse Dora, die ihren Bund mit Wolny nicht gewollt hatte, erweckte mehr ihren Unmuth als ihren Dank, wenn sie die Ermahnung flüsterte, sich zu schonen. Fräulein Dora war einfach gekleidet. Sie hätte sich viel lieber in den Mühlbach’schen Kaiser Joseph vertieft.

238 Die junge Welt hat auf Bällen eine Gleichgültigkeit für die alte, die vollkommen den Charakter des Jahrhunderts trägt. Den jungen Männern sieht man eine gewisse Abhängigkeit von der Pflicht an, sich, wenn nicht als Matadore zu zeigen, als kühne Tourenerfinder und sozusagen Grotesktänzer wie Jean Vogler oder als idealistische Pedanten, wie Dieterici, Tänzer, die im Cotillon um „eines Strohhalms Breite“ ihre „Ehre“ engagirt erklären und den Tanz für eine Aufgabe der höhern Gleichungen halten, doch, sage ich, von der Pflicht, sich ausschließlich den jungen Damen zu widmen. Der Besitzer des Phantasiefracks hatte besonders sein Augenmerk auf den regelrechten Gang des Programms gerichtet. Ja, selbst über die Naturkinder Sascha und Zerline aus der Bäckerstraße Beletage war eine gewisse feierliche Verklärung gekommen, die sie von ihren gewöhnlichen Quälereien der jungen Männer, die nicht von Liebe sprachen, ganz abstehen und den Tanz wie ein orphisches Geheimniß behandeln ließ. Sie wußten, daß graziösere Tänzerinnen da waren, Sylphiden, wahre Libellen, die sich mit Jean Vogler schwenkten, wie wenn sich Schmetterlinge über Rosen jagten.

Die Schwester eines „wahrscheinlich nur auf das Souper ungeduldigen“ Nichttänzers (so beurtheilten seine Bekannten eine gewisse an Max Forbeck sichtbare Unruhe) 239 hätte, als bevorstehende Gräfin Treuenfels, mit ihrer Mutter den Mittelpunkt des Abends bilden sollen. Aber in unsrer Zeit einen Mittelpunkt bilden! Die Generalin war außer sich über ihre Schwäche, dieser Einladung nachgegeben zu haben! Es war ja nur, um der unglücklichen Frau Rabe nicht wehe zu thun und Ada nicht zu Excentricitäten zu veranlassen. Die Mamsell da im Hause soll ja Herrn Wolnys Amour sein! sagte die Mutter herablassend schon auf der Treppe. Mich jammert die Arme, – das so mit schon halbtodtem Leibe mit ansehen zu müssen –! Sie sprach das ihrem geliebten Sohne nach, den sie überall auf Alles, was ihr Mesquines, Demokratisches, Incorrectes vorzukommen schien, aufmerksam machte. Leider fand die Frau in veilchenblauer Seide mit schwarzen Spitzen, die eine Brillantnadel zusammenhielt, wenig Ohren für ihre Bemerkungen. Nur die Frau des Assessors Rabe, eine lange, dürre, unheimliche Gestalt mit überwachten, falschen Nachtgespensteraugen blieb ihr immer zur Seite, weil ihr abwechselnd ein Commerzienrath Baron Cohn und Forbeck den Hof machten. Man hatte gemeiniglich die Ansicht, daß diese Frau, ehe sie den Assessor Rabe heirathete und noch später, als sie sogar schon zweimal unrichtig „Mutter“ gewesen, den Lehrer ihres Mannes, ihren Schwäher, liebte. Ja, wenn sie sich heftig mit ihrem Manne 240 gezankt hatte, was nicht eben selten vorkam, „liebte“ sie diesen Wolny auch noch jetzt, bewunderte ihn, stellte ihn als Muster hin und stockte dann nur vor plötzlichem Zorn bei dem Gedanken an Martha Ehlerdt und an die künftige Erbregulirung.

Ada von Forbeck war in reizender Balltoilette. Als Verlobte eines Trauernden hatte sie ihr Gewissen beruhigt, indem sie ganz weiß, das ja auch als Trauerfarbe gilt, zu ihrem Costüme gewählt hatte. Ueber dem weißseidenen Unterkleid lag ein dichter, mit Krystallen besäeter Stoff, der hier und da mit weißen Rosen in leichte Falten gerafft war. Ein Kranz weißer Moosrosen hob sich aus den dunkeln Locken des lang in den Rücken hinabwallenden vollen Haares, weiße Perlen schlangen sich um den graziösen Nacken. Undine! flüsterte man bei ihrem Eintritt. Draußen begann der Winter, in ihrem Antlitz war Alles Frühling.

Aber mein gnädiges Fräulein, warum tanzen Sie nicht? fragte Ottomar, der nur für Ada allein anwesend schien.

Ich tanze ja überhaupt wie ein Bär – sagte sie in ihrer Art und ganz wie im Vertrauen.

Sie sind es dem Grafen schuldig, hätten Sie sagen sollen! meinte der junge Mann, sich vor der Generalin verbeugend.

241 Haben Sie Ada schon tanzen sehen? fragte diese, bereits mit maßlosem, dem Beschauer Schwindel erregenden Eifer sich ihres Fächers zur Kühlung bedienend.

Hofbälle besuche ich nicht! sagte Ottomar. O warum verbeugte er sich und ging! Er hätte das: „Er ist gar zu lieb!“ noch hören können, wofür Ada einen blauen Fleck in den Arm gekniffen bekam von der Generalin. Impertinent ist er! sagte diese. Zum Glück ebenfalls für den Gemeinten unhörbar.

Ada war wie ein Lamm, das seinem Hirten folgt.

Man tanzt ja nur, weil man sich für alt erklärt, wenn man es nicht thut! fing Ada wieder an, als sie ihren Liebling wieder „gekapert“ hatte.

Oder für verlobt! antwortete dieser, über die auffallende Bevorzugung mit seinen Lackstiefeln aufstampfend.

Herr Jesus! Was sind Sie heute böse! sagte Ada. Aber Sie haben recht! wandte sie sich listig. Was die Sascha Luzius herüberschielt! Die Mutter sitzt dort, wie wenn sie Rauch in Erz gegossen hätte oder – was sage ich – Ihr Papa – nun verschlug Ada’n Nichts, die alte Dummheit, zu wiederholen: „ausgehauen“. Sie lachte und schüttete sich darüber.

Sascha hat schöne Augen! bemerkte Ottomar. Nur um in diese hineinzusehen, stehe ich hier!

Er sah dabei in Adas Augen.

242 So! setzte Ada die Neckerei fort und schmollte scheinbar. Wollen Sie wohl so gütig sein, ihr zu sagen, daß sie meiner Meinung nach eine Gans ist?

Ottomar mußte sein Lachen verbergen, verbeugte sich und sagte: Haben Sie sonst noch einige Schmerzen?

Bringen Sie mir Limonade! rief sie ihm nach.

Er war gegangen. Ich werde es einem Diener sagen! hatte er entgegnet und kehrte zum Tanz zurück.

Ada bekam einen zweiten blauen Fleck. Während die Generalin über das ganz laute Au! der Tochter, derer baldigen Gräfin, in ein Fächerwedeln gerieth, als wenn sie Seifenschaum schlagen wollte, blieb Ada bei ihrer Beatricenrolle und machte Ottomar zu ihrem Benedict. War es die Neigung für ihren Verlobten? War es die Neigung für Ottomar Althing allein? Manche der Mütter forschten schon. Aber Ada stand dabei niemals recht allein. An einer ständigen Cortège konnte es dem anregenden und wie man allgemein annahm, einem glänzenden Geschick entgegengehenden Mädchen auch hier nicht fehlen.

Im Laufe des Abends begegnete Wolny in den untern Gemächern Martha, die in zwei silbernen Körbchen Backwerk trug zum Anbieten beim Eis und einer Fülle kühlender Getränke, die herumgereicht wurden. Es war hier nicht finster, aber die Beleuchtung doch etwas 243 matter. Die Zimmer der Commerzienräthin sollten geschont werden. Marthas Toilette war einfach. Ein durchsichtiger weißer Stoff lag auf einem rothen Unterkleid. Einige Granaten leuchteten aus den dunkeln Haarwellen.

Wolny nahm der schönen Erscheinung die Körbe aus der Hand, setzte sie auf den ersten besten Tisch und sagte: Sie wissen ja, Fräulein, ich kann es nicht sehen, daß Sie hier bedienen! Für Ihre Stellung im Hause können daraus Mißverständnisse entstehen!

Frau Commerzienrath wünschte – wollte sich Martha entschuldigen, aber fast gereizt unterbrach sie Wolny: Warum kränken denn auch Sie mich mit diesem Titel meiner Frau? Fühlen Sie denn nicht, daß der Gebrauch desselben mir jedesmal einen Stich in’s Herz giebt? Was heißt denn dieser Titel? Nichts anders als: Du hast dich in eine vor dir bestandene Welt hineingeheirathet, in der du jetzt als Nebensache aufgehst!

O wie deuten Sie das! entgegnete Martha erschreckend, setzte aber hinzu: Es ist edel von Ihnen, daß Sie sich diesen Brauch nicht verbitten!

Manchmal, fuhr Wolny sich umsehend fort, möchte ich der Welt zurufen: Der wahre Zusammenhang, wie ich zu dieser Verbindung gekommen bin, steht im Buche des Lebens verzeichnet! Meine Papiere dort unten werdet 244 Ihr nie lesen! Habe ich Ihnen nicht in jener Nacht, als wir am Bett meiner Frau in meinem wenig benutzten Arbeitszimmer zusammen wachten, Alles ausführlich erzählt?

Es war die feierlichste Stunde meines Lebens! sprach Martha mit niederblickendem Auge. Ihre Haltung war zitternd bewegt. Sie konnte nicht anders, als dies Geständniß wie etwas Drückendes nothwendig von der Brust werfen.

Auch durch Wolnys Inneres ließ dies begeisterte Zugeständniß des heroinenhaften, wie von einem Seherblick gehobenen Mädchens einen Feuerstrom gleiten. Doch beherrschte er sich. Er sah eine Weile die durch eine geschmackvolle Toilette gehobene Gestalt in anderem Lichte, sah die nahe bevorstehende traurige Zukunft, fühlte auch den Augenblick, der durch das rauschende Gewühl des Balles, durch die Musik, die Tanzrhythmen gehoben wurde. Es ergriff ihn ein Wirbel der Bewußtlosigkeit, als hätte er – Martha sah das mit Schrecken an ihrem heute so bevorzugten Bruder – getrunken von dem schon lange vor dem Souper lediglich zur Abkühlung herumgereichten Champagner. Liebe war es, Liebe, sagte Wolny, die mich um diese Frau hatte werben lassen! Denn was verbietet denn einem jüngern Manne, auch die Gereiftere Ihres Geschlechts seiner Liebe für werth zu halten? Wer 245 berechnet denn überhaupt im Rausche eines Eindrucks das Alter der bewegenden Ursache? Die Erwägung alles dessen, wodurch etwa die Natur verletzt würde, überläßt ja ein Mann lediglich dem kälter prüfenden Weibe. Was zog mich zu Gabrielen? Ich war erstaunt, bei einer an sich nicht gebildeten Frau große Gefühle anzutreffen. Ich lernte diese kennen, als ich sie verurtheilt sah, in kleinen Verhältnissen zu leben. Das ist schrecklich, große Regungen haben, das Herz voll und mächtig wie mit Riesenentwürfen schlagen fühlen, und dann Alles klein, beengend, ja jämmerlich und erbärmlich um sich her zu finden. Mich rührte das Loos dieser Frau. Ihr Mann war ein roher, dann ein kindisch gewordener Titel- und Ordensjäger. Er hinterließ ein zerrüttetes Geschäft, eine übel berathene Wittwe, einen Sohn, der sich schon früh anschickte, dem Vater in Allem zu gleichen – ich fürchte ihn nicht! deutete der rücksichtslos wie mit dem ganzen Hause Sprechende auf den Hintergrund, wo ihn Martha auf die kommende und gehende Bewegung, das Treppauf Treppab aufmerksam machte. Ich habe Waffen gegen ihn! Diesen sollte ich erziehen. Ich versuchte es. Dann gab ich den Unverbesserlichen in ein Rauhes Haus, in ein Gymnasium der Strenge in Thüringen. Mit Anweisungen, die größte Energie gegen ihn in Anwendung zu bringen! Da entstand dann jener Roman, den ich 246 Sie nur bitten wollte, nicht mehr „Frau Commerzienrath“ zu nennen.

Martha stand wie auf glühenden Kohlen. Das geführte Gespräch konnte nicht ohne Beobachtung bleiben. So lange sie im Hause war, erst zum zweiten Male hatte Wolny so seine persönliche Lage berührt. Sie suchte nach Fassung und versuchte lächelnd einzufallen: Ei, der Roman erinnert mich an Fräulein Dora! Man wird mich schon lange vermißt haben!

Aber noch hielt sie Wolny aufgeregt zurück. Rabes Anwesenheit, Raimund Ehlerdt, die Vornehmthuerei der Generalin regten ihn auf. Unter den Gästen, die sich zerstreuten, so gut es ging, auch an den Spieltischen, wurde er nicht vermißt. Diese Dora, sagte er, haßt mich! Diese sah nicht nur durch mich ihre Herrschaft im Hause beeinträchtigt, sondern sie fühlte auch den Neid, daß sie ganz ohne Bewerber geblieben war, während ihre Schwester noch in ältern Jahren einen jüngern Mann fand. Ich hörte neuerdings, daß sie Ihnen übel begegnet? Auch meine Frau? Sprechen Sie offen! Ist etwas Wahres daran?

Seit meines Bruders Rückkehr ist Alles besser – Herr Wolny! entgegnete Martha. Ihre Gattin will mich sogar mit nach Italien nehmen –

247 Wie –? Nach –? Italien? rief Wolny und war erstarrt über die Heimlichkeit, die man gegen ihn beobachtete. Das höre ich ja zum ersten Male!

Es würde, sagte Frau Commerzienrath – o Himmel! unterbrach sich Martha – Frau Doctor nimmt es vielleicht übel – auch Fräulein Dora sagte, dieser Reise würden große Entschließungen vorangehen.

Große Entschließungen? fuhr Wolny, die Hand an die Stirn haltend, fort. Der Umsturz des Testamentes, das auf den Gerichten abhanden gekommen ist! Ich besitze das Duplicat. Soll ein neues gemacht werden? Mir entgeht vielleicht das Alles, da ich nur für die Vorbereitungen der Reise nach Italien sorgen würde. Denn ich würde doch die Leidende, die in Mentone, Nizza sterben wird, nicht allein reisen lassen. Aber Alles das sind ja träumerische Phantasieen, unterbrach er sich, in denen meine Frau zu leben liebt! Könnten Sie ihr nicht wenigstens diesen Wahnsinn der häufigen Veränderungen ihrer Toilette ausreden?

Herr Wolny! entgegnete Martha wieder, dem aufgeregten Manne sich entziehend.

Ich verkenne ja die den Frauen angeborene Neigung nicht, fuhr der Hausherr fort, sich den Reiz des gefälligen Eindrucks so lange zu bewahren, als nur irgend möglich ist. Selbst Tante Dora schmückt sich –

248 Fräulein Dora verkennen Sie! sagte Martha, um nur den Uebergang zur Ausübung ihrer Pflichten zu gewinnen. Sie sorgt für das Ganze, wenn auch in sich gekehrt. Sie kann Niemanden im Ernste hassen.

Wer Liebe besitzt, entgegnete Wolny aufbrausend, soll sie auch zeigen! Was nützt mir eine Empfindung, die nur Thränen über Maria Theresia oder einen todten Kanarienvogel hat! In eine fremde Menschenbrust muß man steigen können, in diese ohne die Collision der eigenen Interessen sich versetzen, da mitleben, da mitempfinden, das ist Liebe! Sollen Sie meine Frau nach Italien begleiten! unterbrach er sich, sich an die Stirn schlagend.

Die Beantwortung dieser Reden wurde durch eifriges Verlangen, den Hausherrn zu sprechen, unterbrochen. Der alte Wehlisch sucht Herrn Wolny! hieß es von Seiten der Dienerschaft, die ebenfalls in eine lebhaftere Bewegung gekommen war.

Wolny kehrte in die obern Räume zurück und hatte bald Gelegenheit, seine Gäste in aller Stille zu bitten, vor Nichts zu erschrecken, was etwa Störendes kommen würde, namentlich seiner Gattin keine Besorgniß zu verrathen. Der alte treue, nur zu schwache und energielose Verwalter hatte ihm angezeigt, daß die allgemeine Vermuthung, bei den noch an den Oefen thätigen 249 Arbeitern, darauf gerichtet sei, daß Mahlo aus Bosheit über Ehlerdts Umkehr und Einladung sogar zum Balle bei Wolny sich Nachts in’s Haus geschlichen und sogenannte Kanonenschläge, Selbstzündcr, irgendwo niedergelegt hätte. Man hätte einen dergleichen im Hofe gefunden.

Schon sagte ein Officier: Bei Selbstzündern kommt Alles auf die Quantität der Füllung und die Dichtigkeit der Einstampfung an! Es wird hoffentlich nur ein kleiner Spaß sein!

Ein Anderer äußerte: Die Damen schreien schon auf, wenn ein Champagnerkork springt!

Es ist auf eine Störung des Abends abgesehen – es scheint eine Arbeiterrache – ging es bald durcheinander, und die Tanzpause begünstigte die Verbreitung der Nachricht, wobei sich die ursprünglich angegebenen „Knallerbsen“ bald in Platzpatronen, in Zündraketen, in Brandkugeln verwandelten. Jean Vogler stürmte hinaus, um die Gefahr im Fabrikhofe näher in Augenschein zu nehmen. Um nicht feige zu erscheinen, eilte ihm Dieterici nach. Es war eine Bewegung in das ganze Haus gekommen. Nur die Spielenden und ein engerer entfernterer älterer Damenkreis blieben ohne die verhängnißvolle Nachricht. Ada saß dort mit Ottomar in der Nähe der Mutter und plauderte.

250 Der Augenblick ist günstig! flüsterte eine heisere Stimme, als die Musik wieder begonnen hatte und Beruhigung eingetreten war. Gehen wir an’s Werk!

Es war Rabe, der gesprochen, Forbeck kam eben von einem Blick, den auch er in den Hof geworfen hatte, zurück. Raimund Ehlerdt, in sorgfältigster Balltoilette, anfänglich Tänzer mit Leidenschaft, dann sich am Champagner erlabend, nun plötzlich nicht mehr festen Fußes, schloß sich jenen Beiden noch nicht an. Auch in den Hof ging er nicht. Er fürchtete sich vor Mah­lo’schen Spuren. Die Untersucher des beabsichtigten Frevels kamen zurück. Schlecht belohnt für ihren Wagemuth. Vog­ler und Dieterici hatten ihre Toiletten geopfert. Ada sagte zu Ottomar: Sehen Sie doch dort! Sind das nicht Ihre Freunde? Die müssen sich in der „Passage“ für Geld sehen lassen!

Der Anblick der über und über mit Kohlenruß Gezeichneten machte Alles lachen. Jean Vogler lachte mit. Er hatte seine Freude über seine in den Kohlenhöfen verdorbenen Glacéhandschuhe, über die schwarzen Streifen im Gesicht, über die ruinirte weiße Cravatte, während Dieterici geradezu sittliche Entrüstung aussprach. Was helfen zwei Laternen, sagte er, seinen grade am Seidenkragen gründlich verdorbenen Phantasiefrack reinigend und alle Damen durch seinen Kohlenstaub von sich 251 verscheuchend, wenn bei jeder Laterne eine Hundehütte steht? Ich habe einen angeborenen Instinct, Hunde zu vermeiden. Darüber gerathe ich, um die Heizer zu sprechen, in dunkle Gegenden, versinke in einige Gruben, die wohl auch hätten verdeckt sein können – kurz, fiel ihm der lustigere Jean Vogler in’s Wort, Theodorich der Ostgothe steuerte durch Nacht zum Licht; ich war schon bei den Oefen und konnte noch verhindern, daß der Ventilator seinen Luftstrom aussendete wie einen Elephantenrüssel und unsern Ostgothen bis unter die Westgothen blies!

In das fröhliche Lachen hinein, das selbst die nur immer diese ganze Welt durch die Lorgnette betrachtende Generalin anzog, brach ein allgemeiner Entsetzensschrei. Eine Detonation nach der andern, wie ein Kleingewehrfeuer, Schlag auf Schlag, erschütterte von unten her die Räume. Man stürzte aus den oberen Sälen. Alles glaubte sich retten zu müssen. So arg hatte man sich den angekündigten Spaß nicht gedacht. Der Heerd des höllischen Spuks war unten und hier, wie man bald erfuhr, das am Schlafzimmer der Commerzienräthin liegende, nur selten benutzte dunkle, nur für die Nachtwache bestimmte Arbeitszimmer Wolnys.

Aber welche Scene stand der versammelten und bestürzten Gesellschaft vor Augen, als fast Alles dorthin 252 geeilt war! Wie mußte die Commerzienräthin sich halten, um nicht in die Erde zu sinken! Wie lächelte der Staatsanwalt Stracks, der eben die Erhebungen über den verübten Frevel anstellen wollte! Wie war das einstimmige „Komisch“ der jungen Damen (auch Ada zollte ihrem Taufwasser Tribut und fand das „Tragische“ in seiner ersten Annäherung immer erst „komisch“) in „Tragikomisch“, wenn nicht gar in „Tragisch“ zu übersetzen!

In dem kleinen an sich behaglichen Raume mit einem Arbeits­­tisch, einem Schlafsopha, einem Secretär, sah man den letzteren geöffnet, die Klappe niedergelegt und in unmittelbarer Nähe Raimund Ehlerdt mit einem Schlüsselbunde, den Assessor Rabe mit einem Blechkasten in der Hand, Forbeck lächelnd mit mehreren zusammengerafften Scripturen. Die Spuren der von ihnen bei dem offenbaren Einbruch und Diebstahl durch einen Zufall zertretenen Knallpatronen lagen auf dem Fußboden. Noch erfüllte ein dichter blauer Pulverdunst den Raum. Aber eben so schnell, fast gleichzeitig mit dem, was Alle sahen und nicht zu deuten wagten, hörte man die markige Stimme Wolnys die räthselhaften Worte sprechen: Also das war das Bubenstück! Danke, danke, Herr Ehlerdt! Mahlo suchte sich so an Ihnen zu rächen!

Alles wandte sich erstaunt. Denn selbst dem beschränktesten Verstande hätte hier einleuchten müssen, daß 253 das Zertreten der Sprengstoffe nur durch Zufall mit einem Einbruch in den geöffneten Secretär zusammentraf.

Aber Wolny hielt die Berichtigung dieser Voraussetzung entschieden fest. Harry, wandte er sich jovial zu seinem Stiefsohn, Du bist ja so erschrocken, guter Junge! Ich danke Ihnen, sagte er hierauf verbindlich zu Forbeck, dem er die aus der Brust seines Fracks hervorstehenden Papiere abnahm. Sie haben mir eine Gefälligkeit erwiesen! Mußt’ ich in der Verwirrung mein Schlüsselbund verlegen. Danke, Herr Ehlerdt, daß Sie die kleine Commission ausführen halfen! Ich wollte an den Secretär, meine Herrschaften! wandte er sich den Umstehenden zu; aber ich suchte vergebens den Schlüssel. Da trat die Kunst in’s Mittel. Ja, geborner und gelernter Techniker bin ich nicht. Ich merke das oft. Für jetzt danke ich Ihnen – schloß er, den Bestürzten ihre Beute abnehmend und diese verschließend mit einem Schlüssel, den er bei Alledem rasch aus der Tasche zog. Vermeiden wir das gefährliche Terrain! Wer weiß, ob Mahlos Bubenstück uns nicht noch mehr Ueberraschungen bereitet. Kommen Sie! Es ist Zeit – zu Tisch! Zu Tisch! Meine Damen und Herren! Associiren Sie sich!

Forbeck war der Verwegenste. Er ergriff den Arm der ihm zunächst stehenden Assessorin Rabe, die nicht wußte, wie ihr geschah. Sie hatte durch den Pulver-254dampf hindurch sehr wohl eine blecherne Kapsel gesehen, von welcher ihr Mann schon oft in besonders boshaften Augenblicken sogar mit Beziehung auf sie selbst zu sprechen pflegte. In dem Ding da stecken gewiß auch Deine alten Geschichten! konnte er ihr wohl sagen. Diese traten auch jetzt vor ihre nicht sehr lebhafte Phantasie und ihre Liebesbriefe verwechselten sich bei ihr mit den Zettelchen, die im Eßsaal die Sitzplätze bezeichneten.

Bald waren unten nur noch wenige Personen anwesend. Unter diesen der Staatsanwalt, der nicht begreifen konnte, warum der Hausherr und die sofort in eine Ohnmacht gefallene Hausfrau keine weitere Untersuchung dieses Vorfalls wünschten, sogar nicht gegen Mahlo. Wir wollen nur nachsehen, rief Wolny, ob die Zimmer meiner Gattin von dem bösen Buben unverschont geblieben sind! Er hat sich des Nachts im Hause einschließen lassen. Das ist mir jetzt gewiß. Es war der Neid auf Raimund Ehlerdts Einladung zum Ball. Ich kenne das eigentliche Unkraut in dem Herzen aller dieser Leute. Neid ist es, der blasse Neid, der sich die schimmernden Namen der Volksansprüche giebt. Aber jetzt keine Untersuchung, als nur in den Zimmern meiner Frau, die leider nicht zur Gesellschaft zurückkehren zu wollen scheint! – Rabe, Ehlerdt und Herr von Forbeck haben nur 255 nach meiner Bitte gehandelt! Ich hatte den Schlüssel verlegt und erst später gefunden!

Die Commerzienräthin war sprachlos. Schwägerin Dora handelte energisch. Die Kranke wurde auf ihr Zimmer gebracht. Sah sie doch, als sie sich etwas erholte, daß ihr Sohn ausgeführt, womit er schon lange gedroht hatte. Sie sah die Papiere, die Blechkapsel, die vielleicht schon die Documente auch – des innigsten Verkehrs mit Martha Ehlerdt enthielten! Die anonymen Briefe, die ebenfalls darin liegen sollten mit dem einzigen Exemplar des Testamentes, verwandelten sich in giftige sich ringelnde Schlangen, die mit dem Stachel ihrer Zunge nach ihrem Herzen zielten. Man mußte sie in ihr Bett, nachdem auch dieses sorgfältig, wie der Fußteppich, untersucht worden war, mehr forttragen, als führen. Ihr nur halbes Mitmachen eines glänzend begonnenen Festabends war nichts Seltenes. Alle waren ihr stilles Sichzurückziehen gewohnt, sogar das jeweilige Fehlen des Hausherrn, wo dann Tante Dora die Honneurs machte.

Inzwischen war das Souper im vollen Zuge. Der Staatsanwalt sah sich bei Tisch den „unverfrorenen“ drei Männern gegenüber, von denen zwei mit bester Laune ihm aus dem grünen Römerglase, gefüllt mit köstlichem Niersteiner, zutranken, ohne indeß mit dem 256 Dritten anzustoßen. Aerger und Angst überwogen denn doch. Raimund Ehlerdts Betrunkenheit hatte Vieles verdorben.

Daß Wolny und Martha, die Schwester dieses blaß neben einer jungen Fabrikantentochter sitzenden technischen Dirigenten der Fabrik, noch nicht anwesend waren, wurde unter dem Rutschen der Stühle, dem Klappern der Teller, dem Durcheinander der jugendlichen Stimmen nicht beachtet. Die Generalin hatte allmälig stärkere Fühlung mit einigen der anwesenden Militärs gewonnen und legte keinen besondern Werth auf den ihr bestimmten Ehrencavalier, den Hausherrn selbst, der ihr vorkam, als nähme er nur eine geduldete Stellung im Hause ein. Ihr Sohn hatte ihr das so in die verächtlichste Sprache übersetzt. Von seiner Betheiligung an einer Secretärerbrechung war in der Tragweite ihres Gehörs keine Rede. Selbstprüfung fiel ihr niemals ein. Ewiges Vornehmthun macht zuletzt dumm. Doch war sie fromm. Jeden Sonntag besuchte sie solche Kirchen, wo Hoffnung war, von Personen des Hofes gesehen zu werden.

Wolny kam vom Bett seiner Frau. Fast feindlich gesinnt und wie ganz mit der von ihrem Sohn beabsichtigten Wirkung schickte sie ihn zu den Gästen. Es muß! Es muß! rief sie mit gefalteten Händen und deutete Entschlüsse an von höchster Bedeutung. Dora 257 wollte noch eine Weile bei der kaum noch athmenden Schwester bleiben. Der anwesende Arzt hatte Brausepulver verordnet und war schon wieder bei dem reichen Tisch. Zur Sprache war Nichts gekommen; denn hier war die Nähe des Todes. Alles schwieg und deutete auf die Lippen der Kranken, weil diese einige laute Worte gesprochen. Mit Schaudern und kaum seiner noch mächtig, kehrte Wolny, der so großmüthig die drei Verbrecher geschont hatte, auf die hellerleuchtete, jetzt stille Treppe zurück, die in’s obere Stockwerk führte. Die Bewirthung hatte das Leben und die Bewegung in einen andern Flügel des Hauses, wo die Küche näher war, verlegt.

Auf der halben Stiege stand unter einem hellen kunstvoll aus Bronze getriebenen Gasarm und unter Blattpflanzen Martha fast gespenstisch.

Sie streckte ihm die Arme wie zum Gebet entgegen und sprach mit unterdrückter Stimme und mit Thränen: Wo finde ich Worte, um meine Brust vor’m Zerspringenwollen zu retten!

Mäßigen Sie sich, sagte Wolny sich umdrehend. So ist Alles gut!

Ach, ich weiß nicht, fuhr Martha mit Thränen fort, soll ich der Verzweiflung nachgeben über die erlebte Schande oder dem Dank über Ihre Seelengröße, Ihre Güte ohne Beispiel –!

258 Ja, was ist denn? Was ist denn? fragte Wolny wie unbefangen und that erstaunt.

O verstellen Sie sich nicht! fuhr Martha die Stimme zu mäßigen fort. Hemmen Sie nicht die rasende Flucht der Gedanken, die mir durch die Seele schießen! Habe ich es doch mit lichten Augen gesehen, was Alle sahen, Alle begriffen, und was Sie, Sie, der empört hätte sein sollen, mit dem Mantel der Liebe bedeckten! Mein Bruder im Bunde mit Ihren Feinden! Seine Besserung nur Verstellung! Ich durchschaue Alles! Man suchte Mittel, um Sie zu verderben! Denn wenn man gar – ihre Stimme steigerte sich – nach Werthpapieren, nach Geld gesucht hätte –

Bewahre, bewahre, liebes Fräulein! Nein, nein! unterbrach Wolny. Unterdrücken Sie solche Vorstellungen! Ich bin allerdings empört, innerlich rase ich – aber – warum ich der Sache den Schein gegeben –

In demselben Augenblicke, wo Martha vor Wolnys schmelzendem Ton, den er in seine Worte gelegt hatte, in die Erde hätte sinken mögen, hörten sie von einer Person, die hinter ihnen wegschlich, die Treppe herauf höhnisch lachen. Das Hi! Hi! kam von der eben erst als großmüthig von Martha gepriesenen „Tante Dora“.

Nun, nennen Sie das gutmüthig? sagte Wolny, als die Lauscherin, die lautlos die Treppe heraufgekommen, verschwunden sein konnte.

259 Martha blieb die Antwort schuldig. Ich kann nicht zu Tisch gehen, sagte sie, kann nicht unter den fröhlichen Gästen sitzen, kann meinen Bruder und seine Verführer nicht sehen.

Gehen Sie zu meiner Frau und bringen Sie ihr diesen Schlüssel. Es ist der richtige zu jenem Schrank! Vielleicht unterhält es sie, selbst darin zu wühlen –

Martha fuhr zurück. Aber Wolny war rasch hinaufgegangen, und sie hatte den Schlüssel in der Hand. Zur Commerzienräthin mußte sie sich ohnehin verfügen. Das lag in ihrer Stellung. Aber sie wußte, wie sie oft angefahren wurde: Kommen Sie, um zu sehen, ob ich im Sterben liege? Und wenn sie dann sagte: Ich bleibe keine Stunde länger im Hause! so erhob sich die heftigste Eifersucht und verlangte, daß sie nirgend anderswo in der Welt athmete, als unter ihren Augen. Ich will Euch Beide sehen! Ich will Eure Blicke beobachten! Oder wollen Sie leugnen, daß Sie meinen Mann lieben –! Solche Scenen und Reden erwartete Martha auch jetzt. Ergeben, einem Schatten gleich, schwebte sie zum Schlafgemach ihrer Gebieterin, unentschlossen, ob sie den Schlüssel abgeben sollte oder nicht. Denn gewiß knüpfte sich daran alles das, was besser zu vermeiden war.

Sie erhielt von dem Stubenmädchen die Mittheilung, daß die Commerzienräthin keine Störung wünschte, der 260 Arzt völlige Ruhe befohlen hätte. Da wankte sie denn auf ihr Zimmer, ließ in der Ferne die Gesellschaft durcheinander schwirren, ja sogar auf ausdrücklichen Wunsch der Commerzienräthin den Tanz erneuern, und brachte die Nacht, die noch um zwei Uhr Morgens von Musik und Wagenrollen durchrauscht war, weinend auf ihrem Lager zu.

261 Elftes Kapitel.#

Ottomar war seltsamerweise von den Vorgängen des Abends nur obenhin berührt worden. Ada nahm ihn fast vollständig in Anspruch! Es war geradezu, als wollte sie in ihrem Styl sagen: Lieber Hans, ich bin ja nur wegen Deiner gekommen! Die Mutter saß am Whisttisch und war um so angeregter zum lauten Sprechen, als sie von ihrem Sohne das Verwunderliche nicht zu sehen bekommen hatte; nach dem Souper, als sie Max viel trinken sah, ließ sie den Wagen vorfahren und fuhr mit ihrer Tochter nach Hause. Ihr Sohn besaß die „Unverfrorenheit“, (Büchmann erkläre uns doch einmal das Wort!) bis an den lichten Morgen zu bleiben.

Adas Neckereien, Fragen, Antworten entbehrten jeder geregelten Form. Sie hatte wieder alle Tonarten, Dur und Moll durcheinander gemischt. Daß Ottomar tanzte, war nicht ganz zu vermeiden. Einige von ihm übersprungene Touren hatte sie mit der ihr eignen im 262 Grunde gemachten Heftigkeit gleich Anfangs bedungen. Denken Sie doch an die fürchterliche Langeweile, die auf einem Balle die Statisten zu überstehen haben! hatte sie auch heute gesagt, als sich der Schwarm von Verehrern verzogen hatte und Ottomar wieder mit der lieblichen Erscheinung allein in einem der kleinen Boudoirs sich befand, wo sich die Gaben Florens mit Marmorbildern und goldgerahmten Gemälden zu einem wahrhaft idealen Aufenthalt vereinigten. Man stiehlt ja dem lieben Herrgott die Zeit, die uns nach dem neuen Unglauben so spärlich zugemessen ist! Glauben Sie denn auch an ein Jenseits? Wenn Gott Nichts mehr gilt, giebt’s eine Revolution, wo Nichts mehr auf dem alten Flecke bleibt!

Wenn dann Ottomar, fast zu ihren Füßen auf niedrigem Rollsessel sitzend, ganz in dem Geist, der für sie so fesselnd war, nur erwiderte: Was? Sie geizen schon mit Ihrer Zeit? so sagte sie ganz offen heraus: Ja, Herr Althing, ich finde jeden Morgen ein graues Haar bei meiner Toilette! Dann sprach sie, während die Tüllwolke um ihren Hals sich hob, von Bergen voll Kummer, die auf ihrer Brust lägen. Ginge es nach der Mutter, sprach sie, so würde die sagen, wie sagt Schiller?

Aber zum Wetter, hatte Ottomar entgegnet, wie kann ich denn wissen, was Schiller sagen soll?

263 Sie müssen’s errathen!

Bleiben Sie einfach bei dem Bericht über Ihren Kummer! Ich verstehe Ihren Schmerz, daß Sie nicht mehr reiten sollen, auch ohne Schiller! Mir fällt kein Schiller’sches Citat über die Aerzte ein.

Meine Mutter ärgert sich über Alles; ich ärgre mich aber nur über einen Menschen in der Welt, nämlich über Sie! Warum soll ich nicht auch Schillern citiren? Das dürfen wohl nur Sascha und Zerline?

Beim Citiren von Klassikern muß man sich nicht helfen lassen! hatte Ottomar entgegnet.

Nun folgte keineswegs eine neue scharfe Replik, sondern (abweichend von Beatrice und Benedict) ein träumerisches Nachdenken über alles Vernommene. War das vorüber, wobei ein offenbares Talent zur Demuth die Hauptrolle spielte, so kam bei Ada ein wie aufgeseufztes, fast kindisches Na ja! heraus.

Heute kam nach obigem Gespräch ein ganz vom Zaune gebrochenes: Hören Sie ’mal, warum dichten Sie denn eigentlich nicht? Dieser Dieterici da thut so dick damit! Manche der Damen beißen auch wirklich an, wenn er Gedichte auf sie macht! Und doch ist der Mensch ein Schaf!

Ottomar fuhr scheinbar empört empor. Innerlich mußte er über die Wahrheit des Urtheils lachen. Man 264 kann ja eine Stunde lang in erlernten pathetischen lyrischen Phrasen sprechen und ist doch ein Schaf! Ich bitte Sie, sagte er, wie können Sie meine Freunde so beleidigen! Dieterici ist ein Mensch von Geist, nur etwas – umständlich.

Und so eitel! Ach so eitel!

Alle Versmacher sind eitel! Sie müssen es sein! Denn nur aus ihrem Ich schöpfen sie ihre Kraft!

Schade! Ich hätte gern, Sie machten auch ’mal ein Gedicht auf mich!

Schönes Compliment! Nach Ihrer Schaf-Theorie! Indessen es soll geschehen zu Ihrer Hochzeit!

Zum Vorlesen? Nein, das ist’s nicht! Für mich ganz allein! Ihre Privatgefühle! Ich möchte gern fürchterlich geschmeichelt bekommen. Udo kann gar nicht schmeicheln.

Weil er ehrlich ist!

Ist er das? sagte sie im elegischen Tone und schwieg dann. Die Pause, das gänzliche Vergessen des Fadens, auch das Herumblicken zu Andern, die sich ihr nähern wollten, Alles das war so lang gewesen, daß sich Ottomar zurückziehen wollte.

Nein, war sie aufgefahren, zieht Sie’s schon wieder zu den Andern? Sagen Sie ’mal, noch Eins, was wollen Sie eigentlich in der Welt künftig vorstellen? Sie fragte mit dem Fächer wedelnd.

265 Ein Mensch will ich sein und eine Anstellung suchen als Kreisrichter in Inowraslaw an der Grenze von Polen!

Damit hatte sich Ottomar für längere Zeit zurückgezogen. Dann aber hielt sie ihn wieder fest und sagte: In Inowraslaw giebt’s noch Wölfe! Da müssen Sie auf die Jagd gehen! Ich schieße sogar mit dem Zündnadelgewehr! Wir besuchten ’mal den alten Grafen Wilhelm auf seinem Gute Hochlinden! plauderte sie fort, ihn in jenes Boudoir zurückführend. Da war ein reizender Birkengrund und der Boden nichts als schwellendes Moos! Vergißmeinnicht unzählig darauf! Es war eine Pracht! Dann kam man an ein Brückchen, weiß war’s und auch von Birkenholz! Man sah noch die Stumpfen, wo die Stämme dazu abgehauen waren! Ueber einen kleinen Bach mit hohem Schilf kam man wieder in den Herrschaftsgarten – ach, es war reizend –! In Ihren polnischen Wäldern soll es auch nur Birkenwald, Erlen und Moos geben!

Wieder ein Moment träumerischer Abwesenheit. Sie lebte dem nach Inowraslaw versetzten Kreisrichter nach, diesmal so lange, daß sich Ottomar, gerührt durch Adas Bestreben, ihm angenehme Eindrücke zu machen, wieder leise zurückziehen konnte.

Nur erst bei Tisch verlor Ada ihre scheinbare Unbefangenheit. Sie hatte das ihr bestimmte Couvert mit 266 dem einer andern Dame vertauscht und wollte von Ottomar, neben dem sie saß, in Einem fort wissen, was der sonderbare Vorfall unten zu bedeuten gehabt hätte. Da ist etwas vorgefallen, sagte sie, was man wie ein brennendes Kleid mit dem ersten besten Gegenstand erstickt hat! Herr Wolny hat sich persönlich darüber geworfen!

Sie hören ja, entgegnete Ottomar, es kamen zwei Zufälle zur Durchkreuzung. Keiner ahnte etwas von dem andern.

Mahlo, so heißt der Mensch, streute die Platzpatronen – aber der Andre, der mit dem Schlüsselbunde – übrigens ein hübscher Mensch, ich habe ihn den ganzen Abend beobachtet –

Wer ist hübsch? fragte Ottomar und kämpfte die Eifersucht nieder.

Der Herr Ehlerdt da drüben! Der jetzt so blaß sitzt und so schrecklich viel trinkt! Wenn seine Schwester die Freundin der Ihrigen ist, werde ich doch den jungen Herrn interessant finden können!

Nun gar interessant! Aber ich opponire ja nicht! fuhr Ottomar fort, runzelte aber doch die Stirn, so daß Ada, auch ihres Bruders wegen, betroffen abbrach, ja nach langem Schweigen und Beobachten ihres Bruders und Horchen auf die ironischen Gespräche ringsum plötzlich mit zitternder Stimme zu Ottomar sagte: Geben 267 Sie mir unter’m Tisch kräftig die Hand, mir wird ohnmächtig! Still! Still! fügte sie sogleich hinzu, als sie Ottomar in Begriff sah, statt dessen aufzuspringen. Er hatte einen Blick auf Adas entfärbte Wangen geworfen. Sie zog ihn aber förmlich nieder, drückte ihm dabei so krampfhaft die Hand, als sollte sich ihr ganzes erlöschendes Lebensfeuer an dem seinigen wiederanzünden, und hauchte nur: Bleiben Sie sitzen! Ich finde mich schon!

Mit dem magnetischen Nachgefühl dieses Handdrucks, der mit einer Gewalt erfolgte, wie ihm noch kein Mann die Rechte gegeben, wurde das Mahl aufgehoben, die Gesellschaft schwebte oder schwankte zu Paaren in die leeren, kaltgewordenen Salons zurück. Noch sah Ottomar Adas Wagen abfahren. Er hatte nicht mehr von ihr Abschied genommen, auch von der Generalin nicht. Nur Wolny suchte er, um Aufklärung über alles Vor­gefallene zu erhalten. Dieser sagte rasch ablehnend: Morgen! Morgen! und wandte sich sogleich den Honneurs zu, die er zu machen hatte. Da ging denn auch er. Zu Fuß. Erst mit Vielen, allmälig wurden es wenigere. Der Pastor Siegfried war darunter. Ottomar mußte den Kopf schütteln in Erinnerung an die Generalin, die ihm auch heute wieder mit dem Fächer gedroht und gesagt hatte: Herr Althing, Sie sind Demokrat und was noch schlimmer ist, frivol! Alle Bildhauer sind frivol! Die Erörterungen, warum 268 sie’s sind, die lassen wir! Sie hatte dabei rasch ihren Fächer ausgebreitet, gleichsam als wenn sie selbst Modell zu stehen hätte, die lange dürre Frau! Haben Sie die Hofprediger um Rath gefragt? hatte Ottomar entgegnet. Die Sache war die: Er hatte im Frauenverein gelegentlich gesagt: Jesus war eine geborene vornehme Natur! Warum? Warum? hatte man von allen Seiten gerufen. Ottomar sagte: Weil er beim Mahle das Brod nicht schnitt, sondern brach. Unerzogene Menschen pflegen bei Tisch das Brod mit dem Messer zu tractiren! Diese Aeußerung fanden alle Damen höchst erwägenswerth. Alle waren ja entweder vornehm oder wollten es doch sein. Die Generalin hatte sich gleich in den königlichen Stamm, den Davidischen, verloren, aus welchem Jesus hervorgegangen. Jesus war ihr nun erst recht der König von Zion im Purpurmantel und mit dem funkelnden Ordensstern in Brillanten auf der Brust.

Zuletzt war nur noch der Staatsanwalt Stracks Ottomars Begleiter. Dieser ließ sich ganz gehen. Er stellte alle Einzelheiten des Vorgefallenen als verbrecherisch hin. Der Schrank stand offen! sagte er. Das Schlüsselbund des Ehlerdt gehörte schwerlich der Fabrik an! Die Blechkapsel enthielt wohl nicht Geld oder Werthpapiere, aber vielleicht Briefe, vielleicht das Duplicat des Testaments, das auf dem Rathhause fehlen soll!

269 Wo kein Kläger ist, kann auch keine Anklage stattfinden! fiel Ottomar sinnend ein.

Ein innerer Familienvorfall! Causa interna! Aber Zeugen wären genug vorhanden, wenn Wolny klagbar auftritt! Die Ueberwindung, die es ihn gekostet haben muß, so den Schaden und die Schande der Seinigen zuzudecken, war groß, hält aber vielleicht nicht an.

Ottomar war der ganze Vorfall dunkel. Aber er sagte, Wolnys Consequenz rühmend: Der Gedanke an seine leidende Gattin bestimmte ihn –! Im Stillen grübelte er allmälig anders.

Ein Kreuzweg trennte Beide. Die Luft an der Straßenecke, wo noch eine Gaslaterne brannte, ging scharf. Ein längeres Gespräch ließ sich nicht ermöglichen.

Ottomar war entschlossen, am folgenden Morgen zu Wolny zu gehen, um zu hören, was über diesen Vorfall wirklich des Freundes Meinung war. Vielleicht schonte er Raimund Ehlerdt um Marthas Willen – vielleicht sogar – der Gedanke fiel ihm wie ein Wetterschlag in’s Herz – Forbeck um Adas willen und – um Dich –?! Betrifft man Dich schon über dem Schein der Untreue an Deinem Freunde, dem Grafen?

Unter solchen mächtig sich auf einander wälzenden Combinationen war Ottomar in die Gegend gekommen, wo Edwina Marloff wohnte. Die schönsten Häuserreihen 270 wechselten hier mit Hütten und Bretterzäunen. Ist Edwina eine Tochter der Nacht? Das würde sich jetzt verrathen können, wenn ich noch an ihrem Fenster Licht sähe! dachte Ottomar. Daß Raimund Ehlerdt in demselben menschenüberfüllten Hause wohnte, war ihm nicht unbekannt.

Sein zweiter und dritter Besuch bei Edwina waren ganz unglücklich abgelaufen. Sie hatte ihn nur durch die Thürspalte, die von einer Kette gebildet wurde, empfangen und frivol lachend gesagt: Schicken Sie mir den Grafen oder das Geld!

An den Fenstern der Nummer 13 Palissadenstraße war Alles dunkel. Alles lag ringsum wie im tiefsten Schlafe. Der Wind pfiff. Ottomar zog den Ueberzieher fester über die leichte Ballkleidung und gedachte seines wenig geschützten Schuhwerks. Schon wollte er rasch in sein Viertel zu gelangen suchen, da bemerkte er Lichtschimmer durch die obere Glasblende der Hausthür. Er trat näher, hörte Geräusch und bald drehte sich der Hausschlüssel. Ein Mann in tiefer Vermummung durch einen Mantel wurde von einer alten Frau hinausgelassen. Hat sie ihre Bedienung gewechselt? Oder ist das die wahre Vertraute und alles Andere, die Josefa, nur Schein? waren Ottomars erste Gedanken. Schon war die Thür wieder zugeworfen und geschlossen. Der 271 aus dem Hause Gekommene schritt einer Gegend zu, die leider der seinigen entgegengesetzt war. Aber Ottomar folgte ihm, obschon der Vermummte schnell ging.

Wenn es Graf Udo wäre! dachte er. Wenn dieser nicht verreist wäre! Schon so gefesselt durch die bizarrblendende Erscheinung! Das waren seine ersten Gedanken. Sie schwanden erst allmälig.

Nicht zu lange brauchte er bei dieser, ihn wie ein Strahl aus einer Zauberlaterne Mephistos überfallenden Gedankenreihe zu verweilen. Denn er erkannte den nächtlichen Wanderer. Es war Niemand anders als Marloff, der Geometer. Empört über die Schlüsse, die sich aus einem solchen nächtlichen Besuche ziehen lassen mußten, hielt er sich an den Mann, dessen markante Gesichtszüge unverkennbar waren. An die Möglichkeit, daß Edwina, die Tochter des Grafen Wilhelm sei, hatte er immer nur zweifelnd geglaubt. Es verbanden sich zu entsetzliche Vorstellungen damit.

Guten Abend, Herr Marloff! rief er mit kräftiger, entschlossener Stimme. Waren Sie noch so spät bei Ihrer schönen Frau Gemahlin?

Der Angeredete blieb stehen, hob den Stock, den er in Händen trug, drohend in die Höhe und blickte den kühnen Sprecher mit aufgerissenen Augen in’s Angesicht, ohne ein Wort zu erwidern.

272 Haben Sie endlich Ihre Wünsche erfüllt bekommen? fuhr Ottomar, vom Weine, vom Mahle gehoben, fort. Der Graf ist verreist! Sie haben eine reizende Frau! Das muß ich sagen! Oder ist es wirklich nur Ihre Tochter! In beiden Fällen paßt sie nicht für Ihre kleine Hinterhofwohnung. Ja, wer Geld hätte und nicht auf die Mäuler der Leute zu sehen brauchte! Dreißig tausend Thaler sollten mir eine Kleinigkeit sein, wenn ich sie hätte! Aber der Graf scheint die Summe nun wirklich aufzutreiben – Sie glücklicher Gatte oder Familienvater!

Die Antwort auf diese Provocationen zum Reden, zum Sichvertheidigen war ein ruhiges Weitergehen und die im scharfen Ton gesprochenen Worte des Alten: Sie scheinen aus einer Gesellschaft zu kommen und sind betrunken!

Kennen Sie mich denn nicht mehr? Ich war ja bei Ihnen und bewunderte die Frugalität Ihres Mittagsessens und Ihre praktische braune Hausjacke!

Ich kenne Sie sehr wohl und bedaure, Sie nicht diesmal complett zur Thür hinauswerfen zu können.

Oho! fielen zwei Nachtwächter ein, die in der Nähe standen und, die Conversation vernehmend, diese für die Nachtruhe zu verfänglich fanden.

Kommen Sie in irgend ein noch offenstehendes Weinhaus! sagte Ottomar, jetzt bei alledem zutraulicher. 273 Sagen Sie mir da die volle Wahrheit über das pikanteste Geschöpf der Erde nächst einigen andern! Ich verspreche Ihnen, keinen Leitartikel für die Zeitungen daraus zu machen! Mich hat sie dreimal schnöde abgewiesen, obschon ich vom Grafen kam! Die Zahlung der 30,000 Thaler scheint aber im Gange! Wenn wir uns hier links wenden, kommen wir in Kurzem an den Ort, wo Montags die neuen Serapionsbrüder hausen. Machen wir Beide dagegen einen Bund, der sich bei Nacht versammelt! Was, alter polackischer Bär –!

Ottomar spürte, daß er in der That den Champagner seines Freundes Wolny und Adas petillante Unterhaltung sich hatte zu Kopf steigen lassen.

Von den neuen Serapionsbrüdern schien der nächtliche Wanderer, der immer rüstig vorwärts schritt, etwas gehört zu haben, vielleicht durch Mittheilung von Architekten, mit denen er zu thun hatte. Mit schon gemindertem herben Ausdruck in der Stimme und wie von dem gutmüthigen Humor seines Begleiters angezogen, sagte er: Ich trinke keinen Wein!

Sie scheinen ein großer Sparer! entgegnete Ottomar. Müssen ja auf die Art Schätze sammeln, da Sie in Ihrem Fach wahrscheinlich ausgezeichnet sind! Wer war eigentlich die Alte, wandte er sich ihm zutraulich zur Seite, die Sie vorhin aus dem Hause ließ?

274 Des Teufels Großmutter! antwortete der Geometer, der aber trotz seiner Grobheit doch in bessern Humor gekommen schien.

Bisher war ein junges Ding, eine Deutschpolin, Schwester der Frau eines Arbeiters bei meinem Vater, bei Ihrer Tochter oder Frau! Sie hatte kohlenschwarze Augen, ein Stumpfnäschen, Lippen geschwollen, wie eine schlecht geheilte Hiebwunde, kurz das böse Ding scheint mich an meinen Vater verrathen zu haben, der kein unberühmter Mann ist, ein Bildhauer! Daß ich Althing heiße, wissen Sie ja!

Diese unausgesetzt einschmeichelnde Plauderei schien denn doch angenehm auf den nun schon langsamer Schreitenden zu wirken. Man kam in Gegenden, die immer noch etwas belebt waren. Die Gaslaternen brannten noch überall.

Was ist das mit den Serapionsbrüdern? fragte der in seinen Mantel Vermummte und gab damit das erste Zeichen der Uebergabe einer Festung. Er steckte die Friedensfahne auf.

Ottomar erläuterte Alles. Er erwähnte auch die ihm bekannt gewordene Meinung des Sanitätsraths Eltester, daß die Montagsgenossen sich lieber Serapisbrüder nennen sollten nach dem Gotte Serapis, dem Gott der unterirdischen Sonne, der Sonne der Nacht! 275 O, sprach Ottomar mit einem gewissen Schwunge, lassen Sie diese Sonne leuchten! Gäste sind nicht mehr viel in den Zimmern! Man kann ein Wort plaudern, das Niemand hört! Der Graf fürchtet sich vor der Wahrheit, ich bin ja sein Freund, lassen Sie mich den Vermittler bleiben!

Der Geometer blieb stehen. Sein Mantel schlug auseinander. Der Geierblick des Auges, der durch eine Brille hindurchdrang, hatte sich gemildert. Er nahm die Brille ab und behauptete nun wegen der blendenden Laternen besser zu sehen. Man war nahe an dem bezeichneten Locale. Er richtete seine gefurchten magern Gesichtszüge, die etwas Mephistophelisches hatten, auf die Häuserreihe, vor der man stand, und murmelte: Die Sonne der Nacht, sagen Sie? Ja, ja, wenn uns die einst scheinen wird! Die Kehrseite aller Dinge! Dann ist das Meer abgelaufen! Auf seinem Grunde sieht man das Gewimmel, die begrabne Welt, Schiffstrümmer, Leichen, untergegangene Städte, Länder, die verschlungen wurden, gräuliches Gewürm!

Die Seeschlange! unterbrach Ottomar den plötzlich wunderbar aufthauenden Mann und setzte prosaisch heiter, um den Gewonnenen launig zu stimmen, hinzu: Fünf Häuser weiter kriegen wir sie!

Sie waren dann wirklich in die fast gänzlich leeren Zimmer des bekannten Weinlocals gerathen, wo bereits einige 276 Gasflammen ausgelöscht waren und die Kellner sich in einer Ecke hier und da einem wohlthuenden Schlummer ergeben hatten. Das Trommeln mit den leeren Flaschen mußte sie zum Bewußtsein bringen. Das von den Neuangekommenen Bestellte war bald herbeigeschafft. Sonderbarerweise verstand sich der Alte zu Ungarwein.

Sogleich stützte er das Haupt auf, griff in die grauen Haare, lüftete die Halsbinde und ergab sich trotz der Ironie seines Begleiters der Vorstellung von einem Weltganzen, das die Serapispriester mit Fackeln in der Hand bei Nacht feierten. Nacht, sagte er, ist das Wachsen der Pflanze! Nacht ist der Frühling, der da geht, Nacht der Winter, wie er kommt! Nacht ist der Geist, der seine Eindrücke empfängt! Unsichtbare, unterirdische Sonne! Ja, du hast auch in meinem Leben viel gesehen und beschienen! Wehe, was deckt nicht Alles das Grab!

Ottomar wartete, bis sich der gänzlich veränderte Mann, der die rauhe Außenseite abgeworfen hatte, erholt und von einem der dargebotenen Gläser ein wenig genippt hatte. Dann nahm der Alte trübblickend das Wort.

Ende des ersten Bandes.

Apparat#

Bearbeitung: Kurt Jauslin, Altdorf#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J1 Die neuen Serapionsbrüder. Roman in drei Bänden. In: Schlesische Presse. Breslau. Nr. 723, 15. Oktober 1876, bis Nr. 60, 25. Januar 1877 (Rasch 3.76.10.15N).
J2 Die neuen Serapionsbrüder. Roman in drei Bänden. In: Berliner Tageblatt. Nr. 245, 19. Oktober 1876 bis Nr. 306, 31. Dezember 1876 und Nr. 1, 1. Januar 1877 bis Nr. 10, 13. Januar 1877 (Rasch 3.76.10.19). Rasch registriert einen weiteren Zeitungsdruck „ungefähr zeitgleich“ in der „Dresdner Zeitung“, zu dem keine näheren Angaben vorliegen.
E1 Die neuen Serapionsbrüder. Roman in drei Bänden. Breslau: Schottlaender, 1877. (Rasch 2.48)
E2 Die neuen Serapionsbrüder. Roman in drei Bänden. Zweite Auflage. Breslau: Schottlaender, 1879. (Rasch 2.48a)

Der Textband (GWB I, 17) enthält im Anhang (S. 587-596) Gutzkows Vorwort zur zweiten Auflage. Dieses ist im gedruckten Kommentar (GWB I, Bd. 17, Supplement) auf S. 32-40 und hier im Internetkommentar unter 4.2.2 zu finden.

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E1. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Buch-Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Die Liste der Textänderungen nennt die vom Herausgeber im Vergleich mit der zweiten Auflage berichtigten Druckfehler. Fehlende oder überzählige Spatien wurden stillschweigend korrigiert.

Die Liste der Texteingriffe nennt die vom Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Werkes im Band: Die neuen Serapionsbrüder. Roman. Hg. von Kurt Jauslin. Münster: Oktober Verlag, 2002; zweite, verb. Aufl. 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I: Erzählerische Werke, Bd. 17.)

2.1.1. Texteingriffe#

58,25 des Meisters der Meisters

59,32 am wenigsten am wenigstens

66,33 den denn

71,34 Französisch Franzosisch

75,29 im Stich in Stich

97,15 Mitleid Mittleid

107,30-31 Strikecomités Streikecomités

144,18 Vereinssecretär Vereinsseccetär

159,25 Cortège Cortége

179,8 paßt sie paßt Sie

198,22 Es war Er war

248,21 worin wohin

255,20 das daß

256,21 wollte wolle

265,12 gezogene bezogene

267,33 deren dessen

269,14 das daß

272,15 sie Sie

278,29 auf- und abgehend auf und abgehend (vgl. 477,22)

279,11 über uber

279,14 vereint -! vereint !

281,6 dessen deren

291,25 dem den

297,32 es] er

312,1-2 Hofmaler Triesel Hofmaler Triefel

320,1 George Sand Georg Sand

347,8-9 gehandelt gehandelst

410,12 eine Schlange ein Schlange

456,23-24 ausgesprochen besonnen ausgesprochen, besonnen

471,5 bösartiger bosartiger

506,26 den Sie wie den Sie, wie

507,19 der Schlaue der schlaue

526,34 Vaters Vater

539,21 geworden war, und geworden war und

541,18 Romberg Ramberg

553,17 besuchten besuchen

561,13 Christenthum“? Christenthum?“

566,14 in die welke Hand in welke Hand

2.1.2. Problemfälle#

262,29 Shlipse Die Schreibweise findet sich unverändert auch in E2. Sie wurde nicht korrigiert, da es sich um eine am Englischen angelehnte Schreibweise handeln könnte. Belegstellen wurden nicht gefunden.

424,9 Sie sind eben verrückt und rennen Kunst Die Stelle findet sich textgleich in E2.

Errata#

In der 2002 erschienenen Erstauflage des Druckbandes (GWB I, Bd. 17) sind die folgenden Druckfehler zu verbessern:

3-15 Fußzeile Guzkow lies: Gutzkow

29,9 drei3ßigtausend lies: dreißigtausend

49-63 Kopfzeile ERSTES BUCH lies: ERSTER BAND

103-117 Kopfzeile ERSTES BAND lies: ERSTER BAND

241,19 CIaqueurs lies: Claqueurs

252,3 Sanitatsrath lies: Sanitätsrath

306,28 bringen ums Gedanken lies: bringen uns Gedanken

309,34 Scblüssel lies: Schlüssel

313-343 Kopfzeile ZWEITES BAND lies: ZWEITER BAND

547,15 aus einer Pfanne aus Einer Pfanne

Die in der Erstauflage des Druckbandes (GWB I, Bd. 17) auf den Seiten 627-628 abgedruckte Liste der „Textänderungen“ ist folgendermaßen zu ergänzen:

269,14 daß erst lies: das

526,34 Vater lies: Vaters

541,18 Ramberg lies: Romberg

Im Supplementband zu den Neuen Serapionsbrüdern (GWB I, Bd. 17, Kommentarband) ist in der Stellenerläuterung zu 32,16 (S. 172) ein Fehler im Nachweis eines Zitats unterlaufen.

Statt „Im Kastanienwäldchen hat er später dieses Urteil präzisiert“ lies: „In dem autobiographisch-literaturgeschichtlichen Text Vergangenheit und Gegenwart (1839) hatte Gutzkow dieses Urteil bereits präzisiert“. Statt des Verweises „(HOU, Bd. 12, S. 58)“ nach dem Zitat lies: „(eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 7)“.

2.2. Lesarten und Varianten#

Vor der Drucklegung von E2 hat Gutzkow den Text der komplett neu gesetzten Ausgabe E1 nochmals durchgesehen und korrigiert. Im wesentlichen hat er sich dabei auf die Revision von Druckfehlern und auf Änderungen der Interpunktion und in selteneren Fällen der Absatzgestaltung beschränkt. Durch Änderungen im Seitenumbruch differiert der Umfang der drei Bände zwischen E1 und E2: E1 276, 297, 309 Seiten; E2 270, 293, 301 Seiten.

Eingriffe in die Interpunktion betreffen häufig den Wechsel von ! zu anderen Satzzeichen, z.B.:

8,3 Ohr! Ohr.

Durch einfache Änderungen der Interpunktion wurden lange Sätze geteilt, z.B.:

33,18 Vergnügen" - der Vergnügen". - Der

33,19 dazu - in dazu. - In

Die Genitivform der Eigennamen wurde in E2 häufig, wenn auch nicht durchgängig, mit einem Apostroph versehen, z.B.:

7,24 Kants Kant's

17,22 Adas Ada's

26,25 Hamlets Hamlet's

Weitere Änderungen betreffen die Groß- und Kleinschreibung, z.B:

13,5 bis vier bis Vier

Zum Teil weisen sie auf den Wandel der orthographischen Konvention, z.B.:

17,34 Sechszigen Sechzigen

18,28 Nichts nichts

30,24 Proceß Prozeß

203,17-18 von Statten von statten

385,29 Beide beide

Das trifft auch auf Änderungen der Schreibweise bei der Deklination verschiedener Wörter zu, z.B.:

13,30 dunkeln dunklen

214,21 unsre unsere

sowie die Korrektur anderer variabler Schreibweisen:

8,30 gradezu geradezu

141,3 neuste neueste

133,27 Officier Offizier

139,24 hectisch hektisch

54,24 Streikgedanken Strikegedanken

68,15 Streik Strike

und Änderungen in Wortzusammensetzungen:

63,8-9 fünf und fünfzig fünfundfünfzig

90,23 Elias Krummgedanken Elias-Krumm-Gedanken

Bei den Eigennamen ergeben sich Varianten:

5,33 Ascherson Aschersohn

174,22 Inowraslaw Inowraclaw

Es ist nicht mehr zu klären, ob die durchgehende, wenn auch nicht ganz konsequente, Modernisierung der Orthographie in E2 von Gutzkows Hand erfolgt ist oder durch einen Korrektor des Verlags vorgenommen wurde. Auch sind die in E1 enthaltenen echten Druckfehler nicht vollständig beseitigt worden. Die vorliegende Ausgabe hält an der Schreibweise von E1 fest. Korrigiert wurden nur offenkundige Druckfehler, und zwar auch dann, wenn sie in E2 nicht revidiert worden waren.

Folgende Abweichungen zwischen E1 und E2 sind festzustellen:

25,10 Abends den Abend

55,22-23 wegen Schroffheit wegen mit Schroffheit

56,8 die Sache die Sachen

80,23 Vereintwirken Vereinswirken

98,29 vom Fenster vom Fenster aus

102,17 bestimmen bestimmte

131,10 trug trugen

159,6 schüttete schüttelte

168,33-34 von höchster Bedeutung von der höchsten Bedeutung

194,25 hingeworfen hingeworfen worden

263,9 mangelnde ermangelnde

272,12 Broche Brosche

299,15-16 Hebeamme Hebamme

328,5 Hemdkragen Hemdekragen

366,18 mannichfach mannigfach

392,34 eben neben

448,10 um deshalb beschämt deshalb beschämt

458,15-16 den beiden berühmten Panzerschiffen den berühmten Panzerschiffen

458,23-24 kam es zu keiner rechten Frage und keiner rechten Antwort kam es zu keiner rechten Antwort

465,23 Sieh’, sieh’ die Alte! Sieh’ die Alte!

466,31 Mein Mädgen Meine Mädgen

480,19-20 Was räthst Du hier zum Untergang der Deinigen an? fehlt in E2

512,8 noch bei mir nicht abgesetzt bei mir noch nicht abgesetzt

518,6 sollten denn doch sollten doch

567,13 Entweder Oder - Entweder - Oder

3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte#

3.1. Gattungsfolien#

Gutzkows umfangreiche Gesellschaftsromane der 50er Jahre Die Ritter vom Geiste und Der Zauberer von Rom (→ Globalkommentar, 6.1.2.: Der Roman des Nebeneinander - Tradition und Differenz)

E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Gesammelte Erzählungen und Mährchen. 4 Bände. Berlin: Reimer, 1819-21

Ludwig Tieck: Phantasus. Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen. 3 Bände. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1812-16

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. 2 Teile. Tübingen: Cotta, 1809

Der Roman „Sturmflut“ von Friedrich Spielhagen, der unmittelbar vor den Neuen Serapionsbrüdern im „Berliner Tageblatt“ in Fortsetzungen veröffentlicht wurde und zeitgleich mit Gutzkows Roman 1877 in Buchform erschien (→ 5.2. Rezeptionsgeschichte)

3.2. Anspielungshorizonte#

Gutzkows Aufenthalt in Berlin in den Jahren 1869-1873, erstmals wieder Wohnsitz seit 1834; Krankheit, familiäre und finanzielle Probleme (→ Globalkommentar, 6.1.1.: Déformation professionnelle und Pathologie der Gesellschaft)

Die Berliner Gesellschaft der Gründerzeit in den Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg

Der Börsensturz in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1873 (→ Globalkommentar, 6.1.4.: Liberalismus - Idealismus oder Realismus)

Die sozialen Verwerfungen infolge der beschleunigten Industrialisierung und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung

Bismarck und die Entwicklung des Nationalstaats; die Entwicklung der Sozialdemokratie (→ 4.2.2. Vorwort zur 2. Auflage; → Globalkommentar, 6.1.6.2.: Der Aufstieg der Sozialdemokratie)

Die Philosophie Arthur Schopenhauers und Eduard von Hartmanns („Philosophie des Unbewußten“, 1869) als Zeugnisse einer pessimistischen Weltsicht (→ Erl. zu 282,15-16)

Die Musik Richard Wagners (→ Lexikon, Art. ,Wagner‘) als Ausdruck eines rückwärtsgewandten, die gesellschaftliche Wirklichkeit romantisierenden Kunstverständnisses

Der in den 50er Jahren mit den „Grenzboten“ ausgefochtene Streit um das Verständnis von ,Realismus‘ und ,Idealismus‘ in der Literatur (→ Globalkommentar, 6.1.4.: Liberalismus - Idealismus oder Realismus)

Die Entwicklung der neuen Naturwissenschaften und die von ihnen bewirkten Veränderungen im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft (→ Globalkommentar, 6.1.7.: Die Naturwissenschaften unter der Sonne der Nacht)

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#
4.1.1. Gutzkow an Christoph Wiese, 4. Februar 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 24. Februar 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,54 (maschA).

Einen größern Roman habe ich angefangen u benutze dazu theilweise das vor 3 Jahren von Ihnen kopirte Stück, dem ich bald diesen bald jenen Titel gab. Leider kann ich erst nach Vollendung des Ganzen an die Ueberarbeitung gehen u dann auf Ihre Hilfe rechnen.

4.1.2. Gutzkow an Hermann Costenoble, März 1876#

Gutzkow an Hermann Costenoble, Heidelberg, 10. März 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,70 (maschA).

Ich schreibe an einem 3 bändigen Roman, freilich erst für eine gutzahlende Zeitung.

4.1.3. Gutzkow an Johannes Nordmann, 19. April 1876#

Gutzkow an Johannes Nordmann, Heidelberg, 19. April 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,109 (H, maschA).

Ich bin in der Lage, eine Existenzsumme für ein ganzes Jahr verdienen zu müssen, 3 bis 4000 Thaler, die Zersplitterung ruinirt mich u meine Familie. Ich habe daher, seitdem nun die 12 Bände der Ersten Serie meiner Ges. Werke bei Costenoble erschienen sind u das dafür empfangene Honorar verzehrt ist, ferner die Zweite Serie sich vor Jahren nicht ermöglicht, da ich keine Mittel habe, meine Schriften von Brockhaus u Janke loszukaufen, ich sage, ich habe seitdem anfangen müssen, etwas Grösseres zu arbeiten, einen Roman à 3 Bänden, der bis Oktober fertig sein muss [...]. Ich bin nun im Zuge meiner Arbeit, die zugleich eine Expektoration über empfangene Berliner Eindrücke ist.

4.1.4. Gutzkow an Klara Mosson, 16. Juni 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 16. Juni 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,155 (maschA).

Ich schreibe an einem Quasi-Roman, um zu Geld zu kommen. Diese Tendenz ist die vorherrschende. Was sonst draus wird kann ich noch nicht bestimmen.

4.1.5. Gutzkow an Otto von Leixner, 30. Juni 1876 #

Gutzkow an Otto von Leixner, Heidelberg, 30. Juni 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,180I (hsA).

Aber für jetzt muß ich [...] an eine größere Arbeit denken, die auch zu 2/3 schon fertig ist.

4.1.6. Gutzkow an Otto von Leixner, 6. Juli 1876 #

Gutzkow an Otto von Leixner, Heidelberg, 6. Juli 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,186 (hsA).

Mein Buch soll 3 Bände haben, gegen Lindaus Wunsch wir möchten uns mit Einem Band begnügen. Aber ehe ich nicht ein Ganzes fertig habe, fehlt mir an die Sache der Glaube. Ich arbeite wie alle Dramatiker vom 5ten Akte rückwärts. Alle Dramatiker, ich hätte sagen sollen, die ihr Handwerk verstehen. O die prächtigen ersten Akte, die wir haben! Ich könnte eine Literatur der ersten Akte schreiben - Dingelstedts Haus des Barneveldt, Uffo Horns Ottokar - erste Akte wunderbar! Aber die folgenden! Der richtige Dramatiker spinnt aus einem ihm klar vorschwebenden 5ten Akt - das Berliner ungeduldige Parkett hat die 4 Akt-Theorie eingeführt - die früheren heraus.

So gehts mir fast auch im Romane. Da muß ein Motiv verändert, eine Person schon früher eingeführt, die Spannung des Lesers auf ein Kommendes eingeleitet werden, man kann recht klar sehen, wenn die produktive Beserkerwuth ausgerast hat. Und das geht noch diesmal bei mir, leider mit sehr unliebsamen Intervallen, bis zum September so fort.

4.1.7. Gutzkow an Klara Mosson, 12. Juli 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 12. Juli 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,192 (maschA).

Vormittags, wo ich das Sitzen am ehesten aushalte, nimmt mich meine grössre Arbeit in Anspruch, die ich eigentlich ganz gedankenlos mache u am Ende in den Ofen werfen muss. Erst zwei Situationen haben mich selbst befriedigt.

4.1.8. Gutzkow an Christoph Wiese, 29. Juli 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 29. Juli 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,209 (maschA).

Lieber Freund, die erst einmalige Wiederkehr Ihrer Copie beunruhigt mich grade nicht, aber zur Constatirung des richtigen Verlaufs von Hin- und Zurück bemerke ich doch, dß ich erst eine Sendung Copie nach der Wiederaufnahme meiner Zusendungen erhalten habe, bis Seite 640.

4.1.9. Gutzkow an Klara Mosson, 5. August 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 5. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,215 (maschA).

Ich befinde mich leidlich, [...] denke mit Sorgen an die richtige Unterbringung eines im Grunde sehr einfachen Romans und arbeite, vorläufig um mir selbst zu genügen. [...] Mein Roman soll heissen: „Die neuen Serapionsbrüder“. Erinnern Sie sich der Serapionsbrüder von E.T.A. Hoffmann?

4.1.10. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 6. August 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 6. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 183 (H).

[...] der Roman Spielhagens wird am 1 Oktober zu Ende gehen, spätestens Mitte Oktober. Da drängt es mich denn - bevor ich irgend weitere Verbindungen aufsuche - zuerst Ihnen die herzliche Bitte vorzulegen, uns den neuen Roman zu überlassen, von welchem Sie mir erzählt haben. Ich glaube, daß Sie ihn pekuniär vortheilhafter irgendw‹o› anders unterbringen zu [sic] können, zumal der Abdruck im Tagebl. mit keinerlei Präjudiz für die Buchausgabe verbunden ist. Auch dürfte man Ihnen eventuell über die möglichst gewinnreiche Verwerthung des Manuscripts Vorschläge machen können, die Ihnen sehr wohl conveniren würden. - Darf ich also um einige definitive Mittheilungen über den Stand Ihrer neuen Dichtung und über Ihre etwaigen Entschlüsse freundlichst bitten?

4.1.11. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 11. August 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 11. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 184 (H).

Mit der größten Freude haben ich und Herr Mosse aus Ihrem so liebenswürdigen ausführlichen Schreiben Ihre Bereitwilligkeit ersehen, uns den Roman zu überlassen. Ich bin überzeugt, daß Ihre eigenen Bedenken aus zu großer Gewissenhaftigkeit hervorgehen, und handle im Einverständniß mit Herrn Mosse, wenn ich schon jetzt definitiv auf Ihre neuen, voraussichtlich hochinteressanten „Serapionsbrüder“ Beschlag lege. Ihren Wünschen bezüglich des Druckes u.s.w. wird natürlich Rechnung getragen werden. Auch bin ich bereit, wenn Sie es gestatten, Herrn Günther, dem Verleger der „Monatshefte“, den von Ihnen angedeuteten Vorschlag zu machen, den umbrochenen Tageblattsatz in den Buchverlag zu übernehmen. Ich bitte Sie daher um genaue Angabe Ihrer Honorarbedingungen, deren Annahme ich Herrn Mosse dann sofort ans Herz legen werde. Erwünscht wäre es mir auch, das Manuscript bald zu erhalten, damit ich über die von Ihnen hervorgehobene Ähnlichkeit mit der „Sturmfluth“ mich orientiren kann. Ich würde nämlich dann vielleicht zwischen den Spielhagen'schen Roman und den Ihrigen eine kürzere Novelle einschieben, um die Ähnlichkeit zu vertuschen.

4.1.12. Gutzkow an Klara Mosson, 21. [?] August 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 21. [?] August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,231 (maschA).

Ich habe die Redaction (Durchsicht der Abschriften) meines Buches u die Spekulation auf einen möglichst hohen Ertrag im Kopfe u soll noch obenein dieser Tage ins Gebirg.

[...]

Assings waren hier, Oscar Blumenthal von Berlin, ein Abgesandter der Kölnischen Zeitung.

4.1.13. Gutzkow an Christoph Wiese, 26. August 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 26. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,236II (maschA).

Sollte das Material Ihrer Abschriften für eine Sendung zu angewachsen sein, so machen Sie zwei. Ich habe nur die Abschrift bis Seite 344. [...] Neulich besuchte mich Oskar Blumenthal [...] Ich erwarte, dss Sie ihm nichts von meinem Roman mittheilen; nichts zur Lektüre.

4.1.14. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 26. August 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 26. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 185 (H).

Einliegend die schon telegraphisch angekündigten zwei Contrakte, von welchen ich Sie bitte, einen mit Ihrer Unterschrift zurückzusenden. Der Wortlaut entspricht Ihrem Entwurf; nur unter alinea 3 hat sich Herr Mosse das Recht zu nehmen gewünscht, den vom 1 November an eintretenden Abonnenten die ersten fünfzehn Fortsetzungen nachzuliefern. Der Roman soll nämlich am 15 Oktober beginnen. Ich denke, daß Sie da nichts einwenden werden. Auch Spielhagen hat seiner Zeitung die Erlaubniß dazu ohne Weiteres ertheilt.

Die Briefe an die deutschen Blätter werden unmittelbar nach Empfang Ihres Contraktes vom Stapel gehen. Ich glaube Ihnen versichern zu können, daß auch hier noch - außer Ihrem Honorar von 4000 Thalern - ein erklecklicher Gewinn für Sie herausgucken wird.

Mit dem herzlichsten Dank für Ihre mir erwiesene Gastfreundschaft [...]

4.1.15. Gutzkow an Carl Theodor Fasoldt, 28. August 1876 #

Gutzkow an Carl Theodor Fasoldt, Heidelberg, 28. August 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,236 (maschA).

Ich behalte mir Ausführliches von Heidelberg vor. Zu sehr drängt der Abschluß eines neuen Buches um - zu Geld zu kommen! Wäre doch ein Dresdner reiches Blatt dahin zu bringen, daß es sich mit Rudolf Mosse (Berliner Tageblatt) zum Nachdruck im Feuilleton verständigte. Ich habe nämlich ein Abkommen mit diesem im Werke, das aber nur gelingt, wenn mehre Zeitungen geneigt sind, den Abdruck zu bringen. Wende Deinen Einfluß bei Liepsch u. Reinhardt oder wer sonst lange Fortsetzung folgt's nicht scheut, an zu diesem Liebesdienst. Mit 4 - 500 Thaler ist die Sache gemacht, Bagatelle für so reiche Blätter.

4.1.16. Gutzkow an Christoph Wiese, 1. September 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 1. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,241 (maschA).

Ich habe den Roman an Mosse in Berlin verkauft, der ihn nach dem Spielhagen'schen im Tagblatt und einigen andern Blättern erscheinen lassen wird. Um den ersten Band abzuschliessen habe ich doch vorgezogen, noch 3 Bogen des 2ten Bandes herüberzunehmen. Dadurch sind aber soviel Correkturen nöthig geworden, dss ich Sie bitte, diese 3 Bogen noch einmal zu kopiren.

4.1.17. Gutzkow an Christoph Wiese, 2. September 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 2. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,242 (H, maschA).

Den jetzigen Anfang des 2ten Bandes bitte ich auch noch einmal abzuschreiben. [...] Weiter habe ich leider Ihre Abschrift nicht empfangen. [...] Ich habe von erster Copie, überarbeitet, Ihnen zur zweiten Copie bis Seite 328 geschickt gehabt! [...] Die Lücken dessen, was ich noch nicht bekommen, die ganze Scene mit Rabe, ist ja sehr groß! Ihre Sendung wird doch nicht verloren sein?

4.1.18. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 6. September 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 6. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 186 (H).

Contrakt erhalten. Ich warte nun mit größter Sehnsucht auf Band I des Mscpts und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie's womöglich noch heute an mich sendeten. / Acceptirt hat vorläufig nur die „Schlesische Presse“.

4.1.19. Gutzkow an Klara Mosson, 10. September 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 10. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,250 (maschA).

Ich dabei grüblend über meinen sonderbaren Roman, der vom 15. Okt. an die Leser des Tagblatt und der „Schlesischen Presse“ in Breslau ennuyiren soll. Weiss der Himmel, in welcher Stimmung ich das Ding geschrieben habe! Ich wollte durchaus nichts erfinden! Und schrieb doch täglich 10 Seiten! Jetzt revidire ich nun das Ganze, ergänze, feile - es ist ein Liebesroman im alten Goetheschen Sinne ohne alle Sensationsbestrebung. Kurz, ich werde beim Publikum schön ankommen!

4.1.20. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 12. September 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 12. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 187 (H).

Meine Frage hatte keinen andern Zweck, als einen rein technischen. Je früher wir das Mscpt in Händen haben, um so <‹leichter>› ist die Erfüllung Ihres Wunsches, daß immer ein genügender Vorrath Satz vorhanden ist. An eine beschwerdeführende Kritik oder die Möglichkeit einer solchen habe ich gar nicht gedacht. / Einliegend der Brief von Schottländer.

4.1.21. Gutzkow an Max Kurnick, 15. September 1876 #

Gutzkow an Max Kurnick, Heidelberg, 15. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,255 (H, maschA).

Einen jungen unternehmungslustigen Verleger zu gewinnen, scheint mir eine sehr glückliche Chance, aber ich bin allerdings verpflichtet alles zuvor Costenoble anbieten zu müssen. Mein Buch wird die Erwartungen der durch Annäherung an den Colportageroman gebildeten Leser nicht befriedigen. Ich habe mich in gemüthlich naiven Lebensbildern gehen lassen u auf Effekt gar nicht geschrieben. Ich lasse den Namen meines Helden Ottomar, obschon er bei Spielhagen vorkommt. Ich hatte ihn früher gebraucht, ehe ich eine Zeile von der „Sturmfluth“ sah.

Ich denke nun so: Ich stecke noch zu sehr im Herstellen des 2ten u 3ten Bandes, um jetzt schon viel an die Buchverwerthung zu denken. Habe ich den 3ten Band, etwa Ende Oktober, aus dem Kopf, so nehme ich die Frage der Buchverwerthung auf. Erscheinen kann ja natürlich das Ganze als Buch erst im Januar, wenn auch vorhergegangene Verständigungen den Druck zu präpariren haben. Wenn nicht Costenoble für vielerlei geübte Unbill ganz genügende Satisfaktion giebt, stelle ich die Bedingungen so, dss sich seine Ablehnung von selbst versteht. Es kann sich bei mir immer nur um eine mässige Auflage von 1500 - 2000 Exemplaren handeln, wo dann nach dem Preise des Buches u. der Ausstattung das für den Autor mögliche Honorar bald bestimmt ist.

4.1.22. Gutzkow an Christoph Wiese, 17. September 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 17. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,257 (H, maschA).

Lieber Freund, ich muß Sie bitten, dß Sie diesen Anfang des Ganzen noch einmal so copiren, dß der Inhalt wieder auf 32 Seiten herauskommt u dann die folgenden Bogen fortgehen.

Es kommt auf den Anfang so viel an! Ich fürchte mich förmlich vor dem Publikum des Berliner Tagblatts.

Da die Redaktion um das Manuscript des ersten Bandes drängt, so bitte ich Sie, mir diese 4 Bogen so schnell als irgend möglich zurückzuschicken!

Zugleich arbeite ich die Abschrift vom 2 ten Bande durch. Ich habe Besorgniß, dß er nicht stark genug wird! Schreiben Sie ja nicht zu weitläuftig. Es wird mir sonst bei der Taxation des Bandes vorgehalten.

4.1.23. Gutzkow an Hermann Costenoble, 17. September 1876 #

Gutzkow an Hermann Costenoble, Heidelberg, 17. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,257I (maschA).

Nachdem Sie von mir vor einiger Zeit die Herausgabe einer Sammlung von Journalarbeiten abgeschlagen haben, nahm ich Anstand, Ihnen schon so bald wieder mit einem gleichen Ansinnen zu kommen.

Es versteht sich von selbst, daß ich meine Misstimmung überwinden und über die Buchausgabe dieser in mehren Journalen zu gleicher Zeit erscheinenden Arbeit mit Ihnen zuerst verhandeln werde.

Ich bitte Sie aber, lassen Sie mir zu diesem Briefaustausch noch etwa 3-4 Wochen Zeit. Ich bin von den Ankündigungen, Reclamen, der Aussicht für ein hunderttausendfaches Lesen geschrieben haben zu sollen, so erschreckt so aufgeregt, daß ich meine ganze Kraft zusammennehmen muß, um meine Lieferungen an die Zeitung druckfertig herzustellen.

4.1.24. Gutzkow an Christoph Wiese, 19. September 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 19. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,259 (maschA).

Leider, leider, ersehe ich aus Ihrer heute empfangenen Sendung, lieber Freund, dss der 2te Band viel zu kurz ist, trotzdem dss Sie enger geschrieben haben.

Nun will ich das Capitel, das Sie mir abgeschrieben schickten, erst durchgehen, bis ich Ihnen für das weitre Manuscpt, das Sie bis Seite 504 haben werden, Weisung gebe. Ich glaube nämlich wieder eine Scene erst einschalten zu müssen, ehe Sie mit dem beginnen können, was Sie als Anfang von Bd. 3. haben.

Die Ankündigungen Mosses, die vielen Meldungen, die wegen gewünschten Nachdrucks einlaufen, erregen mich so, dass ich in Rücksicht auf die gespannte Erwartung u die Einfachheit meiner Fabel noch auf einige Motive gekommen bin, die nun ausgeführt werden müssen. Lassen Sie sich also nicht befremden durch vorher gar nicht Angedeutetes! Zum Glück habe ich den ersten Band noch nicht abgeschickt. Ich kann also diese kleinen ergänzenden Momente nachtragen. Morgen treffen wol die ersten 4 Bogen wieder ein? Ich warte sehnsüchtig darauf. Vielleicht schreibe ich schon morgen Näheres über den Wiederbeginn Ihrer treuen Beihülfe.

4.1.25. Gutzkow an Christoph Wiese, 21. September 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 21. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,261 (H, maschA).

Lieber Freund, ich schicke Ihnen anbei ein Material zu 1) nochmaliger Copie u 2) Weiterführung in der Paginirung. Der 2 te Band muß stärker werden. An dies Manuscript schließen Sie dann, aus Ihrem noch bis S. 504 gehenden Vorrath, mit „Sechstes Kapitel“ an, also mit dem früher projektirten dritten Bandanfang. Ich werde dann sagen, wo Sie aufhören mögen.

Das wie Sie sehen werden ganz neu in das Buch hineingekommene Motiv habe ich im ersten Bande durch kleine Änderungen u Zusätze vorbereitet.

Meine Bitte, sie möchten enger schreiben, muß ich zurücknehmen. Im Gegenteil, ich bitte jetzt eher um Weitläufigkeit! Der Schein spricht sonst gegen mich. Die Zeitungen wollen die Geschichte natürlich ins neue Jahr hineinziehen.

4.1.26. Gutzkow an Salo Schottlaender, 24. September 1876 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 24. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,264 (hsA).

Gern würde ich auf Ihren, meinen Roman betreffenden Wunsch sofort eingehen, wenn ich nicht schon von H. Costenoble eine energische Mahnung an unsre „Verträge“ erhalten hätte. Diese bestehen eben darin, dß ich ihm alles, was ich drucken lassen will, zuvor anbieten muß. Weil nun, unter uns gesagt, das Verhandeln mit H. Costenoble mich gewöhnlich sehr aufzuregen pflegt, so habe ich ihm geschrieben, ich wünschte die ganze Angelegenheit noch um einige Wochen verschoben. Vor Januar, Februar könnte ja die Buchausgabe ohnehin nicht erscheinen.

Würden Sie denn, im Fall ich H. Costenoble überredete, mich diesmal freizulassen, eine Vereinbarung etwa auf der Grundlage eingehen: 3000 Exemplare, im Preise von ca. 10 Mark für 3 Bände oder 12 und 2000 Thaler Honorar?

4.1.27. Gutzkow an Hermann Costenoble, 30. September 1876 #

Gutzkow an Hermann Costenoble, Heidelberg, 30. September 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,270 (maschA).

Die Buchausgabe meines 3 bändigen modernen Romans Die neuen Serapionsbrüder, dessen vorheriges Erscheinen in 5-6 Blättern nach einstimmigem Urtheil der Redakteure den Absatz des Buches nur fördert, weil selten Jemand die Geduld hat, alle Fortsetzungen zu lesen, dürfte etwa im März stattfinden oder früher, wenn eine Druckerei der Erscheinung in den Zeitungen folgt.

Aber ich gestehe Ihnen ganz aufrichtig, ich möchte, Sie entsagten diesem Verlage! Sie haben soviel Verlust bei unsrer letzten Unternehmung gehabt, Ihre Sprache hat in unserm Verkehr so tief Verletzendes bekommen, daß ich Sie bitten möchte, an die rechte Belebung u mögliche Verwerthung Ihrer älteren Werke von mir, z. B. auch meiner dramatischen zu denken [...] und von Neuem abzustehen. Ich kann Ihnen das Neue nicht schenken, sondern muß Gewinn daraus ziehen soweit ich kann. Das giebt aber Enttäuschungen, bittre Vorwürfe, Erweiterungen unsres Zwiespalts, die mich schmerzen müßten.

Ein junger Buchhändler bietet mir für 3000 Exemplare 2000 Thaler. Kann ich eine solche Chance zurückweisen? Ihnen biete ich sie gar nicht an; weil Sie sagen würden: 3000 sind ohnehin zu hoch u.s.w. [...] Ich lebe nicht von Fürstengunst, das deutsche Volk ist lässig im Kaufen, zu den Lieblingen der Vornehmen u Reichen gehöre ich nicht, warum soll ich nicht die Chance nutzen, die einmal für den Augenblick eine günstige für mich ist! Ich werde 66 Jahre alt u meine Familie ist leider an Entbehrungen nicht gewohnt.

4.1.28. Gutzkow an Klara Mosson, 1. Oktober 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 1. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,271 (maschA).

Ich stecke natürlich ganz in meinem Roman u schaudre über die Verantwortlichkeit! Heute kommen die ersten Correkturen, die ich aber nicht mehr Abends lesen werde. Ich habe mir mit dem Lesen von 1000 Druckbogen (weil Manches zweimal) mehr, glaube ich, geschadet als mit dem Rauchen.

4.1.29. Gutzkow an Salo Schottlaender, 6. Oktober 1876 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 6. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,276 (hsA).

Anknüpfend an Ihre unterm 2. u. 21. v. M. ausgesprochenen Wünsche u die am 26. mir gemachte Zusage gebe ich Ihnen die Anzeige, dß ich Veranlassung nehmen werde, die Tergiversationen (Versuche Zeit zu gewinnen) Costenobles zu unterbrechen. Es scheint, als glaubte er nicht recht an das Vorhandensein einer andern auf mein Buch reflektirenden Firma u hält mein Verfahren für ein Manöver. Ich habe kontraktlich keine andre Verpflichtung, als ihm alles, was ich erscheinen lasse, vorher anzubieten. Mein Gebot entspricht der Summe, die ich forderte, aber, wie wenn ihn die gesunde Vernunft verlassen hätte, bedingt er sich die Erlaubniß, den Roman auch noch in Zeitungen erscheinen zu lassen!! Wo die Publikation in Berlin, bei Ihnen u ein paar andern Orten, am 15ten beginnt u ich schon die Correkturen lese, die mir Mosse schickte!

In Ihrem Letzten erschrack ich über die Wendung „wenn Sie auch Opfer brächten.“ Ich möchte das nicht. Ich möchte Sie befriedigt sehen. Wollen Sie einen andern Modus der Vereinbarung? 3000 Exemplare sind zu hochgegriffen, glaube ich fast! 2000 wären genug! Wobei eine Reduktion des Honorars auf 1500 rl eintreten könnte. Oder wollen Sie 1. u. 2. Auflage gleich bezahlen, dann freilich müßte es bei der ersten Foderung bleiben.

In einem besonders aufzusetzenden Contrakte würde ich bedingen:

Eigenthumsrecht veräußert an Sie auf 5 Jahre, worauf ich den Roman in meine Gesamm. Werke aufnehmen kann. Ich komme schwerlich dazu.

Bei einer neuen Auflage neue Vereinbarungen.

Das Uebersenden der letzten Revision der Druckbogen zu meiner Durchsicht u. umgehenden Remittirung.

Geheftete, nicht geleimte Exemplare.

10 Freiexemplare.

4.1.30. Gutzkow an Christoph Wiese, 6. Oktober 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 6. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,276I (H, maschA).

Bester Freund, ich schicke Ihnen da einen traurigen Invaliden von Bogen. Mitten im Corrigiren stocke ich auf die gräulichste Art! Ja, ist denn Ihr unendlich schätzenswerther, mit innigster Dankbarkeit aufgenommener Glaube an mich so groß, dß Sie Seite 230 Bd. 2. den Unsinn haben schreiben können, der sich bei dem Zeichen [ an den Text anschließt?!

„nach einem so ereignißreichen Tage ein paar Talglichter u s. fort!

Es muß da ein ganzes Blatt fehlen, übersehen sein!

Ich bin gehemmt in meiner ganzen Arbeit.

Machen Sie aufs Schleunigste die Ergänzung, die sich in Ihrem gewiß sorglich u wohlgeordnet aufbewahrten ursprünglichen Texte befindet. Es handelt sich um eine später geschriebene besondre Einlage von meiner Hand.

Es muß Ihnen ja alles, was ich neuerdings über Holl, Luzius, Schindler hineingebracht habe, total unklar geblieben sein.

4.1.31. Gutzkow an Hermann Costenoble, 6. Oktober 1876 #

Gutzkow an Hermann Costenoble, Heidelberg, 6. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,276Ia (maschA).

Die Bedingungen, die Sie mir in Ihrem Werthen vom 4. d. stellen, sind nicht annehmbar. Ich habe meine Verpflichtung gelöst, Ihnen die Buchausgabe (wie bei Fritz Ellrodt, der auch erst in 2 Zeitungen u dazu einer der größten, der Neu. Fr. Presse erschien) angeboten zu haben. Ich sage dem andern Verleger zu.

4.1.32. Gutzkow an Hermann Costenoble, 12. Oktober 1876 #

Gutzkow an Hermann Costenoble, Heidelberg, 12. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,282 (maschA).

Ihre „Rechte“ bestehen in nichts, als daß ich Ihnen, als Buch- und Verlagshändler, das, was ich für den Buchhandel erscheinen lassen will, zuerst „anbiete.“

Das Anbieten geschieht vernünftigerweise mit einer Forderung.

Diese haben Sie nicht acceptirt, haben sich Erwägungen nach Zeit u Umständen bedungen, die Summe herabgemindert u das Colossalste an Unbegreiflichkeit darin geleistet, daß Sie von noch „eventueller fernerer Journalexploitation“ zu Ihren Gunsten sprechen!!!

Da hört denn doch alles auf! Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen herumzustreiten, wie ich diese Ideen allmälig in Ihrem Kopf tilge. Ich muß meine Arbeit rasch unter Dach bringen, ehe mir die Zeitungspublikation allerlei Urtheile nach sich ziehen könnte.

4.1.33. Gutzkow an Klara Mosson, 18. Oktober 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 18. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,286I (maschA).

Mich ärgert dieses Wettrennen im Tagblatt mit dem Spielhagen'schen Roman, der kein Ende nehmen will!

4.1.34. Oscar Blumenthal an Gutzkow, 19. Oktober 1876 #

Oscar Blumenthal an Gutzkow, Berlin, 19. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 189 (H).

Die Priorität der Provinzialblätter kann Ihnen wie uns sehr gleichgültig sein. Warum soll Ihr Roman durch den Beginn der Veröffentlichung in der Schlesischen Presse, wie Sie schreiben, von der löblichen Litteratenschaft ruinirt sein? Im Übrigen werden wir nach Beendigung des Spielhagen'schen Romans rasch fortschreiten.

Nur eine Bemerkung bitte ich Sie, mir nicht zu verübeln. Ich kann nämlich nicht verschweigen, daß durch Ihre an sich so ehrenwerthe Akribie und Unermüdlichkeit in der Ausfeilung und Verbesserung des Romans der klare Fluß der Rede und der schlanke Wuchs der Perioden hier und da recht empfindlich gelitten hat. Beachten Sie z. B. folgenden Satz: [an dieser Stelle ist ein Ausschnitt aus dem Abdruck des Romans in den Brief eingeklebt; das Wort beugte wurde von Blumenthal handschriftlich unterstrichen].

Dem nun folgenden Fragestellen, dem Versichern eines belesenen Assessors, daß auch ihm ein ärztlicher Freund im Vorüberfluge (alles hat hier Flügel, selbst die Freundschaft, woraus man nicht schließen darf, daß sie immer zu helfen bereit ist) von einem gestrigen Vortrage Eltesters, den dieser im „Aerztlichen Verein“ gehalten hätte, gesprochen, beugte das in diesem Augenblicke erfolgende Eintreten des „Wolfes in der Fabel“ vor.

Gerade für ein volksthümliches Publikum, wie es das Tageblatt nun einmal hat, wird durch diese parenthesereichen schwerübersehbaren Satzfügungen der Lesegenuß und das Behagen eines raschen Verständnisses wesentlich vermindert. Und das liegt nach meinem Dafürhalten nur an Ihrem allzu großen Eifer, in jeden Satz möglichst viel Gedanken- und Pointen-Material hineinzupacken und hineinzuverbessern. Ich würde die Sache nicht erwähnen, wenn mir nicht leider schon heute aus dem Kreis unserer Leser, - die sehr unbequem scharfe Augen haben - beschwerdeführende Episteln zu Händen gekommen wären. Ich bitte Sie also, diese offene Ansprache nicht übel zu nehmen [...]

[Geänderte Syntax der von Blumenthal monierten Stelle in der Buchfassung:

Dem nun folgenden Fragestellen, dem Versichern eines belesenen Assessors, daß auch ihm ein ärztlicher Freund von einem gestrigen Vortrage Eltesters, den dieser im „Aerztlichen Verein“ gehalten hätte, im Vorüberfluge gesprochen (Alles hat hier Flügel, selbst die Freundschaft, woraus man nicht schließen darf, daß sie immer zu helfen bereit ist), beugte das in diesem Augenblicke erfolgende Eintreten des „Wolfes in der Fabel“ vor. (4,12-18)

→ Auch Dokumente 4.1.39. und 4.1.45.]

4.1.35. Gutzkow an Anton Hübner, 23. Oktober 1876 #

Gutzkow an Anton Hübner, Heidelberg, 23. Oktober 1876. Gutzkow an Anton Hübner, Heidelberg, 23. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,293 (H, maschA).

Der junge Weltstürmer Schottländer druckt in der Schlesischen Presse einen Roman von mir ab, wie er ihm aus Berlin aus einer Druckerei geliefert wird, ohne daß ich die Druckfehler verbessere, die letzte Hand an die Arbeit lege!

4.1.36. Gutzkow an Christoph Wiese, 24. Oktober 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 24. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,294 (H, maschA).

Sie haben lange von mir nichts gehört. Die ganze Zeit war ich

1) mit der Durcharbeitung des 2ten Bandes u. Durchsicht einer nochmaligen Abschrift beschäftigt die ich hier der vielen Correkturen wegen von einem Bekannten, dem ehemaligen Posthalter in Wieblingen, veranstalten ließ.

2) bin ich an den 3ten Band gegangen, dem ich ja leider eine viel größere Ausdehnung geben muß, als ich in der alten Fassung Material habe!

Ich möchte Sie nun bitten, damit ich in den Zusammenhang komme, daß Sie mir Ihren angefangenen Bogen S. 161 u alles folgende schicken. Sie müssen doch schon weiter, als über einen angefangenen Bogen sein, denn ich schickte Ihnen 24 geschriebene Seiten, die auf S. 161 folgten. In den Zusammenhang dieser ganzen Umänderung möchte ich nun kommen und bitte um Uebersendung.

Ich setze dann die weitere Gestaltung mit Ihrer Hülfe von S. 25 des geschriebenen Supplementes fort.

Leider kann mein Roman wegen der Spielhagenschen Sturmfluth nicht zur rechten Ausdehnung im Tagblatt kommen.

4.1.37. Gutzkow an Klara Mosson, 27. Oktober 1876 #

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 27. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,297 (maschA).

[...] so eindruckslos wird Ihnen doch mein Roman Die neuen Serapionsbrüder, die seit 8 - 10 Tagen im Mosse'schen alten „Berliner Tageblatt“ figurieren, nicht vorgekommen sein, dss er Ihnen ganz unter den Händen verschwindet. Ich für mein Theil finde das, was bis jetzt erschien, ganz gut u lesenswerth. Nur heute war ich mit der Donnerstagsnummer ein bischen unzufrieden. Ich hatte in dem Zwiegespräch zwischen den beiden Gehülfen des Bildhauers das entscheidende Wort „Vegetarianer“ vergessen.

Der Ärger, den ich mit der Organisation der Veröffentlichung in verschiedenen Zeitungen habe, ist unsäglich! Der contraktlich von Mosse erlaubte Nachdruck geschieht in diesen Blättern ohne meine Correktur, weil ich nur die Correktur im Tagblatt machen kann! Im Tagblatt aber hinderte Spielhagens Sturmfluth mit meiner Arbeit früher vorzurücken u so gab Mosse den fremden Zeitungen Correkturabzüge, die ich alle nicht gelesen hatte! [...]

Haben Sie nun (Pardon für meine dicke Tinte!) wirklich nicht als geistvolle Kritikerin geschwiegen, sondern auf ein falsches Tageblatt abonnirt, so will ich bemerken, dss das

Berliner Tageblatt

Abonnements von 1 November annimmt u diesen neuen Abonnenten das von meinem Roman Erschienene in Buchform als Extraergänzung giebt, um sich über die Fortsetzungen zu orientiren!

Und dabei habe ich den 3ten Band noch nicht fertig!

4.1.38. Gutzkow an Christoph Wiese, 28. Oktober 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 28. Oktober 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,298 (H, maschA).

Sie schrieben ab bis Fünftes Capitel, wo auf S. 24 (glaube ich) das Neugeschriebene der Anfang war (Trauliche Stille der Familie! u.s.w.) wo dann mit dem was ich vor einigen Tagen schickte, die richtige Fortsetzung erfolgte, sodaß nichts bei Ihnen noch unerledigt Lagerndes vorhanden war!

Ich muß mit Aufopferung alle meiner Kräfte daran arbeiten, die Bände 1) rechtzeitig abzuliefern u 2) nicht so dünn, wie sie früher ausfielen. Ich habe die Anlage in einem Vormittag geschrieben, gar nicht durchgesehen, verbessern Sie wie Sie wollen, nur daß allmälig ein neuer stärkerer Text gewonnen wird. Ich muß alles leidenschaftlicher, packender machen. Sonst verspiele ich.

4.1.39 Ada Christen an Gutzkow, 12. November 1876 #

Ada Christen an Gutzkow, Wien, 12. November 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,312 (maschA) und A II 2, Nr. 373 (H).

[...] ich habe viel Herzeleid erfahren durch mein ganzes Leben aber ich meine daß ich nie so jäh so unerwartet einen tiefgehenden Schmerz erlitt wie gestern da ich in der letzt mir zugekommenen Fortsetzung Ihres neuesten Romanes im „Berliner Tageblatt“ eine kurze mich vernichtende Bemerkung las, die Alles was ich bisher geschaffen mit einem Schlage zerschmetterte. [...] soll das Einzige was von mir zurückbleibt, mein in Ihrem Buche gedruckter Name eine Erinnerung an eine Schmach sein welche ich nicht erlebte, soll mein Name dastehen neben einem Ortsnamen welcher allein schon genügt um mich verächtlich zu machen, obwohl ich vor nicht langer Zeit erst seine Bedeutung erfuhr, u. den Ort selbst nie im Leben mit meinen Augen gesehen habe. Wird nicht jeder Leser dem großen Dichter glauben u. sein Urtheil bestätigen? Dem Geiste, dem Herzen des Dichters lege ich diese Frage vor als eine Bitte: mit wenigen Strichen ist das Urtheil geändert ist von mir die unverdiente Schmach genommen!

[Die Stelle, an der Ada Christen Anstoß nahm, lautete im Zeitschriftendruck:

Er möchte das Problem lösen, wie sich hier [in Ada Christens heinisirende[n] Ergüsse[n]Sentimentalität mit dem Hamburger Berg vereinigen konnten.

Gutzkow änderte in der Buchausgabe (→ 4.1.45.Hamburger Berg zu Hörselberg (124,20). → Erl. zu 124,19-20.]

4.1.40. Gutzkow an Salo Schottlaender, 13. November 1876 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 13. November 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,313 (hsA).

Obschon sich mir soviel Schmerz u Herzleid an die Veröffentlichung meines Romans knüpfen, dß ich noch keine Stelle aus demselben in Ihrer Zeitung anders als flüchtig habe ansehen können (immer in der Angst, Druck- u Sinnfehlern zu begegnen) so habe ich doch soviel erfahren, dß die Fahnen, die ich corrigirt habe u die Ihnen vielleicht (die erbärmlichste Wirthschaft in Berlin antwortet darauf gar nicht) vielleicht corrigirt zugehen, nunmehr nächstens zu Ende sind. Ich hatte gehofft, Sie würden nach dem gewiß drastischen Schluß des 1. Bandes eine Pause von einigen Tagen machen. Die Sache hätte es schon vertragen.

Da ich nun, wenn man Ihnen uncorrigirte Fahnen schickt, dies für die niederträchtigste, empörendste Gemeinheit gegen meine Person erklären muß, eine Gemeinheit Mosses, Blumenthals u Aller, die an solcher Nichtachtung meiner Ansprüche betheiligt sind, so bitte ich Sie:

Bieten Sie Alles auf, entweder dem bösen Willen oder dem Schlendrian in Berlin zu steuern und auf Ehre u Gewissen von Mosse zu verlangen, dß er Ihnen nur Fahnen schickt, die ich durchgesehen habe, u die eine gewissenhafte Offizin wirklich corrigirt hat?

Wann denken Sie den 1. Bogen der Buchausgabe zu schicken? Ich möchte nach einem Texte setzen lassen, den ich erst revidire. Doch bin ich noch zu sehr mit dem 3 ten Bande beschäftigt.

4.1.41. Gutzkow an Christoph Wiese, 18. November 1876 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Heidelberg, 18. November 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,318 (maschA).

Sie haben wol an meinen nicht einmal von mir durchgesehenen Zusendungen gemerkt, in welcher Aufregung ich mich befinde. Die Nothwendigkeit, meinen zu kurz ausgefallenen Roman auf volle 3 Bände zu bringen, u. die Lärmtrompete des Rudolf Mosse, zwangen mich über meine Kräfte zu arbeiten. Nun die Correkturen! Der Ärger über Blumenthal, Mosse, die den Contrakt verletzten u der „Schlesischen Presse“ den Vortritt liessen, während das Tageblatt immer mit kleinen Portionen nachhinkt! Selbst die grossen Summen, die mir gezahlt worden sind, können den Verdruss nicht aufwiegen, den ich schon gehabt habe u noch habe. Es führt zu weit Ihnen alles im Detail zu erzählen.

Da Sie meine Art zu arbeiten kennen, so können Sie sich denken, dss ich noch im 3ten Bande stecke.

Die Leser des Tageblatts sind leider meistens dem Roman nicht gewachsen. Befremdlich, wenn nicht gar langweilig muss den Leuten, die eigentlich Mord- u Todtgeschichten wollen, mein Werk vorkommen.

4.1.42. Gutzkow an Salo Schottlaender, 23. November 1876 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 23. November 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,323 (hsA).

Mit heutiger Paketpost sandte ich Ihnen alle seither erschienenen Lieferungen des Berliner Tagblatts von meinem Roman. Bei diesem Texte habe ich die Garantie, dß ich ihn durchsah. Lassen Sie die Druckerei, die Sie wählen, daraus absetzen. Die mir zur Revision gesandten Einzelbogen werde ich immer schnell erledigen und keine erheblichen Änderungen machen.

Stackmann, Spielhagens Freund u fürsorglicher Verleger, hat die „Sturmfluth“ 4 Wochen nach Beendigung in den Zeitungen fertig gehabt. So muß es auch sein, wenn man das Eisen schmieden will.

Ich glaube fast, dß wir ganz den Wachenhusen'schen Satz adoptiren müsssen, um für jeden Band den nothwendigen Umfang herauszubringen. Jedes Capitel muß mit einer neuen Seite anfangen.

Doch entscheidet da wohl der Ueberblick der Druckerei. Dünne Bände u. weitläufiger Druck sind unangenehm. Auch der übergroße weiße Papierrand ist störend.

4.1.43. Gutzkow an Eugen Zabel, 6. Januar 1877 #

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 6. Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,6 (H, maschA).

Die Neuen Serapionsbrüder, die nächstens im Berliner Tageblatt endigen, verlegt ein Breslauer junger Buchhändler Schottländer. Leider mit einem mir sehr odiösen Prinzip. Er läßt die 3 Bände nicht auf Einmal, sondern nur successive erscheinen. Vernunft da zu reden, zu sagen: Sie schaden sich u mir! ist ganz unmöglich. Ich hätte solche Willkürlichkeiten im Contrakt voraus berücksichtigen sollen.

4.1.44. Gutzkow an Max Kurnick, 12. [recte: 21.?] Januar 1877 #

Gutzkow an Max Kurnick, Heidelberg, 12. [recte: 21.?] Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,21 (hsA).

Auf Ihre Empfehlung hin habe ich mich mit dem jungen Herrn Schottländer eingelassen, aber ich verfluche die Stunde, wo ich Ihnen Gehör gab! Gewissermaßen sind Sie verantwortlich, dß Sie mir wenigstens einen Menschen in ihm herausstellen, mit dem sich wie mit andern Verlegern verkehren läßt. Muß ich mir auf meine alten Tage diesen Ärger, diese Beschädigung meines literarischen Rufes gefallen lassen, einen mir so hingeschleuderten Vorwurf „ich verstünde den Buchhandel nicht“ und dann seine Abreise in die Weite! Wo ich mit meinem Herzblute, das ich in den Roman hineingeschrieben habe, auf eine subtile, fürsorgende, alles mit Maaß betreibende Operation rechne, das schnelle Hervortreten der 3 Bände auf Einmal wie bei Spielhagen, Heyse, Auerbach u allen andern; wo ich im Contrakt nur Angst hatte, der Heißsporn käme zu früh; muß ich nun erleben, daß von Band 2. auch noch nicht eine Zeile mir zur Correktur geschickt und der ganze Roman, wie eine bandweise erscheinende Geschichte Schlesiens oder dergleichen oder ein Colportageroman behandelt wird, u gerade, als wenn der Verleger 10,000 Thaler dafür hätte zahlen müssen!!! [...]

Der einfache, aller auf die Masse wirkender Motive entbehrende Liebesroman, dem nicht die Spur von „Sensation“ anklebt, geht dabei zu Grunde!

4.1.45. Gutzkow an Ada Christen, 16. Januar 1877 #

Gutzkow an Ada Christen, Heidelberg, 16. Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,16 (maschA, ZfDr).

Der erste Band der Neuen Serapionsbrüder erscheint dieser Tage und bringt den „Hörselberg“, den man ja allgemein als die Wohnstätte der Frau Holle und den Tannhäuserberg kennt. Die Aenderung konnte ich nicht weiter ausdehnen.

[→ 4.1.39.; → Erl. zu 124,19-20.]

4.1.46. Gutzkow an Salo Schottlaender, 2. Januar 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 2. Januar 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,2I (hsA).

Möge sich die Hoffnung auf eine 2te Auflage der N. Serapionsbrüder erfüllen.

4.1.47. Gutzkow an Salo Schottlaender, 20. Februar 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 20. Februar 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,50 (hsA).

Warum mußte ich Unglücklicher das Opfer Ihrer ersten Verlegerphantasien werden, die Sie bestimmten, mir zu sagen: Ich verstünde nichts vom Buchhandel?!

Total im Ruf u theilweise im Existenzbereich bin ich geschädigt durch die Plötzlichkeit Ihres Einfalls, von meinen Neuen Serapionsbrüdern 5000 Exemplare zu drucken, die Bände nach 4 u 4 Wochen erscheinen zu lassen u dann nach Italien, Frankreich zu verreisen u mich sozusagen ganz im Stich zu lassen, selbst der Druckerei gegenüber, mit der ich erst allmälig in die Reihe kam!!

[...]

Ein Roman kann im ersten Anlauf nur 1500 Exemplare absetzen. Dann ist er glänzend gegangen. Wurden vernünftigerweise 2000 Exemplare gedruckt, so wurde dem Verleger beim Nachliefern, wenn er 1400, 1500 los zu sein glaubte, allmälig bange um den Nachschub u er brachte die zweite Auflage, die dem Buche neuen Schwung, dem Autor Ehre einbringt. Er druckt sie, ob auch darüber 3-400 Exemplare der ersten Auflage als Makulatur fürs Erste riskirt werden müssen. All meine Sachen bei Hallberger u. A. (bei Brockhaus) erlebten noch die wirkliche 2te Auflage. Sie aber und Ihr System, das Sie bei Andern ganz verlassen haben, zerstörten mir den Credit eines wie ich mich z.B. aus der Lektüre andrer Werke überzeuge, achtungswerthen, originellen Werkes!

Ich brauche ästhetischen Kredit u Geld. Soll ich den ersteren nur dem Berliner Faiseur, den unter sich u ihren Frauen sich bekomplimentirenden Juden lassen? Wie lange hat es gewährt, bis dieser Herr Lindau ein leidlich gnädiges Wort für mich in der Gegenwart hatte! Aber bei einer Fortbewegung mit einem Güterkarren von 5000 Auflage ist auch keine Anregung, kein „Selbst ist der Mann“ möglich. Kurz, der Schluß des Jahres, mein kostspieliger Umzug hieher u vielerlei Andres bestimmten mich zu der Frage: Wie denken Sie es mit dem Ueberdruck des 1ten Bandes von 3000 Exemplaren zu halten? Wie komme ich aus der einfachen Lage: „Der Mann hat Pech!“ heraus? Warum muß ich so das Opfer Ihrer ersten Verlagsstudien sein?!!

4.1.48. Gutzkow an Salo Schottlaender, 25. Februar 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 25. Februar 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,55 (hsA).

Obschon ich nun im Wesentlichen gern bereit bin, mit Ihnen „auf Treu u Glauben“ dies u das abzuschließen, so muß ich doch 1) dagegen protestiren, daß mein Contrakt „Klauseleien“ enthält! Ich bitte Sie um Alles, sehen Sie sich diese paar Paragraphen an, die nicht einfacher sein können. Noch nie habe ich einen so einfachen Vertrag geschlossen! 2100 Exemplare - 5 Jahre Eigenthum - Neue Auflagen neue Vereinbarungen Punktum. Wo sind da „Klauseln?“ Erschreckend wurde mir nur Ihr plötzliches 3000 mehr, das Nach u Nach, worin ich nachgab, weil Sie drängten, telegraphische Antwort begehrten, reisen wollten.

2) bin ich gegen jeden Schein von Titelauflagen.

Müssen Sie Band 2 u 3 neu drucken, so können Sie auch Band 1. makuliren, Band 1. neudrucken.

Sie drucken in völlig veränderter Schrift u mit einer Vorrede von mir eine 2te Auflage, pure neu. Merkt man ihr das vorgeklebte neue Titelblatt an, so ist die Sache verdorben, futsch!

Das Eigenthumsrecht erstreckt sich vom Erscheinen wieder fünf Jahre. Natürlich würde eine Auflage von 1500 Exemplaren völlig ausreichen, so daß wir leicht auf eine 3te kommen.

Die Honorarfrage will ich, obschon ich noch nie in meinem Autorleben diesen Modus eingegangen bin, annehmen. Nur ist die Berechnung 1 Mark 50! pro 3 Bände zu ungünstig für mich. Ich müßte auf mindestens 2 Mark pro Ex. bestehen, wobei natürlich über die 2100 Ex. der ersten Auflage ein Strich mit abgemacht gezogen wird. Es handelt sich nur um einen wirklichen Neudruck von 3 Bänden in 1500 Ex.

[...]

Sie sprechen von meinen 3 Verlegern, Costenoble, Janke u Sie! Aber sagen Sie selbst, wie weit ich wol mit meiner Existenz käme, wenn ich mehr solcher Vereinbarungen annähme, wie ich Ihnen jetzt, mit entschiedenem Protest gegen eine „Titelauflage“, vorschlage! Ein sehr verklausulirter Contrakt bindet mich an Costenoble, dem ich die ersten Angebote machen muß, wobei denn in der Regel die Möglichkeit, Nein! zu sagen u sich anderweit zu helfen, ergiebt. Es ist mit dem Mann nicht zum Auskommen.

[...]

Nach nochmaligem Durchlesen. Ob Sie nun 2 oder 3 Bände neu drucken ist doch tout egal. Und der Erwerb von 3000 Bänden Makulatur (die vorsichtig zu verwenden wäre) ist auch nicht zu verachten. Uebrigens gebührt mir davon ein Antheil, nehmen wir das Honorar für die neue Vorrede, 30 Mark. Die ganze Unternehmung müßte auch rasch erfolgen, von Ihrer Druckerei jeder Band gleichzeitig gesetzt.

4.1.49. Gutzkow an Klara Mosson, 18. März 1878#

Gutzkow an Klara Mosson, Sachsenhausen, 18. März 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,78 (maschA).

Die 2te Auflage der Neuen Serapionsbrüder habe ich vorgestern contraktlich abgemacht. Leider aus besondern Gründen - ohne Honorar!

4.1.50. Gutzkow an Salo Schottlaender, 21. März 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 21. März 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,81I (maschA).

Wenn Sie schon beginnen (Correktur muß ich Ihnen u einem intelligenten Correktor überlassen), so schicke ich Ihnen nächstens schon die versprochene Vorrede.

4.1.51. Gutzkow an Salo Schottlaender, 18. Juni 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 18. Juni 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,168 (hsA).

Ich sehne mich nach den bewußten Aushängebogen u gehe dann sogleich an eine möglichst anziehende Vorrede, die jene Auffrischung ersetzt, die Sie so gern gehabt hätten. Für jetzt, wo ich von diesem Neudruck kein Honorar erhalte, kann ich nichts dafür thun. Die Correktur übernehme ja ein Mann, gewissenhaft u streng, damit Ihrer Druckerei u mir selbst alles zu Ehren gereicht! Ab u zu ein Inserat dürfte zu empfehlen sein.

4.1.52. Gutzkow an Salo Schottlaender, 27. Juli 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 27. Juli 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,217 (hsA).

Besten Dank für die Abdrucke der Vorrede.

Leider wimmelt sie von Druckfehlern.

Man kann, wenn man mit Ehren vor der Welt als Schriftsteller bestehen will, nichts von sich herausgehen lassen, ohne die Correktur bedingt zu haben!

4.1.53. Gutzkow an Christoph Wiese, ca. 15. August 1878 #

Gutzkow an Christoph Wiese, Sachsenhausen, ca. 15. August 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,ca225a (H, maschA).

Sie sehen an dieser meiner Vorrede zur 2ten Auflage der Serapionsbrüder (ohne Honorar!!) wie erschöpft, angegriffen im Denken fast gestört ich bin. Dabei die Furcht, die Satansbrut der Feinde zu mehren, das Judenvolk - ach, es ist ja kein Wunder, dß Nobilings u Hödels kommen bei soviel Bestialität der Presse, Mangel an Ehrfurcht, der politischen Tollwuth usw.

4.1.54. Gutzkow an Salo Schottlaender, 6. September 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 6. September 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,246 (maschA).

Die Correkturen der Serapionsbrüder, der Offiziersehre, der neuen Auflage der Ritter v. Geist kommen alle mit der größten Regelmäßigkeit bei mir an.

4.2. Dokumente zur zweiten Auflage#
4.2.1. Gutzkow an Salo Schottlaender, 19. August 1878 #

Gutzkow an Salo Schottlaender, Sachsenhausen, 19. August 1878. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 78,229 (hsA).

Alles Andre, was noch zu erledigen wäre (die Correktur der Vorrede zur 2ten Auflage der N. Serap. (die beiläufig gesagt Aufsehen gemacht hat) auf den nächsten freien Augenblick verschiebend mit herzlichem aufrichtig gefühltem Dank für Ihre Theilnahme [...].

4.2.2. Karl Gutzkow: Die neuen Serapionsbrüder. Vorwort zur zweiten Auflage #

Karl Gutzkow: Die neuen Serapionsbrüder. Vorwort zur zweiten Auflage. (E2, S. I-XVI).

Wol nicht oft mag ein Buch in so heiterer Laune geschrieben worden sein, als das nachfolgende.

Und dennoch, dennoch hat der Autor, und das selbst bei dem gebildeten Leser, so viel Gelegenheit gegeben, mit ihm unzufrieden zu sein!

Denn was brauchte ich den wunderlichen Einfall zu haben, die alte Tieck-Hoffmannsche Umrahmung der Erzählung durch die Plaudereien einer geschlossenen Gesellschaft zu unterbrechen! Retardation in einer Zeit des Dampfes, wo alles auf dem qui vive steht: Wo? Wie? Was? Warum? Wer läge heute noch auf dem Sopha und läse ruhig einen Roman von Tieck oder Steffens! Wo sind die Menschen stiller Versenkung und Absperrung gegen die immer, sagen wir es offen heraus, dümmer und dümmer werdende Außenwelt! Denn dumm machend ist es doch, ewig an das „deutsche [II] Reich“ denken zu sollen und an die Wahlen und die Verdienste der Herrn N. N. und N. N! Höchstens der gebundene Vers hat noch bei einigen Liebhabern und Selbstversuchern in dieser Gattung Poesie das Privilegium, etwas langsam vorschreiten zu dürfen. Die Prosa dagegen soll beflügelt, stoffreich, sensationell, „packend“ sein, und es giebt auch Schriftsteller genug, besonders österreichische, die in einer Manier schreiben, als stände geradezu Jack mit der Peitsche hinter ihrem Pegasus und triebe ihn wie beim Wettrennen.

Wie ich vor einigen Monaten gegen den „ästhetischen Schwulst“ geschrieben habe und in aller Ruhe an den höchst wirksam gewesenen, wenn auch natürlich nicht eingestandenen Erguß meines Zornes zurückdenken kann und mit dem Erfolge meines Votums (die Antworten der Getroffenen und die Blätter der Aufhetzenden konnten mir von vornherein gleichgültig sein) durchaus zufrieden sein kann, so gestehe ich auch hier in diesem Vorwort ganz offen: Ich habe zunächst beim Schreiben dieses Buches Behagen nur für mich selbst gesucht, und den Leser vollständig ignorirt! Ich sagte mir: wohin soll denn das in unserer Literatur noch führen? Willst wieder einen Roman schreiben? Wieder in hundertfache Concurrenz treten, die in Deutschland die erzählende Muse zu bestehen hat? Man sehe doch nur allein das [III] wöchentliche Volumen unserer illustrirten Journale an. Wo soll der Schwindel noch hinaus? Die Erbschaftsprocesse, die Geldunterschlagungen, die Mündelbetrügereien, die Ehebrüche, die Abenteuer zu Wasser und zu Lande, es reißt nicht ab, und mit ihm die Unmasse neuer Namen, neuer Unsterblichkeiten! Der Roman ist Busineß des hundertarmigen Briareus Industrie geworden. [→ Globalkommentar, 6.1.1. Déformation professionnelle und Pathologie der GesellschaftGeschäftig, rasch, an sich selbst glaubend, wie ein Donnerwetter, wie aus der Pistole geschossen geht das von Journal zu Journal. Wer macht das noch gern mit? Der deutsche Roman als ein dem Leser mit Geflissenheit gewidmeter ständiger Drang der literarischen Mittheilung ist mir, das ist mein Geständniß, geradezu ein Gegenstand der Widerwärtigkeit geworden. Denn, das Talent in Ehren, so muß doch auch diese Dichtungsform aus Weihestunden hervorgehen. Und diese hat wohl, trotz Goethe's bekanntem Spruch vom „Commandiren der Poesie“, eine Nation und ein Individuum so zu jeder Stunde nicht zur Hand! Unsere „beliebten Erzähler“ lassen es uns freilich glauben. Die stete Roman-Marschbereitschaft von N. N. und N. N. (nomina sunt odiosa) erfüllt mich weniger mit Bewunderung als mit Entsetzen.

Das Nichtvorhandensein dessen, was ich schreibe, auf dem Lesepult der Anhänger des „ästhetischen Schwulstes“ [IV] ist so banal und wird so methodisch von der Kritik unterstützt, von mancher Seite sogar mit bewußter „Bosheit“ unterstützt, daß selbst wohlwollende Kritiken über den Tadel der oben erwähnten Umrahmung und die üble Wirkung des Ueberspringenmüssens von Gesprächen nicht haben hinauskommen können. Warum denn aber, frage ich, seid Ihr so humorlos? Warum denn nur die paar Maßstäbe der Beurtheilung, die in die Spalten einer unserer Zeitungen passen? Warum denn nur verrathen, daß man erst zwei oder drei Jahre in der Tretmühle der Literatur arbeitet und von der Vergangenheit außer dem Nothwendigsten nichts weiß? Das ist den Neulingen geläufig: Tadel hebt, Lob aber nur unter Umständen. Und das Komische ist, diese Kritiker wollen gebildeten literarischen Ursprungs sein und gleichen doch in ihren Ansprüchen an Spannung, Unterhaltung, Weglassung „alles Ueberflüssigen“, sie wissen es selbst nicht, dem Publikum der Leihbibliotheken. Ich spreche noch nicht einmal von einer Sensationsbedürftigkeit, die jetzt maßgebend geworden ist und die nur aus den Hinterhöfen, aus den Kellern der Aesthetik der Socialdemokratie, im Uebrigen aus der Blasirtheit der Börse stammt.

Die Persönlichkeiten der „Neuen Serapionsbrüder“ sollten mit der Handlung verknüpft sein, lautet ein Ver-[V]dict. Natürlich! Das sage ich auch. Denn - als wäre dem nicht so! Es ist geradezu Unwahrheit, zu bestreiten, daß es nicht geschähe. Aber von sämmtlichen Persönlichkeiten, die an jener Tafelrunde auftauchen, zu verlangen, daß sie in der Handlung eine eingreifende Rolle spielen, das wird keinem Billigdenkenden einfallen. Von den meisten und hervorragendsten Personen geschieht es.

Was das Sujet anlangt, so gebt dem hier geschilderten Raimund Ehlerdt das Zimmer Unter den Linden Nr. 18 und das Arsenal von Schußwaffen, das man dort am 2. Juni dieses Jahres in einem Schrank gefunden hat, so ist es Nobiling, und noch ehe Hödel existirte, stellt ihn Mahlo bei mir dar bis in die Einzelheiten des Castan'schen Panoptikons. Auch Mahlo war Colporteur. Mein Wolny spricht über das Capital Worte, von denen es mir leid thun würde, wenn sie ganz auf den Weg fielen. In gewissem Sinne werden sie es freilich. Bekanntlich kann man in Deutschland tausende von Wahrheiten aussprechen, es „kräht kein Huhn oder Hahn“ darnach, wenn nicht das Wort aus dem Sessionszimmer der Praxis oder allenfalls aus der Studirstube eines ordensbehangenen, wegen der Cumulation seiner Aemter umschmeichelten Gelehrten schallt.

[VI] Wo ist der Lehrstuhl, von welchem aus man z. B. Hörer hat für folgenden Vortrag: Alle Eure Experimente, die socialdemokratische Bewegung aus der Welt zu schaffen, führen zu nichts! Weder die Kirche noch die Schule kann helfen, noch Eure Ausnahmegesetze! Die Kirche kann es nicht, weil die Orthodoxie einfach von Jedermann, der denken kann, abgewiesen wird. Wir behandeln die Kirche mit Pietät, mit Ehrfurcht vor den Männern, die einmal auf die Evangelien angewiesen sind. Aber jene Geister, die man jetzt zähmen, bändigen, aus dem Calibanischen heraus mit der Kunst eines Prospero bilden, umformen will und muß, diese Menschen sind für das Heilmittel „Gottesfurcht“ so ablehnend, wie wenn man einem Vegetarianer Fleisch anbieten würde. Ja, wenn man verstünde und Genie besäße, Religion als große Sittenfrage zu behandeln, als Culturfrage, Genie, ein Profet zu sein, Luther, Spener, Riese im Sprechen, und das Rechte zu treffen. Das Rechte? Dazu gehört: Auch der Unglaube kann Religion werden! In meinen lange nicht genug nach Gebühr gewürdigten, mit Herzblut geschriebenen „Rittern vom Geist“ ist die deutschkatholische Luise Eisold eine solche Profetin, die für Millionen Arbeiter die richtige Religion predigen und keine Nobilings und Hödels erzeugen würde.

[VII] Gervinus hat in seiner Schrift über die Deutschkatholiken Aehnliches geschrieben. Wenn die evangelische Kirche (mutatis mutandis) auf dem Standpunkte der „Stunden der Andacht“ stehen könnte und wie der katholische Klerus schon von den Präparandenanstalten an für künftige Kanzelberedsamkeit sorgte, feurige Sprecher, muthige Erwecker heranbildete, so würden sich schon die Kirchen füllen, die Herzen heben, die sittlichen Rückschläge auf das Familienleben in den Tabellen der Criminalstatistik und Politik zeigen. Aber - lahm, lahm, lahm geht Alles - der Genius fehlt, Schwung, Talent - im achtzehnten Jahrhundert war es besser! Jetzt hat man nur Dünkel, Bewußtsein der Würde, Streben nach Genuß, Auszeichnung!

Die Schule soll wirken! Du lieber Himmel! Die deutsche Schule, sie taugt ja selbst nichts. Sie ist die wahre Pflanzstätte des Dünkels, der Blähsucht, der Gemüthsleere, des Pietätsmangels. Nehme man doch die meisten modernen Lehrer. Wo ist denn da ein Funke von Demuth? Alles wissen ja die Herren. Alles können sie. Die Schullehrer haben Königgrätz gewonnen, Wörth und Sedan. Was kann aus der Schule Anderes kommen, als Prahlsucht? Unser grassirender Streberdrang? Stetes Drängeln? Unsere ganze wissenschaftliche Gegenwart sogar auf den Universitäten ist Drängeln.

[VIII] Die Socialdemokratie, wie Lasker nach seiner Meininger Rede will, „ihre Ziele lassen“ und nur die Methode rectificiren, wie sich diese zum bestehenden Staate stellt, das heißt dem Advocatengeist und dem Juristentag die Oberhand lassen in unserem Jahrhundert und uns immer tiefer ins Verderben stürzen. Der Trieb, gerecht zu sein, ist zur Laxheit geworden. Ein Zugeständniß, ein Compromiß nach dem andern ist erfolgt. Das Grauenhafteste ist die Basis, auf welcher man jetzt steht, das allgemeine directe Stimmrecht. Durch einen Irrthum scheint es in die Welt gekommen, ein Mißverständniß, vielleicht einen Macchiavellismus. Andere Blüthenträume hatten die Staatsmänner, die einen Humboldt neben einem Droschkenkutscher mit gleicher Wirkung abstimmen ließen und die Masse souverän machten, vielleicht in Fernsicht! Sie dachten sich nicht, daß es bis zu Kugeln und Rehposten unter den Linden kommen würde. Auch die stabilen „Begnadigungen“ der scheußlichsten Raubmörder dachten nicht an künftige Rehposten.

Furchtbarere Schilderungen der sittlichen Verwahrlosung des Volkes, als es bereits giebt, vermag ich nicht zu entwerfen. Sie finden sich in hundert Büchern, Broschüren, Zeitschriften.

Zur Heilung des Uebels möchte ich nur die Vorstellung vom Socialdemokraten in natura, seine In-[IX]dividualität, sein Abbild vorführen. Nicht wie es in einer Schmoller-Held'schen Broschüre lebt, sondern so, wie sich die Phantasie des Gesetzgebers in unser entartetes Volksleben und dessen Ursachen hineinversetzen muß. Um ein paar Schwärmer, die Ferdinand Lassalle in den Sechsziger-Jahren um sein großes Rednertalent versammelt hatte, handelt es sich ja nicht mehr. Das uns gewährte allgemeine Stimmrecht, dies abscheuliche Danaergeschenk, bildet den Anfang der Bildung von „Arbeiterbataillonen“, die noch nicht ganz uniformirt sind, aber sich doch einander ähnlich sehen.

Der Socialdemokrat, den ich um sechs Uhr Feierabend machen sehe, Sonnabends schon um 4 Uhr, der dann rasch an die schon im Putz harrende Gattin den Wochenlohn abliefert, sich wäscht, Toilette macht, etwas soupirt und von 20 Theatern sich dasjenige aussucht, wo ihm das Bier aus der besten Quelle zu fließen scheint; derselbe, der oft mit Kind und Kegel bis lange nach Anbruch der Nacht in diesen Musentempeln mit offener Luft, qualmenden Gasröhren, Bratenfettgestank aushält und der in der Regel taumelnd, mit Verwünschungen auf Gott und die Welt, manchmal mit jenen „Majestäts-Beleidigungen“, die jetzt mit so drakonischer Strenge gestraft werden, nach Hause wankt, das ist der eigentliche Caliban (Abends seht ihr ihn in dem Gewühl der [X] Oranienstraße in Berlin, aus allen Sommergärten, Tingeltangeln, Volkstheatern, Schanklokalen treten), von welchem Lassalle nicht Montags seine 6 Pfennige sammeln konnte zu einem anständigen Vereinszweck, der aber in die Büchse des „Alligators“ (Agitators) wirft, wenn die Stimmung da ist, alles zu verrungeniren, Commune, Internationale, was weiß ich, zu machen. Es ist das „Stimmvieh“ in natura. Den ersten Anschlag mit den 6 Pfennigen hatte der Bürgermeister Ziegler gemacht, ein edler Schwärmer, geschäftlicher Volksbeglücker. 200,000 Arbeiter, die zahlungsfähig angenommen wurden, brachten den plötzlich so liebevoll betrachteten Beobachtungsobjecten auf diese Art aus ganz Deutschland 100,000 Thaler heraus. Lassalle betrog sich in diesen Voraussetzungen eines socialistischen Dilettanten, wie in so vielem. Er hatte ein Heer von Schmeichlern um sich und in Wahrheit nur Deficit. Letzteres war so enorm, daß es zur Tragik werden durfte. Aber die nach ihm gekommenen Führer brachten den Calcul etwas höher und allmählich entstanden aus den Strikes die verschiedenen Gewerkvereine, so daß der allgemeine Verein des großen Lassalle zuletzt ganz aufhörte. Ob Verein oder nicht, sechs Pfennige oder nicht, der Geist, der das Gewühl dieser Menschen verbindet, ist derselbe. Das [XI] Stimmrecht (Alexander von Humboldt wählend mit gleichem Ausschlag wie der Droschkenkutscher) und die allgemeine Theaterfreiheit (Entrée 30 Pf.) haben das Bewußtsein des Mannes und aequal das der Frau gesteigert. In die Familie des Arbeiters ist die Vergnügungssucht gedrungen. Sie ist die Zerstörung des ans Haus gebundenen Sinnes, die Verbreitung frivoler Anschauungen geworden. Wen klage ich noch an? Die Toleranz unserer Theatercensur, die gegen Männer von Geist und Charakter ablehnend sein kann, aber in den Punkten, die für die Volksbildung maßgebend sind, eine arkadische Nachsicht hat. - „Madamken, wat bilden Sie sich ein! Ick soll das Holz vom Boden holen? Kohlen aus dem Keller tragen? Ha, das fehlte noch!“ Das ist die Sprache der Sphäre, wo der Witz unserer Possendichter die Lacher auf seine Seite zu ziehen sucht. Die Köchin, das Stubenmädchen, der Hausknecht bilden sich darnach. Wer schreibt überhaupt für diese Bühnen? Schauspieler, denen die Stimme ausgegangen ist, um noch ein Engagement zu finden, witzlose Mitläufer am Theaterwesen, Plagiatoren am ersten besten alten Stücke, das mit neuen Lumpen behangen wird, ohne daß irgend eine Kritik die Quelle aufdeckt, eine Anzahl Unberufener, die mit Hilfe von Agenturen die Stücke „anzubringen“ und den Blödsinn [XII] permanent zu machen verstehen. Schlägerei, Hinauswerfen, Auftrumpfen, Krakehl innerhalb der Familie, in Hosen gehende junge Mädchen, die sich jeden Ausbruch des Uebermuths erlauben dürfen, das sind die gewöhnlichen Motive dieser Arbeiten, welche jetzt die Schule des Volkes bilden. Im "„Couplet“ wird der souveräne Verstand des Komikers, des Hausknechts, der Köchin, der Probirmamsell, der „leichten Person“, des Barbiers, einmal sentimental, im Uebrigen Richter über Alles, was in der Welt gerade zur Sprache kommt, über Türken, Russen, Bismarck, Windhorst u. s. w. wie in den Witzblättern. Alles ist Schein! Alles ist Lüge! lauten die Refrains. „Da ist ein Minister mit blinkendem Stern, der hätte den Stern auch im Hause so gern. Die Ministerin aber liebt Oper, Concert, der Musiklehrer ist ihrem Herzen so werth.“ Das sind die Leistungen der Presse aus der Mühler-Zeit! Der Komiker ist der Erzieher des Volks geworden. Die Reife des Urtheils nimmt man aus dem Munde der Nähterin, des Barbiers im Theater. Ich bin gewiß für Theaterfreiheit, aber nur für Freiheit im geschlossenen Raum, bei einem dermaßen normirten Preise, daß sich der Begriff des ersten Ranges und des Fünfgroschenplatzes durchaus unterscheide.

Das dritte sind die Witzblätter, die ich mich zu [XIII] charakterisiren scheue, weil ich einige Bekannte und Freunde unter den Redacteuren derselben habe. Ich will mich nur darauf beschränken, auf den Londoner „Punch“ aufmerksam zu machen. Eine große Nation, wie die englische, faßt den Humor in der Journalistik anders auf, als die deutsche. Der „Punch“ giebt in jeder Nummer ein großes, dem Weltpanorama entnommenes satyrisches Bild, ob es nun England und den britischen Leoparden oder das Sternenbanner der Vereinigten Staaten, Disraeli und Isabella von Spanien berührt. Der übrige Inhalt des Blattes kommt den Münchener „Fliegenden Blättern“ gleich. Es sind harmlose Illustrationen des letzten Wettrennens, einer mißlungenen eingeregneten Wasserpartie, eines ersten ländlichen Versuches junger Damen, auf Mauleseln zu reiten; es sind die Illustrationen von Jahrmarktsmerkwürdigkeiten, die gerade besprochen werden, einer neuen Erfindung, eines Vorfalls in einem Aquarium, einem zoologischen Garten. Eine entlaufene Schlange besucht in seiner Studierstube einen Gelehrten, der über Schlangen schreibt. Wird man über das Stutzen desselben nicht lachen? Was aber bei uns? Eine fortwährende hämische Sucht auf Persönlichkeiten! Ein ewiges Karrikiren und Nörgeln an den Parteigegnern! Erzieht das ein Volk? Ungroßmüthiger Mißbrauch der Presse [XIV] und des Zeichenstifts, ist das eine Schule des Edelmuthes? Eine parlamentarische Niederlage, die Verstimmung einer Minorität gehört der Debatte an, aber nicht der Satyre. Die methodische Erziehung des Volkes zum Gemeinen, Unedlen, Pietätlosen liegt hier auf der Hand. Ist die beständige Karrikirung der Priester, Windhorst's und anderer Persönlichkeiten nicht eine wahre Gemeinheit? Und der fortwährende Triumph anderer Personen nicht die erbärmlichste Anleitung zur hündischen Schmeichelei und Gesinnungslosigkeit? Alle Sprungfedern der sittlichen Haltung eines Volkes sind bei uns losgelassen, wie bei einem Divan, der reparirt werden soll. Alles zittert ohne Halt in der Luft.

An diese Quellen geht! Diese verstopft! Denn aus ihnen geht die Schundgesinnung hervor, deren Culmination das eherne Lohngesetz, die Theilung der Rente, die productive Genossenschaft, die Verdonnerung des Capitals, der Schuß Hödels, die Frivolität Nobilings entsprungen sind! Auch die Debatte über die „Arbeit“ auf den Kathedern muß von den Regierungen ohne Weiteres abgesetzt werden.

Ernest Renan hat den verrückt gewordenen Geist der Commune, der „Anarchisten“ (die nur Städte, keinen Staat wollten) in einem allegorischen Drama, „Caliban“ [XV] genannt, schildern wollen. Der erste Caliban, der in Shakespeare's „Sturm“ vorkommt, hat, wie Paul Lindau richtig bemerkt, nicht die mindeste Spur einer Bezüglichkeit auf eine andere Verwilderung, als die sich seit Terenz und Plautus bei den Dienenden gefunden hat. Im Gehorchen ist der Hausknecht träge. Die Entdeckung der Bermudasinseln regte in London die Neugier und Phantasie an und bevölkerte jene Inseln mit allerlei Humbug, den dann Shakespeare im Interesse der wahrscheinlich sehr geschmacklosen Maschinerieen von Inigo Jones noch überbot. Das Curiosum, daß jener Schauspieler, der wahrscheinlich den Polonius gespielt hat, auch den im „Sturm“ vorkommenden hochweisen Rathgeber Gonzalo spielte und bei den Unterhaltungen den auf ein Abbild der Bermudasinseln verschlagenen vornehmen Herrschaften die vollständige Lehre der Communisten predigt, diese humorvolle Scene war wohl auf die Atlantis des Thomas Morus gemünzt. Sie ruft mir vollständig die Worte zurück, die ich auf einer Delegirtenversammlung in Berlin einen Redner aus Kassel habe vortragen hören. „Wer untersteht sich zu sagen: Mir gehört das Feld? Mir gehört der Wald? Gott hat Alles für Alle wachsen lassen! Wozu das Erbrecht? Darf Einer Millionen erben, die er nicht selbst erworben hat?“ Schutzmänner standen dabei [XVI] und ließen ruhig den verrückten Sprecher die Tragweite seiner Stimme zeigen, gerade, als wenn er Griechisch spräche. Wenn das Eure Kurmethode ist! Die Duldung war wie von oben bestellt.

Sei mein Werk Wohlwollenden empfohlen.

Sachsenhausen bei Frankfurt, im August 1878.

4.3. Entstehungsgeschichte#

Gutzkow begann mit der Niederschrift seines letzten Romans, nachdem er im Oktober 1875 mit seiner Familie nach Heidelberg gezogen war. Motiv für die umfangreiche Arbeit an einem dreibändigen Roman war seine prekäre finanzielle Situation, die er in einem Brief an Johannes Nordmann vom 19. April 1876 schildert: Er müsse die Existenzsumme für ein ganzes Jahr verdienen, sich deshalb ganz auf den Roman konzentrieren und könne sich nicht mit journalistischen Arbeiten verzetteln (4.1.3.). Ausschließlich finanzielle Gründe nennt er auch in seinem Brief an Clara Mosson vom 15. Juni 1876 (4.1.4.), und seinem Verleger Costenoble kündigt er den Roman mit dem Hinweis an, er sei zunächst für eine gutzahlende Zeitung bestimmt (4.1.2.).

Aus einem Brief an seinen Kopisten Christoph Wiese vom 24. Februar 1876 geht hervor, dass er für den Roman einen älteren Text benutzte und überarbeitete (4.1.1.). Es handelt sich dabei um ein Theaterstück über die sozialen Verhältnisse in der Gründerzeit mit dem Titel Verletzte Rechte der Natur, das Gutzkow 1872 verfasst hatte. Das Manuskript ließ er damals von Wiese kopieren und an Franz Dingelstedt, den Direktor des Wiener Burgtheaters, mit dem Hinweis schicken, es könne nur anonym aufgeführt werden (vgl. BrDing1, S. 99). Dingelstedt lehnte ab (vgl. BrDing1, S. 100-101). Das Theaterstück von 1872 ist verloren gegangen, aber in einem Brief Gutzkows vom 6. Juli 1876 an Otto von Leixner, der seit 1874 in der Redaktion von Lindaus „Gegenwart“ in Berlin tätig war, findet sich ein Hinweis auf die ‚Überarbeitung‘. Gutzkow erklärt dort, er arbeite bei seinem Roman fast wie ein Dramatiker, nämlich vom 5ten Akte rückwärts, und: Da muß ein Motiv verändert, eine Person schon früher eingeführt, die Spannung des Lesers auf ein Kommendes eingeleitet werden (4.1.6.). Offenbar hat Gutzkow bei der Niederschrift des Romans immer wieder auf das alte Stück zurückgegriffen. Das erklärt auch, warum er Wiese in seinem ersten Brief mitteilte, er müsse erst mit der Überarbeitung fertig werden, bevor jener mit dem Kopieren beginnen könne.

Die erste Fassung des Romans, an der Gutzkow bis in den November hinein schrieb, war für das „Berliner Tageblatt“ bestimmt. Sie erschien dort in laufenden Fortsetzungen vom 19. Oktober 1876 bis zum 13. Januar 1877 (Rasch 3.76.10.19). Die Suche nach einer gutzahlenden Zeitung hatte sich erledigt, weil der Verleger des „Berliner Tageblatts“ Rudolf Mosse durch seinen Feuilletonredakteur Oscar Blumenthal das dringende Interesse an Gutzkows neuem Roman bekundete. In einem Brief vom 6. August 1876 versicherte ihm Blumenthal, dass die Veröffentlichung im „Tageblatt“ unmittelbar nach dem Abschluss von Spielhagens „Sturmflut“ im Oktober beginnen könne, stellte ein „pekuniär vortheilhaftes“ Angebot in Aussicht und versprach Vorschläge für eine „möglichst gewinnreiche Verwerthung des Manuscripts“ (4.1.10.). Schon am 11. August bedankte sich Blumenthal für die Bereitschaft Gutzkows, dem „Tageblatt“ die "Serapionsbrüder“ zu überlassen und bat darum, ihm die „Honorarbedingungen“ mitzuteilen. Offensichtlich beunruhigt durch die von Gutzkow erwähnte Ähnlichkeit seines Romans mit Spielhagens „Sturmflut“ erwog Blumenthal, zwischen die beiden Romane eine kürzere Novelle einzuschieben (4.1.11.). Dazu ist es aber nicht gekommen, da der Abdruck der „Sturmflut“ im „Tageblatt“ sich länger als geplant hinzog. Nicht weiter verfolgt wurde auch der Vorschlag Blumenthals, dem Verlag der „Monatshefte“ die Buchveröffentlichung zu überlassen. Otto Blumenthal war Herausgeber der Zeitschrift „Neue Monatshefte für Dichtkunst und Kritik“ (1875-1877), deren 2. Jahrgang 1876 bei Günther in Leipzig erschien.

Die Modalitäten der Vertragsgestaltung wurden bei einem Besuch Blumenthals in Heidelberg besprochen, den Gutzkow in einem Brief an Klara Mosson vom 21. August erwähnt (4.1.12.) und auf den sich auch Blumenthal selbst am 26. August in einem Schreiben bezieht, mit dem er Gutzkow die Verträge zur Unterschrift übersandte. Blumenthal bestätigt darin das vereinbarte „Honorar von 4000 Thalern“ und bittet um Zustimmung zu einer Klausel, nach der Mosse das Recht erhält, neuen Abonnenten die ersten fünfzehn Fortsetzungen nachzuliefern. Dagegen hatte Gutzkow offenbar keine Einwände, denn er weist Klara Mosson am 27. Oktober darauf hin, dass sie auf diese Weise die ihr eventuell entgangenen Fortsetzungen erhalten könne (4.1.37.).

Gutzkow hatte mit dem Verleger des „Tageblatts“ Rudolf Mosse ein Abkommen getroffen, wonach weitere Zeitungen für den Vorabdruck gewonnen werden sollten (4.1.15.). Darauf bezieht sich Blumenthal mit der Ankündigung, dass die „Briefe an die deutschen Blätter unmittelbar nach dem Empfang Ihres Contraktes vom Stapel gehen“ sollten (4.1.14.). Bis zum 6. September lag allerdings nur eine Zusage der Breslauer „Schlesischen Presse“ vor (4.1.18.), die von Salo Schottlaender verlegt wurde. Am 28. August richtete Gutzkow deshalb an seinen alten Freund Carl Theodor Fasoldt die Bitte, sich für einen Abdruck in der „Dresdner Zeitung“ einzusetzen (4.1.15.). Der Roman erschien dann etwa zeitgleich in allen drei Zeitungen (vgl. Rasch 3.76.10.19). Am 1. September berichtete Gutzkow in einem Brief an Wiese, dass er das Buch an Mosse verkauft habe (4.1.16.).

In ständigem Austausch mit seinem Kopisten arbeitete Gutzkow kontinuierlich bis in den Herbst an seinem Manuskript. Schon in dem Brief an Nordmann vom 19. April 1876 hatte er erwähnt, dass der Roman bis Oktober abgeschlossen sein müsse (4.1.3.). Am 30. Juni teilte er Otto Leixner mit, dass sein Manuskript zu 2/3 schon fertig sei (4.1.5.). Es kann sich dabei aber nur um eine Rohfassung gehandelt haben. Dafür spricht auch eine Bemerkung gegenüber Clara Mosson vom 12. Juli, wonach ihn erst zwei Situationen selbst [...] befriedigt hätten, und er äußert die Befürchtung, alles in den Ofen werfen zu müssen (4.1.7.). Die Korrespondenz mit Wiese belegt auch, dass laufend neue Manuskripte kopiert wurden, die vor allem zum zweiten und dritten Band gehörten. Tatsächlich gelang es ihm nicht, den Oktober-Termin einzuhalten, zumal die Produktion durch Textrevisionen immer wieder unterbrochen wurde. Im August entschied er sich, drei Bogen des zweiten Bandes in den ersten zu übernehmen, wodurch eine erneute Korrektur nötig wurde (4.1.16.). Der zweite Band erwies sich danach als zu kurz; Gutzkow erweiterte ihn um eine Scene (4.1.24.). Kurz vor Beginn des Abdruckes im „Tageblatt“ erhielt Wiese am 17. September den Auftrag, die ersten vier Bogen des ersten Bandes nochmals zu kopieren (4.1.22.). Am 24. Oktober teilte Gutzkow Wiese mit, dass er die Revision des zweiten Bandes abgeschlossen und die des dritten Bandes begonnen habe, dessen fünftes Kapitel er ihm zur Korrektur beilegte (4.1.36.). Am 28. Oktober bestätigte er den Erhalt der Korrekturfassung, äußerte aber zugleich die Absicht, die beiden ersten Bände nochmals zu bearbeiten: Ich muß alles leidenschaftlicher, packender machen. Sonst verspiele ich. Sichtlich aufgeregt teilte er Wiese mit, er solle die neue Fassung verbessern [...] wie Sie wollen, nur daß allmälig ein neuer stärkerer Text gewonnen wird. (4.1.38.). Gemeint ist wohl die Aufteilung der Kapitel auf die beiden Bände mit dem Ziel eines gleichmäßigen Umfangs. Auch im November war der dritte Band für den Vorabdruck in den Zeitungen, der inzwischen begonnen hatte, noch nicht abgeschlossen (4.1.41.).

Gutzkows penible Arbeitsweise bei der Korrektur und Revision des Romantextes ist aus den Briefen an Christoph Wiese ersichtlich. Er beschränkte sich dabei nicht auf die reine Korrektur der Abschriften, sondern stellte einzelne ,Szenen‛ um (4.1.24.), sprang im Manuskript vor und zurück, nahm Änderungen im Text vor und verlangte Modifikationen der Schreibweise (4.1.25.). Selbst in der bewährten Kooperation mit Wiese kam es zu Missverständnissen, weil Wiese sich über Zusammenhänge zwischen den einzelnen ihm übersandten Teiltexten nicht mehr im Klaren war (4.1.30.). Schließlich beschäftigte Gutzkow im Oktober, angesichts der Vielzahl der Änderungen, einen zweiten Kopisten an seinem Wohnort Wieblingen und versuchte anschließend den Zusammenhang mit den bei Wiese vorliegenden Texten zu rekonstruieren (4.1.36.).

Die erhaltenen Briefe an Wiese lassen zwar das Ausmaß der Textrevision erkennen, Details aber können nur in einigen Einzelfällen rekonstruiert werden. Vor allem setzen die vorhandenen Briefe nach der Ankündigung des Romans am 24. Februar erst am 29. Juli wieder ein, als Gutzkow bereits mit dem zweiten und dritten Band beschäftigt war. Über die gemeinsame Arbeit am ersten Band liegen keine Briefzeugnisse vor. Mit dem Brief vom 1. September 1876, in dem Gutzkow mitteilt, dass er drei Bogen des zweiten Bandes in den ersten übernommen habe, entwickelt sich eine engmaschige Korrespondenz. Wie aus einem Brief an Klara Mosson vom 10. September hervorgeht, hatte Gutzkow zu diesem Zeitpunkt damit begonnen, den gesamten Romantext noch einmal zu revidieren (4.1.19.), d. h. er arbeitete nebeneinander an allen drei Büchern. Am 17. September schickte er Wiese eine Neufassung des Romananfangs zum Kopieren, da ihm die alte Fassung nicht schlagkräftig für das Publikum des Berliner Tagblatts erschien, gleichzeitig korrigierte er Wieses Abschrift des zweiten Bandes, der viel zu kurz geraten sei, wie er dem Kopisten zwei Tage später schrieb. Inzwischen waren ihm einige Motive zur Ergänzung des Romananfangs eingefallen, die er in Wieses neue Abschrift eintragen wollte ( 4.1.22.). Schon am 21. September geht diese erweiterte Fassung zur nochmaligen Kopie an Wiese. Zur Verstärkung des zu kurz geratenen zweiten Bandes erhält Wiese den Auftrag, den bisherigen Anfang des dritten Bandes als „Sechstes Kapitel“ in den zweiten zu übernehmen (4.1.25.).

Die im Hinblick auf den bevorstehenden Beginn des Romanabdrucks im „Berliner Tageblatt“ immer hektischer werdende Produktionsweise blieb nicht ohne Pannen. So übersah Wiese beim Kopieren des zweiten Bandes eine später geschriebene besondre Einlage, wodurch der Zusammenhang des Textes verlorenging. Es handelt sich um eine der wenigen Stellen, die sich exakt lokalisieren lassen. Die Szene mit den ,Talglichtern‛ steht, allerdings in völlig veränderter Form, am Ende des fünften Kapitels des zweiten Buches (309,27), in dem Luzius sich seine Schuld gegenüber Holl eingesteht (4.1.30.). Vermutlich handelt es sich nicht um die Korrektur einer älteren Fassung, denn Gutzkow zitiert auch den Anfang des fünften Kapitels im dritten Band nur ungefähr (glaube ich) mit den Worten Trauliche Stille der Familie! u.s.w. (4.1.38.), eine aus der Erinnerung verkürzte Fassung des Wortlauts der Buchfassung, wo es heißt: Beglückte Stimmung der Herzen im traulichen Verein einer nur dem Guten, Schönen, der Sittlichkeit lebenden Familie! (456, 2-4)

Tatsächlich hat Gutzkow auch während der Textrevision der drei Bände nicht nur an der Gliederung des Romans gearbeitet, sondern weiterhin Formulierungen geändert und Ergänzungen eingefügt. In einem Brief an Wiese vom 18. November spricht er von der Nothwendigkeit, meinen zu kurz ausgefallenen Roman auf volle 3 Bände zu bringen, in höchster Aufregung darüber, dss ich noch im 3ten Bande stecke (4.1.41.). Die Manie, ständig auszubessern und umzuschreiben, führte nicht nur zu Irritationen in der Kooperation mit Wiese, der sich manchmal in dem übersandten Material nicht zurechtfand, sondern auch zu sprachlichen Irritationen im Text. Oscar Blumenthal moniert in einem Brief vom 19. Oktober Gutzkows „allzu großen Eifer, in jeden Satz möglichst viel Gedanken- und Pointenmaterial hineinzupacken und hineinzuverbessern“. Nachdem er den Romananfang im „Tageblatt“ veröffentlicht hatte, seien dazu „beschwerdeführende Episteln“ aus der Leserschaft eingegangen. Anhand einer besonders verschachtelten Stelle am Anfang des Romans beklagt er, „daß durch Ihre an sich so ehrenwerte Akribie und Unermüdlichkeit in der Ausfeilung und Verbesserung des Romans der klare Fluß der Rede und der schlanke Wuchs der Perioden hier und da recht empfindlich gelitten hat“ (4.1.34.). Gutzkow hat die Passage in der Buchfassung (4,12-18) in der Tat entzerrt. Ein weiteres Mal änderte er eine Stelle für den Buchdruck, nachdem sich die Wiener Schriftstellerin Ada Christen am 11. November 1876 (4.1.39.), schockiert über die Erwähnung ihres Namens in der Zeitschriftenfassung, bei ihm beklagte. Sie nahm nicht so sehr Anstoß daran, dass Gutzkows Roman sie als Heine-Epigonin darstellte, sondern dass der Buchdruck der Neuen Serapionsbrüder ihr literarisches Andenken im Zusammenhang mit dem Hamburger Berg, dem Vergnügungs- und Prostituiertenviertel der Hafenstadt, verewigen würde. Aus dem verrufenen Ort machte Gutzkow, wie er der Schriftstellerkollegin am 16. Januar 1877 mitteilte (4.1.45.), im Buchdruck den zahmeren Hörselberg (124,19-20 und → Erl. zu 124,19-20). Dass Gutzkow, der Verletzungen dieser Art in der Schriftstellerzunft nur allzu gut kannte, durch Christens Brief berührt war, lässt sich nicht nur aus seiner Erfüllung ihrer Bitte ersehen, sondern möglicherweise auch daraus, dass er ihren Ausdruck „Herzeleid“ wohl gleich nach Erhalt ihres Briefes in seiner eigenen Korrespondenz mit Schottlaender verwendet (4.1.40.): Obschon sich mir soviel Schmerz u Herzleid an die Veröffentlichung meines Romans knüpfen [...].

Die Publikation der Neuen Serapionsbrüder in der Presse brachte Gutzkow tatsächlich Leid. Blumenthal weist in seinem bereits erwähnten Brief jedoch den Vorwurf zurück, durch den vorzeitigen Beginn der Veröffentlichung in der "Schlesischen Presse" sei der Roman "ruinirt" worden. Tatsächlich führte die Zusammenarbeit mit Mosses Berliner Verlag und Schottlaenders Breslauer Verlag schnell zu Spannungen, nachdem es dem Autor gelungen war, die Veröffentlichung des Romans bei Schottlaender gegen Costenobles Einwände durchzusetzen. Gutzkow war mit Costenoble, in dessen Verlag zuletzt seine „Gesammelten Werke“ von 1873 bis 1875 erschienen waren (Rasch 1.5.), durch einen Vertrag verbunden, der jenem ein Vorkaufsrecht auf alle seine künftigen Bücher einräumte. Im Fall der Neuen Serapionsbrüder hätten sich daraus Probleme vor allem für den Vorabdruck in den Zeitungen ergeben. Sein Freund Max Kurnick schlug ihm deshalb Salo Schottlaender vor, der auch Verleger der „Schlesischen Presse“ in Breslau war. In einem Brief an Kurnick vom 15. September 1876 zeigte sich Gutzkow geneigt, für den neuen Roman mit Schottlaender einen jungen unternehmungslustigen Verleger zu gewinnen. Allerdings kündigte er an, die Verlagssuche angesichts seiner Arbeitsbelastung vorerst zurückzustellen (4.1.21.). Schon am 24. September aber bot er Schottlaender den Roman gegen ein Honorar von 2000 Talern bei einer Auflage von 3000 Exemplaren an, unter der Voraussetzung, dass es ihm gelinge, Costenoble von seinem Vorkaufsrecht abzubringen (4.1.26.). Nachdem Costenoble auf ein entsprechendes Schreiben vom 30. September hinhaltend reagiert hatte, fuhr Gutzkow in Briefen vom 6. und 12. Oktober (4.1.31. und 4.1.32.) schwereres Geschütz auf und erhob Vorwürfe, die zum Abbruch der Verhandlungen führen mussten.

Das Verhältnis zu Schottlaender blieb aber nicht lange ungetrübt. Bereits am 6. Oktober beantwortete Gutzkow einen Brief Schottlaenders, der sich offenbar über die Höhe der Honorarforderung beklagt hatte, mit dem Vorschlag, die Auflage auf 2000 Exemplare und das Honorar auf 1500 Taler zu reduzieren. Als Alternative schlug er vor, bei seinem ersten Angebot zu bleiben und dafür auf ein neues Honorar für die zweite Auflage zu verzichten, eine Regelung, nach der schließlich auch verfahren wurde. In einem zusätzlichen Kontrakt verlangte Gutzkow die Begrenzung des Eigentumsrechtes für den Verlag auf fünf Jahre und neue Vereinbarungen für eine weitere Auflage. Ausdrücklich sollte im Kontrakt fixiert werden, dass Gutzkow auch die letzte Revision der Druckbogen zur Durchsicht erhalten sollte (4.1.29.). Das Procedere der Korrektur zwischen Autor und Verlag gab denn auch bald Anlass zu Verstimmungen (4.1.37.). Grundsätzlich war Gutzkow an einen zügigen Austausch der Korrekturen gewöhnt, da Wiese, wie die meist rasch aufeinander folgenden Briefe belegen, ebenso konzentriert an seinen Kopien arbeitete wie sein Autor an der Niederschrift des Textes.

Bei der Kooperation zwischen dem Autor und den Verlagen in Berlin und Breslau geriet dieser Austausch sofort ins Stocken. Gutzkow arbeitete seit Oktober 1876 an der Revision des dritten Bandes für den Vorabdruck in den Zeitungen, zugleich korrigierte er die Druckfahnen des „Tageblatts“ für die Buchausgabe (4.1.40.). Die ersten Probleme ergaben sich aus der Kooperation mit und zwischen den beteiligten Zeitungen. Weil der Vorabdruck von Spielhagens „Sturmflut“ im „Berliner Tageblatt“ nicht rechtzeitig abgeschlossen war, verzögerte sich das Erscheinen der Neuen Serapionsbrüder in dieser Zeitung. Gutzkows Empörung über dieses Wettrennen mit Spielhagen (4.1.33.) wurde noch gesteigert, weil Mosse und Blumenthal dadurch der „Schlesischen Presse“ den Vortritt beim Abdruck des Romans ließen. Zudem hatte Mosse der „Schlesischen Presse“ unkorrigierte Druckfahnen geschickt, so dass die dortigen Fortsetzungen ohne Textrevision des Autors veröffentlicht wurden. Gutzkow, der inzwischen mit der Korrektur der Berliner Druckfahnen für die Buchausgabe beschäftigt war, versuchte über seinen Verleger Schottlaender zu intervenieren (4.1.40.), blieb aber ohne Erfolg. Am 23. November sandte Gutzkow die bisher erschienenen und von ihm korrigierten Lieferungen des „Berliner Tageblatts“ an Schottlaender als Druckvorlage für die Buchausgabe und bekräftigte ausdrücklich seine Forderung, die neuen Bogen zur abschließenden Korrektur zu erhalten. Besonderen Wert legte er darauf, die Bände möglichst rasch nach dem Abschluss des Zeitungsdrucks folgen zu lassen, wobei er Schottlaender den beispielhaften Umgang des Verlegers Stackmann mit Spielhagens „Sturmflut“ vor Augen führte (4.1.42.).

Umso größer war seine Erbitterung darüber, dass Schottlaender ohne Absprache mit ihm beschloss, die drei Bände nicht geschlossen erscheinen zu lassen, sondern in monatlichen Abständen von Januar bis März 1877 (4.1.43.). In einem Brief an Max Kurnick vom 12.(?)Januar 1877 beklagt er sich bitter darüber, dass er sich auf dessen Rat hin mit Schottlaender eingelassen habe, der seine Argumente mit dem Vorwurf beantwortet habe, „ich verstünde den Buchhandel nicht“ und ohne Antwort verreist sei. Von den Korrekturen des zweiten Bandes habe er noch nicht eine Zeile erhalten (4.1.44.).

Gleichwohl einigte sich Gutzkow, der im Oktober 1877 von Heidelberg nach Sachsenhausen umgezogen war, im Winter 1877/78 mit Schottlaender darauf, eine zweite Auflage des Romans zu veranstalten (4.1.46.). Allerdings entwickelte sich aus dem Vorhaben ein neuer Konflikt. Schottlaender hatte den ersten Band des Romans in einer Erstauflage von 5000 Exemplaren drucken lassen und eine entsprechend hohe Restauflage im Lager. Gutzkow rügte dies als unprofessionelles Verhalten, durch das er sowohl wirtschaftlich als auch in seinem Ruf als Autor beschädigt worden sei: Warum mußte ich Unglücklicher das Opfer Ihrer ersten Verlegerfantasien werden, die Sie bestimmten, mir zu sagen: Ich verstünde nichts vom Buchhandel?! Er wies seinen Verleger auf die bewährte Praxis hin, die erste Auflage niedriger zu kalkulieren, so dass die zweite dem Buche neuen Schwung, dem Autor Ehre einbringt (4.1.47.). Am 25. Februar 1878 wehrte sich Gutzkow gegen das Ansinnen, eine Titelauflage unter Verwendung der Restauflage des ersten Bandes zu drucken: Müssen Sie Band 2 und 3 neu drucken, so können Sie auch Band 1. makuliren, Band 1. neudrucken. Schließlich sei auch der Erwerb von 3000 Bänden Makulatur einzukalkulieren (4.1.48.).

Schon in dem 1876 geschlossenen Vertrag war vereinbart worden, dass für eine zweite Auflage ein neuer Kontrakt zu schließen sei. Wie damals ausgehandelt, sah der neue Vertrag vor, dass Gutzkow für die zweite Auflage kein Honorar zu beanspruchen hatte, sondern nur die Gewinnbeteiligung aus dem Verkauf, wofür Gutzkow statt der von Schottlaender angebotenen 1 Mark 50 auf 2 Mark pro Exemplar bestand (4.1.48.). Offenbar hatte Schottlaender auf eine Neubearbeitung gedrängt, denn Gutzkow bot ihm stattdessen am 18. Juni seine Vorrede zur zweiten Auflage an, die jene Auffrischung ersetzt, die Sie so gern gehabt hätten (4.1.51.). Am 27. Juli erhielt er die Druckfahnen der Vorrede: Leider wimmelt sie von Druckfehlern (4.1.52.). Gutzkow schickte sie am 15. August an Wiese zur Abschrift (4.1.53.).

Seit Spätsommer 1878 arbeitete Gutzkow neben den letzten Korrekturen an der 2. Auflage der Neuen Serapionsbrüder vordringlich an der Korrektur der neuen Auflage der Ritter vom Geiste, der Erzählung Offiziers-Ehre (4.1.54.) und an der Neufassung des Romans Hohenschwangau, dessen Rechte von Brockhaus zurückgekauft werden mussten. Sie blieb unvollendet, wurde von einem Verlagsmitarbeiter zu Ende geführt und erschien 1880 unter dem Titel Die Paumgärtner von Hohenschwangau bei Schottlaender (Rasch 2.37a). Gutzkow starb am 16. Dezember 1878 in Sachsenhausen. Kurz zuvor war im November die zweite Auflage der Neuen Serapionsbrüder erschienen, vordatiert auf das Jahr 1879.

5. Rezeption#

5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.1.1. Gutzkow an Klara Mosson, 23. Dezember 1876#

Gutzkow an Klara Mosson, Heidelberg, 23. Dezember 1876. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 76,353 (maschA).

Aber das will ich doch nicht verschweigen: Die Art u Weise, wie Sie mein neues Werk, die Frucht meiner trüben Krankheitsstunden, aufgenommen haben, hat mich tief verletzt! So spricht man nicht mit dichterischen Schöpfern, wie Sie gethan! Hätten Sie einfach geschrieben: Ich will es doch lieber als Buch lesen! es würde mir so natürlich erschienen sein! Aber Ihr drittes Kapitel u dann 6 Wochen Schweigen - das sagt: Meine Sphäre ist, was in Berlin grade Mode ist, bei Ebers, Richter u wo sonst besprochen wird - den Gutzkow kaufe ich, lasse ihn einbinden u stelle ihn in meine Bibliothek! Er kann in meiner Sphäre nicht en vogue kommen u mir fehlt die Courage, ihn en vogue zu bringen!

5.1.2. Gutzkow an Eugen Zabel, 6. Januar 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 6. Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,6 (H, maschA).

Der erste Band kommt dieser Tage, der 3te, wie es den Anschein hat, Ende März. Da ist Ihre so dankenswerthe Bereitwilligkeit, den Vorsprung an so wichtiger, maaßgebender Stelle zu behaupten, nur durchzuführen, wenn Ihnen gestattet wird, successive die einzelnen Bände zu besprechen. [...] Nur das wollte ich schon jetzt sagen, dß mich der Ekel an aller Romanschriftstellerei, die Concurrenz mit all den großen Meistern u Meisterinnen, die sich um Janke, Hallberger u in allen Feuilletons drängen, bestimmte, mir eine mich selbst unterhaltende Form zu wählen, den Rahmen der kleinen Tafelrunde alten Styls von Tieck u Hoffmann hergenommen. Auch das Sensationsgetreibe ist mir schrecklich. Spannung u immer Spannung - wo bleibt da Natur u Wahrheit?

5.1.3. Gutzkow an Eugen Zabel, 9. Januar 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 9. Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,9 (H, maschA).

Mein lieber theurer Freund, ich schicke Ihnen denn also die Aushängebogen vom 1. Bande meines Romans, der, wie schon gesagt, von dem Verleger in einer Weise publicirt wird, die gar nicht nach meinem Geschmack ist. Ich hatte im Contrakt diesen Punkt ganz vergessen u muß es nun büßen. Vernunft reden läßt sich mit dem von Lindaus Bayreuther Briefen ganz berauschten jungen Manne nicht; er reist jetzt wohlgemuth in Italien! Von Band 2. habe ich noch nicht eine Zeile zur Correktur erhalten.

Und doch steigt Interesse u Darstellung erst mit dem 2ten Bande. Der 1ste ist, wie ich schon sagte, ein erster Akt. Mehrere Handlungen werden angesponnen. Noch kommt nichts, außer dem Leben im Wolnyschen Hause, recht zum Ausdruck. Der Charakter der Commerzienräthin Rabe ist gewiß naturwahr, wenn auch herbe, wie so Vieles. Denn ach! Mein Gemüth ist verbittert. Es liest sich alles wie spielend u doch bin ich nie mit solcher Schroffheit u Offenheit aufgetreten. Lesen Sie, was morgen oder übermorgen im Berl. Tageblatt über die sittliche Weltordnung des Herrn Moritz Carrières, eines Schwätzers, zu lesen ist.

Das moderne Gepräge, der Charakter der Aktualität scheint mir dem Ganzen aufgedrückt. Und fast immer such ich die absolute Romanform zu vermeiden. Und warum? Ich sagte es schon neulich, weil sie mich enuyierte. Dennoch wird der Schlußeindruck der eines einfachen Liebesromans sein, nicht allzuweit vom Thema der Wahlverwandtschaften.

Sollten Ihnen Frenzel u Dernburg schon eine Anzeige dieses ersten Bandes gestatten, so würde ich eine große Förderung haben.

5.1.4. Gutzkow an Eugen Zabel, 30. Januar 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 30. Januar 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,30 (H, maschA).

Verehrter Freund, ich schicke Ihnen noch ein paar Aushängebogen von meinem durch die richtig charakterisirte Tollheit meines Verlegers total ruinirten Roman. Sie finden sich vielleicht schwer in die Einfachheit meiner Fabel. Man ist das tobsüchtige Wüthen bei Spielhagen gewohnt, das Anstreifen an die letzte Kammersitzung, diesen fürchterlichen Glauben des Autors an die Wichtigkeit seiner problematischen Erfindung. „Schmidt hatte einst auf den Barrikaden dem General gegenübergestanden u deßhalb einen tödtlichen Haß auf ihn geworfen.“ Welch ein Unsinn! Man macht auch so auf der Barrikade persönliche Bekanntschaften u haßt Menschen, die ihre Pflicht thun müssen! Und darauf geht die Kritik so ein, als wäre das Natur, Abbild der Zeit! Diesem blutigen Ernst suche ich überall aus dem Wege zu gehen, obschon mein spielender Humor nicht ohne ernsten Hintergrund ist. Ich nenne das Spielhagensche Produziren Sichdenkopfabreißen.

5.1.5. Gutzkow an Eugen Zabel, 5. März 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 5. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,65 (H, maschA).

Für Ihre Voranzeige bin ich Ihnen sehr dankbar, obschon sie matt ist u unter der Furcht vor Frenzels Haß auf mich leidet. Auch mögen Sie zu sehr im Schwunge der Spielhagenerei leben, als dß Ihnen diese meine Rückkehr zur alten Tieckschen Einfachheit, Langsamkeit der Fabel, Behaglichkeit der Ausführung gefallen könnte. Ich versichere Sie, was hier Mangel scheint ist Absicht. Ich wollte nichts Auffallendes erfinden. Seitdem L. Habicht u wie sie alle heißen, erfinden u Bewunderung ernten, ist mir der deutsche Roman zum Ekel u ich schrieb nur zu meinem Vergnügen. Wenn mir nicht O. Blumenthal das Manuskript für Mosse sozusagen unter der Hand weggenommen u sich die Kölnische Zeitg. in eine überraschende Concurrenz gestellt hätte, würde ich geglaubt haben, mit dem Buche ganz nur in der Stille zu wirken. [...]

Mein Roman ist kein Zeitroman, verehrter Freund, sondern er greift in meine alte Weise zurück, die ich in meinen Novellen, Selbsttaufe, Wellenbraut usw. gegeben habe u die nur durch die freche Aufdringlichkeit der Auerbachschen Dorfgeschichte u das Treiben der Grenzboten, das von Auerbach dirigirt wurde, nicht zur Anerkennung kam. Mein Roman ist ein Liebesroman im Geiste der Wahlverwandtschaften. Dß dabei moderne Substrate vorkommen, ist durch die Zeit geboten. Ich habe aber alles Temporäre nur spielend u bis zu einer gewissen Grenze behandelt, nicht mit der Energie u dem Einsetzen des ganzen Menschen, wie in den Rittern vom Geist u Zauberer von Rom, für welche Werke ich zwar Anerkennung, aber nach dem erbärmlichen Charakter unserer Nation nicht genug bekommen habe. Die Schullehrer kommen ja über Schiller u Goethe nicht hinaus.

[...] Band 3, sagt der über Sie sehr erzürnte Verleger Schottländer (aber noch mehr über mich - er glaubt, ich hätte Ihnen das „wunderlich“ soufflirt) soll in 14 Tagen erscheinen. Fertig gedruckt ist er.

5.1.6. Gutzkow an Salo Schottlaender, 6. März 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 6. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,66 (hsA).

Zuvörderst muß ich gegen jeden Schein der Annahme protestiren, als wenn die kleine Anzeige in der Nationalz. irgendwie von mir inspirirt wäre! Der junge Mann, ein Königsberger, ist nach Berlin gezogen, schreibt, wie ich höre, für das Neue Berl. Tagblatt und steht unter dem Einfluß der literarischen Potenzen, die in Berlin das große Wort führen.

Da wird dann alles heruntergerissen, was nicht auf Gegenseitigkeit Bürgschaft giebt. Es würde mich sehr freuen, wenn Lindau den zwischen uns jetzt obwaltenden Frieden einhielte und Ihnen die Wirkung dieses Verlagsartikels nicht störte. Ich komme immer wieder auf mein Früheres zurück: Ich habe das Buch gleichsam mit Protest gegen die modernen Roman-Spektakel-Wirthschaft geschrieben, absichtlich einfach, absichtlich antisensationell. Ich wünschte wol, Sie fänden eine Feder, die dieser Absicht einen kritischen Ausdruck gäbe. Der dritte Band wird ja nun wol bald folgen?

Annoncen habe ich noch nirgends als in Ihrer Zeitung gesehen.

5.1.7. Gutzkow an Eugen Zabel, 6. März 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 6. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,66I (H, maschA).

Lieber Freund, das vergaß ich gestern ganz, dß Sie auch Adas Stellung unbegreiflich unterschätzen. Mein größter Feind könnte nicht ungerechter, gleichgültiger, kälter urtheilen. So spricht Frenzel über jede Persönlichkeit, die er nicht selbst erfunden hat oder einer geselligen Rücksicht oder der Gegenseitigkeit zu Liebe anerkennt. Die harmlose Einführung Adas gehört zum Charakter des Anspruchslosen u Natürlichen des ganzen Romans. Sie repräsentirt die gestern bezeichnete Bildungssphäre, die ich die der Generalstöchter nannte. Sie fühlt aber trotz ihrer berlinisch-preußischen Erziehung u Bildung dß sie nicht gut ist. Ein fremder anspruchsloser Mensch, ein Demokrat, passiv u ohne jede romantisirende Demonstration, giebt ihr bei jeder Begegnung diesen elan zur Wahrheit, zum Nachdenken. Zuletzt überwältigt sie dieser magnetische Rapport u wird rasende Liebe. Wer wie Sie sich in meine Schriften zu vertiefen behauptet, muß die Originalität dieses Charakters u den mit ihm der vulgären Frauenbildung empfohlenen Bildungsweg herausfühlen u da denunciren Sie mir diese bis zum Schluß durchgeführte weibliche Hauptperson als die „schwatzhafte Ada“!

[...] Die „Schwätzerei“ Adas hat einen bestimmten Zweck, über den Sie selbst schon durch den Ersten Band des bessern belehrt sein konnten.

5.1.8. Gutzkow an Salo Schottlaender, 13. März 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 13. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,73 (hsA).

Mit Sehnsucht erwarte ich Band III. Mögen Sie richtig profezeien, wenn Sie sagen, der in Aussicht stehende Referent würde auf meine Ideen eingehen.

Die Liste der Blätter, denen Sie Annoncen schicken, nimmt mich Wunder. Sie scheint nach einem besondern Prinzip entworfen, das in der Bevorzugung der kleinen Lokalblätter vor den größern besteht? Einige größere, die ich aufgeschrieben habe, dürfen doch wol nicht umgangen werden.

Österreich finde ich ganz mäßig vertreten. Das neue Wiener Tageblatt und auch andere Blätter.

5.1.9. Gutzkow an Eugen Zabel, 20. März 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 20. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,80 (H, maschA).

Es liegt mir an der Nationalzeitung. Sie ist maßgebend für einen ganzen deutschen Bildungskreis. Frenzel hat mir mit liebloser Tücke mein Hohenschwangau u meinen Fritz Ellrodt ruinirt. Nur die Mittelmäßigkeiten um ihn her ließ er leben. Woher sich der Haß schreibt, nachdem ich ihn doch an die Nationalzeitg., wie an andre Stellen befördert habe, ich weiß es nicht!

Herr Dernburg ist mir immer freundlich gewesen u gewährt mir gewiß die Bitte, eine schöne, ein ganzes Feuilleton füllende, theilweise geistreiche Kritik abzudrucken, die ich besitze u ihm schicken kann, wenn Sie nicht muthig einsetzen u einen mir förderlichen Standpunkt gewinnen können. Grade mit Triumph ist es Julian Schmidt ins Gesicht zu schleudern: Ja, Ottomar Althing ist derselbe Dankmar Wildungen aus den Rittern vom Geist, derselbe Benno Asselyn aus dem Zauberer, „Gutzkows Lieblingsfigur“ wie es irgendwo heißt. Aber mein Rezensent, (ein Freund, der die Arbeit geschrieben) sagt: Alle diese Gutzkowschen Helden kämpften bei Sedan u sitzen jetzt in den Gerichten - strebsame Naturen - Ausbauer des Reiches. Dieser nichtswürdige Mensch Julian Schmidt, der die Phrase (von Auerbach ihm inspirirt) aufbrachte: Meine Menschen seien Mollusken!

[...]

Man denkt, das ist so leicht, solche dramatischen Ensemblesätze u -scenen zu schreiben, wie ich deren eine Menge habe! Die Scene mit Reimund, Mahler [recte: Mahlow] u den Druckerburschen, die Scene auf dem Ball mit den Platzpatronen, wo Gruppe u Einzelfigur u dabei noch Nebendetail (Ada u Ottomar) in steter naturwahrer symphonischer Bewegung sind - die Kindtaufe u. s. f. . Das ist das innere Musikwerk, das in mir lebt u das meiner undankbaren Zeit, die sich ewig nur mit Schiller u Goethe u ihrem Fritz Reuters beschäftigt, nicht kennt, nicht mir zugestanden sieht. Alexander Jung kannte es vor Jahren. Aber er ist alt geworden. Wo sind feinfühlende Kritiker! Anmaßende Gegenseitigkeitsreferenten! Höher bringt mans nicht.

5.1.10. Gutzkow an Salo Schottlaender, 28. März 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 28. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,88 (hsA).

Ihr in Aussicht gestellter Literat, der auf meine Intentionen eingehen würde, ist, wie die Berliner sagen, ein „Nöhlfritz“, den schlesischen Ausdruck kenne ich nicht. Ueber soviel Langsamkeit u Schwunglosigkeit können so boshafte Kritiken erscheinen.

Das frische resolute Wort, das ich heute in der Neuen Frankfurter Presse finde, wünschte ich in vielen Zeitungen verbreitet. Drucken Sie es in extenso in der Schles. Presse nach. Ihr Schlesien kann auch nicht aus der Allein-Vergötterung Gustav Freytags herauskommen, besonders auf dem Lande.

5.1.11. Gutzkow an Salo Schottlaender, 29. März 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 29. März 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,89 (hsA).

Nun habe ich den Artikel gelesen.

Ich bin ein kurioser Kauz. Ich verschlinge solche mich aufregenden Sachen nicht sofort. Diesmal habe ich eine Nacht darüber hingehen lassen, um ruhig u gesammelt zu lesen.

Denn das Gefühl, selbst im Lobe sich reproduzirt zu sehen, ist immer peinlich. Man kennt seine Fehler u in diesem fraglichen Buche habe ich mich eigentlich über das, was zwischen den Zeilen stehen soll, nicht ausgelassen. Denn dann würden es 9 Bände geworden sein!

Sagen Sie Freund Kurnick u. Herrn Dr. Berndt meinen verbindlichsten Dank. Ich bin überrascht, wie ergreifend, mächtig der letztere die Charakteristik durchzuführen verstanden hat. Eine wahrhaft geharnischte, tiefe, feste, charaktervolle Sprache! Ist das nicht ein Druckfehler, wenn es auf der letzten Spalte heißt: Helene kehrte zur - doch nein, ich lese eben die Stelle noch einmal. Es ist alles richtig.

Die Kritik von Dr. Goldbaum in der N. F. Presse kenne ich noch nicht. In der Nationalzeitung rückt Eugen Zabel nicht vor! So grimmig ist der Haß dieses Frenzel u seiner ganzen Meute! Haben Sie denn dem Redakteur, Advokat Dernburg, ein Exemplar geschickt?

Bei der Allgemeinen Zeitung liegt auch schon eine Anzeige, zu der ich noch ein Exemplar hinzufügen muß.

Meine Freiexemplare sind (nur im Interesse des Buches!) alle vergeben. Sogar ein paar Annoncen in der Nat. Ztg. u im Tagblatt habe ich gemacht, da ich Ihrerseits nur in Lindaus neuer Revue eine Anzeige entdeckt habe, sonst nirgends. Wie kommt das?

5.1.12. F. N.: Ein neuer Roman von Karl Gutzkow. In: Allgemeine Zeitung. Nr. 97, 7. April 1877#

F. N.: Ein neuer Roman von Karl Gutzkow. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 97, 7. April 1877, S. 1466-1467. (Rasch 14/48.77.04. 07)

„Seit vierzig Jahren ist in Deutschland kein zweiter Schriftsteller aufgestanden welcher so mit Kopf und Herz in und mit seiner Zeit gelebt und gestrebt hätte wie Gutzkow, dessen tüchtige und vielseitige Bildung ihn befähigt alle die tausend Fäden des Gewirkes auf dem Webstuhl der Zeit zu kennen und zu nennen, ihr Wesen zu werthen und sie allesammt zu nationalliterarischem Ausdruck zusammenzufassen. Mit offenem und scharfem Auge hat er das Wirkliche angesehen, aber er hat sich daran nicht so kurzsichtig gesehen, daß er den Blick auf das Ewige eingebüßt hätte. Sein Dichten, seine ganze schriftstellerische Thätigkeit trägt die Signatur des Idealismus, aber eines mit realen Anschauungen gesättigten Idealismus. Er gesteht der Materie ihre Berechtigung zu, aber kein Monopol, kein Privilegium. Auch er ist Realist, insofern er Menschen und Dinge sieht und malt wie sie sind; aber er läßt das Centralsonnenlicht der Idee auf sie fallen. - - Gutzkows Werke sind ein höchst werthvoller nationalliterarischer Spiegel der Zeit von 1830 bis heute. Alle Erscheinungen und Begegnisse derselben hat Gutzkows Autorschaft kenntnißreich und theilnahmvoll begleitet, als ein rastloser Vorkämpfer der Sache der Vernunft, der Freiheit und des Vaterlandes.“

Kein Geringerer als Johannes Scherr ist es der diese warmen, anerkennenden Worte über Gutzkow vor kaum Jahresfrist in O. Blumenthals Monatsheften (III. 2. Karl Gutzkow, ein literarischer Dialog) ausgesprochen hat, und im Verlauf seiner Würdigung diesen Autor als den nationalliterarischen Hauptträger der Culturentwicklung Deutschlands binnen der letzten vierzig Jahre proklamirt. [...]

Die „Serapions-Brüder“ sind Menschen der Gegenwart, in ihnen tritt uns eine geistreiche Auffassung der gesellschaftlichen Bewegung einer großen Stadt entgegen, welche Professor v. Treitschke in der Reichstagssitzung vom [1467] 19. März d. J. mit den Worten charakterisirte: daß „der frische Zug des öffentlichen Lebens in Deutschland in ihr mächtiger als irgendwo“ pulsire.

In des alten Hoffmanns Serapions-Brüdern kamen einige Freunde an bestimmten Tagen zusammen, um sich die Schöpfungen ihres Geistes und ihr wechselseitiges Urtheil darüber mitzutheilen. Sie gaben sich diesen Namen nicht bloß weil sie am Kalendertage des Märtyrers Serapion sich zum erstenmal vereinigt hatten, sondern auch weil sie im Geist jenes Heiligen, den die Legende unter Kaiser Decius den Märtyrertod erleiden läßt, dichten und trachten wollten. Dieser einsiedlerische Heilige hatte wirklich geschaut was er verkündete, er hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, und in diesem Geiste der Wahrheit und des offenen Aussprechens des als wahrhaft Erkannten wurde er zum Cultus der Serapions-Brüder Hoffmanns. Die Serapions-Brüder die Gutzkow vor uns in Scene setzt, kommen zwar auch in einer Weinstube des 19. Jahrhunderts zusammen, aber sie erzählen sich keine Geschichten aus denen sich eine Novellensammlung machen läßt. Es ist ein Kreis gebildeter Männer, die nicht bloß vom Reichstag, von Wahlen, Parteien, vom Hof, von kaiserlichen Reisen, Paraden und Theaterprinzessinnen berichten, sondern die das Bedürfniß haben sich auch über andere Interessen der Menschheit auszusprechen. Unsere Serapions-Brüder glossiren - gleich dem Chor der antiken Tragödie - die Begebenheiten des Tages und auch der Geschichten die wir im Roman miterleben. Diese Geschichten sind mannichfaltig genug, die meisten der Serapions-Brüder sind darin mit Hauptrollen bedacht, und wir ahnen nicht, wenn wir so zu Anfang unserer Erzählung aus dem Hin und Wieder der geistreichen in dieser Meisterschaft des Mundöffnens und Mundschließens nur von Gutzkow gehandhabten Discussion diesen und jenen Namen hören, welche fesselnde Bekanntschaft uns dessen Träger noch außerhalb der montäglichen Weinstube gewähren wird. Hierin liegt schon angedeutet daß die Schwerpunkte der Handlung nicht im geschlossenen Kreise der Serapions-Brüder, sondern außerhalb desselben liegen und, sagen wir es nur gleich heraus, daß wir darum den Titel des Romans für keinen glücklich gewählten halten. Ja, der Schwerpunkt desselben liegt, noch mehr als in manchen anderen Dichtungen Gutzkows, in dem „Ewig-Weiblichen,“ und ohne die „Schwestern“ der Serapions-Brüder hätten wir nicht diese von Capitel zu Capitel sich reicher entfaltende Darstellung aus dem Leben der Gegenwart bis hinauf zu dem großen Staatsmann (III. 273-74).

Die „Serapions-Brüder“ sind unseres Erachtens als Roman einigermaßen schwer zu classificiren. Aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft führen sie uns in das beglückte Familienleben eines bedeutenden Künstlers, in das Getriebe einer großen Fabrik und in das Boudoir einer Dame von zweifelhaftem Ruf, Edwina Marloff, der wieder Frauengestalten von den edelsten Eigenschaften des Herzens und Gemüths gegenüberstehen, wie Martha Ehlerdt und Helene Althing. [...] Die Schilderung der einzelnen Charaktere, besonders der weiblichen, ist unübertrefflich, deren Seelenleben bis in die feinsten Nüancen klar legend und der Hintergrund der Erzählung, aus welcher wir nur die Geschicke einiger Hauptpersonen angedeutet haben, von einer solchen Mannichfaltigkeit der in zweiter und dritter Reihe eingreifenden Personen, wie sie eben nur der Schöpfer des Romans des „Nebeneinander“ zu gestalten vermag. [...] wir verzichten auf die ganze Reihe der aus dem Gründerthum, den Fabrik-Strikes und dem „großen Krach“ der Börsenwelt in plastischer Rundung hervortretenden Zeitgenossen einzugehen, weil, so gelungen diese Episoden an sich sind, wir sie doch nur als die Ornamente zur Ausschmückung eines Werkes betrachten, das, wenn wir es als Roman „aus der Gegenwart“ bezeichnen wollten, vielleicht die Replik des Autors herausfordern könnte: Was wollt ihr denn mit eurem ewigen Schematisiren und Einschachteln in Kategorien! Ich kehrte im Roman zu den heiteren Formen der Vergangenheit zurück. Mein Buch ist ein Liebesroman mit modernen Staffagen, sonst ganz im Geiste der alten Wahlverwandtschaften. Ihr seht ja daß all’ das Beiwerk, diese Strikes, Gründerscenen u. dgl. ihre Gipfelung nur in dem Liebeszweck haben!

Die „Serapions-Brüder“ sind aber mehr als ein Liebesroman, selbst in der außergewöhnlichen, bei einem Autor wie Gutzkow sich von selbst verstehenden Bedeutung. Die „Serapions-Brüder“ sind ein dem Cultus der Familie geweihtes Werk, deren ideale Gestaltung Gutzkow in seinen Schriften von jeher verfolgt und an einer Stelle seines Werkes (III. 116) so ergreifend geschildert hat: „Heiliger Friede des Hauses! Beglückte Stimmung der Herzen im traulichen Verein einer nur dem Guten, Schönen, der Sittlichkeit lebenden Familie! Angehörige, Freunde, mit warmer Theilnahme verbunden! Der Bildung goldene Fessel sanft an jedes Wort, an jede Regung des natürlichen Menschen gelegt. Der Scherz als Milderung des pflichtenstrengen Ernstes und der aufwallenden natürlichen Begehrlichkeit! Der Wille, der Regent unserer Lebensthätigkeit, die Betrachtung, die Auffassung immer unter die Herrschaft des Ohres und des Auges gestellt! O wie sanft ein solches geistiges Windeswehen unter dem Dache der Familie!“

Möchten Gutzkows „Serapions-Brüder“ in recht viele deutsche Familien Eingang finden und ihnen nach des Tages Last und Mühen den Abend am häuslichen Herde verschönern helfen.

5.1.13. Gutzkow an Eugen Zabel, 13. April 1877#

Gutzkow an Eugen Zabel, Heidelberg, 13. April 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,103 (H, maschA).

Mein lieber verehrter Freund, so ist denn die Schwergeburt glücklich überstanden! Und ein leichtgeflügelter, reizender Euphorion flog auf! Ich danke Ihnen nicht nur, sondern ich gratulire Ihnen auch. [...]

Beängstigend war mir die Stelle über die mangelnde Anerkennung. Man muß dergleichen, um ein Philosophem von Heine zu wiederholen, nie eingestehen. Besonders sympathisch war mir die Stelle von der Vornehmheit. Ja, in der That, immer wenn ich mir sagte: Aber das ist ja langweilig! sagte eine andre Stimme: Wirst du dich für diesen heutigen Lesepöbel, ihm zu Liebe etwas Curioses erfinden, in Rivalität mit all den Namen treten, die jetzt genannt werden! Du bleibst bei deinen Späßen! Da erschrak ich denn freilich, als plötzlich Oscar Blumenthal bei mir erschien u für Rudolf Mosse eine ungeheure Sensationsgeschichte zu kaufen beauftragt war! Und doch stieg die Abonnentenzahl des Berliner Tageblatts, eine Erscheinung die mir nur durch epidemische Ansteckung erklärbar ist.

5.1.14. Gutzkow an Salo Schottlaender, 15. April 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 15. April 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,105 (hsA).

Die lange Liste der Zeitungen, die Exemplare empfingen, erschreckt mich. Diese Journale verkaufen alle ihre Exemplare oder überraschen mich durch unfreundliche Urtheile! Wie kommt Ameli Bölte zu einem Exemplar?!! Sie müßte eine besonders günstige Regung ihrer Erinnerung haben, wenn sie wohlwollend über mich schriebe!!

5.1.15. Gutzkow an Salo Schottlaender, 22. April 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 22. April 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,112 (hsA).

Ich bin über meine Klage, wie ich dazu komme, meinen Feinden die Waffen in die Hand zu liefern, ohne Antwort geblieben, bin aber überzeugt, dß Sie bona fide handelten. Ist Ihnen von irgend einem der vielen, vielen, allzu vielen Empfänger des Buches irgend ein Lebens- oder Dankeszeichen zugekommen, so bitte ich um Mittheilung desselben. Selbst Lindau, der Ihnen doch ein Versprechen gegeben hatte, weiß nicht, was sein berühmter Verstand mit dem Buche anfangen soll, wenn nicht - böse Absicht, das System, die alten Namen zu ignoriren, dahinter steckt!

Sie schrieben mir kürzlich, Sie hofften es in diesem Jahre auf einen Absatz von 2000 zu bringen. Was geschieht dann mit den restirenden 3000!! Das ist eine Frage, die mich sehr bekümmert.

5.1.16. Gutzkow an Salo Schottlaender, 4. Mai 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 4. Mai 1877 UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,124 (hsA).

Der Siglsche Artikel ist ganz willkommen! Die Ultramontanen thun noch etwas für ihre Sache! Er hat freilich nicht gesagt, daß diese Aeußerungen in Gesprächen vorkommen, denen immer eine andere Auffassung antwortet! Ich bin ein begeisterter Reichsfreund, aber soll ichs aufrichtig sagen, ein schlechter Nationalliberaler. Die ganze Couleur der Wehrenpfennig, Julian Schmidt, Treitschke, Hans Blum (erbärmlichsten Andenkens) Braun-Wiesbaden hat nie etwas für, sondern immer nur gegen mich gethan, während allerdings die rein demokratische Parthei auch die Lässigkeit selbst war; die Herrschaft Franz Dunkers, seiner Frau und des eingebildeten Bernstein ist hoffentlich jetzt durch den Bankerot gebrochen.

Amalie Bölte hat wirklich in der Rhein- u Neckarzeitung (Mannheim) einen Artikel gebracht. Ich habe ihn noch nicht gelesen, da er Dinge zu enthalten scheint, die mich gemüthlich aufregen. Sie war viele Jahre so zu sagen Mitglied unsres Hauses.

5.1.17. C. B.: Die Serapionsbrüder von Gutzkow. In: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. Nr. 18, 6. Mai 1877#

C. B.: Die Serapionsbrüder von Gutzkow. In: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. Berlin. Nr. 18, 6. Mai 1877 S. 3. (Rasch 14/48.77.05.06)

Der Verfasser des zweiten der augenblicklich viel gelesenen Romane, Karl Gutzkow, war eine Zeit lang ebenfalls in die Bahn des historischen Romans eingelenkt. Allein mit wenig Glück. Sein Roman: „Hohenschwangau“ war, wie er mit historischem und antiquarischem Detail mehr denn einer seiner Gattung überladen war, so einer der langweiligsten und unverdaulichsten. Gutzkow hat sich daher in seiner neuesten Production, den „Serapionsbrüdern“, wieder jener Form des Romans zugewandt, welche er schon in den fünfziger und sechziger Jahren in seinen „Rittern vom Geiste“ und dem „Zauberer von Rom“ in so ausgedehnter Weise (ausgedehnt in des Wortes verwegenster Bedeutung, denn beide Romane umfaßten 9 bez. 6 Bände) cultivirt hatte. Diese „socialen“ Romane Gutzkows spiegeln nun allerdings die Gegenwart wieder, aber was für eine Gegenwart! Es ist als ob sich ihr Verfasser von vornherein und ein- für allemal die Aufgabe gestellt hätte, nur die Hefe, den Auswurf der modernen Gesellschaft, den „Schabab“ derselben, um einen alten bezeichnenden Ausdruck dafür zu wählen, zu kennzeichnen. Man bewegt sich in diesen Gutzkowschen „Dichtungen“ in einer ganz ausschließlichen Gesellschaft, ausschließlich in sofern als die besseren, tüchtigen, ehrlichen Elemente fast ganz ausgeschlossen sind, und wir uns in einer Versammlung von Gaunern, Glücksrittern, Speculanten, Wüstlingen, Trunkenbolden oder Tagedieben und zwar aus allen Schichten der Gesellschaft, von der vornehmsten bis zur ärmeren, vom „Prinzen von Geblüt“ bis zum Lohnschreiber und Fabrikarbeiter bewegen. Höchstens wird, um die graue Monotonie dieser Verbrecherkellerphysiognomieen durch einige etwas frischere Farben zu unterbrechen, ein strebsamer, idealischer Referendar (diese Klasse der modernen Gesellschaft wird von Gutzkow und Collegen ganz besonders zu diesem Zwecke bevorzugt und verwandt), ein polternder alter ehrlicher Bildhauer, so wie eine liebliche, sittige und tugendsame Mädchenblüthe mit untergemischt. Zu allerlei Ausschreitungen, z. B. zum Ehebruch incliniren aber auch diese. Aber, wie gesagt, der Charakter des Betrügers, Wüstlings, gewissenlosen Strebers ist der vorherrschende und tonangebende. So war es in den „Rittern vom Geiste“, so ist es auch in den „Serapionsbrüdern“. [...]

Daneben läuft, als äußerlicher, ziemlich loser Rahmen des Ganzen eine sich zu bestimmten Tagen in einem Restaurations-Locale versammelnde zwangslose Gesellschaft von Männern aus allen Berufsklassen, Aerzten, Bildhauern, Juristen, Directoren höherer Lehranstalten u. s. w., den nach dem bekannten Roman von Amadeus Hoffmann sogenannten „Serapions-Brüdern“, von denen der ganze Roman seinen Namen hat. Diese Herren haben nun allerdings, wenigstens nachweislich und auf den ersten Blick, nicht jenen, den übrigen Gestalten aufgeprägten Spitzbuben-Charakter (bei einigen, wie dem Justizrath Lucius, tritt er später doch noch hervor, und an der Börse speculiren sie auch alle); aber sie zeichnen sich fast sämmtlich durch die sonderbaren Paradoxieen zu Deutsch Schrullen aus, welche sie, unter der offenbaren Prätension etwas Neues und besonders Geistreiches zu sagen, in ihren gemeinschaftlichen Zusammenkünften zum Besten geben. Als eine bezeichnende Probe dieser „Geistreichigkeiten“ möge nur die erste angeführt werden, womit der Roman überhaupt beginnt, die Proclamirung der sogenannten „Trottoirkrankheit“, eines eigenthümlich gereizten nervösen Zustandes, welcher sich in großen Städten, zunächst Berlin, denn Berlin ist mutatis nominibus immer der Schauplatz der Gutzkow’schen socialistischen Studien, in Folge des Umstandes herausbilden soll, daß man hier genöthigt ist, auf den schmalen Trottoirstreifen dicht neben einander einherzugehen und sich mithin den Blicken aller Vorübergehenden unmittelbar auszusetzen! Für den feinfühlenden Menschen, den Künstler z. B., der dann in den Augen aller ihn Streifenden, beispielsweise wenn ein brüsker Recensent sein letztes Opus heruntergemacht habe, den Reflex dieses absprechenden Urtheils wiedergespiegelt sehen müsse, sei dies geradezu peinigend und krankheiterregend!

Solche Schrullen, wie diese, und solche Verirrungen, ja Verbrechen, wie die oben bezeichneten, sind es aber nicht, welche das Element und den Stoff eines guten Romanes bilden sollen, während sie vortrefflich geeignet sind, als Beispiel und Anhaltspunkt zu dienen, wenn wir uns klar machen, worin die Schwäche und Unzulänglichkeit solcher Romane, wie des genannten Gutzkowschen bestehen und worin der weite Abstand zu suchen ist, welcher zwischen ihnen und einem guten, classischen Producte der Dichtung klafft. Eine solche gute classische Dichtung darf, kurz und bündig gesagt, uns nur Seelenzustände, Anschauungen, Empfindungen zeichnen wie sie sich in jedem verständigen und gebildeten Menschen gelegentlich einmal regen oder andauernd behaupten. Die gute classische Dichtung darf nur der Exponent, die äußere poetische Verwirklichung jenes Mikrokosmus sein, welchen der anständige und gebildete Mensch der Gegenwart in sich bildet.

So schnell dieser Satz ausgesprochen ist, der schließlich die Fundamentalgrenze bezeichnet, welche die wahre Dichtung von der flüchtigen, auf die Erregung der Neugier oder den Sinnenkitzel des Moments berechnete, wenn auch zeitweilig im Interesse des Publicums jene andere weit überflügelnde Production scheidet, einer so langen Auseinandersetzung möchte es bedürfen, um ihn nach allen Seiten zu motiviren und gegen die Anzahl oder Unzahl der dagegen hervorbrechenden Einwürfe zu schützen. Es wäre dazu ein apartes Bändchen Aesthetik nöthig, ja es läßt sich eine ganze Aesthetik überhaupt basiren, mit welcher wir den geneigten Leser verschonen. Wir begnügen uns hier vielmehr mit einigen kurzen Andeutungen zur Erklärung und Begründung jenes unseres Fundamentalsatzes. Zunächst schneiden wir von vornherein die Einwendung ab, als ob damit, daß das Maß des dichterisch Ausführbaren und Darstellbaren auf den Kreis der Gefühle und Empfindungen beschränkt wird, welche in der Brust eines jeden anständigen und gebildeten Menschen wohnen und sich regen, der Dichtung eine zu enge Grenze gesteckt werde. Derjenige kennt das menschliche Herz nicht oder verschließt sich zimperlich gegen seine Regungen, gegen sein innerstes Dichten und Trachten, welcher behauptet, daß nicht, auch wie wir es kurz nannten in dem Herzen eines jeden anständigen und gebildeten Menschen Leidenschaften schlummern und gelegentlich erwachen, um genügenden Stoff für eine alle Höhen und Tiefen des Himmels und der Hölle durchmessende Dichtung zu bieten. Romane wie Goethes Wahlverwandtschaften, wie sein Wilhelm Meister, Dramen wie Schillers Wallenstein, wie sein Don Carlos, enthalten doch des Sündlichen, ja Pathos zu genügen. Aber alle die von ihnen geschilderten Verirrungen sind derartig, daß, wenn wir aufrichtig sind, wir uns derselben fähig halten müssen. Es sind Verirrungen der stärksten Art, aber es sind keine Spitzbuben- oder Verbrecherstreiche, welche uns vorgeführt werden; das Gemeine, mit einem Worte, liegt weit ab von ihnen. [...] Man hat es zwar gelegentlich versucht auch Spitzbuben und Spitzbübinnen zu Helden und Heldinnen eines lyrischen oder epischen Gedichtes zu machen. Heine besingt einmal zwei Persönlichkeiten von denen es heißt:

Sie hatten sich beide so herzlich lieb,
Spitzbübin war sie: er war ein Dieb.

Aber die Sympathie eines jeden gesunden und natürlichen Empfindens wendet sich weit von solchen Helden weg und verweist sie, wohin sie gehören, in den Pitaval. Das ist schließlich ein anderer, dasselbe bezeichnender Ausdruck unseres obigen Gedankens, wenn wir sagen: die moderne Romanen-Dichtung überschreitet die Grenze, welche zwischen der Criminalnovelle, der Criminalliteratur und der Poesie gezogen sind [sic]. Der alte gute Ritter- und Räuberroman hatte doch noch ein Gefühl für dieses Gesetz. Er veredelte seine Räuber und Räuber-Hauptleute zu solchen anständigen Gentlemans, zu solchen gewissermaßen „Märtyrern der Gesellschaft“, daß kein gefühlvolles Herz ihnen seine Sympathie verschließen oder in den Bestrebungen dieser, doch nur ganz äußerlich den Räubernamen tragenden Herren nicht gelegentlich sein eigenes Trachten und Wollen wiedererkennen konnte, während umgekehrt die Figuren unserer modernsten Romane, und mögen sie die glänzendsten Titel und Würden als Prinzen, Grafen und Gräfinnen, reiche Fabrikherren, Justizräthe und dergl. tragen, kein anständiger Mensch zu seinem Umgange wählen, geschweige in diesem „Gesindel“ sich selbst wie es in der guten und wahren Dichtung der Fall sein sollte, wiedererkennen wird.

Und was die Sache noch verschlimmert: leider entspricht der Schlechtigkeit des Charakters dieser Figuren unserer modernen Romane sehr häufig die Schlechtigkeit ihres Stils. Davon bieten die Gutzkowschen ‚Serapionsbrüder‘ auch bezeichnende Proben und besonders aus den geistreichen Clubreden der Namensträger des Romans ließe sich ein artiges Bouquet solcher stilistischen Zierlichkeiten winden. [...]

5.1.18. Gutzkow an Salo Schottlaender, 10. Mai 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Heidelberg, 10. Mai 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,130 (hsA).

Es ist gar nicht unmöglich, dß man Ihnen gekommen ist u gesagt hat: Aber die Neuen Serapionsbrüder sind ja ganz malcontent! Natürlich, erwidre ich. Kann ich mit diesen Strebern wie Wehrenpfennig usw. gehen, die sich alle einbilden, unter dem Kronprinzen Minister zu werden?

5.1.19. Rudolf Gottschall: Karl Gutzkow’s „Serapionsbrüder“. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 20, 17. Mai 1877#

Rudolf Gottschall: Karl Gutzkow’s „Serapionsbrüder“. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Nr. 20, 17. Mai 1877, S. 305-310. (Rasch 14/48.77.05.17)

Aehnlich wie Spielhagen’s „Sturmflut“, zunächst durch die Feuilletons einer größern Zahl von Zeitungen eingeführt, ist der neue Roman Gutzkow’s jetzt auch im Buchhandel erschienen: [...]

Mit der „Sturmflut“ hat der Roman Gutzkow’s manches gemeinsam: er spielt meistens an demselben Orte, in der Reichshauptstadt, in derselben Zeit, der Gründungsepoche; den Gründern ist in beiden Romanen eine große Rolle zuertheilt. Die Erinnerung an den letzten großen Krieg ist dadurch wach gehalten, daß der jugendliche Held in beiden ein Reservelieutenant ist, der den letzten Feldzug nach Frankreich mitgemacht hat; und auch das ist beiden Romanen gemein, daß dieser Held mit seiner Entwickelung nicht im Mittelpunkte der Handlung steht, sondern in dem Roman des „Nebeneinander“ auch nur eine Stelle neben den andern einnimmt. Auch ein Bildhaueratelier spielt in beiden Romanen eine nicht unwichtige Rolle. Damit ist aber auch die Reihe der Aehnlichkeiten erschöpft. Der Spielhagen’sche Roman ist nicht nur viel umfassender, sondern auch viel anspruchsvoller als derjenige von Gutzkow; er befriedigt aber auch die Ansprüche, die er erhebt, indem er einen Grundgedanken, die Parallele zwischen der socialen und elementarischen Sturmflut, zum Grundstein und auch zum Eck- und Schlußstein der künstlerischen Architektonik macht. Die breite epische Ausführung des Culturgemäldes der Jetztzeit in der „Sturmflut“ erinnert mehr an die großen Romane des „Nebeneinander“, die Gutzkow in früherer Zeit geschaffen hat. Seine „Serapionsbrüder“ geben uns nur einen Ausschnitt aus dem Leben der Gegenwart; der Titel des Romans hat nicht eine für das Werk selbst maßgebende und grundlegende Bedeutung, wie dies bei der „Sturmflut“ der Fall ist; er hat für den dargestellten Lebenskreis kaum eine tiefere Beziehung, als eine die Peripherie desselben berührende Tangente.

Die neuen Serapionsbrüder sind, ihres hochtönenden Titels entkleidet, der an den Heiligen des Wahnsinns in Amadeus Hoffmann’s „Serapionsbrüder“ erinnert, eine Wirthshausgesellschaft mit lebendigen Debatten über die verschiedensten Tagesfragen. Der Unterschied des Gutzkow’schen Werks von Hoffmann’s „Serapionsbrüdern“ liegt auf der Hand. Hoffmann’s geselliger Kreis bildet, wie das bei den indischen, arabischen, und mongolischen Märchen, bei Chaucer und Boccaccio und auch im Tieck’schen „Phantasus“, der Fall ist, den Rahmen für eine Reihe von Erzählungen, die hier vorgetragen werden. Bei Gutzkow handelt es sich nicht darum, sondern ein zusammenhängender Roman, in den einige der neuen Serapionsbrüder als mitwirkende Helden verwebt sind, geht selbständig neben diesen Plaudereien her und wird von ihnen nur gelegentlich gestreift. Trotzdem ist indeß ein Berührungspunkt vorhanden; denn auch die Hoffmann’schen Serapionsbrüder unterhalten sich nicht immer in der Art und Weise der Scheherasade, sondern sie sprechen auch über Musik, Theater, Somnambulismus und mancherlei, was den Autor selbst interessirt, ganz wie die neuen Serapionsbrüder, nur mit dem Unterschied, daß hier Politik und sociale Fragen in den Vordergrund der Unterhaltung treten, ein Unterschied, in welchem sich zugleich der Unterschied der Zeiten, besonders derjenige der romantischen und modernen Literaturepoche spiegelt.

Wir können diese Gespräche der Serapionsbrüder als etwas Selbständiges, als ein großes Gutzkow’sches Feuilleton, als eine Causerie über die wichtigsten Fragen der Gegenwart, von dem Organismus des Ganzen los-306lösen und unter die kritische Lupe nehmen; wir haben um so mehr ein Recht dazu, als die Eigenart des Gutzkow’schen Geistes, die allerdings auch die Schilderung der eigentlichen Romanhandlung durchdringt, sich hier mit besonderer Schärfe ausprägt. So viel Esprit in dem Feuilleton der Gegenwart consumirt wird: Gutzkow, einst ein Progone desselben, ist jetzt keineswegs zu einem nachhinkenden Epigonen geworden; er ist nach wie vor kein witzhaschender Feuilletonist, kein Gedankenjongleur, der nach dem geschickten Auffangen der in die Luft geschleuderten Bälle und Kugeln sich mit Grazie vor dem Publikum verbeugt; ihm ist der Esprit nicht Selbstzweck; auch verschmäht er es, durch die flüchtigen Parfums zu reizen, mit denen sich der fashionable Humor von Kopf zu Fuß besprengt; er hat die Schärfe, aber nicht die Flatterhaftigkeit des modernen Geistes. Die Essenz der Dinge ist ihm die Hauptsache; die Gesinnung der Grund und Boden, aus dem die Pflanze seines Esprit erwächst. Daß derselbe dabei etwas Bohrendes und Nagendes hat, daß eine pessimistische Lebensanschauung überwiegt, daß er in Bezug auf unsere Kunst und unser Staatswesen mit Vorliebe die Schattenseiten herauskehrt: das mag ihn misliebig machen bei allen, welche die wohlfeile Kunst der Fanfarenbläserei hochstellen; jedenfalls gibt diese sarkastische, hin und wieder etwas schwarzgallige Haltung seinem Zeitfeuilleton das Gepräge der Originalität. Und worüber unterhalten sich die Serapionsbrüder? Bisweilen über sehr absonderliche Dinge, wie z. B. über die Trottoirkrankheit, deren Pathologie bisher noch kein berühmter Arzt festgestellt hat und die allerdings als Introduction des Ganzen uns von Haus aus in eine Atmosphäre nervöser Ueberreizung führt. Doch in den folgenden Gesprächen, in denen übrigens die Charaktere der Sprechenden mit Consequenz festgehalten sind, sodaß die Dialoge mehr dramatisch als Platonisch sind, werden unsere Kunst, Theater und Musik, Staat und Gesellschaft einer meistens misvergnügten Beurtheilung unterzogen, die, was das neue Deutsche Reich betrifft, an Sacher-Masoch’s „Ideale unserer Zeit“, an die Gespräche zwischen Andor und Graf Rion erinnert, nur daß Gutzkow mehr ein grollender Frondeur, Sacher-Masoch aber ein entschiedener Gegner unserer politischen Neugestaltung ist. [...] 307 [...]

Daß die Handlung des Romans im ganzen auch in pessimistischer Beleuchtung steht, ist keine Frage; die Negativbilder überwiegen, vorzugsweise die Negativbilder der Ehe; gegen dies Institut wendet sich die Skepsis des Autors nicht blos in einzelnen Betrachtungen, sondern in der objectiven Darstellung selbst; man erschöpft den Inhalt des Romans, der sich in sehr verschiedene Gruppen vertheilt, am besten und am leichtesten, wenn man von dieser Seite an ihn herantritt und ihn als einen Beitrag zur Physiologie der modernen Ehe betrachtet. Die Frauen besonders erfreuen sich der vollen Ungunst der Beleuchtung. [...] 308 [...]

Bedeutsamer für den Roman ist eine Ehe, die im Verlauf der Handlung selbst geschlossen und gelöst wird: die Ehe des jungen Grafen Udo mit Ada von Forbeck, eine vorbestimmte Familienehe. In Bezug auf dies Verhältniß können wir indeß dem Dichter nicht den Vorwurf ersparen, daß er die Motivirung etwas zu leicht genommen hat. Beide schließen die Ehe mit einer andern Liebe im Herzen und sind dann so behaglich bereit, sich wieder zu scheiden und den Wahlverwandtschaften ihres Herzens zu folgen, daß wir keine ernstere Theilnahme für solche leichten Conflicte finden können; eine schärfere psychologische Motivirung würde hier wol am Platze gewesen sein. Als der Graf noch zögert, sich von Ada zu trennen, zerhaut diese den Knoten durch einen Eclat, indem sie sich in Mannskleidern in das Zimmer ihres geliebten Ottomar, des Referendars und Reservelieutenants, begibt. Darauf Scheidung und Wiedervermählung, alles in Ruhe und Frieden und correct nach den Ehegesetzen.

Ada ist offenbar der Liebling des Dichters, obgleich der erste Steckbrief, den ihr Gatte Nr. 1 von ihr entwirft, nicht allzu schmeichelhaft lautet: [...]

Doch wie sie sich selbst einführt: das erscheint wol etwas zu roh und geschmacklos. Zum Grafen Udo, der am Piano sitzt, sagt sie: „Sie machen Musik? Die Tour ist vorüber? Gott sei Dank! Da freue ich mich ja wie ein Hund.“ Ueber die Berechtigung dieses Vergleichs finden ziemlich triviale Debatten statt. Später sagt sie einmal, sie tanze wie ein Bär. Diese Naivetät, die ihre Vergleiche aus der Menagerie nimmt, hat gerade nicht viel Anziehendes.

Zu den dunkeln Familienbildern gehört auch die Ehe des rückenmarkkranken Assessors Rabe mit seiner koketten und speculativen Ehefrau. Diesen Ehefrauen wird nun „das Weib an sich“ entgegengestellt, das Weib „ohne die Mucken der Ehefrauen, Mütter und Töchter“. Der alte Graf schwärmte dafür: [...]

Die Aspasien der attischen Demi-Monde werden indeß nicht ohne laesio enormis in unser modernes Leben übersetzt; sie erhalten alsbald einen tragischen Zug. Eine Aspasia ist in unserm Roman Edwina Marloff, des alten verstorbenen Grafen „natürliche Tochter“, die als Kind schon die wunderbarsten Abenteuer in Ungarns Puszten erlebt hat, später dem Vater ein trauliches Heim bereitet, dessen täglicher Besuch nicht von Verdächtigungen fernblieb. [...]

Das Bestreben, diese problematische Existenz für uns anziehend zu machen, ist dem Autor nur zum Theil gelungen. Die schwunghafte Regierungsräthin Brennicke mit ihrer Vorliebe für Balladen von Seekönigen und versunkenen Städten, die sie sich zur Gesellschafterin angenommen, der das Urproblem suchende Philosoph und Lyriker Dieterici und andere Figuren, die den Salon Edwinens beleben, geben ihm wol ein gewisses Lustre; die Schönheit Edwinens selbst hat etwas Anziehendes, denn sie wird uns geschildert als ein Mädchen von schlankem Wuchs, untadelhafter Form, edlem Kopf, wunderschönen großen braunen Augen mit schwarzen Wimpern und Augenbrauen und aschblondem Haar. Doch die psychologische Entwickelung ist zu skizzirt; es fehlt ihr an Tiefe und damit auch unserer Theilnahme an nachhaltiger Erwärmung; wir erfahren nur beiläufig, daß sich Edwina ernstlich in Raimund Ehlerdt verliebte, bis sie erkannte, daß dieser am Säuferwahnsinn zu Grunde gehende Demagog eine ganz verlorene Existenz war. Hier mußte eine Verirrung des Herzens, das sich aus schnöder Speculation zu wahrhafter Neigung aufrafft, und gerade damit scheitert, wärmer und eingehender geschildert werden, um uns den Sturz in den Abgrund, der dieser folgte, 309 begreiflicher zu machen. Die äußerliche Gestaltung der Katastrophe hat indeß etwas Gezwungenes. [...]

Wieder wie in Spielhagen’s „Sturmflut“ ist die Frage nach einem Helden des Romans aufzuwerfen, ohne Aussicht auf befriedigende Antwort. Die Lieblingsgestalt des Autors ist wol Ottomar; auch ist seine Liebe zu Ada am wenigsten karg dargestellt: doch ein Held, dessen Entwickelung so im Mittelpunkte steht, daß alles andere ihm mehr oder weniger dienstbar wird, ist er durchaus nicht: die Handlung bewegt sich mehr in excentrischen als in concentrischen Kreisen [→ Globalkommentar: 6.1.3. Digression und Kontingenz] und hat daher verschiedene Mittelpunkte und sich kreuzende Peripherien. Wir wollen dem Roman des Nebeneinander sein Recht nicht nehmen; sicherer aber der Wirkung ist ein Roman mit einem Haupthelden, wie „Wilhelm Meister“ und „Titan“, „Quentin Durward“, „Waverley“ und „Guy Mannering“.

Die Satire des Autors richtet sich nicht nur gegen das Gründerthum, dessen drei bankrotte Vertreter, Baron Forbeck, Baron Kohn und Justizrath Rabe, mit kaustischem Humor geschildert sind, sondern auch gegen die ostensible Wohlthätigkeitsmanie, welche Gutzkow bereits in einem der weniger erfolgreichen Lustspiele, „Lenz und Söhne“ verspottet hat.

In stilistischer Hinsicht bietet der Roman nichts Glänzendes und Blendendes; aber der Stil ist stets bewegt, lebendig, bezeichnend und treffend; er hat epigrammatische Schärfe, weniger die epische Getragenheit, den vollen Wogenschlag der Darstellung, wie ihn die „Ritter vom Geiste“ besaßen. Das Skizzirte des Inhaltes bestimmt auch oft die Form; wo die Handlung sich nur in allgemein gehaltenen Linien fortbewegt, kann auch die Darstellungsweise nicht ein in die Breite gehendes Behagen gewinnen. Hier und dort finden sich kleine stilistische Verknöcherungen, besonders bei den Infinitivbildungen; das „Vorhandensein“, „Angesehenwerden“ steigert sich zum „Aufpassenmüssen“, „das zum Durchbruch kommen wollende Princip“, „du ewiger Aufpostensteher“ u. a., so heißt es: „Die das Sterbenmüssen versüßende Minne“. Ebenso finden sich oft Einschaltungen, die bisweilen, wie die folgende, doch trivial und überflüssig erscheinen: [...]

Kleine Anachronismen, wie das dritte Examen, mit dem Ottomar zu thun hatte, obschon es zur Zeit, wo der Roman spielt, nur noch zwei juristische Examen gibt, fallen weniger ins Gewicht.

Für die Darstellungsweise Gutzkow’s mag die Schilderung des Besuchs, den Ada in Männerkleidern bei Ottomar macht, als Probe dienen:

Da klopft es. Ottomar blickt kaum auf. Adas Stimme lag tief und war etwas rauh. Sie trat ein, schlug rasch hinter sich die Thür zu, und noch ehe Ottomar auf sein Herein! aufgestanden war und vom Papier den braunlockigen Kopf abgewendet hat, beleuchtet der grelle Lampenschimmer die lieblichen Züge der Gräfin Treuenfels. - Gott im Himmel! war Ottomars erster Ausruf. Die Stimme versagte ihm. Er konnte nicht weiter reden. Eine ganze Welt brach ihm zusammen. Gewiß ist es ein schöner Ruhm um das, was ihr die Tugend und die Sittlichkeit nennt. Aber dich alten, grämlichen Schulpedanten im Pelzschlafrock mag ich nicht über dies Thema sprechen hören, oder dich, der du nur am Casinotischklatsch dich erlabst und an der neuesten eben frisch angekommenen Zeitung! Auch dich nicht, du eitler Poet, Stolz der Nation in der Reclame, der du nur an deinem Ruhm, an dessen Mehrung herumbosselst und Phantasie und überfliegende Stimmung nur für deinen Geldsack hast! Warum seid Ihr so sittlichkeitshochmüthig? Weil ihr innerlich hohl, trocken, gewöhnlich, philisterhaft durch und durch seid! Ottomar urtheilte an sich nicht so. Sollte er aber jetzt den Höllenzwang Faustens nehmen und der als Mann gekleideten, geliebten, wie mit einem Blüthenregen voll Anmuth und Schalkhaftigkeit über ihn her sich beugenden Frau ihn entgegenhalten mit einem: Du sollst mich hören, noch stärker beschwören? Nein, selbst für den so streng erzogenen Ottomar, den ausgesprochenen Realisten, den Virtuosen der Selbstbeherrschung, den entrüsteten Bekämpfer der ihm vom Staatsanwalt Stracks zugeschickten, mit Beschlag belegten Bücher der Rabeschen Fabrik, stand sittliche Entrüstung jetzt nur in den Lehrbüchern der Moral, nicht unterm Sternenzelt. Dort am nächtlichen Himmel herrschten andere Grundsätze und auch hier jetzt beim Schimmer seiner kleinen Petroleumlampe. Staunen, Erkennen, Erschrecken, Zusammenbrechen aller Bedenken. Es war das Werk einer einzigen Secunde - Ada! Sie wagen das -! Um Gotteswillen -! Wir sind ja verloren -!Alles Uebrige, was Merkus würde gepredigt haben, kam annähernd über Ottomars Lippen, auch was Papa Althing gesagt haben würde; aber es fand keinen Anklang - Ottomar lachte selbst vor Seligkeit, den holden Knaben zu umfangen. Ei was, sagte er, als ihm wieder ein Anflug von Reue kam, Papa kann sich manchmal zu einer gewissen Größe aufschwingen. Besonders, wenn er 310 an Italien und an seine eigne Jugend denkt! Die Situation war auch bei ihm manchmal stärker als die Ueberlegung! Der reizende, lachende Jüngling wurde gefragt: Ist diese gewagte Tollheit nur für ein einziges Mal bestimmt, ober soll sie öfters wiederholt werden? - Rechnest Du schon wieder, Du ewiger Aufpostensteher? Bist wie eine Schildwacht, die immer nur rundum sieht! Denk doch jetzt rein an gar Nichts! - O ich weiß, ich weiß, sagte Ottomar, während ihm Ada auf dem Schooße saß, wir rennen in die wahnsinnigsten Dinge, nur um zu zeigen, daß wir nicht feige sind! Was wird nun aus unserm Leben, aus dieser Götterstunde herauskommen? Ada lachte zu Allem. Ottomar war ein Opfer ihrer entfesselten Wildheit. Er wollte reden von einem Zurückgelenktwerden des Geschehenen in die übliche Ordnung, worauf Ada den Wächter auf dem Rathhausthurm, den Globus auf der Sternwarte anrief (man konnte Beide durchs Fenster sehen), sie sollten sich doch des Vorfalls bemächtigen, ihn auskrähen, herumkugeln, entstellen, in die Morgenblätter bringen, in die Hofzeitung, in die Provinzialcorrespondenz, wohin sie wollten. Unter Lachen ging alles Uebrige zu Grunde. Je mehr Widerspruch, desto mehr Wind, um den Blütenbaum zu schütteln. Reelle Hoffnungen über dies und das brachen zusammen. Ach! Auch der treffliche, so wohlmeinende Staatsanwalt mit allen seinen Berufungen auf Sitten-, Staats- und Polizeigesetze, die da auf dem Tische lagen, der gute Protector Ottomars, lag wie von Mahlo und seiner ganzen Bande geknebelt, vorläufig machtlos auf dem Tisch. - Die Geschichte, die natürlich ruchbar wird, ruinirt zuvörderst meine Carrière! seufzte Ottomar. Er sprach, wenn er den Mund frei hatte. Ada sang: Inowraclaw! nach der Melodie: Nach Sevilla! Ein Weib in Männerkleidern ist augenblicklich des männlichen Schutzes bedürftig! könnte man wohl sagen, fuhr er fort. Nun hast Du Dein Erstens und Zweitens, und nun genug -! unterbrach Ada alles Sinnen und reuige Grübeln. Zuletzt zog Ottomar sich an, nahm seinen Ueberzieher und begleitete den Wagehals nach Hause.

Man wird aus dieser Probe erkennen, wie bei Gutzkow die Schilderung mit Reflexionen durchwirkt ist, und hierin vielleicht eine Schädigung des naiv epischen Stils erblicken; doch gerade durch diese seine Eigenart behauptet Gutzkow seine hervorragende Stellung unter den zahlreich auftauchenden neuern Talenten. Seine Darstellung ist überall geistdurchdrungen; feine und würzige geistige Arome duften uns gleichsam aus allen Poren derselben entgegen, und wenn dadurch in die künstlerische Harmonie etwas Zersetzendes kommt, so darf man nicht vergessen, daß die ungestörte Hingabe an den Stoff und das Aufgehen der dichterischen Eigenheit in demselben zwar den Standpunkt höchster Kunst bezeichnet, aber auch ebenso auf der niedrigsten Literaturstufe, bei der Jahrmarkts- und Leihbibliothekenromantik zu finden ist.

Gutzkow hat etwas von Jean Paul, was die Vorliebe für Extrablätter und eine fortlaufende Spiegelung der Handlung im geistigen Leben betrifft: nur daß diese Reflexe bei Jean Paul mehr der überschwenglichen Empfindung, bei Gutzkow dem feinspinnenden Verstande angehören.

5.1.20. Josef Kürschner: Karl Gutzkow’s neuster Roman. In: Deutsche Dichterhalle. Bd. 6, Nr. 12 [Juni 1877]#

Josef Kürschner: Karl Gutzkow’s neuster Roman. In: Deutsche Dichterhalle. Leipzig. Bd. 6, Nr. 12 [Juni 1877], S. 201-202. (Rasch 14/48.77.06.1)

Was Hamlet von den Schauspielern sagt: sie seien „der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters“, das läßt sich mit vollem Recht auch auf Karl Gutzkow anwenden, diesen Würdigsten unter den „Rittern des Geistes“. Gutzkow hat seiner Zeit immer einen Spiegel vorgehalten, der weder concav noch convex geschliffen, in tadelloser Gradheit ein unverfälschtes Bild zurückgab; er hat objectiv die Chronik der geistigen Strömungen des Zeitalters geschrieben, aber nicht allein Thatsache an Thatsache gereiht, sondern auch aus den Begebnissen vorwärts schließend, die nothwendigen Consequenzen gezogen. Ein unerbittlicher Gegner des Unrichtigen, wie Förderer des als wahr Befundenen ist er allzeit ein Mahner und Berather des deutschen Volks gewesen. Und wiederum hat Gutzkow seine Chronik durchaus nicht in chronikalischem Stil, vielmehr in einer an dichterischen Schönheiten reichen, von tiefen Gedanken gesättigten Sprache verfaßt.

Gutzkow’s jüngster Roman, der den seinen Inhalt nicht gänzlich deckenden Titel „Die neuen Serapionsbrüder“ trägt, (Breslau 1877. S. Schottlaender, 3 Bde.) hält dem gegenwärtigen Jahrzehnt den Spiegel vor, und das Bild, das er uns erblicken läßt, ist von einer außerordentlichen, wenn auch nicht immer erfreulichen Wahrhaftigkeit. Die geistigen, gesellschaftlichen und sittlichen Zustände Deutschlands treten ohne das wohlfeile Schönpflästerchen der Phrase, und ohne die patriotisch sein sollende Schönfärberei vor den Leser; nackt aber wahr. Die Schäden unserer Zeit, wie immer sie sich nennen, wo immer sie auftreten mögen, Gutzkow hat sie erkannt, verfolgt bis zu ihrem Ursprung und die gleißnerischen Larven von ihnen abgerissen, damit Jeder sie erkenne und vor ihnen zurückweiche. Wenn auch der Verfasser etwas zu schwarz in die Zukunft sieht und über das Trübe der Gegenwart die Reorganisationskraft unseres Volkes nicht ganz nach Gebühr anerkennt, so hat er doch die während der letzten Jahre herrschenden Anschauungen, die sich geltend machenden Bestrebungen etc. mit einer Schärfe und Klarheit erkannt, die um so mehr überrascht, als Gutzkow in einem ältern Boden wurzelt. Aber gerade in diesem Fortschreiten mit der Zeit, bei voller Bewahrung eines objectiven, von ihr unbeeinflußten Urtheils liegt der wesentlichste Theil der Bedeutung Gutzkow’s als Schilderer seiner Epoche.

Von den kleinen Lächerlichkeiten des gesellschaftlichen Verkehres bis zu den Giftgeschwüren im sittlichen und commerciellen Leben, ist die ganze Scala der Mängel durchlaufen, ohne daß irgendwie eine Absichtlichkeit bemerkbar würde. Die Personen des Romanes haben eben die Fehler ihrer Zeitgenossen, und geben sich ganz wie die Menschen unsrer Umgebung; aber der Dichter schärft unser 202 Auge, daß es durch die Hülle hindurch das Wahre erblicke. Die „Gründerei“ mit ihren zuchthauswürdigen Helden; die vornehme Blasirtheit; die Sucht eines Theils des bürgerlichen Elements, sich mit den Blaublütigen zu amalgamiren; die mehr für den Verbrecher, als die bedrohte Gesellschaft besorgte, übel verstandene Humanität; die socialdemokratischen Umtriebe; der Chauvinismus in seinen verschiedenen Gestalten; die Laxheit in der Auffassung der Wahrheit; das Reclamenwesen; die Büchermacherei; die Kriecherei nach oben; die Ordenssucht; die eigenthümlichen Principien der Polizei; die Wuth, Säcularfeierlichkeiten anzuregen und Denkmäler zu bauen; die Seuche der Prostitution - kurzum was nur irgend schadhaft und verwerflich ist, wird von Gutzkow bald mit bitterstem Ernst, bald mit schneidigster Ironie im Verlaufe seines Romans verurtheilt. Aber diesen Schattenseiten der gegenwärtigen Epoche, deren Charakteristik Gutzkow in den „Serapionsbrüdern“ vor den Zeitgenossen als ein warnendes mene mene tekel hingeschrieben hat, stehen auch Lichtseiten entgegen, die zwar den Eindruck der ersteren nicht ganz zu verwischen vermögen, aber doch die schrillen Duraccorde schließlich in einem warmen Mollton ausklingen lassen. Vor allem ist es eine Reihe weiblicher Charaktere - die Gutzkow mit einer Kenntniß der Frauennatur und mit einer dichterischen Empfindung, deren Wirkung sich Niemand entziehen kann, dargestellt hat - Charaktere, die mit den düsteren Partien des Romans und seinen „dunkeln Personen“ wieder aussöhnen. So die weiche, tieffühlende Helene Althing, die edle, entsagende Martha Ehlerdt und die feurige, extravagante Gräfin Ada, die durch die Liebe neugeboren wird.

Unter den Männern fehlt es ebenfalls nicht an achtens- und liebenswerthen Gestalten. Da ist vor allem der biedere Althing, ein Künstler von reinstem Wasser, ein Gegner aller krummen Wege, offen, ehrlich, frei von der Leber weg und darum nur selten vom Glücke voll begünstigt; ferner der Sohn Althing's Ottomar, und dessen Freund Graf Udo, zwei Männer verschieden in ihrer Anlage, aber theilweise ähnlicher in ihren Schicksalen und gleich an gutem Fond. -

Alle Figuren des Romans, die weiblichen wie die männlichen, die guten wie die bösen, sind in ihren Individualitäten mit Meisterschaft entwickelt; jeder Strich harmonirt in ihnen mit dem andern, kein Widerspruch stört die psychologische Vollendung.

Gewissermaßen den Mittelpunkt der an Interesse, wie Personen reichen Handlung bildet eine Wahlverwandtschaft, die zugleich den segensreichen Einfluß unserer nivellirenden Zeitrichtung illustrirt.

Die „Serapionsbrüder“, nach denen Gutzkow in Erinnerung an den Gespenster-Hoffmann seinen Roman nannte, sind eine Gesellschaft gebildeter Männer der verschiedensten Berufsklassen, die sich allwöchentlich am Montag in einem Weinlokal Berlins - denn in der deutschen Residenzstadt spielt der Roman - versammeln, um dort über die Zeitverhältnisse nach allen Richtungen hin zu discutiren. Gehören auch einige der „Serapionsbrüder“ zum Personalverzeichniß der Handlung des Romans, so kann doch von einem innigen Zusammenhang zwischen dieser Vereinigung und der Handlung nicht eigentlich die Rede sein. Die „Serapionsbrüder“ folgen dem Gang des Romans und begleiten ihn und die Zeit, in der er spielt, mit ihren Reflexionen; man hat daher ihr Verhältniß zum Roman selbst, nicht ungeschickt, mit dem des Chors zum antiken Drama verglichen. Jedem Schriftsteller wäre eine Nachahmung dieses Experiments nicht zu rathen. Gutzkow durfte es wagen, und es dünkt mich eine allzu große Vergötterung des formalen Elements, dem Roman aus diesem Grund - wie geschehen - etwas Unverbindliches nachzusagen.

Jedenfalls werden Gutzkow’s „Neue Serapionsbrüder“ einen dauernden Platz in der Literatur erhalten und die segensreichsten Früchte reifen, wenn sie auf einen nur halbwegs guten Boden fallen. Und das hoffen wir!

5.1.21. [Anonym:] Literarische Revue. In: Unsere Zeit. [Juni 1877]#

[Anonym:] Literarische Revue. In: Unsere Zeit. Leipzig. [Juni 1877], S. 793-794. (Rasch 14/48.77.06.2)

Es ist dieselbe Zeit, in die uns Karl Gutzkows Roman „Die neuen Serapionsbrüder“ (3 Bde, Breslau 1877) führt, die Zeit des Gründerthums. Die Conversation dreht sich auch oft um dieselben Themata, um Actienunternehmungen, um unrechtlich vorweggenommenen Gewinn, um Wagner’sche Musik und alles, was gegenwärtig die gesellschaftlichen Kreise beschäftigt. Wohl aber ist in Gutzkow’s Roman die künstlerische Architektur nicht von jener symmetrischen Gliederung, nicht in jenem strengen Stil gehalten wie in der „Sturmflut“. Die Gespräche der Serapionsbrüder bilden gleichsam einen Fries, der sich zwischen die Stockwerke der Dichtung selbst einschiebt; man kann dieselben auch nicht eine Rahmenerzählung nennen, aus welcher die andern Erzählungen des Romans herauswachsen; es ist ein Gesprächsfeuilleton, eine Causerie, an welcher sich einige der Helden des Romans selbst gelegentlich betheiligen. Jedenfalls ist die Verknüpfung eine sehr lockere. Man könnte an den antiken Chorus erinnert werden, doch hier macht sich der Unterschied fühlbar, daß dieser Chor seine schwunghaften Reflexionen an die dramatische Handlung selbst anschließt, während die neuen Serapionsbrüder über Trottoirkrankheit, Wagner’sche Musik und sehr viele andere allgemeine Gesprächsthemata sich auslassen und nur ausnahmsweise an dieses oder jenes Begebniß anknüpfen. Der Faden der Romanbegebenheiten selbst ist aber nicht mit Ereignissen der Culturgeschichte oder elementarischen Begebenheiten verknüpft, wie in dem Roman von Spielhagen: es sind Herzensfragen, um die es sich handelt; es sind Verwickelungen darin, welche an die Wahlverwandtschaften erinnern, wenngleich sie mehr, wie der Autor sagt, eine Liebesquadrille bilden, und von den weiblichen Charakteren steht in der Mitte der Handlung eine echt problematische Natur, ein Mädchen, das man nicht eigentlich zur Demi-Monde rechnen kann, das aber doch viele Lebensgewohnheiten und schnöde Geldspeculationen mit dieser Frauenklasse gemein hat und zuletzt ganz dem Straßentreiben verfällt. Edlere weibliche Charakter[e] sind in Contrast zu ihr gestellt; aber das Romanproblem selbst, das der Autor behandelt, tritt uns nicht mit jener Klarheit entgegen, mit welcher die Idee eines künstlerischen Organismus in allen seinen Pulsen durchsichtig vibriren soll. Es ist ein beliebiges Segment aus dem Kreise der Herzensverwickelungen, welches der Dichter 794 ausgeschnitten und auf den geistvoll erfaßten Hintergrund unserer jüngsten Epoche aufgeklebt hat. Der Roman löst sich auf in ein Conglomerat ineinanderverschlungener Erzählungen, durch welches sich wieder das Feuilleton der Plaudereien der Serapionsbrüder hindurchzieht mit selbständigem Reiz. Geistvoll wie alle Werke Gutzkow’s erregt es doch wenig warme Theilnahme für die Haupthelden, deren innere Kämpfe zum Theil etwas flüchtig geschildert sind.

Und wer ist der Hauptheld des Romans? Offenbar Ottomar Althing, der Sohn des Bildhauers, in staatsbürgerlicher Hinsicht Referendar, wie Dankmar Wildungen und die Helden vieler Gutzkow’scher Novellen, und Reservelieutenant, wie der Schiffshauptmann Schmidt, der Held der „Sturmflut“. Der Reservelieutenant versetzt die modernen Romanhelden zwanglos in die Sphäre des Heldenthums; denn Schmidt und Althing haben den großen Krieg von 1870 mitgemacht und das sind Antecedentien, von denen auf sie und ihre ganze Haltung ein gewisses Lustre ausströmt. Ein Liebesroman, wie es der Gutzkow’sche im Grunde trotz seiner zeitgeschichtlichen Reflexionen ist, braucht solchen Glanz nur, um den Helden Bedeutung zu geben, ohne der darstellenden Muse die Unkosten großer Schilderungen und geschichtlicher Tableaux zuzumuthen. Die Liebe Ottomar’s zur schönen, etwas derb sich einführenden Gräfin Ada, die Scheidung derselben von dem Grafen Udo, eine Ehe aus Familienrücksichten, die Liebe des Grafen zu Ottomar’s Schwester Helene, die aber nicht voll erwidert wird und nicht ihr Ziel erreicht, bilden die an dieser einen Stelle versagende Liebesquadrille des Romans. [...]

Der Stil Gutzkow’s ist von großer Beweglichkeit, von durchweg phosphorescirenden Adern geistiger Schärfe; er athmet ganz den, wir möchten sagen würzhaften Esprit, den dieser Autor nie verleugnet. Stets lebendig, originell, wird er nur selten schleppend in einzelnen Satz- und Wortbildungen. Der feine satirische Geist des Autors weiß aus allen Verirrungen unserer Gesellschaft Nahrung zu ziehen; er ist durchaus skeptisch, auch unsern nationalen Erfolgen, ebenso den socialen Institutionen gegenüber. Die Ehe selbst wird nirgends tragisch, im ganzen aber zu leicht genommen; es kostet den Grafen Udo ein zu geringes Opfer, sich von seiner Ada so früh scheiden zu lassen. Die Betrachtungen über die geschlechtlichen Verhältnisse sind kühn und schleierlos; einzelnes, was die sehr zweifelhaften Mysterien der Zeugung betrifft, hätten wir eher aus dem Roman fortgewünscht. Im ganzen gibt er einen neuen Beweis für des Autors ungetrübte geistige Frische und Kraft, und besonders für jene Art von Schärfe, die sich nagend und wühlend in unsere Lebensverhältnisse hineinbohrt, wo sie nur irgendeine etwas angefaulte Stelle zeigen.

5.1.22. [Anonym]: Die neuen Serapionsbrüder. Roman in 3 Bänden von Karl Gutzkow. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Nr. 72, 25. Juli 1877#

[Anonym]: Die neuen Serapionsbrüder. Roman in 3 Bänden von Karl Gutzkow. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Berlin. Nr. 72, 25. Juli 1877, 2. Blatt, [S. 2]. (Rasch 14/48. 77.07.25)

Ein neuer Roman von Gutzkow ist eigentlich ein Ereigniß für die literarische Welt, aber diesem Ereigniß gegenüber ist sie, und leider nicht mit Unrecht, ziemlich kalt geblieben. Nicht etwa, daß aus dem Roman eine Abnahme Gutzkow’scher Geisteskraft herauszulesen wäre: er wird noch nicht alt, aber er ist tief verbittert und steht vielen Erscheinungen der Gegenwart zu fremd gegenüber, um sie im richtigen Kolorit seinen Bildern einverleiben zu können. [...] Auch von den Romanfiguren sind einzelne stark verzeichnet, und wenn auch der Roman unter allen Umständen interessant bleibt, würden wir doch, falls das überhaupt denkbar wäre, am dringendsten wünschen, daß Gutzkow den Roman lieber nicht geschrieben haben möchte. Seinen gewaltigen, epochemachenden Vorgängern aus dieser Feder steht er kaum als Halbbruder zur Seite.

5.1.23. Gutzkow an Salo Schottlaender, 30. August 1877#

Gutzkow an Salo Schottlaender, Herrenalb, 30. August 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,240 (hsA).

Die Neuen Serapionsbrüder haben Sie, glaube ich, nicht genug, selbständig, ohne andre Romane, angezeigt. Wenigstens habe ich außer in Ihrer Zeitung nur 2 oder 3 in Berliner Blättern gefunden, die ich theilweise selbst bezahlte.

Selbstrezensionen meiner Bücher schreibe ich sehr ungern. Denn sie fallen natürlich viel nüchterner aus, als ich sie wünschte. Wollen Sie in der umstehenden an den offen gelassenen Stellen irgend ein schmeichelhaftes Epitheton selbst hineinschreiben?

5.1.24. Fritz Mauthner: Die neuen Serapionsbrüder. Roman in 3 Bänden von Karl Gutzkow. In: Die Gegenwart. Bd. 12, Nr. 38, 22. September 1877#

Fritz Mauthner: Die neuen Serapionsbrüder. Roman in 3 Bänden von Karl Gutzkow. In: Die Gegenwart. Berlin. Bd. 12, Nr. 38, 22. September 1877, S. 185-186. (Rasch 14/48.77.09.22)

Im Stande der Unschuld stellt man sich die Entstehung der Dichterwerke doch ein wenig anders vor als später, wenn man schon einen Blick hinter die Coulissen dieser Welt gethan hat. So mag es auch ein recht naiver Glaube sein, daß selbst ein bedeutender Dichter nur einmal im Leben einen großartigen, originellen und wahrhaften Zeitroman schreiben könne. Ein socialer Roman, wenn er nicht lediglich dazu bestimmt ist, in Leihbibliotheken ein stoffhungriges Publicum „abzufüttern“, müßte doch wenigstens an einer Gestalt die Kämpfe und Ziele der Zeit, ihre Einwirkungen auf den mitstrebenden Menschen und die Entwickelung desselben schildern. Es wäre beinahe eine Beleidigung des Lesers, hier erst noch an „Wilhelm Meister“ zu erinnern.

Die intime Kenntniß der Menschenseele, ohne welche kein Romanbild gelingen wird, erwirbt der Dichter jedoch nur im Studium einer einzigen Person, im Studium seiner selbst. Nur der Autor selbst ist sich für die Erforschung des geistigen Lebens eine reine und erste Quelle; alles Andere ist Vermuthung, Analogie, Täuschung oder - Wiederholung. Nur an sich selbst hat der Autor einen treuen Spiegel seiner Zeit. Jene Ansicht, daß der bedeutende Schriftsteller sich mit nur einem Zeitroman - einem, aber einem Löwen! - begnügen müsse, ist darum trotz ihrer Naivetät vielleicht doch nicht ganz unhaltbar, wenn auch ihr gegenüber manche Berühmtheit, die alljährlich, bei Gefahr des Vergessenwerdens, ihren gewohnten dreibändigen Zeitroman zu Wege bringt, in einem seltsamen Lichte erscheinen müßte. So naiv ist jener Glaube freilich nicht, daß er das Verbot der Vielschreiberei auch auf den historischen Roman ausdehnen möchte. Die Schachte der Welthistorie sind tief; wer nur die echte Wünschelruthe des Goldgräbers besitzt, kann trotz der Concurrenz aller Minengräber dort immer noch und immer wieder lauteres Gold emporfördern.

Eine andere Ausnahme ist dann einzuräumen, wenn ein seltenes Talent nach Abschluß seiner ersten innern Kämpfe ein höheres Alter erreicht und in dieses Alter eine außerordentliche Zeit fällt, die neue Bilder und Gestalten, neue Kämpfe und Ziele, neue Errungenschaften und Weltanschauungen an ihn heranbringt. Unsere Zeit nun ist außerordentlich. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die noch lebenden Dichter aus älteren Generationen, das inzwischen von ihnen selbst Erreichte bei Seite lassend, mit den jüngern um die Wette der Neuzeit ihr Räthsel abzulauschen suchen, daß sie auf die neuen Fragen neue Antworten finden, daß sie zu ihrer alten Werkstätte „nach dreißig Jahren" zurückkehren - daß Karl Gutzkow ein Menschenalter nach seinem „Zauberer von Rom“ sich wie damals wieder dem allgemeinen Strome entgegenstemmt.

Der alte Gegensatz, welchen man seiner Zeit mit den Worten „Idealismus“ und „Realismus“ zu - verschieben beliebte, ist in den Greisen noch nicht erloschen. Von Optimismus und Pessimismus hätte man reden sollen, wenn nicht auch diese Fremdworte alle Vorzüge und Fehler des Kautschuks an sich hätten. Optimisten und Pessimisten, Zufriedene und Malcontente stehen dem neuen deutschen Reiche ebenso geschieden gegenüber, wie einst den Domänen des seligen Bundesraths. Der Eine sieht heute noch die ganze Welt durch die rosigen Brillen seiner Jugend an, er freut sich alles Gewordenen, fördert das Werdende und versöhnt sich rasch mit allem Wirklichen. Die noch immer nicht um alle ihre Köpfe verkürzte Hofphilosophie mit ihrem Dogma von der „Vernünftigkeit alles Wirklichen“ äußert ihre Wirkungen auch fort, wo man sie nicht erwarten sollte. Der „Realist“ begnügt sich, die sichtbaren Modelle mit seinem besten Können und seinen besten Farben getreu nachzubilden, nur darum, weil sie ihm gefallen, weil er mit dem Gewonnenen zufrieden ist. [→ Globalkommentar: 6.1.5.  Ästhetik des Bruches]

Gutzkow ist eine solchen Optimisten entgegengesetzte Natur. Die Unzufriedenheit, die Mutter des Idealismus, ist seine Muse. Es ist jene edle Unzufriedenheit, ohne welche kein menschlicher Fortschritt gedacht werden kann, ohne welche neben den größten Gräueln auch die größten Heldenthaten der Weltgeschichte unerklärlich wären, die Unzufriedenheit, ohne welche unser Urahn wohl schwerlich zum ersten menschlichen Kleidungsstück gegriffen hätte, kurz jene Eigenschaft, welche für ihren Träger eher ehrenvoll als angenehm sein dürfte. Viele Jahrzehnte sind unter Schlachten und Siegen, Bauten und Einstürzen vergangen, seitdem Karl Gutzkow zuerst an den Pfeilerchen unserer Gesellschaft zu rütteln begann, aber der Mann ist derselbe geblieben, noch immer beherrscht ihn die Schiller’sche Sehnsucht nach den Göttern Griechenlands oder doch nach Göttern überhaupt.

Wovon handelt Gutzkows neuer Roman? Oder besser, wovon handelt er nicht? Die hohe Siegessäule und das Streberthum der Hauptstadt, Richard Wagner und weibliches Vereinsunwesen, der Philosoph des Unbewußten und die Gründer, Bismarck und die Thiergartenstraße, Alles, Alles und einiges Andere erhält ein Urtheil oder ein Streiflicht. Sätze, welche als Candidaten für Büchmanns Sammlung „geflügelter Worte“ auftreten, sind nicht selten. Gutzkow ist ein Verschwender, der Gold, Silber und Nickel in Haufen bei sich trägt; während er es freigebig verstreut, nimmt er sich nicht erst die Mühe, die Geldsorten zu sondern.

Gutzkows eigenthümlicher Geist wirkt so ansteckend, daß man gleich ihm vom Hundertsten in’s Tausendste geräth, kaum daß man beim Schreiben an ihn zu denken gezwungen wird. Man müßte jedoch ein ganzer Gutzkow und in der Form noch mehr als Gutzkow sein, um den vielverschlungenen Inhalt seines Romans klar und erschöpfend in Kürze nachzuerzählen. Es ist wie beim Eintritt in einen großen, fashionablen Restaurationsgarten. Der Fremde kann sich in der dichtgedrängten Masse der Besucher trotz des hellen Gaslichtes nicht sobald zurecht finden; ein Eingeweihter muß ihn erst belehren: hier sitzen die Maler mit ihren Käufern und Bestellern, dort wimmeln die Vertreter der Börse mit ihren Frauen, dort moquiren sich die Schriftsteller über die Andern. Oder man müßte ein geborener Stratege sein, um die Massenbewegungen mit einem Blicke beherrschen zu können, mit welchen Gutzkow in seinen großen Romanen zu wirken pflegt; auch die handelnden Personen der „Serapionsbrüder“ könnte man nach drei großen Lagern ordnen, welche alle - um bei dem Bilde zu bleiben - mit grobem Geschütz versehen sind.

Im ersten Lager campiren Gutzkows Aristokraten, eine Menschenklasse, welche zu bedauern wäre, wenn die Wirklichkeit dem Bilde des Dichters entspräche, und welche zu bedauern ist, weil sie dem Dichter so wenig Sympathien einzuflößen vermochte. Die einzige achtunggebietende und mit Liebe gezeichnete Gestalt aus diesem Kreise ist der alte Graf Treuenfels, ein ganzer Mann, der eine natürliche Tochter väterlich liebt, seinen leiblichen Neffen Udo jedoch der jungen Gräfin Ada Forbeck testamentarisch zum Gemahle hinterläßt, weil er deren Herrn Papa einmal niederduellirt hat; aber dieser alte Graf Treuenfels ist beim Beginn des Romanes schon todt. Seine Wittwe, eine häßliche, unbedeutende Prinzessin, tröstet sich bereits bei dem Gedanken an ein Mausoleum für den Verstorbenen und der junge Graf ist mit Ada verlobt, während deren Mutter und Bruder im Hinblick auf den reichen Schwiegersohn respective Schwager die aristokratischsten Schulden machen.

Das zweite Lager umfaßt die Vagabunden, die romantischen Existenzen, Leute, die ihren Beruf verfehlt haben. Am klarsten tritt Edwina hervor, eben jene natürliche Tochter des alten Grafen, ein Weib voll Geist und Sinnlichkeit, eine Aspasia ohne Harmonie, eine Phryne ohne Gemeinheit, hinreißend lebendig gemalt. Sie hat eine dunkle Vergangenheit, aus deren Nebeln gewisse schleierbedürftige Paragraphen des Strafgesetzes hindurchschimmern, sie erzwingt sich einen Antheil am Erbe des alten Grafen, sie erscheint als glänzendes Meteor in den bevorzugten Kreisen der Hauptstadt - man hört deutlich die Spatzen des 186 Berliner Thiergartenviertels zwitschern -, sie vereinigt in ihrem Salon die „Gesellschaft“, bis wir sie einmal des Nachts, mit geschminkten Wangen, in verschossenen, grellen Gewändern auf dem Bürgersteig einer bekannten langen Straße wiederfinden, wo der eigene Pflegevater die Elende erschlägt. Ihr Bräutigam verkommt unter den Schrecken des Delirium tremens; es ist ein socialistischer Arbeiterführer, der im Dienste einiger „Gründer“ wenige Monate lang sein niedriges Ideal des gesteigerten Lebensgenusses besessen, um im allgemeinen Zusammensturze der großen Schwindelzeit mitgerissen zu werden. Die Typen dieser Zeit: der geadelte Agent Cohn von Cohnheim, der heruntergekommene Träger eines alten Namens, der in Börsenpapieren speculirende Privatmann, keiner fehlt in diesem Cirkel.

Den Mittelpunkt der Gutzkow’schen Heerschaaren bilden die schlichten Menschen, die Lieblinge des Dichters, welche aus Erkenntlichkeit für seine Neigung dessen eigenste Gedanken im Munde führen. Der prächtige alte Bildhauer Althing, der Erbauer des Mausoleums für den Grafen Wilhelm, ist der Alters- und Ehrenpräsident dieser Gesellschaft. Es ruht auf ihm wie der Fluch einer Müllner’schen Schicksalstragödie; seine erste Schöpfung ist vernichtet worden, da unvorsichtige Arbeiter das feuchte Thonmodell vor der Türe des Ausstellungsgebäudes fallen ließen, und sein Mausoleum wird von den barbarischen Seelenfreunden der alten Gräfin verstümmelt werden, weil die engherzige Wittwe plötzlich von der längst verjährten Untreue ihres Gatten erfährt. Es scheint Anfangs, als ob der alte Bildhauer auch mit seinen Kindern viel Unglück erleben solle, denn sein Sohn Ottomar liebt - und nicht im mindesten unglücklich - die nunmehrige Gräfin Ada Treuenfels, die Frau seines besten Universitätsfreundes, während Helene, die liebliche Bildhauerstochter, mit dem schmeichelhaften Gedanken spielen kann, vom schönen und feingebildeten, wenn auch etwas unmännlichen Grafen Udo angeliebt zu werden. Goethes Wahlverwandtschaften liegen nahe, der encyklopädische Gutzkow würde zur Vergleichung an Schopenhauers „Tetragamie“ erinnern. Doch endlich führen der Dichter und die Liebe Alles zu einer befriedigenden Lösung. Die Scheidung des gräflichen Paares wird vollzogen, Ada siedelt mit ihrem zweiten Gatten, dem Kreisrichter Ottomar Althing, in irgend ein polnisches Städtchen, Graf Udo erhält von Helenen das zierlichste aller Körbchen, diese selbst heirathet einen Andern. Die Geschichte dieses Andern wieder würde allein schon einem ärmeren Manne als Gutzkow den Stoff zu einem neuen Romane geboten haben. -

Bei Gutzkow kommt es nicht sowohl darauf an, an welche Fabel er die nöthigen Schlinggewächse seiner eigenthümlichen Gedanken und Urtheile anklammert, als vielmehr auf diese Gedanken und Urtheile selbst. Als ob er sich nicht damit begnügen könnte, in seiner eigenthümlichen Schreibweise gleichsam die Variationen zu den von ihm selbst gefundenen Motiven zu spielen, hat er in seinem neuen Romane sich noch besonders eine Art von Ventil geschaffen, durch welches er sich der „Tausend Gedanken“, die sein Gehirn überfüllen, bequem und unauffällig entledigen kann, ohne ein eigenes Buch davon zu schreiben. Dieses Ventil ist sein Einfall, den Roman die „Serapionsbrüder“ zu nennen, nach dem Vorgang von E. T. A. Hoffmann eine Montagsgesellschaft dieses Namens in einer Berliner Weinstube zu begründen, wo geistvolle Männer - in sämmtlichen Schriften Gutzkows kommt vielleicht kein einziger geistloser Mensch vor! - die Ereignisse des Romanes besprechen, über die Zeit und ihre hervorragenden Männer zu Gericht sitzen, den Dichter commentiren, kurz den Chor der antiken Tragödie in seiner neuesten Umgestaltung bilden. Sammelte sich doch der alte Chor auch um den Altar des Dionysos! - würde Gutzkow sagen. Die Idee wäre jedoch glücklicher, wenn nur alle Mitglieder des Serapionsbundes in das Räderwerk des Romans gleicherweise eingriffen oder alle ihre interessanten Reden unlöslich mit ihm verbunden wären. Ein philologischer Witz deutet das Grundproblem an. Die Mitglieder der Montagsgesellschaft bekennen sich, außer zu Serapion, auch zu Serapis, sie huldigen ihm als der Sonne der Nacht. Die Nachtseite des Daseins, die häßliche Kehrseite aller Dinge will Gutzkow in seinen Serapionsbrüdern beleuchten, und das ist ihm gelungen, so scharf und so grell, daß Einem die Augen schmerzen. Schon in der Weinstube sind die Choleriker, die sogenannten Pessimisten seine Leute; die Zufriedenen dagegen sind Streber, Windfahnen, Ordenjäger. Dieser bittere Grundzug wird dem Romane bei Vielen schaden; er verhärtet die Züge der einzelnen Gestalten und drückt ein wenig den Helden. Dieser Ottomar Althing ist der eigentliche Vertreter unserer Zeit und als solcher ausdrücklich mit den nöthigen Attributen ausgestattet; wir müssen ihn achten und seine Handlungsweise in jedem Momente billigen, doch begreifen wir kaum, warum Ada sich in ihn gar so närrisch verliebt.

Das Urtheil über unbefriedigende Züge eines Werkes vom Dichter des „Zauberer von Rom“ sollte vielleicht nicht so offen sein. Der Lehrer eines Kronprinzen, den ich einmal fragte, wie er denn den hochgestellten Zögling corrigire, wenn derselbe z. B. 2 x 2 = 5 setze, antwortete mir: „Ich pflege dann zu sagen: Sehr gut kaiserliche Hoheit; aber nehmen wir an, es wäre 4, und fahren wir fort.“

Bei einem Gutzkow sind solche Umschreibungen überflüssig und kleine Mängel ändern nichts an dem Werthe des Mannes. Wenn wir - und das ist bei literarischen Betrachtungen beinahe nothwendig - die neuere deutsche Literatur von der Erscheinung Goethes ab verfolgen, in dessen Geiste sich alles Vorhergegangene, wie die Wässer der Gebirgsquellen im vermittelnden Alpensee sammelt, so wird gerade Gutzkow durch die Universalität seines Wissens, durch die Fruchtbarkeit seiner Feder, durch die Vielseitigkeit seiner Anregungen als ein Wahlverwandter Goethes sich geltend machen. Diese Verwandtschaft hat er auch in seinem neuen Werke nicht verleugnet.

5.1.25. Gutzkow an Klara Mosson, 20. November 1877#

Gutzkow an Klara Mosson, Sachsenhausen, 20. November 1877. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 77,320I (maschA).

Merkwürdig, dass ich alles was ich in den Neuen Serapionsbrüdern über unsere Zeit sage, bei Dubois Reymond (Rundschau) bei Virchow (Münchener Rede) wiederholt finde! Man liest mich entweder im Stillen oder ich sage was in der Zeit liegt einige Monate früher als Andre.

5.1.26. Rudolph Genée: Gutzkow’s „Neue Serapionsbrüder“. In: Deutsche Rundschau. Bd. 13, Heft 3, Dezember 1877#

Rudolph Genée: Gutzkow’s „Neue Serapionsbrüder“. In: Deutsche Rundschau. Berlin. Bd. 13, Heft 3, Dezember 1877, S. 518-521. (Rasch, Nachträge, 14/48.77.12.1)

Dieser neueste Roman Gutzkow’s gibt ein höchst erfreuliches Zeugniß für die dauernde Geistesfrische und Schaffenskraft des berühmten Autors. Nicht nur während der Lectüre gewährt das Buch eine angenehme Unterhaltung, sondern es gibt so lebhafte und starke Anregungen zum eigenen Denken, daß es dadurch fortdauernd befruchtend wirkt. Die eigentliche Romanfabel ist auch hier weniger das Gebilde einer kühn schaffenden dichterischen Phantasie, als das Product eines scharfen Verstandes; und man muß immerhin bewundern, wie dieser kritisch forschende, erwägende und combinirende Geist auch in der freien Erfindung zu solchen Resultaten gelangen kann.

Allerdings ist mit dieser Art des Schaffens ein Uebelstand verbunden, der sich uns sehr bald fühlbar macht. Es ist die gewählte Form der Composition, welche den Titel bestimmte; vielleicht auch ist’s der Titel, der die Form bestimmt hat. Daß die „neuen Serapionsbrüder“, eine Montagsgesellschaft, welche in einer Berliner Weinstube zusammenkommt, nicht eine bloße Copie der Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmann’s sind; daß sie nicht den Zweck haben, sich und den Lesern verschiedene Geschichten zu erzählen, ist selbstverständlich. Es sollte sich vielmehr aus verschiedenen Persönlichkeiten der Gutzkow’schen Montagsgesellschaft der Roman entwickeln, der eben den Inhalt des ganzen Buches ausmacht. Dies nur konnte des Dichters Absicht gewesen sein, sonst wüßten wir gar nicht, wozu überhaupt diese Gesellschaft da wäre. Aber dieser Plan ist vom Dichter nicht durchgeführt worden, und er entfernt sich von ihm schon so bald, daß man sich wundern muß, warum er ihn nicht lieber ganz aufgegeben hat. Von den zuerst eingeführten Persönlichkeiten tritt nur Einer, der Justizrath Luzius, einmal in den Vordergrund der Geschichte, aber eigentlich nur episodisch, denn seine Tragödie bleibt auf ein paar Capitel des Romans beschränkt. Sanitätsrath Eltester, Bankier Ascher Aschersohn und Andere verschwinden gleich nach dem Anfang völlig; selbst der bedeutungsvoll und anziehend eingeführte alte Künstler, der Bildhauer Althing, hält im Roman nicht Stand und wird von anderen Personen in den Hintergrund gedrängt. Sein Sohn Ottomar, eine der Hauptfiguren des Romans, erscheint nur gelegentlich in der Weinstube, um seinen Vater zu suchen, und die ganze übrige Personengruppe des Romans, Graf Udo Treuenfels, Helene, Ada, Edwina u. s. w., steht zu den „neuen Serapionsbrüdern“ in gar keiner Beziehung. Diese sind nur dazu da, um einige Tagesfragen in geistreicher Weise erörtern zu lassen, aber ihre Verbindung wird vom Dichter nur künstlich und ohne jede Nothwendigkeit aufrecht erhalten. Hier und da muß dieser sich selbst und uns an ihre Existenz wieder erinnern, indem er das eine und andere Capitel damit beginnt, daß wieder einmal ein Montag gekommen sei. Aber die Montage hören nach und nach ganz auf, weil weder der Dichter sie braucht, noch der Leser sich für sie interessirt. Wird einmal nach langer Zeit die Montagsgesellschaft uns wieder in Erinnerung gebracht, so wissen wir schon, daß darin nicht das Geringste zur Förderung des Romans geschieht, während die Geschichte selbst unser vollstes Interesse so in Anspruch nimmt, daß es uns gar nicht behagt, auch nur für kurze Zeit davon abgelenkt zu werden. Das fühlt der Dichter selbst, und die Montagsgesellschaft verduftet unter seinen Händen. Denn auch die Form des „letzten Capitels" kann nur als eine Concession an die ursprüngliche Anlage des Buches betrachtet werden. Von inneren Beziehungen, die etwa zwischen den in der Gesellschaft zur Discussion kommenden Fragen und der Handlung des Romans bestehen könnten, ist Nichts zu er-519kennen. Nur die Idee von der „Sonne der Nacht“ wird gelegentlich für die Erzählung verwendet, ohne jedoch zu einer dominirenden Bedeutung zu gelangen.

Aber trotz dieses offenbaren Bruches, der durch die Form des Gutzkow’schen Buches geht, und den wir erst dann nicht mehr empfinden, sobald wir an die Existenz der Montagsgesellschaft gar nicht mehr erinnert werden, gibt die Compositionsweise Gutzkow’s zu interessanten Beobachtungen Gelegenheit. Die Geschichte des Grafen Udo und seines Onkels bleibt uns lange Zeit durch die Art und Weise, wie sie berührt wird, unklar, und zwar mit Absicht des Dichters. Er führt uns unvorbereitet in Situationen ein, in denen wir uns nicht gleich zurecht finden können, und für die wir erst sehr allmälig das richtige Verständniß gewinnen. Wenn dies allerdings im Anfange die Lectüre ein wenig erschwert, so gibt es ihr doch auch einen gewissen Reiz und entbehrt keinesfalls der künstlerischen Berechtigung. Zu einer anderen, ähnlichen Betrachtung gibt jenes Capitel Veranlassung, welches uns ganz plötzlich in die tragische Geschichte des Justizraths Luzius einführt. Auch hier geschieht dies nicht durch eine klare und nackte Erzählung dessen, was früher geschehen ist, sondern durch Vorführung eines nächtlichen Bildes, eines von Reue und Gewissensbissen Gemarterten. Was wir aus den Gedanken, die in dem Manne hier stürmen, erfahren, ist noch nicht die Geschichte selbst, sondern nur ein Schattenbild derselben, die in undeutlichen Umrissen an uns vorüberzieht.

Wie die Luzius’sche Episode unvermittelt auftaucht, so wird sie auch rasch wieder abgethan. Dagegen sind die beiden neben einander laufenden Hauptlinien des Romans, an denen hier Graf Udo, Edwina und ihre in der Vergangenheit liegende Geschichte, Ada, Ottomar und Helene, dort Dr. Wolny und seine Gattin, Martha und Raimund Ehlers [sic] betheiligt sind, mit großer künstlerischer Besonnenheit durchgeführt und mit einander verschlungen. In der Persönlichkeit des Dr. Wolny und namentlich in seinem Verhältniß zu seiner gealterten Gattin gibt uns Gutzkow ein vollendetes Product seiner scharfen Beobachtung und Kenntniß des Lebens. Ebenso ist der junge Graf Udo, eine edel angelegte, aber in seinem Wollen und Können etwas schwanke Natur, ein vorzügliches und durchaus neues Charakterbild. Nicht minder gelungen ist die mehr außerhalb der Haupthandlung stehende Figur des componirenden Fürsten Rauden; besonders in dem Verhältnisse dieses eitlen, geizigen und unmännlichen Prinzen Narciß zu der abenteuerlichen Edwina zeigt sich Gutzkow’s Befähigung im glänzendsten Lichte. Die geistreiche Ironie, die in seiner Menschenkenntniß wurzelt, ist Gutzkow’s hervorragende Stärke. Er hat in diesem Punkte etwas Verwandtes mit dem größten Menschenkenner unter den englischen Romandichtern, mit Thackeray. Wie bei diesem hat auch Gutzkow’s Ironie oft einen harmlos liebenswürdigen Ton, aus welchem, den kleinen menschlichen Schwächen gegenüber, eine gewisse gutmüthige Toleranz klingt. Wo es sich aber bei ihm um große sittliche Grundsätze handelt, ist seine Ironie schneidend und in’s Herz treffend. Dies ist hier der Fall in seiner Schilderung einer gewissen Sorte frech dünkelhafter Aristokratie, wie in seiner Behandlung des Socialdemokraten Ehlerdt, der Gründer Rabe, Forbeck und Cohn. Am glücklichsten und lebensvollsten sind seine Charakterfiguren da, wo sie als bestimmte Typen erscheinen. Dagegen wollen die Gestalten Ottomar’s und Helenens, der beiden reinsten Charaktere, keine rechte Plastik gewinnen, - obwohl es gerade die Kinder eines großen Bildhauers sind. Diese ganze Familie des würdigen Künstlers dient dazu, ein schärferes Licht auf jene aristokratischen Kreise zu werfen, in denen man mit den Gesetzen der Moral und der Sitte leicht umspringt. Die ganze, durch eine übernommene Verpflichtung eingegangene Ehe des Grafen und Ada’s, so bedenklich sie in ihren Consequenzen auch erscheint, ist an sich gewiß nichts Unwahres. Bedenklich aber wird die Situation in dem Wendepunkte, da Helene und Ottomar sich entschließen, der Einladung des Grafen nach Hohenlinden zu folgen. Daß Ottomar bei aller Strenge seiner Grundsätze dem Reize nicht widerstehen kann, ist eher begreiflich; bei Helenen aber, wie sie uns geschildert worden, ist dieser Schritt psychologisch unerklärlich, und noch undenkbarer ist es, daß der alte Bildhauer, der 520 schon auf dem Punkte stand, dem Grafen sein Haus zu verbieten, in diesen Schritt ohne Weiteres willigt. Es bedarf einiger Zeit, ehe wir mit dem schweren Bedenken gegen die Wahrscheinlichkeit uns abfinden können. Daß es geschieht, erreicht der Dichter durch die ganz meisterhaft ausgeführten Scenen, welche eben nur auf diesem glatten Boden balanciren konnten.

Der anziehendste und bis in die feinsten Einzelnheiten am vollendetsten geschilderte Charakter des Romans ist Ada. Auch sie entstammt jenen aristokratischen Kreisen, gegen welche der Dichter den Stachel der Satire und seinen sittlichen Unmuth richtet. Aber in ihr steckt ein so guter Kern, daß wir dem Processe ihrer Läuterung mit innigem Wohlgefallen folgen, und ihr selbst da, wo sie gegen das Gebot der Sitte rücksichtslos sich aufbäumt, um ihr Recht des Herzens geltend zu machen, nicht zürnen können. Ihre Unarten, die auf Rechnung einer schlechten Erziehung kommen, bilden mit ihren liebenswürdigen Eigenschaften ein so harmonisches Ganzes, daß die Lebenswahrheit dieser Persönlichkeit in keinem Momente geschwächt erscheint und daß wir in der saloppen Redeweise dieser ungezogenen Grazie das drollige „Na ja“ wirklich zu hören vermeinen. Ada’s rücksichtslos sich äußernde Liebe zu Ottomar, dem vertrautesten Freunde ihres Gatten, das Verfehlte und Freudlose der ganzen ehelichen Verbindung und die durch Ada’s Entschlossenheit sich vollziehende Lösung derselben, endlich Helenens Stellung zu dem für sie schwärmenden Grafen und Ottomar’s Zurückhaltung gegen die von ihm geliebte Ada -: das alles bildet eine Kette von Situationen, welche die allersubtilste Behandlung erforderten, und welche durch des Autors geistvolle Darstellung den Schwerpunkt des Romans bilden.

Weniger geschlossen erscheint uns die abenteuerliche Geschichte Edwina’s, der natürlichen Tochter des verstorbenen Grafen Wilhelm. Hier tritt zuweilen eine gewisse Unruhe ein, welche des Autors eigene Unsicherheit in seinen Absichten verräth. Dies gilt namentlich für die erste Hälfte der Geschichte, in der wir keine rechte Vorstellung von Edwina’s Wesen gewinnen können. Mehr und mehr aber wächst auch sie im Verlaufe des Romans; ihre Verbindung mit Reinhold [sic] Ehlerdt hat sehr rührende Züge, und von ihrem tragischen Untergang ist in gedrängter Kürze ein ergreifendes Bild gegeben. Was Reinhold Ehlerdt betrifft, den talentbegabten, aber eitlen, großsprecherischen Socialdemokraten, so hat Gutzkow in ihm und seiner nächsten Umgebung einen sehr energischen Protest gegen die Ansprüche dieses modernen gesellschaftlichen Auswuchses darzulegen versucht. Dieser Protest aber würde berechtigter erscheinen, wenn der Dichter sich entschlossen hätte, weniger einseitig in seiner Schilderung dieser Secte zu sein; wenn er die besseren und berechtigteren Elemente, welche sie enthält, nicht gänzlich ignorirt hätte. In ihrem Auftreten sind diese Leute brutal und zugleich carikirt theatralisch geschildert, in ihren Handlungen treulos und perfid. Ein genialer Zug dagegen ist es, wie er den Haupthelden Ehlerdt sich selbst untreu werden und mit der gemeinsten Gründersippe in Verbindung treten läßt. Von diesem Kleeblatt, Rabe, Baron Forbeck und Cohn von Cohnheim, kommt der Letztere erst sehr spät, erst in der Mitte des Bandes, zu einer eingehenden Charakteristik. Aber dieser verdanken wir dann eine der ergötzlichsten Scenen, voll zündenden Humors.

Aber Socialdemokratie und Gründerschwindel sind nicht die einzigen Tagesfragen, welche Gutzkow unter seine kritische Lupe nimmt. Richard Wagner fehlt so wenig, wie das Thema der Leichenverbrennung, und in der bescheidenen Figur eines gewissen Plümicke, eines Vegetarianers, nimmt Gutzkow seinen sehr entschiedenen Standpunkt in der Ernährungsfrage ein, so sehr entschieden, daß er den armen Vegetarianer sogar an den Folgen seiner Pflanzenkost, an der Schwindsucht, sterben läßt.

In des Autors politischen Raisonnements wird man wieder durch seinen klaren Blick, seine scharfe, durch nichts beeinflußte Urtheilskraft äußerst wohlthuend berührt. Mit gerechtem Unwillen verfolgt er das politisch-sociale Streberthum, sowie den überhand nehmenden Servilismus, auch in unserer Tagespresse. Gutzkow sagt 521 den Deutschen die Wahrheit, nicht wie ein vergrämelter Demokrat von ehemals, sondern als ein Mann von Grundsätzen, von Ehrgefühl und Charakter. Man mag manchmal seinen Ansichten widersprechen wollen oder bei anderen zweifelnd und kopfschüttelnd verweilen, - immer aber ist er anregend und interessant.

An dem eigentlichen Romaninhalte des Buches ist es kein geringer Vorzug, daß sich das Interesse an den Begebenheiten wie an den geschilderten Charakteren fortschreitend steigert und im dritten Bande seinen Höhepunkt erreicht. Die Lösung der Conflicte kommt mit dem Schlusse des Buches vollständig aus, kein Zweifel und kein Unbehagen bleibt zurück, und auch die etwas sonderbare Schlußcadenz des letzten Capitels, in welchem uns sogar ein Einblick in die Zukunft der drei gegründeten Familien gewährt wird, kann an diesem günstigen Eindruck Nichts ändern.

5.2. Dokumente zur zweiten Auflage#
5.2.1. [Anonym:] „Die neuen Serapionsbrüder“. Roman von Karl Gutzkow. 2. Auflage. In: Europa. Nr. 49, Dezember 1878#

[Anonym:] „Die neuen Serapionsbrüder“. Roman von Karl Gutzkow. 2. Auflage. In: Europa. Leipzig. Nr. 49, Dezember 1878, Sp. 1921-1922. (Rasch 14/48.78.12.1)

Die zweite Auflage eines Buches erlaubt eine sichere Voraussetzung: schon Hunderten, Tausenden vielleicht ist es ein lieber Freund geworden und noch immer wird neues Bedürfen, seine Bekanntschaft zu machen, laut. Wie sollte dies aber mit einem Gutzkow’schen Buche anders sein; gilt Gutzkow doch als der getreue Ekkehard deutschen Geistes- und Gedankenlebens, und ein Buch von ihm ist und bleibt ein literarisches Ereigniß. „Die neuen Serapionsbrüder“ kann man mit Fug und Recht ein glänzendes Zeugniß der Eigenart Gutzkow’s nennen, der Eigenart, die den Dichter für 1922 immer so hoch erhoben über die massenhaft producirenden Talente. Seine Darstellung ist überall geistdurchdrungen, weniger bemalt durch schwungvolle Phantasmen, als das Werk fein spinnender, hervorragender Verstandeskraft; in stets bewegter, lebendiger und pikanter Sprache berichtet er von der Zeit und ihrem Inhalt, nicht in ermüdenden Reflexionen, sondern in Betrachtungen, die in innerlichem Zusammenhange mit der Handlung selbst stehen. So finden wir in dem trefflichen Buche zwischen den Ranken der fesselnden Dichtung geistvolle Causerie über die wichtigsten Dinge der Gegenwart und in fast dramatisch belebten Dialogen maßgebende Ansichten über Kunst, Theater und Musik, über Staat und Gesellschaft. Der zweiten Auflage der „Serapionsbrüder“ hat Gutzkow ein Vorwort hinzugefügt, das ganz dazu angethan ist, dem Romane noch eine besondere Bedeutung zu verleihen - die Socialdemokratie, diese brennendste Frage der Gegenwart, bespricht er darin in seiner Weise, das heißt mit Geist, Sarkasmus und schneidender Schärfe, mit dem Muthe, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen, ohne Scheu vor den „Autoritäten“.

5.2.2. [Anonym:] Carl Gutzkow und der Zeitgeist. In: Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 267, 13. November 1878#

[Anonym:] Carl Gutzkow und der Zeitgeist. In: Königsberger Hartungsche Zeitung. Königsberg. Nr. 267, 13. November 1878, Abendausgabe, S. 3200.

Carl Gutzkows Roman „Die neuen Serapionsbrüder“ (Breslau, S. Schottländer) ist soeben in zweiter Auflage erschienen und wird, wir hoffen es, noch manche weitere Auflage erleben, wie es einem Werke, welches nicht für das bloße Amusement der lesewüthigen Menge geschrieben ist, und dem berühmten Namen seines Autors gebührt. Ein ganz eigenartiges Interesse erweckt das Vorwort, welches Gutzkow dieser zweiten Auflage vorangesandt hat, ein psychologisches bezüglich - seines Verfassers. Nachdem derselbe sich darin zunächst in bissigen Ausfällen gegen die Kritik ergangen, die sein Werk gefunden hat, kommt er auf die Socialdemokratie, deren Ausschreitungen er bekanntlich in einigen sehr scharf gezeichneten Figuren seiner „Serapionsbrüder“ gekennzeichnet hat. Und nun geht es an eine kreuzzeitungshafte Abkanzelung des Zeitgeistes, der diese Scheusale aus sich geboren und durch seine Nachsicht großgesäugt habe. Was solle dagegen die Schule helfen! Die Schule tauge selbst nichts[;] sie sei die wahre Pflanzstätte des Dünkels und der Blähsucht, der Gemüthsleere, des Pietätsmangels. „Nehme man doch die meisten modernen Lehrer. Wo ist da ein Funke von Demuth? Alles wissen ja die Herren. Alles können sie. Die Schullehrer haben Königgrätz gewonnen, Wörth und Sedan. Was kann aus der Schule Anderes kommen, als Prahlsucht? Unsere ganze wissenschaftliche Gegenwart sogar auf Universitäten ist Drängeln“ (d. h. Streberthum). Aber als das Grauenhafteste (sic!) erscheint Herrn Gutzkow die Basis, auf welcher man jetzt steht, das allgemeine, directe Stimmrecht, welches einen Humboldt neben einem Droschkenkutscher mit gleicher Wirkung abstimmen lasse. Durch ein Mißverständnis, vielleicht durch einen Macchiavellismus sei es in die Welt gekommmen. Die Staatsmänner, welche es erfunden, hätten sich wohl nicht träumen lassen, daß es bis zu Kugeln und Rehposten Unter den Linden führen würde, ebenso wenig, wie die stabilen „Begnadigungen“ scheußlicher Raubmörder wohl an künftige Rehposten gedacht hätten. Ferner denuncirt Herr Gutzkow die „Theaterfreiheit“ (Entrée 30 Pf.), die Posse mit ihren schlechten Couplets und endlich die deutschen Witzblätter, die das Volk „methodisch zum Gemeinen, Unedeln, Pietätlosen erziehen“, als die Quellen, aus denen die „Schundgesinnung“ geflossen sei, als „deren Cumulation das eherne Lohngesetz, die Theilung der Rente, die productive Genossenschaft, die Verdonnerung des Capitals, der Schuß Hödels, die Frivolität Nobilings entsprungen sind.“ „Auch die Debatte über die ‚Arbeit‘ auf den Kathedern muß von den Regierungen ohne Weiteres abgesetzt werden.“ - - So Herr Gutzkow in seiner Vorrede zu der 2. Auflage der „Neuen Serapionsbrüder“. Das Volk, an dessen literarischem Ruhm er mitgearbeitet hat, wird diese Vorrede lesen und wird trotzdem das hohe Verdienst seines Dichters nicht auslöschen von den Tafeln seines dankbaren Gedächtnisses. Es wird nur den alten verbitterten Mann bedauern, dessen Blick die trüben Spinnweben des Pessimismus so ganz verdüstert haben, daß er die Gebote der Freiheit, die in unauslöschlichen Lettern an dem Horizonte unserer Zeit flammen, nicht mehr zu erkennen vermag.

5.3. Rezeptionsgeschichte#

Zu den Besonderheiten des mehrbändigen Romans gehört, zumal wenn er wie Die neuen Serapionsbrüder zuerst als Feuilletonroman in den Fortsetzungen einer Zeitung erscheint, dass er nicht erst als abgeschlossenes Werk, sondern schon als ‚work in progress‘ rezipiert wird. Über einen längeren Zeitraum, der mit dem Anfang des Zeitungsabdruckes beginnt, überlagern sich Produktion und Rezeption des Werkes, ein Zustand, den Gutzkow als besonders quälend empfand, weil seine Furcht vor der Kritik, die er als eine prinzipiell feindlich gesinnte Macht wahrnahm, im Alter ausgesprochen pathologische Züge entwickelte. Nach dem Entschluss seines Verlegers Schottlaender, die drei Bände der Buchfassung nicht geschlossen, sondern einzeln von Januar bis März 1877 zu veröffentlichen, glaubte er seinen Roman durch die Tollheit meines Verlegers total ruinirt (5.1.4.).

Bereits vor dem Erscheinen der ersten Fortsetzungen aber ängstigte er sich vor der Verständnislosigkeit der Leserschaft und verzögerte die Übergabe des Manuskripts an die drängelnde Redaktion durch immer neue Verbesserungen: Es kommt auf den Anfang so viel an! Ich fürchte mich förmlich vor dem Publikum des Berliner Tagblatts (4.1.22.). Selbst gegenüber der alten Freundin Klara Mosson zeigte er sich tief verletzt, nachdem sie offenbar die Lektüre des Romans im „Berliner Tageblatt“ vernachlässigt hatte, und unterstellte ihr einen geheimen Hang zu den Berliner Modeautoren, während sie sein Buch nur kaufe, um es in die Bibliothek zu stellen (5.1.1.).

Verständnislose Leser und nachlässige Freunde glaubte er überzeugen zu können, nicht aber professionelle Kritiker, die er als geborene Feinde seiner Werke identifizierte. Ihrem vermeintlich vorhersehbaren Vernichtungsfeldzug versuchte er strategisch vorzubeugen. Seine Briefe an den befreundeten jungen Journalisten Eugen Zabel, der seit 1876 der Feuilletonredaktion der Berliner „Nationalzeitung“ angehörte, belegen Gutzkows Versuch, die Rezeption der Neuen Serapionsbrüder durch eine bestellte Muster-Rezension zu steuern. Selbstverständlich vermied er jeden Anschein der Einflussnahme auf Zabels kritisches Urteil und beschränkte sich darauf, seine eigene literarische Position von jener der neuen marktbeherrschenden Autoren und der Meinungsführer in den Feuilletons abzusetzen.

Der Ekel an aller Romanschriftstellerei, die Concurrenz mit all den großen Meistern u Meisterinnen, die sich [...] in allen Feuilletons drängen, habe ihn dazu bestimmt, eine ihn selbst unterhaltende Form zu wählen. Im Gegensatz zum gängigen Sensationsgetreibe habe er den Rahmen der kleinen Tafelrunde alten Styls von Tieck u Hoffmann hergenommen (5.1.2.). Dieser Rekurs auf die verrufene Romantik ist durch die Wirklichkeit der Romanhandlung nicht gedeckt, denn dort lässt Gutzkow seinen Titel Die neuen Serapionsbrüder von den Teilnehmern der Tafelrunde diskutieren, die sämtlich mit Hoffmann nichts zu schaffen haben wollen. Gleichwohl hebt Gutzkow das moderne Gepräge seines Romans hervor, den Charakter der Aktualität, das genaue ‚Anspinnen‘ der nebeneinander laufenden Handlungen, die naturwahr entwickelten Charaktere und in dieser komplexen Romanordnung die Gestaltung eines einfachen Liebesromans [...] nicht allzuweit vom Thema der Wahlverwandtschaften. Mit dem Hinweis auf Goethe beruft sich Gutzkow auf eine Romanform, die komplexe Zusammenhänge der Romanhandlung mit einer betont einfachen Erzählweise vereint. Er bezieht Position gegen den Sensationsroman, dessen Erzählweise ausschließlich an der Spannung des Lesers orientiert ist. Er bezeichnet das als die absolute Romanform, welche mich enuyierte, und bekennt sich zu einer fast Fontanehaften Leichtigkeit des Erzählens, die sämtliche Untiefen der geschaffenen Romanwirklichkeit ausschöpft: Es liest sich alles wie spielend u doch bin ich nie mit solcher Schroffheit u Offenheit aufgetreten (5.1.3.).

Den Kontrast zum spielende[n] Humor seines eigenen Romans findet er im tobsüchtige[n] Wüthen bei Spielhagen (5.1.4.), dessen Roman „Sturmflut" er aus den Fortsetzungen des „Berliner Tageblatts“ kannte, denn in einem Brief teilt er Max Kurnick mit, dass er den Namen seines Helden Ottomar beibehalten habe, obschon er bei Spielhagen vorkommt (4.1.21.). Angesichts der Aktualität Spielhagens auf dem Buchmarkt konnte er sicher sein, dass Zabel diesen Roman genauso gelesen hatte wie die dazu erschienenen Kritiken, in denen das Sensationsgetreibe, mit dem Spielhagen den politischen Alltag verfälsche, aufgewertet werde, als wäre das Natur, Abbild der Zeit! (5.1.4.) Zabel liefert er damit die Argumente für den Nachweis der echten Aktualität der Neuen Serapionsbrüder gegenüber der nur vorgetäuschten in der „Sturmflut“, die damit zum Paradigma der Gattung des modischen Sensationsromans erklärt wird.

Gutzkows Erläuterungen und Belehrungen führten offenbar zunächst nicht zum erwünschten Ergebnis, denn nach der Besprechung des 1. Bandes, die Zabel am 17. Februar in der Berliner „Nationalzeitung“ veröffentlichte (Rasch 14/48.77.02.17), unterstellt er dem Rezensenten, zu sehr im Schwunge der Spielhagenerei verhaftet zu sein, bekennt sich abermals zur alten Tieckschen Einfachheit, Langsamkeit der Fabel, Behaglichkeit der Ausführung, die kein Mangel seien, sondern Absicht. Das Buch sei kein Zeitroman, sondern, wie er nochmals betont, ein Liebesroman im Geiste der Wahlverwandtschaften. Die aktuelle Zeitgeschichte komme darin nur in Gestalt moderne[r] Substrate vor und alles Temporäre nur spielend und nicht mit der Energie u dem Einsetzen des ganzen Menschen (5.1.5.). Gutzkow hebt die Neuen Serapionsbrüder ausdrücklich von den Rittern vom Geiste und dem Zauberer von Rom ab, ohne dazu nähere Erläuterungen abzugeben, sondern fällt wieder zurück in die notorische Klage über die Ungerechtigkeit der Kritik. Deutlich wird aber auch, was er mit dem Auftritt der Zeitgeschichte in Gestalt moderne[r] Substrate, deren spielend[er] Erscheinung meint, nämlich die Vermischung des Öffentlichen mit dem Privaten, den Zusammenhang der großen Politik mit den Lebensalltagen aller in der Gesellschaft wirkenden Klassen. Besonders aufschlussreich dafür ist seine Verteidigung der von Zabel so genannten „schwatzhafte[n] Ada“, deren „Schwätzerei“ gerade den Charakter des Anspruchlosen u Natürlichen des ganzen Romans veranschauliche. Sie repräsentiere die Bildungssphäre [...] der Generalstöchter, zugleich aber auch deren Fähigkeit, in der Liebe zu Ottomar den elan zur Wahrheit, zum Nachdenken zu entwickeln. Ada werde damit zum Exemplum für den der vulgären Frauenbildung empfohlenen Bildungsweg (5.1.7.).

Trotz seiner Einwände gegen die Besprechung verteidigt Gutzkow Zabels Kritik gegenüber dem über Sie sehr erzürnte[n] Verleger Schottländer (5.1.5.). Er schreibt sie dem Einfluß der literarischen Potenzen, die in Berlin das große Wort führen, zu und legt seinem Verleger sogar nahe, selbst einen Rezensenten zu finden, der den Absichten seines Romans einen kritischen Ausdruck gäbe, vergisst auch nicht, Schottlaender auf das mangelhafte Annoncieren seines Werkes hinzuweisen (5.1.6.). Die negativen Bemerkungen Zabels führt er auf Einflüsterungen seines einstigen Freundes Karl Frenzel zurück, der als Feuilletonchef der „Nationalzeitung“ aus einem ihm unerklärlichen Haß seine Romane Hohenschwangau und Fritz Ellrodt ruinirt habe. Um Zabel zu einem mir förderlichen Standpunkt zu motivieren, droht er recht unverblümt damit, die Kritik eines Freundes einzureichen, die der ihm freundlich gesonnene Chefredakteur der „Nationalzeitung“ Friedrich Dernburg gewiß abdrucken werde. Ein zusätzliches Argument gegen die Vorurteile der Kritik liefert er Zabel mit dem Hinweis auf die Dialogführung und die Mikrostruktur der Romanszenen, das innere Musikwerk. Er erläutert dessen Feinheiten anhand der Scene auf dem Ball mit den Platzpatronen, wo Gruppe u Einzelfigur u dabei noch Nebendetail (Ada u Ottomar) in steter naturwahrer symphonischer Bewegung sind (5.1.9.). Für die ausführliche Rezension Zabels, die am 12. April 1877 in der „Nationalzeitung“ erschien (Rasch 14/48.77.04.12), bedankte sich Gutzkow geradezu euphorisch. Ganz ungeschoren allerdings blieb der junge Kritiker auch hier nicht, hatte er doch die mangelnde Anerkennung moniert, die Gutzkow zuteil werde, gewiss in der wohlmeinden Absicht, der ständigen Klage seines Autors darüber Resonanz zu verschaffen. Gutzkow aber war nun plötzlich erschrocken, denn so etwas dürfe man nie eingestehen (5.1.13.).

Die Entstehungsgeschichte der Zabel-Kritik demonstriert Gutzkows Absicht, den Kampf um eine ihm angemessene Kritik strategisch anzugehen. Als eigentlich störendes Element in diesem Feldzug machte er seinen Verleger aus, dem er mangelndes Engagement vorwarf. Über den Text eines von Schottlaender als Rezensent empfohlenen Literat[en] äußert er sich nur noch ironisch (5.1.10.). Schon am 29. März beklagt er sich bei Schottlaender, dass der Roman nicht hinreichend annonciert worden sei und dass er seine sämtlichen Freiexemplare an die Kritik vergeben habe (5.1.11.). Gleichwohl moniert er die von Schottlaender erhaltene lange Liste der Zeitungen, die Exemplare empfingen, von denen er nur unfreundliche Urtheile zu erwarten habe (5.1.14.), und beklagt sich, dass er seinen Feinden die Waffen in die Hand liefere (5.1.15.): Feinde, die auch mit Beispielen benannt werden (5.1.16.). Schließlich warnt er Schottlaender ausdrücklich vor dem Einfluss negativer Urteile, die jenem zu Ohren gekommen sein könnten (5.1.18.) und schickt am 30. August, als die meisten Besprechungen schon erschienen waren, den Entwurf einer Selbstrezension mit der Bitte, an den offen gelassenen Stellen irgend ein schmeichelhaftes Epitheton selbst hinein[zu]schreiben. Damit wollte er dem Mangel abhelfen, dass Schottlaender die Neuen Serapionsbrüder [...] nicht genug selbständig ohne andre Romane angezeigt habe (5.1.23.).

Gutzkows Kampagne zugunsten einer positiven Rezeption seines letzten Romans war von vornherein durch sein tiefsitzendes Ressentiment belastet: Im Grunde hielt er die gesamte Kritik für eine uneinnehmbare feindliche Festung und registrierte selbst wohlwollende Besprechungen nur en passant (5.1.11.), ohne sich in seinen Überzeugungen irritieren zu lassen.

Noch im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans (→ 4.2.2.) beklagt er sich über die Ignoranz, die den Neuen Serapionsbrüdern von seiten des Publikums wie der Kritik entgegen gebracht worden sei: Das Nichtvorhandensein dessen, was ich schreibe, auf dem Lesepult der Anhänger des ästhetischen Schwulstes" ist so banal und wird so methodisch von der Kritik unterstützt, von mancher Seite sogar mit bewußter Bosheit unterstützt, daß selbst wohlwollende Kritiken über den Tadel der oben erwähnten Umrahmung und die üble Wirkung des Ueberspringenmüssens von Gesprächen nicht haben hinauskommen können. In der Tat ist die angeblich mangelhafte Verknüpfung zwischen der Romanhandlung und der Gesprächsrunde der ‚neuen Serapionsbrüder‘ ein mehrfach in der zeitgenössischen Kritik wiederkehrender Einwand. F. N., Verfasser der nahezu hymnischen Besprechung des Romans in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ (5.1.12.), schränkt sein Lob nur dahingehend ein, „daß die Schwerpunkte der Handlung nicht im geschlossenen Kreise der Serapions-Brüder, sondern außerhalb desselben liegen und, sagen wir es nur gleich heraus, daß wir deshalb den Titel des Romans für keinen glücklich gewählten halten“. Gleichwohl steht für F. N. die literarische Qualität der Gesprächsrunde außer Frage; ihre Funktion im Roman findet er in Analogie zum „Chor der antiken Tragödie“ darin, dass die Serapionsbrüder „die Begebenheiten des Tages und auch die Geschichten die wir im Roman erleben“ glossieren.

Der Chor der antiken Tragödie als Erklärmodell für die Funktion des Rahmens im Roman bleibt allerdings unzureichend, weil die ‚Serapionsbrüder‘ in ihren Diskussionen die Binnenhandlung des Romans, entgegen dem von F. N. erhobenen Befund, bis zur Kreuzung der Handlungsstränge an seinem Ende, vollständig unkommentiert passieren lassen (→ Globalkommentar: 6.1.3. Digression und Kontingenz - Der Rahmen als Panorama). Die Analogie zum antiken Chor wird von der Kritik in erster Linie deshalb weiter übernommen, weil sie die Möglichkeit bietet, die von Gutzkow schon im ersten Kapitel des Romans fixierte Differenz zu den „Serapionsbrüdern“ E.T.A. Hoffmanns zu begründen. Kürschner (5.1.20.) findet den Vergleich mit dem Chor der antiken Tragödie „nicht ungeschickt“, zugleich aber Gutzkows Experiment mit der den Roman begleitenden Gesprächsrunde formal riskant. Der anonyme Rezensent der „Literarischen Revue“ (5.1.21.) hält dagegen den Vergleich für unzutreffend, eben weil die Kommentare der ‚Serapionsbrüder‘ nicht der Handlung des Romans, sondern allgemeinen Zeitfragen gelten.

Allerdings sieht Gutzkow in diesen kritischen Bemerkungen nur ein Indiz für eine grundsätzliche Aversion gegenüber seinen Schriften, die einer Verschwörung gleichkomme. Denn es seien, wie er 1874 im Vorwort zur Neuausgabe des Romans Blasedow und seine Söhne in den Gesammelten Werken schreibt, fast alle seine Schriften, von Kritik und Publikum kurzgesagt mißhandelt worden. (GWII, Bd. 5, S. VII) [D]iese Kritiker, so schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage der Neuen Serapionsbrüder (→ 4.2.2.), wollen gebildeten literarischen Ursprungs sein und gleichen doch in ihren Ansprüchen an Spannung, Unterhaltung, Weglassung „alles Ueberflüssigen“ [...] dem Publikum der Leihbibliotheken. Schließlich stellt Gutzkow eine direkte Verbindung zwischen der Kritik und ihrer angeblichen politischen und gesellschaftlichen Herkunft her: Ihre Sensationsbedürftigkeit stamme aus den Kellern der Aesthetik der Socialdemokratie und aus der Blasirtheit der Börse.

Der Blick auf die tatsächlich veröffentlichten Kritiken des Romans bietet ein wesentlich differenzierteres Bild, als es Gutzkows schwarzgallige Reaktion vermuten lässt. Eindeutig negativ und durchaus bösartig ist einzig die Besprechung des Romans in der erzkonservativen „Kreuz-Zeitung“ (5.1.17.), deren Rezensent C. B. jeder Nähe zur ‚Ästhetik der Sozialdemokratie‘ vollkommen unverdächtig ist. Denn er beruft sich ausschließlich auf die „classische“ Ästhetik und wirft Gutzkow unverhohlen vor, ständig nur im Schmutz zu wühlen.

Während Gutzkows Roman in der Schilderung von C. B. kaum wiederzuerkennen ist, widmet ihm Rudolf Gottschall eine ausführliche und hochgradig elaborierte Besprechung (5.1.19.), die sich überall als Ergebnis einer intensiven Lektüre zu erkennen gibt und in keinem Punkt Gutzkows pauschalem Urteil über die Kritik entspricht. Zwar reklamiert er ebenfalls die Unzuständigkeit des Titels für das Ganze des Romans, zugleich aber erkennt er in der formalen Konstruktion der Gesprächsrunde ein Element der Modernität. Diese Gespräche seien „als etwas Selbständiges, als ein großes Gutzkow’sches Feuilleton, als eine Causerie über die wichtigsten Fragen der Gegenwart“ zu lesen. Die Serapionsbrüder liefern demnach nicht wie bei Tieck, Chaucer und Hoffmann den verbindenden Rahmen für eine Folge von Erzählungen, und sie sind auch nicht der kommentierende Chor, sondern sie erscheinen als eine Erweiterung der überkommenen Romanform, die Gottschall bei Hoffmann schon angedeutet findet, eine Form, die das 20. Jahrhundert als Roman-Essay weitergeführt hat (→ Globalkommentar: 6.1.3. Digression und Kontingenz - Der Rahmen als Panorama). Das Vorbild für die ausufernden Erörterungen dieser „Causerie“ findet Gottschall in dem von Gutzkow in der Tat verehrten Jean Paul, mit dem er „die Vorliebe für Extrablätter und eine fortlaufende Spiegelung der Handlung im geistigen Leben“ teile (5.1.19.).

Gottschalls Kritik unterscheidet sich schon durch ihren außerordentlichen Umfang von den übrigen Besprechungen, die der Roman erfahren hat. Um so auffälliger ist es, dass er sich im wesentlichen auf eine Analyse der formalen Konstruktion beschränkt und in ihr auch die Gründe für kritische Anmerkungen findet, die politischen Implikationen des Romans aber vollkommen außer acht lässt. Das Problem des scheiternden Liberalismus und mit ihm der bürgerlichen Ideale, das Gutzkow nachhaltig beschäftigt hat und für ihn das eigentliche Thema des Romans ist, wird mit keinem Wort gestreift. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es gerade in diesem Punkt durchaus Gemeinsamkeiten zwischen dem Kritiker und dem kritisierten Autor gibt. Gottschall, 1823 in Breslau geboren, wurde als Student in Königsberg wegen seiner Beziehungen zu den Liberalen relegiert und war auch als Autor im Sinne des Vormärz aktiv. (→ Bilder und Materialien: Bilder. Karikaturen: Der Königsberger Böttcher, 1842) Später eher konservativ im Politischen wie im Ästhetischen, stand er gleichwohl den Tendenzen der Gründerzeit kritisch gegenüber.

Davon ist in seiner Kritik nichts zu finden. Wie der Rezensent der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ rückt er die Neuen Serapionsbrüder in die Sparte der Liebes- und Eheromane und will den Roman „als einen Beitrag zur Physiologie der modernen Ehe betrachtet“ wissen, und zwar vorwiegend der „Negativbilder der Ehe“ (5.1.19.). Seine Kritik ist die einzige, die lange Passagen aus dem Roman zitiert, ohne allerdings auf deren Inhalt einzugehen, wie es vor allem bei den Ausschnitten aus den Gesprächen der ,Serapionsbrüder‛ nahegelegen hätte, sondern ausschließlich um die „Darstellungsweise“ Gutzkows zu veranschaulichen. An dieser Absicht gemessen, ist das Soll bei weitem überschritten. Die Folge der Zitate stellt sich als ein Potpourri Gutzkow’scher Themen dar, und es scheint, als habe der Rezensent es, aus welchen Gründen immer, dem Autor überlassen, sich selbst zu erläutern.

Die Enthaltsamkeit gegenüber den „Tendenzen“ der Epoche, die der Roman kritisch beleuchtet, ist besonders augenfällig bei dem Vergleich zwischen den Neuen Serapionsbrüdern und Spielhagens Roman „Sturmflut“, der zeitgleich veröffentlicht wurde (5.1.19.). Auch hier beschränkt sich Gottschall auf formale Gesichtspunkte, und der Vergleich fällt zu Ungunsten Gutzkows aus: Spielhagens im Sinne des bürgerlichen Realismus ausgleichende und rückwärts gewandte Ästhetik entsprach stärker dem Bedürfnis nach Geschlossenheit und Einheit des Ganzen und der Teile. Zugleich aber stellt Gottschall das umfassende „Culturgemälde“ der „Sturmflut“ in die Tradition der früheren Romane des „Nebeneinander“ Gutzkows, während Gutzkow selbst von seinem früheren Programm abgewichen sei. Dies, obwohl der Rezensent das Modell des „Nebeneinander“ grundsätzlich für verfehlt hält, weil der Romanautor mit einem „Haupthelden“ immer besser fahre. Immerhin bleibt festzuhalten, dass Gottschall als Einziger die Differenz registriert hat, die Gutzkows letzten Roman von seinen beiden großen Gesellschaftsromanen der 50er Jahre trennt. Verhaftet in der Referenz zur neoklassischen Ästhetik des bürgerlichen Realismus, war er allerdings nicht in der Lage, die spezifische Ästhetik der Neuen Serapionsbrüder gegenüber der „Sturmflut“ Spielhagens zu begründen.

Erstaunlich bleibt aber, dass Gottschall Übereinstimmungen zwischen beiden Romanen nur in Personal und Handlung findet, wo sie schon aus Gründen der vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen, die den Hintergrund beider Romane bilden, am wenigsten auffällig sind. Die merkwürdige Übereinstimmung beider Romane in ihrem Urteil über die Tendenzen der Epoche (→ Globalkommentar: 6.1.5. Ästhetik des Bruches) hat er dagegen entweder nicht gesehen oder bewusst ignoriert: eine Kritik, die im Ästhetischen ebenso urteilsfreudig wie enthaltsam im Politischen ist. Das gilt auch für eine zweite Rezension, die beide Romane vergleicht und die anonym in „Unsere Zeit“ erschienen ist (5.1.21.). Sie ist vor allem deshalb merkwürdig, weil sie Gottschalls Argumentation übernimmt und zum Teil sogar wörtlich wiederholt. Da Gottschall auch Herausgeber von „Unsere Zeit“ war, ist der Verdacht durchaus begründet, dass er diese Kritik selbst verfasst hat.

Gottschalls Rezension war für die Rezeption der Neuen Serapionsbrüder insofern entscheidend, als sie sozusagen die Sprengsätze fixierte, mit deren Hilfe der Roman in den Tiefen der Literaturgeschichte zu versenken war. Sie erwies dem berühmten Autor schon durch ihren Umfang die ihm gebührende Referenz, sie war konziliant im Ton, ließ nichts von dem Ressentiment erkennen, das Gutzkow seinen Kritikern zuschrieb, lobte ebenso maßvoll, wie sie ihren Tadel verteilte, kurz gesagt: sie identifizierte den Roman als eine nur zum Teil gelungene Reminiszemz an vergangene Größe, als einen Roman, der im Moment seines Erscheinens schon historisch geworden war. Insofern war sie durchaus zukunftsweisend, ein Text, der weniger auf die zeitgenössische Leserschaft zielte, als vielmehr auf die noch ungeschriebene Literaturgeschichte der damaligen Gegenwart des Autors. Dort wurden ihre Argumente weiter transportiert. Für die Rezeption durch die zeitgenössische Leserschaft kam sie schon zu spät, wie alle Theorie: die Eule der Minerva beginnt ihren Flug, nach Hegels Theorie-Definition, immer erst in der Dämmerung. Als Gottschall seine Kritik schrieb, war der Roman schon in drei Zeitungen in Fortsetzung erschienen, in Buchform in erster Auflage verbreitet und in zweiter Auflage in Vorbereitung.

Gutzkows Urteil über seine Kritiker ist verständlich, aber zu sehr auf deren negative Aspekte fixiert. Soweit es auch die unschuldige Leserschaft angreift, widerruft es offenkundig einen durchaus messbaren Bucherfolg. Über diese tatsächlich zeitgenössische Rezeption - zeitgenössisch, weil diesen Lesern das Urteil der Literaturgeschichte mit Recht völlig gleichgültig sein durfte - wissen wir nichts. Auch die bei Rasch nachgewiesenen Besprechungen zur 2. Auflage schließen nur von deren Existenz auf den Erfolg des Romans, wie das Beispiel der Rezension in der „Europa“ zeigt (5.2.1.).

Offenkundig ist allerdings, dass eine Überzahl der Kritiken dem Leser cum grano salis zwar die Lektüre des Romans nahelegt, ohne ihm aber die Gründe dafür namhaft zu machen. Gerade bei den angesehenen Rezensenten der Zeit herrscht eine stillschweigende Übereinkunft über ein Modell der kritischen Differenzierung, nach dem der Roman als Ganzes zu loben sei, während sich in den Details die Beanstandungen häufen. Rudolph Genée (1824-1914), wie Gottschall ein Autor der mittleren Generation, legt in seiner Besprechung (5.1.26.) nahe, dass Gutzkow im Einzelnen so ziemlich alles falsch gemacht habe, dass der Roman insgesamt aber „ein höchst erfreuliches Zeugniß für die dauernde Geistesfrische und Schaffenskraft des berühmten Autors“ bilde, über die Lektüre hinaus „lebhafte und starke Anregungen zum eigenen Denken“ vermittle und „dadurch fortdauernd befruchtend wirkt“ (5.1.19.). Dem Roman wird mit diesem Urteil seine kritische Potenz genommen; das Urteil, das er über seine Zeit fällt, ist relativiert; sein Verdienst wird ins bedeutend Allgemeine verlegt dahingehend, dass es nicht um die Qualität der Urteile gehe, sondern um die Befähigung, überhaupt Urteile zu fällen.

Anders als Gottschall, dem die ständigen „Reflexionen“ der Romanhandlung verdächtig sind, obwohl er konzediert, dass Gutzkow gerade damit „seine hervorragende Stellung unter den zahlreich auftauchenden neuern Talenten“ behauptet (5.1.19.), findet Genée das Verdienst des Romans darin, dass die Reflexionen des Autors den Leser zur eigenen Reflexion befähigen. Seine Kritik richtet sich vorzüglich gegen jene Partien der Romanhandlung, in denen er die auf Objektivität zielende Reflexivität vermisst: an der Personalisierung der Sozialdemokratie stört ihn die einseitig negative Charakterisierung, die auf „die besseren und berechtigteren Elemente“ keine Rücksicht nimmt (5.1.26.).

Gottschall und Genée ruinieren im Grunde den Roman durch den Versuch, daraus eine Reflexionsebene zu isolieren, die als Pamphlet des Autors zu lesen sei, für das der Roman selbst nur so etwas wie eine Illustration von Ideen darstelle, die als Eigentum des Autors stets einwandfrei zu identifizieren seien. Tatsächlich aber liegt ein wesentliches Merkmal von Gutzkows Romanform darin, dass der Autor hinter den Dialogen seiner Figuren verschwindet und selbst wieder nur als Fiktion auftritt (→ Globalkommentar: 6.1.2. Der Ro

man des Nebeneinander - Tradition und Differenz). Kritiken, deren Autoren bereits im Vor- und Nachmärz präsent waren, reflektieren im Hintergrund der Argumentation immer auf die Auseinandersetzung zum Realismusbegriff zwischen Gutzkow und den Autoren der „Grenzboten“, in der Gutzkow der Unterlegene blieb. Friedrich Theodor Vischer, Julian Schmidt und Gustav Freytag propagierten einen Realismus, der zwar gegen die romantische Literatur das Alltägliche zum Thema erklärte, den Roman aber zugleich durch Forderungen nach Geschlossenheit, Rundung und Selbstgenügsamkeit disziplinierte, die der klassischen Ästhetik entnommen waren. Zur Nachwirkung dieser Geburtswehen des späteren ‚bürgerlichen Realismus‘, dem sich Gutzkow verweigert hatte, gehört wohl die merkwürdige reservatio mentalis, die Gottschalls kritischen Umgang mit den Neuen Serapionsbrüdern kennzeichnet, das schwankende Urteil, das sich ständig selbst widerruft, die Unentschlossenheit des Zugriffs, die lieber den kritisierten Autor zitiert, als selbst Position zu beziehen. Gottschall kommt wie Gutzkow als Autor aus dem Vormärz, schloss sich aber seit den 50er Jahren den National-Konservativen an.

Joseph Kürschner (1853-1902) und Fritz Mauthner (1849-1923), beide Repräsentanten einer jüngeren Autorengeneration, bleiben in ihrem kritischen Urteil über Gutzkows Roman von der alten Debatte unberührt. Mauthner (→ 5.1.24.) macht sich unverhohlen darüber lustig, daß der „alte Gegensatz“ zwischen „Idealismus“ und „Realismus“, der aus den Kritiken der älteren Generation spricht, „in den Greisen noch nicht erloschen“ sei →. Gleichwohl entscheidet er sich in diesem Streit für die den selbstzufriedenen Realisten und Optimisten „entgegengesetzte Natur“ Gutzkows, für dessen „edle Unzufriedenheit, ohne welche kein menschlicher Fortschritt gedacht werden kann“, eine „Eigenschaft“ allerdings, „welche für ihren Träger eher ehrenvoll als angenehm sein dürfte“. Trotz ihres ironischen Tones und trotz einiger kritischer Vorbehalte ist Mauthners Rezension von offenkundiger Sympathie für einen „Dichter aus älteren Generationen“ getragen, der „ein Menschenalter nach seinem ‚Zauberer von Rom‘ sich wie damals wieder dem allgemeinen Strome entgegenstemmt“ (5.1.24.). Schließlich billigt er Gutzkow und der „Universalität seines Wissens“ eine epochale Wirkung zu, die mit jener Goethes zu vergleichen sei (5.1.24.).

Wie Mauthner begründet Josef Kürschner (5.1.20.) sein nahezu uneingeschränktes Lob des Romans mit der kritischen Potenz Gutzkows, mit „der Bedeutung Gutzkow’s als Schilderer seiner Epoche“. Auch diese Rezension sieht die Neuen Serapionsbrüder, unbekümmert um vergangene Literaturdebatten, als zeitkritisches Grundwerk an, das „nackt aber wahr“ der Epoche den Spiegel vorhält. Kürschner identifiziert den Roman sozusagen als Schlussstein eines Lebenswerkes, das den Anspruch erfüllte, Spiegel einer Epoche zu sein, der „in tadelloser Gradheit ein unverfälschtes Bild zurückgab“.

Die Rezeption, die Gutzkows letztem Roman zuteil wurde, entspricht nicht dem einheitlich negativen Bild, das er sich selbst davon gemacht hat, sie ist vielmehr von einer merkwürdigen Diskrepanz geprägt. Während die Kritiker, die noch Gutzkows eigener Generation nahestanden, auf die formale Argumentation der 50er Jahre und die Auseinandersetzung um den späteren ‚bürgerlichen Realismus‘ zurückgriffen, um Gutzkows grundsätzliche Attacke gegen die nationalistischen und radikal-kapitalistischen gesellschaftlichen Modelle der Gründerzeit zurückzuweisen oder zumindest zu relativieren, wurde diese kritische Haltung von der jungen Generation als zukunftsweisend identifiziert. Mauthner und Kürschner sehen in dem alten Autor einen der ihren, den Protagonisten einer Literatur, die „den Giftgeschwüren im sittlichen und commerziellen Leben“ (→ 5.1.20.) keine Chance lässt, sich unter dem Deckmantel der Kunst zu verbergen und zu verbreiten.

6. Kommentierung#

6.1. Globalkommentar#
6.1.1. Déformation professionnelle und Pathologie der Gesellschaft#

Josef Kürschners Beschreibung der Neuen Serapionsbrüder als „unverfälschtes Bild“ der Epoche berührt Grundsätzliches: Gutzkows letzter Roman ist vom Bemühen um Objektivität geprägt. Das ‚Nebeneinander‘ der politischen, kulturellen und sozialen Zeitverhältnisse soll ohne die Stimme des Autors deutlich werden, ähnlich dem Romanzyklus Balzacs und der ostentativen Objektivität Flauberts. Gleichwohl ist die Stimme des Autors nicht nur in der Rolle des Regisseurs gegenwärtig, sondern auch darin, dass der Roman Spiegel seiner Produktionsbedingungen ist: die Verknappung der Form gegenüber den Riesenromanen der 50er Jahre, die Hast der Niederschrift spiegeln den Zeitdruck, unter dem er entstanden ist. Und es ist erkennbar gleichgültig, ob dieser Druck echt oder nur eingebildet ist: Er entspringt jedenfalls einer Erfahrung der Arbeitsbedingungen im Metier des Schriftstellers, die zum Bestandteil der eigenen Person geworden sind.

Die Neuen Serapionsbrüder sind das Werk eines physisch und psychisch schwer kranken Autors, dessen Leiden nur zum geringsten Teil altersbedingt waren. Schon in seinen mittleren Jahren wurde Gutzkow von körperlichen und geistigen Erschöpfungszuständen befallen, die unschwer als Zeichen chronischer Überarbeitung zu identifizieren sind und ihren ersten Höhepunkt in dem Zusammenbruch fanden, der ihn ins Sanatorium brachte. Gutzkows Idiosynkrasien, die von den Zeitgenossen, wie übrigens auch von der Literaturwissenschaft, als Zeichen einer geistigen Störung individualisiert und damit aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsorgt wurden, diagnostizieren die Pathologie der Gesellschaft. Die ‚Fabrikation der Fiktionen‘ (Carl Einstein), die den Romanschreiber aufzehrt, ist Spiegel der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit herrschenden Produktionsweise. Gutzkow hat das in den Zeitgenossen skizzierte Programm einer anatomischen Pathologie des gesellschaftlichen Körpers (→ Die Zeitgenossen, Globalkommentar, 6.1.3.2.: Naturwissenschaftliche Paradigmen) seit der Arbeit an den mehrbändigen Großromanen immer stärker in einer Romanform internalisiert, die gegenüber den klassischen Vorbildern vorerst als Zerfall der dort gesetzten Ordnungen identifiziert wurde (→ Kritik in der „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung“, 5.1.17.). Die Neuen Serapionsbrüder sind im Zusammenhang mit der Krankengeschichte des Autors zu lesen, die zugleich die Krankengeschichte seiner Zeit ist.

Wol nicht oft mag ein Buch in so heiterer Laune geschrieben worden sein, als das nachfolgende. Mit diesem Bekenntnis eröffnet Gutzkow das Vorwort zur zweiten Auflage des Romans (→ 4.2.2.), die 1879 bei Schottlaender in Breslau erschien, zwei Jahre nach der Erstausgabe und im Jahr nach dem Tod des Autors. Dieses Vorwort dürfte zu seinen letzten literarischen Arbeiten gehört haben, neben der Korrektur der Neuen Serapionsbrüder und der Überarbeitung seines 1866/67 entstandenen Romans Hohenschwangau, der unter dem Titel Die Paumgärtner von Hohenschwangau wie die zweite Auflage der Neuen Serapionsbrüder erst postum 1879 erschien. Gutzkow erstickte in der Nacht vom 15. zum 16. Dezember 1878 bei einem Zimmerbrand in Sachsenhausen. Betäubt vom Chloral, das der notorisch Schlaflose seit Jahren nahm, hatte er selbst die Lampe umgestoßen, die das Feuer verursachte (vgl. Reinhold Gensel: Lebensbild, GE, Bd. 1, S. LIX).

Der Auftaktsatz zu Gutzkows Vorwort referiert eine gerade diesem Autor durchaus fremde Befindlichkeit: eine gelöste Produktivität, die weder vom Zeitdruck des Broterwerbs noch von Erwartungshaltungen des Publikums bedrängt worden sei. Er habe, fügt er hinzu, beim Schreiben dieses Buches Behagen nur für mich selbst gesucht, und den Leser vollständig ignorirt! (4.2.2.) Tatsächlich aber behielt Gutzkow den Leser- und Buchmarkt - seine einzige Verdienstquelle - stets im Blick. Man wird in seiner Generation kaum einen deutschen Autor finden, der das Schreiben so ausschließlich zur Lebensgrundlage gemacht hat: eine durch und durch unromantische und an europäischen Zeitgenossen wie Eugène Sue, Alexandre Dumas und Charles Dickens orientierte Vorstellung von der Professionalität des Schriftstellers. Der Autor definierte sich durch die Präsenz in allen gängigen Medien der Zeit, von der Zeitung und der Zeitschrift über die Verwertung von Romanstoffen in Fortsetzungen und Buchform bis zum Theater, gleichermaßen firm im journalistischen wie im literarischen Metier, die sich gegenseitig ästhetisch zu befruchten und ökonomisch zu ergänzen hatten.

Gutzkow war sich seiner Rolle als Autor in der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft auf besondere Weise bewusst: literarische Produktion als bürgerliches Metier, das gesellschaftliches Ansehen begründete. Der Anspruch auf Professionalität war weder durch den Rückzug auf das Feierabendvergnügen des Schreibens noch durch das freiwillige Exil des Genies zu erfüllen. Professionalität erwies sich durch anhaltende Bewährung auf dem literarischen Markt und durch die Fähigkeit, stets auf der Höhe der Zeit und ihrer Stoffe zu sein, in Gutzkows Fall also, den Phasen des gesellschaftlichen Wandels vom Biedermeier über Vor- und Nachmärz bis in die Gründerzeit zu folgen.

Wie für Dumas in Frankreich und Dickens in England wurde für Gutzkow in den damaligen deutschen Staaten Literatur zum Bestandteil jenes industriellen Prozesses, den sie kritisch zu beobachten hatte. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Neuen Serapionsbrüder resümiert er: Der Roman ist Busineß des hundertarmigen Briareus Industrie geworden. (→ 4.2.2.) Das aber hieß, dass der Autor sich gegen Konkurrenzen zu behaupten hatte und dass seine herausgehobene Position stets auch gesellschaftlich evident sein musste. Gutzkow, der wie Dickens aus der deklassierten Schicht, der so genannten ‚Hefe des Volkes‘ stammte, hat wie jener diesen Anspruch stets als existentielle Bedrohung empfunden.

Die ungesicherte ökonomische Existenz des freien Schriftstellers hat Gutzkows Arbeitsweise von Anfang an geprägt. Sie wurde, wie er es in seinem Vorwort andeutet, unter dem verschärften Konkurrenzdruck der nach kapitalistischem Vorbild organisierten Literaturindustrie immer schwieriger. Die Arbeit des Autors schafft für ihn selbst keinen Mehrwert im Sinne des von Marx skizzierten ökonomischen Prozesses. Die Maximierung des Kapitals, das er erschreibt, findet nicht auf seinem Schreibtisch statt. Er tritt lebenslang auf der Stelle, befindet sich im Alter immer noch am Anfang. Die Entstehungsgeschichte von Gutzkows letztem Roman beschreibt die Arbeit des Schriftstellers als Lebensvernichtung, als Krankheit zum Tode, der ihn am Schreibtisch ereilt.

Die Folgen für das individuelle Leben des Autors sind absehbar. Es wird, wie George Gissing es zum Ausgang der Epoche skizziert hat, auf Freund- und Feindbilder reduziert, schließlich zum reinen Produktionsfaktor, der alle persönlichen Bindungen dominiert und zu schweren psychischen Störungen und vorzeitigem Altern führt. Und es endet trotzdem, da die Anspannung sich nicht lebenslang durchhalten lässt, im ökonomischen Ruin (vgl. George Gissing: New Grub Street. London: Smith, Elder, 1891. Deutsche Fassung: Zeilengeld. Übers. von Adele Berger. Nördlingen: Greno, 1986). Gutzkow hat dieses Modell vorgelebt. Trotz seiner ungemein ausgedehnten journalistischen Tätigkeit und der in rascher Folge erscheinenden Romane, Novellen und Theaterstücke war er 1861 gezwungen, den spärlich besoldeten Posten eines Generalsekretärs der Schillerstiftung in Weimar anzunehmen. Nach seinem Selbstmordversuch im Januar 1865 und dem darauf folgenden fast einjährigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Heilanstalt sammelten Freunde für einen Unterstützungsfonds, der ihm den Neuanfang erleichtern sollte.

Der psychische und physische Zusammenbruch ist die Folge der Selbstausbeutung, charakteristisch für den Einmannbetrieb des Berufsschriftstellers, der ohne zureichende rechtliche und ökonomische Absicherung produziert: Bulwer und Dickens haben dieses Schicksal mit Gutzkow geteilt. Der Vergleich mit der industriellen Produktion in der hochkapitalistischen Phase des 19. Jahrhunderts trifft durchaus zu. Gutzkows Schreibwerkstatt erscheint wie eine Parodie des Industriebetriebs: Der Autor als Unternehmer in Sachen Literatur, der zugleich sich selbst als einzigen Arbeiter in Haft nimmt. Nach dem Zeugnis eines Besuchers schrieb Gutzkow 1851 am letzten Band der Ritter vom Geiste täglich von sechs Uhr morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit am Abend, lediglich unterbrochen durch eine kurze Mittagspause, ein Arbeitsleben, das sich von dem zeitgenössischer Industriearbeiter nicht wesentlich unterschied. Zur dauerhaften Präsenz im Literaturbetrieb gehörte auch die Vermarktung der eigenen Produkte mit Hilfe einer ausufernden Korrespondenz, die bis heute nicht vollständig überblickbar ist.

Der oben zitierte Besucher hatte schon 1851 den Eindruck, dass der gerade vierzigjährige Gutzkow am Rand eines Zusammenbruchs stand: „Ich fand ihn oft wie gebrochen und geistig so abgestumpft, daß er kaum zu gehen und nur mühsam an der Unterhaltung teilzunehmen vermochte.“ (Feodor Wehl: Zeit und Menschen. Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1863-1864. Altona: Reher, 1889. Bd. 2, S. 112) Die professionelle Deformation mündete in eine schwere psychische Erkrankung, geprägt durch Vernichtungsängste und Verfolgungswahn. Heinrich Hubert Houben, der Pionier der Gutzkow-Forschung um die Jahrhundertwende, schildert Gutzkow am Ende seines letzten Berliner Aufenthalts von 1869-1873 als einen schwer kranken Menschen, dem durch „sein krankhaftes Mißtrauen und seine gereizte Empfindlichkeit“ der „Verkehr mit Freunden und Kollegen immer schwerer, ja fast unmöglich gemacht“ wurde und der „sich von einem Heer wirklicher und vermeintlicher Feinde umlagert glaubte. Angriffe, die sein agressives [sic] Wesen naturgemäß herausfordern mußte und die ihm auch reichlich wurden, wuchsen sich in seiner Vorstellung zu wohlüberlegten Vernichtungsplänen und Attentaten aus, er wähnte sich auf den Straßen vom Pöbel verfolgt, den seine Feinde mobil gemacht, kurz, sein Leben in Berlin wurde ihm geradezu zu einer Hölle, der er sich im Dezember 1873 im höchsten Paroxismus angstvoller Verzweiflung durch die Flucht entzog.“ (Heinrich Hubert Houben: Karl Gutzkows Leben und Schaffen, HOU, Bd. 1, S. 3-126, Zit. S. 124-125)

Gutzkow hatte Berlin 1834 verlassen und kehrte nur widerstrebend zurück, nicht zuletzt auf Drängen seiner achtzehn Jahre jüngeren Frau, die sich vom Leben in der Hauptstadt Abwechslung und Bildungsmöglichkeiten für die Töchter versprach (vgl. Rasch, Rachebund, S. 11). Die Rückkehr wurde aber weder gesellschaftlich noch literarisch und wirtschaftlich zum Erfolg. Wachsende gesundheitliche Schwierigkeiten schränkten Gutzkows Spielräume mehr und mehr ein. Auf dem rechten Auge erblindet, fürchtete er auch für die Sehkraft des verbliebenen Auges, litt unter Sehstörungen, die seine Arbeitskraft einschränkten. Magen- und Darmbeschwerden zwangen ihn zur Diät und quälten ihn trotzdem weiter (vgl. Brief an Fasoldt vom 23. September 1873 in: Rasch, Rachebund, S. 23-24). Dazu kamen die familiären Probleme, die aus der wachsenden Isolation resultierten und die durch die Affäre mit einer Leserin verschärft wurden (vgl. Rasch, Rachebund, S. 12-19).

Gleichwohl haben diese Berliner Jahre entscheidenden Anteil an der Entstehung der Neuen Serapionsbrüder. Sie ermöglichten es Gutzkow, das Berlin der Gründerzeit zum Gegenstand eines weiteren Gesellschaftsromanes zu machen, der die neue Reichshauptstadt in Form eines sozialen Panoramas zu fassen versucht. Das reicht durchaus bis zu Reminiszenzen aus der eigenen Biographie in der Gestalt des Juristen Luzius, der sich wie Gutzkow von Frau und Töchtern ausgebeutet fühlt. Idiosynkrasien des Autors kehren speziell in der Montagsgesellschaft der ‚Serapionsbrüder‘ wieder, und der Roman reflektiert damit auch die Krankheitsgeschichte seines Autors, die sich in dessen Lebenswirklichkeit schließlich dramatisch zuspitzte.

Eine Karikatur, die Gutzkow als Morddrohung auffasste, führte schließlich zum Ausbruch eines akuten Verfolgungswahns. Im Sommer 1873 veröffentlichte der Berliner Kritiker Adolf Rutenberg eine Polemik über Gutzkows Unfähigkeit, einen wirklich lebendigen Roman zu schreiben. In seiner Antwort ließ dieser sich über Berliner Backfische und andere minderwertige Romanleserinnen aus. Rutenberg antwortete mit einem ironischen Aufruf an die „tödtlich beleidigten Berliner Backfische“, den Gutzkow als unmittelbare physische Bedrohung empfand: „Kämpfen Sie für Ihr gutes Recht! Greifen Sie zu Ihren Sonnenschirmen, machen Sie Ihre Nägel scharf, kaufen Sie Rattengift in der Apotheke. Jedenfalls tödten Sie ihn auf irgendeine Weise“ (vgl. Rasch, Rachebund, S. 26). Gutzkow glaubte sich von Kritikern, Kollegen und dem Verleger Campe bis zur Vernichtung seiner Existenz bedroht. Auf der Straße fühlte er sich von Passanten angegriffen, ein Zustand, den er in den Neuen Serapionsbrüdern als Trottoirkrankheit beschreibt und in einem Brief an Klara Mosson vom 23. August 1874 (vgl. Rasch, Rachebund, S. 45-46) erläutert. Noch in Italien hielt er die Eisenbahnbeamten für von seinen Feinden bestochen, glaubte die ganze Bevölkerung gegen sich aufgehetzt und teilte dies am 6. Dezember 1873 seinem Freund Fasoldt in Dresden mit (vgl. Rasch, Rachebund, S. 32).

Die Reise nach Italien und Frankreich brachte keine Erholung. Gutzkows letzte Reisebeschreibung Durch Frankreich im Jahre 1874 zeichnet das Bild eines Menschen, der durch die gewöhnlichen Beschwernisse des Reisens restlos überfordert war, häufig ans Bett gefesselt blieb und gleichwohl ruhelos von Logis zu Logis wechselte (vgl. GWII, Bd. 7, S. 447-487). Das Unternehmen war zudem durch finanzielle Schwierigkeiten belastet. Schon in Venedig sah sich Gutzkow gezwungen, Klara Mosson, die ihn mehrfach unterstützt hatte, um ein weiteres Darlehen zu bitten (vgl. Rasch, Rachebund, S. 29-30).

Nach den Aufregungen, die seine Flucht aus Berlin und die anschließende Reise mit sich brachte, mag das zurückgezogene Leben in Wieblingen, wo er sich 1875 niederließ, und seit Herbst 1875 in Heidelberg, tatsächlich zu der heitere[n] Laune beigetragen haben, auf die sich das Vorwort zur zweiten Auflage der Neuen Serapionsbrüder beruft (→ 4.2.2.). Die Vorstellung von einer beschaulichen Dichter-Existenz wäre freilich verfehlt, denn Gutzkow hielt trotz seines schlechten Gesundheitszustandes und des schweren Augenleidens, das 1873 fast zu seiner Erblindung geführt hätte, an seiner mörderischen Produktionsweise fest.

Seit den Berliner Jahren von 1869-1873 arbeitete er weiter unter dem gewohnten Termindruck, meist an mehreren Projekten zugleich. 1870 erschien der umfangreiche Roman Die Söhne Pestalozzis. 1871/72 veröffentlichte er eine überarbeitete Ausgabe seiner „Dramatischen Werke in zwanzig Bändchen“. 1872 folgte die auf vier Bände gekürzte Neuausgabe des Zauberer von Rom und der dreibändige Roman Fritz Ellrodt. 1874 verfasste er den Einakter Dschingiskhan als letzten Theatertext. Von 1872 bis 1875 redigierte Gutzkow die Ausgabe seiner Prosa-Schriften, die in zwölf Bänden im Verlag Costenoble erschien.

Nach der Rückkehr aus Italien und Frankreich begann er 1874 mit der Niederschrift der Rückblicke auf mein Leben, die 1875 in Wieblingen vollendet wurden. Anschließend entstanden in Heidelberg Die neuen Serapionsbrüder in einer ersten Fassung als Fortsetzungsroman für das „Berliner Tageblatt“ und fast gleichzeitig für die „Schlesische Presse“ in Breslau und die „Dresdener Zeitung“. Die Buchveröffentlichung in drei Bänden folgte 1877. In Sachsenhausen bei Frankfurt, wo Gutzkow seit 1877 lebte, entstand der polemische Essay Dionysius Longinus. Oder: Ueber den ästhetischen Schwulst in der neuern deutschen Literatur neben der Umarbeitung des Romans Hohenschwangau und der Korrekturarbeit für die zweite Auflage der Neuen Serapionsbrüder (vgl. Houben: Karl Gutzkows Leben und Schaffen, HOU, Bd. 1, S. 121-126).

6.1.2. Der Roman des Nebeneinander - Tradition und Differenz#

In Gutzkows von den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts geprägtem Gesamtwerk stellen die Neuen Serapionsbrüder eine weitere Zäsur dar. Nach Versuchen auf dem Gebiet des historischen Romans mit Hohenschwangau, Die Söhne Pestalozzis und Fritz Ellrodt erneuern die Neuen Serapionsbrüder das Modell des zeitgenössischen Gesellschaftsromans, das Gutzkow in den Rittern vom Geiste und im Zauberer von Rom geprägt hatte. Nach seinen programmatischen Vorworten zu den Rittern handelt es sich um die Darstellung eines gesellschaftlichen Panoramas in einem Roman des Nebeneinander, einer literarischen Form, die Gutzkow anschaulich anhand des Querschnitts durch ein Kriegsschiff beschrieb, der die Gleichzeitigkeit verschiedener und doch zusammenhängender Handlungsebenen zeigt (vgl. Vorwort zu RvGIII, GE, Bd. 13, S. 46). Paradigmatisch für dieses neue Erzählmodell wurde die Darstellung der Berliner Mietskaserne Brandgasse 9 in Die Ritter vom Geiste.

Die beiden großen Romane der 50er Jahre spielten vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels vom Vormärz zum Nachmärz. Die Neuen Serapionsbrüder versuchen ein Panorama der Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg zu entwickeln, allerdings mit gravierenden Beschränkungen des panoramatischen Blicks. Im Vergleich zu den Rittern vom Geiste weist das gesellschaftliche Panorama klar umgrenzte Leerstellen auf: Eliminiert wurde der Kontrast zwischen großstädtischer und ländlicher Gesellschaft ebenso wie die Wirkungsweise der Politik und staatlicher Organe wie der Polizei. Die Rolle der Amtskirchen im Wechselspiel der gesellschaftlichen Kräfte, deren unheiliger Einfluss auf das preußische Königshaus in den Rittern eine bedeutende Rolle spielt, ist reduziert auf die Figur des Pfarrers Merkus, eines opportunistischen Intriganten und Karrieristen. Vor allem aber fehlt vollständig die Schilderung des Alltags der Arbeiterschaft. Armut und Elend kommen in der Wirklichkeit des Romans nicht vor, und die wahren Unholde, die diese Gebrechen der Gesellschaft, diese Armuth und dies Elend anwachsen lassen (RvGN, Bd. 3, S. 3429), bleiben unbenannt. Einen Namen erhalten nur die Gutzkow verhassten Sozialagitatoren, denen die von den Armen gespendeten Gelder einen bürgerlichen Lebensstandard ermöglichen: eine völlig neue Rolle im gesellschaftlichen Panorama.

So unterscheiden sich die Neuen Serapionsbrüder von den beiden riesigen Romankomplexen der 50er Jahre nicht nur durch ihren wesentlich geringeren Umfang, sondern auch strukturell. Die Bemerkung von Heinrich Hubert Houben, dass der letzte Roman Gutzkows „eine moderne Fortbildung der ‚Ritter vom Geiste‘ genannt werden“ könne (HOU, Bd. 1, S. 126), trifft nur auf die Absicht des Autors zu, ein Zeitbild zu geben, nicht aber auf die Art und Weise, in der dieses Zeitbild im Text realisiert ist (vgl. die ausführliche vergleichende Untersuchung beider Romane durch Vonhoff 1994, S. 263-344). Die formalästhetische Differenz zwischen beiden Romanen ist in der Romanarchitektur deutlich erkennbar, auf deren Schlüssigkeit Gutzkow immer besonderen Wert gelegt hat. Ein fundamentales Prinzip im Roman des Nebeneinander, wie ihn Gutzkow in den Rittern vom Geiste entwickelt hatte, war die Ordnung des beispiellos umfangreichen Romanpersonals nach gesellschaftlichen Gruppen, die verschiedene, parallel geführte Handlungsstränge ausbildeten - durchaus dem vom Autor gefundenen Bild entsprechend, das der Querschnitt durch die Raumordnung eines Schiffes oder eines Hauses bietet. Die parallel geführten Handlungsstränge verschränkten sich mit der wachsenden Tiefe und Ausdehnung des Zeitbildes, das unter den herrschenden Tendenzen der Zeit immer mehr Zwischentöne erkennen ließ. Aus dem ‚Nebeneinander‘ musste ein arrangiertes Durcheinander werden. Gutzkow verstärkte diesen Prozess der Vermischung dadurch, dass er in den Rittern vom Geiste einer Reihe von Personen eine doppelte Identität verlieh. Dadurch waren sie auf mehreren Handlungsebenen zugleich, sozusagen in verschiedenen Räumen seines Querschnitts, präsent.

Diese hoch komplexe Romanarchitektur (dazu vgl. Friesen, Vonhoff 1994 und 2000) ermöglichte es dem Autor, sich scheinbar vollständig aus dem entworfenen Zeitbild zurückzuziehen, das durchaus für sich selbst sprechen sollte. In der Vielstimmigkeit des Romans sollte der Autor nicht mehr zu identifizieren sein, wie es in den Rittern auch tatsächlich der Fall ist. Im endlos ausufernden Konzert der Stimmen, die den Roman anscheinend aus eigenem Gesetz hervorbringen, beschränkte sich der Autor auf die stumme Rolle des Dirigenten. Zwar gab es in den Rittern und auch im Zauberer von Rom eine auktoriale Stimme, die in unterschiedliche Stimmen des Romanpersonals eindrang, aber die Position des allmächtigen Autors wurde durch den Kunstgriff vermieden, dass er sich in durchaus gegensätzliche Positionen einschlich und damit eine strukturelle Ebene des Romans schuf, die übergreifend ‚objektiv‘ wurde und zugleich vollständig immanent blieb. Das ist nicht immer gelungen, wie sich am gelegentlichen ‚Leitartikeln‘ in den Reden des Romanpersonals erkennen lässt.

In den Neuen Serapionsbrüdern ist der Autor vor allem Herrscher über das Nebeneinander höchst unterschiedlicher sprachlicher Ebenen, die in Dialogen, in der Erzählung und in dem auf verschiedene Stimmen verteilten Raisonnement entfaltet sind. Gutzkow bedient sich dafür einer differenzierten Ordnung von Anführungszeichen. Häufig ist damit der Wahrheitsgehalt einer Bezeichnung ins Zwielicht gerückt. Er hebt aber auch charakteristische Redewendungen hervor, die eine Person oder Situation kennzeichnen, betont Ausdrücke aus dem Dialekt oder aus der standesspezifischen Sprache. In allen Fällen handelt es sich darum, dass dem Text eine sprachliche Ebene eingezogen wird, die den Stellenwert der alltäglichen Wirklichkeit für die Romangestalt sichtbar macht. Die fragmentarische und zufällige Anordnung solcher Textpartikel führt zur Fragmentierung der Romanwirklichkeit. Sie ist Spiegel einer Gesellschaft, die nicht mehr von Idealvorstellungen getragen ist, sondern auf dem Anspruch beruht, konkurrierende Partialinteressen gegeneinander durchzusetzen. Die gewandelte gesellschaftliche Wirklichkeit erfordert eine neue formale Ordnung des zeitgeschichtlichen Panoramas.

Gutzkow setzt sich mit modischen oder umgangssprachlichen Ausdrücken häufig aus der ironischen Distanz des Gebildeten auseinander und deutet dies durch Floskeln an: wie man zu sagen pflegt (34,21), oder durch doppelte Anführungszeichen: Ach wie nett -! fiel Ada mit einem Ausdruck ein, der in jener Stadt neben dem Worte „reizend“ üblich ist für alles, was gefällt. (78,9-11) Gegen diese zitatähnlich hervorgehobene, oft klischeehafte Redeweise setzt der Autor seinen eigenen, mit Anspielungen aus dem Bildungsgut gesättigten Stil (→ Erl. zu 35,27). Im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans verteidigt er seine ausufernde hypotaktische Schreibweise mit dem Hinweis auf deren unzeitgemäße Exklusivität (→ 4.2.2.).

Die dagegen als üblich markierten Redewendungen beziehen ein breit gefächertes Spektrum der Alltagssprache, vom modischen Jargon über politische Schlagworte und sozial determinierte Ausdrucksweisen bis zu Formeln des klassisch-romantischen Bildungsstoffes, in das Erzählte ein. Solche im banalen Gespräch abgenutzten Redewendungen haben die Funktion, das Alltägliche - Gutzkows häufig so benannte Welt der Thatsachen (84,26) - dem Roman überhaupt zugänglich zu machen. Das soziale Panorama, das die Neuen Serapionsbrüder entwerfen, ist wesentlich eines der Sprache, die eine Sphäre jenseits des Bildungsbürgertums in den komplexen Rede- und Denkzusammenhang des Romans integriert. In den Stammtischreden der Serapionsbrüder kommt sie nicht vor. Aber auch deren Sprache ist nur Zitat, das der Sprachkritik unterworfen bleibt. Aus dieser sprachkritischen Distanz zu allen gängigen Redeweisen seines Personals führt der Autor Regie über seinen Roman. Seine auktoriale Stimme bleibt als sinngebende Instanz gegenwärtig, obwohl er sich wie in den Großromanen der 1850er Jahre aus dem vielstimmigen panoramatischen Geschehen zurückgezogen hat.

Diese vielstimmige Ordnung, die das klassische Formprinzip der Geschlossenheit zugunsten einer kontingenten Romanwirklichkeit aufhebt, ist in den Neuen Serapionsbrüdern bis zur Aufgabe des alten Modells radikalisiert. Im Gegensatz zu den früheren Großromanen wird hier keine gesellschaftliche Utopie formuliert, die dort das in den divergierenden Handlungsströmen enthaltene idealistische Potential in die Wirklichkeit einer offenen Zukunft verlegte. Die gesamte Romanstruktur ist nun durch den Verlust des utopischen Horizontes bestimmt, der letzten Endes das Projekt einer bürgerlichen Heilsgeschichte verfolgt hatte. Wie jede Heilsgeschichte impliziert die utopische Dimension einen erreichbaren paradiesischen Zustand: Gälte sie noch in den Neuen Serapionsbrüdern, so müssten sich die gesellschaftlichen Antinomien, die in diesem Roman mit Schlagworten wie die ‚soziale Frage‘ oder die ‚Frauenfrage‘ umschrieben sind, schließlich durch den liberalen Konsens einer Gesellschaft der Wohlmeinenden aufheben lassen. Der späte Gutzkow ist aber auf den Spuren seiner neuen Hausphilosophen Schopenhauer und Eduard von Hartmann (→ Erl. zu 282,15-16) zum radikalen Pessimisten geworden. Er glaubt nicht mehr an die Heilung des status naturalis, der nach Hobbes vom Prinzip des ‚homo homini lupus‘ regiert wird. Die bürgerlichen Ideale des Liberalismus finden in der realen Gesellschaft keinen Widerhall mehr. Sie sind nur mehr als stoische Haltung präsent, im Festhalten an den aus der eigenen Überzeugung erwachsenden Pflichten gegenüber einer dafür taub gewordenen Gesellschaft. In den Neuen Serapionsbrüdern entfällt der Autor als sinnstiftende Instanz, die im Hintergrund des Romans über die in der Zukunft wirkenden Ordnungskräfte zur Heilung des kontingenten Geschehens verfügt. Er ist vielmehr selbst die Stimme der Kontingenz, die überall im Roman präsent sein muss, um das Scheitern der Ordnungen, das die gesellschaftliche Wirklichkeit beherrscht, auch in der Romanwirklichkeit zu belegen.

6.1.3. Digression und Kontingenz - Der Rahmen als Panorama#

Protagonisten des Romans sind nicht mehr die Propheten der Veränderung, die sich unter dem Namen der ‚Ritter vom Geiste‘ vereinigt hatten, sondern die Menschen stiller Versenkung und Absperrung gegen die immer, sagen wir es offen heraus, dümmer und dümmer werdende Außenwelt (→ 4.2.2. Vorwort zur zweiten Auflage). Die Negation der über das Romanende hinausweisenden gesellschaftlichen Utopie und der damit verbundenen finalen Struktur verändert auch die formale Struktur des Romans. Das Prinzip der parallelen Handlungsstränge scheint radikalisiert, weil die Konflikte, die in ihren Überschneidungen hervortreten, nicht mehr durch das gemeinsame Ziel einer bürgerlichen Gemeinschaft, auch wenn diese in die Zukunft verlegt werden musste, harmonisiert sind. Der Autor gibt sich im nachgelieferten Vorwort offen zu erkennen als jener Einzige, der im Besitz der machtlosen Wahrheit ist, die aber damit auch ausdrücklich dem Roman ausgelagert bleibt. Die Gesprächsrunde der ‚neuen Serapionsbrüder‘ bildet zwar ein Diskussionsforum für die gesellschaftlichen Tendenzen, die in der eigentlichen Romanhandlung wirken, lässt aber alle Fragen offen.

Die Ordnung des Romans wird in Gutzkows letztem Werk nicht durch eine finale Struktur bestimmt, sondern durch die Auslagerung der Sinnstruktur auf ein Diskussionsforum - eben die Gesellschaft der ‚neuen Serapionsbrüder‘, die dem Roman den Titel gegeben haben. Gutzkow hat den Namen der Montagsversammlung von E.T.A. Hoffmann entlehnt, bezieht sich dabei aber nicht auf dessen Erzählkonstruktion aus Rahmen- und Binnenerzählung. Vielmehr gilt ihm Hoffmann geradezu als Prototyp einer abgelebten Romantik. Zu Beginn des Romans distanzieren sich die Disputierenden am Stammtisch deutlich von der Namensverleihung durch ihren Autor. Der Titel will nicht an Hoffmann anknüpfen, sondern Gutzkow versteht die ‚neuen‘ Serapionsbrüder durchaus als Revision seiner romantischen Vorlage. Im Gegensatz zu den Serapionsbrüdern E.T.A. Hoffmanns handelt es sich nicht darum, einer Novellensammlung den Rahmen zu geben, sondern die Gesellschaft stellt ein eigenständiges Projekt des Romans dar: Von den zwölf Mitgliedern des Stammtisches, die mehr oder minder ausführlich zu Wort kommen, sind nur vier in die Handlung des Romans involviert. Die Disputationen dieser Gruppe sind deshalb von der zeitgenössischen Kritik mehrfach mit der Funktion des Chores in der antiken Tragödie verglichen worden (→ 5.1.12., 5.1.21.), eine Vermutung, die von Gutzkow aber nirgends bestätigt wird. Die ‚neuen Serapionsbrüder‘ kommentieren das Romangeschehen so gut wie nie. Ihre Gespräche entfalten vielmehr den politischen, kulturellen und sozialen Hintergrund der Zeit, den das Romangeschehen selbst immer nur ausschnitthaft spiegelt. Mit anderen Worten, sie umreißen die diskursive Spannweite des gesellschaftlichen Panoramas und sind in diesem Roman das wichtigste Element des panoramatischen Erzählens.

Diese Konstruktion, die bei der zeitgenössischen Kritik auf größtes Unverständnis gestoßen ist, hebt also die Kontingenz nicht auf. Keineswegs nämlich stellt sich die Gesellschaft der ‚Serapionsbrüder‘ als Stimme des Autors dar. Vielmehr zielt Gutzkows aufwändige Dialogregie nicht zuletzt darauf, die Stimme des Autors im Austausch der Meinungen zu verwischen. Das erweist exemplarisch die Diskussion der Frage, ob die Armee die sittliche Grundlage des Staates sei (133,27-136,15), die letztlich ungeklärt bleibt. Noch aufschlussreicher ist die zentrale Diskussion über den Zusammenhang von Ästhetik, Liberalismus und Gründerzeit (312,2-319,9), in der man den Autor nur dann findet, wenn man seine Positionen anhand seiner außerhalb des Romans vorliegenden Äußerungen rekonstruiert, ein Verfahren, das nicht der Rolle des Lesers, sondern der des Literaturwissenschaftlers entspricht.

Die Gruppe der ‚Serapionsbrüder‘ hat also keine verbindende Funktion, durch die divergierende Handlungsstränge des Romans im Sinne einer zielgerichteten Struktur verknüpft würden. Vielmehr lenken sie die Aufmerksamkeit des Zuschauers im Panorama immer von dem quasi im Scheinwerferlicht agierenden Romanpersonal auf den Hintergrund. Die Gruppe agiert nicht im Sinne der Konzentration, sondern der Digression, ein Punkt, der von Gottschall entschieden kritisiert worden ist, denn „die Handlung bewegt sich mehr in excentrischen als in concentrischen Kreisen und hat daher verschiedene Mittelpunkte und sich kreuzende Peripherien“ (→ 5.1.19.) Die Suche nach Vorbildern für Gutzkows Teilung des Roman-Panoramas in Vordergrund und Hintergrund, Roman-Aktion und Roman-Horizont, führt nicht zu Hoffmann, sondern zu dem stets geschätzten Jean Paul. Jener nämlich hatte in den „Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin“, dem Urteil der scheerauischen Berghauptmannschaft folgend, sich entschlossen, solche „Digressionen“ künftig in Form eines „Appendix“ von der eigentlichen Romanhandlung reinlich zu sondern (JPSW, Bd. 1.4, S. 347). In der Tat findet auch Gottschall, Gutzkow habe „etwas von Jean Paul, was die Vorliebe für Extrablätter und eine fortlaufende Spiegelung der Handlung im geistigen Leben betrifft“ (→ 5.1.19.).

Mit der Stammtischrunde hat Gutzkow ein Forum des Raisonnements geschaffen, das die Romanhandlung weitgehend von Erörterungen zur allgemeinen politischen Lage entlastet und so auch das Romanpersonal vom ausufernden ‚Leitartikeln‘. Die Gesellschaft der ‚neuen Serapionsbrüder‘ stellt inhaltlich wie formal ein beharrendes Element dar. Ihre Positionen repräsentieren fast katalogartig die des saturierten Bürgertums: Gelehrte, Beamte, gebildete Industrielle (3,14-15), die dem wachsenden Nationalismus der Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg, dem Spekulantentum der Gründergeneration und dem ‚Strebertum‘ der Karrieristen ebenso distanziert gegenüberstehen wie den emanzipatorischen Tendenzen in Betreff der ‚sozialen Frage‘ (→ Lexikon) und der ‚Frauenfrage‘ (→ Lexikon). Sie sind, wie die auktoriale Stimme versichert, ganz gemüthliche, unverschworene, auf den Umsturz nicht einmal eines Weinglases ausgehende Menschen (3,21-23). Der politische wie kulturelle Solipsismus der Stammtischrunde widerlegt alle Aussichten auf gesellschaftliche Veränderung, also den alten utopischen Horizont des Gesellschaftsromans. Wenn man die Romanhandlung als geschichtlichen Prozess versteht, bleibt diese Runde nach dem Ende der Geschichte allein übrig, zeitlos befangen in ihren immer kreisförmiger werdenden Erörterungen.

6.1.4. Liberalismus - Idealismus oder Realismus?#

Gert Vonhoff hat in dieser Konstellation eine „kritische Distanz des Erzählers gegenüber den Versammlungen der Neuen Serapionsbrüder“ gefunden, was die gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten eines solchen „bildungsbürgerlich verankerten Gedankenguts“ betrifft (Vonhoff 1994, S. 287). Diese Distanz wird verstärkt dadurch, dass der Autor selbst die Wirkungslosigkeit der altliberalen Werte des gesellschaftlichen Ausgleichs gegenüber den immer schärfer werdenden sozialen Antinomien zugibt. Am Ende des Romans sind die Protagonisten der Romanhandlung entweder gescheitert und untergegangen, oder, was die Generation der bürgerlichen Aufsteiger aus der Rechtsanwaltskanzlei betrifft, in den Hafen von Ehe, Amt und Würden eingelaufen. Sie sind damit aber nur Aspiranten zur Aufnahme in den Club der ‚Serapionsbrüder‘ geworden. Darin liegt ihre Zukunft und nicht mehr darin, die vom Bund der ‚Ritter vom Geiste‘ verkörperten Ideale irgendwann zu verwirklichen. Der Bildhauer Althing und sein Sohn beschränken sich auf kritische Distanz zu den gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie enthalten sich des Eingriffs aus der Einsicht in die Ohnmacht der ‚idealistischen‘ Programme. Das Scheitern der alten Werte in der neuen Gesellschaft bewirkt aber kein Urteil über diese Werte, sondern nur eines über die Gesellschaft selbst.

Dieses Gefühl der Ohnmacht lässt die gesellschaftlichen Antinomien, die den durch Bismarck geprägten Nationalstaat beherrschten, umso stärker hervortreten. Der Nationalismus der Sieger von 1870/71, die schrankenlose Machtausübung durch die bindungslose Klasse der neuen Kapitalisten, die Reste der alten Feudalgesellschaft - verkörpert im Majorat des Grafen Udo -, der im Hochmut verarmte Adel, der keine Beziehung mehr zu den alten Ehrencodices hat, und die nach dem Verlust der patriarchalischen Betriebsstrukturen deklassierte und radikalisierte Arbeiterschaft stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Eben dies drückt der Roman durch die Reduktion der verschiedenen parallel geführten Handlungsstränge aus und durch die Sprachlosigkeit, die das Verhältnis der divergierenden gesellschaftlichen Gruppen bestimmt. Jene Diskussion, die in den nachrevolutionären Romanen der 50er Jahre die Hoffnung auf den künftigen Ausgleich nähren wollte, findet nur mehr außerhalb der sozialen Schlachtfelder in der Gruppe von Gleichgesinnten, dem Kreis der ‚neuen Serapionsbrüder‘, statt, dort aber gezeichnet von Resignation und Rückzug auf die Privatisierung der idealen Werte.

Gutzkow erneuert unter veränderten historischen Bedingungen den Streit um ‚Idealismus‘ und ‚Realismus‘, den er in den 50er Jahren gegen den Autorenkreis der „Grenzboten“, vor allem gegen Julian Schmidt und Gustav Freytag, geführt hatte. Diesen Kampf hatte Gutzkow schließlich verloren. Der später so genannte ‚bürgerliche‘ beziehungsweise ‚poetische Realismus‘ war daraus als Sieger hervorgegangen, wenn auch mit charakteristischer gesellschaftlicher Verspätung: Verglichen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit der 70er Jahre wirken seine Lösungen bereits nostalgisch, als Flucht aus einer durch und durch unidyllischen Epoche ins Idyllische. Die Kategorie ‚idealistisch‘ bezeichnet für den späten Gutzkow ein Urteil über diese Gesellschaft von einem außerhalb ihrer selbst liegenden kritischen Standpunkt; ‚realistisches‘ Handeln setzt dagegen das Einverständnis mit den vorliegenden Verhältnissen voraus (→ Fritz Mauthners Rezension, 5.1.24.). Realist ist, unabhängig von seiner Klassenzugehörigkeit, wer in der Anpassung seinen Vorteil sucht.

Der Roman entfaltet changierende Bedeutungen der gegensätzlichen Begriffe in charakteristischer Vermischung ihrer gesellschaftlichen und literarischen Tragweite. Der Bildhauer Althing ist der idealistische Vater (80,16-17), der sich mit seiner Kunst dem Zeitgeist entzieht und deshalb auch Rückschläge hinnehmen muss, während der Hofmaler Triesel, in realistischer Einschätzung der auf dem Kunstmarkt gebotenen Möglichkeiten, auf der Welle der vaterländisch inspirierten Kunst erfolgreich mitschwimmt. Althings Sohn Ottomar allerdings bezeichnet sein Autor ebenfalls als einen ausgesprochenen Realisten (495,9); er gehöre dem Geist der allerneuesten Zeit an, welche ideale Strebungen nicht mehr kennt, ohne sie darum gering zu schätzen (121,20-21). Diese merkwürdige Einschränkung deutet darauf hin, dass Gutzkow offenbar Formen oder Stufen des ‚Idealismus‘ bzw. ‚Realismus‘ unterscheidet; z. B. gibt es auch idealistische Pedanten, wie Dieterici, Tänzer, die im Cotillon um „eines Strohhalms Breite“ ihre „Ehre“ engagirt erklären (156,30-32). Das bedeutetet wohl, jenen idealen Standpunkt einzunehmen, dem, nach den Worten Edwina Marloffs, die thatsächliche Stellage fehlt (339,16-18). Zum wirklichen ‚Idealisten‘ gehört das Bedürfniß eines umfassenden Grundgedankens fürs Leben (228,11-12), womit dieser ‚Idealist‘ auf überraschende Weise mit dem ausgesprochenen Realisten Ottomar identisch wird, den sein Autor als solchen einen Virtuosen der Selbstbeherrschung nennt (495,9-10). Ihm entgegengesetzt ist die Selbstgenügsamkeit, die sich mit dem stolzen Namen des Realismus, der Reichstreue und wer weiß, was Alles jetzt brüstet und die doch nur der alte sattsam bekannte Uebermuth, die Rohheit, die Unbildung von ehemals ist (294,13-16). Das ist jener ‚Realismus‘, den Gutzkow in der Vulgarität der Gründer und Spekulanten vorfindet.

Neben der idealen Haltung, deren Vorhandensein im Volke Voraussetzung für die allgemeine Wehrpflicht sein müsse (531,13-15), steht die realistische Bildung (276,16), die den Kapitän Holl auszeichnet, und übrigens auch den Ingenieur Raimund Ehlerdt, der aus ihr jene positiven Eigenschaften bezieht, an denen es ihm als Revoluzzer gebricht. Eine ‚idealistische Bildung‘ wird zwar nirgends namhaft gemacht, sie ist aber zweifelsfrei vorhanden, denn sie zeichnet den Autor aus, der von ihr reichlich Gebrauch macht. In den Neuen Serapionsbrüdern existiert eine ganze Sprachschicht aus klassischen Zitaten, mythologischen Anspielungen und historischen Reminiszenzen, die beim Leser ein beträchtliches lexikalisches Vorwissen voraussetzen. Gutzkow erreicht beim Zitieren manchmal die Ebene der Selbstparodie, wenn er z.B. den Bericht Ottomars über das Vater-Tochter-Verhältnis zwischen dem alten Grafen und Edwina Marloff mit dem Satz beendet: Die Erinnerung an Papst Alexander den Sechsten schnitt alle Erörterungen ab. (129,10-11) Gutzkows Zitierpraxis widerspricht jener des Bildungsbürgertums, das mit den „Geflügelten Worten“ Büchmanns eine umfassende Bildung nur vortäuscht, die, wäre sie denn vorhanden, den eigenen gesellschaftlichen Status in Frage stellen müsste. Die ‚idealistische Bildung‘, die sich im souveränen Umgang mit der von den Zitaten repräsentierten Kulturtradition manifestiert, verweist auf die Deutungshoheit des ‚idealen Standpunktes‘, der auch dem ‚ausgesprochen Realisten‘ unumstößlich bleiben muss, um sich im Dickicht der ‚Tatsachen‘ zu orientieren.

Tatsächlich ist - wie bereits unter 6.1.2. angedeutet - die ‚idealistische‘ Bildung das nachhaltigste Indiz für die Gegenwart des Autors in seinem Roman, der damit ein Netz von Konkurrenzen zu seinem unbekannten Leser errichtet. Dieses Geflecht aus historischen und mythologischen Anspielungen stellt dem in der Diskussion der 50er Jahre rein inhaltlich-mimetisch definierten ‚realistischen‘ Erzählen eine formale Struktur entgegen: Die alte Frage Julian Schmidts „Was ist wirklich?“ (vgl. Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 97) stellt sich neu und verlangt nach anderen Antworten, als sie von den Autoren der „Grenzboten“ gegeben worden waren.

Offenbar widerspricht Gutzkows mythologisch-historisches Geflecht fundamental der von Friedrich Theodor Vischer 1857 in seiner Ästhetik definierten „Grundlage [...] des Romans“ als „die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt“ (vgl. Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 216). Julian Schmidt präzisiert Vischers Wirklichkeitsbegriff in einer Kritik an den ‚realistischen‘ Autoren. Die seien zur Wirklichkeit des Volkes nicht vorgedrungen. Denn „da, wo das deutsche Volk in seiner Tüchtigkeit zu finden wäre, nämlich bei seiner Arbeit, suchen sie es nicht auf“ (Julian Schmidt: Geschichte der Literatur im 19. Jahrhundert. Zweite, durchaus umgearb., um einen Band verm. Aufl. Leipzig: Herbig, 1855. Bd. 3, S. 318). Gutzkow polemisiert gegen diesen Realismusbegriff in seiner Kritik an Gustav Freytags „Soll und Haben“ in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd“: Realistisch solle nach dem Programm Schmidts und Freytags doch wol heißen: Ohne Tendenz; in „Soll und Haben“ heiße es aber noch mehr: Ohne Idee. Was ist denn die Idee dieses Romans? Daß ein Rittergutsbesitzer keine Runkelrübenfabriken anlegen soll? (Karl Gutzkow: Ein neuer Roman. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Nr. 36, 1855, S. 574; eGWB, pdf 1.0, S. 10). Offenkundig entscheidet sich Gutzkow damit gegen Julian Schmidts Absicht, „die Wirklichkeit zu idealisieren“, und für die von diesem bekämpfte Absicht, „das Ideal zu verwirklichen“. Grundlage für die Idealisierung der Wirklichkeit ist für Julian Schmidt jene „allgemeine sittliche Substanz“, die von Ottomar am Ende der Neuen Serapionsbrüder zurückgewiesen wird, und dieser „reale Boden“ sei „der nationale Boden“ (Julian Schmidt: Literaturgeschichte. In: Die Grenzboten. Leipzig. 15. Jg., 1856, 2. Semester, S. 201-210, Zit. S. 208-210; hier zit. nach Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 69). Hier liegt der Ursprung für die nationalistische Ideologisierung des Realismus-Programms durch die literarischen Protagonisten des Bismarck-Staates in der Gründerzeit, die von Gutzkow in den Neuen Serapionsbrüdern attackiert wird. Denn Julian Schmidts Realismuskonzept, das die Wirklichkeit idealisieren will, dringt gar nicht bis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vor. Diese nämlich ist nur dialektisch wahrnehmbar: Erst die Opposition des ‚idealen Standpunktes‘ gibt den Blick frei auf die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ Hegels.

6.1.5. Ästhetik des Bruches#

Offenkundig ist freilich, dass der Bruch mit der Konvention des bürgerlichen Realismus auch zu Brüchen in der Romankonstruktion der Neuen Serapionsbrüder geführt hat. Der Verzicht auf eine Romanform, die das Poetische unverstellt als Spiegel der die Gesellschaft beherrschenden Gesetze verstand, verdeutlichte das in erster Linie ästhetische Problem: Die andere und gegenüber dem bürgerlichen Realismus durchaus neue Ästhetik des Romans musste auch das alte Gesetz der Gesellschaft ersetzen, da die alte Ästhetik untrennbar mit diesem Gesetz und seinen Konventionen verknüpft war. Jene gesellschaftliche Ordnung, die von der ästhetischen Ordnung des bürgerlichen Realismus beglaubigt werden sollte, war in der Gründerzeit schon historisch geworden. Der anhaltende Erfolg von Romanen wie Freytags „Soll und Haben“ beruhte auf der Nostalgie des bürgerlichen Publikums, dem die alten bürgerlichen Werte längst zum Märchenbild der ‚guten alten Zeit‘ verkommen waren. Literatur als Kompensation: Wenn der tägliche Kampf zwischen Konkurrenten, Klassen und Nationen, der das wirkliche Leben bestimmte, vorübergehend ausgesetzt war, konnte man zum Feierabend in die geordnete Welt der Romane flüchten.

Das Problem Gutzkows bestand, nach der Interpretation Gert Vonhoffs, darin, dass er dem Zerfall der alten gesellschaftlichen Ordnung nur mit der militanten Verteidigung der altliberalen Vorstellungen des ‚Bildungsbürgers‘ begegnen konnte, also mit dem Hinweis auf eine für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen allgemein verbindliche Ordnung. In der Romanwirklichkeit war diese Ordnung nur durch andauernde, mehr oder minder verdeckte Eingriffe des Autors unterzubringen. Sie führte zu offensichtlichen Brüchen in der Romankonstruktion. Gerade weil Gutzkow die gesellschaftliche Wirklichkeit, die der Roman beschreibt und kritisiert, mit Schopenhauer für im Grunde unheilbar hielt, mussten ihm Reparaturvorschläge für das Irreparable zur Phrase geraten. Auffällig ist das Wachstum der Phraseologie dort, wo es um die Lösung der altliberalen Probleme geht, wie die ‚soziale Frage‘ (→ Lexikon) oder die ‚Frauenfrage‘ (→ Lexikon), die durch Berufung auf den Adel „edler Weiblichkeit“ oder die Beschwörung hohe[r] „Frauenwürde“ und des Weibes „weltgeschichtliche[n] Culturberuf[s]“ (577,18-19) in der Floskel enden (vgl. Vonhoff 1996, S. 293). Allerdings wird diese Flucht in leer gewordene Formeln an anderer Stelle wieder zurückgewiesen. Der alte Althing verurteilt solche Phrasen sozusagen aus Schiller und Goethe, die geflügelten Worte werden bald zu Kalauern geworden sein (35,26-28).

Damit wird eine ganze Schicht des Romans, nämlich die durchgehende Folge der Sentenzen und klassischen Zitate, zwar nicht in ihrer Substanz widerrufen, aber gegenüber den in der neuen Gesellschaft vorherrschenden Kräften für wirkungslos erklärt. Gutzkow hält, wie Gert Vonhoff bemerkt hat, an der Kompetenz des liberalen Bürgertums zur Lösung der Probleme fest, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel von einer bürgerlich-liberalen zu einer ausschließlich wirtschaftsliberalen Gesellschaft ergeben - der Machtübernahme jenes Prinzips, das heute als ‚Turbokapitalismus‘ bezeichnet wird. Die Idee der bürgerlichen Liberalität bezeugt ihre Zuständigkeit nicht mehr durch den Verweis auf eine zukünftige gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern durch ihr Scheitern an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In diesem Scheitern liegt ein Element der Modernität des Romans, das die Tradition der negativen Dialektik Adornos belegt: „Denn wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970. S. 93).

Gert Vonhoff hat gezeigt, dass die ästhetische Qualität des Romans sich vorwiegend in den Brüchen entfaltet, die zwischen den gesellschaftlichen Realitäten und der ordnungschaffenden Instanz des Autors entsteht, d. h. im Scheitern des Versuchs, das bildungsbürgerlich-liberale Weltbild auch in der Romanstruktur zu realisieren (vgl. Vonhoff 1996, S. 337). Diese strukturelle Brüchigkeit entfaltet der Roman anschaulich im Sterben Edwina Marloffs. Die Schilderung dieses Todes lässt gegensätzliche Lesarten zu. Er erscheint als Strafe für den Verstoß gegen die Gesetze der Gesellschaft ebenso wie als nicht eingelöste Schuld der Gesellschaft gegenüber dem Recht des Individuums: Der Arzt, der nur an der Leiche Edwinas als Material für den wissenschaftlichen Fortschritt interessiert ist, entwertet die Person zur Sache. Das ist übrigens auch die Konstellation, die Flaubert im Sterben Emma Bovarys entworfen hat. Der körperliche Verfall wird ihm zum Gegenbild ihrer Versündigung an der Gesellschaft, die selbst verklagt wird im sprachlosen Unglück der Sterbenden und der verzweifelten Ratlosigkeit Charles Bovarys, während der Apotheker Homais wie Gutzkows Arzt die Dummheit des angeblichen Fortschritts repräsentiert. Die von der Gesellschaft unrechtmäßig als Gesetz etablierte Pflichtethik Kants ist in beiden Fällen ersetzt durch die nicht weiter begründbare Mitleidsethik Schopenhauers. Zugleich wird Kants ethisches Prinzp in das Gesetz der Gesellschaft verwandelt, gemäß der mehrfach wiederholten Maxime des Titelhelden in Friedrich Theodor Vischers Roman „Auch Einer“: „Das Moralische versteht sich immer von selbst“ (Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Stuttgart, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, 1.-5. Taus. 1879. S. 20).

Es gehört zu dieser Ästhetik des Bruches, die Gutzkows letzten Roman bestimmt, dass jene Wahrheit, die der Autor für sich beansprucht, sich nur im Scheitern der Romanform realisieren lässt. Der unermüdlich weiter schreibende Autor wappnet sich mit Schopenhauerischem Stoizismus gegen die ständig wachsende ‚Dummheit‘, deren ‚Realismus‘ immer nur an den nächstliegenden Interessen orientiert ist, aber keinen Blick mehr hat für die weiterreichenden Zusammenhänge, die den ‚idealen Standpunkt‘ bestimmten. Die Dummheit ist für ihn, wie für Flaubert, der eigentliche Feind, dem er, nach einer ironischen Bemerkung Arno Schmidts, nur mehr durch die „Verteilung von wacker=tapferen Kleinstdrucksachen“ begegnen kann (Arno Schmidt: „Bedeutend; aber...“. Bargfelder Ausgabe. Bd. III,3. Zürich: Haffmans, 1995. S. 499).

Denn in einem entscheidenden Punkt ist der bürgerlich-liberale Standort in den Neuen Serapionsbrüdern aufgegeben, nämlich was die Überzeugung betrifft, den liberalen Idealen durch literarische und journalistische Arbeit den Weg in die soziale Wirklichkeit ebnen zu können. Das Projekt, auf der Grundlage der bürgerlichen Liberalität zu einem gesellschaftlichen Ausgleich zu gelangen, war gescheitert, weil es die ökonomischen Kräfteverhältnisse unterschätzt hatte. Der frühe Liberalismus der Vormärzzeit war überzeugt, die anarchischen Kräfte der Wirtschaft durch den moderierenden Eingriff des Staates bändigen zu können. In England, dem Mutterland der Industriellen Revolution, trat der Konflikt zwischen einem politischen Liberalismus und einem reinen Wirtschaftsliberalismus schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zutage. Edward Lytton Bulwer hat deshalb als parteiloser Abgeordneter, der sich dem ‚radikalen‘ Flügel verbunden fühlte, in den frühen 30er Jahren ohne weiteres staatliche Eingriffe gefordert, um das schrankenlose Wachstum der Industrien, ausschließlich auf Kosten der Unterschicht, zu steuern (vgl. [Edward Lytton Bulwer]: England und die Engländer. 6 Bändchen. Stuttgart: Metzler, 1836. Bd. 2, S. 76). In Preußen hatte immerhin Hegel in seiner Kampfschrift gegen die englische Reformbill kurz vor seinem Tod kritisiert, dass durch diese Reform in erster Linie die Rechte der privilegierten Schichten des Landadels und der neuen Industriebarone gestärkt würden.

Für den avancierten Kapitalismus des späteren 19. Jahrhunderts waren das bestenfalls nachgeordnete Probleme, deren Lösung an das neue liberale System der frei flottierenden Kräfte im ökonomischen Konkurrenzkampf delegiert war. Die resignative Stimmung, die in den Neuen Serapionsbrüdern vorherrscht, verdankt sich der Einsicht, mit den richtigen Überzeugungen auf verlorenem Posten zu stehen; und diese Einsicht ist die Folge der endlich erkannten realen Gesetzmäßigkeit: dass nämlich das einzige Kriterium der Wirtschaft das Wachstum der Gewinne ist und alles beseitigt werden muss, was die Gewinnmaximierung behindert.

Die aus solcher Resignation resultierende Selbstvernichtung des Autors als ordnende Instanz, die sich in ihrer Wirkungslosigkeit wiedererkennt, findet bei Gutzkow noch außerhalb des Romans statt. In den Neuen Serapionsbrüdern behält er sich wohl die Definitionsmacht als sinngebende Instanz vor, aber er gelangt damit nur zu einer Übereinstimmung mit der Ohnmacht seines Romanpersonals gegenüber der realen Welt, von der sein Roman zwangsläufig handeln muss. Die auktoriale Macht über die literarische Erfindung scheint damit auf eine Schwundstufe reduziert.

Die Stimme des Autors ist unverstellt erst zu hören in den Schriften, die den Roman begleiten, in rasenden Zornesausbrüchen gegen den Ungeist der Zeit und seine Erscheinungen, eine Stimme, die im Roman schon im Hintergrund rumort, während sie vordergründig immer noch den Moderator spielt. Gutzkow, der sich schon aus Gründen des Broterwerbs lebenslang um eine angemessene soziale Position bemüht hatte, erklärt seinen Austritt aus dieser Gesellschaft, in der fast alle seine Schriften, von Kritik und Publikum kurzgesagt mißhandelt worden seien (Vorwort zur Neuausgabe von Blasedow und seine Söhne vom März 1874, GWII, Bd. 5, S. VII). Der Autor distanziert sich in der Gestalt des freiwillig Unzeitgemäßen vom Stil der Colportageromane, die das literarische Leben beherrschen, und persifliert mit dem Beispielsatz Bismarck reichte Laskern eine Cigarre deren vollkommen fiktiven ‚Realismus‘ (Vorwort zur Neuausgabe von Maha Guru, Juli 1874, GWII, Bd. 6, S. 147).

Dass der Autor die Position des literarischen Moderators und damit des altliberalen sozialen Ausgleichs aufgekündigt hat, ist einschlägig im Vorwort zur zweiten Auflage der Neuen Serapionsbrüder (→ 4.2.2.) und in der danach entstandenen Polemik Dionysius Longinus nachzulesen. Die altliberale Vorstellung vom Staat als Ordnungsmacht gegen die Herrschaft des Kampfes aller gegen alle wird bis zum Widerruf der alten liberalen Positionen radikalisiert. Gutzkow ruft unverhohlen zur Zensur auf gegen die arkadische Nachsicht in Sachen der Volksbildung: Auch die Debatte über die „Arbeit“ auf den Kathedern muß von den Regierungen ohne Weiteres abgesetzt werden. Die Attacken gegen Sozialisten, Arbeiterführer und gewerkschaftliche Organisation im Roman sind, wie das Vorwort zeigt, durchaus Stimme des Autors. Sie stehen wie die Ästhetik der Socialdemokratie und die Blasirtheit der Börse für die methodische Erziehung des Volkes zum Gemeinen, Unedlen, Pietätlosen.

Diese Stimme des Autors, die sich in scheinbar unkontrollierten, tatsächlich aber rhetorisch hoch artifiziellen Schimpfreden und Wutausbrüchen äußert, ist von der Literaturwissenschaft immer nur als Ausdruck einer pathologischen Persönlichkeit angesehen worden. Selbst der Gutzkow-Adept Houben hat Dionysius Longinus nur mehr als „krasse[n] Ausbruch seiner geistigen Störung“ gewertet (Heinrich Hubert Houben: Karl Gutzkows Leben und Schaffen. HOU, Bd. 1, S. 126). Das liegt aber daran, dass diese Stimme aus einem Jenseits der von den Gesetzen der Gesellschaft diktierten Normalität redet. Sie wird immer als querulatorisch oder sogar irrsinnig denunziert, weil ihr einziges Ordnungsprinzip im Widerspruch gegen die herrschende Ordnung besteht, ihre ästhetische Qualität in der Intensität des Widerspruchs.

Der späte Gutzkow der Neuen Serapionsbrüder und des Dionysius Longinus argumentiert von einem Standpunkt, der jenseits der herrschenden Ideologien auf dem verlorenen Posten der Aufklärung ausharren will und damit auf dem Weg, der über Eduard von Hartmanns Kombination von Schopenhauer und Hegel zu den zugleich militanten und resignativen Positionen der ‚Kritischen Theorie‘ führt, auch in der verzweifelten Einsicht in die ‚Dialektik der Aufklärung‘, die auf dem Weg in die gesellschaftliche Wirklichkeit gegen ihre eigenen Prinzipien von Liberalität und Humanität verstoßen muss.

Das ist der Standpunkt Don Quijotes, der entgegen den Intentionen seines Autors nicht als die Spottfigur erscheint, die am Vergangenen festhält, sondern als der Einzige, der die in den alten Büchern verborgene Wahrheit erkannt und bewahrt hat. Die Stimme des Autors der Neuen Serapionsbrüder redet nicht mehr aus dessen Vollmacht, sondern aus der Position des Verlierers, der durch den Verlust der auktorialen Gewalt erst die Geltung seines Lebenswerkes in der Ohnmacht bestätigt findet. Wie für Arno Schmidt, der Gutzkow unter Berufung auf Die Ritter vom Geiste, den Zauberer von Rom und die Neuen Serapionsbrüder wieder entdeckt hat (vgl. Arno Schmidt: Der Ritter vom Geist. BFA, Bd II,3. Zürich: Haffmans, 1991. S. 169-200), ist die Stimme des Autors „der tapfere dünne Lärm zwischen den Felsenzähnen des Daseins“ (Arno Schmidt: ‚FÜNFZEHN‘ Vom Wunderkind der Sinnlosigkeit. BFA, Bd. II,2. Zürich: Haffmans, 1990. S. 303).

Die Differenz zwischen Gutzkows Realismuskonzept und dem des bürgerlichen Realismus lässt sich durch einen Vergleich der Neuen Serapionsbrüder mit Friedrich Spielhagens Roman „Sturmflut“ belegen, der ebenfalls 1877 erschienen war und unmittelbar vor Gutzkows Roman vom „Berliner Tageblatt“ in Fortsetzungen veröffentlicht wurde. Einen ausführlichen Vergleich des ‚Realismus‘ beider Romane hat Jeffrey Sammons angestellt, und zwar tendenziell zugunsten Spielhagens (Vom Nebeneinander zur Durchkomponierung. Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Karl Gutzkows „Die neuen Serapionsbrüder“ und Friedrich Spielhagens „Sturmflut“. In: Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Hg. von Roland Berbig und Dirk Göttsche. Berlin, Boston: De Gruyter, 2013. S. 321-334, bes. S. 329-334). Der naheliegende Vergleich fiel in der zeitgenössischen Kritik zu Ungunsten Gutzkows aus, obwohl die Neuen Serapionsbrüder nicht durchweg verrissen wurden, zumindest nicht von namhaften und kompetenten Kritikern wie Rudolf Gottschall (→ 5.1.19.). In der Tat weisen beide Romane überraschende Parallelen auf, sowohl in der Zusammensetzung des Romanpersonals wie der kritischen Einstellung zu bestimmten Tendenzen der Zeit. Beide Romane verteidigen den patriarchalisch geführten Industriebetrieb gegen sozialistische Einflüsse in der Arbeiterschaft. In beiden Romanen werden die negativen Tendenzen der Zeit durch drei Namen personalisiert: Bismarck steht für den wachsenden Nationalismus und Zentralismus, Richard Wagner für eine rückwärts gewandte, romantisierende Ästhetik und der Philosoph Eduard von Hartmann (→ Erl. zu 282,15-16) für den Verlust eines humanen Welt- und Menschenbildes.

Solche Übereinstimmungen in der Konstruktion der Romanhandlung und in der politischen Überzeugung beider Autoren täuschen aber über grundlegende Differenzen hinweg. Diese fundamentalen Unterschiede hat Rudolf Gottschall in seiner vergleichenden Kritik der beiden Romane herausgearbeitet, und er findet auch die Gründe, die ihn dazu bewegen, Spielhagen den Vorzug zu geben. In der „Sturmflut“ sieht er Gutzkows altes Romanmodell des ‚Nebeneinander‘ geradezu vollendet, während dieses Romanmodell in den Neuen Serapionsbrüdern zerfallen sei. Diesem Roman fehle das Umfassende des Zeitbildes, weil Gutzkow „nur einen Ausschnitt aus dem Leben der Gegenwart“ gebe (→ 5.1.19.). Mit einem Wort: Spielhagen wird bescheinigt, dass seine Romanfiktion ein realistisches Gesamtbild der gegenwärtigen Gesellschaft gebe, während Gutzkow im räsonierenden ‚Feuilleton‘ der Serapionsbrüder nur seine alten Idiosynkrasien auf diese Gesellschaft übertrage.

Im Gegensatz zu Gutzkows ausschnitthafter Romanwirklichkeit rühmt Gottschall Spielhagens in sich geschlossene Romanordnung, die sich letztlich als deterministisches Modell erweist. Spielhagens Roman bezeuge mit seiner von Gutzkow vollkommen abweichenden Konfliktlösung die grundlegende Harmonie der ästhetischen Ordnung mit der bürgerlichen Ordnung, die auch die natürliche sei, „indem er einen Grundgedanken, die Parallele zwischen der socialen und elementarischen Sturmflut, zum Grundstein und auch zum Eck- und Schlußstein der künstlerischen Architektonik macht“ (→ 5.1.19.).

Gottschalls Vergleich verdeutlicht ein grundsätzliches Problem in der Realismus-Debatte des 19. Jahrhunderts. Das von ihm propagierte Modell erklärt die poetische Ordnung als die realistische, d. h. der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechende. Für Gutzkow dagegen ist diese Wirklichkeit ihrem Wesen nach kontingent, d. h. sie kommt im ästhetischen Konzept des bürgerlichen Realismus, der immer nur Sinngebungen abbildet, überhaupt nicht vor: Sinngebung kann aber einer wesentlich kontingenten Wirklichkeit nicht immanent sein, sondern bleibt immer eine von außen gesetzte Ordnung. Sie findet keinen Eingang in die Fiktion des Romans, da sie ausschließlich über die verborgene Stimme des Autors repräsentiert ist.

Gutzkows Distanz gegenüber allen, die Roman-Wirklichkeit determinierenden Konventionen des bürgerlichen Realismus ist am deutlichsten an der Führung der parallelen Liebesgeschichten in beiden Romanen erkennbar. Die Ehebruchsgeschichte zwischen Ada von Forbeck und Ottomar Althing endet nicht mit der von der Konvention geforderten Bestrafung der Schuldigen, die noch Flauberts Madame Bovary und Fontanes Effi Briest, wenn auch unter deutlicher Missbilligung der Autoren, zuteil wurde. Das tragische Modell ist durch die Legalisierung der neuen Bindung revidiert, und der weibliche Teil ist die treibende Kraft. Ada von Forbeck gehört damit in die Reihe der in ihrer Widersprüchlichkeit außergewöhnlich genau gezeichneten Frauengestalten Gutzkows, von Wally über Seraphine und Imagina Unruh bis zu Luise Eisold und Melanie Schlurck in Die Ritter vom Geiste und die unvergleichliche Lucinde Schwarz im Zauberer von Rom. Die zweite Liebesgeschichte zwischen Gustav Holl und der Schwester Ottomar Althings wird durch die Wahl der Frau entschieden, ohne dass dabei das Urteil der Gesellschaft eine Rolle spielte. Die berüchtigte Praxis des bürgerlichen Romans, die gesellschaftlichen Normen und damit das deterministische Modell am Ende durch eine Reihe von Eheschließungen zu befestigen, wird von Gutzkow schließlich durch die Zwangsverehelichung der beiden Rechtsreferendare parodiert, die damit nur ihre Karriere sichern.

Spielhagen dagegen entwickelt die Liebesgeschichten, die in der „Sturmflut“ den Fortgang der Handlung bestimmen, exakt nach einem von der bürgerlichen Konvention geregelten System von Belohnung und Bestrafung, das von der Baronin Kniebreche geschildert wird und das letzten Endes die Romanstruktur Spielhagens selbst beschreibt:

Alles hat seine Grenzen, auch die Geduld der Gesellschaft. Wenn man diese Geduld zu lange auf die Probe stellt, sagt die Gesellschaft: es wird nichts daraus, und wenn die Gesellschaft das eine Zeitlang gesagt hat, so wird auch nichts daraus, einfach, weil sie es gesagt hat. Man thut Alles, was die Gesellschaft sagt: verlobt sich, heirathet sich, trennt sich, nimmt einen Liebhaber, läßt ihn wieder laufen, fängt mit einem zweiten an, geht mit einem dritten durch, schießt seinen Freund todt, schießt sich todt - die Gesellschaft hat immer Recht. (Friedrich Spielhagen: Sturmflut. 2 Bde. Friedrich Spiehagens ausgewählte Romane. Bd. 8-9. Leipzig: Staackmann, 1890. Bd. 1, S. 314)

Nach diesem Gesetz ist die schließliche Ehe zwischen der adeligen Generalstochter und dem bürgerlichen Kapitän nichts anderes als die nach langer Prüfung erfolgte Belohnung für gesellschaftliches Wohlverhalten. Der äußerste Affront gegenüber der bürgerlichen Weltordnung ist ein ‚amour fou‘, der sich kompromisslos den Konventionen verweigert. Während aber bei Gutzkow das Scheitern von Edwina Marloff und Raimund Ehlert in den beiden beteiligten Charakteren selbst wurzelt, scheitern Spielhagens „problematische Naturen“, weil sie das Gesetz der bürgerlichen Konvention verletzt haben, und gehen in der titelgebenden Sturmflut unter. Der Himmel vollzieht sozusagen das Urteil, das die Gesellschaft gesprochen hat, und die bürgerliche Konvention erweist sich als identisch mit dem Naturgesetz. Diese Konstellation, die Gottschall in seiner Kritik des Romans zum eigentlich einheitstiftenden Faktor erhoben hat - durchaus zu Recht, wie gezeigt wurde, aber eben in Umkehrung des ästhetischen Arguments -, hat der anonyme Rezensent beider Romane in „Unsere Zeit“ mit offenem Spott bedacht:

Im übrigen benutzt Spielhagen die Sturmflut, wie er früher die Revolutionen benutzt hat: er läßt in diesen Massenkatastrophen eine Art Windsbraut des Verhängnisses einherbrausen, welches die Zahl seiner Helden lichtet, besonders aber diejenigen, auf denen eine sittliche Schuld ruht, oder deren zerrüttete Lebensverhältnisse keinen Ausweg gestatten, aus den Reihen der Lebendigen wegfegt. (Unsere Zeit. Leipzig. [Juni] 1877, S. 791-794, Zit. S. 792; Rasch 14/48.77.06.2)

Die Neuen Serapionsbrüder entwickeln eine Romanform, die sich dem gesellschaftlichen Determinismus Spielhagens verweigert und damit einem Realismus-Modell, das Geschlossenheit mit der Beschränktheit des Blicks gleichsetzt: Das Gesetz der Gesellschaft gehört, nach der Definition Spielhagens, zu den „limitirenden Grundbedingungen des Kunstwerkes“, und „die höhere Objektivität des nach allseitiger Billigkeit strebenden Urteils“ sei auch die „poetische“ (Friedrich Spielhagen: Der Ich-Roman. Ein Beitrag zur Theorie und Technik des Romans. Zit. nach Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 249 und 257).

Gegen diesen bürgerlichen Realismus, der die Ästhetik des Romans zum ideologischen Modell macht, stellen die Neuen Serapionsbrüder eine Romanform, die geradezu prononciert auf Geschlossenheit verzichtet. Das lineare Erzählen einer kontinuierlich fortschreitenden Handlung ist aufgegeben zugunsten eines ständigen Wechsels der Positionen. An die Stelle der für Spielhagen charakteristischen langen Beschreibungen, die darauf gerichtet sind, die Phantasie des Lesers drehbuchartig durch das vom Autor intendierte Innenbild zu besetzen, tritt eine ausgearbeitete Dialogregie, die den Autor aussparen will. Die Realität des Romanpersonals entfaltet sich nicht durch die Beschreibung von außen, sondern im Dialog und im inneren Monolog, in dem Ada vor der Flucht aus ihrer Ehe ihre Situation assoziativ reflektiert (485,25-488,3).

So erweist sich Gutzkows Roman, entgegen dem überwiegenden Urteil der Kritik, in der Projektion auf die Zukunft als der modernere. Kritiker aus der jüngeren Generation wie Josef Kürschner und Fritz Mauthner haben das durchaus bemerkt. Mauthner sieht in Gutzkows Formulierung des alten Gegensatzes von Realismus und Idealismus einen offenen Wechsel auf die Zukunft:

Der „Realist“ begnügt sich, die sichtbaren Modelle mit seinem besten Können und seinen besten Farben getreu nachzubilden, nur darum, weil sie ihm gefallen, weil er mit dem Gewonnenen zufrieden ist. Gutzkow ist eine solchen Optimisten entgegengesetzte Natur. Die Unzufriedenheit, die Mutter des Idealismus, ist seine Muse. Es ist jene edle Unzufriedenheit, ohne welche kein menschlicher Fortschritt gedacht werden kann [...]. (→ 5.1.8.)

6.1.6. Die Tendenzen der Zeit#

In den Neuen Serapionsbrüdern benennt Gutzkow eine Reihe von Phänomenen und Sozialtypen, in denen er den Zeitgeist schlaglichtartig verkörpert sah. Dazu gehören das ‚Strebertum‘, das alle Kreise der Gesellschaft erfasst habe, und die Raffke-Mentalität der Börsenspekulanten, die den vormärzlichen Liberalismus und dessen freiheitliche Grundlagen dem Markt-Liberalismus eines radikal kapitalistischen Systems geopfert habe: allesamt Indizien für die Verwandlung des von der Aufklärung geprägten Begriffs des Bürgers als eines selbstverantwortlich handelnden ‚Citoyen‘ in den ‚Bourgeois‘, der alle gesellschaftlichen Prozesse seinen egoistischen Zielen unterordnet. Als Gegenkraft erkennt Gutzkow die ‚Socialdemokratie‘, die aber für die liberale Gesellschaftsordnung womöglich noch ruinöser wirke.

Einen wesentlichen Beitrag zur Zersetzung der von der Aufklärung definierten bürgerlichen Ideale leisten die neuen auf funktionale Effizienz ausgerichteten Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Schließlich eine rückwärts gewandte Ästhetik, in der Gutzkow die von Odo Marquard formulierte Kompensationstheorie antizipierte: Kunst als Entlastung von den Zumutungen des alltäglichen Lebens (Einige Aspekte der Kompensationstheorie. In: Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart: Reclam, 2000. S. 30-49). Für alle diese Tendenzen stehen einschlägige Namen: Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie den Kampf um's Dasein (3,31) an die Stelle eines disziplinierten Lebens und Arbeitens setzte; Liebig, der mit seinem Fleischextrakt zumindest die bürgerliche Küche unterminierte (vgl. 287,24); Richard Wagner, der die entgleisende gesellschaftliche Wirklichkeit mit einer pseudoromantischen und scheinmythologischen Fassade verkleisterte; und schließlich Eduard von Hartmann, der mit seiner „Philosophie des Unbewußten“ (→ Erl. zu 282,15-16) die Gründe für den nach Schopenhauer allzeit schlechten Lauf der Welt endlich gefunden hatte.

Die Musikdramen Richard Wagners identifizierte Gutzkow als wesentliche Quelle für den wachsenden und immer militanter werdenden Nationalismus. Besonders in der „Ring des Nibelungen“-Tetralogie, die als Gesamtwerk erstmals 1876 in Bayreuth in Gegenwart zahlreicher gekrönter Häupter stattfand, erkannte er die Verwandlung der germanischen Mythen in eine nationalpolitische Ideologie. Die Repräsentanten des neuen Reiches feierten die Opernpremiere als Staatsakt. Der Mythos wurde als politische Handlungsanweisung verstanden. Als unmittelbar politisch instrumentierbar erwiesen sich vor allem die Ostseemythen, deren germanische Kultstätten umstandslos dazu dienten, die militärische Aufrüstung der Küste historisch zu rechtfertigen. Die mythische Wirklichkeit der Nordlandkulte wurde in eine tatsächliche historische Wirklichkeit umgedeutet.

Im literarischen Nordsee-Mythos gehörte die nordische Sagenwelt zu den naturmagischen Quellen, aus denen sich die überwältigende Emotionalität der Naturwahrnehmung nährte, ein Naturerlebnis, dessen Dichter nach den Worten der Brennecke zu viel von den Möwen sängen, statt die überlieferte Sagenwelt zur Begründung einer nationalen Heilsgeschichte zu nutzen. Der Ostsee-Mythos überführte dagegen ganz handfest die überlieferte oder erfundene germanische Mythologie, die in der realen Geographie überdauert hatte und zur Wiederbelebung einlud, in eine politische Geographie. Carus bekennt 1865: „Ich war doch noch nie so nahe von der alten Sagenwelt unsers nordischen Stammes berührt worden als hier, und wieviel späterhin die Kritik auch an dergleichen zurechtzulegen hat, in der Gegenwart weht immer ein besonderes Gefühl aus solchen Dingen uns zu.“ (Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Hg. von Elmar Jansen. 2 Bde. Weimar: Kiepenheuer, 1966. Bd. 1, S. 221) An der Ostsee gab es Hinweise auf die Sitze der Wikingerkönige („Königstuhl“), und es gab die Sage der im Meer versunkenen Stadt Vineta, die vor der Insel Usedom vermutet wurde. Preußischer Nationalismus und Zentralismus fanden im nordischen Mythos so etwas wie eine höhere Begründung für die historische Entwicklung eines nationalistischen Bürgertums. Die Naturgewalten konnten gezähmt und der bürgerlichen Ordnung dienstbar gemacht werden, indem ihr Unvertrautes in die sublime Ordnung der Mythologie ausgelagert wurde, wie es Friedrich Spielhagen in seinem Roman „Sturmflut“ demonstriert (→ Globalkommentar 6.1.5.: Ästhetik des Bruches). Theodor Fontane hat sich von dieser Instrumentalisierung der germanischen Sagenwelt distanziert: Effi Briest ergreift angesichts der germanischen Finsternis des Herthakultes die Flucht (NFA, 1. Abt. Bd. 4., S. 211-212). Im Kommentar der Ausgabe findet sich dazu eine abfällige Bemerkung Fontanes: „Alles kolossaler Schwindel“ (ebd., S. 756; → Erl. zu 237,1). Die romantische Verklärung der germanischen Sagenwelt hatte bereits Heinrich Heine in seinem Gedichtzyklus „Die Nordsee“ verspottet (→ Erl. zu 238,4).

Der Paradigmenwechsel hängt eng zusammen mit dem Ausbau des preußischen National- und Militärstaates im 19. Jahrhundert. Begünstigt durch die Osterweiterung mit den polnischen Teilungen seit 1772 wuchs die preußische Ostseeküste bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf eine Länge von 1240 Kilometern (gegenüber 420 Kilometern an der Nordsee) und damit auch die strategische Bedeutung der Ostseehäfen und die ökonomische von Landwirtschaft und Fischerei. Während in den Nordseeprovinzen die Landwirtschaft von Großbauern betrieben wurde, lag sie in Brandenburg, Pommern und Ostpreußen in den Händen von adeligen Landjunkern, die engen Kontakt zur Hauptstadt hielten.

6.1.6.1. Die Idee in der Realität des Krieges#

Dem „systemkonformen deutschen Realismus-Verständnis“ der „Grenzboten“, „das nach 1850 kanonbildend wurde und auf der Idee einer ‚Verklärung‘ bürgerlicher Tugenden basierte“ (Lauster 2008, S. 88), stellt Gutzkow in den Neuen Serapionsbrüdern eine Wirklichkeit entgegen, in der sich die bürgerlichen Tugenden zur Bestialität verkehrt haben. Befördert durch den Ausgang des deutsch-französischen Krieges, ist die bürgerliche Emanzipation zum ‚Strebertum‘ verkommen, die Arbeit an der Konstituierung des deutschen Nationalstaates zum militanten Nationalismus.

Die allgemeine Begeisterung vom überraschend schnellen deutschen Sieg prägt das kulturelle und gesellschaftliche Klima, das in den Neuen Serapionsbrüdern beschrieben ist. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Gutzkow am Verlauf des Krieges, dessen Einzelheiten alltäglicher Gesprächsstoff waren, kaum interessiert ist: Noch „Meyers Großes Konversationslexikon“ von 1905-08 widmet sich nahezu ausschließlich dem Kriegsverlauf, der mit sämtlichen Schlachten ausführlich referiert wird (Bd. 4, S. 755-759). Im Gegensatz zu der vorherrschenden Hochstimmung überwiegt bei Gutzkow die Kritik am übersteigerten Nationalismus und der großsprecherischen Leichtfertigkeit, die in den Reden des Barons von Forbeck zutage tritt (vgl. 18,27-19,7). Gutzkow erkennt die Gründe für die fortschreitende Militarisierung der Gesellschaft 1873 in der entsetzliche[n] Selbstüberhebung des siegreichen Beamtenthums u. Militärs, secundirt von den Männern der Wissenschaft, und beklagt vor allem, dass diese Mentalität auch in die Publizistik eingezogen ist: Die Journale sind meist in den Händen der Brutalität (Brief an Fasoldt. Berlin, 23. September 1873. In: Rasch, Rachebund, S. 25). Im durch wirtschaftliche Erfolge saturierten Bürgertum des Kaiserreichs fanden Militarismus und Nationalismus einen sicheren Resonanzboden. In einem Brief an den Verleger Costenoble vom 12. Mai 1875 konstatiert Gutzkow eine wachsende Verrohung des bürgerlichen Lebens: Wer florirt? Der Offiziersstand! Sonst Niemand. Die Reichsfrage u der glückliche Krieg haben eine Roheit und Süffisance hervorgerufen, bei den jungen Männern, den Männern mittleren Alters u einem Theil der Frauen, unter der Niemand mehr leidet, als die Literatur u der Buchhandel (BrCost 1, Sp. 186).

Gutzkows Roman beurteilt die Folgen des Krieges von einem avancierten historischen Standpunkt, wenn er mit Ottomar Althing einen nachdenklichen, zweifelnden Kriegsteilnehmer zum Helden und die Zerstörung der liberalen bürgerlichen Gesellschaft durch die neue Ökonomie zum Thema macht. Er widerspricht damit der zeitgenössisch vorherrschenden Verherrlichung des Krieges und seiner Folgen als nationale Wiedergeburt Deutschlands.

Der Roman entfaltet den politischen, ökonomischen und sozialen Wandel durchaus im Sinne einer „Zäsur zwischen zwei Epochen“ (Barraclough, S. 707). Politisch bedeutete die Niederlage Frankreichs und die Proklamation des deutschen Kaiserreichs die Aufhebung des europäischen „Gleichgewichts der Kräfte“ (ebd., S. 705) und den Beginn des imperialistischen Zeitalters. Ökonomisch legte der Sieg den Grund für den industriellen Aufstieg des Deutschen Reiches, besonders der Schwerindustrie und des Maschinenbaus, beides Domänen, die bisher von England unangefochten beherrscht waren: Noch 1870 produzierte Großbritannien „mehr Eisen und Stahl als die ganze übrige Welt“, wurde aber „noch vor dem Ende des Jahrhunderts von Deutschland überholt“. Grundlage dieses Aufstiegs waren das Wachstum der Großindustrie und die Verteilung des Kapitals in Aktiengesellschaften. Die Börse wurde zum bestimmenden Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung, „und das bedeutete die Abkehr von den Grundsätzen der liberalen, das heißt ungesteuerten Wirtschaft“ (Barraclough, S. 709).

Zu den sozialen Verwerfungen im Gefolge der zweiten industriellen Revolution gehörte nicht nur die Entstehung einer besitzlosen und zunehmend militanten Arbeiterschaft, wie von Gutzkow geschildert, sondern auch eine wachsende wirtschaftliche Verunsicherung des Besitzbürgertums, das von der florierenden Börse existentiell abhängig wurde. Der Börsenkrach von 1873, auf den in den Gesprächen der ‚neuen Serapionsbrüder‘ angespielt wird, vernichtete ganze Vermögen. Er war die Folge „einer durch Überproduktion hervorgerufenen heftigen Krise, welche die Phase der Preissteigerung und des Wohlstandes des vorhergehenden Vierteljahrhunderts zunichte machte“ (Barraclough, S. 708).

Im Krieg von 1870/71 und in seinen Folgen registirierte Gutzkow die Peripetie der Idee im Augenblick ihres Eintretens in die Wirklichkeit. Erledigt wurde damit nicht nur das ästhetische Gesetz des poetischen Realismus, dass es gelte, ‚die Wirklichkeit zu idealisieren‘. Auch das idealistische Programm, ‚das Ideal zu verwirklichen‘, war entzaubert: es hatte seine Realisierung nicht überstanden. Denn die liberale Idee der Freiheit erwies sich im Krieg als Freibrief für Willkür und Gewalt und in der Nachkriegszeit als ökonomische Freiheit zur grenzenlosen Entfaltung von Egoismus, Habgier und Gewinnstreben. Mit anderen Worten: Gutzkow entdeckte die von der Kritischen Theorie formulierte Dialektik, nach der die Aufklärung, in der Wirklichkeit angekommen, sich gegen sich selbst wendet.

Gutzkows Realismus-Konzept erweist sich wiederum unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen als „antizipatorisch“ (ein Begriff, den Martina Lauster aus Gutzkows Schriften im Vormärz entwickelt hat). Diesem ständigen Wandel der Verhältnisse gewachsen ist aber nur ein Realismus, der von Wirkmächtigkeit des Tatsächlichen ausgeht, jenen ‚Tatsachen‘, in denen Gutzkow stets die wirkliche Wirklichkeit erkennt. Eben deshalb ist Realismus für ihn grundsätzlich auch Kritik am Bestehenden: Kritik will die Wirklichkeit verändern, indem sie neue Tatsachen schafft, nicht Ideale verwirklicht. Sie will das Menschenmögliche.

In seinem letzten Roman bekräftigt Gutzkow seinen Anspruch, die Zeit zu überholen, indem er jene Tendenzen offen legt, die in die Zukunft weisen und deren Vorzeichen er folgerichtig in den ‚Tatsachen‘ erkennt. Das bewirkt den Pessimismus des Alterswerks, der sich im Vorwort zur zweiten Auflage der Neuen Serapionsbrüder und danach im Dionysius Longinus zu wahren Hasstiraden steigert: Denn auch die neuen Wirklichkeiten werden wieder von alten und neuen, in jedem Fall aber falschen Idealen und Utopien bestimmt, die immerfort die falschen Tatsachen produzieren. Nicht einmal die von Friedrich Theodor Vischer prophezeite Abschaffung des Mythos und die Zukunft einer „wunderlosen Welt“ ist Wirklichkeit geworden, weil die rückwärts gewandte Kunst nur die alten romantischen ‚Mythen‘ erneuert und die Wissenschaft unentwegt neue ‚Wunder der Technik‘ hervorbringt (→ Globalkommentar, 6.1.7.).

Gutzkows antizipatorischer Realismus ist ein Kennzeichen der Modernität, ein Begriff, den Gutzkow durchaus im Einklang mit seiner Tradition für sich in Anspruch nimmt.

In der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ hat im späten 17. Jahrhundert Charles Perrault erstmals die Autorität der antiken Autoren in Frage gestellt und die Überlegenheit der ‚Modernen‘ hervorgehoben. Damit wurde der seit dem Mittelalter geltende Vorbildcharakter der Tradition aufgehoben, eine Erfahrung, die zu den frühesten ästhetischen Einsichten Gutzkows gehört. Diese Modernität steht offenkundig im Widerspruch zur klassisch-romantischen ‚Kunstperiode‘, die sich wesentlich als Erneuerung der Antike einerseits und durch Idealisierung des Mittelalters andererseits definierte. Im Gegensatz dazu ist die Tradition für Gutzkow nicht Vorbild, sondern Bildungsgut, so etwas wie eine alles umfassende Enzyklopädie, ein frei verfügbarer Fundus. ‚Modernität‘ bedeutet für ihn keineswegs ‚zeitgemäß‘ zu sein, weil das ‚Zeitgemäße‘, das den ‚Zeitgeist‘ bestimmt, gerade das Schlechte ist. Der Begriff bezeichnet einen Standort ‚auf der Höhe der Zeit‘, der dem ‚Zeitgeist‘ immer schon voraus ist; er begreift sich als das ‚Zukunftsweisende‘, das in der Vergangenheit nur die Bestätigung der eigenen Gegenwart findet. ‚Modern‘ bedeutet, nach der Formulierung Fritz Mauthners, „buchstäblich nur die Stecknadelspitze der Gegenwart“ (Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Zürich: Diogenes, 1980. Bd. 2, S. 335).

6.1.6.2. Der Aufstieg der Sozialdemokratie#

Gutzkows Haltung zur Lösung der ‚sozialen Frage‘ ist konservativ geprägt. Zwar erkennt er die Lebensprobleme der Lohnarbeiter/innen in der Industrie, aber anders als die sozialistischen Bewegungen hält er an der Vorstellung einer Reform von oben fest. Schon in den Rittern vom Geiste stellt er alle Versuche, die Interessen der Arbeiterschaft in der kapitalistisch geführten anonymen Großindustrie durch Organisation der Machtmittel (Streiks) durchzusetzen, in negativem Licht dar (vgl. die Schilderung der Arbeiteraufstände im 8. Buch). Die Neuen Serapionsbrüder erneuern die Kritik an den Arbeiterführern, die als ideologische Aufwiegler (der Alkoholiker Raimund Ehlert) oder opportunistische Mitläufer (Mahlo) dargestellt sind. Gutzkows Auffassung reproduziert das gültige liberal-konservative Modell in Sachen der ‚sozialen Frage‘: Ähnlich wie Dickens in „Hard Times“ hält er die Forderung nach einer Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage der Arbeiter aus ethischen Gründen für berechtigt, billigt ihnen aber keinerlei Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen zu. Auch in den Neuen Serapionsbrüdern hält er gegen die von Marx und Engels schon seit den 1840er Jahren propagierten Ideen an einem ausgelaufenen Modell fest, dem patriarchalisch geführten Industriebetrieb, der das Wohl der Arbeiter mit dem Wohl der Firma identisch setzt.

Als entscheidende und damit gefährlichste gesellschaftliche Kraft identifiziert Gutzkow die ‚Socialdemokratie‘, die mit egalitären Tendenzen die bürgerliche Ordnung zu ruinieren drohte. Die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen Gutzkows Roman spielt, waren eine für die deutsche Sozialdemokratie entscheidende Epoche. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1867 im Norddeutschen Bund zog der von Ferdinand Lassalle 1863 gegründete „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ in den Norddeutschen Reichstag ein. Die Übernahme des Wahlrechts im Deutschen Reich nach 1871 brachte der Partei weiteren Zulauf. 1869 aber hatten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei eine zweite deutsche sozialistische Partei ins Leben gerufen, die dem radikaleren Programm der sozialistischen Internationale verpflichtet war. Nachdem beide Parteien im Reichstag etwa gleich stark vertreten waren, gelang 1875 auf einem Kongress in Gotha die Fusion zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Von 1871 bis 1877, dem Erscheinungsjahr der Neuen Serapionsbrüder, stieg die Zahl ihrer Anhänger bei den Reichstagswahlen von 124.655 auf 483.288 Stimmen. Die erfolgreiche Werbung in der Arbeiterschaft besorgten ganz oder teilweise besoldete ‚Agitatoren‘ (1876 waren es 68) und ehrenamtliche ‚Redner‘ (1876: 77). Einen solchen ‚Agitator‘ hat Gutzkow in der Gestalt Raimund Ehlerdts portraitiert (zu statistischen Angaben in diesem Unterkapitel vgl. Meyer, Bd. 18, S. 633-636).

Gutzkows Ablehnung der Sozialdemokratie resultiert aus seinem altliberalen Idealbild eines aus ethischer Verantwortung handelnden Bürgertums, das die unteren Klassen durch Bildung zu gleichberechtigten Mitgliedern des Staatswesens erzieht. Wirtschaftlich entspricht diesem Ideal der patriarchalische Unternehmer, der dem Wohl der Firma ebenso verpflichtet ist wie dem ‚seiner‘ Arbeiter, denen damit jeder Grund für Streiks und Arbeitskämpfe abgesprochen wird. Gutzkows politischen Überzeugungen widersprachen zudem die egalitären Tendenzen in den seit der Fusion von 1875 zunehmend radikalen Programmen der sozialistischen Arbeiterpartei. Im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans (→ 4.2.2., GWB I, Bd. 17, S. 587-596) hat er diese egalitären Tendenzen heftig attackiert, einschließlich des daraus resultierenden allgemeinen Wahlrechts, das er nur entsprechend Gebildeten einräumen wollte, entgegen dem Prinzip, einen Humboldt neben einem Droschkenkutscher mit gleicher Wirkung abstimmen zu lassen (GWB I, Bd. 17, S. 591,24-25). Die Erfahrung, dass Bildung vor ethischem und politischem Fehlverhalten nicht schützt, weder vor Radikalismus noch vor Duckmäusertum, blieb erst einer späteren Zeit vorbehalten. Für die von der Sozialdemokratie beförderte sittliche Verwahrlosung (GWB I, Bd. 17, S. 591,30) macht Gutzkow allerdings den Staat im Allgemeinen und insbesondere seine Repräsentanten im Bildungswesen, die kulturelle und publizistische Elite, verantwortlich. Die Attentate, die Hödel und Nobiling 1878 auf Kaiser Wilhelm verübten, erklärt er als mehr oder weniger direkte Folge des moralischen und praktischen Versagens der Gebildeten und Besitzenden: Sie brachten keine vorbildhafte politische Kultur hervor, die der Arbeiterschaft die Voraussetzungen für eine verantwortliche Wahrnehmung ihres Wahlrechts hätte vermitteln können.

Eine methodische Erziehung des Volkes zum Gemeinen, Unedlen, Pietätlosen fördern nach Gutzkows Diagnose vor allem die Journale. Obwohl selber im Vormärz ein Opfer der Zensur, verlangt er gegen diese Quellen der vorherrschenden Schundgesinnung offen nach nach dem Eingriff des Staates: Diese verstopft! (GWB I, Bd. 17, S. 595,17-18). Auch das Theater vernachlässige seine Bildungsaufgabe sträflich, noch unterstützt durch die Toleranz unserer Theatercensur, die gegen Männer von Geist und Charakter ablehnend sein kann, aber in den Punkten, die für die Volksbildung maßgebend sind, eine arkadische Nachsicht hat (GWB I, Bd. 17, S. 593,16-19). Schließlich müsse die Agitation an den Universitäten unterbunden werden: Auch die Debatte über die „Arbeit auf den Kathedern muß von den Regierungen ohne Weiteres abgesetzt werden (GWB I, Bd. 17, S. 595,21-23). Staatliche Repressionen durch Ausnahmegesetze (GWB I, Bd. 17, S. 590,7) wie Bismarcks Sozialistengesetz von 1878, das die sozialistische Agitation in Zeitungen und Versammlungen verbot, hält Gutzkow dagegen für wirkungslos. Die reale Entwicklung bestätigte seine Einschätzung: Bis 1890, als das Sozialistengesetz abgeschafft wurde, wuchs die Stimmenzahl für die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen auf 763.128.

Wie im Roman geschildert, kamen Streiks als Kampfmaßnahme zur Durchsetzung der Arbeiterinteressen nur begrenzt durch den Einsatz sozialdemokratischer Agitatoren zustande, da die überregionale gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterschaft noch in den Kinderschuhen steckte. Die Arbeitsniederlegung ist seit dem Mittelalter als Kampfmittel in der Auseinandersetzung zwischen Lohnabhängigen und Arbeitgebern nachweisbar. Im Zunftwesen ging es dabei gewöhnlich um Übergriffe der Meister, die den Ausstand der Gesellen auslösten. Der Streik im modernen Begriff ist als äußerstes Mittel des Arbeitskampfes um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne mit der Entstehung einer neuen Schicht von Industriearbeitern im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in England verbunden. In der frühkapitalistischen industriellen Revolution führte die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft mit Kinderarbeit, körperlichen und seelischen Misshandlungen und Arbeitszeiten, die sich über Tage erstrecken konnten, zu lokalen Aufständen. 1830 wurde ein Unterhausausschuss zum Gegensteuern eingesetzt. Die Anhörung der betroffenen Arbeiter, deren Protokolle von Edward Lytton Bulwer 1833 in „England and the English“ in Ausschnitten veröffentlicht wurden, führte 1833 zum Fabrikgesetz (Factory Act), das allerdings nur einige Einschränkungen vor allem bei der Kinderarbeit brachte. Die stets nur in kleinsten Schritten fortschreitende Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung durch niedrige Löhne und die durch den Fortschritt der Mechanisierung ausgelöste Massenarbeitslosigkeit gaben aber immer neue Ursachen für Streiks, die mit dem Wachsen der Arbeiterheere im Lauf des 19. Jahrhunderts auch immer mehr Menschen erfassten, Zustände, die Friedrich Engels 1846 in seiner Kampfschrift über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ geschildert hat.

In Deutschland gab es, wegen der später einsetzenden Entwicklung der Großindustrie, Streiks in größerem Umfang erst seit den 1860er Jahren. Sie waren einerseits branchenbezogen wie der Streik der Leipziger Buchdrucker 1865, verdankten sich andererseits den Problemen der wachsenden Industrieballung im Ruhrgebiet (Streik der Bergleute 1872). Zur Durchsetzung eines Streiks bedurfte es einer schlagkräftigen Arbeiterorganisation. In England wurden die ersten Gewerkvereine als Vorläufer der Trade Unions schon Ende des 18. Jahrhunderts gegründet. Sie wuchsen, nach der Aufhebung des zwischenzeitlich verhängten Koalitionsverbots, seit 1830 rasch weiter an. In Deutschland bildeten sich die ersten Gewerkvereine - verglichen mit der neuen Schwerindustrie - in eher traditionellen Branchen wie der Tabakindustrie (1865) und bei den Buchdruckern (1866). Ende 1869 wurden in Deutschland, nach Angaben in Meyer, 6. Aufl., 12 Gewerkvereine mit 267 Ortsvereinen und 30.000 Mitgliedern gezählt. In den Jahren der Gründerzeit nach 1870 führte die durch die Börsenspekulation bewirkte wirtschaftliche Depression, mit ihren Folgen für die besitzlose Arbeiterschaft, zu wiederholten Streiks. Gutzkows Schilderung in den Neuen Serapionsbrüdern verdeckt die tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ursachen, indem er die Verantwortung für den Ausbruch von Streiks den Hetzreden von Agitatoren zuschreibt, wie überhaupt der überhandnehmenden Sozialdemokratie. Er hält an der altliberalen Idee des Interessenausgleichs fest, die längst der Gewinnmaximierung zum Opfer gefallen war. Das Vorwort zur zweiten Auflage des Romans (→ 4.2.2., GWB I, Bd. 17, S. 587-596) trug Gutzkow bei der Linken den Ruf eines gesellschaftlichen Reaktionärs ein.

6.1.7. Die Naturwissenschaften unter der Sonne der Nacht#

Im Lauf des 19. Jahrhunderts erfuhren die Naturwissenschaften allmählich jenen entscheidenden Paradigmenwechsel, der bis heute ihren Anspruch begründet, Avantgarde des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts zu sein. Die im 18. Jahrhundert begründete Naturwissenschaft beschränkte sich, nach dem Muster von Linnés System der Pflanzen, auf das Sammeln und Ordnen, auf die Stiftung von Zusammenhängen. Sie verstand sich als Teil der großen Erzählung von der Vielfalt der Schöpfung. An die Stelle dieser Naturgeschichte und an die der romantischen Naturphilosophie, die an der Transzendierung des Modells gearbeitet hatte, traten die exakten Naturwissenschaften, die induktiv aus den Befunden auf nutzbare Gesetze schlossen. Wesentliche Schritte auf diesem Weg waren das seit 1850 in den Gesetzen der Thermodynamik formulierte Prinzip der Energieerhaltung und Darwins Evolutionstheorie, mit deren Hilfe der Fortschritt als Naturgesetz identifiziert werden konnte. Die Kritik an dem neu entstehenden Paradigma beschränkte sich zunächst auf den Widerspruch der Naturphilosophie gegen die damit verbundene Entzauberung der Natur. Gotthilf Heinrich Schubert wurde mit seinen „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (1808) zum Eideshelfer für die romantische Verzauberung der Natur.

In den Neuen Serapionsbrüdern sind die beiden antinomischen Ansichten der exakten Wissenschaft ein zentrales Motiv, das über den gesamten Roman hinweg entwickelt wird, allerdings nicht in Form einer diskursiven Erörterung, sondern, dem fiktionalen Charakter des Werkes entsprechend, in Form einer Metapher, die als doppeldeutige Allegorie erkennbar ist. Die Metapher der Sonne der Nacht (33,27), ursprünglich eine Formulierung des Sanitätsrats Eltester, wandert leitmotivisch durch den gesamten Roman: Vom dritten Kapitel des ersten Buches bis zum letzten des dritten Buches wird sie vierzehn mal in unterschiedlichen Zusammenhängen zitiert. Solche Mehrdeutigkeit ist schon beim ersten Auftauchen im Zusammenhang ihrer mythischen Herkunft angelegt: Der ägyptische Sonnengott Osiris-Serapis ist zugleich Gott der Unterwelt. Eltester erkennt in der Metapher auch die Erfindung recht eines Bildes der Wissenschaft (33,30), nämlich in Verbindung mit dem egyptischen Aesculap und den Anfängen der Medizin. Im Hintergrund des Mythos entdeckt er ein Motiv der Aufklärung, eine verborgene natürliche Wirklichkeit. Denn in dieser Wirklichkeit ist der Arzt nicht nur der Heilende, sondern auch der Todesbote: Der Gott der abgeschiedenen Seelen! Die Unterweltssonne! Nachts um ein Uhr wird ja auch leider oft genug an der Doctorglocke gezogen (34,19-20).

Die Metapher verweist aber auch auf eine kosmologische Wirklichkeit, die wissenschaftlich durch die Astronomie fixiert ist. In dieser Wirklichkeit ist die biblische Scheidung von Tag und Nacht, Licht und Finsternis insofern aufgehoben, als das Licht nur als Sonderfall in der allgemein herrschenden Finsternis erscheint. Jean Paul hat die astronomische Wirklichkeit der Sonne der Nacht wissenschaftlich korrekt formuliert: „So leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Bergen besieht, sein Blau ab, und wird schwarz, weil jenes nicht seine, sondern unserer Atmosphäre Farbe ist; aber die Sonne ist dann wie ein brennendes Siegel des Lebens in diese Nacht gedrückt und flammt fort“ (Die unsichtbare Loge, JPSW, Bd. I,1, S. 309).

Die Spur der Aufklärung führt, wie der Sanitätsrat im Romantext andeutet, vom Mythos zum Logos. Aufklärung verspricht, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen, nämlich eine verschüttete Welt, die Kehrseite der Gestirne, die Sonne der Nacht (112,15-17), im vorliegenden Fall die nicht ausgesprochene Wahrheit über Wolnys Ehe und seine Beziehung zu Martha. Auch an anderen Stellen des Romans steht die Metapher für den Topos der Aufklärung: Im nächtlichen Gespräch mit dem Geometer fordert Ottomar von diesem unter Berufung auf die Sonne der Nacht, ihm die wahre Geschichte Edwina Marloffs anzuvertrauen: lassen Sie diese Sonne leuchten! (181,4) In einer anderen nächtlichen Szene ist der Justizrat Luzius mit der „Sonne der Nacht" beschäftigt (308,7), als er erkennen muss, dass das Geheimnis seiner Jugendverfehlung nicht länger zu verbergen ist, dass er eindringen muss in jene dunkle Welt, in die Welt der noch unentschleierten Wahrheiten, der Rückseite aller Dinge, in das Geheimniß des Welt- und Menschenzwecks (308,10-12). Schließlich steigt auch in Helene die Erinnerung an die Sonne der Nacht auf, als sie sich zwischen dem Grafen und dem Seekapitän entscheiden muss. Und die Entscheidung wird durch den bezeichnenden Satz kommentiert: Es wird hell in ihr! (466,5-6)

In allen diesen Fällen erscheint der Akt der Aufklärung als Aufgang des Lichtes in der Dunkelheit. Gutzkow zitiert den Gründungsakt der sokratischen Philosophie: Im Höhlengleichnis von Platons Politeia kann sich der Prozess der Aufklärung entfalten, weil einer den Ausgang aus der Finsternis der Höhle in die Helligkeit des Tages findet und die Schattenbilder an der Höhlenwand als Täuschung erkennen kann. Und die Eule der Weisheitsgöttin Minerva ist der Vogel, der im Dunkeln sieht.

Aufklärung ist freilich gefährdet und gefährlich, weder gegen Irrtum gefeit, noch absehbar in ihren Folgen. In Platons Erzählung wird der Wissende prompt aus der Gemeinschaft der Unwissenden ausgestoßen. Und in der Metapher von der Sonne der Nacht ist der Gegensatz zwischen dem Dunkel der Höhle und dem Licht der Wahrheit aufgehoben, weil in einer Formel als coincidentia oppositorum vereint. Die alte Dualität, die den Mythos als Vorform des Logos versteht, als durch die Logozität überholte Frühform der Erkenntnis gilt für die Metapher nicht. Hans Blumenberg hat erklärt, warum die alte genetische Differenz zwischen Mythos und Logos im Auftritt der Metapher aufgehoben ist. Während der Mythos wegen der „Herkunft seiner göttlichen oder inspirativen Vergangenheit“ sanktioniert ist, darf „die Metapher durchaus als Fiktion auftreten“ (Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998. S. 112).

Die Fiktion einer Sonne der Nacht gibt sich als Metapher für die Dialektik der Aufklärung zu erkennen, in der Licht und Dunkelheit untrennbar vermischt sind. Jean Paul bleibt bei seiner Erläuterung des wissenschaftlichen Sachverhalts nicht stehen, sondern entwickelt daraus eine Metapher für die Aufklärung selbst, denn diese Sonne sei „wie ein brennendes Siegel des Lebens in diese Nacht gedrückt und flammt fort“. Referenz der Metapher aber ist nicht der Logos der Aufklärung, sondern die Aussicht in ein unendlich eisiges Weltall, vor dem uns nur der dünne „Erdendunstkreis“ schützt. Ohne diesen würde für uns die Sonne „aus einem schwarzen Himmel lodern und die gewölbte Nacht durchschneiden, aber nicht erhellen“ (Jean Paul: Hesperus, JPSW, Bd. I,1, S. 1068).

Beim Übergang in die Metapher wird nicht nur der Mythos, sondern auch der Logos Fiktion. Was ans Licht tritt, wenn man den Dingen auf den Grund geht, erläutert Gutzkows Geometer dem fragenden Ottomar: Die Sonne der Nacht, sagen Sie? Ja, ja, wenn uns die einst scheinen wird! Die Kehrseite aller Dinge! Dann ist das Meer abgelaufen! Auf seinem Grunde sieht man das Gewimmel, die begrabne Welt, Schiffstrümmer, Leichen, untergegangene Städte, Länder, die verschlungen wurden, gräuliches Gewürm (181,14-19). Gutzkows Sonne der Nacht eröffnet die Sicht auf eine Unterwelt des menschlichen Bewusstseins, eine Traum- und Alptraumwelt, jenes ‚Unbewusste‘, das Eduard von Hartmann zur Triebfeder alles Handelns erklärt (→ Erl. zu 282,15-16) und dessen Natur Freud zwei Jahrzehnte später in seiner Instanzentheorie der menschlichen Psyche exakt definiert hat. Im Unbewussten regiert eine Wirklichkeit der Triebwelt, die nur von der fragilen Schicht der bürgerlichen Zivilisation verdeckt ist: In der Vorstellung des Bildhauers Althing wird, ohne dass er sich dessen bewusst wird, aus der sittsam bekleideten eine nackte Martha, das junonisch gewachsene Mädchen, das dem Künstler immer den der „Sonne der Nacht“ angehörenden Gedanken weckte: Das wäre recht ein Modell! (55,27-29) Der ästhetische Blick maskiert den auf Besitznahme des weiblichen Körpers gerichteten männlichen Blick.

Selbstverständlich ist eine solche Entlarvung verborgener Triebstrukturen ein Akt der Aufklärung, der wiederum den dialektischen Prozess in Gang setzt. Es gehört zum fiktionalen Wesen der Metapher, dass sie ständig neue Referenzen erzeugt. Gutzkow glaubt nicht daran, dass das Bewusstmachen des Unbewussten zu individuellen oder sozialen Heilungsprozessen führt, wie Freud postulierte, sondern er erkennt darin nach den Worten Wolnys eine Wiederbelebung des Mythos, der, Wirklichkeit geworden, die alltägliche Wirklichkeit ruinieren müsste: Solche Fragen an das Ungeborne im Menschen! Es ist, wie wenn man ein Saatkorn in Egyptens Pyramiden gefunden hätte! Es liegt da Tausende von Jahren in einem Mumiengrabe! Es hätte Leben nur für die Sonne der Nacht gehabt! - [...] Es war bestimmt, am jüngsten Tage beim allgemeinen Erwachen die erwachende Mumie zu ernähren! Aber des Forschers wühlerischer Sinn, der den Glauben der Alten verlacht, zerstört die geheimnißvolle Magie! Er reißt das Mumiengrab auf - die Körner zerstreuen sich, werden in die alltägliche Existenz, in die Sonne des Tages verpflanzt - und siehe da, wie lustig das viertausend Jahre alte Saatkorn vielleicht grünt, blüht, Früchte tragen wird! Heissa! Der Keim ist da! (198,18-30)

Das ist die Dialektik der Aufklärung, dass sie selbst den Keim für die Wiederkehr der mythischen Entgrenzungen legt, die zugleich eine der romantischen Entgrenzungen ist, für Gutzkow verbunden mit dem Namen Richard Wagners. Andererseits versteht sich Aufklärung als Sieg der menschlichen Vernunft, die Licht in das mythische Dunkel bringt: An die Stelle der Verlockungen der Sonne der Nacht soll die Hingabe an die wirkliche Welt treten, die eine der alltäglichen Realität ist. Nach den Worten des Grafen Udo soll sich vor der Sonne des Tages bewähren, was das System der Natur - für die Aufklärung die einzig geltende Referenzinstanz der Vernunft - bewirkt hat. Laß uns ringen, schreibt er an Ottomar, das, was an unserm Verhältniß seltsam, neu ist, es uns als ganz in der Ordnung zu erhalten! Es gelingt gewiß. Wenn wir uns nur selbst achten! (502,16-19)

Die Sonne der Nacht, entgegnet der Fabrikant Schindler dem verzagten Luzius, sehen wir hienieden nicht und: man muß mal dem lieben Gott das Weltregieren abnehmen (351,6-8). Lucius’ Jugendvergehen gegenüber dem späteren Kapitän, will er damit sagen, lasse sich in der unvollkommenen menschlichen Wirklichkeit nur mit den Mitteln der Vernunft ausgleichen. Der Absolutheitsanspruch des göttlichen Sittengesetzes bleibt dabei unberührt: Es verweist, wie die mythische Metapher, auf eine jenseits dieser Wirklichkeit existierende Welt. Das letzte Wort zur Sonne der Nacht hat schließlich der Sanitätsrat Eltester, der die Metapher wieder zurückführt in den Bereich der Medizin als einer Wissenschaft, die ihr Wissen vom geheimnißvollen Walten der Natur (580,22-23) auf Indizien stützt, mit deren Hilfe man das Geschlecht ungeborener Kinder vorhersagen könne.

Auf ihrem verschlungenen Weg durch den Roman produziert die Metapher schwankende Wirklichkeiten, die aus den unterschiedlichsten Referenzen entstehen, bis sie schließlich scheinbar achtlos beiseite gelegt und an die Medizin zurückverwiesen wird, von der sie ausgegangen ist. Aufgehoben wird sie dadurch nicht, denn die Referenzen bleiben selbstverständlich bestehen, und das bestätigt den Befund, dass der Roman tatsächlich kein Ende hat. Man könnte einfach weitererzählen. Gutzkow bleibt Aufklärer, gerade darin, dass er die Dialektik der Aufklärung ans Licht befördert. Er hebt die Widersprüche nicht auf, leugnet weder die von der Wissenschaft geschaffenen Naturgesetze noch die Idee einer metaphysischen Entgrenzung der Natur. Im Alltäglichen, in dem die Metapher am Ende aller Argumente ankommt, müssen ihre Widersprüche nur noch ausgehalten werden. Und allerdings ist der Alltag der Ort, der davon am stärksten betroffen ist.

Denn die raschen Fortschritte der Naturwissenschaft förderten, neben dem Verlust des metaphysischen Horizonts, auch andere ‚Nachtseiten‘ zu Tage, die nicht mehr vordringlich das Selbstverständnis der ohnehin weitgehend verdrängten Naturphilosophie betrafen, sondern - wie auch Gutzkows Beispiele zeigen - das gesamte bürgerliche Leben umzuwälzen drohten. Die praktische Anwendung der neuen Erkenntnisse in der industriellen Produktion führte zu gesellschaftlichen Verwerfungen, welche die gesamte bürgerliche Ordnung erfassten. Vor allem die Leitwissenschaften der Epoche, Chemie, Physik und Medizin, veränderten den Alltag grundlegend: Eine Erfindung wie Liebigs Fleischextrakt versteht Gutzkow im Roman als direkten Eingriff in die Essgewohnheiten, letzten Endes in das soziale Leben, da es die Arbeit der Suppenküchen erst ermöglicht. Es wird zum Indiz für die Tendenzen der Zeit. Die Tragweite der drei Leitwissenschaften für das gegenwärtige und zukünftige Leben und darüber hinaus für die Wirklichkeit von Mensch und Gesellschaft hat Gutzkow in einem Feuilleton über Eduard von Hartmanns „Philosophie des Unbewußten“ (→ Erl. zu 282,15-16) erörtert. Darin hebt er die ‚Wohltaten‘ der wissenschaftlichen Erkenntnisse hervor, registriert aber zugleich ihre Auswirkungen auf die Vorstellung des Zusammenhangs von Körper und Seele vor dem alten metaphysischen Horizont:

Nicht ohne Ironie des Zufalls fiel Hartmanns Lehre in denselben Moment wo Liebreich das Chloralhydrat, diese Wohlthat für die vom Schlaf geflohene Menschheit, erfand. Nach amerikanischen Berichten zu schließen, wie sich dort die Wirkungen des letztern offenbaren sollen, nähern wir uns im Genuß jenes chemischen Präparats ebensowohl wie im Genuß der Unbewußtheitsphilosophie jenem traumseligen indischen Nirwâna, dem Schwinden aller Formen, dem Untertauchen in den kreißenden Alläther. In demselben quietistisch, buddhistisch, pessimistisch verharrend, warten wir das Ankommen der elektrischen Strömungen von Leben, Dasein, Pflichtgefühl, Liebe, Leidenschaft u. s. w. bei der sogenannten „Reizschwelle“ ab, welche letztere naturkundig sein sollende Entdeckung der sinnige Fechner gemacht hat und Hartmann weiter ausbildete. Die „Reizschwelle“ gibt für die von außen kommenden Strömungen im Ich mit dem Unbewußten den Contact. Kurz, die räthselhaftesten Vorgänge im Menschen erleben „unbewußt“ eine fast mathematisch nachweisbare Entwicklung. (Vom Berliner Büchertisch. IV. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 313, 9. November 1873, S. 4749; → eBueTi, 1873, pdf 1.0, S. 27)

Es ist tatsächlich frappierend, wie Gutzkow an dieser Stelle körperliche und geistig-seelische Prozesse auf physikalische und chemische Reaktionen zurückführt, die von der Medizin therapeutisch gesteuert werden. Er bleibt Aufklärer auch darin, dass er den grundlegenden Erkenntniswert der exakten Wissenschaften akzeptiert, bis ins technische Vokabular: Stimmungen werden durch elektrische Reize gesteuert, die über Reizschwellen ‚Contacte‘ herstellen. Zur Aufklärung gehört aber auch die Einsicht, dass der alte Gegensatz zwischen exakten Naturwissenschaften und metaphysischer Naturphilosophie im Licht der Sonne der Nacht gegenstandslos geworden ist: Es handelt sich um unterschiedliche Aspekte und Erscheinungsformen derselben Sache. Diese Einsicht wird durch den Hinweis auf den sinnige[n] Fechner bekräftigt. Gustav Theodor Fechner, der selbst Physiker war, hat im „Zend-Avesta“, seiner transzendierenden Welttheorie von 1851, die Wirklichkeit der exakten Naturwissenschaften keineswegs geleugnet, sondern nur relativiert: Sie erforschen danach die „äußere sichtbare Seite der Natur“, während seine Theorie sich um die „innere unsichtbare oder nur sich selbst sichtbare Seite derselben“ bemüht (Fechner, Bd. 1, S. XIX). Mit anderen Worten: Es gibt noch eine andere Wirklichkeit als die außen sichtbare, auch wenn sie nur als ‚Nachtseite‘ der Wissenschaft erkennbar ist und die Aufklärung zur Sonne der Nacht werden muss, wenn sie ihren Spuren folgt. Bezogen auf die Lebenswirklichkeit: Wenn Gutzkow die Wohltaten des Chlorals rühmt, müsste er auch einräumen, dass es ihn selbst, den chronisch unter Schlaflosigkeit Leidenden, beinahe umgebracht hat.

Aus der Differenz zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit rührt ein erkenntnistheoretisches Problem, weil das induktive Verfahren der exakten Wissenschaft, das aus dem Fall auf ein Gesetz schließt, bei den Verwandlungen des Metaphysischen nicht mehr funktioniert. Fechner setzt deshalb die Analogie über die Induktion, d. h. er verfolgt Indizien, die „Spur, Zeichen oder Ausdruck des Höchsten und Letzten“ sein könnten (Fechner, Bd. 1, XXIII), und er bedient sich der Induktion nur, um die Stichhaltigkeit der Analogien zu überprüfen. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften bestehe die „Tendenz“ seiner Theorie darin, „das Allgemeine auf das Besondere, als das Besondere auf das Allgemeine zu gründen“ (ebd., S. XVII). Und da seine Argumentation „auf dem täglich Gegebenen fußt“, sieht er davon ab, seine Begriffe zu definieren, sondern folgt „der Regel, die Worte in dem Sinne zu fassen, der sich am ungesuchtesten nach dem Sprachgebrauche und Zusammenhange darbietet“ (ebd., S. XXVI). Er orientiert sich, wie der späte Wittgenstein, an der Alltagssprache, in der Worte und Begriffe in schwankender Bedeutung gebraucht werden.

Dieses logische Verfahren, das von den isolierten alltäglichen Erscheinungen ausgehend zu Gesetzmäßigkeiten gelangt, indem es ihre verborgene Verwandtschaft aufdeckt, hat Charles Peirce, der Begründer der Zeichentheorie, als ‚Abduktion‘ bezeichnet. Die Analogie stellt Zusammenhänge her, die Tatsachen in Indizien verwandelt. Aus diesen lassen sich Sachverhalte konstruieren, die sich als wirklich erweisen. Aus der Gesamtheit der Tatsachen ergibt sich eine hypothetische Wirklichkeit, die mit den Methoden der exakten Naturwissenschaften nicht beweisbar ist. Das Verfahren legitimiert sich vielmehr daraus, dass seine aus den Indizien gefolgerten Ergebnisse einleuchtend sind. Dazu Fechner: „Ich gebe auch etwas auf den ursprünglichen Naturinstinkt der Menschen und glaube, daß nichts wahr sein kann, was nicht auch gut ist zu glauben“ (ebd., S. XIV).

Dieses konjekturale oder Indizien-Paradigma bestimmt Gutzkows ästhetisches Programm, das als ‚experimenteller Realismus‘ bezeichnet werden kann (vgl. Lauster 2004, S. 54), durchaus im Gegensatz zum affirmativen Programm des so genannten ‚bürgerlichen Realismus‘. Man könnte es auch ‚konzeptuellen Realismus‘ nennen, weil die analogischen Referenzen, die sich aus der Sammlung und Ordnung der Indizien ergeben, letztlich immer zu Konzepten von Wirklichkeit führen. Das lässt sich am deutlichsten am Erkenntnismuster der Medizin zeigen, die, nach dem von Martina Lauster entworfenen Modell, eine „Leitfunktion“ im Weltbild des Romans einnimmt. Die Medizin selbst ist keine ‚exakte‘ Naturwissenschaft, die induktiv aus den Einzelfällen auf das Gesetz schließt, sondern sie schließt nach dem konjekturalen Paradigma aus den Indizien auf die jeweils zutreffende Diagnose der Krankheit. Zur Logik der exakten Wissenschaften, die an der Entwicklung nutzbarer Naturgesetze interessiert ist, hat die Medizin so gut wie nichts beigetragen. Durch konsequente Verfeinerung des Indizienparadigmas aber gelang es der Medizin im Verlauf des 19. Jahrhunderts, die Diagnostik zu einer bisher unerreichten Höhe zu führen, die tatsächlich keine Wissenschaft im strengen Sinne, sondern ‚Kunst‘ der Diagnostik war, so wie sich die Medizin als ‚Heilkunst‘ verstand. Das Problem der Medizin bestand aber darin, dass die Verfahren zur Heilung der Krankheiten mit der Sicherheit ihrer Diagnostik nicht Schritt hielten. Die Ärzte standen vor dem Dilemma, dass sie alles über die Krankheiten wussten, nur nicht, wie sie zu heilen waren. Die überlieferten Heilverfahren führten oft zu einer Verschlechterung, und bis zum Ende des Jahrhunderts waren im Fall lebensbedrohlicher Krankheiten die Überlebenschancen besser, wenn man nicht zum Arzt ging. Die Optimierung der Heilverfahren gelang erst mit Hilfe der Naturwissenschaften, die wirkungsvolle Medikamente und Apparate entwickelten.

Die Leitfunktion der Medizin für Gutzkow rührt daher, dass die Medizin die älteste Wissenschaft ist, die auf dem Indizienparadigma fundiert, die alltäglichste, weil sie jedermann unmittelbar betrifft, und die umfassendste, weil sie ihre Indizien in allem finden kann, was Körper und Geist, Lebensweise und Sozialisation des Patienten betrifft. Umso mehr, wenn der Patient, wie für Gutzkow, eine ganze Gesellschaft ist. Tatsächlich überträgt Gutzkow das Indizienparadigma der medizinischen Diagnostik auf die soziale Welt, nicht anders als die frühen Sozialwissenschaften, wie der Mathematiker und Statistiker Lambert Adolphe Quételet, der in seinem „Essai de physique sociale“ (Paris 1835) das konjekturale Modell der alten Naturwissenschaften für die Soziologie fruchtbar machte, oder der Nationalökonom Albert Schäffle, der in seinem Werk „Bau und Leben des sozialen Körpers“ (Tübingen 1875-1878) ein physiologisches Gesellschaftsmodell entwickelte. Solche in der Logik der exakten Wissenschaft verpönten Analogieschlüsse sind nur möglich, weil das diagnostische Verfahren der Medizin als Kunst verstanden wurde, die, ebenso wie das Indizienparadigma, mit Analogieschlüssen arbeitet. Schließlich spiegelt Gutzkows eigene Spurensuche lupenrein auch das Dilemma der konjekturalen Medizin: Je sicherer sich der Diagnostiker über die Krankheit der Zeit wurde, umso ungewisser wurden die Aussichten auf Heilung.

Die Entfaltung des Dilemmas der Medizin in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die gemeinhin als Gutzkows ‚Pessimismus‘ bezeichnet wird, ist eine wesentliche Leistung des Romans. Auf die Spur der Indizien verweist der Sanitätsrat Eltester als Spurensucher qua Profession, und er benennt sie (33,23-34,9), gemäß der Zusammenfassung Martina Lausters, „assoziativ springend zwischen antiker Medizin- und Religionsgeschichte, Anspielungen auf den Katholizismus des neunzehnten Jahrhunderts und (untersagter!) zeitgenössischer Politik, dabei auf einen geistreichen Kalauer (Loge - Lüge) nicht verzichtend“. Lauster sieht hierin „in nuce das, was seit der ‚Deutschen Revue‘ als Gutzkows enzyklopädistisches Projekt zu verstehen ist“ (Lauster 2004, S. 54).

Allerdings ist der Zusammenhang von Loge, Lüge und Logos mehr als ein Kalauer: Die Freimaurerei (Loge) ist ein Kind der Aufklärung und darum Nicht etwa Lüge, wie der Sanitätsrat konstatiert, die zugleich aber für ein sämtliche Einzelheiten nivellierendes Gesetz steht, das folgerichtig von den anwesenden Philologen mit dem Logos identifiziert wird (34,10). Sie sind Anhänger der affirmativen Vernunft Hegels und deshalb Enthusiasten für die neuen Zustände (34,11). Im übrigen hält sich der Sanitätsrat bei seiner Aufzählung durchaus an das Indizienparadigma, wenn er zwischen dem Mythos, den Anfängen der Medizin in der Wahrsagerei, ihren religiösen Referenzen und deren Ersatz durch naturwissenschaftliche Sachverhalte einen Zusammenhang herstellt, der schließlich bis in die Gegenwart des Romans und darüber hinaus weitergeführt werden kann, weil im Indizienparadigma keine der gefundenen Lösungen komplett verloren geht. Vor allem aber, weil für das konjekturale Prinzip alle Einzelheiten gleichberechtigt sind, bis sie als Indizien erkannt werden, und weil die Indizien ohne weiteres sowohl auf eine Krankheit des Körpers wie auf eine der Gesellschaft verweisen können. Für den Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit der Indizien und den induktiv ermittelten Gesetzen der Wissenschaft findet der Sanitätsrat die Chiffre von der Sonne der Nacht. Sie beschreibt den Augenblick des Umschlages der Aufklärung in den Terror des Logos.

Die Sammlung der Indizien aus den unterschiedlichsten Bereichen von Politik, Gesellschaft, Religion, Kunst und Wissenschaft gehört in der Tat zu Gutzkows ‚enzyklopädistischem‘ Projekt. Zu bedenken ist aber, dass auch dieses Projekt schon im Schwefellicht der Sonne der Nacht erscheint. Als wissenschaftliches Unternehmen betrachtet, folgt die Enzyklopädie dem konjekturalen Paradigma: Sie führt zu keinem Gesetz, und ihr einziges Ordnungsprinzip ist das Alphabet. Vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sie das Ziel, das gesamte Wissen der Zeit fortschreitend der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Sie verkörperte die Idee der Aufklärung, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und erkannte in jedem neuen Eintrag ein Indiz für den auf diesem Weg erzielten Fortschritt. Dieses enzyklopädistische Projekt wurde gerade durch den Fortschritt der exakten Naturwissenschaften von der Dialektik der Aufklärung erfasst, die Gutzkow im Bild der Sonne der Nacht beschreibt. Die Naturwissenschaften mussten das enzyklopädistische Projekt ruinieren, weil sie eine zweite Naturwirklichkeit erfanden, die mit der unmittelbar erfahrbaren Natur nichts zu schaffen hatte und deshalb nicht mehr allgemein zugänglich war. In der 6. Auflage von „Meyers Großem Konversationslexikon“ (1905-08), die als Summe des Wissens im 19. Jahrhundert gilt, lässt sich das an jedem einschlägigen Eintrag belegen. Der Versuch, die wissenschaftliche Wirklichkeit von Sachverhalten aus Physik oder Chemie halbwegs erschöpfend zu erläutern, führt sofort zu hochspezialisierten Zusammenhängen, die nur mehr dem Fachmann zugänglich sind. Die wissenschaftlich-chemische Wirklichkeit des Chlorals, die Meyer (Bd. 4, S. 77) rekonstruiert, hat mit der Wirklichkeit des Schlafmittels, das der Arzt verordnet und das Gutzkow lebenslang zu seinem Schaden einnahm, nicht das Geringste zu schaffen. Der Verfasser des Meyer-Artikels ist korrekt: Er behandelt gar nicht das Chloral, sondern die chemische Verbindung Trichloracetaldehyd, d. h. er konzediert, dass es eine chemisch-analytische Wirklichkeit gibt, die mit der medizinisch-konjekturalen nichts gemein hat.

Die Spur der Indizien, die laut Fechner im Alltäglichen beginnt, führt nicht in die abstrakte Formelwelt der exakten Naturwissenschaften, sondern hält sich immer an konkret Erfahrbares. Im Licht der Sonne der Nacht treten die ‚Tatsachen‘ des Lebens zu Tage, deren Indizien Gutzkow von den ‚Serapionsbrüdern‘ erläutern lässt, und die er in den Interaktionen der Romanhandlung entfaltet. Diese endet mit dem Roman im Alltäglichen, das einfach weitergeht, weil das wirkliche Leben, würde es von der Sonne der Nacht regiert, sich nicht mehr entfalten könnte. Untergegangen ist sie aber nicht, wie der Sanitätsrat schließlich andeutet: Sie bleibt bestehen als Referenzmetapher recht eines Bildes der Wissenschaft. Zwischen den von den Naturwissenschaften formulierten ‚Tatsachen‘ und den ‚Tatsachen‘ des Lebens scheint keine Vermittlung mehr möglich (dazu vgl. Jauslin 2013).

Literaturverzeichnis zum Globalkommentar#

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