Die Zeitgenossen. Zweiter Band#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Martina Lauster
Fassung
1.2: Überführung nach TEI, Anpassungen und Ergänzungen im Apparat
Letzte Bearbeitung
07.2021

Text#

E. L. Bulwers#

Werke.#

Supplement#

zur#

achner, stuttgarter und zwickauer Ausgabe. #

Zweiter Band.#

neue Seite

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Die Zeitgenossen. #

Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, #

ihre großen Charaktere. #

Aus dem Englischen#
des#

E. L. Bulwer. #

Zweiter Band. #

Stuttgart.#

Verlag der Classiker.#
1837.#

5 Sitte und Sitten.#

Außer den vielen Vorwürfen, welche man der Schlußerzählung des vorigen Bandes machen kann, wäre auch dieser nicht unbegründet, daß dem Autor die Absicht, ein Bild von den Sitten unserer Zeit zu geben, in der Hauptsache mißlungen sey. Denn in der That hat es zu allen Zeiten zwei solche Gegensätze der Bildung gegeben, wie die beiden Schwestern Rebekka und Bab sie vorstellen; ja die Koketterie, die Lust nach Abenteuern, die Modesucht, die Medisance in der Gesellschaft, die phantastische Art der Erziehung ist so wenig etwas unserer Zeit ausschließlich Eigenthümliches, daß vielmehr das vorige Jahrhundert, wenn auch in andern Formen und Gewändern, das Unsrige darin weit übertroffen hat. Rebekka’s Epistel schildert nur im Allgemeinen den Gegensatz der Sitten. Es laufen dabei einige Thorheiten, die gerade in unsren Tagen mit auftauchten, mit unter, und wir haben noch die große und schwierige Aufgabe im Ganzen ungelöst 6 vor uns, über die Gewohnheiten unsrer heutigen Gesellschaft und das Moralprinzip, welches ihnen zum Grunde liegt, einen gründlicheren Aufschluß zu geben.

Schon in dem Kapitel über das Moderne suchte der Autor nach jener allgemeinen Formel, mit welcher sich vielleicht das Räthsel unsrer heutigen Eigenthümlichkeiten lösen ließe. Allein wurde er dabei nicht wie auf einem dunklen, gefahrvollen Meere ohne Steuerruder und Segel hin- und hergeworfen! Mußte er sich nicht begnügen, aus dem, was das Moderne nicht ist, auf seine Beschaffenheit zu schließen, aus den Verstößen gegen die Mode die Mode selbst zu erklären? Der Autor gab die Möglichkeit preis, jene Mittelstraße zu entdecken, wo das Moderne lächerlich zu seyn aufhört und bedeutend zu werden anfängt, und konnte damit schließen, daß vielleicht diese Ungewißheit selbst, über die Formen unsres gegenwärtigen bürgerlichen und geselligen Lebens, über die Fragen der Kunst und Wissenschaft ins Reine zu kommen, den eigenthümlichen Charakter des Modernen aus­drücken möge.

Sitte und Sitten schließen sich einer ähnlichen Betrachtung an. Auch hier wird man an der Auffindung eines allgemeinen Prinzips verzweifeln müssen und sich nur über die vereinzelten Pulsschläge eines neuen Lebens aufklären können, welches sich scheint in den Zeitgenossen Durchbruch schaffen zu wollen. Wie viel Be­griffe haben sich nicht seit den lezten fünfzig Jahren verändert, und wie viel Gewohnheiten sind nicht 7 darnach umgemodelt worden! Die Gesetze des Anstandes, so wie sie früher gegeben wurden, werden jezt als altfränkische Pedantismen verlacht; die Bewegung ist in dem Maße freier geworden, wie es das Urtheil wurde. Der Kreis von Bezeichnungen, welcher für diesen oder jenen Begriff in frühern Zeiten durch die Schranken des Zuläßigen und Geduldeten nur sehr eng gezogen war, hat sich erweitert. So weit jeder die Kraft hat, seine Meinung durchzuführen, kann er sie selbst in den Berührungen der Gesellschaft aussprechen. So wie die Erziehung eine Ausdehnung genommen hat, deren Grenze bald nur noch das Unmögliche seyn wird, so ist es sogar den Frauen gestattet, über Fragen, denen gar kein Ziel gesteckt ist, ihre Meinung abzugeben. Bedingungen sind dabei freilich vorhanden, allein sie kommen fast alle nur auf Beobachtung gewisser Formen zurück. So scheint es fast, als möchte der feste Cha­rakter unserer gegenwärtigen Sitten seyn, daß wir die Erlaubniß haben, Alles durch Rede und Schrift in Erörterung zu ziehen, wenn wir uns dabei nur vorsehen, die Ergebnisse unserer Grübeleien nicht sogleich auf die positiven Zustände zu übertragen.

Um uns noch mit größerer Klarheit die ganze Fernsicht unsres Gegenstandes zu eröffnen, wollen wir zunächst einige Gegensätze aus alten und ältesten Zeiten gegen die unsrige hervorheben. Wir sind natürlich mit unsren Gewohnheiten so vertraut, daß wir die relativen Eigenheiten derselben uns gar nicht mehr 8 klar gegenüber halten können. Auch haben wir vielleicht im Grund unsres Herzens weit weniger Sitte, als das Alterthum; allein unser ganzes Bemühen ist wenigstens auf den Schein derselben eingerichtet, so daß wir all’ unsere Sitten allmälig ins Graue verflacht und sie in den Spülicht unsrer Moralität hinein verwaschen haben. Wir sind sogar durch die Steigerung unsres künstlichen Wesens dahin gekommen, daß wir der Natur nicht selten näher stehen, als viele Völker, welche in ihren Sitten ganz von der Natur beherrscht werden. Der Araber trägt seinen Degen auf der rechten Seite; er ist ein Sohn der Natur, und doch handeln wir naturgemäßer, die wir ihn auf der linken tragen. So hat die Sitte, worunter man hier nicht blos die Regung des Herzens, sondern ebenso den klügelnden, mathematisch nachrechnenden Verstand begreifen soll, bei uns allmälig die Sitten verdrängt. Wir fangen nur in dem Fall an, an unsren eigenen Gewohnheiten selbst irr zu werden, wenn wir bei andern Völkern gerade das Gegentheil davon bemerken und uns denken, wie wir diesen wohl von unsrer Seite erscheinen mögen.

Das Sittenprinzip der Alten muß man mit dem ihrer Philosophen nicht verwechseln. Die Alten fanden nicht, wie wir, das Sitt­liche darin, daß man in seiner Lebensweise sich von einzelnen, grell aufgetragenen Gewohnheiten in eine allgemein mensch­liche und vernünftige Form verflache, sondern das in ihnen noch 9 wohnende, kräftige Sittenprinzip trieb sie immer an, stark aufzutragen und nach auffallenden Symbolen jener moralischen Ueberzeugungen, die sich in ihnen bildeten, zu trachten. Da nun die Religion der vorzüglichste Mittelpunkt des antiken Nachdenkens war, so bildeten sich nach und nach bei den Alten Gebräuche aus, die wir ihrer Auffallenheit und Uebertreibung wegen Aberglauben nennen dürfen. Mögen hier, um uns den Abstand unsrer Zeiten von den Alten recht klar zu machen, einige merkwürdige Züge aus den Sitten des Alterthums aufgenommen werden. Wir werden immer gleich bei der Hand seyn müssen, an jeder dieser Gewohnheiten eine abergläubische Färbung zu entdecken.

Es gab nur ein Volk im Alterthum, welches uns recht deutlich machen kann, wie die Sitten zugleich mit der Reflexion, der Glaube mit dem Verstande verbunden seyn kann. Das waren die Römer. Bei den Römern mußte die Braut Feuer und Wasser berühren. Man hatte dabei gewiß die Vorstellung, daß durch die Begattung die Menschen in eine elementarische Thätigkeit versezt werden. Man brannte bei den Hochzeiten, wahrscheinlich aus einem ähnlichen Grunde, nur fünf Kerzen. Vielleicht dachte man daran, daß fünf die erste Zahl ist, welche sich nicht in zwei gleiche Theile zerlegen läßt, so daß auf diese Weise eine schon in der Natur angedeutete ewige Botmäßigkeit des Weibes unter dem Manne, der Zahl zwei 10 unter der Zahl drei sinnbildlich ausgedrückt werden sollte. Eine Braut wurde nicht mit freiem Fuße über die Schwelle des Bräutigams gelassen, sondern hinübergehoben. Es wundert mich nicht, daß Plutarch, indem er diesen Gebrauch erwähnt, dabei die Erinnerung an den Raub der Sabinerinnen zum Grunde legt. Gesezt, es hieß von jemanden, er wäre in der Fremde gestorben, so durfte er nicht, wenn das Gerücht falsch gewesen war und er zurückkam, durch die Thüre das Haus seiner Familie betreten, sondern mußte vom Dache hineinsteigen. Dies geschah wahrscheinlich, weil es für unpassend gehalten wur­de, durch dieselbe Thüre, durch welche das Todtenopfer für den Abwesenden getragen worden war, ihn nach seiner Rückkehr nun selbst hindurchschreiten zu lassen. Sehr bekannt ist, daß die römischen Frauen ihre nächsten Verwandten nicht nur küssen durf­ten, sondern sogar küssen mußten, weil sich die Männer und die Gevatterinnen nur auf diese Weise am Geruch überzeugen konnten, ob sich die Frauen dem Weingenuß ergaben. So demüthigend diese Sitte für die Frauen war, so ehrenvoll war für sie eine andere. Kein Gatte durfte, wenn er vom Land oder von einer Reise zurückkam, ohne gegen den Anstand zu verstoßen, seine Frau plötzlich überraschen, sondern er mußte zum Beweise, daß er von der guten Aufführung seiner Gattin überzeugt war, sich erst vorher bei ihr anmelden lassen. Wenn die Römer auf der Straße einem vornehmen 11 Manne begegneten, den sie grüßen wollten und gerade ihr Antlitz im Mantel verhüllt hatten, so muß­ten sie das Gesicht frei aufdecken; beteten sie aber zu den Göttern, so mußten sie ihr Haupt verhüllen, welches alles Sitten sind, zu deren Aufklärung mythologische Anspielungen nichts nützen, sondern welche allein ihren Grund in dem bei den Alten so fein ausgebildeten Sinne für das Schickliche haben. Nur dem Gotte der Zeit, des Ruhms und der Ehre zeigten sie ihr Haupt un­ver­hüllt. Auch über diese Ausnahmen nützen die Spitzfindigkeiten der Erklärer nichts, sondern sie liegen tief in Gefühlen begründet, die man kaum aussprechen kann. Die Römer hatten von Numa eine Gesetzgebung erhalten, welche nicht darauf abzweckte, sie zu Eroberern des Erdkreises zu machen. Numa gebot ihnen, allen Göttern zu opfern, nur dem Gott der Grenzen nicht. Er wollte nicht, daß die Frage der Grenzen je mit Mord oder Blut befleckt würde. Bekannt ist, daß die Römer vielen Tagen keinen Glauben schenkten und fortwährend von Warnungen und Wahrzeichen geängstigt wurden. Trauerten sie, so thaten sie es in weißer Farbe. Die Mauern einer Stadt waren ihnen heilig, die Thore aber nicht. Gänzlich entgegengesezt unsrer heutigen Sitte ist, daß die Römer in der ältern Zeit niemals außer dem Hause ohne ihre Söhne speisten, so lange diese in dem Alter der Kindheit standen. Wenn die Römer etwas erbeuteten und es den Göttern weihten, so 12 hatten sie die Sitte, es mit der Länge der Zeit immer wieder auszubessern und nicht verderben zu lassen; nur die erbeuteten Waffen ließ man verwittern. Ein schöner Zug, weil in ihm die Versöhnung lag. Bei uns würde gerade das Gegentheil geschehen; die Flinten und Kanonen, die wir von unsern Feinden erbeutet haben, werden in den Arsenälen fortwährend blank wieder aufgepuzt; ja man würde selbst die zerschossenen Fahnen der Feinde wieder zusammennähen lassen, wenn man sich nicht lächerlich machte. Alle Priester durften schwören, nur der Priester Jupiters nicht; denn ist nicht jeder Eid ein Fluch? Wird nicht wenigstens Eines mit ihm verwünscht, nämlich der Meineid? Den Tempel der Ermunterung ließen die Römer beständig offen. Und um von dem Priester Jupiters noch einmal zu reden; wenn er Wittwer geworden war, so mußte er sein Amt niederlegen, ganz entgegengesezt der katholischen Lehre, wo man sein Amt niederlegen muß, wenn man sich verheirathet. Daß man auch sonst die Frauen sehr in Ehren hielt, ersieht man daraus, daß man unbestimmt ließ, ob der oberste Schutzgott Roms männlichen oder weiblichen Geschlechts war. Oder schämten sich vielleicht die Römer doch, daß man den obersten Gott der Römer mit der Erde verwechseln und ihn dem weiblichen Geschlechte zurechnen würde? Aus den Speisezimmern durfte bei den Römern kein Tisch leer weggetragen werden, sondern durchaus mußte noch etwas darauf seyn, weil es für 13 ein Zeichen der Völlerei angesehen wurde, bei einer Mahlzeit reinen Tisch zu machen. Auch pflegten die Römer kein Licht auszulöschen, sondern es von selbst ausgehen zu lassen, und hatten für diesen Gebrauch viel sinnige und zarte Erklärungen. Entweder glaubten sie, daß man nichts Lebendes, wenn es nicht schädlich ist, vertilgen dürfe, oder sie dachten, man dürfe Dinge, wovon uns die Natur im Ueberflusse gegeben, gerade am allerwenigsten verderben. Auffallend ist es, daß die Römer bei barbarischen Völkern Menschenopfer verboten und sich doch selbst nicht selten erlaubten, Fremdlinge lebendig zu begraben. Es mußte also irgend eine tra­ditionelle Vorschrift vorhanden seyn, die ihnen eine unbedingte Unterwerfung gegen die Götter zur Pflicht machte, selbst wenn sie mit schwerem Herzen etwas thun mußten, was sie für unrecht hielten. Der Raub der Sabinerinnen spricht sich noch in vielen Gewohnheiten der alten Römer aus. Die Frauen hatten in früheren Zeiten nicht nöthig, bei Küchenarbeiten selbst Hand anzulegen; es war dies ein Recht, welches ihnen ihre sabinischen Brüder und Väter erwirkt hatten. Auch wurde den Bräuten das Haar mit der Spitze eines Spießes auseinandergelegt. Wenn endlich Priester eines Verbrechens überführt waren, so konnten sie abgesezt werden; ein Augur hingegen, der den Flug der Vögel beobachtete, blieb in seinem Amte, selbst wenn er sich der ärgsten Verbrechen schuldig gemacht hatte. Die Römer litten 14 nicht, daß Jungfrauen an öffentlichen Festen Hochzeit machten, nur die Wittwen durften es. Denn, sagten sie, an öffentlichen Tagen soll Freude herrschen; aber nur Wittwen verheirathen sich mit Vergnügen, Jungfrauen gewöhnlich mit Verdruß und Widerwillen.

Alle diese Gewohnheiten muß man sich organisch verbunden denken, sie waren den Römern selbst keine Ausnahme, sondern sie begleiteten so gut, wie unsre Komplimenten-, Anstands- und Toilettenvorschriften ihr Stehen und Gehen, ihr tägliches Thun und Lassen. Wir haben keine antiken Genrebilder, etwa wie die Franzosen in ihrem Buch der Hundert und Eins jede kleinste Nüance ihres Pariser Lebens beschrieben haben. Die alten Beschreibungen von Gastmählern führen uns vielleicht das Bild eines organischen Zusammenlebens vor, wie es im Alterthum geherrscht hat. Lesen wir diese sogenannten Trinkgelage, diese Tischreden der Alten, sowohl in ihrer philosophischen Einfachheit, wie bei Plato und Xenophon, als in der antiquarischen Gourmandise, wie bei Plutarch und Athenäus oder in den ausschweifenden und vielfräßigen Schilderungen römischer Gastmähler, z. B. der Schilderung des Gastmahles des Trimalchio, so werden wir uns bald überzeugen, wie nüchtern, ausgeglättet und farblos unsere jetzige Lebensweise gegen die der Alten absticht. Wir finden die Bildung jezt nur noch in dem vollkommnen Nivellement alles Menschlichen, 15 in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts Auffallendes haben darf.

Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein.

Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen Minos, Solon und Lykurg knüpft, drücken zunächst nichts an­ders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. Lykurg wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. Lykurg wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die 16 mit der Geschichte des Volkes zunächst in gar keinem lebendigen und organischen Zusammenhang mehr standen. So steht auch die römische Gesetzgebung da als Muster einer abstrakten Verstandestheorie, ohne daß es ihr je hätte gelingen können, in thatsächliche Völkerzustände eingreifende und belebende Wurzeln zu schlagen. In China bedarf es wenig Gesetze, weil in diesem Lande nichts als Sitte herrscht. Die Tradition hat hier im Laufe der Geschichte sich eine so schnur­gerade und mathematische Grenze erhalten können, daß in China die Menschen und die Dinge, die Personen und die Zeiten alle nur ein und denselben Pfad wandeln. Bei uns ist jezt an die Stelle der Sitten eine allgemeine Moral getreten. Die Vorschriften des Christenthums haben zwar in ihrer dogmatischen Begründung den Glauben der Völker nicht ewig fesseln können, allein die christliche Moral ist die natürliche Mitgift jedes neugebornen Kindes geworden. Wir haben nur noch wenig Sitten, aber dafür ein sehr kräftiges Sittengesetz, und dies macht es, daß man in unsern Zeiten weit weniger nach öffentlichen Vorschriften, als nach einer dilettantischen Willkür lebt, die sich ihre Schranken selbst gezogen hat. Die Gesetze haben jezt in dem Sinne keine beherrschende Kraft mehr, daß sie unser ganzes Daseyn zügeln und regeln sollten, sondern sie sind weit mehr untergeordnet, nicht etwa unsern Sitten, sondern unserm Moralprinzipe, dem durch Christenthum und Bildung allmälig in 17 unsere Brust gesenkten, gemeinsamen kategorischen Imperativ. Daß man die Sitten durch Gesetze nicht ändern kann, ist eine geschichtliche Erfahrung, welche die Fürsten an dem Baldachine ihres Thrones aufschreiben sollten. Despoten haben versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Sie haben auf irgend eine Gewohnheit eine Strafe gelegt und damit doch nichts anders bewirken können, als daß sie die Strafen fortwährend in Anwendung bringen mußten und eben den despotischen Charakter ihrer Regierung deutlich genug zur Schau trugen. Starben sie, so traten die alten Gewohnheiten, die sich nur versteckt hatten, wieder an das Tageslicht. Die Sitten kann man nur durch Einführung anderer Sitten ausrotten, das heißt, indem man den Motiven, die der Festhaltung irgend einer Gewohnheit zum Grunde liegen, die innere Haltung nimmt und sie entweder am Ehrgeiz, am Nachahmungstriebe, oder sonst einer Leidenschaft scheitern läßt. Peter der Große konnte die Sitten seines Volkes weit mehr dadurch ändern, daß er ihnen andere gegenüberstellte als dadurch, daß er sie durch Gesetze verbot. Peter der Große konnte weder den Bart, noch den Kleiderschnitt der Russen abändern, denn beide haben trotz seiner tyrannischen Vorschriften noch bis auf den heutigen Tag sich erhalten. Allein er konnte z. B. die Frauen aus ihrem zurückgesezten Zustande, in welchem sie sich immer in despotischen Staaten befinden, befreien, als er die französischen 18 und deut­schen Moden duldete, ihnen sogar die Kleiderstoffe zuschickte und die Frauen selbst an seinem Hofe erscheinen ließ. Peter der Große ist vielleicht der Befestiger der russischen Monarchie geworden, allein die Sittenrevolution, die er hervorrief, ist auch die Erweckung eines fortwährenden Widerspruchs gegen die despotische Regierungsform dieser Monarchie. Wie unnatürlich Rußlands gegenwärtige Verfassung schon ist und wie unnatürlich es seyn würde, wenn sie auf die Länge so bliebe, das beweist der große Umschwung der Sitten, welcher seit hundert Jahren in diesem Lande geduldet worden ist. Montesquieu hat in dem Geist der Gesetze bewiesen, daß despotische Staaten keinen bessern Anlehnungspunkt haben können, als die unveränderte heilige alte Sitte. So wie erst in den Gewohnheiten eines despotischen Staates etwas geändert wird, so hat er sich um seine Fortdauer gebracht. Montesquieu fügt hinzu, daß die beste Garantie für die Erhaltung alter Sitten in der Abgeschlossenheit der Weiber läge. Werden diese emanzipirt, dürfen sie ihren Harem verlassen, dürfen sie mit unverschleiertem Gesicht über die Straße gehen und die Gesellschaft anderer Männer als ihrer eigenen und der Verschnittnen derselben annehmen, so wird es nicht mehr lange währen, daß eine große umfassende Revolution in den Sitten aus­bricht. Die Sitten ziehen aber die Gesetze nach sich. Wäre es dem Sultan ernst, die Türken zu civilisiren, so müßte er nicht mit den Steigbügeln 19 seiner Kavallerie, den Kopfbedeckungen und Beinkleidern seiner Infanterie anfangen, sondern nur mit einer allmäligen Freilassung des Weibes aus seinem im Orient üblichen sklavischen Zustand. Die Frauen mildern die Gesellschaft und lösen ihre erstarrten Formen auf.

Daß die Gesetze den Sitten folgen, beweisen alle Beispiele der Geschichte. Ueberall, wo die Gesetzgebung aus dem Schooße des Volkes selbst hervorgeht, wird das Uebliche und Gewöhnliche, wird die Tradition die Richtschnur derselben seyn. Wir haben an der Geschichte des römischen Rechts ein so schönes Beispiel vor uns, wie juristische und politische Verhältnisse sich im Lauf der Zeiten gestalten und entwickeln können. Wenn wir z. B. Gesetze über die Ehe, über die Gewalt der Väter über die Kinder, über die Antretung von Erbschaften in ihrer allmäligen geschichtlichen Ent­wicklung bei ihnen vergleichen, so werden wir finden, daß selten ein Gesetz in starrer Anomalie gegenüber der Gewohnheit, die sich inzwischen gebildet hatte, gestanden wäre, sondern das Gesetz legte nie mehr auf, als die Schultern der Sitte tragen konnten. Montesquieu hat auch über diesen Gegenstand eini­ge Beispiele gegeben und sie namentlich von den Vorschriften her­genommen, welche die in der ältern römischen Gesetzgebung noch häufig vorkommenden Prügelvorfälle zwischen Ehegatten be­treffen. Spuren dieser Art verloren sich, wie aus den Sitten, allmälig auch aus den Gesetzen.

20 Wir haben schon oben gesagt, daß in unsrer Zeit das Gesetz durchaus keine allmächtige Superiorität mehr hat. Allen unsern Gesetzen mangelt das oberste Prinzip, mangelt die Einheit des Geistes, in welchem sie gegeben seyn sollten. Wir haben uns von den alten Sitten befreit und haben uns nicht gänzlich von den alten Gesetzen befreien können, und wo dies möglich war, wo eine Gesetzgebung wie aus einer neuen noch nicht abgenuzten Offenbarung geflossen ist, da hat sie sich des ganzen geistigen und sittlichen Lebens der Nation doch nicht mehr bemächtigen, sondern nur jenem allgemeinen Sittengesetze unterordnen können, welches viel gewaltiger ist, als der Geist, der in irgend einer Gesetzgebung herrschen konnte. Wir fühlen es bei unsrer Existenz, daß wir mit einem Wall von Gesetzen umgeben sind, die uns bei verbotenen Wegen sogleich entgegentreten. Allein es ist so leicht, diese Gesetze zu vermeiden, sie stehen in so großer Entfernung von der Lebensweise, die wir einmal verfolgen, sie sind für uns nur als Ausnahme von der Regel vorhanden. In den alten Gesetzgebungen lag etwas Ermunterndes, in den neuen liegt etwas Abschreckendes; jene waren positiv, diese sind negativ. Unsre neuen Gesetze sind ein Konglomerat von alter juristischer Dialektik und neuen Polizeivorschriften. Der kategorische Imperativ, der in ihnen herrscht, trägt einen langen gelben Säbel, einen Dreimaster und einen rothen Kragen am Rock und ist zu sehen, wenn 21 ein Vagabunde auf dem Schub transportirt wird oder wenn an Markttagen die Bauern in die Stadt kommen und sich über ihre Verkaufsgegenstände nicht vertragen können.

Ja, die Sitte, obschon so sehr abgeschwächt, ist noch jezt immer mächtiger, als das Gesetz. Ein Kardinal im römischen Konklave trug darauf an, daß entschiedene Maßregeln ergriffen wer­den sollten, um den gemeinen Römern die eingerissene Gewohnheit abzugewöhnen, falsch zu schwören. Ein Beisitzer des Staatsraths erwiederte ihm: „Was, Sie wollen dem Volke seine Sitten verbieten?“ Wer weiß, ob ein Gesetz über den Meineid, und wenn es noch so streng gehandhabt worden wäre, die Lazzaronis Roms von ihrer schlechten Gewohnheit hätte abbringen können. Hier werden immer nur Bildung und Unterricht und die von der Geistlichkeit gedrohten Höllenstrafen wirken können. Wie wenig Gesetze gegen Sitten wirken können, sieht man an einem deutschen Staate, wo der noch nicht lange verstorbene Souverain desselben nach dem wiedererwachten Studium der Antike, nach den Werken eines Raphael, Mengs und Canova, nach dem großen Zeitalter der napoleonischen Revolution und der Völkerschlachten wieder die Sitte des Zopfes in seinem Lande einzuführen wagte. Das Militär mußte sich der aristokratischen Willkür fügen, auch diejenigen Krämer und Beamte in der Residenz, welche vom Hofe lebten. Allein bei seinem Ableben hatte das 22 Gesetz die Sitte nicht überwunden gehabt, sondern alle Welt war froh, sein Haar jezt wieder wachsen zu lassen, wie die Natur es wollte oder wenigstens das pariser Modejournal.

Wenn ich bisher von der Moral gesprochen habe, so muß man, wenn man sie für die Beherrscherin der gegenwärtigen Sitte halten soll, sie nicht aus jenen abstrakten Lehrgebäuden schöpfen, welche uns das vorige Jahrhundert über die Rechte und Pflichten des Menschen gebracht hat. Die moralischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts haben, indem sie den abstrakten Menschen schilderten, eine große Wirksamkeit auf die Meinungen der Menschen ausgeübt. Durch die Schriften Fergusons wurden die Sophismen untergraben, welche bisher das Recht zur Sklaverei beschüzt hatten. Die allgemein menschlichen Vorschriften waren in jener Zeit etwas so neues, daß man über den Inhalt derselben ihre unerträglich weitläufige Form und eine gewisse Trivialität, die sich in alle ihre Sätze mischte, ganz übersah. Wer kann jezt noch die Schriften Rutherforts, Payley’s, ja selbst die Schrift Smiths über die moralischen Empfindungen ohne das Gefühl einer kolossalen Langweiligkeit lesen! Dennoch haben diese Schriften für unsre Zeit bewirkt, daß sie in allen Gemüthern das Bewußtseyn des kategorischen Imperativs lebendig erweckt haben. Jene Schriftsteller strebten nach Prinzipien; sie mühten sich mit dem schon von Aristoteles auf das Tapet gebrachten 23 höchsten Sittengesetze ab. Der eine sagte: „Halte immer die Mitte,“ der andere: „Thue, was deiner Würde gemäß ist;“ der dritte hielt das etwas egoistische christliche Sittengesetz: „Was du nicht willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch nicht!“ für diejenige Maxime, nach welcher die menschlichen Schritte einzurichten wären. Auf unsern Universitätskathedern streiten sich die Professoren noch über das höchste Sittengesetz. Allein nur diejenige Ansicht hat in der Masse Raum gewonnen, welche das Gute, Edle und Richtige für etwas dem natürlichen Gefühle Angebornes hält. Dieser kategorische Imperativ ist allmälig an die Stelle der Sitten und Gesetze getreten. Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Aeltern ererbt hat, sondern jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden. Sogar die bunte Mannigfaltigkeit der Individuen und Charaktere, wie ohnehin schon längst die der Sitten, geht dabei verloren, weil nämlich Alles nach Normalität strebt und im Grunde Einer vor dem Andern sich nur durch Talent, nicht durch Manieren auszeichnen will. Die Sitte ist dadurch sehr versteckt und ein Kapitel über sie sehr schwierig geworden.

Wer möchte läugnen, daß sich unser Jahrhundert in einer moralischen Krisis befindet? Die Gesetze gelten nichts, weil sie nur für die Verbrecher da sind; die Moral hält die äußere Ordnung unsres Zusammenlebens aufrecht, allein auch sie wird 24 bekämpft. Es ist auffallend, das Gefühl, wie an der Moral gerüttelt wird, ist gewiß allgemein in unsern gegenwärtigen Zuständen verbreitet; woher aber der Widerspuch kömmt, welches die Farbe und das Ziel der oppositiven Meinung ist, das weiß man nicht, und wenn man es ahnt, so wagt man nicht, sich darüber Geständnisse zu machen. Man stellt die überlieferte Moral, die Umgangssitte, die Sitten der Liebe, der Ehe, der Familie, man stellt sogar die Theorie der Verbrechen in Frage und wagt doch niemals eine Schlußfolge zu ziehen. Es ist eine Unbehaglichkeit mit dem Alten vorhanden, die sich der Gemüther beschlichen hat; eine bloß polemische Stimmung, die bis jezt noch ohne alle andere Resultate, als einige literarische, gewesen ist, beherrscht sie. Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Ist sie das Vorzeichen einer großen Katastrophe, deren Ende wir noch nicht absehen können? Oder sollte sich nur die politische und materielle Unbehaglichkeit und daraus entspringende Neuerung nur so haben äußern können, daß zu gleicher Zeit konsensuell auch alle übrigen moralischen Lebensfunktionen von einer krankhaften Reizbarkeit und beinahe organischen Verstimmung ergriffen werden mußten?

Wenn ich zum größten Theile mich für die leztere Meinung erklären möchte, so will ich nicht verschweigen, daß hiebei noch ein anderer Umstand obwalten dürfte. Nur die friedlichen Zeiten des vorigen Jahrhunderts waren im Stande, den Menschen allmälig 25 aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat aller Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte gesche­hen sind, reagirt. All’ unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All’ dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend 26 machen. Wenn man erst so weit gekommen ist, daß man die Aufopferung nicht mehr in leidender Entsagung, sondern im handelnden Enthusiasmus erblicken will, wenn man von der Tugend keine Zurückgezogenheit, sondern eine muthige Schaustellung ihrer kühnen Mo­tive verlangt, dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn wir Sitte und Sitten in solche Schwankungen treten sehen, wie sie jezt vor unsern Augen auf und nieder wogen.

Beginnen wir jedoch beim Einfachsten, zuerst bei der Tracht. Hier scheinen wir in Formeln festgerannt zu seyn, die keine weitern Beschränkungen zulassen. Alles Weite, Wallende haben wir verbannt; die Civilisation der Völker wird damit eingeleitet, daß sich die Frauen an die Schnürbrust und die Männer an den knapp anliegenden Frack gewöhnen. Die Mode gibt dann und wann Veränderungen an, allein in der Hauptsache bleibt jener enge Zuschnitt, von dem man fürchten muß, daß er bei den Männern noch enger und kürzer wird, so daß diesen sogar noch hinten die Schöße des Fracks abgeschnitten werden und sie dastehen, wie die Kellner in den Gasthäusern. Nationaltrachten werden, wenn nicht abgeschafft, doch an die pariser und englische Mode angepaßt. Wenn nicht in Schottland, Spanien, Ungarn die Nationalbewaffnung, also das soldatische Kostüm, der Volkstracht noch einen Anknüpfungspunkt darböte, so würden auch hier die Plaids, die nackten Knie oder die braunen 27 Mäntel und die Haarnetze oder die bunten Stiefel mit den schnurreichen Dollmans bald ver­loren seyn. Je mehr sich nach unten die Bildung verbreitet, desto mehr suchen die Menschen ihre Auszeichnung in geisti­gen Dingen. Der Reichthum, falls es wahr wäre, daß er sich auch nach unten hin verbreitet (was ich aber von der jetzigen Zeit läugne, da im Gegentheil der Reichthum bei den vielen bedenklichen Krisen, in welchen wir leben, stationär geworden ist und in den Händen derer bleibt, die ihn einmal haben), ich sage, daß wenn der Reichthum sich nach unten hin verbreitete, so würde die französische und englische Tracht, man kann wohl sagen, diese Tracht der Verstandesabstraktion, sich von selbst überall Bahn brechen. Wo Armuth herrscht, kann aber auch die Volkstracht nicht sinnig gepflegt werden, weil einmal die Armen mit den Lumpen der Reichen sich bedecken und sodann die Volkstracht theuer ist, und man doch jenen großen Mantel, welchen die Lazzaroni um ihren nackten Körper schlagen, nicht gerade Volkstracht nennen kann. Ueber alle Verhältnisse ist die Ueberschwemmung des Nivellements getreten. Das Charakteristische und Auffallende, die grellen Farben und Töne verlieren sich aus der Musik der Sitten, und der größte Theil jener Trachten, welche wir bei den Kunsthändlern ausgehängt finden und die wir für national in Italien, Polen, der Schweiz und Deutschland halten, gehören einer 28 frühern Tradition oder kommen wohl gar aus der Garderobe des Theaters.

Dieselbe Unbefangenheit, welche in unsrer Tracht herrscht, herrscht auch in unserm Benehmen. Das vorige Jahrhundert war darin weit bedächtiger und erfand, da die Sitten abgeschafft waren, einen Ersatz dafür im Ceremoniell und der Etikette. Was damals freie Bewegung hieß, feiner Ton und Unabhängigkeit von der Landessitte, das war in China gerade allgemeine Volkssitte. Jenes Ceremoniell konnte nur noch vor der Revolution gelten, als der dritte Stand noch nicht seine berühmte Nacht im Ballhause gefeiert hatte. Der Unterschied der Stände liegt größtentheils jener Etikette zum Grunde, die sich auf unsre Zeit noch unter dem Namen Höflichkeit und feines Benehmen vererbt hat. Gestürzt wurde dieser gesellschaftliche Pedantismus mit dem wiederbelebten Sinn für die Natur, die Einfachheit ihrer Gesetze und eine veredelte und geläuterte Kunsttheorie. Für unsre Zeit kann man überzeugt seyn, wenig beliebte Tanzmeister mehr zu finden, die nicht alle die Vorschriften, welche sie über Gehen und Stehen, über Rückgratsbiegungen und Schenkelerhebungen machen, noch von dem unterwürfigen Respekt gegen andere, sondern von der Grazie der freien Bewegung ausgehen ließen, von der Hogar­thischen Wellenlinie, die um ihrer selbst willen da ist und sich nicht schlängelt aus Servilismus, sondern aus Aesthetik. Ob man den Hut von der rechten 29 oder linken Seite abnehmen soll, wie viel Schritte vorher man zu grüßen hat, je nachdem uns ein Lord oder nur ein einfacher Edelmann begegnet, diese Rücksicht hat die heutige Höflichkeit mehr auf das Gefühl ihrer Beflissenen zu gründen gesucht, weil sie davon überzeugt ist, daß nichts einen schönern Eindruck macht, als sich aufmerksam beweisen bei dem muthig behaupteten Gefühl seiner Unabhängigkeit. Die Grazie darf nie ohne die Würde seyn. Die Etikette hatte aber nur Sinn für die Würde im objektiven Sinne, nämlich vor Mächtigeren das Rückgrat so krumm wie möglich zu biegen. Diese Art von Unterwürfigkeit fängt jezt schon an zu beleidigen, sie ist niemand willkommen, dem mit ihr gehuldigt werden soll. Die Achtung freier Männer erquickt mehr, als die Achtung der Sklaven; jene hat den Schein der Ueberzeugung, diese nur den des blinden Gehorsams. Natürlich ist dasjenige, was man heutiges Tages feines Benehmen, Ton und Anstand nennt, weit schwieriger, als die Etikette des vorigen Jahrhunderts. Die leztere war etwas Mechanisches; jenes muß aus einer sichern Abwägung seines innern Gleichgewichtes herkommen, muß eine innige Zusammenschmel­zung von formellen und moralischen Bestand­theilen seyn. Was liebt man mehr in der Gesellschaft, was reizt mehr die Aufmerksamkeit der Frauen, als sogar eine gewisse Anomalie von den hergebrachten Anstandsvorschriften, wenn sie nämlich nur mit Gewandtheit durchgeführt und mit Energie 30 behauptet wird und vor Allem Niemanden verlezt! Die Natur hat immer eine hinreißende Kraft; diese feine geläuterte Natur des Benehmens, welche sich aber der Kunst als Unterlage bedient, ist dasjenige, was wir an den Matadoren der Gesellschaft gern als ihren modernen Anstrich bezeichnen. Es kann über diese Virtuosität natürlich keine Vorschrift gegeben werden, weil dabei das Hand­werk in einigen angelernten Formalitäten besteht, die allerdings mechanischer Art sind und vom Tanzmeister, Schwimmlehrer und Stallmeister gelehrt werden. Das Uebrige aber, was diesem Mechanismus erst die schöne Seele gibt, das ist persönliches Talent. Für den schönsten Anstand hält man jezt vollkommene Verwischung alles Formellen und alleinige Beherr­schung desselben durch eine aus dem innersten Born der Ueberzeugung und des Charakters quillende Natürlichkeit.

Freilich ist dies nur ein Ideal. Allein es wird von Jedermann anerkannt, es wird gepriesen, wenn es bei einigen gebildeten jun­gen Leuten sich findet. Der eckigen, schlaffen, geckenhaften Aus­­nahmen gibt es genug. Der eine springt, der andere schlorrt. Das Temperament ist dadurch in seine Rechte gesezt, daß man gesagt hat, Natur und immer wieder Natur! Die Menge von Sorgen, welche auf der gegenwärtigen Generation lasten, hat gleichfalls die freie und harmlose Ausbildung des Benehmens verhin­dert; viele recht artige und gewandte Manieren wurden plötzlich in 31 ihrem Laufe gehemmt, so daß wir zwar alle Komplimente wissen, sie aber mit einem gewissen originellen Tik verbinden, daß man glauben möchte, wir wären manchmal wahnsinnig. Wo findet man dies mehr, als in England, und auf dem Kontinente wo mehr, als bei den Kaufleuten? Da hat Einer ein fortwährendes krampfhaftes Zucken mit dem Halse, er handelt in Staatspapie­ren. Einem Andern, ob er gleich noch jung und kräftig ist, zittern wie gelähmt die Hände: er hat einmal falliren müssen. Ein Dritter ist stumm und verschlossen, er hat fortwährend Schiffe auf der See, deren Assekuranzprämie weit geringer, als ihre Ladung ist. Auch die Politik treibt die Menschen aus einander; sie sind nur höflich gegen diejenigen, welche mit ihnen einerlei Meinung haben; gefühlvolle Herzen werden unempfindlich, wenn sie von nachtheiligen Zufällen derjenigen Partei hören, deren Ansichten sie nicht theilen; der sanftesten Gemüther bemächtigt sich ein unerbittlicher Rigorismus, ach und im Grunde des Herzens, unverdorbene Naturen scheuen sich nicht, ihre Finger zu einem Meineide und wohl gar ihre ganze Hand zu einem Meuchelmorde aufzuheben! Unser gesellschaftliches Benehmen kann sich schon deßhalb nicht konsequent entwickeln, weil wir gar nicht mehr die Behaglichkeit des Zusammenlebens haben, welche frühere Zeiten hatten. Durch alle unsere Verhältnisse zieht sich der gewaltige sociale Riß, diese klaffende Wunde des Jahrhunderts; wie kann sich da eine harmlose und 32 heitere Beweglichkeit in Sitte und Haltung erzeugen? Wir haben so außerordentlich viel zu thun, so ausgedehnte Strecken zurückzulegen, daß wir selten zum fröhlichen Genuß des Momentes gelangen.

Doch gut – wir besuchen uns, wir treffen hier und da zusammen, wir essen und trinken mit einander, wir suchen uns sogar durch Spiele von unseren Geschäften aufzuheitern. Wir streben manchmal recht eifrig, es unsern behaglichen Eltern nachzuthun und Alles wieder so zu machen, wie sie es machten. Junge Frauen und junge Männer halten sich nicht eher für vollkommen, ehe sie sich nicht einen solchen Sessel angeschafft hatten, wie ihn der Vater hatte, einen solchen Ton mit Untergebenen, wie die Mutter. Das kömmt nicht selten vor. Allein eben so oft auch, daß die Kin­der von den Eltern gar nichts entlehnen durften, daß sie eine große Kluft überspringen mußten von Sitte, Meinung und Zeit, um aus anerzogenen Vorurtheilen in die Existenz zu kommen, die ihnen wünschenswerth ist. Doch systematisch verfährt man heutigen Tags in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht mehr; die Familie und das Haus sind keine Institution mehr von so abgeschlossener und auf sich selbst beruhender Bedeutung, wie etwa der Staat in frühern Zeiten, wo diejenigen, welche ihn nicht brauchten, froh waren, ihn zu umgehen. Wenn man sieht, wie das Haus und die Familie in das gesellschaftliche Zusammenleben jezt nur noch eine Ergänzung unsrer 33 übrigen noch weit wichtigern Verhältnisse und Bedürfnisse zu seyn scheinen, möchte man nicht glauben, daß wir dem Ideale unsrer heutigen Weltbesserer entgegen gehen, einer öffentlichen Erziehung? Ein rechter Beweis, wie das Leben am eigenen Kamin und Heerde untergraben ist, liegt gerade in der Hartnäckigkeit, mit welcher dem Weltlaufe zum Trotz sich viele Naturen an den Heerd und Kamin anklammern und sich gerade aus dem Familienleben ein zufriedenstellendes und in sich gerundetes Lebensresultat schaffen wollen. Das Streben unsrer Zeit nach behaglicher Einrichtung, nach Komfort drückt diese Erscheinung vollkommen aus. Denn das Komfort soll gleichsam als ein Palliativ gegen die fortwährende Einwirkung des äußern Lebens, die mit ihren unbefriedigten Endzwecken fast unerträglich wird, dienen. Man scheint sagen zu wollen, daß man wenigstens diesen lezten Anker der Ruhe und eines einigermaßen genossenen Frohsinns am Leben sich von dem stürmischen Meere nicht wolle fortreißen lassen.

Die Menschen kommen zusammen und erheitern sich; junge Leute lesen sich ein Schauspiel vor, wo jeder einzelne eine Rolle übernimmt und man Noth hat, alle die nöthigen Exemplare im Städtchen aufzutreiben. Frauen haben ihre eigenen Zusammenkünfte, Männer die ihrigen, zuweilen vermischen sie sich. Der Weltlauf begleitet sie in die Gesellschaft; wohl dem, der in heiterm Gespräch ihn vergessen 34 kann! Das Gespräch ist vibrirend, keineswegs gründlich erschöpfend; ein Redner, der die Unterhaltung an sich reißen will, wird gern gehört; denn löst er nicht Alle, die nur sprechen, um zu sprechen, von ihrer Mühsal ab? Die Stoffe, über welche man sich ohne Leidenschaft unterhalten kann, sind so karg zugemessen. Die Kunst und Literatur münden sich, wenn man ihnen ein wenig tiefer auf den Grund gehen will, in Fragen aus, wo das Blut heißer wird, als zu einem unbefangnen Gespräche nöthig ist. Weil es an Stoffen fehlt, oder die, welche man behandeln könnte, dem Ort und der Stunde nicht angemessen sind, so ergeht man sich in Formalitäten, man liebt den Witz, sogar den Wortwitz; man überredet sich, sogenannte Geistesspiele für angenehm zu halten. Die Salons sind etwas unsrer Zeit ganz Eigenthümliches; es ist das Haus, die Familie, aber mit geöffneten Flügelthüren. Die Salons sind Nischen, Arkaden, sind Absteigquartiere, in welchen die das Drama unsrer Zeit abhandelnden Schauspieler eine Zeit lang hineintreten, um sich den Schweiß von der Stirne zu kühlen, oder nur in der Eile ein Glas Zuckerwasser zu trinken. Jeder ist geladen, der kommen will, denn in dem Prinzipe der Salons liegt nicht das Bleiben, sondern das baldige Wiederweggehen. Alles, was verhandelt wird, ist von flüchtiger Dauer; man hat den Degen seiner Ansichten an die Lenden geschnallt, obschon nicht blank, sondern in der 35 Scheide. Man plänkelt nur gegen einander, es ist ein kur­zer Waffenstillstand in dem großen Kampfe, dem noch so viel Schlachten, so viel Menschenherzen geliefert werden sollen. Wo aber die Frauen das Uebergewicht haben, oder die Harmlosigkeit sich ein wenig fester eingebürgert hat, nun, da sind es drei Dinge, die das stockende Gespräch ersetzen: die Musik, das Spiel und sogar der Tanz.

Die Musik ist beinahe keine bloße Kunstfertigkeit mehr, sondern fast eine konversationelle Tugend. Wer sie nicht übt, muß sie wenigstens zu schätzen wissen. Wer nicht die zweite Stimme übernimmt, muß sich wenigstens an das Pianoforte stellen und das Notenblatt umschlagen. Die Musik ist dazu benuzt worden, eine Lücke in unsrer heutigen Bildung auszufüllen und gleichsam eine angenehme Politur auch denen zu geben, welche nicht im Entferntesten eine Verwandtschaft mit dem hohen Geiste haben, in welchem die Werke eines Mozart und Beethoven empfangen und geschaffen sind. Was vermißt man bei dem größten Theil unsrer Frauen? Esprit. Der Grund dieses Mangels liegt auf der Hand. Esprit ist eine gefährliche Geistesgabe; Mitgift in einem Zeitalter, wo man die Beschränktheit Gemüth und die Frivolität Geist nennt. Soll man den Frauen jene witzige Dialektik gestatten und sie in ihrem empfänglichen Geiste auszubilden suchen, welche sie auf die Höhe der jetzigen Männerwelt stellt? Die Aufgabe ist schwierig und 36 gefährlich. Die Erzieher und Eltern haben sie von sich gewiesen und für die feine Geistesbildung nach einem Surrogat gesucht. Sie fanden es in der Musik. Die Musik ver­breitet namentlich über die Bildung der Frauen einen gewissen spirituellen Schimmer. Sie ist das Bindeglied der vereinzelten Wis­sensstoffe, die ihr Gedächtniß in sich aufgenommen hat; sie ist auch der elektrische Leiter, durch welchen man den einzelnen zerstreuten Geistesfunken derselben beikommen kann. Vielleicht ist aber auch diese Erscheinung schon wieder in einem neuen Stadium begriffen. Je schwieriger bei der außerordentlichen Kon­kurrenz es wird, in der Musik Etwas zu leisten, desto mehr verliert sich vielleicht die große Selbstgenügsamkeit, welche bei einer sonst ganz mangelhaften Bildung durch ein wenig Gesang und Klavierspiel bei den Frauenzimmern erzeugt wurde. Es scheint, als müßten die Erzieher sich schon nach einem andern Surrogat umsehen, um dem weiblichen Geschlecht in einer Zeit der Debatte doch die Tonangabe in der Gesellschaft zu lassen. Schrecklich wär’ es, wenn die Weiber, von den großen Klavierspielern und Sängern unserer Epoche übertroffen, sich auf den zweiten Hebel der Gesellschaft, von welchem wir sprachen, werfen sollten, nämlich auf das Spiel. Das bereits allgemein verbreitete Schauspiel, junge Mädchen mit Karten in den Händen zu erblicken, wäre das Anzeichen einer einreißenden Gedankenlosigkeit, die uns, wie in der Mitte des 37 vorigen Jahrhunderts für die Unmündigen ein Rousseau erstand, jezt bald einen Rousseau für die Erwachsenen bringen müßte.

Das Spiel ist das Grab der Sorgen und die Wiege derselben, je nachdem es getrieben wird. Der Eine erstickt im Whist seine Lei­den oder tödtet wenigstens das unendliche Wehe, das ihn peinigt, die Langeweile; der Andere verspielt nicht seine Unruhe, sondern seine Ruhe, oder wie Lord de Roos seine Ehre. Das Glück soll erobert werden, beim Einen durch die Sturmleitern der Leiden­schaft, beim Andern durch einen solchen Handgriff, den sich im Spiele Menschen erlauben, welche sonst keine Ruhe über einen Schilling haben, der ihnen zu viel von einem Kaufmann gegeben worden ist. Das Spiel ist eine Erholung, weil es die Zeit ausfüllt und die kleinen Leidenschaften des Menschen nicht ermüden läßt. Klammert man sich aber an das Kleine an und sezt Großes daran, was man Großes nennt, nämlich bedeutende Summen Geldes, so richtet es in Mienen und Farbe der Haare, im Blick der Augen und Haltung des Körpers eine frühe Verwüstung an. Das Hazardspiel ist auf dem Weg, ausgerottet zu werden. Auch die Lotterien sind in Gefahr, nicht mehr gezogen zu werden. Die Hu­manität mancher Gesetzgeber stemmt sich gegen sie, wie gegen die Beibehaltung der Todesstrafe. Allein der Taumel, das Glück für sich zu beschwören, scheint tief in die Gemüther der Zeitgenossen eingedrungen 38 zu seyn. Die Sucht nach Reichthümern kann von der eifrigsten Hingebung an die Arbeit und den Erwerb nicht mehr befriedigt werden. Die Kapitalien sind so fest geworden, daß an vielen Orten nur noch die Lotterie im Stande ist, neue zu schaffen. Die Menschen wissen nur zu gut, daß die jetzigen Handels- und Gewerbsconjunkturen nicht mehr die früheren Erfolge haben, und werden sich daher immer noch eifriger drängen, auf den Zufall zu bauen. Die Sucht an der Lotterie ist auf dem Continente eher im Zu- als Abnehmen begriffen. Die Verzweiflung ist bei Vielen so groß, daß sie ihr ganzes Vermögen aufs Spiel setzen, um sich zu bereichern. Die zahmsten jedoch unter den Spielern sind die Schachklubbisten, die Philosophen unter den Spielern. Berühmte Matadore dieser Kunst werden aber seltner. Man zieht es vor, in Masse zu spielen, wenigstens wird, trotz der Quadrupelallianz, ein fortwährender Krieg zwischen England und Frankreich, jedoch nur mit Schacharmeen, geführt. Das vorige Jahrhundert war tiefsinniger in der Metaphysik. Wir haben jezt im Schachspiel nur eingeschossene Empiriker, keine Newton und Leibnitz mehr. Kein einziger neuer Zug ist mehr entdeckt worden; dennoch gibt es noch Viele, die sich begnügen, das Schachspiel nur erlernt zu haben. Es sind gewöhnlich die Freunde derselben Männer, welche sich von den Wirren des Parteigeistes zu befreien suchen und wenigstens darnach trachten, 39 wie Aristoteles befohlen, mit sich selbst zufrieden zu seyn. Ein gewandter Schachspieler ist immer davon überzeugt, daß in ihm ein Napoleon steckt, der Alles zur Räson bringen würde, wenn man ihm nur die Macht ließe, so zu handeln, wie er denkt, nämlich denkt in der indischen Weisheit des Schachspiels. Schachspieler sind sehr für sich eingenommen, und will ich auch gar nicht bestreiten, daß sie wenigstens in der Mathematik das leisten könnten, was sie glauben in allen Wissenschaften leisten zu können. Weibliche Schachspieler finden sich nicht minder, wie es sogar Damen gibt, die die Violine spielen. Das sind immer kühne Naturen und würden nicht nur für die Emanzipation der Weiber kämpfen, sondern auch gar kein Bedenken tragen, ihr Jahrhundert, wenn sich die Gelegenheit fände, in die Schranken zu rufen.

Den Tanz hielten die Alten für eine Huldigung Gottes, heutige Zeloten für eine Huldigung des Satans. Obschon die Alten von dem Tanz eine so hohe Meinung hatten, so überließen sie es doch nur den Sklaven und Jahrmarktsgauklern, zu tanzen, wie jezt die Türken ihren Sklavinnen, während ihre Herren dabei die Pfeife rauchen. Für den Tanz kann man jezt nur noch junge Leute ermun­tern. Die Aelteren ermuntern sie gern, weil sie annehmen, daß Ecos­saisen, Anglaisen und Franzaisen an die Stelle der gymnastischen Uebungen getreten sind, 40 an welchen die jungen Leute in Griechenland ihren Körper stärkten. Auch in die Tänze ist jedoch ein neuer Geist gefahren, und zwar von einer Seite her, wo man es am wenigsten hätte erwarten sollen. Die Deutschen haben nämlich ihre Reformation nicht so schnell verbreiten können, nachdem sie die Völker einmal gekostet hatten, als jene monotonen, aber wilden Kreise im Kreise, welche man Walzer nennt. Oestreich, sonst so wenig eingenommen für den Fortschritt, hat es vollends bis zu einer an Mänadismus gränzenden Leidenschaft darin gebracht. Die Engländer halten es doch sonst auch mit der Pferdezucht, allein bei menschlichem Tanze die pferdemäßige Gallopade einzuführen, das blieb den Böhmen über­lassen, die den neuen Walzer im Zweitritt erfunden haben sollen. In England werden diese Tänze nie einheimisch werden, weil unser Volk zu schwerfällig ist und die Berauschung in Bier und Aquavit eher in die erste beste Ecke wirft, als zu bacchantischem Taumel beflügelt. Allein in Frankreich ist diese neue wilde Tanz­lust an die Stelle der verschollenen romantischen Schule ge­treten, ja die lezten Trümmer derselben scheinen sich in Paris mit dem Tanze verschwistert zu haben, wenn man den Wundern glauben darf, die von Müsards und Jülliens allgemeinen En­treebällen erzählt werden. Im wilden Taumel schießen die Paare hinter einander her; die Musik, um den Tanzenden wahre Taran­telstiche zu versetzen, 41 unterstüzt sich mit Kanonenschlägen, mit Schwärmern, mit Posaunen, mit Glocken, ja sogar mit Orgelklängen. Die wollüstigen Scenen aus Robert dem Teufel liegen all diesen Arrangements zu Grunde. Man verbindet mit der Sinnlichkeit den Spiritualismus des Gefühls. Man drückt im Rausche des Tanzes jene verworrene Philosophie aus, welche in Paris die Königsmörder und die Kohlendampfs-Erstickungen erzeugt. Es ist fast wieder so weit gekommen, wie es bei den Alten war, daß nämlich der Tanz ein Symptom der Religion wird. Wenn die Re­li­gion den Schmerz tödtet, so macht ihn der Tanz, wie er jezt ge­trieben wird, wenigstens vergessen. Es harmonirt auffallend mit der gegenwärtigen Lage Europas, daß der Tanz neben der all­gemeinen Bedächtigkeit, versteckten Leidenschaftlichkeit und dem Mißtrauen der Menschen seinerseits diesen wilden und bis zur Prostitution sich hingebenden Charakter angenommen hat.

Wir beobachteten bis jezt die Sitten der Zeitgenossen nur in ihren formellen Aeußerungen. Allein ihre Hände sind nicht blos da, um zu grüßen, ihre Füße um zu tanzen, sondern zwischen alle diese Formalismen zieht sich der Roman der Herzen und Gefühle hindurch. Die Sympathie der Liebe ist keine solche Zauberkraft oder verstärkt sich nicht mehr aus einer allgemeinen gefühlvollen Grundlage des Lebens, wie im vorigen Jahrhundert. Richardson 42 hatten im vorigen Jahrhundert alle gelesen; für die Zärtlichkeit waren alle Herzen geebnet. Jezt scheint es, als erzeugte (wenigstens die Literatur) nur ein Verhärten der Herzen und ein Abstoßen der sich einschmeichelnden Neigungen. Dem Leben, wie es sich jezt äußert, kommt die Erregung der bloßen Verstandesreflexion und des nüchternen Witzes auf halbem Weg entgegen; denn wir sind weit entfernt, durch diese so vorherrschend gewordenen Springfedern unseres öffentlichen Lebens für den Kultus angenehmer und den kleinen Roman des Her­zens zur Weltgeschichte ausdehnender Situationen empfänglich zu werden. Die Liebe fehlt den Herzen nicht, allein sie hat an Ausdauer, Kraft und Stolz verloren; sie schmiegt sich in unzählig öfteren Fällen den Rücksichten an, als früher, sie duldet vielleicht mehr, als ehemals, allein auch an Muth hat sie verloren. Diese Erscheinung war vorauszusehen. Seitdem das Familienleben nur in einen engen Winkel des Hauses zurückgedrängt ist, und die großen Fragen der Geschichte und Tendenzen die edelsten Stoffe in den Gemüthern der Männer absorbirt haben, verloren die Frauen das Vertrauen auf ihre Empfindungen und wagten wenigstens nicht mehr, wie in frühern Zeiten, sich für den Mittelpunkt der Gesellschaft zu halten. Ein großer Theil unsrer heutigen Ehen wird gedankenlos geschlossen: ein größerer kömmt durch Meinungen zusammen, die sich mit der zufälligen Wahl bald zufrieden 43 geben. Einen noch gleichsam in der Luft liegenden Hang zu romantischen Spezialitäten kann man nicht mehr voraussetzen, wenn auch zuweilen von der Liebe ganz ernste Dramen ausnahmsweise aufgeführt werden. Der finanzielle Kalkül zerstört oft den der Liebe, und manches Frauenherz, das verkauft wird, verblutet in Schmerz und Verzweiflung. Ist einmal erst die Tragödie oder wenigstens das ernste Drama in der Liebe eingefädelt, so kann man gewiß seyn, daß es sich gewaltsamer endigt, als in frühern Zeiten; denn in einer Zeit, wo so viel sich fügen muß und wo der Kleinste in so große Begebenheiten sich verflochten fühlte, da werden Eltern von dem Eigensinn ihrer Kinder nicht mehr viel Wesen machen. Es entspricht dem Charakter unsrer Zeit, daß vieles, was in Sachen der Liebe vorgeht, krampfhafter und verzerrter Natur ist. Der Prozeß des La Roncière kann eine Perspektive eröffnen auf die Leidenschaft unsrer jungen Leute, wenn sie einmal angefangen, aus dem gewöhn­lichen Gleise herauszutreten.

Natürlich mußte gegen die im Allgemeinen herrschende Oberflächlichkeit in Liebesverhältnissen eine Reaktion kommen, und, bedenklich genug für die Sitten des Zeitalters, es findet diese erst im Verlauf der Ehe statt. Man würde heutiges Tags nicht so viel über die Ehe grübeln, die Dichter würden sich nicht darin gefallen, so zahlreiche Verletzungen derselben zu schildern, wenn über dies Institut nicht eine unbehagliche 44 Stimmung vorhanden wäre. Plump und verbrecherisch scheinen mir die Angriffe auf die Ehe selbst; während alles, was an ihr mißfällt, nur Symptom von Uebeln ist, die anderwärts versteckt liegen und die nur zufällig in der Ehe wahrgenommen werden. Wenn wir auf mangelhafte Verhältnisse in der Ehe stoßen, so sind diese nur die Folge eines Versehens, was in dem schon vorhergegangenen Stan­de der Liebe begangen. Die heutigen Schriftsteller sollten weit mehr über diese nachdenken und die begleitenden Umstände der Außenwelt erwägen, als daß sie sich in metaphysische Spitzfin­dig­keiten über die Ehe einlassen und wohl gar darauf hinaus­kommen, die Formen des Barbarismus für nothwendige Potenzen unsrer heutigen Bildung zu halten. Es ist schwer, daß gegen­wärtig noch Dichter über die Ehe nachdenken und nicht den Anomalien derselben ihre poetische Darstellung und Entschuldigung widmen sollten. Ich glaube nicht, daß dies Frivolität oder bei so viel verbrauchten Stoffen eine Impotenz ist, sondern den Dichter trägt allerdings die Welle des Tages und der Geist der Zeit bläst in die Segel seines Fahrzeuges hinein; der Dichter fühlt ein Uebel und sucht es abzuwenden, indem er es schildert oder ihm einen Kontrast des Gegentheils als Spiegel gegenüberhält. Dennoch sollte mit der Phantasie nicht auch zugleich der besonnene Verstand sich fortreißen lassen. Der Dichter, als nüchterner Philosoph, sollte sich gestehen, daß wir 45 durch diese krassen Gemälde häuslicher Zerrüttung, welche in den meisten heutigen Romanen aufgestellt werden, die Verwirrung nur noch vermehren und einer Springfeder der Sittlichkeit durch unser Rütteln und Schütteln ihre Elastizität nehmen. Die Ehe bleibt und ist ein Hebel der Kultur und kann weder von dem freien Weibe St. Simons, noch von Lelia’s spitzfindig sinnlichen Grübeleien un­ter­graben werden. Die Thatsache derselben ist so einfach, ihr lo­gi­scher Grund so natürlich, daß eine Erschütterung unmöglich ist. Warum wendet man also die Spitze der Satyre und Ironie statt einwärts, auf den kleinen, aber ewigen Grundsatz der Ehe, nicht auswärts hinaus auf die Umstände, welche das eheliche Leben erschlafft haben, auf diejenigen, welche ihm eine künstliche, statt der natürlichen Nothwendigkeit gaben, auf diejenigen, welche der Liebe und der vorher zu knüpfenden Freundschaft den idealischen Schmelz nahmen, auf diejenigen endlich, welche in das ehe­liche Leben mit zerstörender Hand eingreifen? Man sieht in einer Verbesserung der zwischen Mann und Weib Statt findenden Verhältnisse beinahe nur immer Fortschritte, die man von den Weibern erwartet; allein die untergrabene, leichtsinnige und gedankenlose Ehe rührt weit mehr von den Männern her, die die Frauen nur als Mittel ihrer physischen und ökonomischen Ordnung betrachten und sich allen Dingen eher zuwenden, als dem heiligen Feuer, das auf dem heimischen Heerde unablässig 46 lodern soll. Die meiste Schuld liegt auf jenem Felde, das unten an den Zinnen Troja’s liegt, wo die Griechen und Trojaner sich bekämpfen, während sich oben die Frauen mit der Gesellschaft ver­liebter aber alter Graubärte begnügen müssen.

Bereits oben ist bei Gelegenheit der Uebervölkerung von Rechten die Rede gewesen, welche man dem ehelosen Stande der Ehe gegenüber einräumen soll. Ich dringe auch hier darauf, die unehliche Geburt nicht mit polizeilichen Schwierigkeiten zu belasten, weil jeder Einsichtsvolle nur in dieser Schwierigkeit die Gefahren einer Uebervölkerung und mit ihr verbundenen Nahrungslosigkeit sehen kann. Allein der Einsichtsvolle sollte auch weit davon entfernt seyn, diese Emanzipation der Unehe darin zu finden, daß man die Ehe selbst untergräbt. Das Hagestolziat ist, wie wir an Lord Bubbleton sahen, eine natürliche Folge der auf der Existenz lastenden Hindernisse und Schwierigkeiten; al­lein den Junggesellen sollte es gelingen, uns den ehelichen Stand zu verleiden? Sie sollten Macht gewinnen, einen Pantheismus der Ge­schlechtsneigung zu predigen, der zu Auflösung aller Sitte und Ordnung führen würde? Ich verdenke ihnen nicht, daß sie sich rächen, daß sie darnach streben, ihre Kryptogamie in bessere Achtung einzusetzen; allein daß sie deßhalb in der Ehe logische und metaphysische Widersprüche zu entdecken glauben, ist eine Verblendung, wo es mir leid thut, sie eine so geistvolle 47 Schriftstellerin, wie die Verfasserin der Lelia ist, theilen zu sehen.

Alle Gebrechen, die man in der Ehe finden kann, liegen theils nur in den Personen, die sie schlossen, theils nur in den äußern, sie umgebenden Umständen. Es ist einseitig von der Ehe und be­weist genug für den Formalismus, der so oft ihrer Schließung zu Grunde liegt, daß sie sich den Verbesserungen des ehelosen Standes widersezt, daß sie keine Findelhäuser dulden, keine ge­fallenen Wesen mit Nachsicht aufrichten will. Kann denn ein Triumph größer seyn für ehelich verbundene, als daß sie sich bei der gestatteten Freiheit, es nicht zu thun, doch einer ewigen Einigung ihrer Lebensschicksale unterworfen haben? Die Gesetzgeber sollten darauf bedacht seyn, alle Umstände zu erleichtern, unter welchen die Ehe Statt finden kann. So lange aber diese Umstände mit Hilfsmitteln gar nicht erreichbar sind, so lange sie von einer Umgestaltung unsrer gegenwärtigen Verhältnisse abhängig sind, sollte die Orthodoxie unsrer Ehe auch nicht so intolerant seyn, daß sie überall Ketzerei und Aergerniß sieht. So scheint es, als wären weder die, welche die Ehe vertheidigen, noch die, welche sie angreifen, auf dem rechten Wege begriffen.

Es möchte hier wohl am Orte seyn, den geheimnißvollen Vorhang von einem Gemälde wegzuziehen, welches zunächst vielleicht nur den Eindruck der erregten Sinnlichkeit macht, aber im Hintergrund doch eine 48 unsägliche Fülle von Elend und Verzweiflung birgt. Es gibt für den Schriftsteller Aufgaben, denen er nur mit Widerwillen gehorcht. Alexander mußte die Pythia mit Gewalt ergreifen und sie auf den Dreifuß setzen, um sich die Herrschaft der Welt und einen frühen Tod prophezeihen zu lassen. So kann ich das unbehagliche Gefühl jener Aerzte verstehen, welche sich mit ihrem keuschen und reinen Bewußtseyn entschließen müssen, in dem Pfuhl, welchen die menschliche Sinnlichkeit zurückläßt, entweder eigenhändig aufzuräumen oder sogar die Feder zu ergreifen, um darüber zu schreiben.

Was verbirgt sich nicht alles hinter unsern Wänden? Was geht in den Häusern vor, an welchen wir vorübergehen und wo die Thüren und Fenster uns so leer und gleichgültig anstarren? Wie wir uns grüßen und begegnen, wie wir Feinde sind auf offener Arena, oder Freunde in stiller Einsamkeit; wie wir draußen auf der Rednerbühne sprechen, oder daheim im traulichen Umgange – wir haben alle ein Geheimniß, wir haben noch immer Etwas, das wir Niemanden sagen, immer Etwas, worüber wir uns nur selbst Rechenschaft geben. Wie es im Geistigen ist, so ist es auch in der Sitte. Es werden an dem Gemälde unsrer Zeit immer noch Pinselstriche fehlen; wer kann sich in alle Nebengassen und versteckten Winkel unsres gesellschaftlichen Daseyns verlieren? Aber es ist gut, daß jeder aus sich selbst im Stande ist, das Gemälde zu 49 vervollständigen. Wären die Römer und Griechen über ihre Sitten weniger aufrichtig gewesen, wie vieles davon würden wir doch aus den unsrigen ergänzen können! So soll auch hier bei einer verfänglichen Frage nur das Allgemeinste angedeutet und das Besondere jedem überlassen werden, der dann, wie bei päbstlichen Bullen, aus den Anfangsworten schon auf den Inhalt des Ganzen schließen muß.

Man hat in Paris und London jene unglücklichen Geschöpfe, welche aus der Liebe ein Handwerk machen, in runden Zahlen angeben wollen. Allein diejenigen, welche die Schamlosigkeit bis zu einer offiziellen Unterhandlung mit der Polizei treiben und für ihr Gewerbe eine Steuer zahlen, sind weit geringer, als jene versteckte Preisgebung, welche die äußerliche Handthierung zahlloser weiblicher Handarbeiter begleitet. Bricht die Nacht herein, so öffnen jugendliche Pflanzen und Stinkblumen ihre schlaffen Kelche. Wer will die Tausende zählen, welche nicht ihres Raubes froh sind, sondern die verzweifeln, daß sie keinen finden? Man pflegt für London 40,000 solcher Geschöpfe anzunehmen; manche, die von dem weiblichen Geschlechte keine gute Meinung hegen, setzen sie wohl noch gar auf das Doppelte an. Paris steht etwas zurück, weil es kein Hafen ist, während man gewiß seyn kann, in Paris mehr Raffinement zu finden, als in London.

Das Werk des Parent-Düchatelet über diesen Gegenstand hat ein außerordentliches Aufsehen 50 gemacht. Man las es um so lieber, als der Ton desselben von allem Priapismus frei war und man auf jeder Seite einen für das Wohl der Menschheit begeisterten Gelehrten wahrnahm. Die Lüsternheit hatte bei der Lektüre dieses Werkes einen guten Vorwand. Der Verfasser verfolgt das Sittenverderbniß der beiden Geschlechter (denn warum die Männer ausnehmen!) bis in die schmutzigsten Winkel, bis in die Kloaken der Moral, in die Kranken- und die Zuchthäuser. Die Farben, welche auf diesem Gemälde besonders grell hervorstechen, sind immer jene schmutziggelben Tinten, mit welchen uns­re Coloristen in neuerer Zeit den Schmutz der italiänischen Win­kel­häuser und ganzer italiänischer Städte so meisterhaft getroffen haben. Wo man in dem Buche hinblickt, gewahrt man das Laster, bald im Kampfe mit der Polizei, bald im Kampfe mit der eigenen weiblichen Natur, mitunter wohl auch mit einem bessern Gefühle, das bei Geschöpfen dieser Art nicht ganz zu Grunde geht. Al­lein, enthält es wohl mehr, als kaum die Hälfte des Lasters, trotz aller darin gelieferten statistischen Notizen! Es zeigt uns weit mehr die bloße Versumpfung der untersten Regionen dieses Gegenstandes, das ausgesprochene und eingeschriebene Handwerk; und läßt noch ein großes Feld der Betrachtungen zurück über den Dilettantismus in der Prostitution und namentlich über die höhern Regionen derselben, die der Verfasser schonen zu wollen scheint.

51 Allein es ist in Wahrheit unmöglich, einen allgemeinen Durchschnittscharakter zu zeichnen, da die besondern hier vorkommenden Nüancen so zahlreich wie die Lebensschicksale sind. Denn diesen mag ein großer Theil der Geschöpfe unterliegen. Sie mögen von treulosen Liebhabern betrogen seyn, sie mögen nicht wissen, woher sie Nahrung nehmen sollen. Fürch­terlicher sind jene Fälle, wo das Laster schon durch die Erziehung eingeimpft ist und schon die Kinder angelernt werden, als Werkzeuge einer überreizten Sinnlichkeit zu dienen. Sieht man nicht alte triefäugige Weiber mit phantastisch gepuzten Kindern gehen, gleichsam als führten sie die schon im Mutterleib (denn die Mütter haben nicht selten dabei ihre Hand im Spiele!) verdorbenen Wesen in die Schule, während ihre Waare den spürenden Kennern schon verständlich ist! Bei den Meisten ist die Schuld des Fehltritts jedenfalls nur die Sinnlichkeit selbst, wenigstens begleitet sie alle übrigen Ursachen und gibt ihnen den Weg an, sich auf diese ehrlose Weise zu helfen. Mangel an moralischer Elastizität in den untern und zuweilen noch mehr in den mittlern Volksklassen erleichtert den gefährlichen Schritt; oft ist es auch die bloße Gedankenlosigkeit und Verstandesschwäche, die vielleicht nicht grade den ersten Schritt hervorruft, aber von den folgenden doch nicht zurückhält. Gedankenschwäche wird zulezt wenigstens etwas Stationäres bei diesen Geschöpfen. Sie erhalten einen Zug, 52 der an Verrücktheit streift und jedenfalls nur von der fortwährenden Erregung herzuleiten ist, von der Zerstreuungssucht und sogar nicht selten dem Streben, die bessere Stimme in sich zu unterdrücken. Ein anderer Grund für diese manchmal krampfhaften Verstandeszuckungen mag darin liegen, daß diese Wesen weit über ihre Bildung hinaus in Verhältnisse und Umgang gerathen, für welche ihnen die Grundlage und Vorbereitung mangelt. Sie sprechen den ganzen Tag ohne einen Inhalt zu haben. Sie lassen sich auf Theaterangelegenheiten, auf Lektüre ein, ohne einen Begriff von den einfachsten Vorkenntnissen eines gesunden Urtheils. Dazu kömmt dann das ewige Streben über sich und namentlich über die Vergangenheit hinaus, die Unterdrückung der Erinnerung und die bis zur Ruchlosigkeit sich steigernde Keckheit, wenn erst mehrere mit einander umgehen und eine gegen die andre mit ihren Fortschritten in der Reuelosigkeit trozt. Man hat von einem nicht seltenen Gefühle dieser Geschöpfe gesprochen, von ihrem Mitleiden. Allein entweder ist dies die Schuld, die sie noch immer der weiblichen Natur abtragen müssen, oder die Sympathie findet sich nur bei einer eigenen Klasse dieser Art, nämlich gerade bei denen, die ihre Ausschweifung gerade als ein geduldetes Handwerk behandeln, und, in dem Gefühl polizeilicher Sicherheit, in jedem Auflaufe still stehen, über jeden Bettler, dem sie begegnen, muthig auf den Staat und die 53 Gemeinde schimpfen und sich’s also in ihrer Art und Weise ganz bürgerlich und bequem machen. Die Nachtschleicher, die Vagabundinnen, die immer auf dem Sprung stehen und ihre Wächter ausgestellt haben, um beim Fange sicher zu seyn, daß sie selbst nicht gefangen werden, die kommen zu gar keiner Besinnung und sind diejenigen, welche in sich von der Moral den lezten Sprossen mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben.

Es ist viel über die Profanation des Geschlechtstriebes geschrieben worden, doch alle Welt kommt darin überein, daß man sie nicht unterdrücken kann. Der heilige Augustinus klagt schon darüber, daß selbst er, der Gott so gefällig zu seyn strebe, sich diesem Resultate anschließen müsse. Man ist darauf hinaus gekommen, daß es sich immer nur darum handeln könne, die Profanation des Geschlechtstriebes zu reguliren und dadurch, daß man ihr eine gewisse Freiheit einräumte, sie in desto größere Botmäßigkeit zu bringen. Dieser jedenfalls wichtige Grundsatz hat die Polizei zu Conzessionen vermocht, an denen nur Leute Anstoß nehmen können, welche glauben, die guten Sitten ließen sich mit Feuer und Schwert in die Menschen hineintreiben. Diese Menschen bedenken nicht, daß, wenn das Laster keinen Abzugskanal hätte, es übertreten und die ganze Gesellschaft verderben würde. Die Unlauterkeit der Gelüste würde sich auf die Kreise der Sitte zurückwerfen und, wie die Pest, 54 Niemanden mehr verschonen. Nur darüber kann noch die Frage seyn: wie verhindert man den Zudrang der Weiber zu diesem ehrlosen Stande? wie gleicht man das Bedürfniß mit dem Ueberflusse aus, welcher allerdings in den weiblichen Verlockungen herrscht?

Schon die Alten mögen hierüber nachgedacht haben. Wenigstens findet man, daß sie gefallenen Geschöpfen, die keine Reue zeigen, ihr bürgerliches Recht entziehen. Dies mag für das Alterthum Sinn gehabt haben; doch klingt es lächerlich, wenn der Verfasser des obigen Buches räth, bei uns dieselbe Verfahrungsweise einzuführen. Er sagt, die Römer hätten Geschöpfe der besprochenen Art mit der Entziehung des Rechtes, ein Testament zu ma­chen, bestraft, und fügt hinzu, dergleichen Folgen müßte auch bei uns das sittliche Verbrechen an sich selbst haben. Sie sollen kein Testament machen? Großer Gott, die Strafe ist gelind. Sie kommen gar nicht in die Lage, eines machen zu können, da sie wenig mehr, als Schulden hinterlassen. Oder wenn sie auch in späteren Jahren zurückkehrten zur sittlichen, wenigstens anständigen Gesellschaft, und eine Entziehung bürgerlicher Rechte dann hinlänglich fühlen dürften; werden sie in ihren jungen Tagen darüber nachdenken, was ihnen in alten, ja, was das Testament betrifft, was ihnen im Tode begegnen dürfte? Palliative dieser Art wirken nicht. Man hat das äußere Zeichen einer bestimmten Tracht vorgeschlagen, wie in alten Zeiten dies Sitte 55 war. Man hoffte, durch eine Kenntlichkeit das Schamgefühl rege zu machen; allein dies Mittel hat die bedenklichsten Seiten. Einmal würden sich nur diejenigen so tragen sollen, welche von der Polizei geduldet sind. Welches Weibsbild würde sich dann aber noch einschreiben lassen? Sie würden alle das Privatisiren, und wenn noch so harter Kerker darauf stände, vorziehen. Und wenn es doch solche gäbe, die der polizeilichen Verfolgung müde würden und die vorgeschriebene Tracht annähmen, würden wir dann nicht gerade ein Aergerniß für die öffentliche Sittlichkeit wahrnehmen, das weit größer wäre, als früher? Denn einmal ist es fürchterlich, das Laster in einer eigenen Livrée an uns vorüberschlüpfen zu sehen, sodann aber würde sich täglich und überall die Scene wiederholen, die man jezt schon zuweilen wahrnimmt. Wird ein solches Weib von der Polizei eskortirt, so macht es Geberden, die alle unsre Gefühle in Empörung bringen. Es trumpft auf seine Verwerflichkeit, singt und lacht und gibt ein Aergerniß, das die Polizei auch bereits gezwungen hat, für solche Transporte Kutschen einzuführen. Natürlich will das Gewissen auf irgend eine Art übertäubt, die Scham, die an der Pforte steht, zurückgewiesen seyn. Das Erste, was man sogar bei vornehmen Maitressen wahrnehmen kann, ist die Furcht, von guten und edlen Gefühlen überrascht zu werden. Sie schämen sich, erröthen zu müssen und werfen sich mit Gewalt in einen Strudel 56 von Zerstreuung und Sinnlichkeit, um nur niemals mit sich allein zu seyn oder durch irgend etwas an die Unbesonnenheit ihres Schrittes erinnert zu werden.

Restif de la Bretonne hat in seiner kolossalen, witzigen und nicht selten sentimentalen Unsittlichkeit den Vorschlag gemacht, große Kasernen für die Preisgebung einzurichten, Tempel, wie der der Hierodulen in Korinth, in jeder Stadt ein Parthenon, statt der Minerva, der Venus gewidmet. Vorn sollte man sich abonniren und hinten bekehren können. Vorn war der Tarif der Sünde angeschlagen und hinten lag eine Kirche, in die jeder, der Buße thun wollte, einkehrte. Pariser und Londoner Projektenmacher haben noch andre einfachere Mittel versucht; allein das einzig wirksame wird nur darin bestehen, daß man die polizeilichen Vorschriften, welche gegeben werden, mit Nachdruck durchführt, daß sich die Schergen derselben nicht bestechen, daß die jungen Aerzte und Polizeichefs sich selber nicht verführen lassen, sondern daß sich dem Fanatismus des Lasters ein Fanatismus der Tugend gegenüberstellt. In dieser Rücksicht wird das Meiste ver­fehlt. Die Unsittlichkeit hat nicht selten die Genugthuung, daß der strenge Richter, der in Gegenwart vieler Zeugen unerbittlich war, unter vier Augen plötzlich seinen Ton verändert. Man wähle für das Sittenbureau der Polizei nur erprobte und charakterfeste Beamte; denn Alles, was in dieser Rücksicht 57 geschehen und gewirkt werden kann, ist subjektiv. Ob die Moral bessern kann, die Religion? Ob Magdalenenstifte für Büßende ihren Zweck erreichen? Dies leztere Heilmittel ist ein Tropfen im Meere; für jenes erstere, das gewiß herrlich ist, fehlt es wie manchem neuentdeckten Naturgesetze nur an der äußern mechanischen Handhebe. Der Geistliche im Talar, ein Gebetbuch, ein Zwangsbesuch der Kirche; das sind keine passenden Handheben. Man muß tiefer wirken; namentlich aber auf die Unmöglichkeit, daß sich die materiellen Uebel der Gesellschaft in Unsittlichkeit verwandeln. Sieht man nicht, daß bei Stockungen der Maschinen in Lyon, in Manchester, das erste Hilfsmittel, welches die brodlosen Arbeiterinnen ergreifen, in der Preisgebung besteht? Geschieht in dieser Rücksicht nicht eine durchgreifende Reform unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse, so wird sich auch jenes andre Schreckbild nicht sobald in beruhigende Uebel auflösen, nämlich die vergiftenden Einflüsse des Lasters auf das physische Wohl der Generation. Ich wollte ein treues Bild der Jeztwelt liefern; aber nun noch weiter über die Gränze einer nur flüchtigen Andeutung hinauszugehen, das wolle man dem Autor erlassen, der seine Arbeit aus keiner andern Quelle schöpfen möchte, als der einer gemüthlichen Behaglichkeit.

Wir sind in das Gebiet der gesellschaftlichen Abnormitäten ge­rathen. Wir haben die Sittenlosigkeit ohne Verbrechen geschildert. Sprechen wir jezt von 58 den Verbrechen, von Recht und Gerechtigkeit, von Strafe und ihrem Maße.

Das Unrecht ist älter als das Recht. Gewalt ging selbst in den blühendsten Zeiten des Alterthums noch vor Recht; oder man wußte nicht, worein das Recht gesezt werden sollte. Die antiken Civil- und Kriminalgesetzgebungen ließen sich auf allgemeine humane Grundsätze und auf eine Gleichstellung Aller dem Gesetz gegenüber nicht ein. Ein Sklave wurde für dieselbe Freiheit, die er sich herausnahm, getödtet, für welche ein freier Mann straflos blieb oder höchstens verbannt wurde. Wenn Räuber und Mörder aus niederm Stande hingerichtet wurden, so war Mord, ging er von einem freien und wohl gar angesehenen Manne aus, nur ein Zeugniß gegen sein Herz, ein Beweis seiner Leidenschaft, eine Kränkung der öffentlichen Moral und ein Aergerniß für sie; allein an die absolute Entmenschung, wie jezt, an die Schlechtigkeit der innern Grundverfassung eines solchen vorsätzlichen Mörders glaubte man nicht, am wenigsten daran, daß er für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden müsse. Die Rache wurde den Verwandten, nicht dem Staate überlassen. Die Alten wußten, daß wenn Orestes den Aegisth und seine Mutter für den an seinem Vater begangenen Mord strafte, die Furien nicht ausbleiben würden. In allen ihren Dichtungen von tieferer Bedeutung schildern sie die Verkettungen der Göttin Ate, wie eine Schuld, die 59 andere nach sich ziehe, und drückten wenigstens negativ jene Lehre aus, die das Christenthum predigte: Die Rache sey nicht der Menschen, sondern Gottes.

Das auf die alte Welt folgende germanische Leben brachte das barbarische Recht der Wiedervergeltung, und gestehen müssen wir, diese Barbarei ist von unsern modernen Gesetzgebungen nur übertüncht worden und steht noch in bestem Ansehen. Aug um Auge, Zahn um Zahn, wenigstens soviel Kühe, als ein Auge kostet, soviel Schafe, als man für den Verlust eines Zahnes nehmen würde. Dies Vergeltungsrecht, welches durch das Christenthum gar noch das Ansehen der vikarirenden göttlichen Gerechtigkeit gewann, ist die Grundlage aller unserer Kriminalgesetzgebungen. Man hat neue Begriffe von dem groben alten Stamme abschälen und seine zarten Streifriemen zur Peitsche der Kriminalistik verknüpfen wollen; allein die Rinde ist von jenem alten Stamme der Barbarei, Aug’ um Auge, Zahn um Zahn. Die Einen strafen, um abzuschrecken; die Andern, um auszugleichen. Dies Alles ist der­selbe grausame Reiz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, der alte Rachedurst der germanischen Wälder, die Wiedervergeltung.

Eine Betrachtung der heutigen Civilgesetzgebungen, die das Mein und Dein betreffen, würde dieses der Sitte und den Sitten ge­widmete Kapitel weniger belehrend ergänzen. Die Prozesse über Besitz und Eigenthum, über Ehrenkränkung, Schulden u. s. w. sind 60 so zahlreich wie ehemals. Der Unterschied liegt nur ge­gen frühere Zeiten öfters in den Gegenständen, welche be­stritten werden. Prozesse wegen Staatspapieren gab es früher nicht. Diese häu­figen Vorkommnisse, daß das Börsenspiel mit Unter­schleif ge­trieben und die faktische Ehrlichkeit, über welche die Spieler sich vorher vereinigt haben, später bei Medio oder Ultimo doch eben so faktisch vergessen wird, sind neue Controversen der Jurisprudenz und liegen noch sehr im Argen. Wo die Juristen kein justinianëisches Beispiel citiren können, da tappen sie immer in Unge­wißheiten. Am juristischen Verstande, dieser gewaltigen Grundlage der römischen Gesetzgebung, mangelt es unsrer Zeit. Die reine Logik und Mathematik der gesellschaft­li­chen Berührungen waltet in unsern Köpfen nicht mehr mit jener bei den Römern so ungetrübten Klarheit. Uns stört die christliche Versöhnungstheorie und das Gebot der Bruderliebe, uns stört die Philanthropie, der Liberalismus mit seinen Consequenzen über historisches und Vernunftrecht, uns stören zahl­lose Rücksichten, die das Alterthum nicht zu nehmen brauchte und die es nicht einmal kannte. So haben wir zwar viele Rechtstheorien, die für unsern Scharfsinn ein vollgültiger Beleg sind, aber wenig praktische Gesetzgebungen, die, von Kennern entworfen, eine lange Dauer hätten ansprechen dürfen. Manche Gesetzbücher neu­ern Ursprungs, die öffentliche Geltung erhielten, z. B. in einigen 61 deutschen Staaten, liegen brach da; sie reichen für die vor­kommenden Fälle nicht aus und wissen das Maß von Milde und Strenge, wenn sie kriminelle Vorschriften machen, nicht auszu­gleichen. Sie ähneln dann jenen Schlössern, welche Fürsten in einem Anfall von Laune aufbauen ließen und die ihnen, da sie fertig waren, mißfielen. So liegen sie jezt unbewohnt da und dienen höchstens als Absteigequartier für eine Reise oder als Exil für eine Maitresse, deren der Fürst mit der Zeit überdrüssig geworden ist.

Diese Zerstreutheit und Unzulänglichkeit des neuern juridischen Verstandes rief das andre Extrem hervor, die Vergötterung der Vergangenheit. Man benuzte das Historische zunächst als Aushilfe, man wollte der Tradition das entnehmen, worauf die Gegenwart keine bestimmte Antwort zu geben wußte. Allein, bald kehrte sich das Verhältniß um. Das allgemeine Landesgesetz wurde Supplement und das Provinzialstatut die Regel. So geschah es auch in fast allen jenen Beziehungen, wo die Menschen zugeben mußten, daß sie organisch mit der Geschichte verwachsen sind und keine Kultur sich so aneignen konnten, wie man wohl Gemälde aus freier Hand auf eine frischgetünchte Mauer wirft. Die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit mußten unter dieser Ueberzeugung das Meiste leiden, da, wo sie sich ganz in das Alte zurückwarfen, kann man über Barbarei klagen; da, wo sie zwischen dem Alten und Neuen, 62 zwischen Himmel und Erde in der Mitte schwebten, ist es der Mangel an Consequenz, der die Achtung vor dem Gesetz und dem Leben im Staate noch mehr untergräbt, als jener nicht selten mystische Christinismus, über welchen die Einsichtsvollen lächeln müssen.

Das Prinzip der juristischen Neuerer in der Straftheorie ist: die Sicherheit. Der Verbrecher soll unschädlich gemacht werden. Dies Prinzip werde ich niemals billigen; weil es einmal voll innerer Widersprüche und zweitens inhuman ist. Der Widerspruch ist dieser: Soll ein Verbrecher unschädlich gemacht werden, so gibt es zwischen dem Todtschläger und dem Leichtsinnigen, der das Mausen nicht lassen kann, keinen Unterschied. Ihr wollt beide unschädlich machen und müßtet sie auf ewige Zeiten in das Gefängniß einschließen. Wäre die Milde gegen den Todtschläger weise, so wäre sie gegen den unverbesserlichen Hühner- und Gänsedieb ungerecht. Was ist das Unumgängliche? Der Begriff von Strafe. Dies Gefühl der Gesellschaft, welches ganz dem moralischen Gefühl des Einzelnen entspricht, abgesehen von Abschreckung, Rache und dergleichen Einmischungen anderweitiger Zwecke scheint doch in der Menschenbrust eine tiefe Geltung zu haben. Strafe müsse seyn; das läßt sich in dem bei uns nachhallenden Echo jedes fremden Verbrechens nicht ausrotten. Und nur darin liegt die große Controverse unsrer heutigen Debatten über Strafe und Strafmaß, daß man dies Gefühl der 63 Strafnothwendigkeit soviel wie möglich von Barbarismus, von mechanischer Zweckbestimmung und ähnlichen Zuthaten lauter erhält, daß man den rein juristischen Gesichtspunkt der Strafe von dem moralischen überwinden ließe. Der moralische Gesichtspunkt der Strafe ist aber die Besserung, und aus diesem ergab sich, daß man aufhörte, über das Maß der Strafe zu sprechen und sich weit mehr mit den sie begleitenden Nebenumständen beschäftigte, namentlich mit den Gefängnissen.

Die neuere Philosophie (wo man aber nicht so sehr an Bentham, als im Gegentheil an Berkeley denken muß) hat den Grundsatz der Wiedervergeltung in einen sanfteren und tiefer be­gründet scheinenden ausgeglättet, in den der Ausgleichung. Ich weiß diese Lehre, welche heutzutage für die geistreiche gilt, nicht anders zu bezeichnen, als durch Bilder. Man denke sich die Fülle des moralischen Lebens einer Nation im Bilde des Meeres. Jede aufschlagende Welle, die ein Verbrechen bedeutet, wird eben so tief stürzen, als sie sich erhoben hat. Für jeden Wellenberg eines Verbrechens soll es auch ein Wellenthal der Strafe geben. Oder wenn man sich die Vorstellung zurückruft, welche die katholische Kirche von der Fülle der guten Werke hat, so soll gleichsam auch in dem moralischen Volksleben ein gewisses Quantum Tugend produzirt werden, wo nun jede Störung dieser Produktion, also jedes Verbrechen, seine mathematische Strafbestimmung 64 schon in sich selber trüge, wo jedes Verbrechen mit der zu liefernden Tugendmasse in Abrechnung gebracht werden müßte. Versteht man das Rauschen dieses neuern Erkenntnißbaumes nicht, so erkennt man ihn an seinen Früchten! Sie sind bitter, streng und herbe. Sie bestehen in außerordentlichen Strafen und besonders in beibehaltenen Todesstrafen. Man will hier gleichsam der Tugend einen um so größern Lohn geben, je mehr man das Laster bestraft. Man fürchtet sich, auf der Liebe zu den Sündern ertappt zu werden. Man will einen gewissen Heroismus des Herzens zeigen und die Naturnothwendigkeit, die allerdings sehr herb ist, wenn man seine moralische Freiheit nicht zu benützen versteht, im Menschlichen ebenso wiedergeben. Diese strenge Philosophie ist von außerordentlichen Geistesgaben unterstüzt worden; allein Gemüth, Empfindung, ächte Humanität hat sie nicht. Laßt euch von ihrem Witze und Scharfsinn nicht einschüchtern, sondern gesteht offen, daß ihr zittert, wenn ihr wißt, daß um diese und diese Stunde ein Mörder hingerichtet wird; schämt euch der Sanftmuth Eures Herzens nicht und folgt selbst in dem Drange, eine Meinung fassen zu müssen, lieber der Eingebung eures Gemüths als der Vorspiegelung einer philosophischen Theorie, in welcher die Caraiben auch nicht bloße Men­schenfresser sind, sondern durch gewisse idealische Hokus Pokus in der Wahl ihrer Speisen ordentlich entschuldigt werden.

65 Weit klarer noch wird diese neue, so geistreiche und so gefühllose Dialektik werden, wenn wir hier einige Stellen aus einem Angriffe gegen die neuen Besserungsanstalten für Verbrecher, gegen diese herrlichen Blüthen der Philanthropie, hersetzen. Sie rühren von einem Franzosen her, der noch dazu das Christenthum beschwört, um seine grausame Theorie als religiös hinzustellen. Wer sollte dies von einem Franzosen erwarten! Aber die Dinge und die Menschen haben seit dreißig Jahren in Europa einen gewaltigen Umschwung bekommen. Die frommen Deutschen werden frivol und die frivolen Franzosen andächtig.

„Die Sträflinge, schreibt Granier von Cassagnac, ein fran­zösischer Autor von heute; welche im Allgemeinen ein Gegenstand der Furcht und des Schreckens für alle Völker waren, sehen sich auf einmal von Mitleiden und Großmuth umgeben. Statt der hergebrachten, alten und allgemein verbreiteten Ansicht, welche sie als Verdammte behandelte und sie in Schande und Elend sterben ließ, hat sich eine andere neue, erbarmungsreiche, philanthropische gebildet, welche sie beinahe wie Leute betrachtet, die bloß an Kopf und Herz leiden, deren Krankheit aber nicht unheilbar ist und die sie vermittelst eines Systems moralischer Heilkunde wieder herzustellen gedenkt. Aus dieser Pathologie der Empfindungen und Ideen der Sträflinge bestehen die jetzigen Strafsysteme. Schon 66 an sich selber erscheint uns diese philanthropische Bewegung, dieser religiöse Glaube, die Strafbaren zu bessern, dieser Gedanke, für die Gesellschaft auch diejenigen brauchbar zu machen, die sich durch ihre eigene Schuld ihr entfremdet haben, als ein reeller Fortschritt, als ein Sieg der Ordnung über die Unordnung, als ein Triumph der höchsten Bildung über das blinde Chaos und das brutale Durcheinander der Geschichte. Wer aber wundert sich nicht, wenn er die Theologen, die Philanthropen und Philosophen sieht, welche die Urheber aller Versuche für die Verbesserung der Strafanstalten sind, wie sie in ihren Vereinen und in ihren Werken sich vorbereiten, die Prinzipien des Christenthums in Ausübung zu bringen, sie, die ihm so oft Fußtritte gegeben und es in das abgeschlossene Allerheiligste verwiesen, als eine für die Interessen dieser Welt fremde Lehre, die eine spekulative Untersuchung nicht aushalten und der praktischen Vernunft nichts nützen könne. So hat diese den Dingen dieser Welt fremde Doktrine, das Christenthum, doch also die bürgerliche Gesetzgebung organisirt.“

„Wir wollen hiemit keineswegs den atheistischen Philanthropen unseres Jahrhunderts es zum Vorwurf machen, daß sie die Institutionen des Christenthums kopirten, worüber ihre Vorgänger im vorigen Jahrhundert, ohne das erste Wort ihrer Geschichte zu verstehen, so übel zu sprechen waren; wir möchten vielmehr, wenn es logisch wäre, es ihnen zum Vorwurf 67 machen, daß sie dieselben so spät kopirten; sondern wir wollen auf zwei Umstände aufmerksam machen, welche die Begründer der Moral nach dem Naturgesetze gern sich verhehlen, sich zum Besten ihrer Systeme verhehlen möchten: der erste ist, daß an allen den schönen philanthropischen Entdeckungen, welche unsere Akademien mit einer großen Tugendprahlerei krönen, wenig Neues ist. Der selige Herr von Tracy hat sein ganzes Leben, ein sehr langes und vielfach beschäftigtes, als Ideolog und Moralist zugebracht, um die Abschaffung der Todesstrafe, als von der Natur gefordert, zu beweisen. O wenn doch nur Herr von Tracy, der mehr an Condillac, als an Jesus Christus geglaubt hat, sich die Mühe gegeben hätte, das kanonische Recht aufzuschlagen, so würde er den alten Rechtsgrundsatz des christlichen Kriminalverfahrens: Ecclesia abhorret a sanguine, gefunden und eingesehen haben, daß die Kirche beständig die Entdeckung ausgeübt habe, der er größtentheils seinen politischen Ruf zu verdanken hatte.“

„Die zweite Bemerkung, welche man den Systemen unsrer Phi­lanthropen machen kann, deren gute Absicht keineswegs in Zweifel gezogen werden soll, besteht darin, daß sie immer die eine Hälfte der christlichen Institutionen zur Verbesserung der Sträflinge kopiren, während doch die andere, welche sie vernachläßigen, sicher ohne es zu wissen, bedeutend wichtiger als jene ist. Es ist löblich, einem Manne die Ehre 68 wieder zu geben, der sie verloren hat; aber es würde noch weit schöner seyn, wenn man ihn überhaupt verhinderte, sie zu verlieren. Die Gesundheit ist auch dem tüchtigsten Arzte von der Welt vorzuziehen, und haben ist – wie das Sprichwort sagt – besser als hoffen. Das Christenthum empfand Mitleiden und ganz besonders mit den Tugendhaften: es suchte das Verbrechen zu heben und zu beseitigen, aber es gab sich noch mehr Mühe, es abzuhalten.“

Nun läßt der Gegner der Philanthropie allerdings einige gute Bemerkungen fallen über die Arbeit, als Gegengift und Preventive der Verbrechen. Allein welche Sophistik! Sind die Verbrechen nicht da? Sollen sie aufhören, unsere Theilnahme zu verdienen, weil wir früher versäumt haben, ihnen durch Verhütung der Armuth und des moralischen Elends zuvorzukommen? Die Apologie des Christenthums ist recht schön; aber, was soll sie hier? Wenn die Philanthropie nicht aus dem Christenthum zunächst hervorging, hat sie darum weniger lautre, gefühlvolle und edle Quellen? Unser verkappter Jesuit behauptete dies. Er sagt: „Es war eine große und göttliche Weise des Christenthums, die Menschen gehen zu lehren und nach dem Falle wieder aufzurichten. Wie viele wären nicht gefallen, wenn man sie aufrecht gehalten hätte! Wenigstens hatte das Christenthum, wenn es sich an einen Schuldigen wandte, die Fassung desjenigen, der ein Recht hat, sich zu beklagen, und der um so 69 großmüthiger ist, wenn er Verzeihung gewährt. Es gab dem Schuldigen, den Hunger des Leibes und der Seele zu stillen; es nahm ihn in Schutz gegen seine Feinde; es sicherte ihn vor Hitze und Kälte; es gab ihm Alles, was man in seiner Lage bedarf, um zufrieden zu leben und beruhigt zu sterben und forderte als Ersatz für alle diese Sorgfalt nur Arbeit, Arbeit, die Lebensbedingung aller Wesen, die Gott nicht nur den Menschen, sondern auch den Sachen auferlegt hat, und die keine Kreatur mit Ausnahme des Menschen von der Ameise, welche auf dem Rücken eines Halmes geht, bis zum Planeten, der seine Bahn durchwandelt, jemals Gott verweigert hat. Das Christenthum konnte so den Schuldigen offen ins Auge blicken und ihnen befehlen, sich auf die Brust zu schlagen; was aber haben wir, die philosophische und philanthropische Societät, zur Verbesserung derjenigen gethan, die uns ihre Verbrechen zum Vorwurf machen?“

„Es gibt wenige Strafbare unter denen, welche wir verurtheilen, die uns nicht ihrerseits auch verurtheilen, ja nach unsern eigenen Grundsätzen verdammen könnten. Eure Gesellschaft ist, so könnten sie uns einwenden, oft ungerecht und barbarisch gegen uns. Sie beklagt sich über unsre bösen Vergnügungen, thut aber nichts, um uns bessere zu geben. Sie hat für uns weder Schulen, noch Bauplätze, weder Schulen zur Bereicherung unseres Herzens, noch Bauplätze zur Beschäftigung unsrer Hände. Sie läßt uns wie Thiere 70 zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und son­derbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. – Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Institutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philan­thropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern, 71 das Christenthum aber suchte die Mündung zu verstopfen. Das Christenthum erfreute sich eines Erfolges; werden die Philanthropen dasselbe von sich sagen können?“

Ich weiß es nicht; aber sagen sollte ihnen auch dieser versteckte Jesuit, wo denn das Christenthum die schöne Arbeit, von der er immer spricht, hergenommen hat? Das Christenthum schuf doch die Bauplätze nicht, sondern ermunterte nur, hinzugehen und Hand anzulegen und sein Brod im Schweiß des Angesichts zu essen. Bestärkt etwa die Philanthropie den Müßiggang? Sie wäre gewiß froh, wenn die Nationalökonomen ihr das Geschäft, Räuber und Mörder zu bessern, erleichterten und durch die Gelegenheit, gute Verdienste zu haben, Räuber und Mörder, wie unser Jesuit für möglich hält, gar nicht entstehen ließen. Wenn es nicht soviel hochweise Neuerungen gäbe, die da glauben, die Philanthropie und den Liberalismus lächerlich machen zu können, weil sie mehr Geist, als diese, die manchmal nur Gefühl haben, besitzen; so mögen die Entwickelungen des französischen Doktrinärs hier weiter fortfahren. Man höre folgende Sophismen: „Sonderbar und auffallend an dieser Manie unsrer Zeit bleibt es, daß ernste Männer, wie die Herren de Beaumont und de Tocqueville, welche zu diesem Behufe sich nach den vereinigten Staaten begaben und ein Buch darüber schrieben, denen es also nicht an der Zeit fehlte, um 72 nachzudenken, Euch, um euer Mitleiden zu erwecken, mit einer rührenden Naivität sagen können, daß man mit sehr geringen Kosten, mit fast gar keinen, mit 593 Fr. z. B. eine Zelle zur Beherbergung und Verbesserung eines Diebes bauen könnte. Warum hat keiner diesen Herrn geantwortet, daß man mit einem Kapital von 593 Fr., wenn man’s gut anwendet, leicht vier Menschen von der Nothwendigkeit, Diebe zu werden, abhalten könnte; daß wenn man nur die halbe Mühe und das halbe Geld, was man auf die Organisation der Gefängnisse verwendet, auf die Beschäftigung ehrlicher Handwerker verwenden würde, nur wenigstens fünfzehn Strafbare auf zwanzig fallen würden, daß wenn man die Suppe von fünfzehn Millionen armer Bauern, die keine haben, untersuchen ließ, weit weniger Muthlosigkeit, weniger Elend, weniger Kandidaten des Assisenhofes sich vorfinden würden, daß wenn man statt einer Gesellschaft, um den Gefangenen Recht zu verschaffen, eine zur Unterstützung der Mütter errichten würde, die ihre Töchter verkaufen, zur Beihilfe der Väter, welche mit zugedrückten Augen den ersten Diebstahl ihrer Söhne empfangen, die Hälfte der Gefängnisse und die Hälfte der Freudenhäuser in zehn Jahren zu vermiethen seyn würden; daß wenn man, anstatt aus schönen Steinen Thürme zu bauen, um Schuldige königlich zu behausen, anstatt über alle Maßen dafür zu sorgen, daß sie im Winter nicht frieren, im Sommer nicht schwitzen, 73 daß sie sich immer behaglich fühlen; daß wenn man anstatt des lächerlichen Luxus von Inspektoren, die doch nichts inspiciren, die ungeheuren Summen, welche die jährlichen Ausgaben erfordern, zur unentgeldlichen und regelmäßigen Erziehung der Kinder der ärmeren Klassen verbrauchte, um sie früh zur Arbeit anzuhalten, um die industriellen Beschäftigungen in Corporationen auf gemeinschaftlichen Gewinn, mit gemeinschaft­licher Kasse, Verfassung, Polizei und Zukunft, auf diese Weise die Arbeit zu ordnen, eine gute Verwaltung über die Löhnung zu begründen, um Sparkassen mit mäßigen Beiträgen einzurichten, um jedem Arbeiter eine verhältnißmäßige Ersparniß zu erhalten, die Strafreform weit besser und weit nachhaltiger verhandelt werden würde, weil sie gar nicht vorkommen würde.“

„In der That, man muß sehr kurzsichtig seyn, wenn man nicht einsieht, daß die Verbesserung der Strafanstalten eine beinah un­fruchtbare Arbeit ist, von der man sich keine erfreulichen Resultate versprechen darf; denn wir werden keine guten Strafsysteme erhalten, wenn man nur die bereits strafbaren Individuen ver­bessern will. Die neuen Strafsysteme beschäftigen sich mit den Gefängnissen, wo die Verbrechen gebüßt werden, anstatt mit der Gesellschaft, wo sie begangen werden; die neuen Strafsysteme wollen nur die Wirkungen des Verbrechens aufheben, statt ihre Ursachen zu vernichten.“

74 „Ihr glaubt, der Gesellschaft, da ihr sie nicht von neuen Verbrechern, die tagtäglich wieder kommen, befreien könnt, wenigstens dadurch einen großen Dienst zu erweisen, daß ihr es ver­hindert, daß die alten Verbrecher mit ihren frühern Leiden­schaf­ten zu ihr zurückkehren. Das würde ohne allen Zweifel ein großes Verdienst seyn, wenn auch nicht so groß als ihr es glaubt, wenn es nur in eurer Macht stände, dieses Wunder zu erwirken. Werden eure Verbrecher, nachdem sie, gereinigt vom Schmutze, voll ab­strak­ter Lehren in den vier Kerkerwänden, auch, wenn sie dieselben verlassen und wieder in die Gesellschaft eintreten, nicht wieder zurückfallen, werden sie sich nicht von den frühern Ursachen bestimmen lassen? Sie sind heut, wendet ihr ein, besser als früher; ohne Zweifel; aber sie waren weit besser, bevor sie zu Verbrechern wurden, und ihr glaubet, daß eine wiederhergestellte Tugend länger als eine angeborne vorhalten wird? Die Sträflinge, welche man in den Gefängnissen verbessert, sind wie Kranke, die ihr aus einer ungesunden Stadt schafft, aber nach hergestellter Ge­sundheit wieder dahin zurückbringt. Hebet, wie gesagt, die Ursachen auf, welche die Verbrechen herbeiführen; so lange jene beste­hen, werden neue Strafverbesserungen fruchtlos bleiben.“

„Die Liebe, man kann sagen, die Leidenschaft für Kerker nimmt über alle Vorstellung zu, und um die Sache nur von materiellem Gesichtspunkte aus zu 75 betrachten, von wo aus der ungebil­de­te Haufe sie ansieht, gewährt es in diesem Augenblick unter gewis­sen Verhältnissen mehr Vortheile, ein Dieb, als ein ehrlicher Mann zu seyn. Mehr als zehn Millionen Landleute und Kranke in Frankreich wünschten so logirt, gekleidet und gepflegt wie Mörder und Falschmünzer zu seyn. Schon sehen wir arme ehrliche Leute Ver­brechen begehen, um in den Kerker gebracht zu werden. Das Verbre­chen entehrt, aber nährt sie. Unter der Restauration hatten wir schon eigene philosophische und philanthropische Gesellschaften, welche von Kerker zu Kerker die Beschwerden sammelten; jezt ha­ben wir schon weit mehr, wir haben Inspektoren, die das Land be­reisen, um die Suppen der Gefangenen zu kosten und zu sehen, ob ihre Kleider in gutem Stande und ob ihre Wohnung bequem sey.“

„Wahrlich, unsere Philanthropen erfassen unsere gesellschaftlichen Fragen an der verkehrten Seite. Die Unordnung hat für sie mehr Interesse, als die Ordnung und das Gefängniß steht ihnen höher, als das Atelier. Es sind Männer, die mit philosophischer Mie­ne es ansehen, wenn eure Glieder zerschmettert werden, um des Vergnügens willen, sie wieder in Ordnung zu bringen. Sie wer­den anstehen, wenn sie sechs Franks zu einem industriellen Unternehmen, das euch beschäftigen und ernähren kann, beitragen sollen; aber sich auf der Stelle bereit finden, 593 Fr. für 76 einen Bau zu zahlen, worin euch das Verbrechen vom Hunger befreit. Das sind die Philanthropen!“

„Bei alle dem haben sie die öffentliche Meinung für sich, die Akademien bekrönen sie. Thoren, die wir sind, die wir immer einen Zeitvertreib, ein Spiel haben müssen! Während der Restauration waren es die Griechen; die Subscription für dieselben würde mehr als tausend Dörfer Frankreichs, die vor Hunger schmachteten, beschäftigt haben. Seit der Revolution von 1830 waren es die Polen, wir nahmen den innigsten Antheil an Litthauen und kümmerten uns nicht um Bretagne, Auvergne, Landes, die weit mehr zu beklagen sind und uns weit mehr angehen. Nach den Polen waren es die Sklaven; jezt sind es die Diebe. Wann endlich kommen die Handwerker und Armen an die Reihe! Sicher, es ist an der Zeit.“

Bis hieher der Sophist. Mit solchen Trugschlüssen will man die edelsten Bestrebungen einschüchtern. Die indifferente Menge lacht über die dialektischen Fußangeln, in welchen sich die Humanität verfängt, über den Witz und Geist, welchen man dieser um so mehr sich ausdehnenden Schule nicht absprechen kann, als wir die Philanthropie und den Liberalismus nicht immer von den ausgezeichnetsten Geistesgaben unterstüzt sehen. Selten, daß der Herzensgüte und der adeligen Gesinnung auch zugleich ein feiner und scharfsinniger Geist zugesellt ist. Die Tugend steht ohne Schutz da und wird vor der Frivolität des lasterhaften 77 Esprit sich mit keinen Waffen vertheidigen können. Diese Konsequenzen und Winkelzüge, wie wir hier eben ein Beispiel geliefert haben, sind die rechte Frivolität unsres Jahrhunderts, so verschieden von der des vergangenen. Jene altfränkische Frivolität riß ein und zerstörte nur durch ihren Witz. Die moderne aber gibt sich den Schein, aufzubauen, den Schein des Dogmas ohne den Glauben daran, den Schein der historischen Begründung, des Kampfes gegen die nüchterne Aufklärung ohne Rath, Willen, Meinung, ohne eine den positiven Verhältnissen, in welchen wir leben, irgend wie zugebrachte faktische Hilfe. In der Doktrine liegt die Frivolität; denn frivol ist Alles, was zu nichtigen Zwecken und zu Täuschungen einen Aufwand geistiger Kräfte verbraucht; frivol ist der Mysticismus, wenn er auf eine bloße gemüthliche Behaglichkeit und eine halsstarrige Opposition gegen die Fortschritte des Jahrhunderts begründet ist; frivol ist das Mittelalter, welches ohne Fug und Grund wieder eingesezt werden soll; frivol ist der politische Absolutismus, der sich auf die Theorie der Legitimität und göttlichen Einsetzung beruft; frivol ist alle unüberlegte Geistesentwickelung, wenn sie nicht durch die Gesinnung unserer Zeit und durch das Streben nach wahrhafter Humanität gemildert und näher bestimmt wird.

Wer möchte in Abrede stellen, daß es besser wäre, die Verbrecher entstünden gar nicht, als daß wir uns nachher die Mühe gä­ben, sie zu verbessern, zur Reue 78 zu führen, ihre Lage zu er­leichtern, und der Gesellschaft wiederzugeben? Wer möchte nicht mit unserm Sophisten wünschen, daß sich das Arbeitskapital ver­mehre und bessre Zinsen trüge in Betreff der Sitten? Allein wir werden den Trugschluß bald durchschauen, wenn wir uns die Lage der Menschheit, wie sie einmal gegeben ist, vergegenwärtigen. Das Streben, die Gesellschaft durch die Hebel der Sitte und Tugend, durch die Hebel der Religion zu steigern, ist da. Die Schwie­rigkeit liegt nur in der Art und Weise, wie man dem Hebel die ganze Kraft und Wirkung, die in ihm liegt, geben soll. Wo soll man ihn ansetzen? Wir sehen ein wildes wüstes Meer von Leben und Geschichte vor uns auf- und abwogen; wir sehen die Tugenden und die Laster, den Geschmack und die Mode, die Kämpfe der Wahrheit und der Lüge; wir haben eine volle und gesättigte Anschauung des Ganzen; allein rathen, helfen, bessern, das ist schwer. Ihr doktrinären Spötter (denn was ist eure Rede anders als Spott!), ihr sagt: Gebt dem Christenthume Geltung! Kommt den Verbrechen durch Belebung und Nationalwohlfahrt zuvor; sezt die Ehrfurcht vor dem Alter der Menschen und der Institutionen wieder ein! Die Vorschriften sind leicht gegeben. Man führt auch das Christenthum so ein, man belebt so die Nationalwohlfahrt, man gibt so dem Alter die Ehrfurcht wieder! Dies Organisiren der Gesellschaft, dies Beschwören der Natur und der sich selbst entwickelnden 79 Potenzen der Geschichte – da stelle man nur Windfahnen hin; der Wind wird sich auch gleich darnach richten und so wehen, wie es die Fahne haben will. Wahrlich, es ist nichts leichter, als das vergebliche Mühen äußerer und unorganischer Hilfsmittel, um auf diesen oder jenen moralischen Zustand einzuwirken, lächerlich machen; allein das ganze Weltmeer anbieten, wo nur ein Kanal nöthig ist, um verfaultem Gewässer Luft zu machen; die Sterne und die Sonne vom Firmament nehmen, um den von der guten Philanthropie mit einer Laterne gemachten Versuch irgend einer Aufklärung lächerlich zu finden; das nimmt sich zwar im Munde guter Stylisten vortrefflich aus; hat aber gar keinen Werth und führt die Menschen nur dahin, daß sie nichts thun und alles auf die breiten Schultern der Zeit werfen. So ist auch leicht gesagt: Wollt ihr die Verbrecher bessern, so nehmt die Ursachen, die sie dazu machten, weg! Die Hauptsache ist nur die: Wie kommen wir dem ungeheuern gesellschaftlichen Körper bei? Dürfen wir in die Masse hineingreifen und sagen: hier wird etwas umschlagen, da wird etwas zum Verbrechen werden! Ich frage: Wie sollen wir die Reformation aus dem Ganzen und Großen beginnen und ganzen Richtungen des Zeitgeistes einen neuen Charakter geben? Dies ist unmöglich. Dies ist ewig eine Aufgabe, für welche Menschen keine Lösung haben. Was können wir thun? Wir können diejenigen Erscheinungen nur hervorgreifen, 80 welche ihre bestimmte fertige Gesichtsbildung haben. Wir ahnen eine Verirrung der Begriffe und der Leidenschaften in der Gesellschaft, die kein gutes Ende nehmen kann; allein, helfen, rathen dürfen wir erst in dem Augenblicke, wo der Bruch mit der moralischen Ordnung offen zu Tage liegt. Eine unge­heure Revolution würde diese Zustände, die aus Lüge, Irrthum und Thorheit zusammengesezt sind, von Grund aus verbessern; allein liegt sie in der Macht, liegt sie in dem Wunsch des fühlenden Menschenfreundes? Ach, sie ist ein Schreckbild für Alle, sie ist verabscheut, selbst wenn wir wüßten, daß sie das einzige Heilmittel der unheilbaren Krankheit wäre. So bleibt uns nichts übrig, als von der Gesellschaft das zu nehmen, was sich absondern läßt und sich selbst absondert und es nach Grundsätzen der Humanität zu behandeln. Die Jugend läßt sich trennen von der Gesellschaft, sie läßt sich für das Edle und Schöne bilden. Das Weib läßt sich trennen; seine Bildung wird die Sitten mildern und die Rechte des Gemüthes aufrecht erhalten. Das religiöse Bedürfniß läßt sich trennen; denn gerade dies strebt nach Isolirung; die Geistlichkeit möge versuchen, es zu befriedigen. Die Kranken, die am Körper Leidenden können wir absondern, ihre Schmerzen lindern, ihre Herzen mildern; endlich können wir aber nur noch den Bodensatz der Gesellschaft von ihren eigenen trüben Gährungen sondern, das offenbare, eingestandene, überführte und der Strafe überlieferte 81 Verbrechen. Wir wissen, daß unsre philanthropischen Bemühungen zur Verbesserung der Gefängnisse und ihrer Bewohner, zur Rettung ihrer Angehörigen und wenigstens zum Schutze der Verbrecher vor gänzlicher Verwilde­rung, nur die Heilungsanwendung auf ein Symptom der Krankheiten des gesellschaftlichen Körpers ist; allein, sagt uns den Sitz des Uebels; nennt uns, wenn ihr ihn zeigen könnt, die Mittel, ihm beizukommen; nennt uns die Mittel, um in mechanischen Zeiten organische Versuche mit den Menschen anzustellen! Utopien liegt bei denen, welche darüber lachen, daß wir kaum ein Viertel der Erfolge erringen, nach denen wir uns sehnen; lachen, daß wir einen Sumpf durch frisches Wasser, das wir hineintragen, wenigstens etwas zu reinigen vermögen wollen. Traurig genug, daß die Gesellschaft erst dann den Reformen zugänglich ist, wenn ihre Mitglieder bereits den Gesetzen verfallen sind.

Man muß es England nachsagen, daß es unfähig ist, aus seinem Schooße Sophismen, wie die hier widerlegten, zu gebären. Nur Länder, die nie eine wahre Freiheit genossen haben, Frankreich und Deutschland, scheinen bestimmt zu seyn, solche Grillen, die nur aus stickiger Luft entstehen oder aus einem unverant­wortlichen Hange zum Servilismus, zu fangen. In der Nacht den Mond zu haben und ihn anzubellen, daß es nicht die Sonne ist; sein Besitzthum gering zu schätzen gegen das, was man erwerben 82 könnte; die Pforte der Wahrheit offen zu sehen, sie zuzuwerfen und über die Mauer zu steigen; dessen können nur Nationen fähig seyn, die sich nicht im Vollgenuß ihrer Kraft befinden, die ihre Mittel nicht an die rechte Stelle zu legen wissen, sie aufsparen und dann leichtsinnig vergeuden; Nationen, die sich ihren Mangel an Muth und Aufrichtigkeit als eine Tugend auslegen. Da wo die Freiheit der Discussion in unnatürliche Fesseln gelegt ist (ist Frankreich frei? frei von sich selbst? frei von seinen Phrasen und seiner Zwecklosigkeit?); überall, wo es keinen gesunden Abzug für den Dampf der Köpfe gibt, reine Schornsteine unbestrittener Institutionen möchte man fast sagen, da werden sich die thatlosen Kräfte im Uebermaß sammeln, mit sich selbst in Widerspruch gerathen und einen Kampf beginnen, wo von den Begriffen Vater, Mutter und Söhne sich wechselseitig zerfleischen. Hat eine solche Nation noch Phantasie, wie in Deutschland, oder Esprit, wie in Frankreich, so wird man die Sophismen in den verlockendsten Gewändern auftreten sehen; sie werden sich den Schein eines Systems geben, während sie doch nur aus dem Chaos der Gesinnungslosigkeit geboren wurden. In England beschäftigt die Sorge für die Gefangenen zahlreiche Menschenfreunde, auf welche Howards Geist sich vererbte. Neild wirkte durch die That, Buxton durch Rede und Schrift für die Frage, ob Gefängnisse ein Ort der Verhärtung und der gänzlichen 83 Verwilderung der Verbrecher oder einer möglichen Besserung wer­den sollten. Ihr Beispiel fand Nachahmung auf dem Continente, ob man sich gleich noch nicht für ein bestimmtes Bausystem der Gefängnißhäuser hat vereinigen können und noch immer zwischen den zwei nordamerikanischen Systemen, der Einigung und der Absonderung der Verbrecher, ungewiß geblieben ist. Die Aufhebung der Galeerenkette in Frankreich ist eine Wegnahme öffentlichen Aergernisses. Der Galeerensklave, welcher die Blicke der Welt aushalten will, muß frech seyn. Sezt man ihn diesen nicht mehr aus; wie viel leichter wird ihm werden, in sein Inneres einzukehren! Ein so gebesserter Galeerensklave jedoch, wie Trenmor in dem neuen französischen Romane, ist freilich eine Fiktion, eine Preisaufgabe, die die Philanthropie schwerlich gewinnen wird.

Das Gift, welches Europa absezte, hat man nach Australien verpflanzt. Nach Amerika die Verbrecher zu verpflanzen, war fürchterlich; denn in Gemeinwesen, wo sich selbst schon Wunden offenbarten, den Eiter Europas zu tröpfeln, mußte die Wunde gefährlicher und die Verbrecher unverbesserlich machen. Der gesunden Haut der Südseeinseln schadete die Ansteckung nichts. Der Gedanke ist schreckhaft genug, wie in den Verbrecherkolonien der Wechselverfälscher dem Mörder, der Falschmünzer dem Diebe begegnet; wie Verbrechen das Band sind, welches diese Gesellschaft 84 umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und den­noch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem ge­werblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung blei­chen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbre­cher­kolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfen­heit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd’ er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Insel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit 85 brachten. Das Gefühl der Verachtung, welches der Ehrliche beim Anblick eines Elenden empfindet, wird er nie unterdrücken können; aber die Vernunft schon, wenn nicht das Gefühl, soll ihn bestimmen, diese Verachtung nicht bis zur Grausamkeit zu steigern. Man soll den Muth, einen schlechten Keim, der aus dem Stamm der Gesellschaft sproßte, zu ersticken, selbst dann nicht verlieren, wenn man die Bosheit aufs tiefste eingewurzelt findet und wie ein Irrenarzt für seinen Eifer, zu helfen, nur gerade den wüthenden Angriff der Wahnsinnigen ernten sollte.

Es gibt nun freilich eine andere Gedankenreihe, wo England Ursache hat, in den Hintergrund zu treten. Dies ist theils die drakonische Strenge unsrer Kriminalgesetzgebung, theils der Buchstabengeist, der in ihr herrscht. Bei uns hat man die Gesetze theils furchtbar machen wollen, theils sie durch den Buchstabengeist derselben von menschlichen Erklärungen und Ausdeutungen be­frei­en. Sie sollten sich den individuellen Ansichten der Richter nicht anschmiegen, sie sollten, frei von aller Elastizität, eine starre, unbeugsame Nothwendigkeit vorstellen. Was hier auf der einen Seite gewonnen ward, ging auf der andern verloren. Unsre Justizpflege, wenn sie über manche Verbrechen kein Urtheil fällen zu können vorgibt, weil für sie kein Gesetz vorhanden ist, artet in Unsinn und eine gefährliche Spielerei aus. Auf der einen Seite der fast barocke Buchstabengeist dieser Vorschriften, 86 und auf der andern ihre unerbittliche Strenge, ihr außerordentlich ge­stei­gertes Strafmaß – wer möchte da noch glauben, daß die Ausgleichung der Strafe und der Verbrechen etwas Naturgemäßes ist, eine Nachbildung der göttlichen Gerechtigkeit, eine organische Nothwendigkeit? Wer möchte diese Gesetze nicht für eine eigensinnige Tyrannei halten, für die Laune eines Despoten, der statt durch Humanität die Menschen zu mildern, sie gerade durch seine strengen und grausamen Capricen, wenn nicht verwildert, doch verwirrt und aus dem Zusammenhang ihrer Handlungen mit den Institutionen die Gerechtigkeit herausscheucht? Glücklicherweise ist die Jury, soviel Mängel sie hat, ein Ausgleichungsmittel der Natur mit der Unnatur, der Freiheit mit der Nothwendigkeit. Sie stellt, da sie aus dem freien und unbestochenen Volksgeiste hervorgeht, das Gleichgewicht zwischen dem schöpferischen Geist der Thatsachen und dem starren Buchstaben der Gesetze wieder her. Sie schüzt uns vor der konsequenten Anwendung einer Gesetzgebung, die ein Conglomerat der Ueberreste aller vergangenen Jahrhunderte ist, die von keinem durchgreifenden einigen Prinzipe belebt wird, und eben darin die größte Uner­träg­lichkeit enthält, daß sie in ihren Launen nicht einmal konsequent ist, sondern grausam durch Zufall, grausam ohne Prinzip.

Ich habe oft gedacht, ob es nicht eine weise Einrichtung jenes Geistes ist, der in unsern Schicksalen 87 waltet, und Völkern und Ländern das Maß ihrer Besitzthümer und Entbehrungen zumißt, daß gerade England, das einzige Land, wo in Europa wahre politische Freiheit herrscht, eine Gesetzgebung besitzen muß, die weit hinter den Fortschritten, die seit Jahrhunderten der menschliche Geist gemacht hat, zurück ist. Sollen Wohlthaten und Mängel sich die Wage halten? Soll England in dem Einen zeigen, was Europa zu erstreben und in dem Andern, was es zu vermeiden hat? Indessen würde diese göttliche Veranstaltung sich auf historischem Wege bald erklären lassen. Dieselben Umstände, welche bei uns der Entwickelung der bürgerlichen Freiheit so günstig waren, hinderten die Ausbildung und Einführung allgemein mensch­licher Prinzipien in die Civil- und Kriminalgesetzgebung. Die Freiheit Englands ist eine faktische, eine historische. Volk, König, Parlament (ist ein bekannter Ausspruch) haben alle ihre Rechte und Privilegien und Uebergewichte, ohne daß es dafür Grenzen gäbe. Die Freiheit Englands rang sich aus den Widerwärtigkeiten und Schicksalsstürmen der englischen Geschichte hervor. Sie war zum großen Theil Recht des Stärkern, sie war die schleunige Benutzung der günstigen Umstände, namentlich des Dynastienwechsels, sie war weit mehr die Folge des Handels und der Religionsverbesserung (Kirchenverbesserung kann man leider nicht sagen), als der Sieg allgemein rechtlicher Prinzipien und humaner Uebereinkünfte. Ja es ist fast, als 88 wenn die Gewaltthätigkeit, die im englischen Charakter liegt, einen Abfluß finden mußte. Verlor sie sich aus den politischen Beziehungen, so mußte sie sich da erhalten und häufen sogar, wo die Freiheit verscherzt war, nämlich verscherzt durch Verbrechen. Nicht, daß mit Absicht die Strenge unserer Kriminalgesetze erhöht wurde, daß sich die Todtenrichter in weißen Mänteln hinsezten und an jedes Verbrechen ein Blutzeichen malten, sondern die alte Barbarei erhielt sich nur. Die alten Mißbräuche wurden in einem Gebiete, wo nur die Elenden darunter zu leiden hatten, unverbessert gelassen. Wer sich um sein Recht als Bürger bringt, dachten die Alten, haben wir da eine Pflicht, wenigstens das Menschliche noch zu bedenken? So blieb mitten in den Fortschritten unsres geistigen, gesellschaftlichen und politischen Lebens eine barbarische Gesetzgebung in England zurück, die alle gewalt­thätigen Spuren der früheren englischen Geschichte trägt, die der treueste Ausdruck des dem englischen Charakter eingepflanzten rohen und wilden Geistes ist und gleichsam eine dauernde Rache zu seyn scheint für die viele blutige Unbill, welche die Edlen und Guten von dem Uebermuth der Aristokratie und der Grausamkeit der frühern erblichen Monarchie in England zu dulden hatten.

Den englischen Rechtsgelehrten liegen die Mängel der Prozeßordnung, die Rechtlosigkeiten im Rechte, die Verstöße gegen die Humanität in der Kriminalgesetzgebung offen vor Augen. Allein die 89 Geneigtheit zu Verbesserungen wird ge­lähmt, einmal durch den Umstand, daß sie das Recht nicht als Wissenschaft, sondern als Handwerk erlernten. Gäb’ es in Eng­land nicht bloß Advokatenschulen, sondern an den Universitäten auch Katheder, wo unabhängig von der Praxis die wissen­schaft­lichen Folgerungen einer reinen Rechtstheorie entwickelt würden, so würde der Corporationsgeist bald gesprengt seyn und in den Köpfen der Rechtsgelehrten eine größere Neigung zur Reform vorherrschen, als sie bisher anzutreffen war. Wir haben in unserer juristischen Erziehung keinen Mittelzustand zwischen dem Naturrecht und der Usance; für Rechtsgeschichte fehlt die Anleitung: für fremde Rechtserkenntniß die Selbstverläugnung und sogar die gelehrten Vorstudien. Das zweite Hinderniß ist der Egoismus, der Vortheil. Unsre verworrene Gesetzgebung ist den ewigen Prozessen ungemein günstig. Der Scharfsinn eines Advokaten kann die Entscheidung einer Eigenthumsfrage so lan­ge aufhalten, bis sie verjährt ist. Lord Brougham hat in seiner berühmten Fünf-Stunden-Rede diesen Knäul rechtloser Gerechtigkeitspflege in Civilsachen zu entwirren gesucht; er hat dem Parlament eine Ansicht der verjährten Mißbräuche gegeben, daß er sich entschloß, ein Comité (freilich nicht viel) zur Untersuchung derselben niederzusetzen. Als Brougham später an die Spitze der Lordkanzlei kam, bewährte er seinen Eifer für die Gesetzreform durch großartige Entsagungen, die er 90 auf Kosten seines Beutels machte. Allein was kann gebessert werden? Hie und da eine Prozedur, hie und da eine veraltete Verfügung! Es steht zu hoffen, daß England, wenn es sich von dem Parteien­kampf erholt, wenn es diejenigen Hindernisse, die die freie Entwickelung seines Totallebens aufhalten, beseitigt haben wird, Ruhe und Besonnenheit genug erlangt hat, um sich einen Civil- und Kriminalrechtszustand aus einem Stück zu schaffen. Alles, was Romilly, Macintosh, Peel, Brougham und neuerdings Lord John Russel geleistet haben, ist als dankenswerth anzuerkennen; doch sind es nur schwache Verstopfungen einer drohenden Sündfluth, der bei Zeiten ein neues, ge­räumiges und vollkommnes Bett wird gegraben werden müssen.

Wären in England nicht gerade die Mißbräuche die begleitenden Nebenumstände glücklicher Verhältnisse, wären nicht die Fesseln der Barbarei beinahe eine Schadloshaltung für die politische und natürliche Freiheit, deren wir genießen; so möchte man das übrige Europa glücklich preisen seiner konsequenten und größtentheils vernunftgemäßen Gesetzgebungen wegen. Es ist leicht sagen, daß der Code Napoleon eine moderne Erfindung ist und gegen die alten Coutümes der Prinzen absticht, wie ein Frack gegen einen Ritterharnisch; allein einestheils sind wir nicht mehr bestimmt, in Harnischen aufzutreten; anderntheils ist gerade die französische eine Nation, welche 91 mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit Abstraktionen in ihr inneres organisches Leben aufnehmen kann. So wie der Franzose von der Form der Gedanken eher verblendet wird, wie von den Gedanken selbst, wie er im Stande ist, um einer schönen Phrase willen in den Tod zu gehen, so lebt er auch mit der größten Leichtigkeit sich in geschriebene Vorschriften hinein und faßt in dem Neuesten, wenn es seiner Phantasie zusagt, organische Wurzeln. Wenn wir auch in Frankreich noch nicht alle juristischen Verhältnisse konsolidirt sehen, so liegt dies größtentheils an den Einmischungen der Tagesdebatten in das Gerichtsverfahren, an dem Despotismus der am Ruder befindlichen Parteien und namentlich an der Furcht, die Gerechtigkeitspflege möchte dem Volk eine gesetzliche Auflehnung gegen die Interessen der sich zu befestigen strebenden Dynastien Bourbon und jezt Orleans möglich machen. Die Jury soll ihre Fehler haben. Rechtsgelehrte behaupten dies und zwar ohne Gehässigkeit gegen das Institut an sich und ohne Interesse für die Partei des Widerstandes. Allein die Mehrzahl der in Betreff derselben gemachten Vorschläge kommt auf die Furcht vor dem in dieser Institution liegenden demokratischen Geiste zurück. Die doktrinäre Partei wühlt nach allen Seiten hin Minen, um die juristische Freiheit des französischen Volkes wenigstens theilweise in die Luft zu sprengen. Wir haben in diesen Tagen ihre Angriffe auf das Institut der Geschwornen verfolgen 92 können. Dupin aber mit seiner Erklärung: Alle Staa­ten eilten ihrem Sturze entgegen, wenn sie an der Gerechtigkeit zu rücken und zu mäkeln anfingen, sezte den König in Schrecken und hielt vielleicht die Angriffe auf das französische Recht für lange Zeiten auf. Dupin, so klein er in der Politik ist, so groß ist er als Advokat vor den Schranken. Er ist der französische Brougham.

Der größte Theil des übrigen Europa hat den Gewinn deutlicher, logischer und allgemein zugänglicher Gesetzbücher durch den Verlust der Jury erkaufen müssen. Das öffentliche Verfahren, die Seele aller juristischen Körper (corpora Juris) mußte zugleich mit dem Prinzip der ständischen Vertretung weichen. Die Völker, von denen wir freilich zugeben wollen, daß sie im sieben­zehnten und achtzehnten Jahrhundert hie und dort kindisch geworden waren, mußten aufhören sich selbst zu regieren und wurden regiert. Die großen, durchgreifenden Wohlthaten der un­be­schränkten Monarchie wird Niemand aus dem Auge verlieren, der da weiß, daß sich in der Geschichte keine Erscheinung ohne Zweck und Gewinn dauernd befestigen kann. Beklagenswerth ist nur, daß sich die unbeschränkte Monarchie und in ihrem Gefolge die Kabinetsjustiz, der geschriebene Prozeßgang und das Ver­fahren bei geschlossenen Thüren auf ewige Zeiten erhalten sol­len. Die kindisch gewordenen Massen haben sich verjüngt. Die Völker können sich wohl die 93 Kraft zutrauen, sich selbst zu lenken und Recht zu sprechen. Sie wollen das Königthum in seinen Lasten erleichtern. Warum ihnen die Oeffentlichkeit und die Geschwornen nicht lassen, die doch mehr als fünfzig Millionen Menschen in Europa und Amerika als das Bollwerk ihrer Freiheit, als das Unterpfand ihrer Fortschritte ansehen? Wohin die Uebung der Gerechtigkeit nur durch Juristen, wohin das Nivellement der Kabinetsregierungen führt, soll ein Beispiel erläutern.

Es war ein Vorrecht in der germanischen Feudalverfassung, daß der Gutsherr auf seinem Territorium für Recht und Gerechtigkeit sorgen durfte. Die sogenannte Patrimonialgerichtsbarkeit, in ihrem Prinzipe, hat nur Sinn, wenn sie mit dem Geschworneninstitute verbunden ist. Der Standesherr ordne und schütze das gerichtliche Verfahren, er leite es ein, er berufe die Richter, er gebe den Parteien rechtskundige Vertheidiger, er führe später den Spruch der Jury in Vollzug! Dies ist die Grundidee der Patrimonialgerichtsbarkeit, als einer Feudaleinrichtung. Mit der Ueberhandnahme des römischen Rechtes verlor sich jedoch im Volke das Rechtsbewußtseyn. Es konnte, da die Advokaten eine andre Bildung hatten, als eine der seinigen angemessene, nicht mehr zu Gericht sitzen; die Justiz wurde in allen Beziehungen Standesvorrecht: die Beisitzer und Schöffen aus dem Volke blieben aus. So nur kann man auf logische Weise die spätere Gestaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit 94 darstellen. Sie war ein feudaler Ueber­rest mit moderner Färbung. Später jedoch, als Ludwig XIV. sagte: der Staat bin ich! und ihm alle Souveräne nachsagten: der Staat sind wir! reagirte die Kabinetspolitik haupt­sächlich auch gegen das Vorrecht des Adels, auf seinem Grund­gebiete Gerechtigkeit zu üben. Die Souveränität stüzte sich auf die Beamten-Hierarchie. Die Administration sollte von einem ein­zigen Centrum ausgehen. Der Staat, dessen Prinzip früher nur die Ausgleichung der verschiedenen Eigenthumsinteressen war, sollte hinfort ein theoretisches Prinzip in sich aufnehmen; der Staat sollte die Gerechtigkeit vorstellen und nebenbei die Macht des Adels brechen. So hob man die Patrimonialgerichtsbarkeit auf.

Es ist damit viel Gutes, aber auch ebensoviel Nachtheiliges bewirkt. Das Gute lag in der Aufhebung der Willkür, in der größern Geltendmachung des Rechtes. Der Prozeßgang wurde weitläufiger, aber die Richter wurden gerechter. Es trat eine Gewalt zwischen den Bauer und den Gutsherrn; lezterer hörte auf, in seiner eigenen Sache zu richten. Allein, was das Recht gewonnen hat, das hat die Moral verloren. Die Patrimonialgerichtsbarkeit, freilich mit Milde und Weisheit ausgeübt, war eine Vermittelung zwischen der bloßen Leidenschaft und zwischen der Bosheit der Menschen; sie hinderte, daß die Vergehen gleich als Verbrechen angesehen 95 wurden, und daß die meisten auf dem Lande üblichen Frevel gleich mit dem Zuchthause, das den fernern Sitten der Gefangenen so gefährlich ist, bestraft wurden. Forstfrevel ist z. B. kein absolutes Verbrechen; denn fremdes Wild zu schießen, stößt zwar gegen die Gesetze, aber nicht gegen die Natur. Die Römer, die immer auf das Naturrecht zurückkamen, gaben die Thiere des Waldes und der Luft Jedem frei, der sie erreichen konnte. So sollte auch der Wilddieb, weil keine absolute moralische Verworfenheit zu seinem Verbrechen nöthig ist, nicht mit an die Gefangenenkette geschmiedet werden, die durch das Land ins Zuchthaus wandelt. Das Patrimonialgericht würde ihn empfindlich genug strafen, weil er den Vortheil des Gutsherren ohnehin beeinträchtigt hat; allein die sittliche Zukunft und Besserung des Mannes bliebe vielleicht gesichert, wenn er nur in dem herrschaft­lichen Gefängnisse seine Strafzeit überstehen müßte und nicht gleich in die kriminalstatistischen Tabellen des ganzen Staates hineingezogen würde. Der Uebergang von der Unkultur zum Ver­brechen ist so leicht, daß man nicht so hurtig seyn sollte, den Gefallenen den Prozeß zu machen. Das ist namentlich die Barbarei der englischen Gesetzgebung, daß sie das geringste Verbrechen mit dem größten fast auf gleiche Stufe stellt. Ein Sacktuch stehlen und eine Uhr stehlen, einen Truthahn stehlen und ein Pferd und eine Summe Geldes; das ist, wenn man in der menschlichen Natur, 96 die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des Staatslebens, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, Plato gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Intelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich 97 darüber Geständnisse machen sollte, zu trennen von der Bil­dung, die er genoß, von seinen Kenntnissen, seiner Lektüre? Und diese Gegenmittel fehlen den Verbrechern. Sie dämmern zwi­schen dem Guten und Bösen ohne Bewußtseyn und schwanken zu ihrem Verderben von Einem auf’s Andre. Ihre Existenz ist phy­sisch, thierisch, roh; sie sind aber nur deßhalb schlecht, weil – sie nicht gut sind. Soll bei diesen Umständen immer nur administrirt, registrirt und incarcerirt werden, so schüzt man vielleicht die Gesellschaft, verdirbt aber den Keim der Menschheit. Das Edle, was selbst in leidenschaftlichen und von moralischen Bollwerken nicht vor dem Verbrechen gesicherten Menschen verborgen liegt, geht im Strudel der Kriminalrichtung, die man einem solchen Menschen gibt, mit dem polizeilichen Mühlsteine, den man ihm an den Hals hängt, mit in den Abgrund. Der Verbrecher ist für die Gesellschaft verloren. Eine Strafe, die seinem Fehltritt folgte, kann er nicht anders ertragen, als wenn er seine verbrecherische Handlung mit der Strafe nivellirt und jezt erst das wird, wofür er gehalten wurde. Man sollte ein Verbrechen bestrafen können, ohne den, der es beging, sogleich auch zum Verbrecher zu machen. Das hört sich wie ein Widerspruch an; allein die Humanität sinnt mitleidig darüber nach, wie er auszugleichen wäre. Patrimonialgerichte und Jury wären ein Hilfsmittel. So lange aber dieses nicht angewandt und kein noch kräftigeres 98 ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. In der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend kaum zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie eine Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher 99 verachtet wurden. Der Zudrang zu dem geistlichen Stande würde freilich bei so ernsten Beschäftigungen aufhören; wie ich denn gewiß bin, daß das lange Vikariren der Candidaten bald enden sollte, wenn die Geistlichen verpflichtet wären, vormittäglich einige Stunden in den Gefängnissen zu weilen, Nachmittags einige in den Krankenhäusern, und jährlich, wenn auch nur einmal, einen Delinquenten auf den Rabenstein zu begleiten. Das sind ernstere, heiligere, der Menschheit nützlichere Geschäfte, als bei schönen Seelen geistliche Theevisiten zu machen und in Freimaurerclubbs Schach oder Whist zu spielen.

Indessen, was die Delinquenten betrifft, so mag den Geistlichen ihre Begleitung deßhalb erlassen seyn, weil ich mich nicht scheuen würde, jeden Strick abzuschneiden, woran ein Verurtheilter und selbst ein Greenacre hängt. Abschaffung der Todesstrafe – das ist ein Symbol, von demselben Werthe, als wenn man sagte: Gebt die Sklaven, die Juden, die Irländer frei! Nehmet der Geistlichkeit den politischen Einfluß! Entfesselt die Presse! Huldiget allen großen Aufgaben, welche das Jahrhundert gleichsam an die Spitze großer Mastbäume befestigt hat, welche die Zeitgenossen erklettern müssen, selbst wenn die sophistische Seife der Unrechtslehrer machen sollte, daß sie zehnmal daran herunterglitten! wie z. B. unsere Kirchensteuer-Bill erklettert wer­den muß, selbst wenn die Minister, um die Tories von ihren Sit­zen zu jagen, sich nicht 100 anders zu helfen wüßten, als, im Augenblick der Abstimmung im Unterhaus, das Oberhaus in Brand zu stecken* .

Die Advokaten des Rades, des Schwertes, Beiles, der Schlinge und der Guillotine sind theils aufrichtige Freunde der Henker, theils verborgene. Jene sind ungefähr das, was man Menschen­freunde nennen könnte, diese treiben ein Spiel mit doktrinären Illusionen. Jene haben juristische und polizeiliche Gründe für ihre Grausamkeit und leiden selbst empfindlich unter der Noth­wendigkeit; diese köpfen und hängen mit kaltem Blute und sehen auf den Rabensteinen die poetische Gerechtigkeit thronen. Diese Lezteren, die Doktrinäre unserer Zeit, die Geistreichen, die Philosophen, sind dieselben, welche wir oben die Verbesserung der Gefängnisse haben so sophistisch bestreiten sehen, es sind die, welche das achtzehnte Jahrhundert in den Sack gesteckt haben und die Philanthropie für eine Frauenzimmerkrankheit aus­geben. Sie wollen Alles entweder auf die Natur oder auf’s Mittelalter zurückführen. Sie begründen alle ihre Ansichten entweder auf die Geschichte oder auf das Christenthum. Sie lehren, daß Christus gesagt hätte, „er brächte das Schwert.“ Der Geist der Liebe zog in ihre Herzen nicht ein. Sie kämpfen nur für den Schimmer der Ideen, nicht für ihren Inhalt. Sie lassen die 101 Gedanken nicht die Nagelprobe des Herzens, sondern die der Originalität bestehen; und kämpfen unter anderem deßhalb auch für die Todesstrafe. Sie beginnen mit dem Witze und hören mit der Mystik auf. Sie machen die Toleranz des Zeitalters gegen Diebe und Mörder lächerlich. Sie werden immer so anfangen: „O ihr armen Ravaillac, ihr armen Schächer, die ihr neben Christo hinget, warum habt ihr nicht mit euern großen Handlungen gewartet, bis euch die Humanität des neunzehnten Jahrhunderts bloß, statt auf das Schaffot, lebenslänglich auf die Galeere geschickt hätte! Und du Heiland selbst, warum unterließest du dein Evangelium zu predigen nicht bis dahin, wo es ohnehin gleich von der Aufklärung verbessert werden konnte, und zogst dein Lebenlang Schiffe am todten Meere, statt am Kreuze zu sterben?“ Nachdem die Spötter sich dann in ihrem Witze erschöpft haben, kommen sie auf ihre Ausgleichungstheorien zurück, verurtheilen den weichlichen Sinn der Zeitgenossen und leiten das Uebrige, was ihnen noch fehlt, um im Terrorismus vollständig zu seyn, aus ihren Ansichten vom Staate her. Diese ganze Fraktion besteht aus Dilettanten, Pseudo-Originalen und Aesthetikern, welche mit der Abschaffung der Todesstrafe auch den Untergang der Tragödie befürchten. Läßt sich die Leidenschaft und die Phantasie widerlegen?

Besonnene Rechtslehrer haben die Frage über die Todesstrafe in die Nothwendigkeit und Zuläßigkeit 102 derselben eingetheilt. Die Nothwendigkeit lag ihnen in der abschreckenden Kraft dieser Strafe, die, wenn man sie mildern würde, ihnen die Neigung zu jenen Verbrechen, auf welchen sonst der Tod stand, erleichtern zu müssen schien. Man fürchtet, daß Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß, in Ketten-, Karren- und Galeerenarbeit eine Ueberhandnahme der todeswürdigen Verbrecher erzeugen würde. Allein die geringe Erfahrung, welche man von der Abschaffung der Todesstrafe hat, beweist, daß diese Besorgniß ungegründet ist. Die wenigen italienischen Staa­­ten, wo früher einige philanthropische Fürsten die Todesstrafe aus den Gesetzbüchern verbannt hatten, verwilderten nicht mehr, als früher, und auch in Belgien, wo der Henker um seine Privilegien gebracht ist, kann man nicht sagen, daß die Abschaffung der Todesstrafe die der äußersten Strafe würdigen Verbrechen vermehrt hätte. Wenn wir namentlich von dem Grundsatze ausgehen, daß kein anderes Verbrechen, als der Mord, mit dem Tode bestraft werden dürfe, so sind Menschen, die ihn vorsätzlich begehen, auch immer weit entfernt, sich nicht die Mittel zuzutrauen, die Entdeckung ihrer That unmöglich zu machen. Ist einmal das menschliche Gemüth so sehr untergraben, daß nur die Bosheit und Gewaltthätigkeit in dem Innern eines solchen Verbrechers thätig sind, so wird man jenen Schritt nicht mehr bestimmen können, wo er aus Furcht vor dem Schaffot einen Mord unterläßt; 103 sondern das schlechte Herz wird sich mit der List verbinden, und die Todesstrafe wie die Galeere, eines so gut wie das andere, zu vermeiden suchen.

Was die Zuläßigkeit der Todesstrafe betrifft, so wird sie aus dem allgemeinen Strafrechte der gebildeten Gesellschaft hergeleitet. Philosophen, welche die Todesstrafe vertheidigen, leiten sie nicht, wie die Rechtslehrer, bloß aus den Staatsprinzipien her, sondern behaupten nicht ohne Grund, daß dem Menschen die Wiedervergeltung für seine Handlungen von Natur eingepflanzt wäre; sie sagen, daß der Mensch alles dessen sich selbst für würdig halte, was er Andern anthut, und daß durch Nichtschonung eines fremden Lebens nichts Anderes verwirkt seyn könne, als das eigene.

Niemand jedoch, der die Abschaffung der Todesstrafe wünscht, wird diese Meinung in Abrede stellen. Darum aber, daß jeder Mörder eingesteht, daß man mit Recht sein eigenes Leben von ihm fordern könne, und daß noch Niemand, der einen Anderen tödtete, erklärte, seine eigene Hinrichtung wäre eine Ungerech­tigkeit; daraus ist unmöglich zu folgern, daß nun auch die Gesellschaft das Recht hätte, dem Menschen das zu nehmen, was länger zu besitzen er sich selber für unwürdig erklärt. Alle Zeiten, alle Völker haben geschwankt, ob ihnen ein solches Recht gestattet wäre; wenn sie einen Mörder am Leben straften, so mußte er alle Anzeigen tragen, daß der von ihm 104 begangene Mord, ließe man ihn frei, nicht der Schlußstein seiner Verbrechen seyn würde; man mußte wissen, daß jener Räuber, welcher die Landenge von Korinth unsicher machte, diese Sklaven, welche in Italien raubten und mordeten, schlechthin gefährlich waren und durch Milde in ihrem ruchlosen Lebenswandel nicht würden aufgehalten worden seyn. Man strafte sie am Leben, weil man kein anderes Mittel hatte, ihrer los zu seyn. Allein die neue Zeit, welche doch die zweideutige Beglückung der Gefängnisse erfunden, ein Institut, welches das Alterthum in unserem kriminalistischen Sinn nicht kannte; das Zeitalter der Burgverließe, Einmauerungen und eisernen Masken hätte doch am ersten bereit seyn sollen, beim Morde zu unterscheiden zwischen einem Morde, einem einfachen Faktum, welches vielleicht ohne ähnlichen Vorgang war und ohne Nachfolge geblieben wäre im Leben des Verbrechers, und einer durch und durch schlechten und gewaltthätigen Gesinnung. Diese Lezte hat das Alterthum immer mit dem Tod bestraft, weil Räuber und Mörder ein Ungeziefer sind, von welchem man sich auf die leichteste und schnellste Weise befreien darf. Allein bei jenen aus Leidenschaft, Verkettung der Umstände und persönlichen Motiven entstandenen Morden kam es immer in Verlegenheit und überließ die Rache am liebsten Jenem, der sie verlangte. Ja, wenn einmal gesagt werden soll, ein Mord verlange als Strafe gleichfalls einen Schlußakt, 105 und Blut könne nur durch Blut gesühnt werden; warum ergreift man nicht jenes Mittel, welches in China noch üblich ist, daß sich die überwiesenen Mörder selbst umbringen müssen! Man pflegt zu sagen, daß mancher Verbrecher, der zwischen dem Tod und ewiger Karrenstrafe zu wählen hätte, lieber den erstern wählen würde. Könnte man in diesem Falle die Entscheidung seiner eigenen Freiheit ihm nicht gänzlich selbst überlassen, ihn drei Tage und Nächte mit Mitteln, seine Wahl schnell und sicher auszuführen, verschließen, und nach Ablauf der drei Tage, wo es an Speise und Trank nicht fehlen dürfte, nachsehen, ob man den Elenden zu begraben oder auf die Galeere zu führen habe? So pflegt noch heute der Sultan den Staatsverbrechern stillschweigend nur die seidene Schnur zu schicken, und Nero sogar wußte bei seiner Grausamkeit, wo es ihm an Henkern doch nicht fehlte, doch noch die persönliche Freiheit so zu schätzen, daß er den vermeintlichen Staatsverbrechern andeutete, in so und so viel Tagen müßten sie von der Erde verschwunden seyn. Seneka öffnete sich selbst die Adern, und auch in Athen trank Sokrates, ein vermeintlicher Hochverräther an der Religion und dem Staate, im Genuß seiner persönlichen Freiheit und nur bestimmt, nicht mehr zu seyn, den Schier­lingsbecher.

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern war man über die Hen­ker in Verlegenheit. Man mußte Sklaven 106 dazu zwingen, und selbst in den christlichen Zeiten konnte man sich die Henker nur wie gesellschaftliche Paria’s erziehen oder konnte nur Verbrecher, die sich loszukaufen suchten, für das schreckliche Amt gewinnen, mußte auch wohl gar Mordlustige, die in einer Maske auf dem Schaffot erschienen, dazu auffordern. Wir sprechen sehr leicht über Nothwendigkeit und Zuläßigkeit der Todesstrafe und vergessen, daß wir im Grund gar kein natürliches Instrument haben, um sie anzuwenden. Griechenland z. B. weiß gegenwärtig nicht, wo es für seine schöne, neue Civilisation die Henker herbekommen soll, und muß dazu die bairischen Soldaten oder wohl gar die todwürdigen Verbrecher selbst wählen. Das stehende Amt eines Henkers ist eine durch und durch barbarische Consequenz unseres modernen, soll man sagen, germanischen Lebens! Die Liktoren bei den Römern waren doch wenigstens, wie in Athen die Elf, eine Schaar, vielleicht militärisch oder kollegialisch organisirt. Sie repräsentirten in Masse die dunkle, blutige Gerechtigkeit; es war kein einzelnes Individuum, das mit zitterndem, klopfendem Herzen oder im anderen Falle mit entmenschter Brutalität den Mörder hinrichtete. Wer will den formellen Begriff des Staates, diese leere Abstraktion von Gesetz und Gerechtigkeit, so ausdehnen, daß er von der Todesstrafe den Makel entfernen kann, der Henker werde, indem er straft, selbst zu einem Verbrecher erzogen? Er kann den tödtlichen Streich 107 allerdings mit dem Gedanken führen, daß ihn der Delinquent verdient hat; allein sich für ein auserkohrnes Werkzeug der Gerechtigkeit zu halten, eine Strafe, die nicht mehr innerhalb der bürgerlichen Grenzen liegt, sondern eine allgemein menschliche ist, auszuführen, dazu hat der Einzelne unmöglich die göttliche Conzession erhalten. Man führe sich das Henkeramt doch nur auf den natürlichen Stand der Dinge zurück und setze den Fall, ein außerordentliches Verbrechen solle an einem Elenden durch den Tod gesühnt werden. Die Regierung ruft in die versammelte Volksmenge hinunter, wer das Strafamt übernehmen wolle; ja, sie werden Alle den Verbrecher verfluchen, aber Niemand wird begreifen können, wie er ihn, in Uebereinstimmung mit seinen Gefühlen, um das verwirkte Leben bringen soll; und man kann gewiß seyn, tritt ein Mann hervor und sagt: „ich will es thun“; so wird er gewiß einen hohen Preis darauf setzen und in seinem Herzen schon längst ein Todtschläger geworden seyn, und Nichts bewähren, als schon seine eigene Verwandtschaft mit dem Rabenstein. Oder gibt es heroische Naturen, die mit Enthusiasmus als die göttliche Gerechtigkeit auftreten wollen, wie das bei den mannigfaltigen Arten des menschlichen Wahnsinns wohl möglich ist, so kann man gewiß seyn, daß sein Anerbieten Nichts ist, als ein Weg, der ihn von dem Irrenhause, wohin er gehört, mit Schicklichkeit abführen soll. Warum spricht man bei der Todesstrafe 108 nur immer von dem Zweck und nicht von dem Mittel, wo sich doch der ganze Gesichtspunkt der Frage verändert?

Ein Philosoph hat, um die Schicklichkeit der Todesstrafe zu beweisen, die Ehre in die Frage mit hineingezogen. Er hat gefragt: Man stelle doch einem Hochverräther einmal die Wahl zwischen dem Tod und der Karre frei! Hat der Verbrecher Ehre, was wird er vorziehen? Ja sogar bei gemeinen Mördern und Räubern ist manchmal das Ehrgefühl so wenig erstickt, daß sie nicht aus Arbeitsscheu, sondern wirklich aus einer Art Heroismus vorziehen würden, lieber hingerichtet, als an die Kette geschmiedet zu werden. Allein so richtig es ist, so ist Das, was man daraus folgern will, am allerwenigsten darin enthalten; nicht die Schicklichkeit der Todesstrafe folgt daraus, sondern noch weit mehr der verfängliche Satz, daß Selbstmord, wenn er einen guten Grund hat, keine Schande ist. Die Gesellschaft sollte gerade in die Grundsätze dieses Philosophen eingehen und es dem Delinquenten überlassen, ob er sterben, d. h. durch sich selbst sterben wolle oder, mit ewiger Schande bedeckt, ein mühevolles Leben dahin schleppen.

Denn gestehen wir es uns nur, daß die Gesellschaft gar kein anderes Recht auf den Verbrecher hat, als ihn von sich auszustoßen und ihn, je nach der Größe seines Vergehens mit mehr oder weniger Schmach zu bedecken. Selbst aufgeklärte Rechtslehrer rufen 109 dringend: „Nur keine entehrenden Strafen!“ Diese Hochachtung vor der Menschenwürde bei Individuen, die sie verwirkt haben, gestehe ich, nicht begreifen zu können. Es gibt Verbrechen, die mit Entehrung, mit Peitschenhieben zu strafen, unverantwortlich ist, z. B. die militärischen Disziplinarvergehen. Verbrechen gegen den gesellschaftlichen Mechanismus, gegen die Disziplin und die polizeiliche Ordnung, die ja eben so selten die Natur- wie die Vernunftordnung ist, diese mit Entehrung zu strafen, ist eine Grausamkeit, gegen die man sich um so mehr erklären muß, als sie nur mit einer despotischen Willkür verbunden seyn kann. Allein alle die Verbrechen, wo die Moral verlezt ist, was soll da die Strafe sagen? Die Strafe kann immer nur in einem Quantum von Schande liegen, wie ja der nächste Antrieb zu aller öffentlichen Sitte und zu unseren Privathandlungen der Ruf ist, den wir uns dadurch zuziehen. Dies Verhältniß klärt uns auch über die Strafbefugniß des Staates im Allgemeinen auf und beweist uns, daß das größte Quantum von Strafe, welches der Staat verhängen kann, nur in dem größten Maße von Schande und Infamie liegen darf, mit welchem man einen Kapitalverbrecher bedeckt. Wenn nun auch der Tod durch Henkershand das Aeußerste einer solchen Infamie ist, so erträgt und trägt sie doch der Schuldige nicht dauernd, im Gegentheil er stirbt wie ein Held und imponirt der Menge, die in dem Augenblicke, wo er stirbt, nur 110 die Schwierigkeit seiner Lage sieht. Das Alles sind so natürliche und einfache Sätze, daß man nicht begreift, wie die Wissenschaft noch eine Strafe vertheidigen kann, über welche das Gefühl längst schon den Stab gebrochen hat.

Wenn man das Strafrecht aus dem Contract social herleitet, so kann der Verbrecher von der Allgemeinheit doch immer nur unter dem Gesichtspunkte des Bürgers und nicht des Menschen betrachtet werden. Die Alten, welche das Staatsleben wahrlich in ihre innersten Nerven aufgenommen hatten, stellten die Verbannung so hoch, wie den Tod, und sagten, jene wäre so gut wie dieser capitis diminutio. Da wir nun eine allgemeine Völkermoral haben und das sittliche Leben anderer Nationen durch unsere eigenen Krankheiten anzustecken für schlecht halten, so haben wir, statt der Verbannung, Gefängnisse. Allein will man einmal die Strafe aus einem vorhergegangenen Uebereinkommen herleiten und sie als Maßregel der Politik hinstellen, so reichen die Hände des Staates doch nicht weiter, als bis zur Entziehung der politischen Freiheit, nicht über sie hinaus, bis zur Entziehung des menschlichen Daseyns. Wir können immer nur sagen: Wer das höchste Verbrechen begeht, den Mord, der ist keiner der Unsrigen mehr; wir würden ihn also verbannen müssen, wenn wir statt der Verbannung nicht die Gefängnisse eingeführt hätten. Dann möchte man auch wahrlich fragen, wozu soll dieses 111 Auspolstern der Ruhepunkte unserer Gedanken ewig mit dem Staate und immer mit dem Staate dienen? Daß der Verbrecher durch seine That die Ordnung des Staates verlezt, ist Etwas, das ihm gar nicht einfällt. Erkennt er seine That, so sieht er sich weit mehr der göttlichen als der menschlichen Gerechtigkeit gegenübergestellt. Er denkt nicht daran, das Gleichgewicht des Staates zu stören, sondern sein Verbrechen steht isolirt; es ist kein civiles, sondern ein teuflisches. Er weiß es recht gut, daß eine Stunde kommen kann, wo ihn sein Gewissen mehr als die Strafe ängstigt. Es sollten also auch nicht politische, sondern moralische Maßstäbe an seine That gelegt werden. Der Staat soll sein Gesetzbuch nicht höher halten, als den Thron Gottes. Ja, gute und fromme Seelen haben gesagt, daß die Todesstrafe Delinquenten die Gelegenheit nimmt, sich zu bessern, und das hat seinen guten Grund, wenn es sich auch etwas spitalmäßig anhört. Auf die Aussicht hin, nach einem begangenen Morde in ein Kloster gesperrt zu werden und durch Buße und Bet-Uebungen zur Reue über seine That gestimmt zu werden, möchte allerdings mancher Handwerks­bursche mehr erschlagen werden. Oder vielleicht haben es die guten Seelen nicht so gemeint, sondern es schwebt ihnen die Lehre Christi vor, nach welcher reuige Sünder für Gott ein besonderes Wohlgefallen sind. Am häufigsten gehen die Delinquenten mit Trotz aus der Welt. Wenn der Versuch, sie 112 mürbe zu bekehren und sie erst dann, wenn sie es geworden sind, hinzurichten, machen würde, daß sie niemals bereuten, so müßte hier freilich die Todesstrafe von selbst wegfallen; es sey denn, daß mancher Verbrecher nicht lieber vorzöge, abgethan zu werden, als das ewige Predigen und Lehren der Geistlichkeit mit anzuhören.

Weit wichtiger sind nun die beiden anderen Beweggründe gegen die Todesstrafe, nämlich die, daß sie nicht nur Nichts bewirkt, sondern im Gegentheil sogar Böses bewirkt. Die zahllosen Abschreckungen und Armensünderspektakel haben noch immer nicht das Schwert des Nachrichters verrosten lassen, und wenn man sagt, daß ein vollkommenes Aufhören der Kapitalverbrechen nicht erreicht werden könne, sondern daß wir es gerade der Todesstrafe zu danken hätten, nur wenige ihr Verfallene zu sehen, so möchte gerade dieser Meinung wieder jener Irrthum zum Grun­de liegen, als wenn unsere Gesellschaft einzig und allein durch die Furcht vor dem Gesetz gegen den in ihr schlummernden Can­nibalismus verwahrt wäre. Nimmermehr! Was uns zusammenhält, ist die Bildung, die eingepflanzte Moral, die christ­liche Tradition und vor allen Dingen das Interesse. Die Furcht vor der Strafe bewirkt Nichts, sondern nur die Furcht vor der Schande; aber in der Schande gibt es keine Stufenleiter. Ist sie größer oder geringer, sie hinterläßt immer denselben Makel, so daß also Der, der 113 diesen ungeheuren Schritt, ich will nicht sagen von der Tugend, sondern vom Indifferentismus bis zum Verbrechen gethan hat, daß er stiehlt, auch nun nicht mehr bloß durch das Schaffot von einer Laufbahn abgehalten wird, in die er einmal verfallen ist. Es hat allerdings Räuber gegeben, wie z. B. den berüchtigten Schinderhannes, die sich aus Furcht vor dem Schaffot hüteten, einen Mord zu begehen oder wohl gar einen point d’honneur darin suchten. Allein an diesem feinen Raffinement und gentlemenliken point d’honneur eines Spitzbuben, der bereits dem Halseisen verfallen ist, wird der Gesellschaft wenig gelegen seyn, und ein Schinderhannes mit oder ohne Mord wird ihr gleich strafwürdig vorkommen.

Der andere Punkt ist: das Nachtheilige der Todesstrafe, insofern sie der Moralität und den Sitten ein Aergerniß gibt. Das ganze Schauspiel hat Etwas, was das Gefühl beleidigt. Die ungeheure Zumuthung, die hier dem Auge und den Nerven gemacht wird, sezt einen Grad von Selbstüberwindung und gewaltsamer Beherrschung seiner eigenen Gefühle voraus, welcher das Herz verhärtet. Der Staat ordnet die Ceremonie mit Feierlichkeit an; Niemand, selbst die Richter nicht, können einen Fanatismus für die Strafwürdigkeit des Verbrechens besitzen, der so groß wäre, daß Zuschauer und die Schauspieler des Stücks mit kaltem Blute ihre Aufgabe lösten, sondern Jeder hat in sich Etwas zu überwinden, Jeder 114 fühlt, daß er sich am Andern halten müsse, wenn der tödliche Streich durch die Luft saust. Da sich alle Stimmen so heftig dagegen aussprechen, die Todesstrafe im Geheimen zu voll­ziehen, ein Verfahren, das allerdings mißbraucht werden könnte, aber vielleicht mehr Wirkung haben dürfte, des Geheimnisses wegen, als das öffentliche Schauspiel; so wird der Zudrang der Menge zu den Exekutionen sich nicht verlieren, sondern Weiber und Kinder werden sich dabei noch zahlreicher einfinden, als die Männer. So groß das Mitleiden, eine gewiß unschädliche Tugend, für den Delinquenten seyn mag, so ist die Neugier, welche die Menge zusammentrieb, doch noch weit größer. Der Verbrecher ist todt und die Leidenschaften der Masse sind befriedigt. Mit einer trostlosen Gefühlsleere kehrt sie an ihr Gewerbe zurück und hat bloß eine Historie mit angesehen, aber keine Lehre empfangen. Man sagt, daß in dem Augenblick, wo der Verbrecher seine Strafe empfange, die Menge zu jubeln und zu klatschen pflege. Ich habe noch keiner Hinrichtung beigewohnt und kann nur glauben, daß dieser Beifallsruf dem Henker gilt, wenn er seine Sache gut gemacht hat, wie auf der anderen Seite ihn wohl Verwünschungen bedrohen, wenn er in seiner grausen Kunst irgend Etwas verfehlte. Wenn also diese thätige Theilnahme des Pub­li­kums an den Exekutionen auch nur dem Verfahren selbst und der dabei entwickelten größern Kunstfertigkeit gewidmet ist, so 115 ist doch selbst diese Theilnahme etwas unsern humanen Empfindungen Widersprechendes und liegt so weit außerhalb des Bereiches, wo das menschliche Gemüth beruhigt ist und sich in seinem Elemente weiß, daß die Möglichkeit, für solche Scenen noch Zuschauer zu finden, gerade ein betrübender Beweis für die in den Massen herrschenden gewaltsamen Empfindungen ist, ein Beweis für den Trotz der rohen Natürlichkeit im Menschen, welche hier sogar von der Civilisation und Gerechtigkeit mit einem traurigen Anhaltspunkte beschenkt wird. Und da es eigentlich nur der Bildung möglich ist, das fürchterliche Gefühl des Verbrechers selbst von dem Zusammenhang der ganzen Scene abzusondern und durch die Pein, die jener aussteht, im Nothfall von einem Morde, wenn man dies bei Gebildeten für nöthig halten sollte, sich abschrecken zu lassen, so geht für den gemeinen Mann gerade das Hauptinteresse des ganzen Aktes verloren. Er weiß den Helden von der Staffage, die Personen von den Dekorationen nicht zu trennen, und sieht in dem öffentlichen Schauspiele einer Hinrichtung Nichts, was seine eigenen Nerven erschüttert und ihn selbst zittern macht, sondern ein Epos, das ihm fabelhaft im Ohre braust und eher anfeuernd, als abschreckend auf ihn wirkt. Ja, wenn wir auf Jahrmärkten Weiber und Männer, die selbst mit genauer Noth dem Galgen entlaufen zu seyn scheinen, sehen, wie sie mit singender Stimme die auf einer Tafel dargestellte, blutige Lebensgeschichte 116 eines Mörders erklären, und sogar ein Lied darauf haben und eine Melodie dazu, so ist dies beinahe eine poetische Abrundung der Verbrechen und eine Genugthuung für ihren Urheber, die auf das Volk magisch wirkt und den Delinquenten, gleichsam ausgesühnt, in den Schoos des Volkes zu­rückführt. Man glaube doch nicht, daß der Anblick des Gräßlichen und die Erzählung davon übermüthige Naturen abhält, es gleichfalls zu risquiren. Die Furcht (und es wäre traurig, wenn es allein so wäre) ist nicht das Hinderniß einer moralischen Verwilderung, wohl aber ist das menschliche Gemüth in den meisten seiner Licht- und Schattenseiten noch ein unergründetes und spuk­­haftes Geheimniß. Alles Große imponirt dem Menschen und reizt seinen Nachahmungstrieb auf; kaltblütig aber auf dem Schaf­fot zu sterben – dazu gehört unter allen Umständen ein großer Aufwand innerer Spannkräfte; das abschreckende Motiv im Volke ist keinesweges die Furcht, und ich bin gewiß, daß es auf jähzornige, gewaltthätige und grausame Menschen heftiger und ab­schrec­kender wirkt, die Aussicht zu haben, lebenslänglich Pferdearbeit verrichten zu müssen, als die, hingerichtet zu werden.

Die Unzuläßigkeit der Todesstrafe, eben so wie ihre Noth­wendigkeit aus der Theorie des Staates herzuleiten, ist Beides gleich bedenklich. Leider hat auch einer der edelsten Geister, der sich im Kampfe gegen die Barbarei der alten Strafgesetzgebung so verdient 117 gemacht hat, Beccaria, die Ungerechtigkeit der Todesstrafe fast mathematisch zu beweisen gesucht. Wir haben selbst in Obigem Einiges, was in dieser Rücksicht Recht und Gerechtigkeit betrifft, angegeben; allein Beccaria ist in seiner Beweisführung zu weit gegangen. Er sagt, indem er dabei von rousseauischen Prinzipien ausgeht, daß bei Abschluß des ersten Staatsvertrags die Strafbefugniß der Allgemeinheit schwer­lich je­mals von dem Einzelnen dahin ausgedehnt worden wäre, daß er sein eigenes Daseyn für den Fall irgend eines Verbrechens dem Ganzen überlassen hätte. Beccaria begeht hier keinen andern Irrthum, als den, daß er einen fingirten Vertrag, welches der Contract social doch immer ist, zu einem historischen macht; denn historisch möcht’ es allerdings in Zeiten roher Kultur möglich ge­wesen seyn, daß die Contrahenten sich über Recht und Strafe vereinigten, aber ihr eignes Leben für den Fall von Gewaltthätigkeiten vielleicht gegen einander nicht ausgetauscht haben würden. Genug, diese schwache Beweisführung hat der Sache, der sie dienen sollte, viel geschadet; denn nun haben die Rechts- und Polizeilehrer freies Spiel gehabt, Beccaria’s Vorschläge, die sogar der deutsche Philosoph Kant als „eine schwache Empfindsamkeit affectirter Humanität“ hinstellt, zurückzu­wei­sen. Es gibt nur einen siegreichen Widerspruch gegen die Todesstrafe, und dieser liegt in dem Geiste des Jahrhunderts, in der einmal angeregten Protestation der Gefühle gegen 118 dieselbe, in der unwiderstehlichen Kraft aller jener Fragen, die sich einmal mit der Hauptsache, um welche sich unsere Zeit bewegt, verbunden haben, und begeisterte, das Gemüth anregende Fürsprache fanden. Und in dieser Rücksicht ist die Todesstrafe schon zur Hälfte abgeschafft; indem ihr die barbarische Erhöhung der beim Tode auszustehenden Qualen genommen wurde, das Rad, das Beil, ja sogar schon das Schwert, indem ihr an vielen Orten schon Nichts mehr blieb, als der Strick, so wird auch dieser bald reißen. Das Viertheilen konnte abschrecken, der Feuertod, das Zerschlagen der Glieder mit Keulen, allein die Guillotine schreckt nicht mehr, weil durch sie im Nu das ängstliche Drama beendigt ist. Die Empörung des Gefühls, die einmal in der Menschheit gegen die Todesstrafe ausgebrochen ist, wird sich durch Nichts mehr beschwichtigen lassen. Selbst gegen den verworfensten Verbrecher wird sich in sanften Gemüthern (und in Culturfragen siegen diese, nicht die schroffen) der Abscheu mildern, wenn man voraussetzen kann, daß der Elende sein Verbrechen durchschaut, es bereut und Monate, ja bei manchem schlechten Justizgang Jahre lang die Seelenangst um den künftigen Tod durch Henkershand aussteht. Diese Seelenangst, dies innere Zittern und Beben, bis Alles vorbei ist, darin sollte eigentlich die wahre Abschreckung liegen; allein wodurch soll man dies der Masse verständlich machen? Die Masse sieht nur den Tod, nicht die fürchterliche 119 Seelenfolter einer Vorbereitung darauf. Die um sich greifende Bildung schlafft unsere Herzen nicht aus; sie bringt es nicht mit sich, daß wir um ihretwillen gegen Tugend und Laster gleichgültig werden. Was Victor Hugo über die lezten Tage eines Verurtheilten und über die Grausamkeit der Todesstrafe gesprochen, das ist wahrlich aus keinem feigen und in ernsten Dingen matten Herzen entstanden, sondern der Fieberfrost des moralischen Entsetzens schüttelte ihn, als er seinen unsterblichen Aufruf an die Gesetzgeber schrieb; es ist die haar­sträubende Wirkung einer Stra­fe, deren gräßlichen Nebenumstände die Phantasie des Dichters nicht erfand, sondern vielleicht allein sie vollkommen zu begreifen fähig war. Wenn er uns das Beispiel jenes fürchterlich Verstümmelten anführt, bei dem zweimal selbst die Guillotine fehlte, der mit halb abgehacktem Kopfe aufsprang und vor dem versammelten Publikum, über und über von Blut triefend, Gnade flehend die Hände ausstreckte – gerechter Gott! was sind dagegen alle eure spitzfindigen Deduktionen und Abschreckungstheorien? Der Henker mußte sich auf den Unglücklichen werfen und ihm mit einem Messer den Kopf herunter­schneiden. Ihr aber, die ihr dies angeordnet habt, ihr Richter und Polizeidiener, ihr steht blaß und zitternd umher und fühlt wohl innerlich, daß vor Gott, dem allein die Rache gebührt, ihr im Augenblick größere Verbrecher seyd, als der, den ihr eurer wahnsinnigen Gerechtigkeit zum Opfer schlachtet!

120 Nach diesen äußersten Verbrechen, welche die Gesellschaft treffen, nach diesen äußersten Strafen, die sie verhängt, wollen wir, obgleich die Region der Zuchthäuser noch nicht verlassend, doch zu milderen Erscheinungen übergehen. Gemordet wird hier und da noch genug. In Spanien wurden im Jahr 1826 zwölfhundert dreiunddreißig Ermordungen angezeigt, siebenhundert dreiundsiebenzig versucht, diejenigen ungerechnet, welche nicht zur Kenntniß der Justiz kamen. Es wäre wohl interessant, über andere Verbrechen und in Rücksicht auf alle Länder Angaben dieser Art zu haben, denn Nichts arbeitet den Bestrebungen um Sittenverbesserung unserer Zeit mehr in die Hand, als die Kriminalstatistik. Freilich müßte man dann, um den moralischen Durchschnittswerth ganzer Völker und Perioden anzugeben, alles Dasjenige abziehen, was nicht geradezu Verbrechen gegen das Ge­wissen, sondern nur Verbrechen gegen den Staat ist, gegen polizeiliche Ordnung; alle die Verbrechen, wo es sich nicht sogleich um sittliche Verworfenheit handelt, als da sind: Uebertretungen von Forst- und Zollgesetzen, ferner alle die Verbrechen, welche im Rausche begangen werden: (Ein Faktor, der in den Rechnungen der Kriminalstatistik sehr zu beachten ist, da es Länder gibt, welche durch übermäßige Consumtion der gebrannten Wasser ganz aus den Fugen einer besonnenen sittlichen Haltung gekommen sind, wie z. B. in Schweden ein Zehntheil aller Verbrechen in der 121 Trunkenheit begangen wird). Im Allgemeinen muß man eingestehen, daß in den vereinigten Staaten die wenigsten Verbrechen begangen werden, eine Thatsache, die für die dortige Regierungsverfassung ein gutes Zeugniß ablegt, allein auch zum Theil dadurch erklärt wird, daß einmal die Sklaven, die einen großen Theil der Bevölkerung ausmachen, unter einer fort­währenden, beinahe pädagogischen Obhut sich befinden und sodann die Menschen in dem großen Lande zu weit auseinander wohnen, um in viele gewaltthätige Kollisionen zu gerathen. Auch ist die Durchschnittsrechnung Frankreichs günstiger als Englands; ja in einzelnen Departementen übertrifft Frankreich noch die Vereinigten Staaten; denn der Unterschied freilich in Frankreich ist so groß, daß z. B. in Korsica auf 1000 Menschen immer 1 Verbrecher kommt, und im Departement Creuse in Frankreich immer 1 Verbrecher nur auf mehr als 30,000; jedoch sind unter diesen Zahlen in Betreff Frankreichs immer nur Verbrecher gegen Personen und nicht gegen das Eigenthum verstanden. In Neu-Südwales, wo freilich die Verbrecherkolonien sind, rechnet man 1 auf 22; demnächst in Irland 1 auf beinahe 500; in England 1 auf 740; in Schottland auf 1130; in Wales auf 2320. Im Durchschnitt werden jährlich in England einige über 20,000 Personen ins Gefängniß geführt, als überwiesene Verbrecher.

Um das Beispiel eines Volkes zu wählen, wo man die Natur noch in voller Kraft glauben möchte, 122 so wollen wir Schwe­den nehmen, über dessen Gerichtsgang von den Jahren 1830 und 31 Berichte bekannt worden sind. Von Civilprozessen kamen in diesem Lande, welches ungefähr vier Millionen Menschen bewohnen, durchschnittlich ungefähr 170 Concurs-Prozesse vor, darunter, was für die Volkswohlfahrt ein schlechtes Omen ist, die meisten aus dem Bauernstande. Schuldensachen fallen ungefähr 50,000 vor, und betreffen wieder größtentheils den Bauernstand. Einigemal über 100 wurden auch Prediger wegen Schulden verklagt; 1000 mal Militärpersonen. Die Zahl anderer bürgerlichen Zwistigkeiten erstreckte sich auf mehr als 87,000. Man sieht daraus, welch’ eine Haderlust unter den Menschen waltet und wie gerade mit steigender Cultur auch die Berührungen der Menschen leidenschaftlicher und eigennütziger werden. Von Criminalverbrechen betrafen die meisten Verbrechen gegen öffentliches Eigenthum, bei dessen Verletzung nicht gerade immer der Ver­brecher sittlich verdorben zu seyn braucht, Forst- und Holzbeschädigungen; oder sie halten wenigstens den Diebstählen das Gleichgewicht; etwa 3000 Diebstähle rechnet man im Jahre, welches nicht viel sind und im Ganzen noch ein Naturvolk erkennen lassen. Auf vier Millionen Menschen kommen 4 Gotteslästerer, 9 Mordbrenner, 56 Mörder, 21 Straßenräuber, 31 Kindesmörderinnen, 14 Giftmischerinnen, 11 Sodomiter, 58 Hochverräther, mehr als 100 Wechsel- und 123 Geldverfälscher. Und alle diese Verbrechen wurden größtentheils in einem Alter zwischen 25 und 35 Jahren begangen; 44 Verbrechen jedoch sogar von Kindern, die noch nicht einmal das 15te Jahr erreicht hatten! Es ist schwer, solche Angaben beruhigend oder beängstigend zu nennen; für den Frieden und die Glückseligkeit der Menschen sind es immer zu viel Frevel, und doch sind es noch immer weniger als es seyn müßten, um über die ganze Welt den Fluch auszusprechen und in die Einsamkeit zu ziehen.

Die Verbrechen unserer Zeit – selbst wenn sie mit der zunehmenden künstlichen Bildung steigen sollten – sind nicht so bedenklich, als ein gefährlicheres Uebel: die Sittenlosigkeit ohne Verbrechen. Die Prostitution ist ein Beispiel desselben; allein Vieles, was sich nur nicht offen preisgibt, gehört in diese Kategorie. Es wird viel gestohlen, ohne daß der Dieb gehängt werden kann, viel betrogen, ohne daß man den Betrüger nur so nennen darf. Es wird sogar genug gemordet, ohne daß es Mörder und (wenigstens augenblicklich) Leichen gäbe. Die Weltbildung unserer Zeit ist deßhalb auch die, sich bei Niemanden etwas Gutes zu versehen; sondern in den unschuldigst scheinenden Berührungen vermuthet man die Schlange und rüstet sich. Verthei­digung ist jezt Angriff. Man steht auf den Hinterfüßen und traut dem Frieden nicht. Ein Satyriker würde ein weites Feld haben, wenn er allen Annäherungen zwischen Ge- und Verbrechen 124 nachspüren wollte und jene ehrlosen Handlungen aufdeckte, die gerade vor der Welt mit Ehren überhäuft werden. Er würde in seinem Eifer Manchem Unrecht thun und Vieles zu lebhaft hinstellen; allein für halbe Zustände gibt es keine andere Behandlung, als sie ganz hervorzuziehen, mit Wurzeln und Erde daran. Wie Vieles, das äußerlich schön und lustig blüht, würden wir schon von dem Wurm der Immoralität benagt finden, so daß man sagen muß: Kommt hier nicht der Tod, oder das Alter, oder Gott zuvor, so vertrocknet bald der Saft der Pflanze! Das halbe Verbrechen, die Unsittlichkeit ohne Anklagepunkt – ja, der Dichter kann hier zuweilen den dunklen Schleier lüften – im Zusammenhange aber mit dem Streben, vollständig zu seyn, möchte der Versuch einer Darstellung Frevel seyn; wir würden immer tiefer in Anklagen verstrickt, davon im Strome des Lebens fortgerissen werden. Das Böse ist mit dem Guten hienieden eng verbunden, wie die edlen Metalle mit den Schlacken, welche sie verhüllen. Gott aber ist es allein, der Herzen und Nieren prüft.

125 Religion und Christenthum.#

Ich will über die Religion sprechen und werde vor Priestern nicht dazu kommen können. Wie schwer wird es halten, das Ewige und Unsterbliche jenen Geistlichen aus dem Auge zu lesen, welchen die Religion nur in ihrem Rock und ihrer Pfründe sizt! Lange Schaaren von Pfarrern und Jesuiten wallen an meiner Erinnerung vorüber. Viele erkenn’ ich, Schleicher und Spieler, Komödianten und Verzückte, dennoch einige brave Seelenhirten. Die Konfession macht keinen Unterschied. Unter den Protestanten wird oft gerade am meisten Ablaß ertheilt und unter den Katholiken werden die meisten Ungläubigen oder Zweifler angetroffen. Kleine Stadtgeistliche sind Päbste und der Pabst ist heutiges Tags selbst nur ein schwacher alter Mann, der sich weniger um den Staat der Kirche, als um den Kirchenstaat bekümmert. Daß 126 es hier nur gleich zugestanden werde: der Geistlichen wegen glaubt man nicht mehr an das Christenthum; sondern wer es in Ehren hält, dem fließt sein Glaube aus innerer Ueberzeugung oder wenigstens aus einem dringenden Bedürfniß.

Das Oberhaus zählt sechs Erzbischöfe: deßhalb werd’ ich mich wohl, um keinen allzugrellen Fingerzeig zu geben, auf die Bischöfe beschränken müssen, um zu zeigen, was man bei uns einen geistlichen Würdenträger nennt. Dr. Cnox war ein Seitenverwandter Lord Eldons, dieses ewigen Kanzlers, der, so unwürdig er dessen war, an der Spitze des englischen Gerichts­areopags länger als 23 Jahre saß. Man will sogar sagen, Dr. Cnox wäre sein natürlicher Sohn und wird mich blind nennen, wenn ich die Aehnlichkeit nicht erkennen wollte. Genug, er war ihm theuer, und Dr. Cnox war Bischof noch ehe er Doktor war. Er studirte weniger Theologie als die Jagd. Dr. Cnox hat in Oxford alles Andere, nur nicht Theologie studirt. Indessen hielt er eine salbungsvolle Predigt, wozu Lord Eldon das ganze Oberhaus eingeladen hatte. Diese Predigt machte sein Jugendfreund Master Job und lehrte sie ihm sogar ein. Er sagte ihm, wo er nach den Vorschriften der Pastoraltheologie sanft weinen und regnen und wo er blitzen und donnern müßte. Cnox, der ein schlechtes Gedächtniß hatte, wie wir gleich sehen werden, mußte die Predigt ablesen. Allein so gut Jobs 127 Herz war, so schlecht war seine Handschrift und Cnox blieb seiner undeutlichen Schriftzüge wegen mehrmals stecken. Er war so rauhen Herzens, daß er Job noch Vorwürfe machte, die dieser mit Sanftmuth ertrug, weil er sich verliebt hatte und nichts sehnlicher wünschte, als eine Pfarre. Cnox machte seine Carrière schneller als er gepredigt hatte. Er wurde geistlicher Präbendar in Irland, stieg von Jahr zu Jahr, erhielt die Bischofsmütze, den Doktorhut und Sitz und Stimme im Parlament. Dr. Cnox ist eine unzurechnungsfähige, träge, gesellschaftliche Drohne. Er schwebt wie ein Schatten zwischen seiner Frau, einem rohen Weibe, seiner ehemaligen Wirthschafterin und dem Gedränge der politischen Zumuthungen, die man an seine Nullität macht. Er hat seinen Bischofssitz nach wie vor in Irland, zieht 30,000 Pfund jährlich aus dem armseligen Lande, 30,000 Pfund, wo nicht 1000 Pfund von Protestanten und alle übrigen von Katholiken kommen, und, wenn Freunde der Aufklärung und des Vaterlandes vor die Schranken des Hauses treten und eine Bill zur Besserung der iri­schen Mißverhältnisse einbringen, so nimmt er eine gelehrte Miene an, räuspert sich, blättert gleichsam in seinen Oxforder Colle­gienheften und erklärt: Quod non! gleichsam als wenn ihn theoretische und nicht praktische Gründe bestimmten, für sein leibliches Interesse zu stimmen! Dr. Cnox hält jährlich einmal eine Rede in seiner Pfarrkirche. Er liest sie aus dem Concept 128 eines jüngern Theologen ab. Er beweist den Mitgliedern seines Bisthums, daß er jährlich 30,000 Pfund dafür wohl verdiene, daß er lesen gelernt hat! Sonst kümmert ihn die Religion weniger als der innere Ausschuß von Crockfordhouse *). Eine Partie Whist oder Schach, wie sie enden wird, ist ihm werthvoller, als die Entscheidung eines theologischen Streites. In Frankreich würde ein solcher geistlicher Schattenkönig in der Gesell­schaft oft mitgenommen werden; man würde ihn fragen: Sir, Ihr seyd so nachdenklich, müßt Ihr Messe lesen? Oder Sir, ich habe dieser Tage von meiner Stute Semiramis ein Füllen zu erwarten, wollt Ihr es nicht taufen? Allein in England wird diese Sineküre in der Gesellschaft stillschweigend hingenommen. Sie gilt nur als Titel und Geldtruhe. Anstellungen nach dem Verdienste sind in England etwas so unerhörtes, daß sich die vornehme Gesellschaft schon von vornherein stillschweigend darüber verständigt hat, unter sich einig zu seyn und Alles, was draußen ist, zu düpiren. Dr. Cnox kommt nie in die Verlegenheit, über sich selbst erröthen zu müssen; denn was an ihm unveränderlich ist, ist seine Peerie. Wäre er nicht Bischof, so würd’ er als Lord Cnox doch im Oberhause sitzen.

129 Wir sagten schon, daß dieser Ehrenmann ein sehr mangelhaftes Gedächtniß besizt. Sonst würd’ er seinen guten und gelehrten Freund Master Job nicht so bald vergessen haben. Seinem Namen entsprechend, ist Master Job bis jezt nur in die Schule der Leiden gegangen. Ach, er ist ein alter graugewordener Schüler in dieser Trübsalsanstalt. Er wird, wie jezt die Sachen stehen, sie sobald nicht verlassen. Jobs Eltern trieben in London einen kleinen Kram und gehörten zur Gattung jener soge­nannten respektablen Leute, die, wenn sie so genannt werden, es wenigstens in den untern Ständen mehr verdienen, als in den obern. Sie hatten ihren Sohn ihrer Meinung nach zu nichts Besserem bestimmen können, als wozu ihn Gott berufen zu haben schien. Vielleicht erregte es ihren Stolz, den Sohn einst auf der Kanzel zu sehen, denn daß die sonntägliche Lektüre einer alten Predigtsammlung nach der Kirche reine Frömmigkeit gewesen, ist man bei den Christen, welche nicht Dissenter sind, nicht gleich geneigt, anzunehmen. Genug, Toby hielt als Kind schon jeden Sonntag Nachmittag eine Predigt, die er aus jenem Buch ablas und wobei er die Manieren des Pfarrers, den er Vormittags selbst gehört, so nachzuahmen wußte, daß die Eltern ihn für einen Heiligen hielten. Mit dem Oel der Stipendien wurde dies allmälig anglimmende Kirchenlicht sparsam erhalten. Toby Job war fleißig, gefügig, sanft gegen Lehrer und Kameraden; ja die Verbindung 130 mit Cnox beruhte bei ihm auf einem wahrhaften Bedürfniß und nicht auf seiner Bedürftigkeit. Doch als die Eltern von der Freundschaft erfuhren, bestärkten sie ihn, sie warm zu halten. Job trug Cnoxen wie ein Kreuz auf die Schädelstätte der jährlichen Prüfungen. Er war der Loth­se, der ihn mit eigener Lebensgefahr aus allen Stürmen der Unwissenheit in den Hafen eines guten Zeugnisses führte. Job, der ein so gefühlvolles Herz hatte, daß er sich sogar vor der Zeit verliebte, sehnte sich nach keinen höhern Ehren, als denen einer bequemen Landpfarre. Cnox vertröstete ihn und ließ sich von ihm jene Predigt machen, die jener nicht einmal lesen konnte, die ihm aber doch bis auf den heutigen Tag die Bischofsmütze brachte. Als Cnox im Zuge seiner Laufbahn war, bat ihn Job flehentlich, sein Versprechen zu erfüllen; allein leere Versprechungen waren der Lohn dafür, daß er sich Jahre lang zum Schemel jenes geistlichen Figuranten gemacht hatte. Job mußte als Hauslehrer aus einer zurückgesezten Stellung in die andre wandern, bald war er in Südwales, bald in Westmoreland, wie ein Stier ins Joch gespannt, um den steinigen Boden bisher verfehlter Erziehungen umzuackern. Dann ergriff er wohl die Lehrerstelle einer kleinen Stadtschule; zulezt, als Cnox sogar auf­hörte, seine Bitten zu beantworten, übernahm er ein armseliges Vikariat, bei dem er hätte verhungern müssen, wenn er nicht bei den reichsten Landleuten die Wochentage in 131 der Reihe herum freien Tisch gehabt hätte. Und in allen diesen widerwärtigen Schicksalen hörten die Briefe an seine Braut nicht auf, Hoffnung, Freude und Trost auszusprechen. Die Arme war verwelkt, als sie von ihm endlich geheirathet wurde. Sein Pfarrer erhielt glücklicher Weise noch eine zweite erledigte Stelle, und konnte daher den Gehalt für die Erste um ein Geringes erhöhen. So ringt nun Job in einem versteckten Winkel Englands mit den Widerwärtigkeiten des Lebens, hat für einen reichen Nachwuchs an Kindern zu sorgen und ist oft Wochen lang von den noth­wendigsten Bedürfnissen entblöst. Wäre unsere Natur weniger üppig und schön, so würde man glauben müssen, daß ein solcher Mann auch nicht eine einzige Freude im Leben genösse.

Wenn die geistlichen Charaktere sich hauptsächlich nur durch innere Herzens- und Verstandesrichtungen unterscheiden, so ist es der geistliche Stand überhaupt, welcher die Entfaltung eigener Manieren hintertreibt. Dennoch haben sie in ihrem Bereiche noch viel Abschattirungen. Der eine neigt zum Zweifel hin und zeigt dies, wenn auch nicht auf der Kanzel, doch im Schachclubb; der andere ist so religiös, daß alle seine Reden auch im gewöhnlichen Leben Predigten sind. Jene Clubbisten pflegen das Christenthum an den Meistbietenden, d. h. den Witzigsten loszuschlagen. Manchmal sind sie es selbst; sie legen die Speisen vor und geben den Ton an; ihre Ruhe, ihr Stand muß 132 ihnen als Relief ihrer Einfälle dienen; indem sie sicher sind, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, setzen sie alle Andern auf die Erde ab. Man trägt sich in der Gesellschaft mit ihren Bonmots und erkennt diese sogleich daran, daß man von ihnen immer glauben möchte, sie kämen am wenigsten von einem Pfarrer; ihr Witz waltet überall, nur auf der Kanzel nicht; doch predigen sie gediegen, aber ohne Originalität. Sie lesen keuchend ihre Predigt ab und sagen, wenn man ihnen über die Fröm­migkeit derselben sein Erstaunen ausdrückt: „Lieber Freund, ich predige nicht, was ich lehre, sondern was die Schrift lehrt!“

Andere Geistliche gibt es, welche in der Mitte zwischen der Welt und der Kirche schweben und zweifelhaft sind, wo sie am besten hingehören. Diese würden sich gut zu fürstlichen Beichtvätern eignen, weil die geistliche Würde bei ihnen mit den feinsten Manieren verschmolzen ist. Dies sind die berühmten sonn­täglichen Hauptprediger, welche einen so schönen Styl in ihren Predigten haben und besonders von den Frauen angebetet werden. Ihr Auge strahlt eine gebrochene Verklärung aus; ihre Rede besteht theils aus Prosa, theils aus Versen; jene ist mit Blumen bedeckt, mit Frühlingssäuseln und jenen transparenten Glorien, wo im Brillantfeuer die Worte strahlen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese Verse treten immer da ein, wo das Gefühl des Redners überströmt, bei Uebergängen und Schlußabsätzen. Die Frauen lassen sich 133 von solchen Geistlichen behandeln, wie von Magnetiseuren.

Andere sind mürrisch, finster und schwarzgallig. Dies äußert sich in argen Verketzerungen, im geistlichen Terrorismus und einer affektirten Orthodoxie, die sich besonders daran erkennen läßt, daß sie niemals aus dem eigenthümlichen Jargon der Bibel herauskann. Christus wird von diesen immer dargestellt, wie er niederfährt zur Hölle und die Schlange besiegt. Selten, daß ein heiliger Lichtglanz um ihn webt und er mit himmlischer Verklärung seinen Jüngern zuruft: „Friede sey mit euch!“ Diese Geistlichen glauben, vielleicht in guter Meinung, daß man unsrer eigenwilligen Zeit, gegenüber der Würde des Christenthums, nichts vergeben müsse; sie wollen ihre Festung vertheidigen, sie haben vielleicht nicht einmal die Absicht, uns in sie aufzunehmen, sondern sie wollen sie uns blos nicht freiwillig übergeben. Die Idee, die sie von Christo, vom Glauben und der Kirche haben, ist starr, ihre Worte sind schroff, Ueberzeugenwollen ist ihre Absicht nicht, sondern man müßte schon ganz vollkommen mit sich im Reinen seyn und keine Zweifel mehr haben, wenn man ganz mit ihnen übereinstimmend denken und fühlen wollte.

Man verwechsle diese trockene Orthodoxie nicht mit dem Pietismus. So orthodox der leztere ist, so hat er doch Fleisch an seinen Knochen und einen feuchten Blick in seinem Auge. Er will nicht blos strafen, 134 sondern auch gewinnen, locken, überzeugen. Um über einen einzigen Sünder den Sieg zu gewinnen, wird der pietistische Geistliche Jahrelang nicht müde, sondern umstrickt ihn so lange mit seinen oft spitzfindigen Erörte­rungen, bis jener matt wird und sich ergibt. Diese Geistlichen, die unter den Dissenters so häufig sind, wenden sich im Leben und in der Kirche immer gern an den Einzelnen, wenn sie bekehren und an die Masse, wenn sie verdammen wollen. Die Masse verwerfen sie, aber sie suchen Einen nach dem Andern von ihr abzusondern. Sie besuchen seine Wohnung und helfen, wenn er darbt; sie geben ihm die Bücher, die ihm zu seiner Erweckung und Erbauung fehlen. Diese Geistlichen sind in einer ewigen Aufregung, weil natürlich das Gepräge aller der Dinge und Verhältnisse, die wir um uns her sehen, durchaus nicht mehr apostolisch ist; wüßten sie ein Mittel, alle Künste, Gewerbe und Handelszweige in Berührung mit der Kirche zu bringen! Wüßten sie eine neue Hierarchie herzustellen, bei der sie weit entfernt sind, das Pabstthum nachzuahmen, sondern nur die erste christliche Gesellschaftsverfassung!

Um das Zusammenleben junger und älterer Theologen, wie es sich z. B. in unserer Zeit findet, zu charakterisiren, will ich hier die Mittheilung eines Freundes hersetzen, der zuerst geistlich studirte, später den Stand verließ und jezt sogar für einen Gegner desselben gehalten wird. Karl .... erzählte mir:

135 „Als ich in Oxford war, gab es daselbst der theologischen Richtungen mannigfache; jede hatte einen Professor an der Spitze. Der eine basirte den Glauben auf die Vernunft, der andere die Vernunft auf den Glauben. Ein berühmter Gelehrter war da, welcher sich so lange mit philosophischen Vorstudien, wie Magneten, bestrichen hatte, daß er hernach durchs Christenthum wandeln konnte, wo ihm alle Dogmen anschossen und es aussah, als müßten seine philosophischen Meinungen auch eine evangelische Geltung haben. Er behauptete, daß das Christenthum eine Wahrheit des Gemüthes wäre. Ein anderer Theologe, der die innere Regsamkeit des Gedankens, nicht die Wärme des Gefühls hatte, machte das Christenthum zum Schluß­stein der höchsten philosophischen Spekulation. Er bewies, daß die Grundwahrheiten des Christenthums einen metaphysisch vollkommnen Sinn hätten, und besaß, trotz dieser fixen Idee, eine gewisse trockene Ironie, die ihn besonders zur einseitigen Polemik gegen seine Gegner geschickt machte. Ein dritter war Pietist und trotz eines jugendlich hübschen Aussehens in dem Grade, daß er während der Vorlesungen nie die Augen aufschlug, sondern sich in das Holz des Katheders mit seinen Blicken einsog, wahrscheinlich um nicht zu erschrecken, wenn, seinen orthodoxen Behauptungen gegenüber, ihn die Wände so kahl und zweifelnd anblicken sollten. Interessant aber durch seine Manieren war allein 136 derjenige Professor, welcher die Kirchengeschichte las und für einen getauften Juden galt. Als ich den Mann zum Erstenmal auf der Straße sah, erstaunte ich über seine Originalität. Er ging am Arme seiner Schwester im nachläßigsten Aufzuge einher. Die Kleider waren alt, oder wenigstens unsauber gehalten; ein weißes Tuch war nachläßig um den Hals gewickelt; der Hut war ohnedies vom vielen Grüßen der vorübergehenden Commilitonen kahl und abgegriffen. Allein trotz dieses abschreckenden Aeußern lag in dem Antlitze des Mannes etwas, das urplötzlich die Theilnahme fesselte. Die blöden Augen und der schlecht rasirte schwarze Bart hinderte nicht, sich an dem Anblick dieser Mienen mit innerer Behaglichkeit zu weiden. Eine heilige Sabbathruhe lag auf ihnen, ein so beglückter Gottesfriede, daß ich mich zweifelnd fragen mußte: „Er ist ein getaufter Jude?“ Er war es in der That, er war von dem Idealismus der christlichen Religion überwältigt worden und schmieg­te sich an die poetische Erscheinung Christi mit der Innigkeit des ihm der Liebste gewesenen Jüngers an. Er vernachläßigte sich selbst und den Umgang mit der Welt, aus Liebe zu dem großen Religionsstifter, den er nicht anders, als: „der Herr, der Heiland, der Meister,“ ganz im orientalischen Dufte dieser Wörter nannte. Man konnte nicht sagen, daß er kombinatorisches Talent für die Bereicherung der theologischen Wissenschaft selbst hatte, allein, was ihn den Studenten so 137 lieb machte, war dieser innig ver­schmolzene Parallelismus des Wissens und Glaubens bei ihm, die Ineinanderwirkung der christlichen Gesinnung mit der christlichen Erkenntniß und die prakti­sche Abgrenzung, die er den Wissenschaften gerade für den nöthigen Bedarf zu geben wußte. Während es bei gelehrten Theologen so schwierig war, ihre, fast einen weltlichen Charakter tragende theologische Wissenschaft sogleich mit dem spätern, geistlichen Berufe auszugleichen, fand man bei ihm Alles zusammen, den Text und die Melodie. Seine Forschungen klangen immer in das geistliche Leben hinein und in den meisten streitigen Fällen, wo Gründe der Kritik und der Geschichte entscheiden sollten, machte er das Herz und das religiöse Bedürfniß zum Schiedsrichter derselben. Trotz der vielen komischen Züge, die ein Mann entfaltete, welcher vom Leben in der Gesellschaft keine Idee hatte, trotz der vielen Anekdoten, die auf Rechnung seiner Leichtgläubigkeit und Ungeschicklichkeit umliefen, hingen wir alle mit der größten Liebe an ihm; er war uns das sichtbare Vorbild der Möglichkeit, sich in Glaubenssachen mit Heiter­keit beruhigen zu können; sein unauslöschliches heiteres Lächeln war der Abglanz einer Ueberzeugung, die überwunden hatte und gegen alle Zweifel Stich hielt. Und dies alles mußte uns um so mehr als unverfälschte Wahrheit erscheinen, als in ihm die schwierige Aufgabe einer radikalen Bekehrung, einer Bekehrung vom Judenthum bis zum 138 Glauben an Christus gelöst schien. Weil dieser gottselige Mann nur wenig Sinn für Menschenkenntniß hatte, so hatten Heuchler in seiner Herzensgüte gut fischen; es gab deren genug, welche, obschon so jung, eine geistliche Augendienerei trieben, die ihr Patron nicht durchschauen konnte. Es waren oft drei, vier Auserwählte, die sich ihm so zur Nothwendigkeit zu machen wußten, daß er ihren Aussagen blindes Vertrauen schenk­te. Wen sie verkezerten, den verdammte er; wen sie anpriesen, den zog er in seine Nähe. Unvergeßlich werden mir jene theologischen Thees bleiben, wo oft mehr als zwanzig junge Theologen in der Bibliothek ihres Meisters empfangen und zu einer heitern Unterhaltung über wissenschaftliche Gegenstände angeleitet wurden. Einige der Studenten übernahmen die Bereitung des Thees, andere verwalteten die Zuckerbüchse, andere endlich den Rum. Es geschah nun wohl bei dem Uebermuth der Studenten, daß Zucker und Rum in einem Grade konsumirt wurden, welcher zum Thee in gar keinem Verhältniß stand und obschon ein ganzer Korb Zwieback für diese theologischen Unterhaltungen vom Bäcker geliefert wurde, so konnte es Neulingen des Clubbs doch wohl begegnen, daß sie in ihre zweite Tasse nur noch die Brosamen des ausgeleerten Korbes schütten konnten. Das Meiste von dem, was gesprochen wurde, war gleisnerisch; die jungen Geistlichen hatten nur die Absicht, sich bemerkbar zu machen und warfen 139 Fragen auf, ganz ohne Plan und Ziel, nur darauf bedacht, sich hervorzuthun. Der Wirth aber gab auf alles Rede und Antwort und endete mit diesen Soireen jede Woche gewiß in der seligsten Stimmung von der Welt.“

So könnten wir aus dem Leben der sich bildenden geistlichen Jugend, ihrer Lehrer und dem Pfarrersdaseyn selbst noch viel charakteristische Züge aufzeichnen, doch ist es Zeit, diese Präludien zu beenden und unsern Gegenstand in seiner Allgemeinheit zu erfassen.

Ach, welch’ ein Christenthum ließ uns das achtzehnte Jahrhundert als Erbschaft zurück! Mitleidig zuckten die Philosophen zu der in Märchen verwandelten evangelischen Geschichte die Achsel. Die riesengroßen Strahlen, welche sonst die Sonne des Evangeliums geworfen hatte, wurden immer matter und zurückgedrängt in einen Anfangspunkt, der nicht einmal, bei der herrschenden Geschmacklosigkeit, noch als Poesie, sondern nur als kindische Fabel angesehen wurde. Konnten in der Philosophie nicht mehr feste und ausgearbeitete Systeme bestehen, wie Cartesius, Spinoza und Leibniz die lezten dogmatischen Versuche gemacht hatten, mußte selbst in der Philosophie sich das metaphysische Dogma vom äzenden Verstande der Empirie verzehren lassen; um wie viel mehr schwanden bei den Denkern die Ansprüche, welche bisher das Christenthum gemacht hatte, in Nichts zurück! Da, wo noch das Dogma vertheidigt wurde, mangelte es 140 größtentheils an Wärme des Gemüths, der Skepticismus hatte der knöchernen Orthodoxie gegenüber leichtes Spiel; er hatte den Witz, die Phantasie, die zur Hilfe geruf’ne empirische Wissenschaft für sich und war durch das allgemeine Zugeständniß gesichert, daß seine künstlerische Aeußerung in den verschiedenen Literaturen, die damals Geltung hatten, namentlich in der englischen und französischen, auch zugleich Epoche im Schriftenthum überhaupt machten. Die Sarkasmen Bayle’s hatte Shaftesbury nach England übertragen und wie in Frankreich bald alles, was schrieb und dachte, in jener Denkungsart lebte, deren Koryphäen sogar in Deutschland an den Hof eines Königs als Paradestücke des Geschmacks und der Philosophie gerufen wurden, schossen auch in England feine und redegewandte Spöt­ter nach einander auf, welche, schon die Grundlagen der Religion überhaupt verwirrend, dem Christenthum nun gar noch keine weitere philosophische Geltung zugestanden. Die innern Widersprüche der Bibel wurden aufgedeckt; zum Erstenmale fing man an, die volksthümlichen Elemente, Nationalvorurtheile und Traditionen aus vergangnen Zeiten in den Berichten des neuen Testamentes zu unterscheiden; das phantastische Gewand, die jüdisch-orientalische Schlacke, in welche sich die Erzählung vom Ursprung des Christenthums hüllte, wurde von ihr abgesondert und der übrig gebliebene Rest, mit dem man nichts anstellen kann, weil das innere Wesen 141 des Christenthums allerdings mit seiner äußern Erscheinung innig verbunden ist, schrumpfte in eine Begebenheit zusammen, deren tausendjährige großartige Nachwirkung die Neuerungssucht nicht vermochte, sie für größer zu halten, als sie ihr erschien. – Ja, ist nicht sogar das Faktum eines gekreuzigten Christus gänzlich geläugnet worden? und hat man ihn nicht zu einer dichterischen Personifikation der Sonne in demselben Sinne machen wollen, wie schon im Herkulesmythus nichts als eine Verherrlichung der wunderthätigen Wirkungen jenes Gestirns enthalten seyn sollte? Das, was uns das achtzehnte Jahrhundert vom Christenthum hinterließ, war eine wüste Zerstörung, über deren Trümmern man höchstens noch der natürlichen Religion Tempel bauen wollte.

Das religiöse Leben selbst konnte eben so wenig gedeihen, da es nichts mehr zur Anknüpfung vorfand. An Verketzerung und Verdammung des Skepticismus von Seiten der Orthodoxie fehlte es nicht, allein die Orthodoxie, die sich selbst überlebt hatte, enthielt keine Befruchtungskeime mehr in sich; sie konnte durch praktische Wirksamkeit in den meist leer stehenden Kirchen kaum mehr bewirken, als daß sich die dogmatischen Sätze und die biblischen Ausdrücke dafür in dem Gedächtniß des Volkes nicht ganz verloren. Pietisten gab es zwar hier und dort. Wie aber ihr Streben immer nur auf Absonderung geht, so konnten sie die trockne Geistesrichtung, die sie umgab, selbst wenn 142 ihnen Macht der Rede und Vermögen zu Gebote stand, wie beim Grafen Zinzendorf, doch nicht entzünden, und wenn es erwiesen ist, daß sich das religiöse Bewußtseyn allmälig wieder durch die Zerstreuung der Menschen und die Nüchternheit ihres Verstandes durchgearbeitet hat und unsre Zeit gegen die vergangene wenigstens eine allgemeine Durchschnitts­religion wieder anerkennt, so ging dies nicht von den Pietisten aus, als wenn sie gleichsam allein den göttlichen Funken geschürt und gehütet hätten, sondern es trafen manche andere Umstände zusammen, welche den erwähnten Unterschied hervor­riefen.

Indessen ist gerade durch die Geschichte des religiösen Gei­stes, wie er in unserer Zeit gegen die vergangene absticht, ein wichtigeres Ergebniß für das Christenthum enthalten, als wenn Konzilien, Universitäten oder Männer von dem Scharfsinn eines Kant über das, was am Christenthum zulässig oder verwerflich ist, entschieden hätten. Ich meine nämlich dies: In dem Maße als wir das Christenthum gegenwärtig gegen die Erbschaft des vorigen Jahrhunderts reagiren sehen; in dem Maße, als sich der christliche Glaube wieder sichere Ruhepunkte und positive An­knüp­fungen hat erobern können; ist auch die Fähigkeit und Kraft ausgesprochen, welche wir hinfort der Tradition dieses Glaubens für zukünftige Zeiten zuschreiben dürfen. Denn wenn wir im Allgemeinen doch nicht läugnen können, daß unsre Zeit, 143 die doch von der Spottlust der vergangenen so weit entfernt ist und gerade, durch mancherlei Umstände bewogen, den besten Willen zeigte, das Christenthum wieder in seine alte ehrwürdige Geltung einzusetzen, es doch nicht mehr bis zu einem glänzen­den Siege desselben, bis zu einer aus ihm selbst hervorstrah­lenden Entfaltung seiner göttlichen Glorie zu bringen wußte; möchte man da nicht auch annehmen, daß das Ziel, welches vom Christenthum ferner erreicht werden kann, nun wohl deutlich und klar genug vor Augen liegt? Jezt, wo Niemand mehr für die Frivolität eines Voltaire einstehen will, wo Jedermann den Atheismus für Renommisterei ansieht und die biblische Ge­schichte sicher ist, gegen jede Zerlegung ihres naiv-erhab’nen Inhaltes allgemeinen Schutz zu finden; ist es doch auffallend genug und mit einer außerordentlichen Belehrung für uns und alle Zeiten verbunden, daß wir in der Stufenleiter von Ent­zückung und Gottandächtigkeit, die das Christenthum schon erlebt hat, doch nur eine der mittelsten Sprossen wieder ein­nehmen und beim besten Willen, die Göttlichkeit der Offen­barung anzuerkennen, doch nicht höher gekommen sind, als das Niveau unsres gegenwärtigen religiösen Bewußtseyns ist. Jeder­mann, selbst der vernunftgläubigste Rationalist verwirft die Be­handlung, welche das achtzehnte Jahrhundert dem Christen­thum widerfahren ließ und dennoch hat sich dasselbe nicht wieder von seiner Erniedrigung bis zu dem alten Glanze erheben 144 können und bedarf einer Menge zusammentreffender Um­stände, bedarf eines großen Apparats von origineller Spekulation auf der einen, und überschwenglichen Gefühls auf der andern Seite, um sich ungefähr in der Stellung zu erhalten, in der es sich ge­genwärtig befindet. Die organische, Leben und Geschichte schaffende Kraft hat das Christenthum verlassen; der Keim von Civilisation und Völkerbeglückung, der in ihm lag, sein Historie schaffendes Moment ist abgestorben und hat sich überlebt. Die Reformation mit ihren Folgen war die lezte Verklärung der dem Christenthum mitgegeb’nen Schöpfungskraft. Allein wie entschie­den gerade diese Schöpfung gewesen ist, sieht man z. B. daraus, daß doch gewiß in der gegenwärtigen Erscheinung des Christen­thums das Moment liegt, auch der Katholicismus müsse noch einer organischen Wiedergeburt theilhaftig werden. Und was ist unwahrscheinlicher? Der Katholicismus kann innere Reformen mit sich vornehmen, er kann es sogar bis zur Aufhebung des Cölibats bringen und doch würde dieser Umschwung das Meer der Dinge und Begebenheiten, das Meer der Geschichte in keine großen Wallungen mehr versetzen. Und wäre die erneuerte Um­wandlung des Katholicismus in religiöser Hinsicht so durch­grei­fend wie die Reformation es war, so würde sie derselben doch nie darin gleich kommen, daß sie es wie jene auch in politischer seyn könnte. Das Tau, welches früher den Anker des Glaubens und 145 das Fahrzeug des historischen Lebens zu­sammenhielt, ist durchschnit­ten. An die Geschichte der Zukunft werden sich noch zahllose Hebel legen können, aber keiner derselben wird vom Christen­thum ausschließlich in Bewegung gesezt seyn.

Dennoch kann bei diesem wunderbaren Resultate, welches unsere Zeit gewonnen hat, das Christenthum an und für sich noch der segnenden Wirkungen eine Fülle haben; es kommt nur darauf an, daß die Parteigänger desselben sich nicht mehr einreden, große, offene Völkerschlachten zu gewinnen. Kreuzzüge können nicht mehr gepredigt werden; ja es ist selbst dies das Rührende am Katholizismus, daß es die im Schooße desselben lebenden kühnen Männer und aufgeklärten Denker der Mühe gar nicht werth hal­ten, ein in sich selbst verwelkendes und absterbendes Institut zu bekämpfen oder neu zu beleben. Wo sollte man glauben, daß der Katholizismus tiefere Lebenswurzeln geschlagen hätte, als in Spanien, und dennoch schwankt er bei den gewaltigen Umwäl­zungen dieses Landes, wie mechanisch abgewogener Ballast, von einer Seite auf die andere. Das Volk hängt an den Symbolen dieses Glaubens, ohne aber viel weiter zu sehen, als höchstens noch bis zu einem berühmten Wallfahrtsorte. Zusammenhang einer allgemeinen Kirche, Rom, der Pabst – das sind abgestor­bene Begriffe, die bald auch nicht mehr in Spanien gelten würden, wenn fanatische Priester sie nicht zuweilen an­schür­ten. 146 Man mag nun von dem Constitutionalismus, der jezt über die Spanier gekommen ist, denken, was man will, so muß man doch einräumen, daß er nichts Gezwungenes und Gemachtes ist, sondern mit jener Idee zusammenhängt, welche man in Spanien von Cul­turfortschritten überhaupt hat. Dieser Constitutionalismus igno­rirt aber das religiöse Leben mit vollkommnem Gleichmuth. Er wirft dem gemeinen Volk einen Knochen hin, woran es nagen mag, denkt aber, trotz des über ihn gekommenen Reformationseifers, nicht im Entferntesten daran, auch noch die Kirche als etwas Wesentliches anzusehen, worauf es im Völkerleben groß ankäme.

Und blickt man dahin, wo in Religionssachen nicht mehr die unmittelbare gotttrunkene Vision des Himmels sich zeigt, son­dern Prämissen und Brücken gebaut sind, um in das Allerhei­ligste einzusteigen, so sieht man dort eben hinlänglich, daß Religion und Christenthum überall da, wo sie etwas Wirksames vorstellen, vermittelt sind, vermittelt durch die Verachtung der Welt, vermittelt durch die Armuth, vermittelt durch die Schwär­merei, durch die Philosophie. Und in dem Gebiete der Lehre selbst, wie auch in dem gebildeten Theile der Gemeinde, herrscht so heftiger Prinzipienstreit über die Er­kenntniß des Göttlichen und die dem Verstand und der Phantasie gesezten Grenzen, daß in der That das religiöse Bewußtseyn nicht nur überall ein kämpfendes ist, sondern auch für sich abgeschlossen und vereinzelt dasteht.

147 Wir haben es gegen das vorige Jahrhundert dahin gebracht, daß weit mehr religiöse Innigkeit verbreitet ist, als frü­her, daß die Kirchen besuchter sind, daß die Literatur nicht mehr denkt, durch eine Verspottung christlicher Lehrbegriffe ihre große Aufgabe zu lösen; allein zu einer vollkommenen Wie­der­einsetzung des Christenthums in seinen vorigen Stand, zu einer sich von selbst verstehenden Begründung aller moralischen und Kulturfragen einzig und allein durch das Christenthum, zu einer ihm verliehenen Gewalt, wieder die sittliche Vorausset­zung aller Dinge zu seyn; dazu konnte es unsere Zeit nicht bringen, und keine Zeit wird es wieder dahin bringen. In der Prüfung und Sichtung der mit dem Christenthum verbundenen philosophi­schen oder historischen Fragen wird hinfort nur noch die größte Freiheit herrschen. Die wechselseitigen Meinungen können sich austauschen, ohne verketzert zu werden. Chri­stus kann nach Jedes eigenthümlicher Weise gepredigt werden; er kann dem Einen Gott, dem Andern Mensch seyn: da findet keine Aus­schließung mehr statt; und ebenso würde die Kirche, wollte sie diese Ausschließung üben, entweder bald verlassen seyn, oder sich entschließen müssen, wollte sie einmal Normal­be­griffe fest­setzen und unumgänglich machen, das Wesen der Gemeine auf die Kirchenstühle zu beschränken und die Gemein­schaft nur in­nerhalb der Steinmauern der Tempel gelten zu las­sen. Das wür­de aber gerade eine Erscheinung wie in der 148 politischen Welt geben, wo die linke Seite, wenn sie auch nicht das Heft der Regierung in Händen hat, darum doch nicht auf­hört, dem ge­meinsamen Vaterlande einverleibt zu bleiben und den einmal emp­fangenen Stempel des Ganzen überall, selbst noch im Aus­lande zu zeigen, nämlich in der sie Alle liebenden und um­schließenden Muttersprache. Die Geistlichkeit weiß auch zu wohl, daß die Kirche nicht bloß da ist, wo eine Kanzel ist, sondern sie liegt beständig im Streite mit den Richtungen, die sie sich feindlich glaubt, sucht sie zu gewinnen und hütet sich wohl, sich eine größere Gewalt zuzutrauen. Sie erklärt die Taufe für einen bürgerlichen Akt schon dadurch, daß sie denen, welche für den neugeborenen Weltbürger das Glaubensbekenntniß ab­legen, nach Umständen eine strengere oder nachgiebigere For­mel anzubieten hat, ja daß sie sogar zugesteht, der Pathe solle nicht sein eigenes Bekenntniß ablegen, sondern nur sagen, ob er wünsche, daß das Kind in einer Weise erzogen werde, die gar nicht mehr zu umgehen ist, weil sie zur bürgerlichen Ord­nung gehört. So die Meinung toleranter Theologen! Stren­gere, die bei dieser oder jener Gelegenheit 36 Artikel beschwo­ren wissen wol­len, oder Gesetzesvorschriften, die diesen Schwur zur Bedin­gung von Rechten und Aemtern machen, gehören der Zeit nicht mehr an und nähren nur noch auf beklagenswerthe Weise den Rest von Erbitterung gegen die Kirche, der sich vom vorigen Jahrhundert auf das unsrige vererbt haben 149 dürfte. Das große Gesetz für die Zukunft wird sich geltend machen, daß es keine Kirche mehr, sondern nur noch Wahlverwandtschaften gibt und daß die Gemeinde nicht mehr aus solchen besteht, die zusammen gerufen werden, sondern die sich selbst zusam­men finden. Es gibt keine Religion und kein Christenthum mehr ohne Ueberzeugung, und deßhalb ist der Glaube die Sache des Einzelnen geworden.

Wenn man nun aber doch bei dem in Religionssachen herr­schenden Freimuth anerkennen muß, daß in unserer Zeit selbst der Indifferentismus die gute Seite hat, daß er wenigstens eine Verspottung des Heiligen nicht zu äußern wagt, und wenn sich sogar eine weit größere Innigkeit aus den Gemüthern der Men­schen hervorarbeitete, und religiöse Empfindungen hie und da zu wunderlich überreiztem Ausbruch kommen ließ, so mußten mancherlei Ursachen dazu beitragen, einen solchen Umschwung in der Stimmung und Gesinnung der Zeitgenossen hervorzu­bringen. Zunächst klang, verborgen zwar und still, aber doch rein und lauter, aus dem vorigen Jahrhundert selbst ein frommer Ton herüber, oder wenigstens ein solcher, der zunehmend und sich verstärkend wohl dem Läuten der Kirchenglocke ähnlich kam. Der Esprit und die Frivolität jener Zeit konnten das Herz nicht befriedigen, und wenn auch nur Wenige ein so ernstes Streben nach Wahrheit in sich pflegten, daß sie, angewidert von dem spirituellen Leichtsinn jener Zeit, oder gar in Schrecken 150 gesezt von dem materiellen Dogmatismus, in welchen sich die Zweifelsucht verlor, nach einer reineren Quelle der Erkennt­niß suchten: so konnten sie doch mit der Zeit ihr eigenes Ufer übertreten und den an der Sonne der Aufklärung schmachtenden Sand erfrischen. Es ist hier nicht von dem Pietismus und den Dissenters die Rede, die ihr religiöses Leben im trocknen Dogmen-Wortspiele entnerven ließen, wohl aber von Richtun­gen, die zunächst gar nicht aus christlichem Bedürfniß und nicht einmal völlig aus religiösem hervorgingen, sondern nur mit der Zeit eine Anwendung darauf zuließen. Die kalte Verstandes­richtung trieb das entgegengesezte Extrem, eine melancholische Empfindsamkeit hervor. War auch diese zunächst nicht auf göttliche Dinge gerichtet, sondern vielmehr eine Vergötterung des in allen seinen innern Zuständen belauschten Menschen, so wurde dadurch doch ein innigerer Verkehr der Gemüther ge­pflegt. Es rückten Gleichgesinnte näher zusammen und schu­fen sich einen Cultus, der zwar nur der Liebe und Freund­schaft gewidmet war, aber doch mit der Zeit leise an die tieferen Geheimnisse der Welt und des Lebens anpochte. An einzelnen Charakteren, die sich sogar in die Annalen der Geschichte ge­schrie­ben haben, kann man den allmäligen Uebergang aus dem Ueberdruß an der grassirenden Verstandesrichtung bis zu einem mit rührender Zerknirschung ausgesprochenen Bedürfniß reli­giöser Ueberzeugung verfolgen. Wenn auch dabei 151 das Christenthum immer noch in ziemlicher Entfernung blieb und fast eine wunderliche Furcht, sein höheres Bedürfniß mit dem Christenthum identificiren zu wollen, sich an dem damaligen Menschen unterscheiden ließ; so lag es doch in der Natur der Sache, daß das blinde Umhertappen in einem Reiche von Ge­fühlen, welche durch die entdeckten Wirkungen des Mag­netismus noch geheimer und unklarer wurden, sich weder selbst beruhigen, noch mit Andern verständigen konnte. Der schwan­kende Kahn suchte ein Ufer, um anzulanden, und lief, um sich mit dem ewigen Lebenswasser zu versehen, bald in die Häfen der heiligen Küste ein. Da die Zeit einer neuen Religionsstiftung nicht günstig oder sie dazu nicht reif war, so konnte man nur auf das Christenthum wieder zurückkommen. Dies wurde der unge­fähre positive Ausdruck für ein unbestimmtes Beben und Be­dürfen, welches die Gemüther der Menschen beängstigte. Man hatte in ihm eine haltbare Form und Stoff zur Uebung seiner innern Kräfte genug, weil es im Bereiche der Kirche genug Er­starrtes zu lösen, Gebundenes zu befreien, Fremdes zu be­kämpfen gab. Nichts hebt ja die Menschen so hoch, selbst über ein Maß von Kraft, das man sich nie hätte zutrauen sollen, so hoch selbst über das Maß von Ueberzeugung, über welches man sich Rechenschaft geben kann, als die Nothwendigkeit, seine Sache vertheidigen zu müssen. Der Ueberschweng­lichkeit in negativen Richtungen stellte sich eine andere im Positiven 152 gegenüber und bewirkte dadurch allerdings, daß zwischen bei­den Lagern der Indifferentismus sich hindurch­drängte, gab aber zugleich den Institutionen der christlichen Kirche Zeit, sich von ihrem Falle zu erheben und sich mit neuer Würde zu bekleiden. Und wo die, die alte Dogmatik belebende Gefühls­wärme nicht blinde und fanatische Jünger für den Streit er­wecken konnte, da strömte sie doch allmälig in die all­gemeinen Empfindungen über und machte, daß die Herzen der Menschen sich weicher und laulichter befühlen ließen; aus welcher Stim­mung sich eigentlich die ganze Stellung unsrer Zeit gegen das Christenthum ergeben hat, nämlich diejenige, daß man zwar nicht mehr blind an seine Dogmen glaubt, sie aber als einen heiligen und ehrwürdigen Ueberrest des Alterthums geehrt und möglichst erhalten wis­sen will.

Bei den politischen Stürmen, welche durch das Grenzgebirge der beiden Jahrhunderte sausten, hätte das Christenthum, wäre es noch ein hoher, die ganze Welt überragender Stamm gewesen, unfehlbar den aufgeregten Elementen nicht widerstanden. Na­po­leon schonte wohl auch deßhalb den Pabst, weil er ohnehin schwach genug und in der hartnäckigen Benutzung seiner kleinen Macht dem gewaltigen Andrange seines tyrannischen Willens nirgends zugänglich war. Die Blüthen des Christen­thums wuchsen längst auf niedrigen Gesträuchen und konnten deßhalb leichter verschont werden, indem die Wetter der Ge­schichte über 153 ihnen wegrollten. So kam es, daß diese gewaltigen Geburtswehen einer neuen Zeit, deren in Heiterkeit erzeugte und in Schmerz geborene Söhne wir sind, das Eigen­thum der Kirche – ich meine die in den Gemüthern gele­genen geistigen Besitzthümer derselben – wenig verlezten; ja im Gegentheil schossen die dreigespaltenen Kleeblätter der christ­lichen Liebe aus der Wiese des Lebens frischer und grüner empor als je, da sich die Wolken oft genug entladen und Berg und Thal erquickt hatten. Unglück hebt, ein Ungewitter befruch­tet. Die Empfindungen der Menschen, ihre Bestrebungen in allen Gebieten wurden nach endlicher Beilegung des langen Völ­kerkampfes muthiger und kräftiger; was in Frage stand, wurde mit ernstem Sinne angesprochen, der Anspruch wurde dringlicher wiederholt und wohl gar in Drohung verwandelt. So traten auch Kirche und Religion mit festen Schritten auf, ent­wickelten durch inneren Parteienkampf eine Fülle bisher unbe­kannter Lebenskraft; es war, als hätte die Zeit so Wunderbares und Außerordentliches selbst erlebt, als hätten die Menschen in dem Grade ihre Maßstäbe vergrößert, daß nun wohl auch in dem Gebäude des Christenthums der großartige Grundriß behauptet werden konnte. Der Himmel schien der Erde näher gebracht und das Wunder weniger unmöglich zu seyn. Die Zeitgenossen fühl­ten, daß sie nach so langer Zerstörung ein neues Leben aufzu­bauen hätten. Die Gebildeten unter ihnen 154 wußten, welch ein Antheil am Dank daran den Massen gebührte, die sich im Schmelztigel widerwärtiger Begegnisse verjüngt hatten. Da war man auch gerecht genug und besonnen, aus der Zerstörung so viel zu retten, als möglich war, und in den Momenten, wo Eile und Hilfe Noth that, keine großen Schöpfungen aus dem Nichts oder aus der Theorie zu beginnen. Freilich hat man zu weit reagirt und zu viel künstlich musivisch zusammengesezte Trüm­mer der Vergangenheit als dauerhafte und unumgängliche Orga­ne unsres Lebens darstellen wollen; allein ein Theil jener Reak­tion war gerecht und billig; denn Niemand baut ein neues Haus, ohne die Steine des alten, welches auf derselben Stelle stand, mit zu demselben zu verwenden.

Außer diesem großen Zuge der Begebenheiten gab es manche andere günstige Einwirkungen, welche Religion und Kir­che wieder in einen Theil des alten Ansehens sezten. Philosophie und Kunst hatten sich aus der verworrenen Gegenwart in die alten Zeiten geflüchtet. Die kräftigsten Gedanken und verklär­testen Phantasien waren in dem immergrünen Epheu der Vergan­genheit verwirkt. Das Studium zog eine so süße Gewöhnung an seinen Gegenstand nach sich, daß sie sich auch auf die neuen Verhältnisse übertrug. Die Denker wurden auf den Zusammen­hang der bisherigen Menschenschicksale aufmerksam und er­kannten den Unterschied der Zeiten und Epochen, und verliebten sich wohl in die Merkmale derselben selbst. Die Künstler 155 überzeugten sich, daß die wahre Meisterschaft allerdings in der persönlichen Kraft des Einzelnen liegt, aber daß selbst den Gemälden eines Titian und Raphael kein so großer Zauber inwohnen würde, wenn sich die Phantasie dieser Künstler nicht an den Hintergrund ihrer Zeit und des damaligen Lebens hätte lehnen können. Wie viel Aufforderung, die kalten, zweifelnden Stimmungen zu bekämpfen und Ernst und Thatkraft wieder herzustellen! Dazu kam, daß die Unbill der Ereignisse selbst, und namentlich ihre auf die Volkswohlfahrt wirkenden Nach­wehen, daß die Verletzungen der Nationalitäten und die Demü­thigung stolzer Fürstengeschlechter die Menschen mannig­fach erregte, an den Himmel und das ewige Recht zu appelliren. Die Kräftigen boten sich der Gerechtigkeit selbst als Schwert der Rache an, die Sanfteren zogen sich in die Einsamkeit zurück, um jenen trauten Umgang mit dem Geheimnißvollen zu näh­ren, welcher in der Form des Pietismus zwar Nichts so sehr untergräbt, als die Kirche, aber auch Nichts so sehr gehoben hat, als die Religion. Ja, selbst wo man von einer so krank­haften und trägen Erregung der Gefühle und einer im wäs­serigen Auge des Pietismus unstät umherirrenden Gedan­ken­losigkeit sich verlezt fühlte, da sah doch der ernste Denker, dem nur der Mangel an Freiheit in jener Verwirrung, an Selbst­be­wußtseyn und freudigem Menschenstolze so wider­wärtig war, daß allerdings diese krankhafte Absonderung von der 156 Gesellschaft weder mit Stillschweigen umgangen, noch mit Lächeln widerlegt werden konnte; sondern der Krank­heit mußte man Gesundheit gegenüberstellen; man mußte sich selbst auf einem ernsten Streben nach Aufklärung in göttlichen Dingen ertappen lassen. So baute sich eine Stimmung auf die andere. Und dadurch, daß man mit einander stritt, eine Idee so oder so zu bestimmen, konnte denn wohl die Idee selbst nur gewinnen.

Selbst die ausschließlich politischen und sozialen Tendenzen der Zeit konnten der sich einmischenden Religion nicht ent­rathen. Alles, was die Humanität erstrebte, konnte durch fromme und edle Motive nur gerechtfertigt werden. Wodurch ließ sich die Abschaffung der Sklaverei eindringlicher emp­fehlen, als durch die Lehre von einer durch das Christen­thum veredelten Menschenwürde! Und wenn man sich streitet, ob die Juden ein Recht haben sollen, an unsern gemeinsamen öffent­lichen Ange­legenheiten Theil zu nehmen, so konnte sich an dieser Frage das Schwert des Glaubens vorn und hinten, beim r und Wider schärfen. Die Gegner der Frage drangen auf das Chri­stenthum als ein heiliges Fluidum, das durch die Adern unsers politischen Lebens rinnen solle; die Vertheidiger riefen den Geist der Milde und Versöhnung an, indem sie ohnedies das Heil der Religion nur in ihrer Trennung vom Staat erblicken. Wir wollen später erst die Frage entscheiden und sagen, wessen Berufung 157 die richtigste ist; allein beide haben einen ernsten und tüchtigen Bewegungsgrund, der wenigstens das Wesen der Religion nicht kompromittirt. Und so sind bei all den großen Fragen, mit deren Lösung unsere Zeit sich beschäftigt, die Wahrheiten der Reli­gion und Moral, tröstend oder anfeuernd, immer in der Nähe des Schlachtfeldes geblieben. Der Irrthum beruht sich auf sie, die Wahrheit, die Lüge, die Ueberzeugung. Die Religion kann ent­stellt, aber so leicht nicht mehr mit Füßen getreten werden, wie im vorigen Jahrhundert.

Gehen wir nun auf das religiöse Leben der Gegenwart näher ein, so wollen wir für diese Gedankenreihe drei Zielpunkte fest­stellen: 1) die Religion im Gebiete der Kirche und als Wissen­schaft; 2) die Religion im Gebiete des Staats; 3) die Religion in Beziehung auf die Gesellschaft und als Gesinnung.

– Es war dem kritischen Sinne unserer Zeit angemessen, daß man in der Theologie hauptsächlich über Ursprung und Zusam­mensetzung der Bibel Rechenschaft zu geben suchte. Sie wurde wie jedes andere vom Alterthum überlieferte Buch betrachtet, und um so lieber in ihrer Geschichte verfolgt, als es der Theo­logen genug gibt, welche den Dogmen nicht gern ins Antlitz sehen und ihre Gelehrsamkeit lieber in einem Gebiete walten lassen, wo sich zwar allerdings aus den wissenschaftlichen Resul­taten Schlußfolgerungen der wichtigsten Art für das Christen­thum ergaben, 158 man aber nicht genöthigt war, diese selbst zu ziehen, indem man die Theologie bloß für einen Zweig der Philologie ansah. Die gegen die Schriftsteller des Alterthums nicht selten mit glänzendem Erfolg aufgetretene Zweifelsucht theilte sich auch der Bibelforschung mit. Die ersten Bücher des alten Testaments verloren den Nimbus von Uralterthum, in welchen sie sich bisher durch den Glauben, daß sie von Mose wären, gehüllt hatten. In eine viel spätere Zeit wurden diese angeblich ältesten Urkunden des Menschengeschlechts hinauf­gerückt, und aus Gründen der Sprachbildung wurde z. B. das Buch Hiob als älter erkannt, denn die Bücher Mose. Es ge­sellte sich zu der kritisch-linguistischen Erklärung namentlich auch beim alten Testament eine ästhetische, die, von allgemein litera­ris­chen Gesichtspunkten ausgehend, sich nicht scheute, alles bisher natürlich Erklärte bildlich zu nehmen und in der heiligen Poesie der Hebräer weit weniger der Heiligkeit, als der Poesie ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Durch dies zunächst allge­mein literarische Interesse wurde die Bibel (altes und neues Testament) bald vom Duft der orientalischen Dichtkunst und Mythe umwoben, so daß das ursprünglich noch im Christenthum befindliche Hebräisch in Sitten, Glauben und Sprache bald als die Frucht jenes Riesenbaumes der Phantasie erkannt wurde, welcher über den ganzen Orient seine Zweige schatten ließ. Wenn nun auch der anatomische Verstand gegen die Schriften des 159 neuen Testaments mit schonungsloser Prüfung ihrer Aechtheit verfahren war, so hatte man doch durch die Kritik zu keinem festen Ziele kommen können. Ueberall schwankte man auf unsicherm Boden, innere und äußere Widersprüche lagen offen da; allein dies bloß formelle Verfahren bedurfte gerade jener Ergänzung, die von dem Zusammenhange mit dem Ori­ente hergeleitet wurde. Es war schwer, das historisch Un­glaubwürdige und kritisch Ermittelte von den übrigblei­benden Schlacken abzusondern und auf einen sichern Platz zu bringen. Man konnte selbst die erhabene Erscheinung des Erlösers nicht so rein aus den Nebeln der Bibel herausführen, wie man ihn wohl gesehen hätte, sondern nach den scharfsin­nigsten Unter­suchungen über das Einzelne wußte man doch nicht, sie auf das Ganze anzuwenden. Man mußte sich gerade wieder an die Vor­stellung des Ganzen gewöhnen, weil ohne dieses jeder einzelne Bestandtheil todt war. Es ist wohl leicht zu zeigen, was im Leben Jesu richtig und einzig und allein möglich war, allein gerade die mythische Verklärung ist schon so innig mit diesem Urstoff der großen Begebenheit, die eine neue Welt schuf, verflossen und vermischt, daß man ohne dieselbe sich in der Beurtheilung der Bibel gar nicht mehr auf religiösem Gebiete befinden würde. So hat auch der Nachweis, daß das Meiste in der Bibel mythisch zu verstehen sey, der Nachweis des Zusam­menhangs der verschiedenen jüdischen und gnostischen Fak­toren, die 160 das Christenthum bildeten, mit dem Oriente seine Untersuchungen damit geendet, daß sie am allerwenigsten zur Benachtheilung des Christenthums dienen sollen. Die Leh­ren der Bibel hören darum, daß man sie auch in anderen Büchern des Orients findet, nicht auf, geheimnißvoll zu seyn; es handelt sich jezt nicht mehr darum, wie im vorigen Jahrhundert, über die Plagiate, welche das Christen- und Judenthum an seinen Umge­bungen beging, zu lachen; sondern die Wissenschaft ist längst auch in den nicht christlichen Quellen des späteren Christen­thums geneigt, Alles, was Nachdenken und Gefühl verräth, was den Stempel heiliger Forschung an sich trägt und eine Ahnung höherer Ideen ist, als ehrenwerth, und es komme, woher es wolle, anzuerkennen.

Freilich kann man, wenn es sich nur darum handelt, be­stimmte Dogmen festzustellen, welche, zur Glaubensnorm erho­ben, ferner noch das Symbol der Kirche bilden sollen, nicht in Abrede stellen, daß diese angedeutete Richtung auch zu weit gehen kann. Der Rationalismus, der dies geradezu behauptet, hat darin sehr recht, daß er eine Religion verlangt, die nur deßhalb die Offenbarung verwirft, weil in der That die Religion zwar kein unmittelbares Erzeugniß des Individuums seyn kann, wohl aber mit der unmittelbaren Fähigkeit des Menschen, Reli­gion zu fassen, zu begreifen und in sein Inneres einzuführen, zusammenhängen muß. Der Streit, in welchen die Dogmatiker 161 zu allen Zeiten gerathen sind und in dem sie noch liegen, dreht sich um die Quelle der Religion, ob sie eine natürliche oder geoffenbarte wäre. Die Einen trauen sich alles zu, es selbst und so gut wie Gott und die Geschichte zu schaffen, die Andern aber nichts. Die Leztern sind jedenfalls, da sie in der Offenbarung etwas Mechanisches sehen, ganz beschränkte Buchstaben­men­schen. Sie sehen in der Religion eine Veranstaltung, die allein von Gott herrühren soll. Die Andern bilden sich ein, daß jeder Ein­zelne aus sich selbst eine Theodicee schaffen könne, was viel­leicht nur deßhalb so glaublich gemacht werden konnte, weil wir unwissend genug über den Anfang und die Möglichkeit unseres Wissens sind. Dieser Zwiespalt zwischen den Vernunft- und Offenbarungsgläubigen schuf eine dritte Partei, welche die Tra­dition der religiösen Begriffe als eine Offenbarung, wenn nicht Gottes, doch der Geschlechter gegen die Geschlechter annimmt, das Christenthum als eine der lautersten und tiefsinnigsten Offen­barungen dieser Art anerkennt, und gerade in die Befolgung der Vorschrift desselben, daß man Alles prüfen und das Beste be­halten solle, das eigentliche Wesen der christlichen Religion sezt. Die Stoffe sind gegeben und wir sollen darnach trachten, sie uns anzueignen. Wir sollen unser Leben gleichsam zu einer Arron­dirung im Christenthum machen und mit redlichem Ernste stre­ben, davon so viel, als unsere Kräfte vermögen, zu bewältigen. Der Rationalismus 162 wird also von dieser Meinung als ein Hilfsmittel zur Kritik des überlieferten Glaubens genommen, wenn sie auch in Abrede stellt, daß das Religiös-verbindliche selbst jemals ein unmittelbares Machwerk der Vernunft seyn könne.

Die streitenden Parteien innerhalb der christlichen Kirche entfernen sich zu sehr von dem Wesen der Religion über­haupt. Es liegt ohne Zweifel in dem Ausdruck: „Vernunft­reli­gion“ ein Widerspruch oder wenigstens eine Zusammen­stellung zweier Wörter, die nicht zusammen gehören. Wenn Vernunft­religion das Erzeugniß und das Gesetz der Vernunft seyn soll, dann begreift man nicht, warum die Vernunft über­haupt noch der Religion bedarf und weßhalb sie sich selbst herablasse, noch eine Erregung ihres innersten Wesens zu­zugestehen, die nicht schon in ihr selbst läge. Weit richtiger wäre der Ausdruck, wenn unter ihm bloß die Nagelprobe ver­standen seyn sollte, welche allerdings die Religion vor der Vernunft zu bestehen hat, so daß die Vernunftreligion deßhalb vernünftig genannt wird, weil sie nicht wider die Vernunft ist. Denn man muß darauf zurück­kommen: die Religion ist zunächst nichts, das mit der Vernunft aus einem andern Grund in Berüh­rung kommen dürfte, als darum, daß sie so gut der Prüfstein der Religion ist, wie z. B. der Kunst. Die Phantasie hat noch Niemand für das Produkt der Vernunft ausgegeben, wie auch noch Niemand sagte: Vernunft­phantasie. Darum hört aber 163 die Phantasie noch nicht auf, der Vernunft als der Richtschnur ihrer Aeußerung unterthan zu seyn, wie frei sie sich auch sonst bewegen kann und wie spe­zifisch verschieden sie auch sonst von der Vernunft ist. Hätte das Gefühl solche Umrisse, wie die Anschauung sie haben muß, so würde die Vergleichung der Religion mit der Phantasie und Kunst noch schlagender seyn. Daß Phantasie und Vernunft etwas ganz verschiedenes und doch dasselbe sind, sehen wir ohne weiteres ein; allein wir würden es auch von der Religion und Vernunft einsehen, wenn nicht das Wesen der Erstern im Gefühle läge und wenn das Gefühl sich so begrenzen ließe, wie phantastische Visionen im Interesse der Kunst. So sollte denn auch der Ausdruck: Vernunftreli­gion nie etwas An­deres bedeuten, als daß man sich zu einer Religion bekennt, die der Vernunft nicht widerspricht; nimmer aber soll man glauben, daß Vernunft Quelle der Religion seyn könne, welches eine eben so unverständige Zusammenstellung wäre, als wenn man von einem Gemälde Wunder etwas zu sagen glaubte, wenn man sagte, daß es von der Vernunft eingege­ben wäre!

Ja die Vernunft ist nicht selten weit mehr ein Hinderniß als eine Förderung der Religion, in dem Sinne nämlich, wie auch der Künstler wohl zagt und verzweifelt beim späteren Anblick einer ihm durch den Moment ohne viel Ueberlegens einge­geb’nen Schöpfung. Die Vernunft selbst, im thätigen Zustande gedacht, 164 ist der Verstand. Der Verstand reißt aber nur nieder, prüft und sichtet. Wie er fortwährend die positiven Mo­mente in dem schöpferischen Drange des Künstlers aufhebt, so würde er ja auch fortwährend die Religion beschränken. Wie oft ist Rührung, die doch eine Aeußerung der Religion ist, nicht in Gefahr, in uns selbst von unserm eigenen Verstande verlacht zu werden, so daß man nur weint mit dem Ausruf: Was bist du für ein Narr, daß du es thust! So liegen diese verschiedenen Gebiete der Unmittelbarkeit und der Reflexion wohl nahe an einander, sind aber nicht dasselbe; sie berühren sich, ohne jedoch einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt zu haben.

Und auch dies, daß die Vernunft ein Prüfstein der Religion wäre, ist nur dahin zu verstehen, daß die Religion allerdings darnach strebt, ihre Momente zu fesseln und Worte für sie zu suchen, ebenso, wie die Kunst nach Fixirung ihrer Phantasie strebt und sich in fertigen und abgeschlossenen Werken erst vollkommen genügt. Laokoon, ein Gemälde Raphaels, ist in dem Sinne nichts Reelles, als der Verstand nach Realitäten strebt, es ist nichts, das aus sich selbst einen Werth ansprechen könnte, es läßt sich nicht zerlegen, umschmelzen und in eine andere Form gießen, sondern es ist das, was es ist, eine faktisch gewordene Grille, die ihre Wahrheit nur in der Wahrheit jenes Momentes hat, der sie schuf, und wenn ein solches Gemälde auch noch so viel Entzücken verbreitet, 165 so ist dazu uner­läßlich: Demuth und gläubige Annäherung und eine die Anschau­ung des Dichters selbst wieder reproduzirende Anschauung. So ist es auch in der Religion. Die Dogmen sind ihre verkörperten Momente, sind die Kunstwerke des Glaubens, die ihren Werth und ihre Geltung nur im Glauben selbst haben. Die Dogmen sollen der Vernunft nicht widersprechen; allein was haben sie sonst mit ihr und dem Verstande gemein? Was ist ein Gemälde von Titian anders als eine Thatsache, die abgeschlossen in sich selbst ist und in dem Anfang, aus dem sie hervorschoß, auch ihr Ende hat! In diesem Sinne hat sich denn auch der religiöse Glaube, seitdem die Geschichte im Gang ist, eine Gallerie von Dogmen geschaffen, die man nur als die Verkörperung flüch­tiger religiöser Momente betrachten darf, und auf beiden Seiten wird thöricht verfahren, sowohl, wenn man diese Dogmen mit juristischen Vorschriften verwechselt, die ihren Werth nur in praktischer Anwendung haben, wie die Orthodoxie es thut, als auch, wenn man das Messer der Kritik hineinsticht und etwas zerfleischen will, was kaum mehr, denn Duft und Nebel ist. Die Dogmen sollte man als die Blüthen betrachten, welche die reli­giöse Kraft der vergangnen Zeiten getrieben hat. Wer verlangt von ihnen mehr, als daß sie duften? Wer will uns ein Verbrechen daraus machen, wenn wir an der Fähigkeit, aus dem mannigfach umgeackerten Boden unseres Gefühles dieselben Pflanzen 166 aufschießen zu lassen, verzweifeln? Wirken läßt sich nur darauf, daß auch wir aus der Kraft, die in uns wohnt, etwas unser Gefühl zufrieden Stellendes erzeugen; wer nichts aus sich selbst zu treiben vermag, der lasse den Samen der überlieferten Dog­men auf sich fallen und thu’ es ihnen nach; da soll kein Spott Statt finden, wenn hie und da die Gegenwart noch so glaubt, wie die Vergangenheit geglaubt hat, aber auch keine Verketzerung, wenn das religiöse Gefühl sich in neuen Gebilden ausspricht; nur gegen die soll man kämpfen, welche ganz brach liegen und die Religion bloß zu einer Berechnung des Staats und der Ordnung machen wollen oder die wohl gar keine andere Innerlichkeit haben, als einen kalten, gleichgültigen und verneinenden Ver­stand.

Die Verdienste, welche sich England um die Ausbildung der Theologie erworben hat, mögen in seinen eigenen Augen sehr hoch stehen, desto niedriger aber in denen des Philosophen. Wenn man Bücher lesen will, welche das Christenthum mit Sätzen vertheidigten, die alle petitiones principii sind, mit Voraus­setzungen, die selbst unbewiesen genug dastehen, so greife man nach den Schriften der englischen Theologie! Die christliche Polemik und Apologetik ist nirgends so ausgebildet, wie in ihnen; allein die Beweise gehen immer im Zirkel. Naturalisten, Freidenker, Nachkommen des Celsus, sind von unsern Ori­gines massenweise bestritten worden und der Ernst, womit 167 dies geschah, die beispiellose Dreistigkeit, mit der man an Sätze hielt, wo es kaum etwas Menschenmögliches zu seyn scheint, daran zu glauben, diese Orthodoxie, welche nebenbei auch immer die Blasen des biblischen Styles trieb, hat uns so vielen Schreck eingejagt, daß wir in religiösen Dingen wie die Schulknaben dasitzen und entweder Nichts oder Alles glauben. Die Möglichkeit, wie das Unterhaus über die Motive, mit wel­chen Sir R. Agnew seine Sonntagsbill zu vertheidigen pflegt, nicht laut auflacht oder die Achseln zuckt, rührt nur von dieser kecken Theologie her, die sich bei uns trotz des fort­schreitenden Zeitgeistes erhalten hat. Auch das, was die Dis­senters für die Theologie leisten, ist gering. Wen sein Glaube glückselig macht, der fühlt kein Bedürfniß einer wissenschaft­lichen Prüfung des­selben. Die Literatur der Dissenters besteht aus religiösen Roma­nen und Erweckungsschriften, in welchem Gebiet die Dodd­ridge und Baxter viel evangelisches Wasser ausgesintert haben.

Trotz des Bannfluches, welchen Master Rose auf die deutsche Theologie geschleudert, werden unparteiische Forscher doch anerkennen, daß in der Schweiz, Deutschland und Holland das Meiste für die protestantische Theologie geschehen ist. Dort war das Christenthum nicht bloß, wie in England, die hoch­fahrende Grille der Geistlichkeit; sondern es wurde theils aller­dings aus zweideutiger Stimmung gegen dasselbe, 168 theils aber auch aus innigster Ueberzeugung und Hingebung sein Kern mannigfach geprüft, wurden die biblischen Urkunden er­läutert und zu Grundlagen von Religionssystemen gemacht, welche zwar nicht immer zunächst vom Christenthum ausgin­gen, aber doch immer auf dasselbe zurückkamen, oder doch von solchen Systemen, die den christlichen Prinzipien eine Ausdeh­nung ga­ben, in die transcendentalsten Gebiete bis zum wei­ßen, schim­merndsten Lichte der göttlichen Ideen. Sachsen ist je­nes Land, von welchem die Reformation aufleuchtete und noch bis zu dieser Stunde zeichnen sich namentlich die Deut­schen durch diese nimmersatte Unruhe aus, sich aufzuklären und das Ge­glaubte auch zu verstehen. So hat sich auch namentlich die pro­testantische Theologie hauptsächlich in jenen Ländern mit so vielem Geistesschmuck bekleidet, daß man die Ur­schäden, die unter der glänzenden Hülle verborgen, nicht merkt, oder aus Vorliebe zu seiner Illusion nicht merken will.

Was von dem Streit über Rationalismus und Supranatura­lismus zu halten sey, deuten schon oben unsre Bemerkungen an. Keine dieser Richtungen hat einen ausschließlichen Werth. Sie drücken eine Methode, ein kritisches Verfahren aus; sie können auflösend und bekämpfend das Beste wirken, aber nur Halbes und Irrthümliches, wenn sie eine Religion schaffen, oder auch nur die Auffassung irgend eines Dogma bemeistern wollen. Im Grunde sind diese 169 beiden Tendenzen auch von den mei­sten Theologen schon wieder umgangen worden, denn weder die wunderglaubige Theologie mögte, daß ihr die Schärfe des Ge­dankens abgesprochen würde, noch die bloße Verstandes­rich­tung, daß sie die Religion von allem Zauber des Geheimniß­vollen entkleidet sähe. So suchten sich über diesen in dem noch wesentlichen Geiste des achtzehnten Jahrhunderts wurzelnden Parteien neue zu begründen, die zwar die Trümmer und Resul­tate der alten in sich sammelten, aber nur, um sie alle in einem Gebäude unterzubringen, das in weit größeren Umrissen als bisher angelegt war, und so glauben wir, daß, so weit wenigstens jezt unser Jahrhundert übersehen werden kann, auf dem theo­logischen Gebiete folgendes die Krone der heiligen Wissen­schaft seyn und bleiben wird:

Nichts wird mehr in Abrede gestellt, weder die üble Zu­sammenstellung der Bibel, ihre untergeschobenen Stellen, noch die Absichtlichkeit, welche sich in dem Hervorheben man­cher Eigenschaften des Messias, mancher Begegnisse desselben in Gemäßheit der prophetischen Stellen des alten Testaments fin­det. Die evangelische Geschichte kann von einem Augenzeu­gen, wie Johannes, in dem Geist, wie auch die übrigen sie auf­fassen, bestätigt seyn, auch der Versuch, für das Evangelium Johannis den bekannten Jünger nicht verantwortlich zu ma­chen, kann gescheitert seyn; darum werden folgende Sätze noch nicht umgestoßen:

170 1) Die evangelische Geschichte ist nicht als rein­historische Urkunde geschrieben worden, als die Chronik eines den wunderbaren Ereignissen parallel lebenden Autors, sondern 2) sie wurde geschrieben aus der Erinnerung einer schon ziem­lich entlegenen Zeit; 3) sie wurde nicht als eine Lebensge­schichte des Heilands verfaßt, sondern als die historische Ent­wicklung eines Glaubens, der in dem Momente, als der Schrift­steller schrieb, schon gepredigt wurde, hie und da Fuß gefaßt hatte, und sich in seinem Kreise zu runden anfing. 4) Die evan­gelische Geschichte verbindet mit dem Historischen schon einen aszetischen und einen apologetischen Zweck. Sie will den Gläu­bigen und Ungläubigen Rechenschaft ablegen über ein Ereigniß, das bei dem Anspruche, überall gepredigt zu werden, nicht wunderbar genug dargestellt seyn konnte. 5) Es hatte sich bereits über das Leben Jesu die Reflexion verbreitet; denn Christus selbst hatte nicht so gelebt, daß er sich in die jüdischen Messias­begriffe und die Citate aus dem alten Testamente so vertieft hätte, wie die Evangelisten diese typischen Beziehungen nicht bloß als den in ihrer Bildung liegenden Pragmatismus ihres Gegenstands benuzten, sondern sogar Erlebnisse des Heilands daran akkomodirten, um namentlich die Juden zu überzeugen, daß Christus der wahre Sohn Gottes gewesen. 6) In einer Zeit, wo die Bildung noch nicht durch jene zahllose Masse von Büchern, in die sie jezt verschlossen ist, in ihren einzelnen Mo­menten aus 171einander gehalten wurde, flossen auch ge­wöhnlich alle Begriffe, die wir jezt zu sondern und in bestimm­te Fächer zu stellen wissen, in einander. Dasjenige, was der Ein­zelne wußte, konnte noch so gering seyn, aber er bildete sich ein Ganzes daraus; eben so in der evangelischen Geschichte, wie sie von den Geschichtschreibern aufgefaßt wurde. Sie waren nicht im Stande, so wie wir, an der Hand der Chronologie in der Geschich­te vorzuschreiten, sondern sie wirkten einen Stoff, der ohnehin ihr Herz drängte, in einander und verfielen auch in den Fehler Unge­bildeter, das einemal, wo man Gelegenheit hat, etwas zu sagen, gleich auch Alles zu sagen, was man weiß, wie denn in dieser Hinsicht Johannes schon am Beginn seines Evangeliums durch seine Lehre vom Logos der spätern Kritik eine Blöße gegeben hat, die allem wohlbegründeten Zweifel an dem Wun­derbaren in der evangelischen Geschichte Berechtigung gibt. 7) Durch die­sen Johannei’schen offenbaren Beweis mit dem Logos, daß sich die evangelische Geschichte vom Orientalismus, nicht bloß der Form, sondern auch dem Inhalte nach, nicht frei er­halten konnte, durch diese Berechtigung, die um so schlagen­der ist, da sie ja von einem Augenzeugen herrühren soll, hat der For­scher auch freies Feld, die evangelische Geschichte und die Dog­men des christlichen Lehrbegriffes nur im Zusammenhang mit den übrigen mystisch-religiösen Traditionen des Orients zu be­trachten.

172 Nun ist aber unsre Zeit gegen das vorige Jahrhundert darin voraus, daß wir statt in dem Orientalismus eine Verkleinerung des Christenthums zu sehen, nur um so geneigter sind, das Christenthum nun von jenen philosophischen Gesichtspunkten aus zu erkennen, die wir noch immer eingenommen, wenn wir von der alten Religion der Indier, Perser und Aegypter sprachen. So gewiß im Orientalismus tiefsinnige Resultate über das Leben der Menschheit in Gott enthalten sind, so gewiß soll die zugestandene orientalische Färbung des Christenthums dazu dienen, uns von einem blinden Fetischdienst gegen das Historische im neuen Testament zu befreien, keineswegs aber, um die Lehren desselben in die Trödelkammer der menschlichen Irrthümer zu werfen.

Es wird keine Verklärung und Wiedergeburt des Christenthums in unserm Jahrhundert möglich seyn, wenn wir uns nicht zur Ehre seines Inhalts, ganz und gar von seiner Form, vom Buchstaben befreien. Wenn das Christenthum nur noch auf die Bibel begründet werden soll, wenn diese durchaus mangelhaften Urkunden zum größten Theil die Göttlichkeit beweisen sollen; dann freilich würde das Christenthum in eine bedrängte Lage kommen. Man würde es bald fragen, ob es denn kein anderes Recht auf die Geschichte und Jahrhunderte hätte, als jenes geschriebene! Darin sind wir fortgeschritten, daß wir an einen mechanischen Zusammenhang in 173 historischen Dingen und an eine Religion, die sich 2000 Jahre erhalten hat, nicht mehr glauben würden, wenn sie sich nur einzig und allein auf die Bibel berufen würde. Wir werden uns immer mehr daran gewöhnen, das Christenthum als eine Blüthe der allgemeinen Religions­geschichte zu betrachten und sein inneres Samenkorn zu schätzen, mögen auch die äußern Blätter, auf welchen die Märchen von Wundern, Auferstehung und Himmelfahrt geschrieben sind, längst verwelkt seyn, mag auch den Stamm der Kirche, der das Ganze zu tragen vorgibt, der Wurm der Zeit anfressen! So ist das natürliche Verhältniß meiner Ueberzeugung, daß ich meine Kritik und Vernunft mit der Bibel und Ueberlieferung längst abgefunden habe, daß ich der Kirche, wo mich nicht ein bedeutendes Talent in ihre Versammlungen ruft, aus dem Wege gehe, zugleich aber die innigste Theilnahme an all’ den Lehren und Vorschriften fühle, an deren idealischen Werth man denkt bei dem Ausdruck: das Christenthum! Und so werden die Gefühlvollen und Aufgeklärten bald alle denken und eine neue Theologie wird ihnen zur Seite stehen, wie unter den Aposteln Christus erschien, trotz der verschlossenen Thüren, zu welchen in unserm Falle das alte morsche System der Orthodoxie die Schlüssel abgezogen hat.

Ein tiefer Denker hat gesagt, daß jeder sein eigener Messias und die Erlösung eine ewige, das heißt eine immer neue wäre; und wenn wir nun sehen, 174 daß in der alten Erlösung, an der, welcher die Zeitgenossen Christi theilhaftig waren, die evangelische Geschichte in der Gestalt, wie sie uns überliefert ist, die Geschichte gerade der damaligen ersten, durch Zeit und Ort, Denk- und Gefühlsweise bedingten Erlösung war, so hat heute noch jeder, der sich in die Tiefe des Christenthums taucht (und er braucht dazu nichts, als sich in den Jordan seines eigenen innern Menschen zu tauchen), seine eigene evangelische Geschichte. Jener Hilfsmittel, welche die Zeitgenossen Christi bedurften, um an ihn zu glauben, und die da zeigten, daß er der Verheißene war – diese Bedingungen brauchen wir nicht mehr. Ob Christus schon im alten Testament geahnt war, ob David von ihm redet u. s. w., das kann für uns nur insofern Werth haben, als wir das Bedürfniß einer bessern Zukunft bei den Alten erblicken und um so mehr Achtung vor einem Ereignisse empfinden, das ihnen diese Zukunft, wenn auch in ganz anderer Gestalt, gebracht hat. Sonst wäre es traurig, wenn jene Wunder des neuen Testaments, die geheilten Blinden und Lahmen und nun sogar die Schlußtransfiguration des ganzen Gemäldes für uns einen höhern Werth haben sollten, als den, daran zu erkennen, wie schon damals an die heilende Kraft der neuen Lehre geglaubt wurde und wie man das Größte, was man hatte, das Geheimniß und das Wunder, zum Preis seiner Lehre, die weder Geheimniß noch Wunder 175 war, darbrachte. Jezt schafft man sich selbst sein Evangelium, und wenn Jeder, der vor der Ewigkeit des Christenthums Achtung empfindet, der selbst in seinen Dogmen um so weniger die Tiefe verkennt, als sie mit der Religionsweisheit des Alterthums und dem Drange aller Zeiten nach Erkenntniß zusammenhängt, seine eigene evan­gelische Geschichte niederschreiben wollte, so würde sie vielleicht nicht weniger fabelhaft und wunderbar ausfallen, als die alte und würde der Einflüsse unserer gegenwärtigen Zeit wegen von einer zukünftigen vielleicht kaum halb verstanden werden.

Nach diesen Vorbemerkungen lassen sich zwei Systeme, die christlichen Lehrbegriffe zu erkennen, aufstellen. Beide gehen von der größten Freiheit in Rücksicht auf das Historische im Christenthum aus. Beide haben gleiche Achtung vor dem Ewigen in demselben. Jenes ist ein moralisches, dieses ein metaphysisches System. Jenes ist auf den Menschen, dieses auf die Natur Gottes begründet. Wenn nämlich der Philosoph den Ursprung der Dinge, den allmäligen Fortgang derselben und die Geschichte der Menschheit verfolgt, so wird ihm nach dem lezteren System in den Satzungen des Christenthums bald die höhere und ewige Wahrheit einleuchten. Das Leben Gottes ist im Urbeginne der Dinge anzusehen als eine abgeschlossene, von der noch nicht existirenden Welt abstrahirte Idee, für welche nur unser Verstand, nicht unser Gefühl eine Vorstellung hat. Die Offenbarungen 176 Gottes beginnen zunächst in der Schöpfung der Materie, dann in der Schöpfung des Geistes, indem die Spuren Gottes mehr oder weniger sichtbar werden, und durch die Materie, welche selbst nach einem Ziel zu streben scheint, hindurchschimmern. Die Menschen verfolgen diese verschiedenen Offen­barun­gen der Gottheit in der Natur und beten sie zuerst in der Form des Ungeheuerlichen an, indem sie nicht Massen genug ver­­schwenden können, um die Erhabenheit des unsichtbaren Welt­­regiments auszudrücken. Je weiter und weiter, desto näher rückte die Gottheit dem Menschen; ja im klassischen Alterthum erblickte man sie nur im Menschen selbst, seiner Gestalt, im Pro­dukte der Kunst. War die Menschheit durch diesen natürlichen Fortgang der Gottesverehrung zugleich in Gefahr gekommen, die Gottheit durch Vermischung mit dem Menschen zu entheiligen und der Offenbarung eine Nähe zu geben, die an ihre Uebersinnlichkeit nicht mehr dachte; so mußte wohl eine neue Umgestaltung des Verhältnisses zwischen dem Himmel und der Erde eintreten. Christus führte Gott wieder in den Himmel zurück, er starb am Kreuze, um die Incarnation der Gottheit in Men­schengestalt, wie dies ja die höchste Potenz des Alterthums war, zu widerlegen, da er sich selbst Gottes Sohn nannte, eine Bezeichnung, die, wenn sie nicht im Sinne des Erbrechts genommen wird, wohl aber typisch selbst vor dieser metaphysischen Entwickelung der Religionsgeschichte eine 177 tiefe Geltung hat. Und so sind aus den meisten, theils den Cultus bildenden Gebräuchen der christlichen Kirche, theils aus den, den Tod des Heilandes begleitenden Dogmen Resultate gezogen worden, die für die Wiederanknüpfung neuer Bande, die den Himmel an die Erde befestigen sollen, einen heiligen Sinn haben. Ja, und wenn die Sendung des heiligen Geistes gerade eine der schönsten Verheißungen Christi ist und wir wohl sagen müssen, daß wir seit der Reformation die Nähe dieses Trösters verspüren, so fügt sich auch der christliche Denker leicht in die Lehre von der Dreieinigkeit. Denn sie faßt die drei verschiedenen Epochen der Geschichte der Menschheit so zusammen, daß in der ersten das Natürliche, in der zweiten das Menschliche und in der dritten das Geistige deutlich genug unterschieden und doch als ein und derselbe Pulsschlag des göttlichen Lebens gefühlt werde. In diesem Sinne hat demnach das Christenthum eine glänzende Genugthuung vor der sonst auf seine Geltung so eifersüchtigen Philosophie erhalten, wenn es sich auch gefallen lassen muß, von diesem System nur in seinem eminent ideellen Werthe anerkannt zu werden, und die trübe Beimischung der Historie und Orthodoxie preisgeben zu müssen.

Die andere Entwickelung des christlichen Lehrbegriffs hat vor diesem ersten darin einen Vorzug, daß sie dem Christenthum mehr den Charakter der Religion läßt und den geistigen Inhalt desselben mehr mit dem 178 Bedürfnisse des Herzens zu verbinden weiß. Die Wahrheit nur zu wissen und deßhalb an sie zu glauben, kann unmöglich das Wesen einer Religion seyn. Darum schlug diese zweite Richtung den entgegengesezten Weg ein, und suchte nicht durch die Erfahrung der Geschichte im Ganzen und Großen und durch die Theorie, sondern durch die Geschichte des menschlichen Herzens und die praktischen Bedürfnisse des Gefühls zur Uebereinstimmung mit den Lehren des Christenthums zu kommen. Freilich hat man dieser Lehre vorgeworfen, daß man nimmermehr durch das bloße Gefühl zu Gedanken kommen würde. Allein das hat sie auch nicht sagen wollen. Das Christenthum galt ihr als ein fertiger Stoff, als eine Ueberlieferung, bei welcher es nur darauf ankommen sollte, sie zu beleben und so, wie es eine historische Wahrheit war, auch zu einer Wahrheit für den Einzelnen und die Gemeinde zu machen. So war diese Ueberlieferung gleichsam der Flachs, welchen man, angefeuchtet vom Gefühle, auf dem Spinnrade der Dialektik zu festen, haltbaren philosophischen Fäden spinnen sollte. Dabei hatte das Gefühl, als Quelle der Religion, keine andere Geltung, als die des Prüfsteines. Es soll Nichts des Glaubens werth seyn, als was das religiöse Bedürfniß dafür anerkannt hat, und es soll keine Ursache für klar und lauter angesehen werden, die nicht eine beseligende Wirkung aufzuweisen hat, so daß, wenn sich ergeben sollte, daß die christlichen Dogmen, jedes 179 einem Gefühlszustande entsprechen, und außer dem historischen Ursprunge in der Vergangenheit auch einen moralischen in der Gegenwart haben könnten, dies das Kennzeichen von Begriffen wäre, welche die Kirche und die Gemeinde als ihre Lehre und ihren Glauben jezt noch festsezt. Dies ist dasselbe System, von welchem oben erwähnt wurde, daß es Jeden schon zu seinem eigenen Heiland macht, womit denn freilich auch gesagt seyn muß, daß Jeder fromm genug sey, sich selbst an das Kreuz der Resignation zu schlagen.

Diese beiden Darstellungen des Christenthums sollten besonders deßhalb hier erwähnt werden, weil sie die Tiefe des Christenthums zwar anerkennen, aber dabei auch eine Bedingung machen, welche wir nicht mehr umgehen können. Die Bedingung ist die: alles Das, was am Christenthum historisch ist, den Kanon und die symbolischen Bücher, preiszugeben, überhaupt den Buchstaben, an welchen wir den Glauben unsrer Zeitgenossen immer weniger und weniger werden fesseln können. Stellt man nun diese Bedingung mit dem andern Zugeständniß zusammen, daß das Christenthum einen reichen Schatz von nicht nur moralischen, sondern selbst metaphysischen Wahrheiten enthält, so ergibt sich daraus für unser Jahrhundert ein Resultat, welches so verschieden von dem des achtzehnten Jahrhunderts ist und unsern Zeitgenossen Ehre macht: Ernst in göttlichen Dingen und Freiheit in menschlichen! Da habt ihr das Edelste, was die Zeit euch 180 geben kann, und das Unerläßliche, was sie dafür zurückfordert.

Wäre der Katholizismus eine Religion mit Glaubenssätzen, die sich das Ansehen gäben, die Blüthen der menschlichen Vernunft zu seyn, dann würde auf das Licht, welches wir kaum vor unsern Augen strahlen sahen, ein trüber, dunkler Schatten fallen. Nein, der Katholizismus als Kirche, als Hierarchie, vom Pabst bis zum untersten Kleriker hinunter, ist gerade nur noch ein so feudaler Rest, wie all die Aristokratien, an denen wir leiden, wie all die morschen, uns umgebenden Institutionen, auf welche das historische Recht seinen trotzigen Fuß gestellt hat, um sie gegen eine Wendung des Zeitgeistes zu vertheidigen, an dessen Sieg wir nicht zweifeln. Der Katholizismus, als Religion, ist bei den Gebildeten Gleichgültigkeit, bei den Ungebildeten ein Aberglaube, den, wie dies in Spanien und Italien der Fall ist, noch lange keine Vernunft aufklären kann und der, da ohnedies noch altes Heidenthum mit ihm verbunden ist, bei der Abwägung unseres Plus und Minus an Fortschritten kaum groß in Rechnung kommen kann. Einige zähe Völker, wie die Irländer und Spanier, würden für ihren Glauben noch auftreten können, auch ein Theil Frankreichs, allein Italien erhübe sich nicht, wenn man ihm eine andere Lehre predigte, Oestreich nicht, Deutschland nicht und selbst der größte Theil von Frankreich nicht. Und dort, wo allenfalls die Hartnäckigkeit im Festhalten an die 181 heidnischen Irrthümer des Katholizismus uns betrüben könnte, daß sie noch da ist, da hat eine weise Fürsorge der Gottheit gerade andere Brände hingeschleudert, um die finsteren, sumpfigen Wälder zu lichten. Polen ist ein halsstarrig katholisches Land, allein die erstickte Gluth der politischen Leidenschaft wird hier immer unter der Asche fortglimmen und die Polen nicht lange zögern lassen, ob sie, wenn Etwas dergleichen denkbar wäre, zwischen dem Aberglauben oder der Freiheit wählen sollten. In Irland und Spanien gibt es eben solche Momente, welche beide Nationen allmälig aus ihren alten Traditionen herausrütteln und einen frischen Luftzug über sie lassen, der außer dem politischen Leben noch viel Anderes anwehen und beleben wird. Wären demnach alle diese Erscheinungen nicht vorhanden, so könnte uns freilich die Aussicht in die Zukunft, die Hoffnung auf den europäischen Sieg der Vernunft und Aufklärung noch auf lange Zeit verdüstert werden.

Denn Dasjenige, was die katholische Theologie leistet, ist, mit Ausnahme Deutschlands und einiger spekulativen Köpfe Frankreichs, Nichts. In Irland, Spanien, Italien die tiefste Nacht. Die Artikel des Pabstes Pius IV. werden nach wie vor von den Geistlichen beschworen. Nirgends der Schimmer einer freisinnigen Opposition oder einer wissenschaftlichen Forschung, wenn auch im Sinne des Pseudo-Isidor und der Glaubensformel. Nur Deutschland ist 182 seinem alten Rufe, in Ueberzeugungen nach Freiheit zu streben, auch in Betreff des Katholizismus, treu geblieben. Obgleich der römische Stuhl träge ist und nur romanischen Völkern sich vorzugsweise zuneigt, um deren geistiges Leben zu verfolgen, so hat ihn doch in jüngsten Zeiten außer den Ketzereien Lamennais’ Nichts mehr beschäftigt, als Deutschland. Aber wie plump und schwerfällig ist auch hier sein Verfahren, wie kraß die Ignoranz, die sich trotz der von Dresden, Kölln, München gewiß zahlreich genug einlaufenden Denunziationen in den Verdammungsurtheilen zu erkennen gibt! Wird doch selbst Schelling, der gewiß viel für die Hingebung an einen verklärten, filtrirten und abgezogenen Katholizismus gethan hat, verketzert! Diese Italiener wollen deutsches Leben verstehen; die Violetstrümpfe, die kaum lesbares Latein schreiben, wollen über die Forschungen der Philosophie und der kritischen Wissenschaft absprechen! Wäre der Katholizismus nicht unglücklicherweise an die Idee eines Pabstes und an die einer allgemeinen Kirche gebunden, längst müßte die Emser Punkta­tion eine Wahrheit geworden, müßten die in einem Augenblicke des religiösen Enthusiasmus abgeschlossenen Konkordate aufgekündigt seyn, müßte sich wenigstens eine so tief- und freisinnige Nation, wie die deutsche, aus jener entehrenden Botmäßig­keit jener Italiener befreit haben.

Die Erscheinung der Religion als Kirche und das Verhältniß derselben zum Staat betreffend, so 183 begegnet uns hier sogleich ein neues, unwiderrufliches Thema der zeitgenössischen Kämpfe, eine Frage, die das Jahrhundert nicht umgehen kann, sondern die es lösen muß. Trennung der Kirche vom Staat – dies ist ein Schiboleth, an dessen historischen Beruf wir um so eher glauben dürfen, als die verschiedensten Parteien es auf ihren Schild geschrieben haben. Mystiker, Rationalisten, Welt- und Staatsmänner vereinigen sich in dem Streben, die Kirche vom Staate, den Staat von der Kirche zu be­freien. Die Einen wollen den Staat, die Andern die Kirche sicher stellen; dort soll die Freiheit, hier die Religion gewinnen.

Englands politische Entwickelung steuert auf das Ziel hin, die Staatskirche zu vernichten. Die Tories legen den Accent auf Kirche und bereden das Volk, es käme uns* auf den Untergang der Religion an. Wir legen den Nachdruck auf den Staat und wollen die Heiligkeit der Kirche darin um so würdiger gesichert sehen, daß sie sich weltlicher Macht und Würde entkleidet, daß sie sich von der Bundesgenossenschaft mit den Gebrechen unserer Staatsverfassung lossagt und sich weit mehr auf das religiöse Bedürfniß der Menschen, als eine ihr zu Gute gekommene verjährte weltliche Tyrannei stüzt. Es ist ein Knäul von Mißbräuchen, der in Betreff dieser, zur Zeit noch unlösbar schei­nenden Frage in einander gewirrt ist; allein 184 England, gewohnt, in seinen Reformen einen mäßigen und sicheren Gang zu gehen, nicht links oder rechts zu weichen, wird dem Ziele mit der Zeit so nahe kommen, daß es sich vielleicht von selbst aufmacht und aus Furcht, die Religion selbst möchte kompromittirt werden, bereitwillig den Kirchenreformern entgegenkommt. Frei­lich tritt bei dem jetzigen Standpunkt der Frage das religiöse Bedürfniß noch nicht in den Vorgrund, da Niemand, der die Staatskirche als solche angreift oder vertheidigt, der Erfahrung widersprechen kann, daß so viel Frömmigkeit, wie bei den Dissenters und der schottischen Kirche herrscht, in unserem privilegirten Israel, der Hochkirche, nicht zu finden ist.

Die Religion ist ein Zweck des Staates, der Staat kann auch ein Mittel der Religion seyn; darum sind aber Beide nicht Ein und Dasselbe. Wenn die Vertheidiger des Territorialsystems, nach welchem der Landesfürst, wie in England, der oberste Bischof ist und die Kirche ganz in den innern Mechanismus der Staatsverwaltung aufgenommen wird, den Staat für das Universellste in unserer Cultur und das einzige Band halten, das Alles umfaßt; so hat doch die christliche Kirche selbst von jeher das Prinzip des Staates darin nicht gefunden und nur des Schutzes und Schirmes wegen gewünscht, der römische Kaiser möch­te sich taufen lassen. Die katholische Kirche erhielt sich ihre Freiheit. Sie bot den Fürsten Trotz, sie rang mit dem weltlichen Regimente um die Oberhand. 185 Die Reformation erst hob diese Stellung der Kirche zum Staate für einen großen Theil Europa’s auf. Sie war der Fürsten benöthigt, sie köderte ihre Theilnahme nicht bloß durch Abtretung geistlicher Güter, sondern auch geistlicher Rechte; die Hierarchie war es ja selbst, welche von den Reformatoren bekämpft wurde. In England blieb vollends die Einrichtung der alten Kirchenverfassung, nur mit dem Unterschied, daß sich Heinrich VIII. zum Pabste machte und dem Staat jenes Supremat hinterließ, welches er mit so vieler Gewaltthätigkeit zu guten und schlechten Zwecken benuzte. Nur die reformirte Kirche, die an die Formen der Schweizerkirche hielt, ging in ihrer Verfassung auf die evangelisch-aposto­lische Zeit zurück und konstituirte sich als eine durch gemeinsamen Glauben gebundene Privatgesellschaft, die sich selbst Gesetze gab und von den Fürsten nur Schutz verlangte, aber die öfters so glücklich war, mit Fürsten gar nicht in Berührung zu kommen, wie in Holland. In Deutschland machten es die politischen Stürme, welche der Reformation folgten, die zum offenen Ausbruch kommende Verwilderung der allgemeinen Staatsverfassung überhaupt, daß sich das kirchliche Leben völlig in die Obhut des Staates begeben mußte. Die Fürsten übernahmen die Bischofsrechte, sie übten Kirchen-Administration und geistliche Gerichtsbarkeit, sie umgaben sich in dem immer mehr zunehmenden Sinne für Centralisation mit Consistorien, welche den Willen des Hoftheologen oder irgend eine landesherrliche Grille 186 zum allgemeinen Gesetz machten. Dieser Zustand hat seither einige Abänderungen erhalten. Mit dem steigenden Streben nach Rechtsgarantien, mit den Fortschritten des Constitutionalismus erhielt auch hie und da die protestantische Kirche das Recht, in diesen oder jenen Dingen Autonomie zu üben. Die Presbyterien und Synoden wurden Bollwerke der kirchlichen Freiheit gegen die politische.

Der Unterschied der Frage, wie sie in England und Deutschland steht, liegt darin, daß ihr Resultat dort politischer, hier kirchlicher Natur ist. Die englische Kirche ist auch nicht mit der politischen Administration verschmolzen, sondern sie ist nur ein Schlupfwinkel des politischen Parteigeistes geworden. Die englische Kirche leitet und verwaltet sich selbst, allein sie ist eine Macht im Staate, die eben solche Ansprüche hat, wie der Staat selbst. Der Staat erhebt Steuern, sie erhebt Zehnten, der Staat hat Domänen, sie hat ihre Kirchengüter, Grund und Boden, auf welchem ihr selbst die Katholiken verpflichtet sind, die darauf wohnen. Die Kirche in England hat sogar die Freiheit einer Opposition gegen den Staat; sie nimmt eine Reihe von Sitzen in der lezten legislativen Instanz des Reiches ein, und kann durch geschickt unterhaltene Bundsgenossenschaft, durch das Versprechen einer Erkenntlichkeit, wenn es sich um die Abstimmung poli­tischer Fragen handelt, sich den Erfolg in kirchlichen sichern. In England ist demnach die Kirchen- und 187 Staats­trennung nur in dem Sinne zu verstehen, daß der Kirche ihr politisches Fundament, ihre organische Rückwand, weggezogen werde.

Weit vorsichtiger muß man seyn, wenn Kirchen, die keine Autorität haben, sich nur deßhalb vom Staat trennen wollen, um nicht unterthan zu seyn. Allerdings ist der weltliche Despotismus in religiösen Dingen, sind Cabinetsdekrete, die eine eigene Auffassung der Lehre vorschreiben, und Amtsentsetzungen, die dem Weigerungsfalle folgen, ein großes Uebel. Demnach handelt es sich, wenn man die laute Stimme des Zeitgeistes hören will, nicht um Erstarkung der Kirche, dem Staate gegenüber, sondern nur um Befreiung. Die Theologen denken aber bei dem Lezteren auch an das Erste. Sie wollen eine Kirche aufstellen mit Concilienlärm und geistlichen Ständekammern. Sie wollen vom Staate nichts mehr, als die bewaffnete Macht, um ihre Dekrete in Vollzug zu bringen. Ein bis zu einem großen Grade achtungswerthes Streben kann hier leicht in ein Extrem ausarten, das wenigstens für die Religionsbekenner, für die Laien, drückender wäre, als bisher die Cabinetsverwaltung der Kirche war.

Auch sind keine Anzeigen da, welche glauben lassen, die protestantische Kirche werde jene organische Mündigkeitserklärung erhalten, nach welcher sie so rastlos strebt. Die darüber herrschende Debatte ist nicht einmal allgemein verstanden. Die Laien nehmen an ihr 188 keinen Theil, und die Geistlichkeit selbst fühlt wohl, daß das ihr anvertraute Kleinod der christlichen Lehre durch die Einfassung nicht schöner wird und es nur auf den Glanz und das Wasser desselben am Sonnenlicht der Aufklärung ankommt. Die Theologen fühlen zu gut, wie sehr zer­­­splittert ihre Interessen sind, wie zahlreich die Auffassungen der christlichen Wahrheiten, wie unmöglich es ist, den Glauben jezt noch auf etwas Anderes zu gründen, als auf die Macht der individuellen Ueberzeugung, eine Grundlage, die etwas Besonderes, keine Allgemeinheit ist. Man weiß wohl, daß der Zeitgeist nicht die Lasten, die Stände und die Privilegien vom Staate eman­zi­piren will, sondern gerade von ihnen die Einzelnen. Würde nun gar noch die Kirche eine Autorität bekommen, so würden wir bald außer dem Staatszwang noch einen Kirchenzwang haben. Die Kirche würde sich zu etwas Ständigem organisiren, und, wenn auch vielleicht keine intoleranten Ansprüche machen, doch Verbesserungen und wissenschaftlichen Fortschritten unzugänglicher werden. Man hüte sich wohl und traue dem Priester nicht, wenn er sagt: „Freiheit der Kirche!“ Und wenn er die salbungsvollsten Deklamationen gegen den politischen Despotismus einfließen läßt, wenn er noch so viel gegen Cabinetspolitik spricht und sich beliebter und auf der Tagesordnung ste­hender Redensarten bedient; er will nichts Anderes sagen, als: „Herrschaft der Kirche!“ Was er Würde der Religion nennt, ist nicht selten 189 Entwürdigung des freien Gewissens. Was ihm der Triumph des Christenthums dünkt, kann uns nur als eine Schmach erscheinen. Man lese diese Anempfehlungen kleiner Duodez-Concilien und ständischer Religionsausschüsse, die Ver­­theidigungen des sogenannten Synodal- und Presbyterialwesens, ob nicht immer der Refrain derselben der ist: Hiedurch allein könne dem Indifferentismus gesteuert werden! Mit andern Wor­ten und aus der Priester- in die Weltsprache übersezt, heißt dies: So kann auch allein wieder ein Kirchenbann, wenn auch ein noch so feiner und den Zeitumständen angemessener, möglich, so kann Hildebrand nachgeahmt und jedes Dorf ein kleines Canossa werden*! Mit einem Worte, so lange noch vom Cultus eingestanden ist, daß er zum Ressort der Polizei gehört, so lange wird auch kein Zwang in geistlichen Dingen Statt finden; denn wir sind doch so weit wenigstens gekommen, daß jeder Staat, mag er auch unfrei verwaltet werden, doch Scheu hat, seine geistliche Gewalt, die er nur weltlich ausüben kann, offen zu mißbrauchen.

190 Es schwebt den Freunden eines christlich-religiösen Lebens als Schreckbild Nordamerika vor, wo die Religion eine Privatsache ist, wo die religiösen Gesellschaften wie Eisenbahnunternehmungen vom Staate concessionirt werden. Der Vergleichungspunkt im Bilde stört uns; sonst will das Prinzip doch nichts andres heißen, als daß jede religiöse Gesellschaft, die ihren Cultus üben will, sich der Theilnahme des Staates so zu erfreuen hat, daß er sie beschüzt. Daß z. B. in Europa ein Versuch, die Kirche als ein Ganzes aufzuheben und nur noch Religionsgesellschaften zu dulden, die sich selbst verwalten mit mehr oder weniger apostolischer Färbung, je nach dem Bedürfniß der Gemeinde; daß ein solcher Versuch nicht sogleich jene Willkür zur Folge haben werde, die uns an Nordamerika so widerstrebend ist, dafür bürgen die unauslöschlichen Voraussetzungen und Bedingungen unsres europäischen Lebens, die Sitten, die Meinungen und die Verhältnisse, welche Alles umfassen. Um aber beide so wünschenswerthe Resultate zu erreichen, sowohl die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, als die Unmöglichkeit, die Kirche mit einer gefährlichen Gewalt zu bekleiden, gibt es keinen andern Ausweg, als den, die religiöse Ueberzeugung frei zu geben und von jenen Gesellschaften, die sich bald als Gemeinden bilden würden, höchstens zu erlangen, daß ihre Geistlichen auf den Namen Christi taufen. Da werden vielleicht die meisten Gemeinden den 191 Grundsätzen einer aufgeklärten Bibellehre anheimfallen, viele würden sich zum Pietismus bekennen und vielleicht auch solche Vereinigungen würden sich bilden, wo philosophische Ueberzeugungen mit asce­tischer Wärme vorgetragen würden, und es möglich seyn könnte, zahllose Männer, die seit Jahr und Tag nicht mehr die Kirchen besuchen, für einen die Sitten und die Gefühle mil­dernden Cultus zu gewinnen. Man fürchte sich doch nicht so kindisch vor dem, was von Menschenhand ausgeht; man glaube doch nicht, daß im Neuen keine Kraft, im Gegenwärtigen keine Zukunft lie­gen könne. So gut in alten Zeiten die Formen für göttliche Ueberzeugungen menschlich, für heilige Gedanken weltlich wa­ren, so würde sich auch noch heute die bildende, organisirende und dabei immer künstlerische Kraft der Menschen in trefflichen Ge­bilden offenbaren können, wenn ihr nur Raum gestattet würde, sich zu bewähren. Der Menschengeist ist voll unversiegbarer Triebkraft, und wenn es zwar richtig ist, an Bäumen die Ueberwu­cherung auch des untern Stammes, wo es mächtig herauskeimen will, zu beschneiden; so ist das Christenthum doch einer uralten Linde zu vergleichen, in welche der Blitz schon zahllos oft herniederfuhr, Aeste spaltete, und die Krone knickte. Der Stamm ist riesenstark, kaum von vier Menschenarmen umspannbar; aber oben fehlt schon die Proportion in den Aesten, und wir sehen aus dem alten Baume junge neue Keime hervordringen, um die Krone mit 192 der Zeit wieder abzurunden, und das Verhältniß des Ober- und des Unterbaus herzustellen. Man vergesse auch nicht, daß in dem Grade, als wir vielleicht an ureigner und origineller Schöpfungskraft und organisirender Fä­higkeit verloren haben, wir auch in der Verehrung vor dem Alter kühler wurden und eine Eigenschaft erhielten, die die Alten nicht hatten, die kritische Vergleichung und den mißtrauisch-zweifelnden Verstand. Gerade, wenn man Ursache hat (und wer hätt’ es nicht!), den einreißenden Indifferentismus, die Negationssucht und den reflektiven Verstand zu beklagen; so sollte man am wenigsten annehmen, daß in der Wiederherstellung des Alten ein Hilfsmittel gegen dies Uebel läge, in einer künstlichen und affektirten Leidenschaft für das Bestrittene oder wohl gar in dem Zwange, sich dem Alten fügen zu müssen, weil man es zum Gesetz erhebt; sondern man lasse doch nur die Menschen recht wacker und frei in die Welt hinaus schaffen und erfinden, man räume allen Schutt weg, wo sie etwas constituiren wollen, man entfessele diesen Hang zur Neuerung, der ein Ziel nach Positivem zu haben scheint und sich negativ nur deßhalb äußert, weil es an der Freiheit, seinem Drange nachzugeben, überall gebricht. So würden wir, wenn nicht bloß die Wissenschaft und die Ueberzeugung in der Religion, sondern auch das Kirchenwesen freigegeben würde, zwar mancherlei seltsame Gestaltungen erleben, die das Alte verbessern oder gar ersetzen sollen, 193 wunderliche Mißbildungen, an denen es nicht fehlen kann, wo der Mensch mit der Natur und der Geschichte in großartigen Schöpfungen zu wetteifern sich unterfängt; allein, sey es nun, daß in der That etwas Neues zur allgemeinen oder theilweisen Zufriedenstellung der Bedürfnisse geschaffen würde, oder daß man aus Mißmuth, nichts Eignes erfinden zu können, zum Gegebenen und Ueberlieferten zurückkehrte; was kann erhebender seyn, als dies, was förderlicher für den Ernst des Lebens, förderlicher für die Bekämpfung jener negativen Richtungen, die nicht mehr das Erbtheil unsres Jahrhunderts seyn sollten, und die es nur werden, weil die Freiheit des Geistes und die Freiheit der Rücksichten nicht Hand in Hand gehen!

Der katholischen Kirche ist es besser gelungen, als der protestantischen, sich als ein selbstständiges Ganzes zu erhalten. Sie hat noch nicht aufgehört, Hierarchie zu seyn. Sie befiehlt noch von Oben herab bis in die verzweigtesten Abstufungen einer geistlichen Bureaukratie hinunter. Wäre sie auch zu schwach, einen drohenden Widerstand gegen die Einmischung weltlicher Zumuthungen zu unterhalten, so ist doch selbst der leidende Widerstand eine Waffe, gegen welche Fürsten und Regierungen den Fanatismus der Massen, den Parteigeist der Priester und die scheinbare Nothwendigkeit eines in sich geschlossenen Kirchenzwecks bedenkend, nichts vermögen. Wie viel Unlust und Qual weiß Herr von Quelen Louis Philipp zu 194 machen! Die weltliche Macht wirft sich noch einmal in die Brust und weist den Inhalt eines Hirtenbriefs zurück, eilt aber, sogleich eine zerstörte Kirche aufbauen zu lassen und den heiligen Vater von dem Mißverständniß zu informiren. Das macht, die Regierungen geben ungern Beispiele eines Verfahrens, das sie, angewandt gegen sie selbst, für unpassend halten. Sie schützen die geistliche Macht, um sich mit ihrem Segen selber heilig zu sprechen, wie auch Napoleon nicht den Muth hatte, den Pabst, der in seiner Gewalt war, zu erdrücken, sondern ihn aufsparte, um ihn zu salben.

Die in neurer Zeit abgeschlossenen Koncordate weltlicher und geistlicher Interessen sind fast alle von jenem Geiste diktirt, der den Kongreß von Wien beseelte. Man wollte Freiheit vom apostolischen Stuhle, ohne diesem zu mißfallen oder sich wohl gar dem Vorwurfe der Irreligiosität auszusetzen. Consalvi protestirte zwar gegen den ganzen Verlauf des Wiener Kongresses; allein der retardirende Geist, welcher die Fürsten beherrschte, kam zulezt den Separatverständnissen mit dem Pabste doch zu Hilfe. Pius VII., dieser starre Priester, der die Jesuiten wieder aus einem Grabe, in welches sie früher nur eine wächserne Todtenmaske gelegt hatten, erweckte, um eine gerüstete Schaar von Kämpfern zu haben, eine Miliz der kirchlichen Interessen, hatte die Genugthuung, daß die Niederlande, Preußen, Deutschland, die Schweiz sich 195 durch Verträge zu einem Einflusse verstanden, der dem Pabste gestattet wurde, weit über die Fortschritte der Zeit hinaus. Die Fürsten behielten fast keine andern Rechte, als diejenigen Stellen zu vergeben, über welche sie selbst durch längern Besitz oder spätern Erwerb die Patronatsrechte besaßen. Was zweifelhaft in den Bestimmungen war, wurde vom Pabste bald zu seinen Gunsten erklärt. Die Allocutionen dienten als Erweiterungen der Konkordate und die protestantischen Fürsten namentlich, um nicht ihre katholischen Unter­thanen, die gewöhnlich auch in neu erworbenen bestanden, aufzureizen, zogen in diesen Fällen nicht selten vor, zu schweigen. Das ganze Verhältniß der katholischen Kirche ist, wie der katholische Glaube selbst in unsern Tagen, stagnant.

Das religiöse Leben der Gegenwart ist blühender und ernster, als das des vorigen Jahrhunderts. Dennoch ist dies zum Theil nur die Folge des Zeitgeistes, der die Religion auf sich beruhen läßt und sie achtet, ohne sie zu üben. In dieser Rücksicht ist der Zeitgeist sogar ein Hinderniß der Religion. Er spannt andere Netze, als die Fischernetze des Christenthums aus, um die Gemüther der Zeitgenossen zu gewinnen. Er ist nicht nur allein auf das Weltliche, sondern auch fast nur auf das Momentane bedacht. Eine Gesinnung, wie die des sechzehnten Jahrhunderts, wo das religiöse Interesse alle andern Fragen absorbirte, die Politik lähmte, ja den eignen Vortheil nicht selten 196 vergessen ließ zu Gunsten seiner Ueberzeugung, läßt sich kaum noch vom heutigen Gesichtspunkt aus begreifen. Die Redensart, daß man Gott in allen Lagen und Gestalten anbeten könne, hat unsre Mitwelt längst für die einzelnen Konfessionen in der Religion unempfindlich gemacht, wie denn jene Exaltation früherer Zeiten, die für ihren Glauben starb und sich nicht bedachte, was sie wählen sollte, wenn ihr der Tod oder der Turban angeboten wurde, den unsrigen fremd ist. Es ist auch dies, daß die Idee Gottes mit der Zeit so vergeistigt wurde, der Grund, warum man alles Aeußere in der Religion, Bekenntniß, Ceremonie, Gottesdienst für unwesentlich hielt und sich auf Lauterkeit der Gedanken und stille Hingebung der Gefühle beschränkte.

Die Mängel der Kirche und die Form des Gottesdienstes tragen ohnedies viel dazu bei, daß sich das religiöse Bedürfniß nicht in zusammenhängender Einigung und einer das Wesen der Gemeinde wieder herstellenden elektrischen Kraft ausspricht. Seitdem in der Lehre soviel in Frage gestellt ist, kann auch das Leben in der Religion sich so harmlos äußern, wie früher nie; ist doch bei manchem die Religion jezt nur noch darin gelegen, daß man über sie nachdenkt, wie in der That Andacht nur das Denken an Gott ist. Der Gebildete verschließt sich mit seiner religiösen Ueberzeugung und bildet sich seinen eignen Kultus aus; weder die phantastische Ueberladenheit des katholischen 197 Gottesdienstes, noch die leere Nüchternheit des protestantischen vermögen auf Gemüther zu wirken, in welchen sich Verstand und Phantasie die Wage halten. Die Messe ist zu viel und die kahlen Wände bei den Protestanten sind zu wenig. Man will erregt seyn, aber ohne Sinnlichkeit, man will Phantasie, aber ohne Täuschung; die Widersprüche, die in den Empfindungen und der Denkweise der gegenwärtigen Welt liegen, können durch die äußere Form unsres Kultus am wenigsten ausgeglichen werden. Er bietet uns etwas Altes an, wo ein großer Theil noch unsern Empfindungen entspricht, der andere Theil aber nur den guten Eindruck des Andern stört. Was bleibt zulezt bei einem Verhältniß übrig, wo sich ohnedies jeder Besonnene gestehen muß, daß Neuerungen hier nicht nur schwierig, sondern auch in dem Falle ganz unmöglich sind, daß wir nicht eine neue Epoche in der Religionsgeschichte annehmen und mit vielem Innerlichen im Glauben auch dies Aeußerliche selber neu bestimmen wollen?

Darum soll jedoch nicht gesagt seyn, daß unsre Zeit nicht hie und da Symptome eines starken Dranges nach religiösem Leben aufweist. Nach der Frivolität und dem Kunstenthusiasmus des vorigen Jahrhunderts brachen so gewaltthätige Ereignisse über Europa herein, daß sich eine Schüchternheit und ein nicht selten mürrischer Ernst der Menschen bemächtigte. Unsre Gesinnungen sind strenger und rauher geworden, unsre 198 Berührungen schroff und abstoßend. Das Gewirre der ideellen Interessen, die sich wechselseitig befehden, um Träumen über Staatsverfassung den Sieg zu verschaffen, die Noth der materiellen Existenz, die oft sogar da die bangsten Stunden macht, wo das großartige Geschäft mit den Konjunkturen zu kämpfen hat, oder der Reichthum einen Lebensfuß erzeugt hat, auf welchem immer und ohne Beschränkung zu leben dem Vermögenden ein nicht selten schwieriges Bedürfniß geworden ist; dies alles macht, daß wir die obere und untere Kinnlade scharf zusammendrücken, die Stirne runzeln und die Augen tief in ihre Höhlen zurückziehen. Die spätere Wendung, welche die Ereignisse nahmen, die den Anfang unsres Jahrhunderts bezeichnen, ging hie und da wirklich von religiösen Impulsen aus, man konnt’ es sogar möglich machen, die Politik und die Diplomatie einen kurzen Augenblick mit der Religion zu verbinden. Die religiösen Verirrungen überdies, deren unsre Epoche zahlreiche aufzuweisen hat, bestätigen das einmal vorhandene Bedürfniß, welches befriedigt seyn will; die Fortschritte des Pietismus konnten nur in einem Zeitalter möglich seyn, wo es leicht war, an religiöse Empfindungen anzuknüpfen, ja, selbst solche Sekten, welche aus rein politischen Interessen, ja sogar aus industriellen hervorgingen, wie der Saint Simonismus, zogen doch das Christenthum in den Kreis ihrer systematisirenden Bestrebungen, eine Kulturblüthe, für welche 199 die Utopisten früherer Jahrhunderte in den Treibhäusern ihrer eingebildeten Staaten und Erziehungsmethoden keine Stelle hatten. Ich kann hier nicht unterlassen, die schon oben gemachte Bemerkung zu wiederholen, daß mir in dieser unläugbaren Neigung und doch der gleichzeitigen Entfremdung gegen die Art und Weise, wie sich früher die gläubige Andacht zum Christenthum verhielt, ein denkwürdiges Phänomen zu liegen scheint. Das Streben nach Freiheit in göttlichen Dingen schließt die Zügellosigkeit aus; der religiöse Ernst dämpft die Kühnheit der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Theologie; wir fangen an, einer neuen Kirche, wenigstens den ersten sichern Resultaten derselben entgegen zu reifen.

Der Pietismus ist jedoch schwerlich das Medium, welches diesen Prozeß klären und läutern wird, oder es müßte denn seyn, weil neue Gebäude am ersten dem Stocken und dem Mauerschwamm ausgesezt sind. Seine große Verbreitung beweist noch nicht, daß er allgemein werden wird. Wäre sein Prinzip nur das Gefühl, so ließe sich an der Alles bewältigenden Kraft desselben nicht zweifeln, allein sein Wesen ist weit mehr die Autorität, als das Gefühl; es herrscht in dieser Auffassung der Religion nicht einmal das Streben nach einem Sieg über die Masse, man sondert sich ab, man entsagt dem Allgemeinen; der Pietismus hat zu allen Zeiten den Verlauf der Kultur und Geschichte nur begleitet, er lief als Basrelief oft mit 200 wunderlichen Arabesken und Verschlingungen den großen Marmorgebilden, die auf dem Postamente der Zeit standen, parallel. Dieselbe Stellung hat er noch gegenwärtig, wobei er noch nicht einmal den Vorzug früherer Zeiten hat, den, in seiner Art einzig und originell zu seyn.

Daß der Pietismus nicht bestimmt ist, eine bedeutende Entwicklungsstufe im Christenthum selbst zu werden (er wird immer das Christenthum nur erhalten, nicht weiter fortführen wollen) sieht man auch daraus, daß er als eine Ketzerei betrachtet zu werden wünscht und sich von der Gemeinschaft mit einer Kirche, die ihm nicht unsichtbar genug seyn kann, gänzlich ausschließt. Der Pietismus muß immer im Widerspruch seyn. Die Reibungen erwärmen ihn. So sucht er auch nicht die Kirchen, sondern übt seinen Gottesdienst in Konventikeln, wo ein bestallter oder vom Geist getriebener Redner das Wort führt. Männer und Frauen haben hier ihre eignen Zusammenkünfte, sie vermischen sich nicht unter einander. Feierlicher Gesang mit Begleitung einer Violine oder auch ganz frei getragen, beginnt die Erbauungsstunde. Dann tritt der Redner auf und hält ein Gebet, worin die größte Kraft dieser Sekten liegt. Sie ringen die Hände, bieten alle Energie der Stimme auf, und beten, daß es einen Stein erweichen könnte. Der Maßstab, den sie an Geistliche legen, ist der, ob sie auch beten können! Sie verstehen darunter kein kurzes Vaterunser, 201 sondern eine lange, heftige, gläubige Apostrophe an Gott und an Jesus, sie beten sich den Himmel auf die Erde herunter und können in den Zumuthungen, die sie an den Himmel stellen, oft gar nicht wieder das Ende finden. Darauf werden denn nicht selten Angelegenheiten der kleinen Gemeinde zur Sprache gebracht; sie steht im Briefwechsel mit andern, sie hat einen Missionär unter die Heiden gesandt, sie erhält einen Brief von ihm, worin er die Bekehrung eines Neuholländers meldet; man schickt sich zum Gebet an für den Neuholländer und dekretirt, dem Missionär zu antworten und ihm zu sagen, daß hundert Männer ihn und seinen Täufling in ihr Gebet einschließen wollten. Darauf wird irgend eine Stelle der Bibel vom Redner mit einer frommen Weitschweifigkeit umschrieben. Diese Redner, welche größtentheils nur Handwerker, bisweilen Schulmeister sind (seltner Gelehrte und Staatsbeamte) haben nicht den Scharfblick, sich aus einer Stelle der Bibel einen Hauptgedanken zu entnehmen, dann die Bibel zu verlassen und nur durch die Behandlung des Themas allmälig wieder auf sie zurückzukommen. Dies würde ihnen zu schwer werden; sie können sich keinen Augenblick von dem theuern Buch entfernen, sondern nehmen Vers für Vers durch, erweitern seinen Inhalt, geben ihm einige Nutzanwendungen, wobei höchstens das Gesangbuch als Aushilfe der Bibel citirt wird, und schließen dann die Versammlung wieder mit Gebet und Gesang. 202 Der Eindruck auf die Mitglieder muß erhebend seyn; denn wie schön, wenn mitten im Gedränge des gewöhnlichen Lebens an Werktagen oder an Sonntagen, wo man sich wieder auf die Plage der nächsten Woche vorbereitet, mitten im Gewühl der weltlichen Interessen, die sich alle abstoßen und ausschließen, doch sich Einzelne begegnen, die sich kennen, als durch ein geheimes Band verbunden, als Vertraute eines Geheimnisses, welches die Sitten mildert und das Gottvertrauen stärkt, als Anverwandte eines überirdischen Reiches erkennen und sich allerwege still begrüßen!

Obschon der Pietismus sonst nicht das Streben hat, seine Spur mit dauernden und festen Werken zu bezeichnen, so hat sich doch derselbe besonders zwei Aufgaben angelegen seyn lassen, nämlich die Bibel überall und das Christenthum unter den Heiden zu verbreiten. Das Missionswesen wurde bekanntlich von der katholischen Partei sehr eifrig gepflegt. Einem Glauben, der schon der Berührung mit dem Kleidessaum eines Geistlichen wunderbare Kräfte zuschrieb, mußte es leicht werden, die Heiden in Masse für das Christenthum zu gewinnen oder als Gewonnene wenigstens auszugeben. Katholische Propagandisten tauften in Amerika und Asien an einem Tage Tausende, indem sie nur mit dem geweihten Wasser sie benezten und über den Unterricht sich weiter keine Sorgen machten. Ja, wenn man über die Frömmigkeit einer buddhistischen Dame erstaunen soll, welche den Tag 203 hindurch nichts Anderes that, als den Namen Maria aussprechen, so war diese Bekehrung dadurch leicht erklärt, daß sie schon als gläubige Buddhistin sich früher damit beschäftigt hatte, nur den Namen einer heidnischen Gottheit auszusprechen, wofür sie in Kürze den der Maria unterschob. Wenn die katholischen Missionarien der Länder- und Sprachkunde viel genüzt haben, so nüzten die evangelischen Heidenbekehrer mehr ihrem religiösen Zwecke; sie gewannen Sklaven für das Christenthum und auf der Küste des Kaps Hottentotten, welche, indem sie Christus kennen lernten, in die Dienste der Europäer traten. Allein im Allgemeinen ist Dasjenige, was durch das Missionswesen für Ausbreitung des Christenthums geschehen ist, ein kleines Sandkorn an dem Weltmeere des Heidenthums. Die Fortschritte des Missionswesens sind, wenn sie nicht gerade an Orten gemacht werden, wo eine politische Verfassung und eine bereits blühende Civilisa­tion, wie in Ostindien, dieselben erleichtert, so gering, daß man weit eher fragen möchte: was wirken die Missionen auf Die, welche sie absenden? als, was wirken sie auf Die, zu welchen sie gesandt werden? Im Grunde ist es unmöglich, wahres Christenthum dort zu lehren, wo alle Voraussetzungen einer früheren Bildung fehlen, und wenn diese Duodez-Ausbreitung des Christenthums nur dazu dienen soll, Gesittung zu erreichen, dann möchte wieder der Erfolg mit dem Aufwand von Kräften, der dazu nöthig ist, 204 in keinem Verhältniß stehen und das Bedenken nicht unerlaubt seyn, ob es nicht andere, kürzere und sicherere Mittel gäbe, Naturvölker zu bändigen. Das Christenthum kann beseligende Kraft nur dann üben, wenn es herzlich und innerlichst aufgenommen und verstanden ist. Ist das Christenthum Zweck, so wird er hier verfehlt; ist es Mittel, so ist es theils zu schwach, theils zu theuer. Das Missionswesen, wie es jezt ist, sticht gegen die Erweiterung, die man ihm als einer Gesellschaft für die Civilisation der Heidenwelt geben könnte, winzig ab; es ist ein kleines, zerbrechliches Kanot, das sich ohne Assekuranzprämie, ohne Wasser und Lebensmittel, ohne Kompaß und Steuerruder auf die See hinaustragen läßt, wo es seine Wirkung auf zwei, drei Menschen beschränkt, die es so zu sagen auf irgend einer kleinen Insel, an welche sie der Sturmwind wirft, antrifft. Es ist Nichts gegen Das, was es seyn könnte.

Auch kann ich nicht die Verwunderung unterdrücken, warum sich denn das Missionswesen nur mit dem blinden Heidenthum beschäftigt, und nicht mit dem sehenden, d. h. mit dem Heidenthum, welches sich nicht dafür hält. Man hört immer von Missionen in die Südsee, auf die Freundschaftsinseln; warum nicht auch von Missionen unter die Türken? Freilich besitzen diese eine weltliche Herrschaft, die für den armen Missionär unüberwindlich ist. Allein könnte man nicht an den Grenzen werben und sich nach und nach 205 durch ein methodisches Verfahren in das Innere der Länder hineinbekehren? Es gibt auch christliche Theologen, welche das Missionswesen in seiner jetzigen Gestalt ganz verwerfen und es für kleinlich und eines die gebildete Welt beherrschenden Glaubens für unwürdig halten, sich bei fremden Völkerzuständen leis und behutsam einzuschleichen, und die ihrerseits überzeugt sind, das Christenthum solle nur die Folge jener Ausbreitung seyn, nach welcher die Menschen ohnedies hinstreben, der Ausbreitung politischer Herrschaft, wie auch im Alterthum Bonifazius und Irnerius und die übrigen Heidenbekehrer bei weitem nicht so viel gewirkt haben, als wenn Karl der Große die Sachsen aus dem Lande schleppte, oder die Völker selbst nach Italien kamen, wo sie ohnedies Neues suchten und gern auch das Christenthum mitnahmen. Welch’ ein zweifelhaftes, ja ohnmächtiges Geschenk ist das Christenthum, wenn ihm nicht die Civilisation zu Hilfe kommt! Was ist es, daß ein Wilder am Meeresstrand die Bibel küßt und, ohne sie lesen zu können, zur Noth ihren Inhalt erfahren hat; was ist es, wenn Zehen, Zwanzig mit ihr auf gleiche Weise bearbeitet sind, und sich doch nirgends die Möglichkeit zeigt, hier auch jenen großen, welthistorischen Segnungen des Christenthums Raum zu schaffen, und namentlich in denen, die getauft sind, den Trieb der Weiterfortpflanzung ihrer Erkenntniß und das Märtyrthum zu erwecken! Diese Familie küßt ihre Bibel, erzählt sich 206 von Christus, stirbt allmälig aus, die Tradition stirbt mit aus und die Bibel vermodert auf den Gräbern der kleinen Gemeinde, die nie gewußt hat, was sie mit ihrer schönen Besserung und ihrer Tradition hat machen sollen. Gerade, weil es dem Missionswesen nicht gelungen ist, das Christenthum als Funken in Gemüther zu legen, die sich dann weiter entzündeten und der Mission selbst das Geschäft aus der Hand nahmen, gerade weil die wenigen Gewonnenen nur arme, hilflose Schafe waren, die ewig des Hirten bedurften, um nicht in der Irre zu gehen, gerade darum war das Missionswesen nicht werth, daß man es bei dem Erwachen unserer religiösen Empfindungen wieder neu zu beleben suchte. Man kann wohl sagen, daß durch das Missionswesen weit mehr die Bekehrung unter uns, als die unter der Heidenwelt dargethan ist.

Segensreicher wirkten jedenfalls die Bemühungen der Bibelgesellschaften; denn selbst, wenn sie mit dem Missionswesen Hand in Hand gingen und ihre Aufgabe mit einer Uebersetzung derselben in Heidensprachen lösten, so haben sie, wenn nicht dem Christenthum, doch der Philologie genüzt; wie Dr. Carey, der früher Schuhmacher war, gewiß nicht so viel wahre Chri­sten, als wahre Sanskritaner gezogen hat. Im Allgemeinen müssen freilich diese Bibeln, wenn sie in die Sprache schon vor­gerückter heidnischer Völker übersezt sind, unsrer mangelhaften Kenntniß ihrer Sprache wegen, einen Eindruck auf Jene machen, wie auf uns, 207 wenn wir einem Apothekergehülfen auftrügen, die Bibel ins Lateinische zu übersetzen, oder englischen Matrosen, die einmal in französischer Gefangenschaft waren, ihre Schicksale französisch aufzuschreiben. Da ist die Wirkung schlimm genug für die Religion; allein es ist doch immer schon eine Stufe für die Philologie. Und nun sind Bibelgesellschaften, wenn sie unter uns das merkwürdigste aller Bücher zu verbreiten suchen, auch in dem Falle sehr rühmenswerth, daß sie ein fehlendes Buch zu ergänzen suchen; verwerflich aber dann, wenn sie andere Bücher damit verdrängen wollen. Leider ist das Leztere oft mehr die Absicht, als das Erste, und die Bibelgesellschaften verdienen dann wohl, daß sie von manchen speku­la­tiven Köpfen an der Nase herumgeführt werden; denn wie Viele melden sich nicht hier und dort, wo es unentgeltlich Bibeln gibt, und verkaufen sie bei dem ersten besten Buchbinder, so daß einmal von einem im Geruch der Heiligkeit stehenden Soldaten herauskam, er hätte in einem Jahre sich durch demü­thiges Niederschlagen der Augen mehr als hundert Bibeln zu ver­schaffen gewußt, die er alle bei einem Compagnon seiner Spekulationen absezte.

Auch für die Bekehrung der Juden schießt der Pietismus Geld zusammen. Es wird Samstags in einer eigens dazu bestimmten Kirche gepredigt, um die Juden anzulocken; allein wenn ihnen nicht, wie einst den Sachsen, das Henkerschwert droht, wer kann 208 ihnen verargen, daß sie die christlichen Kirchen nicht besuchen und noch weniger Christen werden! Diese Gesellschaften zur Bekehrung der Juden haben wenig Erfolg, und wo sie ihn hatten, kamen die Strahlen der Erleuchtung nicht von der Sonne der Wahrheit, sondern von den blanken Guineen, mit welchen die Gesellschaft bereit ist, einen abtrünnigen Juden zu unterstützen.

Wenn nicht das Christenthum allmälig eine so ausschließliche Richtung angenommen hätte, so würde es weniger auffallend seyn, ein Volk und eine Religion unter uns zerstreut zu sehen, die ursprünglich zwar der Stamm des christlichen Glaubens war, sonst aber in den Folgen, die sie für die Gesellschaft hatte, eine der eigenthümlichsten Stellungen gewonnen hat. Mit­ten durch unsere Gesellschaft zieht sich ein eigener Völkerbund, der überall seine Heimath hat, wo seine Glieder weilen, der in Gesichtsbildung, Charakter und Religion einen entschiedenen Gegensatz gegen alles germanische und romanische Leben bildet. Es ist ein Volk, das ohne Verabredung sich doch erkennt, das kein eignes Ziel hat und sich auch nicht dem des übrigen Europa anschließt; ein Volk, das den Augenblick benuzt, um nur das Individuum, und was es an Freundschaft und Verwandtschaft besizt, zu heben. Hie und da erinnert der Zustand desselben noch an die Zeiten der finstersten Barbarei; denn nicht nur, daß die Unterdrückung die Menschen dieses Glaubens vom 209 reinigenden und erfrischenden Zugwind der Fortschritte im öffentlichen Leben entfernt gehalten hat, sondern sie selbst machen kaum größere Ansprüche, als sicher in ihrer Haut zu seyn, kleinen Geschäften ohne Zwang vorzustehen und an einer religiösen Ueberzeugung haften zu dürfen, die ihre Grund­lage in der Verehrung des Alten hat und nur eine Hoffnung predigt, von der der Jude nur zu gut weiß, daß sie weit über den Horizont des Möglichen und Glaublichen hinausliegt. Hie und da trieben die Bedürfnisse des Geistes oder die Ansprüche des Reichthums das zerstreute Volk aus jenen Gassen, in welche sie das Mittelalter verschloß, heraus; sie ließen den Unterschied der Religion daheim zurück als ein, mit den Fortschritten der Aufklärung allmälig schwächer gewordenes Abzeichen, schlossen sich an die übrige christliche Gesellschaft an und wußten durch Scharfsinn, Reichthum und nicht selten zugestandene Autorität (die Rothschilds) die Trennung immer mehr in Vergessenheit zu bringen. Jüdische Zumuthungen, welche man in den Zeiten des Mittelalters für Hochverrath ausgegeben hätte, erhielten jezt einen kräftigen Nachhalt. Der Jude will keinem einzelnen, wie Goldadern, unser Europa durchziehenden Volk mehr angehören, sondern behauptet, durch Sprache, Sitte und Geburt Europa als seine Heimath errungen zu haben; er will nach dem Maße von Lasten, die ihn drücken, auch an den Vortheilen des öffentlichen Lebens Theil nehmen und verlangt das vollkommene Bürgerrecht 210 um so dringender, als die erwachte Humanität in diesem Bürgerrecht auch das allgemeine Menschenrecht erkennt. Wir erleben das in alten Zeiten unerhörte Beispiel, daß die Juden ihre Nationalität, ihre Absonderung, ihren Stolz, ja den größten Theil ihrer Religion preisgeben, um sich den öffentlichen Thatsachen ohne Unterschied als Gleichberechtigte anzuschließen. Hätte man im fünfzehnten Jahrhundert die Juden emanzipiren wollen, sie würden es nicht angenommen haben; die Unterdrückung war alltägliche Gewöhnung, sie würzte den Glauben, der seine größte Stärke in unbegründeten, aber doch schmeichelhaften Hoffnungen fand. Die Juden würden um den Preis ihrer Religion und Nationalität die Erlösung aus ihrem Joche nicht angenommen haben. Jezt aber, wo an die Stelle der Aristokratie der Geburt die Aristokratie des Geldes getreten ist, wo Industrie und Handel die Gegenstände der feinsten politischen Sorgfalt sind, wo die dogmatischen Traditionen des Glaubens gelüftet wurden, hat sich auch bei den Juden längst der Ehrgeiz und die Scheu verloren, mit dem Christen eine und dieselbe geistige und leibliche Speise zu essen. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ringen die Juden nach einer sogenannten Emanzipation und werden darin von aufgeklärten und gefühlvollen Christen unterstüzt. Sie wollen nicht mehr auf Pfänder leihen, mit alten Büchern handeln, mit dem Quersack durch die Straßen ziehen und für alte Kleider neues Geld geben; sie 211 sind des Wuchers müde, um so mehr, da sie nicht mehr das Privilegium dazu haben, sondern schon längst von Christen darin übertroffen werden. Den Vorwurf, daß sie zur Emanzipation noch nicht reif wären, können sie insofern zurückweisen, als die an ihnen vermißte Bildung nicht die Ursache, sondern die Folge der Emanzipation seyn kann; denn gibt es Bildung, wo keine Freiheit ist? Werden selbst scharfsinning gebildete Israeliten aufhören, eine gewisse eigenthümliche und nicht selten abstoßende Physiognomie zu tragen, wenn man die jüdische Bildung zwingt, sich auf eigene Hand zu erzielen, und nicht vielmehr Thür und Thor öffnet, daß sich die Meinungen und Manieren vermischen und daraus jenes Nivellement erzeuge, welches wir Christen eigentlich unter: Selbst­emanzipation der Juden begreifen? Nicht die Barbarei der Juden ist uns anstößig; (denn sind die Christen nicht theilweise roher!) sondern nur der ganze Geruch, der das jüdische Leben begleitet, die Folge der Sklaverei, die wir im Zustande der Sklaverei selbst verbesserlich glauben! Wir stoßen uns an der Specialität und begehren etwas Unmögliches, wenn wir verlangen, die Juden sollten diese durch sich selbst aufheben. So lange nicht die Emanzipation herrscht, werden wir bei den Juden über ihren Ueberzeugungen und Meinungen einen Circumflex finden, von dem wir sagen können, daß es jüdisch und vielleicht fatal ist; allein wenn es den freiesten Geistern 212 nicht gelingen kann, das Exklusive ihres Volkes zu überwinden, wie soll es bei der Masse seyn, bei welcher sich überhaupt die Bildung nur durch Umgang und Beispiel entwickelt!

Die Emanzipation der Juden ist eine so lebhafte Tagesfrage, daß man sie kaum erwähnen kann, ohne zugleich mitten in Polemik hinein versezt zu seyn. In Frankreich ist sie entschieden; dort werden die Juden zu Deputirten gewählt und können an der Gesetzgebung und Administration des Staates Theil nehmen; jedes Gewerb ist ihnen gestattet, ja sie haben sogar die Freiheit, Soldat zu werden und sich für ihr neues Vaterland erschießen zu lassen. In Belgien gibt es jüdische Maires genug, ja trotz der katholischen Staatskirche wohnen Juden den königlichen Kindtaufen als Zeugen bei. Ueberhaupt verschmilzt der Jude in romanischen Staaten leichter mit der Masse, als in germanischen, obgleich sie auch in den Niederlanden gleichberechtigt sind und der vollkommensten Freiheit genießen. In England und Deutsch­land steht der Vermischung der Juden mit den Christen der hier auffallendere Unterschied der Raçe entgegen, denn mancher Franzose sieht ohnehin wie ein Jude aus, während englische und deutsche Juden gegen eine blonde oder doch größtentheils blauäugige Nation mit ihren scharfen, südlichen Physiognomien auf­fallend abstechen. Dennoch hat auch schon in England die Bemühung des Herrn Grant ansehnlichen Fortschritt gehabt, und in Deutschland 213 ist sogar ein Staat, wenn auch freilich durch die unmittelbare Einwirkung Rothschilds, zu einer völ­­ligen Emanzipation der Juden gediehen. Adressen werden an die gesetzgebenden Körper eingereicht, sie werden theils von Leidenschaften, theils von Gehässigkeiten, nicht selten auch von wirklichen Ueberzeugungen bestritten. Die Juden führen bereits mit großer Gewandtheit die Feder und wissen ihren Forderungen in der Literatur einen Nachdruck zu geben, der um so kräftiger ist, als der Ruf nach Freiheit in einer bessern stylistischen Lage ist, als das kalte Wort der Unterdrückung. Ja, es fehlt sogar nicht, daß sich Juden auch als Dichter und Gelehrte in verschiedenen europäischen Literaturen ein unbestrittenes Ansehn erworben haben und den Vertheidigern der Emanzipation, um das Verdienst und Talent der Juden zu würdigen, zur glänzendsten Berufung dienen können.

Es ist billig, bei der Betrachtung dieser Frage zuerst die Hindernisse zu erwähnen, die ihrer schnelleren Lösung noch entgegenstehen. Die Juden selbst tragen einen Theil der Schuld, und so geneigt wir seyn mußten, zuzugeben, daß sich das Wesen und Treiben der Juden erst durch die Emanzipation ändern könne, so ist es doch nicht die Intoleranz allein, die einen Theil der Zeitgenossen gegen die Befreiung der Juden in Harnisch bringt, sondern ohne Zweifel manches Widerliche, woran wir uns beim Juden nicht gewöhnen können. Der Jude hat einen unliebenswürdigen 214 Charakter, er ist überzärtlich für Alles, was seinen Namen trägt, kalt und abstoßend gegen Jeden, der sein eigenes Ich nicht näher berührt. Nichts ist so entfremdend, als die Art, wie Juden sich unter einander behandeln; wer Gewalt unter ihnen hat, mißhandelt den Schwächern, sie sprechen nie anders unter einander, als mit verachtender Miene, gleichsam um sich an Dem, was sie selbst von den Christen zu leiden haben, zu rächen; sie grüßen ohne Herzlichkeit, sie reden mit einander, ohne sich anzublicken. Der Aermere ist gegen den Reichen hündisch unterwürfig, und der Reiche hält sich aus einem ganz anderen Blute, als sein Untergebener ist. Diese Fehler können sich bei den Christen auch finden; sie werden aber auffallender in einem Kreise, wo ein gleiches Gefühl sich durch das ganze Zusammenleben mit bindender Gewalt hindurchziehen soll, das Gefühl der gleichen Lage und Hoffnung.

Dann wird auch der aufrichtigste Freund der Emanzipation nicht in Abrede stellen dürfen, daß der Jude, mit seltenen Ausnahmen, roh, herzlos ist, ein Mann mit abgezogenen, raffinirten Begriffen, und daß die Bildung in diesem Kreise immer auf Indifferentismus hinauskommt. Ihre Jugend ist vorschnell, zudring­lich, nicht selten unverschämt. Die bei uns üblichen feinen und zarten Rücksichten nimmt sie nicht; die Mädchen sind salopp. Man gehe nur mit einem Juden von feinerer Bildung und tieferem Gemüth um, 215 und wird bald von ihm bestätigt hören, daß für Bildung und Humanität das jüdische Treiben un­er­träglich ist. Man ist ewig der Medisance ausgesezt, man wird nach Maßstäben geschäzt, die klein und schmutzig sind, die Kunst und Wissenschaft wird nach dem Gelde angeschlagen, und das Wucherwesen quillt noch aus den Poren des elegantesten Benehmens heraus. Wie oft erschrickt nicht der tieffühlende Jude über eine Rohheit der Seinigen, wie ängstlich wacht er, daß irgend ein lächerlicher oder gemeiner Zug derselben verrathen werde, und wie schmerzlich muß er oft zugestehen, daß es unter der christlichen Jugend nicht jene abscheulichen Gewohnheiten gebe, die unter der jüdischen herrschen! Natürlich, Jedermann muß bei den Juden stark auftragen, wenn er sich über das bei ihnen Gewöhnliche hinausschwingen will; hat er Kenntnisse, so muß er sie mit Arroganz verbinden; ist er Künstler, so muß er eine unausstehliche Genialität affektiren; hat er Witz, so muß er schonungslos verwunden; wird Einem etwas zugemuthet, so muß man ihn durch dreistere Zumuthungen zu überbieten suchen. Das ist einmal hergebrachter Ton unter ihnen, und jeder Jude, der Einsicht und Stolz besizt, ihn zu verachten, gesteht doch mit Scham, daß die jüdische Art und Weise ein solches Benehmen verlangt, und daß eine Nation, die so lang im Zustand der Erniedrigung gelebt hat, gar nicht anders in ihrer schlaffen, verstandesnüchternen und feindseligen Art, sich zu benehmen, überwältigt werden könne, als durch Ueberbietung.

216 Auch auf das Folgende paßt noch immer die Entschuldigung, daß die Juden nur durch ihre Unterdrückung die Unerträglichkeit dieser Manieren erhalten haben. Der größte Theil der Juden ist auf einen schnellen und wucherhaften Erwerb gerichtet; die Christen sind mitunter schlecht genug, aber es zieht sich durch ihre Handlungsweise nicht eine so methodische Verabredung über die Prellerei. Die Juden verschmähen kein Mittel, um zu einem reichlichen Ertrag ihrer oft schmutzigen Geschäfte zu kommen. Das Bedenklichste, was man durch Andere im Handel nicht erhalten kann, wird man durch Juden erhalten. Dann sind sie natürlich durch ihr überreiztes Wesen dem Lächerlichen mehr ausgesezt, als die Christen. Die geistreichst gebildete jüdische Salondame hat einen Anstrich, den ein feinerer Beobachter bald karrikiren kann; der elegante, reiche Handelsmann, der mit dem Kaufpreis und den goldnen Rahmen seiner Gemälde prunkt, der Schöngeist sogar, der von der Nachtigall und der Rose singt: das Alles hat einen eigenthümlichen Beigeschmack, der uns mißfällt. Nun kommt gar hinzu, daß im Hintergrunde dieser überfirnißten Kultur das speziell Nationale von den Juden gar nicht aufgegeben wird, und daß ihre Religion eine gesellschaftliche Absonderung verlangt, die für unser Gefühl im höchsten Grad abstoßend ist. Wir können abweichende Lehrmeinungen ertragen, können Anabaptisten, Quäker, Griechen und Katholiken, wenn wir Protestanten sind, 217 um uns sehen; allein daß die Juden immer noch fortfahren wollen, eine eigene Gesellschaft zu bilden, daß sie sich um Alles in der Welt nicht dazu verstehen, Heirathen zwischen Christen und Juden zu gestatten: darin liegen so viel Erschwerungsgründe der Emanzipation, daß es von den jüdischen Advokaten derselben wahrhaft abgeschmackt ist, darüber mit einem Sprunge hinweg seyn zu wollen und unseren Nerven eine Gefühllosigkeit zuzutrauen, die sich unsrer noch nicht so bemächtigt hat, wie sie allgemein bei der Emanzipation vorausgesezt wird. Mit einem Wort: ich bin mit der heiligsten Entschiedenheit für die Gleichstellung der Juden mit den Christen; allein die Art, wie diese Gleichstellung motivirt ist, hat etwas Widerwärtiges und Zudringliches; da ich auch noch nicht einen Advokaten derselben gefunden habe, der das Judenthum mit uns moralisch hat vermitteln wollen und der eingestanden hätte, daß diese Frage weit weniger eine Frage des Rechts, als eine des Gemüthes und der tiefsten Empfindungen ist.

Die christlichen Gegner der jüdischen Emanzipation werden von mancherlei Motiven getrieben. Zuvörderst treten gegen sie Idealisten auf, die entweder vom Staate oder von der Würde des Christenthums übertriebene Begriffe haben. Sie halten es für übereilt, ja für frevelhaft, einem historischen Ergebnisse, wie ein solches bisher die Stellung der Juden war, vorzugreifen und mit eigner Hand an den Traditionen 218 der Geschichte etwas Wesentliches zu verrücken. Es zeichnet diese Partei eine Unerfahrenheit in öffentlichen Angelegenheiten aus, eine Unkenntniß mit dem Wesen des Staates und der Stellung des Christenthums zu ihm, welche die Frucht theoretischer Abstraktionen ist und an welcher die in Staat und Kirche gegenwärtig herrschenden Thatsachen die geringste Schuld tragen. Denn unser gesellschaftliches Zusammenleben, weit entfernt, die bewußte Strahlen­bre­chung eines innern, unvermischt glänzenden Prinzips zu seyn, hat sich vielmehr den täglichen Bedürfnissen, namentlich durch Finanzverlegenheiten, Industrie und Handel, so angepaßt, daß der in Wirklichkeit jezt gefundene Staat keineswegs mit jenem Phantom zu vergleichen ist, welches die Idealisten aus einigen doktrinären Prinzipien zusammengesezt haben. Die künstliche Zusammenschmelzung mancher Gebietstheile zu einem Gemeinwesen mußte längst jenes sogenannte naturwüchsige Prinzip aus der neueren Geschichte verdrängen; die Staaten sind Mechanismen, keine Organismen mehr. Dazu kommt, daß das Christenthum weit weniger als ehemals die Tendenz hat, jezt sich noch als Kirche geltend zu machen, sondern sogar Die, welche die Frömmsten sind, haben längst darauf gedrungen, daß die Kirche in die Gemeinde aufgelöst werde und überdies jede äußere weltliche Autorität von dem Kreuze Christi wegfalle. So sind mit einem Worte nur jene idealistischen Gegner der Emanzipation Diejenigen, 219 welche allerdings durch mystisches oder doktrinäres Raffinement das Wesen eines christlich-organischen Staates in sich mit Glückseligkeit genießen, die aber das reine Gold ihres Ideals, von den Schlacken unserer verworrenen, mechanischen, trivialen Zustände gesondert, nirgends werden nachweisen können. So vermögen wir dem Gedanken, daß Juden an unseren gemeinsamen Angelegenheiten Theil nehmen sollen, zwar mit brütendem Unwillen nachzuhängen, werden uns aber immer dazu bequemen müssen, wenn wir weise und verständig seyn wollen, die Dinge so zu nehmen, wie sie einmal geworden sind. Wir können der europäischen Gesellschaft diese Ordnung und Consequenz nicht wiedergeben, welche dem idealen Absolutismus vorschwebt, son­dern in einer Zeit, wo sich überall das abstrakt Menschliche sucht geltend zu machen, mußten die Fesseln des Staates nachlassen und mußte Alles ausgewischt und ge­ebnet werden, was als bürgerliche Pflicht das menschliche Recht überragte.

Von den Einwürfen des Idealismus sind jene andern zu unterscheiden, welche der Emanzipation der Juden von der faktischen Staatsräson gemacht wurden. Die innere Verwaltungs­politik unserer Zeit hat die Juden im Stande der tiefsten Erniedrigung überkommen. Sie mußten noch vor zwanzig Jahren Leibzoll, Schutzgeld zahlen, sie waren in eigenen Gassen einge­schlossen, ja es gab Städte, sogenannte freie, 220 wo auf öffentlichen Promenaden die Juden nicht den allgemeinen Bürgersteig betreten durften, sondern durch den Sand des Fahrweges waten mußten. Selbst aufgeklärte Staatsmänner, die den Juden eine Verbesserung ihres Zustands von Herzen gönnen, sehen nicht ein, wie man dabei einen andern Weg, als den einer allmäligen Reform, einschlagen könne. Es wird den Juden mit der Zeit erlaubt, unbewegliches Eigenthum zu haben, sie dürfen Landsitze kaufen, sie dürfen ein Gewerbe treiben und werden hier und da zur Advokatur zugelassen. Allein auch dieses Verfahren ist am wenigsten zu einer Beilegung des Streites geeignet; denn indem die gebildeten Juden einen gewissen Grad von Freiheit erhalten und die süße Gleichheit der Rechte hie und da kosten können, werden ihre Bedürfnisse nur dringender und ihre Wünsche nur lauter werden. Können sie nicht mit Recht sagen: wir erlangen die volle Freiheit nicht für uns Alle, sondern nur für Die, die sich nicht bloß ihrer würdig machen, sondern überhaupt sie ertragen können? Hat man erst den Juden zum Advokaten gemacht, gab man ihm sogar Sitz und Stimme in der Gemeinde, wie sie Montefiore in London hat, dann ist es schwer, Männern von dieser Bevorzugung auch das Uebrige zu versagen; ihre Redlichkeit ist erprobt, ihre Talente sind selten. Wenn man ihnen jezt noch die Pforte zu höheren Terrassen verschließt, dann begeht man eine Ungerechtigkeit, von der ich nicht weiß, ob sie durch einen Rückblick 221 auf das ganze jüdische Volk, das noch dunkel im Hintergrund steht, entschuldigt wird.

Bei den Hemmnissen der Emanzipation leisten andere Besorgnisse, die mehr oder weniger Grund haben, Vorschub. Man fürchtet eine Ueberhandnahme des jüdischen Geistes, ja man glaubt sogar, daß, wenn an dem Arme der Autorität der Jude erst ein Finger seyn kann, er sich auch bald in die ganze Faust verwandeln würde. Man fürchtet den verschlagenen und gewandten Geist der Juden, ihre Geldmittel und theilweise auch ihren Indifferentismus, ihre Gleichgültigkeit gegen diese oder jene Form der Oeffentlichkeit, wenn man auch gestehen muß, daß sie nur die Folge des bisher mangelnden rechten Vaterlandes gewesen ist. Man wendet wohl gar ein, daß uns die Juden, wenn die Christen ihre Paria’s wären, nie emanzipiren würden, weil es ihr Charakter und ihre Religion schon mit sich brächten, sich allein für das auserwählte Volk Gottes zu halten. An all’ diesen Einwürfen ist etwas Wahres; nur ist es auf die Spitze gestellt und namentlich insofern ganz irrthümlich, als sich bei einer erklärten Emanzipation der Juden ihr ganzer gesellschaftlicher Körper nicht en choc in den christlichen hereinstürzen wird. Die Juden stehen nicht bettelnd und pochend an der Thür oder lärmen aus Ungeduld, wie am Theater, sondern, da sie die Emanzipation einmal nicht haben und nicht Lust spüren, zu verhungern, so haben sie sich Lebenswege genug zu bahnen 222 gesucht, arbeiten in ihrem Kreise fort und bedürfen zur Prosperität am Allerwenigsten der Emanzipation. Da man den größten Theil der Juden gegenwärtig handeln sieht, so wird es lange dauern, bis sie ihre Emanzipation auch zu andern Erwerbszweigen benutzen. Die Gleichstellung würde keinen plötzlichen Andrang erzeugen, sondern man würde in der That erstaunen, wie lange die Juden, da ihnen doch nun die volle Freiheit gestattet ist, zögern, sie zu benutzen. Darin liegt eine der irrthümlichsten Vorstellungen über die Emanzipation, daß man sich unter den Juden ein Schiff von Auswanderern denkt, welches mit uns durch das Sprachrohr parlamentirt und dessen Mannschaft, wenn man sie einließe, uns freilich überschwemmen würde. Die Juden haben ihre abgeschlossene Existenz; sie haben wohl aus der Noth eine Tugend machen müssen, sie haben sich ihr eigenes Bett gegraben und suchen sich durchzubringen, wie es eben geht. Würden sie frei, so werden wir wenig Hungrige antreffen, die gleich heranstürzten, um sich zu sättigen; sie würden eine Weile in der gewohnten Lage bleiben, sie würden die Emanzipation nur größ­tentheils für ihre Kinder, ihre Bildung und die zukünftige Richtung des jüdischen Lebens benutzen.

Man denkt sich unter der Emanzipation immer den Moment einer großen tumultuarischen Aufregung. Die Befreiung der Juden wird aber kein einziges Zeichen der Revolution tragen. Wer wird denn kommen 223 und die Freiheit benutzen? Fürchtet ihr, der Schachergeist würde sich auf die Richterstühle setzen? der Trödelgeist hinter die Polizeischranken? Nein, Die, welche zuerst die Freiheit benutzen, werden die Gelehrten seyn. Nun ist dies aber die geringste Gefahr, welche uns Christen von der Emanzipation treffen könnte, daß Männer von Bildung und Geschmack und nicht selten von außerordentlicher Geisteskraft an unsern gemeinsamen Angelegenheiten Theil nehmen, mit uns auf gleichem Fuße stehen und sich wohl gar um die Staatsämter bewerben. Diese erste gelehrte Vorpostenlinie werden wir also schon aushalten, wir werden den Unterschied von Sonst und Jezt gar nicht merken, da wir längst gewohnt sind, jüdische Aerzte und Advokaten, Dichter und Gelehrte als die Unsern zu betrachten und längst mit ihnen in ebenbürtigem Verkehr stehen. Das zweite Treffen, welches ins Feld rücken würde, könnte dann auch nur jene kleine Schaar seyn, die den Handel verließe und sich zur Industrie wendete; jüdische Gesellen würden zu christlichen Meistern kommen, ja vielleicht selbst Meister werden und ein schönes Geld von den Ihrigen mitbringen, um ihr Geschäft gleich im Großen zu treiben. Wer erschrickt hierüber? Der Zunftgeist; die Schuster- und Bäckergilde, die sich mit so vieler Mühe von der Konkurrenz befreit hat, die die Jahrmärkte längst verwünscht, weil man auf ihnen billiger kauft, als in ihren Läden; kurz, derselbe Zunftgeist, der sich noch 224 hie und da vor der Gewerbfreiheit zu verpallisadiren wußte, der aber doch überall früher oder später einer Zeit zum Opfer gebracht werden muß, welche die Rennbahn der Konkurrenz jedem Talente, jedem Interesse freigegeben hat. Endlich bestände das dritte Treffen aus den jüdischen Lazaroni’s, welche bekanntlich durch ihren Schachergeist den Christen eine so große Plage sind, daß man froh seyn sollte, wenn dem Staate Zwangsmittel zu Gebote stünden, diese faulen Straßenwucherer aus ihrem die Judengassen verpestenden Dolce farniente zu ziehen und sie zu andern Arbeiten anzuhalten, als zu dem Lotterhandel auf dem platten Land und in den Winkeln der Städte. Es ist wahr, die gemeinen Juden sind entsetzlich faul; sie spielen alle die großen Herren und scheuen die Arbeit. Der Druck, in welchem der Staat sie erhält, bestärkt sie darin. Die Emanzipation würde ihm das Recht geben und die Pflicht auferlegen, diese Liederlichkeit zu hintertreiben und die Juden zur Arbeit zwangsweise anzuhalten.

Gewöhnlich will man die Emanzipation von der Bildung, die sich die Juden erst verschaffen sollen, abhängig machen; man sagt ihnen wohl: „emanzipirt euch selbst, dann soll euch die politische Freiheit nicht fehlen!“ Allein hier übersieht man, daß gerade jene Bildung, die wir an den Juden vermissen, jene Bildung, die sie mit uns gleich machen und den scharfen Accent des Unterschieds aufheben soll, daß sie nicht 225 Wirkung, sondern nur Ursache der Emanzipation seyn kann. Wir finden im Allgemeinen auch Bildung genug unter den Juden, nur hat sie ein Gepräge, welches uns widersteht; sie ist selbst da, wo sie ausgezeichnet ist, wunderlich und nicht selten lächerlich. Dies Alles kann nur die Folge der Isolirung seyn. Die Ueberreizung sowohl, wie das Defizit, kommt aus dem Druck her; ja man geht von der Bildung im Allgemeinen auch auf die Religion über und verlangt von dieser eine Akkommodation, die nicht viel mehr sagen will, als daß die Juden Christen werden. Man sollte sich hier um so weniger plump und zudringlich einmischen, als im Judenthum selbst eine religiöse Gährung ausgebrochen ist, deren Resultat jedenfalls der höheren, geistigen Emanzipation derselben den Weg ebnet. Macht man aber in Betreff ihrer Religion zu heftige Zumuthungen an die Juden, so verwirrt man sie unter einander, sezt die Reformationspartei in Verlegenheit und zwingt sie, da sie doch nicht verkannt zu werden wünscht, weit strenger an jene historische Tradition zu halten, welche sie in aller Stille über Bord werfen wird. Ja, es gibt sogar Christen genug, welche den Aberglauben und den historischen Wust so sehr lieben, daß sie es nur mit Schmerz sehen, wie sich die Juden von ihm befreien und einen geläuterten Glauben stiften wollen. Mit einem Worte, es sind im Schooße des Judenthums jezt die edelsten Kräfte thätig; an Allem, was uns Christen 226 von jüdischen Sitten so widerwärtig ist, empfinden die Juden selbst allmälig Ueberdruß, und jenes spezielle Kolorit ihres Treibens würde bald aufhören, wenn man sie nur aus dem Bereich ihrer eigenen Gesellschaft herausließe, sie von der Botmäßigkeit der Rabbinen befreite, von der Verketzerung jener Familien, die mit der Tradition koquettiren und die, wie z. B. die Rothschilds, reich genug sind, Dies ohne eigene Unbequemlichkeit thun zu können. Der Geist der Reform, der in die jüdische Religion gekommen ist, würde, wie überhaupt die Bildung jenes abgesonderten Stammes, bessere Fortschritte machen, wenn man die Schranken einrisse und dem freien Streben auch freien Raum gäbe.

Nun wendet sich freilich gegen die Freiheit der Juden immer wieder das unvertilgbare Gefühl ein, daß wir in die inneren Kreise unserer Gesellschaft eine Kaste aufnehmen sollen, deren Eigenthümlichkeit uns so widerwärtig ist. Wir reformiren recht gern, erschrecken aber oft genug, wenn wir auf die Stadien der Fortschritte zurückblicken, welche die Sache der Juden gemacht hat. Denn es ist etwas Eigenes mit unserm Widerwillen gegen jüdische Denk- und Handlungsweise. – Allein dieser eigen­thümliche jüdische Accent, wie konnt’ er sich anders, als durch Absonderung erhalten! So wie sich französische Auswanderer in Deutschland und deutsche Auswanderer in Amerika allmälig mit der Masse verbinden, so können auch die 227 Juden, wenn es auch länger dauern sollte, die Spezialität ihrer Manieren verlieren, welche das größte Hinderniß der Emanzipation ist. Wenn die Juden gezwungen sind, an einander zu halten und, so lange sie nicht unserer Gesellschaft angehören, eine eigene zu bilden, wenn sie nicht blos die trübe Vergangenheit, sondern auch die Aussicht in eine Zukunft, die man ihren Hoffnungen rauben will, nur um so enger bindet und verschwistert; so wird sich ihre Sprech- und Denkweise nicht verlieren, sie werden ihre widerliche Art, sich in alle Dinge einzumischen, behalten, sie werden neugierig und vorwitzig Alles betasten, was sie nichts angeht, werden abfällig urtheilen, werden ewig die Verstandesabstrak­tion und den zersetzenden Witz der gläubigen Phantasie vorziehen, sie werden selbst bei aller Bildung immer eine gewisse jüdische Schattirung behalten, die sich in Geldsachen und dem Egoismus offenbart; kurz, der jüdische Charakter, dessen Mängel die Freunde der Emanzipation gar nicht sehen zu wollen scheinen, findet nur in der jüdischen Isolirung seine Nahrung. Gebt den Juden jedes Gewerb frei, zittert nicht, wenn es heißt, studierte Leute unter ihnen könnten Apotheker werden, als wenn sie daran dächten, euch zu vergiften; zittert nicht, wenn sie Brod backen, Bier zapfen, wenn sie Weinhandel treiben, nehmt sie in eure Gesellschaften auf, schließt sie nicht aus von Vereinen, die der Geselligkeit gewidmet sind; laßt sie eure schlechten 228 Journale in demselben Casino lesen, wo ihr euch über ihnen langweilt, laßt sie nicht blos Aerzte und Advokaten, sondern auch Beamte der Polizei, Richter, laßt sie Minister werden, wenn sie das Adelspatent des Genies dazu haben; macht sie zu Offizieren, wenn sie sich ihren lendenlahmen Gang abgewöhnt haben und den Kopf ohne Neigung tragen – ist dies Alles erst frei gegeben, dann werden die Unterschiede sich bald ausgleichen und in ein Nivellement verlieren, wo uns die Verschiedenheit der Religion, das einzige Unterscheidungsmittel, nicht mehr stören wird.

Es ist natürlich nothwendig, daß die Juden ihre Emanzipation von eben diesem Gesichtspunkt aus betrachten. Ihre Anwälde wollen blos das politische Recht, und gestehen uns nicht zu, daß die Frage weit mehr moralischer, als politischer Natur ist. Sie pochen entweder auf die Menschenrechte oder die Paragraphen einer Verfassung, wo den Juden ein geregelter Zustand versprochen wurde, ohne daß die Fürsten daran dachten, sie nun auch gänzlich zu emanzipiren. Gegen diese Behandlungsweise der Judenemanzipation soll sich der ächte Liberalismus durchaus aufwerfen; er ist der Frage nicht feindselig, er will sie zum Besten, aufs Schnellste gelöst sehen, nur sollen uns die Juden Parlamentäre schicken, die denken und fühlen, keine Rabulisten, sondern Weise. Man soll die Frage verhandeln mit Gesichtspunkten auf die Zeit im Ganzen und Großen, mit Gesichtspunkten der Moral und 229 des höheren Völkerlebens. Daß uns das Judenthum wie ein geschlossener Phalanx mit all seinem barocken Wuste in unsere Reihen hereinbreche, verhüte Gott! Das Thor soll offen stehen, ja nicht einmal sollen die Wächter, welche die Durchgehenden prüfen, Christen seyn, sondern ihr Juden sollt selbst an das Zollhaus eure weisesten und gerechtesten Männer stellen, welche den Ehrgeiz in sich fühlen, die Emanzipation als ein schönes und reines Resultat der Humanität zu er­halten und ihr am allerwenigsten den Stempel eines errungenen Siegs für Crethi und Plethi aufzudrücken.

Wenn die Juden ein geschlossener Phalanx selbst nach der Emanzipation bleiben wollen, dann möchten die Christen vielleicht noch stark genug seyn, ihnen die Früchte der Befreiung ohne Weiteres vorm Munde wegzunehmen. Wenn auch kein Gesetz, so würde doch eine unverabredete Stimmung der Gemüther plötzlich die Juden wieder in jene Nichtigkeit zurückschleudern können, in welcher es sich jezt die Reichen unter ihnen so bequem gemacht haben. So gut, wenn wir die Juden emanzipiren, wir in unserm christlichen Schooße eine Menge Vorurtheile niederzukämpfen haben, so gut wir unseren bedenklichen Abergläubigen predigen müssen, daß weder das Christenthum, noch der Staat, noch das germanische Blut durch die Emanzipation in Gefahr käme; so gut sollt ihr auch gegen die Eurigen Gewalt üben, sie zwingen, von ihren, mit der idealen Vereinigung unverträglichen Sitten zu lassen und 230 jenen Moder zerstören, mit welchem die Sitten des alten und verstockten Judenthums umzogen sind! Die wechselseitigen Heirathen müssen freigegeben seyn, und so gut wir unsere Töchter nicht zurückhalten wollen, wenn sie an einem jüdischen jungen Mann Gefallen finden und er ihre Hand begehrt, so wenig dürft ihr jene alten Gesetzesmenschen in ihrer Weigerung bestärken, wenn ihre Töchter von einem Christen begehrt werden. Das Stre­ben, eine Kaste zu bilden, würde die Emanzipation alsbald aufheben; denn wenn ihr euch darauf beruft, daß ihr mit uns seyd von gleicher Sprache, von gleicher Nation, von gleichem Vaterlande, dann solltet ihr auch in jeder Beziehung den besten Willen zeigen, euch mit den öffentlichen Thatsachen, die einmal mit unsrer Sprache, Nation und unserm Vaterland unzertrennlich sind, innigst zu verschmelzen. Freilich müssen wir immer hören, daß die Juden ihre absonderlichen Sitten mit Essen, Trinken und Feiertagen aus der Religion herleiten, wo wir denn freilich sagen können, daß wir ja nicht gesonnen sind, sie auf irgend eine Weise in ihrem Lehrbegriff und dem Glauben daran zu hindern. Allein sollte denn die reformatorische Richtung, welche die neue jüdische Theologie bekommen hat, so schwach seyn, daß sie nicht ihre Gemeinde über die Disharmonie aufklären könnte, in welcher das Vaterland des Judenthums, der Orient, auf welchen die meisten religiösen Vorschriften berechnet sind, mit dem Occident, 231 den sie als neues Vaterland ansprechen, steht? Ihr verlangt von uns, daß wir euch in unsre Mitte nehmen, als Brüder behandeln und sogar mit Staatsämtern bekleiden, und ihr wollt nicht einmal das Geringe für eure Aufklärung vermögen, daß ihr den Sabbath auf den Sonntag verlegt? Ihr verlangt, daß wir unsre Leidenschaft besiegen, und ihr besiegt nicht einmal euren Aberglauben? Wir sollen euch in unsre Dörfer als Amtleute setzen über Bauern, welche die Juden nicht nur als Wucherer hassen, sondern sogar noch als Nachkommen jener Ver­dammten, die Christus gekreuzigt haben; und ihr wollt nicht einmal eine Anordnung treffen, die jeder Einsichtsvolle für die Emanzipation unerläßlich hält, und wo ihr doch aufgeklärt genug seyd, um zu wissen, daß eure alten Rabbinen abgeschmackte Menschen sind! Darin liegt recht die jüdische Unbilligkeit und eine diesem Volke zur andern Natur gewordene Keckheit, daß sie Beamte werden wollen und sich den Samstag noch neben dem Sonntag, der ihnen ohnehin gehören würde, als Feiertag ausbedingen und ohnedies noch vielem andern jüdischen Krimskrams nicht entsagen wollen.

Die einsichtsvollen Juden gestehen gewiß zu, daß eine Anpassung an die bei der Majorität übliche gesellschaftliche Ordnung für die Emanzipation unerläßlich ist. Auch mögen sie Recht haben, wenn sie nicht diese Akkommodation vermeiden, sondern nur eine gesetzliche Feststellung derselben; das läßt sich hören. 232 Das Vorurtheil will geschont seyn, der Aberglaube weicht selten der Gewalt. Vielleicht ist es nützlicher, über die Reformen im Judenthum Nichts als Gesetz aufzustellen, sondern die Zeit und die Gewohnheit zur Autorität zu machen. Der Sabbath, einmal nicht mehr gefeiert, wird leicht auf den Sonntag übertragen seyn. Man kann gegen diese Gedankenreihe Nichts einwenden, wenn wir auch eingestehen, daß es den aufgeklärten Juden keine Ehre macht, wenn sie nicht selbst kräftig Hand anlegen und den Christen zeigen, wessen sie im Stande sind, wenn einmal erst die Stunde der Freiheit schlägt. Nein, nimmermehr wird die Emanzipation kommen, und wenn sie durch ein mildes Gesetz käme, nimmermehr würde sie in das Blut des Volkes übergehen und dem befreiten Jerusalem Genüge thun, wenn Dies nicht im Innern rüstig sich regt, den Belagerten in den Rücken fällt und die Bresche erweitern hilft, durch welche der Sieg hereinsteigt und Bruderliebe die Hand reicht. Auf dem Lotterbett zu liegen und Nichts als Emanzipation zu rufen, ist freier Geister nicht würdig und verdient die Emanzipation nicht. Sähen wir, daß ihr gegen euren eignen Aberglauben kämpftet, dann würdet ihr bald auch den unsrigen besiegt haben; sonst könntet ihr in die Lage kommen, daß ein weiser und gerechter Fürst sagte: „Ihr seyd mit Vergunst meines Volkes frei, wenn ihr den Sabbath und die anderen Feste auf die unsrigen verleget!“ Was würdet ihr da thun? – 233 Der Fürst würde die Meinung der Christen für sich haben und ihr die eures eignen Volkes gegen euch; ihr würdet fühlen, wie es sich an euch rächt, daß ihr die Muße, wo die Emanzipation sich als Idee Bahn machte, nicht benuztet, in euren eignen Trödelkammern aufzuräumen; eure Reichen würden ohnedies gleichgültig seyn, weil sie ja der Emanzipation nicht bedürfen; eure Armen, denen die Wärme des Koths, in dem sie leben, gefällt, würden nein sagen, und ihr, die ihr gebildet und aufgeklärt seyd, würdet rathlos in der Mitte stehen. Dieser Moment tritt gewiß noch ein; denn die Christen werden keine Thoren seyn, euch ein Opfer zu bringen, wenn ihr ihnen kein anderes dafür einsezt. Hört die Warnung!

Zum Schlusse möge hier noch die Bemerkung stehen, daß mir im Judenthum durchaus nicht das Bestreben zu liegen scheint, an einander zu halten und Chor zu machen. Das gleiche Schicksal bindet jezt die Juden; wandern sie, so finden sie nur Herberge bei den Ihrigen; man betrachtet sie wie einen eigenen Körper, darum bilden sie auch einen. Allein fielen erst die Schranken, und zwar nicht blos politisch, sondern moralisch und gesellschaftlich; dann würde man sehen können, daß gerade die Juden Nichts mehr vermeiden würden, als die Ihrigen. Man lege ihnen Dieses nicht übel aus. Sie kennen die Schwächen der Aeltern gegen die Jüngern; der Gebildete schämt 234 sich der Denk- und Handlungsweise seiner ungebildeten Stammgenossen; Unterricht und Erziehung haben ihn ja längst uns gleichgestellt. Die Juden lesen aus den Zeitungen, der Literatur und Kunst Dasselbe, was wir lesen; ihnen ist Napoleon und OConnel, der Fall des Niagara und eine Eisenbahn Dasselbe, was sie den Christen ist; sie sprechen unsre Sprache und halten meist nur äußerlich an die Ceremonien eines Glaubens, dessen Reforma­tion ja fast dem deistischen Inhalt gleichkommt, der dem religiösen Bewußtseyn der Unsrigen entspricht. So sind sie längst die Unsern und streben darnach, mit uns sich zu vermischen. Und so muß hier gerade das Wort Christi, daß die Juden bis in alle Ewigkeit in der Irre gehen würden und sie auf dem ganzen Erdboden zerstreut bleiben sollten, erst recht in Erfüllung gehen. Fromme, christliche Seelen fürchten nämlich, durch die Emanzipation möchte diese Prophezeiung Christi auf freventliche Weise widerlegt werden; aber gerade die Emanzipation würde die Juden erst recht aus einander treiben, nach allen Weltgegenden hin zerstreuen und den Fluch erfüllen, den Christus darin sah, daß sie in Ewigkeit aufhören sollten, ein Volk zu seyn. Christus gab die Prophezeiung von dem jüdischen Gesichtspunkte, nach welchem den Juden gerade nichts Schrecklicheres widerfahren konnte, als kein eigenes Volk mehr zu seyn. Freilich haben die 235 Nachkommen diesen Stolz verloren; die Geschichte ist eine milde Trösterin. Ob die Juden vor ihrem Gott aufhören dürfen, noch auf ihren jetzigen Trüm­mern einen eigenen Stamm zu bilden; diesen Kummer wollen wir ihrem eigenen Gewissen überlassen, und sie getrost – emanzipiren.

136 Kunst und Literatur.#

Die Sphäre der gemüthlichen Beziehungen, die Sphäre der See­lenstimmungen liegt nun hinter uns. Wir steigen jezt in die des Geistes, der Reflexion und des abstrakten Gedankens. Von der Materie gingen wir aus, bahnten uns durch gute und böse Leidenschaften den Weg und gelangen jezt zu den Regionen der Kunst, Wissenschaft und Philosophie, welche in formeller Hinsicht das gemeinschaftliche Band der Literatur umschließt. Aussichten in die Zukunft werden die Grundanlage des Werkes schließen, wie wir wohl durch dunkle und verworrene Gemächer oft geführt werden, selten aber einen alten Bau antreffen, wo der Kastellan nicht am Schluß die Fensterläden irgend eines Zimmers öffnet und uns einen malerischen Blick in die Ferne gibt.

Der Uebergang aus der Religion in die Kunst ist sanft und organisch. Der Glaube an die Götter 237 ging zu allen Zeiten mit den verschiedenen Kunstepochen Hand in Hand; erst in unsrer Zeit ist die Kunst frivol genug geworden, dem ursprünglichen Zusammenhange zu entsagen. Jezt schließt sie sich eher dem Luxus, als dem Cultus, eher unserm Bedürfniß des Essens und Trinkens, als der heiligen Spende und Opferung an. Wir bewundern die Kunst in unsern Kaffeetassen, unsern Theebrettern und Pfeifenköpfen. Auch haben die Dichter sogar größern Erfolg zu erwarten, wenn sie sich gegen den Himmel auflehnen, als wenn sie ihn auf die Erde hinabziehen wollen. Höchstens, daß die Parallele der jetzigen Kunst mit der Religion darin besteht, daß jene eine eigene neben dieser zu stiften suchte, und daß es Menschen genug gibt, welche, indem sie den Geist des Schönen anbeten, auch den Geist des Guten damit zu erfassen glauben. Man kann nichts dagegen einwenden; denn es ist noch immer etwas, wenn man nur wenigstens das Unsichtbare anbetet, mag es nun die Schönheit einer natürlichen oder einer gemalten Landschaft, die Schönheit der untergehenden Sonne oder die eines dichterischen Schwanengesanges seyn.

Kunst und Religion – es ist dieselbe Bestrebung, nur in verschiedener Aeußerung. Diese betet die Schöpfung an, jene sucht sie zu ergänzen und nachzubilden. In der Kunst verschmelzen die Gefühle der Andacht mit ihrem Gegenstande. Der Kultus nähert sich nicht mehr in bescheidner Entfernung dem 238 Allerheiligsten, er hat sich mitten in das Allerheiligste hinein versezt und bildet sich aus ihm wieder heraus zu schöpferischen Gestaltungen. So versenkte sich die Antike mit ihrer großen Virtuosität in die Vorstellung des göttlichen Lebens selbst, und schuf jene Götterstatuen, über welche hinaus den Gläubigen keine Religion mehr lag. Ist die Religion selbst erst bis zu dieser Virtuosität gediehen, daß sie sich im Kultus schon der unmittelbarsten Nähe des göttlichen Gegenstandes bewußt ist, so tritt allerdings die größte Gefahr für die Religion ein, in der sie leicht ihren geistigen Gehalt verlieren kann; allein die Kunst wird dann immer zu einer Höhe gelangt seyn, welche man klassisch nennt, wie sie es als Bildnerei in der Culmination des Griechenthums, als Malerei in der Culmination des Katholizismus war. Für unsere moderne Zeit liegt die Weihe der Kunst und Religion im Worte. Die modernen Dichter sind größer als alle vorangegangenen. (Nur Pedanten werden dies eine Paradoxie nennen). Wir können die Religion nur im Jenseitigen, im Gedanken erblicken; darum ist die Dichtkunst in unsern Zeiten die allein klassische; denn sie kann nur einzig dessen gewiß seyn, für das Uebersinnliche und den Gedanken, der es umzirkelt, die angemessensten Ausdrucksformen zu finden. Die Musik ist zu unbestimmt. Wollte man, wie die alten Griechen die Religion nur noch in ihren Statuen sahen, die Italiäner nur noch in ihren Gemälden; so auch bei 239 uns die Religion in etwas Faßlicheres verwandeln, so würden wir sie nur mit der Poesie vertauschen können.

Von der Philosophie unterscheidet sich die Kunst dadurch, daß in ihr der Gedanke auch sogleich die Form, und die Form der Gedanke seyn muß. In der Kunst ist gerade dies das organische Leben, daß sie nichts denkt, als das Schöne, und so die Wahrheit in ihr immer sogleich auch die Schönheit an sich hat. Wie ein so geheimnißvoller Prozeß möglich ist, darüber können selbst die, welche den Genius dafür haben, schwerlich Aus­kunft geben. Auch erreicht hierin kein Künstler den Dichter. Denn dieser allein hat den leichtesten Apparat für seine Thätigkeit. Jeder Moment der Begeisterung ist sogleich gestaltet. Noch glühend kann man den Gedanken zur Schau stellen. Der Dichter beweist uns vollkommen, worin der Selbst­zweck der Kunst liegt. Er liegt darin, daß bei der Kunst der Begriff der Schönheit auch sogleich die Form der Schönheit seyn muß. In der tiefsten künstlerischen Durchdringung beider Momente halten sich Form und Begriff das Gleichgewicht und neigen weder in allzugroße Förmlichkeit und Kunsteinseitigkeit, wie bei Göthe, noch in zu tiefe und bodenlose Spekula­tion, wie bei Shelley, hinüber. Der ächte Künstler weiß das Ebenmaß von Form und Begriff mit feinem Taktgefühle abzumessen. Er findet für jeden Gedanken die Form, die seinem Wesen 240 entspringt; jeder Gedanke bringt im künstlerischen Genius sogleich die Form, welche für ihn paßt, mit zur Welt. Begeht ein Künstler Irrthümer vor dem spekulativen Fo­rum, so werden es doch ebensoviel poetische Wahrheiten seyn, wenn ihnen nur die subjektive Rechtfertigung, das Gemüth, nicht fehlt. Die objektive Rechtfertigung wäre die Schönheit; aber die Schönheit allein kann den irrthümlichen Inhalt nicht entschuldigen, wenn gleich mildern. Wie viel muß also nicht zusammenkommen, um jene Harmonien zu schaffen, welche in den Werken eines Phidias, eines Sophokles, eines Dante und Göthe walten!

Doch verlassen wir das Gebiet der Theorie und treten in jene Kunstverhältnisse ein, wie sie uns die Wirklichkeit darbietet. Wie entwickelt sich bei uns der künstlerische Genius, was bieten ihm die Umstände dar; wo fördern, wo verhindern sie ihn?

Der Künstler wird jezt unter den ungünstigsten Verhältnissen geboren. Sein Talent muß sich erst durch seine Erziehung hin­durch Bahn brechen, denn diese kömmt den Gelehrten wohl, aber Künstlern nicht entgegen. In alten Zeiten war, wenn nicht die Kunst, doch Manches, was mit ihr eng verschwistert ist, der erste Eindruck, den der sich Bildende mit größerer Lebhaftigkeit empfing. Die Religion war die Pforte, durch welche im Alter­thum der Bildner und Dichter, im Mittelalter der Maler und Architekt in die Hallen der Kunst eintreten konnten. Jezt aber läuft die 241 Vorbereitung zur Kunst höchstens der übrigen Bildung, welche man genießt, parallel, so daß vielleicht schon im achten Jahre kleine Kinder ihre Finger auf dem Klavier ausspannen müssen, daß sie die Akademie besuchen, um zeich­nen zu lernen, oder zuweilen in das Theater, als eine Schule der Phantasie, mitgenommen werden. Allein dieser Unterricht ist eben nur Ausnahme und meistentheils auf Neben- und Frei­stunden beschränkt.

Und da weder in der Erziehung, noch in den Sitten bei uns eine unmittelbare Aufforderung zur Uebung und Ausbildung der künst­lerischen Talente liegt, so wär es wünschenswerth, daß we­nig­stens die Offenbarung der Natur zum erwachenden Künst­ler­sinn anregend und erweckend spräche. Allein dasjenige, was uns gerade am entferntesten gerückt wurde, ist die Natur. Sie kann in ihrer grünen Frische, in ihrer, vom Gesang der Vögel belebten Herrlichkeit, in ihrer Sprache von Alpen und Thälern zu einem Tyroler sprechen, der so hübsch aus Holz schnitzelt, daß man ihn von seiner Heerde weg in die Akademie rufen sollte, sie kann Dichter entzünden, Maler wecken, allein ist es hier nicht immer der Zufall, der ihr die Gewalt leiht, ist sie sich wohl überall gleich und wirkt überall die gleichen Wunder? Wo findet man auch Natur in einer Zeit, wo sie unter der Herrschaft der Maschine seufzt, eingegangen ist, um Hebel der Industrie zu werden, wo ist Natur in eurer Umgebung, 242 in euren Sitten, ja in euren Gärten und Promenaden? Wenn sich irgend eine Fähigkeit findet, die die künstlerische Bestimmung an sich zu tragen scheint, so wird sie überall Natur antreffen, aber lau­nen­haft zugestuzt, heckenartig beschnitten, durch die Ge­schmack­losigkeit unschön geformt. Die Natur, welche uns um­gibt, we­nigstens die, welche wir se­hen, ohne Reisen zu machen, spricht nur matt und verwelkt uns an; ihre Frische ist unter dem warmen Wasser, welches aus den Fabriken fließt, verblüht, der Bach muß seine Taglöhnerdienste thun, der Berg trägt ungeheure Wunden von Sprengungen, und wo die Kunst gerufen wurde, um dem Reichthum eine Erholung zu schaffen, da hinterläßt sie noch überall die Spuren früherer Geschmack­losigkeit; es ist nicht die reine göttliche Kunst, die zu uns spricht, sondern die Kunst des Luxus. Wie können diese Gemälde bezaubern, da sie nicht vor allem Volk in einer Kirche hängen, sondern über dem Ruhe­sopha im Kabinet eines Millionärs! Da ist ein Meisterstück von Canova! Es steht in keinem Tempel, keiner Gallerie, son­dern in einer Nische beim Privatmann auf dem Ofen, auf dem Kamin. Da wird eine Fülle künstlerischer Sinnigkeit ver­schwen­det an Gegenstände, die eine unschöne Bestimmung haben; wie zart und schön sind diese Kaffeebehälter geformt, wie künstlich der Ofen! Wie herrlich sind hier am Kamin Arabesken aus Metall gegossen, wie schön jene Vase aus Porzellan, in welcher ge­mach­te 243 Blumen stecken, die Sommer und Winter blühen! Wie herrlich die Fußdecken, die Tapeten, die Kronenleuchter, wie zart die Malerei auf dieser Schnupftabaksdose! Wahrlich, Kunst ist genug zerstreut um uns her; wir gleichen umgekehrt jenem Egyptier, welcher aus goldnen Nachttöpfen sich Götterstatuen bilden ließ; wir schmelzen die Götterstatuen in ästhetisch geformte Nachttöpfe um. Kann nun dieser Eklektizismus, diese frivole Vergeudung der schönen Kunstform irgend für den künstlerischen Genius, der nach der reinen Schöne trachtet und sie wie Phidias, Dante, Ra­phael und Erwin von Steinbach verkörpern möchte, eine Befruchtung seyn? Können ihn eure schönen Lampen und Kry­stallgläser zu einem Gemälde begeistern, welches die Trans­figuration darstellen soll? In dieser Ueberfüllung unsres Lebens mit Kunst liegt eben so viel Hinderniß für die künstlerische Er­ziehung, wie in der zurückgesezten, weit von unsern Thoren verbannten wahren und ächten Natur.

Zu diesen Hindernissen in den Sachen kommen die Hin­dernisse der Personen. Die Gemüther der Masse sind dem Schö­nen nicht zugewandt. Die Verbindungsfäden, welche die Kunst mit den Ideen, die auf die Masse wirken, zusammen­halten, sind zerschnitten oder gar nicht anwendbar. Die Religion hat sich von sinnlichen Einflüssen zu befreien gesucht, die Ge­mälde wurden vom theologischen Purismus aus den Kirchen verbannt, die Kunst wurde als eine Feindin 244 der Wahrheit dargestellt; der Sinn für Poesie erstreckt sich bei der großen Masse nicht weiter, als auf das Gesangbuch und einige Gassen­hauer: der Dichter kann nur auf die Theilnahme der Gebildeten rechnen, so wie nur auf die Ueberbildeten, welche für alles Kün­st­lerische schon die Illusion verloren haben, und mit Bil­dung weit weniger deßhalb ausgestattet zu seyn scheinen, um loben, als um tadeln zu können. Die Begeisterung für die Kunst will jezt motivirt seyn; sie ist Begleiterin des Studiums und die, welche sie nicht studirt haben, scheuen sich, ein natürliches Urtheil über sie zu fällen. Wo aber kein Muth zum Urtheil ist, da wird das Schönste nicht verstanden und nicht selten jenen arroganten Advokaten der Kunstkritik überlassen, die in ihrem Geschmack so viel Nüanzen haben, daß sie das Häßliche für pikanter als das Schöne halten. Und in der That, haben wir nicht gerade die Karrikatur mit in die Kunst eingeführt, die Satyre und den Witz in die Dichtkunst, die Malerei und die Frivolität in die Musik, den Kupferstich und die Lithographie mit ihren leicht­sinningen Produktionen in die zeichnenden Künste? Ist nicht das kritische Urtheil unsrer Zeitgenossen in sich gebrochen und oft geneigt, die Wirkungen zum Lachen, denen zu Thränen bei Wei­tem vorzuziehen? Dieser Mangel an Geschmack bestimmt jene Rei­chen, in deren Hände das Gedeihen der Kunst zu allen Zeiten gelegt war, die künstlerische Verschönerung ihres Daseyns weit mehr 245 in den goldnen Rahmen der Gemälde zu sehen, als in diesen selbst. Wenn ein Rothschild sich eine Villa anlegt, so wird er auf die Vergoldung der Thüren und Wandleisten so viel verwenden, als er brauchte, um einige Säle der Villa mit Fres­kobildern zu schmücken. Und nun vollends die Dichtkunst! Sie fiel so sehr im Preise, daß alle Welt sich mit ihr versucht. Die Dichtkunst, gerade die schwerste von Allen, wurde als die leichteste verstanden; die ganze Technik bestünde ja in nichts, als im Führen des Federkiels und im Sylbenabzählen an den Fingern! Die Dichtkunst, statt gesucht zu seyn, wird gefürchtet. Wenn irgend eine menschliche hö­here Thätigkeit aus ihren Fugen gedrängt ist, so ist sie es, seit­dem die politischen Fragen alle übrigen überragten und die Gemüther nur von Haß und Parteiwesen beherrscht wurden. Endlich die Industrie, die Run­kelrübe, der Dampf, das Er­staunen über die Konstruktion der Maschinen – sind das für die Kunst willkommne Geschwister? Zahllose läugnen es durch die That; sie fallen eher vor einem Dampfkessel nieder mit Stempeln und Sicherheitsventilen, als vor einem Gemälde von Raphael. Der Zeitgeist läßt sich nicht wie eine Uhr rück- oder vorwärts stellen. Der herrschende Materialismus, wird er nicht aus dem Sinne für das Nütz­lichste, sondern leider schon für das Nothwendige herzuleiten seyn? Wir haben die Schwie­rigkeiten der Existenz schon geschildert und wollen nicht ungerecht 246 seyn gegen die, welche mit ihnen kämpfen müssen. Wenn unsere politisch-socialen Verhältnisse Schuld an jenen Schwierigkeiten sind, wenn die Fürsten der Gesammt­ausdruck jenes lastenden Status quo sind, welcher die Mensch­heit zwingt, sich mit Gewalt an die Materie zu klam­mern, dann sollten diese auch bedenken, daß sie zuerst berufen sind, gegen die Kunst eine Schuld gut zu machen. Doch gibt es nur ihrer wenige, welche vom Gewissen gedrängt werden und thun, was ihre Pflicht ist.

Hieraus ergibt sich, daß die Kunst in unsrer Zeit nichts Un­mit­telbares, sondern nur noch ein Vermitteltes ist. Nichts kommt ihr entgegen; was sie braucht, muß sie suchen; Luft und Leben, so wie es der Tag ihr bietet, muß sie erst von der Ansteckung des Momentes reinigen und so raffinirt an sich heranbringen, wie das Oel geläutert ist, welches der Maler zu seinen Farben braucht. Wer ein ächter Kunstjünger in unsrer Zeit seyn will, muß aus dem Geräusch der Welt entfliehen, die Einsamkeit suchen und sich lieber mit den Thieren des Waldes befreunden, als mit den Menschen. So wie der Tag uns die Situationen der Menschen bietet, können wir sie als Künstler nicht brauchen, sondern da sind Prosa und Langeweile in ganzen Massen aus­zuscheiden, bis wir das Wenige finden, was uns die Zeit als Stoff darbietet; oder das exzentrische Verfahren, welches aller modernen Kunst schon eigenthümlich geworden 247 ist, nimmt so sehr über­hand, daß wir wohl gar die ganze Prosa des gegenwärtigen Da­seyns ergreifen und sie mit jenen grellen Schlaglichtern wieder­geben, welche der Charakter der neuern französischen Romantik wurden. Ja, man kann als Künstler zu den Zeitgenossen wieder zurückkehren, man kann selbst in den gedrückten und be­äng­steten Zuständen, von welchen sie gefoltert werden, hier und da ein wenig Erde abschaufeln, um Poesie zu entdecken, aber aus­gehen kann man von dieser Zeit nicht. Man muß in der Einsam­keit gelebt haben, man mußte seine Umgebung einmal wenig­stens geflohen seyn. Wer den Wald, die Nacht nicht kennt, wird nie ein Dichter werden; wer sich in den Geist des me­dizeischen Zeitalters nicht vertiefte und sich mit den Blüthen der ehemali­gen Malerklassizität einschloß, wer nicht einen alten, aus der Erde gegrabenen Rumpf studirte und sich einen Unter­offizier kommen läßt, um nicht seine Uniform, seine Exerzitien, sondern seinen kräftigen Muskelbau zu studiren, der wird kein Maler und Bildner werden. Und selbst jene ganz mittelpunktlos gewordne Kunst, die Architektur, längst bestimmt, nur noch Schornsteine und möglichst rauchlose Kamine zu bauen, wir werden hören, daß sie seufzt und grie­chische und gothische Tempel nur in Rissen auf dem Papiere zaubert.

Daß die Kunst etwas Vermitteltes ist, ergibt sich na­mentlich aus ihrem Verhältniß zu Irrthum und Wahrheit; man kann wohl sagen, daß in unsrer Zeit 248 die besten Künstler durch Irrthümer erzogen sind. Das Genie, will es sich bewähren, muß es sich von der Welt lossagen; es steht im Widerspruch mit der herrschenden Ordnung. Es verweigert den herrschenden Thatsachen, den allgemein gültigen Ueberzeugungen den Gehor­sam und stellt allem, was da ist, aus eigner Schöpferkraft ein Gegenbild gegenüber.

So verloren sich die Künstler in entfernte Zeiten, in entfernte Gedankenreihen. Das Wunderbare und das Wunderliche reizen sie mehr als das Natürliche und das Naturgemäße. Wir haben, da ohne Zweifel seit fünfzig Jahren die bildende und die Rede­kunst einen großartigen Aufschwung erfuhren, die sonder­barsten Theorien den herrlichsten Bestrebungen beigemischt gefunden. Damit der Zuckerstoff der Phantasie sich läuterte, mußte Och­senblut und Potasche von hie und da aufgerafften Irr­thümern hinzugethan werden. Die schönsten religiösen Gemälde ließen eine vertrocknete Blüthenkapsel von Pietismus zurück. Die Dich­tungen eines Byron waren der bunte Schaum über Gäh­rungen, auf deren Boden wilde und rohe Leidenschaften lagen. Seitdem man an das Ideal nicht mehr unmittelbar sich hingeben kann, wie es alte Zeiten konnten, wurde das Schöne durch das Häß­liche, die Wahrheit durch die Lüge vermittelt. Daher kömmt es, daß all unsre moderne Kunst einen speziellen Accent hat und daß Bildung dazu gehört, um in ihrer Isolirung ihre Tiefe und ihr Wesen zu erkennen.

249 Es ist zunächst das Studium, welches durch die Schöp­fungen der neuen Kunst lebhafter hindurchblickt, als bei den Alten. Der Geist der Verneinung begleitet die phan­tasti­schen Ein­gebungen der Künstler, der kritische Verstand steht hinter der Leinwand und horcht oder drückt sich bei einem Ge­dichte wenigstens in der Titelüberschrift schon aus. Die lange Ge­schichte der Kunst mit ihren außerordentlichen Denkmälern tritt der Bescheidenheit des modernen Künstlers mit majestä­tischem Uebergewicht gegenüber. Man kennt die Tempel Grie­chen­lands und ihre Götterbilder, die Gemälde Raphaels und jene lange Reihe von dichterischen Erzeugnissen, die im Ruf der Klassizität stehen. Hier nun etwas Neues zu schaffen, das Alte zu über­treffen oder wenigstens zu erreichen, dem Marmor ein neues Lächeln, dem Tone Thränen und dem Worte die Mischung beider abzugewinnen, das ist ein hochgespanntes Seil, welches die in der Rennbahn Kämpfenden gleich beim ersten Anlauf über­springen müssen. Sie müssen, um Vertrauen zu sich selbst zu fassen, sich klar werden, zunächst über die Erleichterungen, wel­che den alten Künstlern von der Sitte der Zeit geboten wurden, über die Rückwände von Ideen und Anschauungen, an welche sie sich lehnen durften, über den Geist der Zeiten, der in ihnen oft überwiegend der geheimnißvolle Werkmeister war. Ja, um die Größe der Alten zu fassen, müssen die Neuern noch weiter gehen. Sie müssen 250 die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen mes­sen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegen­stand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersicht­liches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe aus­messen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittel­baren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müs­sen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung er­greift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Im vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sol­len. Dann verloren sich die bildenden 251 Künste in die Unnatur der Reifrocksperiode und scheiterten an der sprich­wörtlich gewordenen Geschmacklosigkeit des damaligen gesell­schaftlichen Lebens, an dem Pedantismus formeller Theorien. Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts feierten die schönen Kün­ste eine Auferstehung. Es war das Studium der Antike, wel­ches zunächst wieder den Sinn für die Natur weckte. Von den wenigen Mustern wurden die ewigen Regeln abgezogen, alle überlieferten Handgriffe der zunächst entschlafnen Periode wurden als unbrauchbar verworfen. Eine neue Welt ging den Malern, Bildhauern und Architekten auf. Seither haben sich nun in diesem Gebiete die Manieren überjagt, je nachdem verschie­dene Stufen der alten Kunstgeschichte wieder erklommen wur­den. Jezt scheint sich der Geschmack wohl wieder nach bestimm­ten Regeln festgesezt zu haben, aber ohne Studium, ohne kri­tische Prüfung werden wir eben so wenig heute noch etwas Tüchtiges entstehen sehen, als es gewissen neuen heiligen Ma­lern nicht gelingen wollte, durch Gebet jene Madonnen zu zaubern, welche Raphael mit dem Pinsel malte. Die Dicht­kunst endlich, so eng verschwistert mit dem uns wohlbe­kannten zerrissnen Charakter des Zeitgeistes, mußte alle Lei­den und Verbrechen desselben theilen, mußte so mittelpunktlos seyn, wie dieser, mußte so träumen, so irren, sich so ver­flachen, wie er. Von fast allen neuern Literaturen müssen wir eingestehen, daß sie aus der Verneinung entsprangen und ihre 252 Befriedigung gerade in der unbefriedigten Sehnsucht suchten.

Von der abgesonderten Stellung der Kunst sprachen wir schon. Wir verstanden darunter zwar zunächst nur ihre bürger­liche Stellung. Allein ihr Inhalt selbst hat etwas Fremdartiges und sticht mit Lebhaftigkeit gegen die Tagesordnung ab. Die Baukunst schafft uns Tempel und Paläste, die wir so wenig ver­stehen, daß wir Thoren uns sogar beklagen, wie die Archi­tektur nicht im Stande wäre, aus unserm bürgerlichen Charakter einen neuen großartigen Baugeschmack zu erfinden! Die Dichter und Maler entzünden sich an Ideen, welche den Begriffen der Masse nicht gegenwärtig sind, und die deßhalb, weil sie schon von der Voraussetzung ausgehen, daß sie ja isolirt seyn müßten, oft auf die wunderlichsten und entlegensten Gedankenverbin­dun­gen ver­fallen. Der Zeitgeist hat sich namentlich dieser Be­son­­derheit des Kunsttreibens widersezt und an Dichter, Maler, ja sogar Musiker die Anforderung gemacht, daß sie sich mit den Bestre­bungen der Zeit verbinden möchten und ihren Schöpfun­gen Ten­denzen unterlegten. Gerade diese, von einer leiden­schaft­lichen Kritik gestellte, von der Masse bereitwillig zugegebene und von einigen Künstlern hie und da erfüllte Bedingung gibt der heu­tigen Kunst gegen frühere Epochen ein ganz verändertes An­sehn. Dasjenige, was wir andern mit dem Schwerte oder der geschwätzigen Zunge ausfechten, 253 sollen die Musiker mit dem Tone, die Dichter mit dem Worte, die Maler mit der Farbe mit ausfechten. Die Kunst soll Partei nehmen, wie die Ueber­zeugung. Sie soll keinen beliebigen Charakter haben, sondern einen, den ihr die Zeitumstände aufdrängen. Wenn wir in der That einen eigenthümlichen Charakter an unserer neuern Kunst unterscheiden wollen, so wird er auch zum großen Theile in die­ser leidenschaftlichen Antheilnahme an den Debatten des Tages bestehen. Glücklich der entschlossene Künstler, der in seinem Eifer keinen Fehlgriff thut und in diesem Falle aus der Tags­debatte immer die Jahrhundertsfrage herausfühlt! Es sollen die­jenigen gar nicht getadelt werden, welche vom Künstler ver­lan­gen, daß er aus der Zeit und für die Zeit schaffe. Nur haben wir leider oft genug das Extrem erfahren müssen, daß sich diese Prinzipien verflachten, daß sie sich dem Unvermögen anbe­quem­ten und das Talentlose entschuldigten, wenn es sich nur mit der Verherrlichung irgend eines Schibolets der Parteien beschäftigte. Wie es denn genug schlechte Sänger gibt, die nur deßhalb von den Gallerien beklatscht werden, weil sie sich zuweilen in die Wirthshäuser begeben, dort singen und sich für die gemeinen Leute gemein machen.

Vielleicht ist es nach diesen Vorausbemerkungen möglich, jezt einige Charaktere aus der heutigen Kunstwelt aufzustellen. Da sehe ich einen jungen Mann in einem schwarzen Sammtrock und weißem 254 Kragen darüber mit langen Haaren und altdeutschem Barett. Es ist ein Maler. Du lieber Gott, hör ich rings her­um flüstern, will der junge Mann Hungers sterben? Was kann aus einem so kindischen Kopf geboren werden, das Anspruch auf unsre Theilnahme hätte? Welche Kunstoffenbarungen können in dem Hirn eines jungen Mannes aufgehen, der das Idealische zunächst in einem schwarzen Sammtrock sieht! Allein, was wollen wir thun? Wir werden bei allen Malern, wenigstens in ihrer ersten Jugend, eine solche Mischung von Abschließung und Selbstauszeichnung finden. Sie bilden unter einander ein eigenes Volk, das seinen eignen Jargon hat; sie haben ihre eigenen Zusammenkünfte, sie versammeln sich um Meister, welche eigene Schulen stiften, sie leben mehr in Italien, als in England und Deutschland. Die Maler sind, seitdem auf den Universitäten ein patenter Ton eingeführt ist, die artistischen Studenten geworden. Es gibt deren nicht wenige, welche ihre Kunst weit mehr besingen, als sie üben; sie trinken auf das Wohlergehen derselben, ohne daß es mit ihren Arbeiten besser ginge. Um hievon eine vollständige Idee zu haben, muß man sich die Malerkreise in Rom vergegenwärtigen, in Deutschland die Kunstschulen in München und Düsseldorf, in Paris jene artistischen Häuser, wo im untersten Geschoß ein Kunsthändler wohnt, und der im übrigen Hause seine Maler, Kupferstecher, Lithographen, seine Karrikaturen- und 255 Chargenzeichner vertheilt hat. Das Leben aller dieser Leute hat viel poetischen Reiz. Die der Kunst durchaus nicht entschieden abgewandte Stimmung unsrer Zeit gibt ihnen die Mittel, sich in bester Laune zu erhalten, sie fühlen sich so heiter, frei und einig, daß sie für ihre Zusammenkünfte sogar eigene Liederbücher haben. Diese Maler können von Niemand so sehr beneidet werden, wie von den Dichtern: denn denkt euch nur, ihr jungen Poeten, wenn ihr so glücklich wäret, und könntet in zwanglosen Akademien zusammenleben, könntet zwanzig, dreißig Mann stark in einem Nachen auf dem Rhein fahren oder Arm in Arm durch das bayrische Tyrol wandern, wie glücklich wäret ihr, wenn ihr nicht etwa auf eure eigene Hand (denn da könnt ihr es wohl), sondern als Glied einer großen, zu einem Ziele gefugten Kette über Berge und Thäler streiftet, in jeder schönen Landschaft euer Portefeuille ergriffet und endlich gewiß wäret, in jeder Stadt, die auf eurem Wege liegt, nicht blos ein einzelnes Kämmerchen im schlechtesten Gasthofe der Vorstadt anzutreffen, sondern einen geschlossnen Bund von Freunden, eine Herberge des Handwerks! Den Malern ist es in der That gelungen, sich mitten in unsrer, den Eisenbahnen und dem Dampf gewidmeten Zeit, mitten im Geschacher des Börsenspiels und der Metaphysik der Runkelrübe einen eigenen griechischen Himmel zu erhalten, die bunten Konturen eines medizeischen Zeitalters und eine 256 poetische Anomalie, die ihnen noch dazu als billig und gerecht von der Prosa eingeräumt wird. Die Bildhauer theilen nur zur Hälfte diese glückliche Stellung. Denn wenn die Verdienste der Menschen abnehmen, kann ihr Verdienst nicht zunehmen. Die großen Män­ner unserer Zeit, die großen Banquiers und Fabrikanten, die Louis Philipps und Kasimir Perriers sind für die Plastik nicht geschaffen. Hier und da bettelt man ein Denkmal für einen großen Dichter zusammen, für den Erfinder der Buchdruckerkunst, für Andreas Hofer; sonst sind sie angewiesen, nur Todtenmasken abzudrücken, Genien mit umgestürzter Fackel für Grabmäler zu meißeln, Grabesaufsätze, wo die Parzen spinnen. Das ist ein betrübtes Gewerb. Noch weiter ab vom Glück der Maler stehen die Architekten, denn diese sind weit weniger mit Pantheen und Amphitheatern beschäftigt, als mit Kanal- und Chausseebauten. Unsere Architekten sind glücklich, irgendwo als Landbauwegemeister angestellt zu werden.

Musiker werden geboren und erzogen. Jene begleiten ihren Vater, der ein guter Dorffiedler ist, in die Schenke und machen so große Fortschritte, daß man ihnen den Weg zur höchsten Aus­bildung frei geben muß; diese zeigten früh ein hübsches Talent zum Fingersetzen beim Klaviere und steigen von den Instrumenten allmälig zum Contrapunkt. Musik ist vielleicht diejenige Kunst, welche der wenigsten 257 Vorarbeiten bedarf. Trifft man hier nicht die höchste Fertigkeit bei Ungebildeten an? Selbst Komponisten gibt es, die die schönsten Notensätze, aber keinen richtigen Satz in einem Briefe schreiben. Keine Kunst iso­lirt sich so sehr, als die Musik. Die Musiker haben die Wirkung ihres Talentes immer gleich in der Nähe und sind an unbedingten Tadel nicht gewöhnt, da ein Theil von Beifall doch immer gespendet wird, wenn auch nur dem Instrument, das so schön klingt, und den Noten, die doch immer einen harmonischen Zusammenhang haben. Unter den Weibern sind vielleicht die Sängerinnen theilweise die ungeschlachtesten. Sie reiten und fahren, sie trinken Bier und reißen Zoten. Ihre Stimme ist himm­lisch, ihre Bildung höllisch. Jedenfalls liegt diese Rohheit der Musiker in der außerordentlichen Anstrengung, welche zu tüchtigen musikalischen Leistungen heute erfordert wird. Keine Kunst nimmt die unermüdliche Hingebung ihres Schülers so sehr in Anspruch. Man muß von Kindheit auf für sein Instrument ausschließlich erzogen seyn; da bleibt keine andere Erholung übrig, als die einer allgemeinen Abspannung der geistigen Kräfte. Wer an der einseitigen Ausbildung für ein Instrument verzweifelt, flüchtet sich zulezt zur Komposition. Die Komponisten bewegen sich entweder im reinen Gebiete des Tons, indem sie Quartette oder Concerte schreiben, aber sie müssen sich an die Dichtung anlehnen, wo ihre Sorge nur darin besteht, gute Texte zu 258 haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Ich würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt’ ich nur einen guten Operntext! Wollte Shakespeare oder Göthe ihm einen schrei­ben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Ein­heit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern Othello des Shakespeare ist ein zärtlich-milder Tenorist bei Rossini geworden. Wilhelm Tell, von Schiller, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschich­te werden in der Oper abgesungen. Julius Cäsar, Catilina, Masaniello, Kosciusco wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte.

Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist 259 nicht nöthig, daß man zuerst Naturdichter sey, um später so zerrissen zu dichten, wie Byron; nur möcht ich, um in fünf verschiedenen Akten fünf verschiedene Stufen der neuern Poesie zu bezeichnen, mir allerdings den Widerspruch erlauben, als wenn ein Mann, der wie Byron endete, wie Hans Sachs hätte anfangen können. Genug, suchen wir den Helden dieses didaktischen Stücks zuerst auf dem Dreibein einer Schusterwerkstatt. Die großen, mit Wasser gefüllten Glaskugeln müssen von einem einzigen Lichte für den Meister, drei Gesellen und den Lehrburschen, den Schimmer auffangen; Martin, der Lehrbursche, sey unser junger grübelnder Held, dessen Verherrlichung ich im Kopf schon manchen Vers gewidmet. Der Mei­ster aber, ein roher Gesell, beginnt das Stück mit folgender Strophe:

„Ein frommer Schuster nie begehrt,

Daß in der Welt sich was verkehrt;

Denn geht die Menschheit auf der Kapp,

So reißt sie keine Stiefeln ab.“

Martin jedoch muß theils ohne, theils mit Grund mißhandelt werden; denn wie sollt ich den Gegensatz seines poetischen Gemüths gegen die Prosa, die ihn noch umgibt, zu Worte kommen lassen? Mit dem Knieriem oder was sonst dem Meister nah liegt, und von den Gesellen mißhandelt, läuft er in seine Dachkammer hinauf und schüttet seinen Schmerz in 260 Thränen aus. Er öffnet das Fenster. Es ist heller Mondschein. Er sieht nichts als Häuser, Dächer, Kirchthürme, Katzen und Marder, die auf ihnen spazieren gehen. Um es recht natürlich zu machen, muß auch ein großer Topf Hauslauf dicht an seinem Fenster wachsen. Jezt entdecken wir, daß Martin in einem Winkel eine Guitarre versteckt hat. Er muß uns einige seiner Lieder vortragen, in welchen Gottvertrauen, Hingebung und die großen Tugenden der Freundschaft und Liebe ganz mit jenen erhabenen Worten gefeiert werden, wie wir vom vorigen Jahrhundert die Dichtkunst überkommen haben. Der Schwung muß odenartig, die Begeisterung dithyrambisch seyn. Sanfter Friede liegt auf diesen Eingebungen, Gott und die Sterne bilden den Vor- und Hintergrund derselben. Da klopft es an seine Thür und Gret­chen tritt herein, die Meisterstochter, Drohungen zwar vom Vater noch bringend, sie aber durch Trost und liebevollen Zuspruch mildernd. Martin, von Scham über seine Lage ergriffen, den Unterschied zwischen der Guitarre und ein Paar zu­geschnittnen Stiefeln bedenkend, hingerissen von dem Gott, der in ihm wohnt, ruft aus: „Auch ich bin ein Maler,“ und rüstet sich zur heimlichen Flucht. Gretchen widerspricht ihm nicht, nimmt aber das Gelübde ewiger Liebe von ihm, hilft ihm weinend und verzweifelnd seine sieben Sachen packen, und zur Stunde, wo alles schläft, schleicht er mit einem 261 Bündel, seiner Guitarre und einigen Büchern aus dem Haus und der Stadt davon.

Im zweiten Gemälde erblicken wir den jungen Flüchtling auf freiem Felde. Lerchen durchwirbeln den schönsten Sonntagsmorgen. Alles eilt aus benachbarten Dörfern und Höfen in die kleine Kirche dort im Thale, nur der Jäger geht seinen eigenen Weg zum Walde hinüber. Martin muß uns das Alles in abgerundeten Naturbildern wiedersagen. Seine Dichtkunst hat das all­ge­meine Gebiet frommer und dämmernder Träume verlassen. Am unmittelbaren Leben der Natur singt er sich in einen neuen Ton hinein. Doch fehlt ihm Geld, wie soll er’s verdienen? Er entschließt sich, als Deklamator aufzutreten, wo es nur sey, im nächsten Wirthshaus, wo er nur ein paar müßige Spieler oder Trinker antreffen wird. Es wird ihm schwer, mit seiner Poesie zu betteln. Es dauert noch bis zum Schluß der Kirche, bis er ins Wirthshaus tritt. Da begegnet ihm rund um einen Tisch herum die leibhafte Prosa; Verwalter und Oekonomen spielen Schafskopf. Martin wäre schon froh, dürfte er nur einmal aus ihren gefüllten Gläsern mittrinken. Zitternd legt er sein Bündel in einen Winkel, nimmt die Guitarre und schleicht sich leise näher zum Tisch der Gäste. Er schlägt sich einige Akkorde an und trägt dann in singender Monotonie das Beste vor, was er kann: „Freude war in Troja’s Hallen,“ oder etwas Aehnliches. Aber man läßt ihn 262 nicht zu Ende; eine solche Störung bringt die Spieler aus dem Zusammenhang, man weist ihn zur Ruh. Thränen im Aug muß er in irgend einen Winkel sein sorgenschweres Haupt auf die Hand stützen. Seine Meisterschaft auf der Guitarre war noch nicht weit her. Er wußte nicht, woher er Nahrung nehmen sollte. Dies ist der Punkt, bis zu welchem man gekommen seyn muß, wenn man eine neue Lebensrichtung erhalten will. Für einen Zwiespalt mit sich und der Welt sind alle Voraussetzungen gegeben, und deßhalb sehen wir denn auch, daß jener grüne Jägersmann, der lieber in den Wald als in die Kirche ging, zu unserm Dichter herantritt und den Höllenbrand der Zwietracht in ihn hineinwirft. Doch legt er nur ruhig das Pulver auf die Pfanne. Das Losdrücken überläßt er späterer Zeit. Wer Martin war und was ihm fehlte, hatte der wilde Jäger, der zu ihm herantrat, bald erkundschaftet; er gab ihm einen guten Rath, nämlich den, sich an einen reichen Kaufmann anzuschließen, dessen Familie so eben im Wirthshause abgestiegen wäre und von der Stadt in eine Sommerwohnung auf dem Lande zöge. Martin mußte mehr vorstellen, als er war, er mußte ein Kandidat seyn, der eine Pfarre sucht und einstweilen auch mit einer Haus­lehrerstelle vorlieb nehme. Die erste Lüge war da, ein Riß von oben bis unten; Martin stieg in die Bresche seines Gewissens ein, gefiel der Dame, die ihn sogleich engagirte, und schauderte, wie sich der 263 Jäger im Davonfahren eines satani­schen Blickes nicht enthalten konnte, ja sich fast in ein Dunstgebild, wo durch den Nebel einige graue, grüne und rothe Farben durchschimmerten, auflöste. Wer weiß, ob er nicht dem Satan selbst seine Beförderung verdankt.

Im dritten Akte zeigt sich uns ein kleines Belriguardo, mit viel Liebesintrigue, junger und alter Buhlerei und einer diesen Motiven entsprechenden dritten Stufe der Poesie. Noch wird die Natur gefeiert, aber weniger ihr Frieden, als ihre gährenden Ele­mente. Von Nelken und Rosen wird mehr gesprochen, wie von Veilchen und Kornblumen. Alles Brennende und Ueppige in der Natur wird dem Einfachen und Bescheidenen vorgezogen. Auch die Empfindungen sind nicht mehr mit dem fächelnden West zu vergleichen, sondern, wenn auch noch nicht der giftige Hauch des Sirokko in ihnen weht, so werden sie doch von einem starken, glühenden Athem geschwellt. Die Langeweile des Sommeraufenthalts schafft eine Menge Intriguen, die nur der Unter­haltung wegen erfunden werden; auch erhalten unseres Martins Gedichte davon wenigstens eine formelle Frivolität, indem sie nicht selten ohne Veranlassung geboren werden, oder wie das Spiel Joujou sich an sich selber aufrollen. Die Dichterkraft geht aus dem Herzen in den Kopf und die Schreibfinger, sie legt sich, wenn nicht mit massiven Midashänden, doch wie Goldschaum an Alles, was sie berührt; jede Situation kann in 264 Verse gebracht, jeder Scherz und Schmerz besungen werden. Martin lebt hier in diesen gefährlichen Uebermuth sich hinein, der uns ergreift, wenn man Muße hat, viel Studien in sich aufzunehmen, seinem Genius zu leben und von materiellen Sorgen verschont bleibt. Besuche geben Feste, die Feste dichterische Ausschmückungen, der Vers wird der Dekorateur und Ko­stü­mier der Gelegenheit; ja die Gelegenheit wird zulezt so günstig, daß sie der junge Dichter wahrnimmt und mit Elviren, seiner jüngsten Schülerin, auf und davon geht.

Nun, Martin, der vierte Akt beginnt; jezt bist du im Zuge jener exzentrischen Staffagen, welche die modernen Dichter brauchen, um den Charakter der Zerrissenheit wenigstens mit einiger Wahrheit durchzuführen! Das Gewühl einer Hauptstadt sichert dich vor der Verfolgung; du bist zwar bekannt, gedruckt sogar und von kritischen Blättern als eine interessante Erscheinung des Tages begrüßt; allein es gelingt dir, dich und Elviren unkenntlich zu machen. Leben mußt du zunächst, du mußt von deinem Talente Vortheile ziehen; du suchst Verbindung in der literarischen Welt, findest sie, und treibst nun bald mit Sturm, bald mit Sonnenschein auf dem Meere der Oeffentlichkeit umher. Welch’ eine Dichtung kömmt nun zur Reife! Das Zarteste verschwistert sich mit dem Wildesten; die Lilie, die so lange die Unschuld bedeutete, erkennt jezt die üppige Sinnlichkeit der Symbole, welche in ihrem Kelche schlummern; 265 die Gedanken fliegen zwar beschwingt, aber auch spitz und widerhackig, wie Pfeile. Die Prosa wird als satyrischer Contrast der Poesie gegenüber gestellt, und die Poesie ist längst selbst schon ein Surrogat geworden; Gedichte sind nun Epigramme, spitze Pointen werden die Zielpunkte, für welche der Dichter mit Leichtigkeit Mondschein, Sternennächte, Feengrüße und Waldeinsamkeiten koulissenartig zusammenstellen kann. Jezt haben wir die Poesie auf dem Höhepunkt der Zerrissenheit. Die Sonne, die sonst r Gott zeugte, zeugt jezt gegen ihn. Liebe und Freundschaft, die sonst auf den Himmel wiesen, geben jezt der Erde Trotz gegen den Himmel. Die Titanen empören sich aufs Neue, nur daß es Schul­den sind und Mißgunst und Verfolgung und der leberfressende Prometheuszweifel, der die Empörung schürt. Martin leidet entsetzlich; Elvire hat ihn verlassen; sie hing sich an Andere, die sie weniger vernachläßigten, als ihr Geliebter. Er zersplittert sich an der Journalistik, er wird ein Opfer literarischer Industrie, gute Erfolge machen ihn übermüthig, schlechte trotzig; seine Werke verwandeln sich in Pasquille. In den Mauern eines Gefängnisses erst wird er zur Besinnung kommen.

Der fünfte Akt zeigt ihn uns auf dem Krankenbette; Eisenstäbe vergittern sein Fenster, Schlösser rasseln, ehe man drei Thüren durchschreitet, durch die man erst zu ihm gelangen kann. Da liegt nun der hohe und kühne Geist, matt und elend ausgestreckt; 266 alle zarten Blumen seiner Empfindungen sind geknickt, und in die Zeder seines Stolzes fuhr der Blitz, den die Welt mit Gewalt in sie schleuderte. Nun lastet wie ein Alp die Erinnerung einer reichen Lebenserfahrung auf ihm. Wie viel Schönes wurde nicht erschaffen und wie viel Häßliches verdrängte es! Da sind Rosen und stinkende Todtenblumen in einander gewunden oder festgehalten von ausgebleichten und lee­ren Gedanken, gleich Strohhalmen; da hat die Leidenschaft mit dem Genie gerungen und zwar den Totaleffekt eines reichen und innerlichst poetischen Lebens geschaffen, aber mit wie vielen Flecken für die Sonne des Dichterruhms, mit wie vielem Schmerz für den Leidenden selbst, der mit seiner Schwäche, mit dem Tode ringt! Jezt nahen sich freilich die guten Boten seines erzürnten Genius wieder; sie trösten ihn, sprechen ihm Muth zu und sagen die Rückkehr ihres Meisters an. Und der Genius kommt wieder, eingehüllt in Gedanken, die sich vor dem Auge des Sterbenden zu beruhigten Gedichten verklären; eine wiedergeborne neue Poesie zittert auf seiner Zunge; er ahnt, daß eine Zeit des Glaubens und der heiligen Gefühle, eine Zeit der beruhigten klassischen Schönheit wieder anbrechen müsse. Elvire, der Materialismus, die Ironie, der Zweifel des Zeitalters sind vergessen und der Genius einer verklärten Dichtung drückt, in Gestalt der an das Lager geflohenen ersten Jugendliebe, dem Entschlummernden die Augen zu. –

267 Geben wir nun den allgemeinen Charakter der verschiedenen Künste in unserer Epoche an! Von den Schwierigkeiten, die der Entfaltung einer derselben entgegenstehen, spra­chen wir schon oben. Die Architektur hat aufgehört, als eine Kunstentfaltung mit der Culturhöhe der Zeit gleichzustehen. Wenn bei Griechen und Altdeutschen die religiösen Empfindungen sich verbauten, so wohnet uns die Gottheit nicht mehr in Tempeln, von Menschenhänden gemacht. Unser überschweifender Sinn kann an Oertlichkeiten nicht mehr gefesselt werden. Die Schnelligkeit, mit der wir den Raum überwinden, macht uns den durch die Form der Erhabenheit gefesselten Raum gleichgültig. Der neue Baugeschmack ist eklektisch. Nach Außen sehen wir wohl die korinthische Säulenreihe, aber nach Innen sind unsere Prachtgebäude holländisch bequem eingerichtet, mit Luftheizung und rauchlosen Schornsteinen. Großartige Gebäude wurden in neuerer Zeit errichtet, Invalidenhäuser, Lazarethe, Deputirtenkammern. Erhabenheit und Pracht werden hier vermieden. Nur eine gefällige Schönheit wird erzielt und in möglichster Nachahmung des griechischen Baustyls gefunden. Keine Kunst ist jedoch weiter von der Aesthetik abgerückt, als die Archi­tektur. Denn da der Paläste und Kirchen nicht viel gebaut wer­den, so mußten sich die Baukünstler schon des gewöhnlichen Häuserbaus bemächtigen. In einigen Dingen sind sie hier den Maurermeistern überlegen; sonst aber 268 genöthigt, um leben zu können, mit ihnen sich in eine Kategorie zu stellen *.

Obgleich an die Stelle der alten Götter im Katholizismus die Heiligen traten, so gewann dabei doch die Bildhauerkunst Nichts, sondern nur die Malerei. Sie hat sich jedoch mehr in Ehren gehalten, als die Architektur, und blieb trotz ihres Zurückkommens doch immer noch im Zusammenhange mit den wandelbaren Kunsttheorien, wie sie in verschiedenen Epochen aufgestellt wurden. Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts litt sie an der Geschmacklosigkeit des Zeitalters, an der Unschönheit der Tracht und der konventionellen Gezwungenheit des damaligen Benehmens. Wir begegnen den damals gemeißelten Bildsäulen noch auf den Treppen vieler Paläste, in vielen Grotten fürstlicher Parks, in Windsor und Versailles. Die Schenkel sind zu schmächtig, der Hals und die Arme zu dünn; man glaubt die Menschen der damaligen Zeit zu sehen, die nur zufällig ihre Kleider abgeworfen haben und die sich, um sich zu baden, nackt auszogen. Diese zerbrechliche Götter- und Heroenwelt blieb das ganze Jahrhundert hindurch Typus der plastischen Schönheit, bis das Studium der Antike den 269 Sinn für natürliche und markige Schönheit wieder weckte und mit Canova eine neue Blüthe dieser Kunst anbrach. Wunderlich ist, daß man damals allgemein zu der Ueberzeugung kam, wie in der Bildhauerkunst und in der Malerei auch der vollständige Charakter der Antike und der Romantik ausgedrückt läge und wie man dennoch die damals von den Aesthetikern gezeichneten Linien übersprang und sogar die Plastik zu romantisiren anfing. Denn heilige Apostel oder wohl gar Christus in Marmor wiederzugeben, scheint allen Prinzipien über das Christliche in der Kunst und die Kunst im Christenthum zu widersprechen. Wenigstens ist ein Christus aus Marmor dem Bereiche des Menschlichen näher gerückt, als auf der Leinwand. Man sieht einer solchen Verkör­pe­rung nicht mehr an, daß sie geistig verklärt und unsichtbar werden könne. Die Aesthetik sollte eine solche Vermischung des Ge­schmackes bestreiten, und, wenn es auch nicht im Interesse der Aufklärung wäre, die christliche Mythologie der Musik und Ma­lerei ausschließlich zu erhalten suchen. Allerdings sind die Bildhauer in einer schwierigen Lage, indem man ihnen nur das Verdienst gestattet, daß sie das Verdienst verherrlichen; so bekom­men sie für ihre Marmorblöcke Modelle, denen die Kunst nicht viel abgewinnen kann. Friedrich der Große verdient die Verewigung durch Marmor; allein wie die kleine, ausgetrocknete Gestalt so auffassen, daß der Künstler die Karrikatur vermeidet! War 270 Napoleon nicht zu klein? Und wie, wenn man dem kleinen Thiers eine Bildsäule setzen wollte? Mit der schönen Gestalt des Herzogs von Wellington hat man sich insofern geholfen, als man seine erhabene Person ganz umging und statt seiner, wenn auch zu seinen Ehren, einen Achilles hinstellte. Was werden aber die Künstler mit Louis Philipp machen? Hier würde ein Mantelüberwurf auch nicht helfen; denn sein Fehler ist nicht die Magerkeit, sondern die Beleibtheit. Würde sich der starke, gefärbte Backenbart des Königs der Fran­zosen und die kolossale Birnenperücke in Erz oder Marmor gut ausnehmen? Die Bildhauer sind in einer mißlichen Lage. Einmal nehmen die großen Verdienste der Menschen ab und die Unsterblichkeit überträgt sich mehr auf die Massen, als die Individuen, und dann ist der Stoff, den sie verherrlichen sollen, gewöhnlich so geschmacklos! Für gewöhnlich müssen sie sich also mit dem traurigen Geschäfte begnügen, Kenotaphien zu meißeln und Büsten nach Todtenmasken. Die Werkstätte manches Bildhauers sieht auch wie ein Gewölbe aus, wo man Särge kauft.

Weit höher als die beiden früheren Künste hat sich die Malerei geschwungen. Ihr Gedeihen war so üppig, daß eine Menge von Wucherzweigen aus ihrem Stamm hervorschoß: Kupferstecherkunst, Lithographie, Lithochromie, Xylographie u. s. w. Die Malerei mit den ihr verwandten Zeichnungskünsten wetteifert fast 271 mit der Presse, und es ist auf Theatern üblich geworden, die großen Maler und Dichter zusammen zu stellen und Correggio und Tasso in gleicher Manier zu feiern. Die Künste können zwar alle Gegenstände des Luxus werden, allein die Architektur und Bildhauerei sind den Meisten unerschwinglich; nur die Malerei mit ihren Abarten schloß sich dem mehr oder minder Begüterten an und verlockte ihn zu einem Interesse für die Kunst, das nicht nur ein Heer von Dilettanten schuf, sondern auch von Interessenten und Abnehmern eine mehr als erforderliche Anzahl. Die Malerei hat mit der Musik den Vorsprung voraus, daß ein großer Theil ihres Reizes schon im Stoffe, nämlich in der Farbe liegt, so daß man in Perioden des Verfalls doch immer noch keinen Ueberdruß an der Kunst empfand, sondern sie ruhig gewähren ließ und bevorzugte. Durch die Abarten der Malerei wurde es nicht nur möglich, gute Gemälde wenigstens in ihrer Zeichnung schnell zu verbreiten, sondern es bot sich auch dem Compositionstalente ein Mittel dar, über die der Malerei gezogenen Grenzen hinauszugehen und Alles und Jedes abzuzeichnen. Dadurch wurde die Malerei, fast wie Lesen und Schreiben, ein Erforderniß der Erziehung, kam mit unserer täglichen Erfahrung in die genaueste Berührung, schloß sich an die Poesie und namentlich in neuerer Zeit an die Geschichte so eng an, daß sich der Laie in der Malerei jezt weit mehr ein Urtheil über Gemälde und Zeichnungen 272 anmaßen kann, als der Laie in der Musik über Gesang und Instrumentation. Inzwischen haben auch hier die Künstler eine Wiedergeburt erfahren müssen. Die französisch-steife Manier überlebte sich und wurde durch die italienischen Studien der Künstler vernichtet. Man faßte den Begriff der Malerei höher und würdiger und fiel auch wohl in das Extrem, ihn so spiritualistisch zu fassen, daß Fleisch und Knochen darüber schwanden. Die Leichtigkeit, im Kupferstich und jezt gar in der Lithographie, jeder schnell erfaßten Composition ein künstlerisches Anrecht zu geben, spornte die Malerei selbst an, sich aus den gewöhnlichen Traditionen ihrer Gegenstände zu erheben und Alles, dem sich nur eine Gruppe abgewinnen ließ, mit Farbe zu bekleiden. Die großen historischen Gemälde aus der neueren Geschichte, namentlich Schlacht- und Volksscenen, wie französische und englische Malerei sie gegeben haben, konnten dabei freilich zulezt ein marionettenartiges Ansehen bekommen, wie die Chronik ja auch nicht immer Geschichtschreibung ist. Die historische Schule in Frankreich hat sich auch deßhalb schon von der Manier Vernets, Ge­rards, Gros und Anderer wieder abgewandt und sich mit De­laroche, Delacroix, Roqueplan, Scheffer und Boulanger auf einzelne poetische Momente der ältern Geschichte geworfen, und namentlich auf jenen der Romantik eigenthümlichen Eklektizismus, der in tüchtiger Weise das Schöne überall da anerkennt, wo er es findet, und 273 von blos äußerlichen Tendenzen sich dabei lossagt. Die französische Schule wird hier mit der deutschen zusammentreffen. Die Deutschen können von den Franzosen Komposition, die Franzosen von den Deutschen Färbung lernen. Die deutsche Malerschule ahnt das Schöne, hat es auch vor Augen und gibt es im Gemälde wieder; allein noch verhüllen viel Flöre ihre Anschauung; es liegt eine gewisse Unbestimmtheit in Allem, was sie noch bis jezt geschaffen haben. Die Malerei der Deutschen ist mehr religiös, die der Franzosen mehr weltlich; vielleicht lernen leztere von den erstern die Welt ein wenig tiefer fassen und diese von jenen das Religiöse und Ideale überall finden und selbst in dem, was oft blos für weltlich gilt.

Die Musik ist so allgemein verbreitet, daß man gar nicht mehr unterscheiden kann, wo sie aufhört als Bildungsmittel, und anfängt, Kunst zu seyn. Ihre Fähigkeit wird in den Schulen gelehrt, selbst die Komposition wird von vielen wie eine Spielerei getrieben. Wahrscheinlich wird die Kunst in der Musik da anfangen sollen, wo sie sich öffentlich gibt, in diesem Sinne kann man wohl sagen, daß das vorige Jahrhundert für die Musik mehr Genialität besaß und das Unsrige mehr Virtuosität. Die Musik des achtzehnten Jahrhunderts hatte mehr Charakter als die Unsrige. In der Musik scheint es fast, als gebührte dem acht­zehnten Jahrhundert der Beiname des spekulativen und dem neunzehnten der des 274 encyklopädistischen. Man ist allgemein darüber einverstanden, daß selbst mitten in dem geschmacklosen Einflusse des französischen vor-revolu­tionären Le­bens, wo weder Malerei, noch Poesie zur wahren Kunst anregen konnten, doch in den Schöpfungen Gluks ächte Klassicität lag, wie auch mitten in dem Flor des über England gekommenen Reifrocklebens Händel, eine von aller Manier freie, urkräftige Genialität in seinen Oratorien offenbarte. In Haydn und Mo­zart kulminirte die Musik des vorigen Jahrhunderts. Wir unterhalten uns vielleicht gut bei neuerer französischer Musik; allein wir müssen doch immer darauf zurück­kommen, daß sich die wür­dige Schönheit der musikalischen Gedanken und die einschmeichelndste Grazie der Melodie nur bei den großen Vorgängern findet. Die neuere Musik ist beständig nur zum Aus­druck von Vorstellungen und Worten gebraucht worden, so daß das melodische Element in ihr durch Deklamation und musikalische Rhetorik verdrängt wurde. Der Einfachheit der alten mythologischen und theilweise romantischen Oper war die melo­diöse Unbestimmtheit der sie begleitenden Musik vollkommen angemessen; doch jezt treten die Süjets der Oper so scharf hervor, ihre Charaktere müssen so prägnant seyn, daß hiedurch die Musik auch den Charakter einer überreizten musikalischen Sprache angenommen hat. Allein bei der Musik ist die Wirkung einer solchen Ueberschraubung ganz entgegengesezt, wie bei der Poesie. Hier erzeugt die 275 größere Rücksicht auf das Interesse doch auch einen seltenen Aufwand poetischer Kraft und erfordert sie wenigstens. Je gesteigerter der poetische Zweck ist, desto kunstvoller die Ausführung.

Allein in der Musik kann die Leidenschaft keine Erfinderin neuer Schönheitswendungen seyn. Wir finden bei französischen Komponisten namentlich, daß sie es allerdings verstehen, der Musik einen dramatischen Effekt zu geben, allein der innere Werth der Musik ist dadurch nicht gesteigert; im Gegentheil werden die zarten Verschlingungen der Melodie bei diesen Komponisten gewöhnlich nur noch Rhapsodien einiger scharf­ausgestoßener Naturlaute. Lust und Schmerz, wilde Begierde und jede Leidenschaft kommen hier so zum Ausbruch, daß der Komponist durch einige den Charakter dieser Leidenschaft tragende Noten allein schon ihren Effekt ausdrückt. So mußte die Oper freilich sehr populär werden, mußte fast alle musikalische Bildung in ihre Strömung ziehen; allein der Werth der Musik verlor darunter. Es ist wahr, die wilden, bei bewundernswürdiger Einfachheit doch so viel wirkenden Naturlaute in den französischen Opern machen einen ganz eigenen Eindruck; aber nicht selten ist der Geist dieser Töne ein gemeiner und von mancher berühmten Melodie Aubers und Herolds liegt in der That der Gassenhauer nicht weit entfernt. Man muß unter diesen Umständen an der italienischen Musik anerkennen, daß sie uns das musikalische Element 276 in der Oper, als die Deklamation über­wiegend, erhält, wenn auch einer der nicht geringsten ihrer Fehler der ist, daß sie das Textbuch als Nebensache betrachtet und nicht selten Sterbescenen mit Walzern begleitet. Rossinis geist­reiche Kompositionen werden wir erst jezt vermissen, wo die jüngern Italiener in die Opernmusik eine klägliche Kantilene eingeführt haben. Bellini und Donizetti schwelgen in Tonmodulationen, wo nicht nur die Handlung, sondern selbst schon das musikalische Motiv verschwimmen und man nur auf den Tönen sich wie auf einem Kahne schaukelt. Bellini hat viel Melodien geschrieben, aber eine hört sich, wie die andere an. Von neuern deutschen Komponisten ist es nur Weber und Meyerbeer gelungen, eine europäische Berühmtheit zu erhalten. Beide sind gewiß tiefere Musiker, als mancher Franzose; allein sie können nicht aus einem Gusse schaffen. Weber macht alle Augenblick einen Absatz, Meyerbeer alle Augenblick einen neuen Ansatz. Webers Opern haben ein zaghaftes Ansehen, Meyerbeers ein musivisch-zusammengeseztes. We­bers Opern wirken kalt, weil gerade in diesem Abbrechen seiner einzelnen Musikstücke und der nur innerlichen Abrundung derselben sogar etwas lyrisch-ängstliches liegt. Diese Lückenhaftigkeit der Weber’schen Komposition veranlaßte Mey­er­beer zum entgegengesezten Fehler der Ueberladenheit. Jedes Ritzchen in dem Gebäude seiner Opern wird von ihm mit Noten verstopft; das sorgsamste Studium 277 hat in seinen Opern Akt auf Akt, Scene auf Scene, Nummer auf Nummer nach den Regeln der bürgerlichen Baukunst gefügt. Im Allgemeinen ist die Oper jezt im Verfalle. Die Virtuosität, namentlich der Klavierspieler, hat überdies im Moment eine so ungeheure Höhe erreicht, daß man bald nur noch von einigen wenigen Meistern reden und jene ungeheure Fluth von Dilettanten und Wunderkindern, die auf den Beutel des Publikums spekuliren, vergessen wird. Das Leichtfaßliche, Angenehme und vorzugsweise Erheiternde in der Musik wird in der Gesellschaft als ein Surrogat für die Erziehung zurückbleiben. Im eigentlichen Bereich der Kunst aber dürfte viel Aussterbens eintreten und es dem wahrhaften Genius jezt mehr, als je, leicht werden, die vakante Theilnahme des Publikums an sich zu reißen.

Die neuere Dichtkunst hat in ihrem Schooße fast eben so viele Umwälzungen erlebt, als die neuere Geschichte. Das poetische Vermächtniß des vorigen Jahrhunderts an das Unsrige war reich und herrlich in dem, was von einzelnen Geistern ausging, in den Saatkeimen einer bessern Theorie, die in ihren Werken lagen. Allein wir übernahmen zu gleicher Zeit ein solches Chaos von Regeln und Anforderungen an die Dichtkunst, so viel Schul­weisheit und kritische Anmaßung, daß es zu verwundern ist, wie neuere Dichter nach den gefährlichsten Kämpfen mit einer auf Leben und Tod erkennenden Kritik sich doch trotz 278 derselben haben erhalten und mit ihren Tugenden und Fehlern in die Annalen der Geschichte einschreiben können. Einen allgemeinen Durchschnittscharakter der neuesten Poesie zu zeichnen, ist schwer, wenn man die Stellung derselben bei den einzelnen Na­tionen bedenkt. Deutschland leistet wenig oder nichts, oder doch nur so spezielles, daß davon über die heimischen Grenzen nichts kommen kann, wie doch Schiller und Göthe kamen. Frankreich hat jedenfalls dichterischen Aufschwung erlebt, der, wenn man die innere Kraft, die Neuheit der Bewegung und das Kolorit der französischen Sprache bedenkt, alles hinter sich läßt, was frühere Epochen in Frankreich geleistet haben. England erlebte einige schöne poetische Beispiele; doch haben sich seine Talente auf eine fast holländische Breite verlegt, die von der englischen Poesie zwar beweist, daß sie viel Kombination, aber wenig Feuer in sich hat. Flammengeister lodern in England jezt keine auf. Es ist auch fast unmöglich, daß in England die Genialität sich anders als gegen die Majorität aussprechen kann. Allein die jezt in Eng­land herrschende whigistische Majorität entspricht so sehr einfachen, gesunden und bürgerlichen Begriffen, die Majorität ist selbst so in polemischem Zustand begriffen, daß sich ein Geist, in dem das Feuer die Ver­nunft nicht versengt hat, nicht entschließen kann, gegen diese Majorität aufzutreten. Einige spanische, italienische, schwedische, polnische und sogar russische 279 Dichter, die der neuern Zeit angehören, können es bestätigen, wenn wir Folgendes als die allgemeinen Charakterzüge der neuern europäischen Dicht­kunst bezeichnen:

Die Dichtkunst ist Opposition geworden, bei sanfteren Naturen gegen gewisse hergebrachte poetische Theorien, bei stärkern sogar gegen die Verfassung der Gesellschaft. Darin vereinigen sich alle Dichtertalente der neuern Zeit, daß sie sich an die Geschmacksregeln des vorigen Jahrhunderts nicht mehr binden und in Frage nach der Schönheit namentlich versuchen, sie aus dem Individuum selbst herauszubilden und in der Leidenschaft eine Begränzung zu finden, wo es möglich ist, sich an ihrem Farbenspiel ästhetisch zu weiden. Die neuere Poesie ist, der Gegenwart gegenüber, rasch, ungestüm, mißtrauisch und wo nicht mit der Welt, doch gewiß mit sich selber unzufrieden. Schon im vorigen Jahrhundert stiegen die Poeten gern in entfernte Zeiten und Völkerzustände zurück, allein es war Neugier und ein falscher Begriff von der Erhabenheit, der sie dort hintrieb. Jezt sehen wir auch wohl Dichter sich in die Vergangenheit versenken, aber jeder will doch etwas suchen, wo er gleich vornherein eingesteht, daß die Gegenwart es ihm nicht bieten könne und sey es auch nur, wie die breiten historischen Romandichter sagen, ihnen die Gegenwart nicht so viel Staffage für die Erfindung darböte und ihre Kombinationen nicht so wahrscheinlich mache, wie die 280 Vergangenheit. Höher gestellte Dichter, wie der deutsche Uhland finden im Mittelalter einen Sonnenschein, den der bewölkte Horizont der Gegenwart nicht mehr zeigt. Ihr Bedürfniß nach Ruhe und Stillleben ist so vorherrschend, daß sie ihre Dichtung lieber in die eingefriedigten Schran­ken der Vergangenheit zurückführen, die einmal abgeschlossen und keiner plötzlichen Störung des poetischen Genusses mehr ausgesezt ist. Diesem lyrischen Interesse an der Vergangenheit schließt sich ein episches an. Für die Ballade und Romanze bietet die Gegenwart keinen Stoff*. Es sind nicht die Könige, die Meerfrauen, es ist nicht einmal die verhaßte Feudalität, welche jezt ganz freigesinnte Dichter antreiben kann, sich für epische Stoffe in das Mittelalter zu versenken, sondern das Schauerliche und Erhabene, das Schicksalsmäßige will sich aus dem Neuen nicht so poetisch abstrahiren lassen, wie aus einer Zeit, wo die hübschen romantischen Maschinengötter, die Nixen und Elfen noch eine organische Geltung hatten. Man muß diese Vertiefung in das Alterthum wohl von der im vorigen Jahrhundert üblichen, namentlich durch Macphersons Ossian angeregten, unterscheiden; denn damals ergözte man sich an dem vergrößerten Maßstabe, den die alte Sage von dem Menschen hat, ergözte sich an 281 den markigen Tugenden, welche man gern durch didaktische Poesie den Namen wieder eingepflanzt hätte, allein diese Gesichtspunkte fehlen den neuern Dichtern, wenn sie sich in alten Zuständen bewegen, gänzlich. Sie streben ohne allen andern Zweck nur nach der Poesie. Sie vermissen bei uns jene Relationen, die nur im Alterthum in poetische Konflikte gera­then konnten und es findet sich nicht selten, daß Dichter, die mit Herz und Mund der neuesten Zeit angehören, für ihre Dichtungen sich nur an das Mittelalter lehnen können. Endlich beutet die dramatische Poesie (man denke nur an Victor Hugo) auch in ihrem Interesse die Vergangenheit aus, allein entweder will sie dann gerade der Gegenwart einen ironischen Spiegel vorhalten, oder die alte Geschichte ist nur ein Sattel, unter welchem sie das rohe Fleisch der Leidenschaften, die sie gern zu Hebeln eines Drama’s gemacht hätte, mürbe reitet. Bei Viktor Hugo sind die Stoffe, die er wählt, ganz unwesentlich, und das Interesse und Zeichen der neuern Poesie liegt gerade in dem, was er aus den alten Stoffen ausbeutet oder in sie hineinträgt, in den gewaltigen Leidenschaften, in deren wechselseitiger Vernichtung er das Wesen der Tragödien sieht. So ist denn mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere Zustände im­mer in unmittelbarer Nähe des Momentes; sie bekämpft ihn, sie unterwühlt ihn, sie verachtet ihn, indem sie ihn ignorirt. Es liegt in all den beliebigen 282 Richtungen, welche neuere Dich­ter ge­nommen haben, doch immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen und namentlich durch die großen historischen Ereignisse verführt, die wir erlebt haben, suchen, ge­rade dem Augenblick Seiten abzugewinnen, die zwar immer poetisch seyn sollen, aber auch eine Antheilnahme an der sozialen Bewegung unsers Jahrhunderts in sich schließen. Dies gab der modernen Poesie einen doktrinären Charakter.

Von jeher bezeichnet die Poesie eines Volkes auch die Höhe der geistigen Kultur, auf der es sich befand. Sie schloß sich hurtig den Interessen des Publikums an und gab von jeher gern die Eindrücke der Oeffentlichkeit wieder. Die Poesie mußte diese Einwirkung noch um so mehr erfahren, als sie in neurer Zeit mit dem Aufschwung der Wissenschaften und der Bildung des Geschmacks, verwilderten Perioden gegenüber, eng verschwistert war. Die Poesie verwandelte sich aus einer Verherrlichung des Lebens, wie es die Menschen umgab, in eine Erzieherin desselben, und, da es widerstrebte, in eine Gegnerin. Der Idealismus der Dichter wurde um so überschwenglicher, als es ihm wirklich gelang, manche Partien des Lebens und Charakters ihrer Zeitgenossen zu veredeln und zu verschönern. Dennoch gelang es der Poesie nicht, in ihrem Bereiche jene Harmonie herzustellen, welche in frühern Zeiten das politische Leben zusammenhielt. Da die Poesie, wie alle Kunst in neuerer Zeit eine 283 nur eroberte und meist mit wenig Glück behauptete Stellung besizt, so kam ein unruhiges gährendes Element in sie, das nach Beifall strebend nicht wußte, womit es diesen erobern sollte. Die Einzelheiten in der Poesie wurden übertrieben, die Poesie selbst grübelte, statt daß sie frei und harmlos sich erging. Diese Neigung zum Tiefsinn und Widerspruch hat der Stellung der Poesie und Kunst überhaupt in unserer Zeit viel geschadet, hat die Fürsten ihr abwendig gemacht und im Bereiche der ästhetischen Gesetze selbst eine noch nicht gelöste Prinzipienverwirrung her­vor­gerufen.

Zu allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände gegeben, als für die andern. Das Epos, das Drama, jedes wechselt in der Literaturgeschichte darin ab, daß bald das eine, bald das andere mehr im Vorgrunde stand. Jezt bestätigt sich diese Erfahrung wieder so lebhaft, daß es einige Gattungen in der Poesie gibt, welche durch die Verwickelung der Umstände ganz brach liegen und erst durch Ereignisse und Umwälzungen der gegenwärtigen Bildungs- und Gefühlsstufe wieder neu belebt werden können. Vom Drama möchte man wohl weniger allgemein zustimmen, daß es sich vergeblich nach einer rechten Anknüpfung umsieht, allein vom Epos ist es entschieden, daß seine Anbauung unter dem Himmelsstrich unsrer gegenwärtigen Epoche nicht gedeihen will. So viel durch diese Abneigung der Umstände und der Gemüthsstimmungen der Dich­ter an Terrain verliert, 284 so liegt doch auch in diesem negativen Verhältnisse die schöne Anerkennung, daß bei uns die Poesie nicht mehr blos die Frucht der Schule und der Ueberkultur ist, sondern daß sie einen warmen Fleck in der Nähe unserer Herzen einnimmt, daß sie etwas aus unsern Zuständen Gebornes, weil von ihnen Bedingtes ist. Würde ein Epos, das den dreißigjährigen Krieg besänge oder ein noch kunstvolleres, dessen Stoff der alten Mythologie entnommen wäre, bei uns einen bereitwilligen Anklang finden? Nein, ein kleines Gedicht, moderne Gemüthszustände anklingend, ist uns werther, als die größte Epo­­pée.

Im Vordergrunde der neuern Literaturgeschichte steht der Ro­man. Dieser mußte Epos, Drama und Lyrik in sich vereinigen; etwas wirklich oder doch wahrscheinlich Geschehenes muß­te ihm zum Grunde liegen; nicht so viel, daß man das täglich uns Umgebende wieder gesehen hätte, wohl aber, daß man daran erinnert wird und Aehnliches mit Aehnlichem vergleichen kann. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle Anforderungen aus, wel­che die Menschen heut an die Poesie machen. Es muß sich zunächst um ein Reelles handeln, das keine bloße Luftspiegelung ist oder doch keine sogleich zu seyn scheint. Die Liebe muß das lyrische Element bilden, Ehrgeiz, Schicksal oder sonst eine gewaltige Leidenschaft das dramatische. Um das Ganze herum sieht man gern die Arabesken einer zeitgemäßen Beziehung hereinranken; man 285 verlangt reflektive Basreliefs, ja wohl eine tendentiöse Idee als Postament des Ganzen. Wie in alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll jezt der Roman von dem Wesen aller derselben einen Anklang geben, so daß die Poesie des Reimes jezt weit weniger kultivirt und beliebt ist, als die in prosaischer Form auftretende, wo das dichterische in dem schönen Ineinanderspiel von Kunst und Leben liegen muß. Die meisten poetischen Talente absorbirt der Roman und die allgemein zugestandene Erfahrung, daß zu einem guten Gedichte weit weniger Talent ge­hört, als zu einem guten Romane, hat auch gemacht, daß man den Leztern mehr als das Erstere für den Prüfstein des Genies hält. Daß ein Romanendichter kein gutes lyrisches Gedicht machen kann, wird ihm weit weniger nachgetragen, als wenn ein Lyriker gestände, daß er es nicht über sich vermöchte, einen wohlgefügten Roman zu schreiben. Leider ist nur der Roman sehr der Verfälschung ausgesezt. Wie oft ist seine Erfindung span­nend und hält doch nicht die poetische Nagelprobe aus? Und wie mancher durch und durch poetische Roman verfehlt es in der Fabel und den spannenden Situationen.

Man muß dreierlei Gattungen der gegenwärtigen Romanendichtung unterscheiden. Der historische Roman hing innerlichst mit einer Zeit zusammen, wo eben erst ein großes Kriegstheater eingepackt und eine große historische Katastrophe zur Abrundung reif 286 war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brod, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die Alles mit einem Krau­te würzen, so mußte auch bei Allem, was die Poesie aufsezte, Histo­rie zugemischt seyn. Die großen Ereignisse mußten mit klei­nen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Hel­den der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Anzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessirten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicher Weise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Ge­schichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. – Die zweite Gattung des Romanes, das Cha­rakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, son­dern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden 287 Sucht für das poetische Genrebild. Von dem historischen Ro­man, der in der Vergangenheit lebte, stürzte man plötzlich auf die nächste Gegenwart und zeichnete nach der Art englischer Ladies Alles ab, was man nur im Fluge von der Gegenwart mitnehmen konnte. Die Genremaler zeichneten uns die höhere Gesellschaft und die niedere, die Salons und die Straßen, die Spiel­häuser und die Winkelkneipen. Der Fashionable, der Dandy, der Kurzathmige, der Schwerwampige, der Dünne, der Dicke; dies waren Charaktere oder vielmehr Karrikaturen, die mit kurzen Strichen an die Wand gemalt wurden. Kutscher und Bedienten, Straßenkehrer und Savoyarden, Grisetten und Blumenmädchen, Schauspielerinnen und Kritiker, ja die Pariserhunde wurden von der Genreliteratur gezeichnet.

Diese Portraitirungen nun unter einander zu verbinden und zu Lithographien auszuspinnen, dahin war leicht der Sprung ge­than. Das Leben eines Stutzers gab einen Roman. Nun kamen Memoiren eines Ennuirten, eines Desavouirten und wie dies Zeug weiter durch auffallende Titel angepriesen wurde. Am glücklichsten war in diesem Fache der schon halb wieder vergessene Bulwer. Ihn haben die Matrosen, die auf Halbsold stehenden Haupt­leute, die Pensionäre der ostindischen Kompagnie verdrängt. Das schreibt und beutet jezt Sonnenschein und Ungewitter aus, Sturm und Regen, Berg und Thal, und tritt mit unläug­barem Ta­lente allmälig die höchsten Berge 288 platt. Seitdem die englischen Manufakturen weniger zu thun haben, seitdem wollene und baumwollene Waaren sich in den Magazinen aufstapeln, ar­beiten die literarischen Maschinen Englands vom Kohlendampf getrieben und überschwemmen mit den mittelmäßigen Produkten den Kontinent. – Endlich ist hier der speku­lative Roman zu nennen. Dieser ist ein Produkt Frankreichs und Deutschlands und faßt in sich alle charakteristischen Stadien der Sonne der heutigen Poesie zusammen. Wenn man die unterscheidenden Merkmale der modernen Poesie finden will, so muß man sie hier suchen. Auf diesem Bereich wird nicht nur das Schicksal der modernen Poesie ausgefochten, die Tendenz, wohin sie sich zulezt neigen wird, sondern auch manche entscheidende Frage des Zeitalters selbst in Anregung gebracht, insofern der Roman ein Hilfsmittel ist, die Ideen an die Masse zu bringen. Gerade dieser leztere Umstand, verbunden mit unläugbaren Uebertreibungen in dem neuern spekulativen Romane hat Besorgliche, die es mit der Menschheit aufrichtig meinen, gegen diesen Roman in Harnisch gebracht. Allein, so gefährlich es seyn mag, in einem mit blendenden und anlockenden Farben entworfenen Gemälde der Masse jene Anarchie der Begriffe und jene Kühnheit des Skeptizismus, der sich über das Einfachste in der Tradition Rechenschaft geben will, zu offenbaren, so sollte man doch bedenken, daß zugleich in diesem selben Romane ein Mittel 289 enthalten ist, die unleugbar in der Irre gehende gesellschaftliche Religion, wie man wohl die Sphäre bezeichnen möchte, in welcher sich jener Roman in seiner jetzigen Gestaltung so unheimlich fühlt, mit der Zeit zu befestigen und eben so schnell den wieder gewonnenen Glauben zu verkünden, wie bis jezt noch bloß der Zweifel mit ihm verkündet worden ist. Man bestreitet doch nicht dem Roman das Recht, so ernste Fragen, wie Staat, Religion und Sitte in sein Bereich zu ziehen? Denn allerdings abgesehen davon, daß für den Moment noch in diesem Rechte eine unselige Wirkung liegen könnte, so würde derjenige doch unsre Zeit schlecht verstehen, der glaubte, der Bo­densatz jener Gährung wäre nur die Negation und nicht vielmehr die Sehnsucht nach einer Wahrheit, die dem ernstlich Suchenden sich nicht verhüllen wird. Der Schaden, den der spe­kulative Ro­man in seiner Gährung anrichtete, wird durch die edelsten Reich­thümer ersezt, wenn sich die Gährung erst beruhigt und den Zweifel überwunden haben wird. Daß ein solches Resultat, wenn auch in ganz anderer Gestalt, als man gegenwärtig ahnen kann, vor den Thoren steht, wer möchte es bestreiten und wer möchte dann nicht wünschen, daß derselbe Bote, der früher die Hiobspost einer Verzweiflung an der Theodicee brachte, dann auch wieder die frohe Botschaft, das Evangelium des Friedens und einer versöhnten Hingebung bringe? Also bestreite man doch die Form nicht!

290 Aus dem skeptischen Geiste des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch aus dem Gefühl, daß eine Wiedererweckung vieler zu Anfang unsres Jahrhunderts beliebt werdender antik­romantischer Studien in der Poesie nur einen dilettantischen Beigeschmack habe und ohne wesentliche Realität für das Genie sey, entsprang jene eigenthümliche Ironie, welche wir auf Kunstwerken der vergangenen Epoche oft mit reizender Zartheit haben hingehaucht gesehen. Diese Ironie milderte den Ernst und ließ auch dem Scherze eine Hinterthür zum Ernste wieder offen. Sie war in Gestalt des Humors eine köstliche Neuerung, die dem modernen Zeitalter angehörte. Später, wo ihr nicht mehr bloß das menschliche Gemüth, überhaupt die psychologische Erfahrung zum Grunde lag und sich, wie wir schon sagten, der Geschmack befestigte, bekam die Ironie einen antiken Charakter und wurde nicht bloß in den Reden des Sokrates, sondern auch auf den antiken Bildwerken, wo ich freilich gestehe, sie nicht finden zu können, wiedergefunden. Diese moderne Ironie war die behagliche Folge einer üppig genießenden Kunstanschauung. Sie wirkte bei Göthe großartig: sie konnte aber auch bei kleineren Geistern die größte Feindin des Schönen werden, sie konnte der Mittelmäßigkeit einen Anstrich von exclusiver Ab­rundung geben. Sie entwöhnte das Publikum von dem Ernste. Sie machte die wichtigsten Fragen zum Spielzeuge eines Witzes, der nur der Form 291 nach regierte und nicht eher von seinem Spiele aufstand, bis nicht Alles wieder gehörig an seinen alten Ort gebracht war. Wenn diese Ironie allmälig die Poesie zu verlassen scheint und auch der Ernst wieder mit strenger und unerbittlicher Miene im Reich des Dichters walten soll, so konnte es nicht fehlen, daß die Wirkung dieses unleugbaren Fortschrittes zunächst bedenklicher schien und weit frivoler, als die frühere Frivolität; allein, wie wir oben schon die Hoffnung aussprachen, zuverläßig wird auch in der Poesie eine Beruhigung des Gemüthes, die nicht aus Indifferentismus, sondern aus Ueberzeugung geboren ist, eintreten; die Leidenschaften werden aus dem Dienste der Wahrheit nur noch in den der Lüge treten können, so daß sich jene in mildes, sanftes Licht verklärt, diese als dunkel glühende Schlacke zurückfällt und in sich verkohlt. Eine solche feindliche Wendung der Stimmungen wird den Glauben über den Zweifel setzen und die Menschen überzeugen, daß wenigstens in der Kunst jener edlere und vollendetere Gestalten zaubern kann, als dieser. Alle Künste müßten von diesem Geist der Versöhnung ergriffen werden; sie würden wieder in eine innige Vertrautheit mit den Gemüthern treten; sie würden, wie jezt, nicht bloß dazu da seyn, zu erschrecken oder zu zerstreuen; sondern sie würden wieder die stolzen Säulen werden, welche den Tempel eines neuen Lebens tragen. Es 292 ist ein Traum, von dem ich rede; alle Thatsachen des hellen lichten Tages widersprechen ihm, und dennoch wird ihn Niemand aufgeben, der Augen scharf genug hat, um auch durch den dunkelsten Wald die Sonne noch im Hintergrunde blitzen zu sehen.

293 Wissenschaft. Literatur.#

Fester haben sich die Wissenschaften zu stellen gewußt. Mit ihnen versöhnte sich der Zeitgeist, weil er ihrer bedurfte. Sie werden des Sonntags gefeiert, weil sie an den Wochentagen im Dienst der Menschheit graben und arbeiten müssen. Der Ungebildetste sagt, von ihnen falle doch noch etwas Erkleckliches ab, durch sie bekomme man Mehl aus Kartoffeln, Pferde aus Wasserdämpfen, Zucker aus Runkelrüben. Die Wissenschaften haben einen Ehrenplatz an der Tafel der Großen, und selbst ohne habit habilé dürfen sie bei Hofe erscheinen in bestäubter alter Perücke, in Holzschuhen und in dem abgeschabten Frack eines alten pedantischen Geizhalses. Der Arzt muß unser Leben erhalten, der Jurist unser Eigenthum und unsere Ehre, der Theolog hält uns den Himmel offen und nun gar erst die Technologie, die rationelle Landwirthschaft und überhaupt die Physik und Naturgeschichte. Das ist Tempelweisheit, vor welcher die Laien anbe­tend in den Staub fallen.

294 Wer müßte es nicht anerkennen, daß die Zustände, in welchen wir leben und die beglückte Seite derselben ein Werk der Wissenschaften sind? Sie haben durch die tiefsinnigsten Erfin­dungen die Schwierigkeit der Existenz, welche auf der Menschheit lastet, erleichtert, sie gaben mit einigen mathematischen Linien auf dem Papiere Ideen an, deren Verwirklichung tausenden von Arbeitern Verdienst schaffte. Sie haben dem Han­del kürzere Wege des Verkehrs bezeichnet, ohne selbst die Meß­elle in die Hand zu nehmen; sie haben das Verfahren der Technologie vereinfacht und die Kraft der Menschenhand verdoppelt; sie zauberten aus öden Landstrichen blühende Gärten und wußten mit dem Schöpfer zu wetteifern, indem sie das Fruchterträg­niß der Gewächse vermehrten. Aber nicht bloß in dem, was unseres Leibes Nahrung und Nothdurft betrifft, bewährten sich die Wissenschaften, sondern auch unsere moralische Existenz wurde durch ihre rastlose Strebsamkeit verbessert. Sie trugen die Fackel der Aufklärung in die dumpffeuchten Höhlen der Vorurtheile, sie nahmen von dem Guten in der Tradition die Spinnenwebe fort, und dem Falschen entzogen sie das Postament, worauf es ruhte; sie sprangen dem Menschen gegen den Bürger, dem Bürger gegen den Staat bei; sie widerlegten zur Befreiung desselben die Märchen von Königen, die mit Zepter und Kronen essen, trinken und zu Bette gehen. Sie ließen die milde Sonnenwärme der Humanität auf die zu kaltem Eis 295 gefrornen Tradi­tionen der Gesetzgebungen scheinen, sie sicherten dem Indi­viduum sein positives und sein menschliches Recht und selbst noch, wenn es verscherzt war, sicherte die Wissenschaft dem Verbrecher gerechtes Urtheil und die Möglichkeit einer reuigen Bekehrung. Auch den höchsten Wahrheiten entzog sich ihr redlicher Beistand nicht; die Wissenschaften schüzten uns, daß wir aus der Andacht keine todte Tugend machten, und wir, in dem Drange, an das Unvernünftige uns hinzugeben, etwa an das Gegenvernünftige uns überantworten würden. Die Wissenschaften haben in diesem Bereiche schönere Früchte gezeitigt, als die Kün­ste, denen das Gebiet eigentlich gehören sollte. Ach, wir sahen, daß diese, statt zu veredeln, selten aus dem Dunkel der Verflachung zum Lichte der Schönheit rangen; wo sie hätten segnen sollen, fluchten sie, wo den Streit mildern, fachten sie ihn an. Da haben die Wissenschaften oft ihre Stelle vertreten; denn in manchen Richtungen der Naturwissenschaft lag mehr Poesie, als in der gleichzeitigen Kunst; die wunderbarsten Verknüpfungen zwischen den trockensten Spekulationen der Fachwissenschaften und dem höhern Daseyn der Menschheit haben Statt gefunden, wie auch dadurch die Dichtkunst eine so schwierige Stellung erhalten hat, daß es scheint, als müsse sie hinfort den ganzen Ideenreichthum in sich aufnehmen, den die Wissenschaften nicht nur entwickelten, sondern auch poetisch auf die Gemüther manchmal konnten wirken 296 lassen. Wem sollten jene Richtungen der Geschichtschreibung, der Philosophie, der Naturwissenschaft und selbst der Medizin, die wir hier meinen, nicht einfallen?

Freilich haben die Wissenschaften sich in neuer Zeit meist immer der günstigsten Umstände zu erfreuen gehabt. Da man wohl fühlte, daß nicht nur das moralische und gesittete, sondern auch das gesellschaftliche Wohl der Menschen in ihre Hände ge­geben war, so beeiferte man sich, ihnen entgegen zu kommen, sie freundlich aufzunehmen und zu pflegen. Die neue Zeit hat vom Mittelalter sich nur durch die Wissenschaft befreit; die Wis­­senschaft schlug die 95 Thesen an die Schloßkirche von Wit­­tenberg, die Wissenschaft hielt die Elemente, die durch und mit der Reformation in Gährung kamen, im beständigen Zufluß der streitenden Stoffe. Ohne sie konnte kein Vorrecht mehr behauptet, ohne sie keines bestritten werden. Und wenn sie das Pul­ver erfand, wenn sie Amerika entdeckte, so wußte sie doch noch etwas Gewaltigeres darauf zu setzen, die Presse, die mächtiger war, als das Pulver und überredender, als das Gold Amerika’s. Gewalt ging nicht mehr vor Recht, Leidenschaft nicht mehr vor Vernunft. Was man durch irrthümliche Beweisführung antastete, konnte durch Waffengewalt wohl gesichert werden, aber vor allem Volk nicht anders gerechtfertigt, als durch die siegreiche Widerlegung, durch Gegengründe. Selbst der schlechte 297 Zweck heiligte zwar nicht das Mittel, sprach aber oft ein gutes Mittel um Hilfe an, oder machte, daß selbst das in der Moral schlechte wissenschaftliche Mittel doch für die Wissenschaft manchmal gut zu nennen war. Die scharfsinnigsten Wahrheiten wurden an einander gereiht, um leider eine Lüge zu be­weisen. Der Zweck diente einer augenblicklichen Bestechung, einer despotischen Laune, die nächste Folge kam ihr zu Gute; aber die entferntere floß doch wieder in die Wissenschaft zurück und mehrte ihren Reichthum. Die Leiden der Gesellschaft strengten das wissenschaftliche Nachdenken an, um ihnen abzuhelfen. Ja, was sind nicht für außerordentliche wissenschaftliche Resultate aus der Auflösung politischer Verhältnisse hervorgegangen, gerade wie die Medizin sich nicht auf die Gesundheit, sondern die Krankheit der Menschen stüzt. Als die Feudalität und der Lokalgeist von der Centralisation des souverainen Monarchismus besiegt wurde, als die Aufrechthaltung einer unmittelbar aus Gott fließenden königlichen Würde, von den Trabanten des Ehrgeizes, der Sinnlichkeit und der durch beide hervorgerufenen Habsucht umgeben war, da wurden z. B. die Fabriken in eine krampfhafte Thätigkeit versezt, die zum Entdecken zwang. Der Leichtsinn der Finanzverwaltung schuf die wunderbar kompli­zirte Mathematik des noch jezt geltenden Bankwesens. Mitten im Gedräng der immer höher steigenden materiellen Schwierigkeiten für Handel und Gewerbe, stellte 298 Adam Smith seine unsterblichen Nationalreichthumsmaximen auf, welche die Grundlage einer neuen Wissenschaft, weil einer neuen Methode, geworden sind und so kam Gutes und Böses zusammen, um die Wissenschaften zu heben und sie zu den eigentlichen Herrscherinnen der Welt zu machen.

Fassen wir alle Thätigkeiten im Schooße der Wissenschaften und namentlich die spekulative Beförderung derselben unter dem Namen der Literatur zusammen, so ist dies freilich ein Begriff, der formell zu eng ist für jenen Inhalt, den er umfassen soll. Literatur schließt einen formellen Endzweck mit ein, eben so die literarische Aeußerung der Kunst und sagt weit weniger, als das, was sich Alles als wissenschaftliche Leistung, wenn auch nur durch das Mittel der Schrift bewährt. Hier kommen wir namentlich, wenn wir das Verhältniß der Literatur zur Gesellschaft und zur Ordnung derselben bedenken, gleich zu einer zeitgenössischen Erfahrung. Die Wissenschaften sind in aller Munde, die Literatur wird nur von wenigen ausgesprochen; den Wissenschaften gesteht man weltbezwingende Wirkungen zu, und als Prinzip die größtmöglichste Unabhängigkeit; die Literatur aber ist ein trübes, schwankendes, verlockendes Meer, und ihr soll kaum der Schatten von jener Sonne der Freiheit, die den Wissenschaften leuchtet, gestattet werden. In der That, beide Begriffe sind nicht mehr dieselben, ebenso wie auch der Begriff der Presse weit umfangreicher 299 ist, als Literatur und Wissenschaft. Den Wissenschaften gestattet man Alles, der Literatur Einiges, der Presse nichts. Die Buchdruckerei überfluthet und überwuchert die Literatur und die Wissenschaft. Und die nothwendige polizeiliche Beschränkung, welche allerdings für den Gesammtbegriff der Presse nothwendig ist, hat sich denn auch von selbst für die Literatur und Wissenschaft ergeben, und doch mit der Zeit Einiges an der günstigen Lage beider verrückt und geändert.

Daß die Erfindung der Buchdruckerkunst eine große Wohl­that war, ist gewiß; allein wie sie doch auch so manches unvermeidliche Uebel brachte, so gehören dazu auch die Mißlichkeiten in Unterscheidung der Begriffe, Wissenschaft, Literatur, Presse. Das Gedrucktwerden der wissenschaftlichen Forschungen ist bei der Leichtigkeit des Druckes so unumgänglich oder sich wenigstens von selbst verstehend geworden, daß zwischen einem Kathedervortrage aus dem Stegreife, einem aus Heften und einem dritten endlich, dem ein gedruckter Leitfaden zum Grunde liegt, gar nicht unterschieden wird. Weil die Presse nicht nur gewöhnlich auch von der Wissenschaft benuzt wird, sondern auch dies Benutzen völlig freigegeben ist, so hat die Feindschaft, welche allmälig von den öffentlichen Thatsachen gegen die Presse unterhalten wurde, sich auch auf die Wissenschaft übertragen, oder doch wengistens gemacht, daß die spezielle Wissenschaft unter dem Schicksale der allgemeinen Presse leidet. Der 300 preßliche Inhalt der Wissenschaft wird von ihrem sonstigen Wesen nicht mehr unterschieden und fast in ganz Europa (Frankreich, England und Belgien ja nur ausgenommen) ist der gelehrte Forscher eben so der Censur unterworfen, wie der Libellist, wie der Krämer, der in den Zeitungen seine Waare ankündigt. Somit wären wir durch das polizeiliche Verfahren des Staates wenigstens gerechtfertigt, wenn wir zur größern Vereinfachung unsrer nachfolgenden Bemerkungen uns der Ausdrücke Presse, Literatur und Wissenschaft beinahe wie synonym bedienen. Wir müssen ohnedies die Form vom Inhalt unterscheiden und werden dabei vielleicht ohnedies finden, daß die Literatur im Allgemeinen dieselben Phasen in sich durchgemacht hat, durch welche auch die Wissenschaft ging.

Die Form der Wissenschaft und Literatur ist die Presse. Namentlich seitdem die Politik öffentlich und täglich besprochen zu werden anfing, wurde die Presse so ausgedehnt, daß es fast scheint, als liefe sie schon allen Momenten und Zuständen unseres Daseyns parallel. Man kann dem Staate nicht verdenken, daß er alles, was er von der Presse verlangte, auch auf die Literatur übertrug; denn hat die lezte in neurer Zeit nicht ganz das Gepräge der Journalistik angenommen; knüpft sie ihre Entwicklungen nicht an Tag und Stunde an und hat sie sich nicht auch längst geneigt gezeigt, den Inhalt der politischen Presse, wenn 301 auch nicht ganz in seiner journalistischen Roheit, doch in seinen Tendenzen, in ihr eigenes Bereich aufzunehmen? Doch geben wir diese Gedankenverbindung auf, und halten wir uns zunächst an das Reinformelle der Presse, welches in den Fragen über Schrifteigenthum, Nachdruck, Censur und Buchhandlungsmethode für unsre Zeit so außerordentlich wichtig geworden ist.

Wenn die Presse politisch nicht gesichert ist, so liegt dies in dem für unsere Zeit schon natürlich gewordnen Verhältniß derselben zum Staate; der Staat ist Position, die Presse Negation. Wo jener ein Interesse der Befestigung hat, hat diese ein Interesse der Auflösung, und wenn Philosophen den Begriff des Werdens in die beiden Faktoren des Seyns und der Negation auflösen, so ist wohl gerade die Presse die Stütze und das weiteste Gewand jenes negativen Prinzipes, durch welches im Staate etwas wird. Allein daß die Presse noch nicht einmal juristisch bestimmt ist, daran ist vor allen Dingen die Bildung der Juristen schuld, die Tradition des Rechtes und vielleicht auch jene Gleichgültigkeit gegen die Interessen der Presse, welche man bei einem von ihr bedrohten Staate voraussetzen muß. Allerdings sind durch positive Gesetze Schrifteigenthum und Verlagsrecht gesichert, aber doch noch nicht überall, und völ­kerrechtlich nirgends. Nicht nur, daß die Amerikaner unsere eng­lische Literatur, die Belgier die französische 302 nach­drucken, sondern in einem Lande, wo die Wissenschaft so große Triumphe gefeiert hat und man möchte fast sagen, ein litera­risches Bewußtseyn das politische ersezt, druckt noch eine Provinz der andern, der Süden dem Norden nach. Ein Haupt­grund dieses mangelhaften Zustandes liegt in dem anmaßlichen Vorgeben der Jurisprudenz, daß sich juristisch der Nachdruck entschuldigen lasse. Rom und Griechenland, die die Presse nicht kannten, sollen eine Verletzung der Rechte, die man durch sie erwirbt, gestatten. Man überträgt vom Abschreiben die Analogie auf das Abdrucken und sagt: so wenig unangenehm es dem Horaz war, von seinen Gedichten möglichst viele Abschriften verbreitet zu sehen und so gern er den Sosiern zu Haus und übers Meer den Absatz derselben gestattete, ebenso sollen auch Byron, Schiller und Göthe zufrieden seyn, wenn sie nur ja recht verbreitet werden. Es ist unzart, die Dichter zu zwingen, daß sie nun hier entgegnen müssen: „Wir leben von unsren Gedichten!“ Die Juristen lachen darüber, weil die Römer den Verlag nicht kannten. Im Gegentheil haben sie noch eine Menge Analogien, um nach dem Schema: „wenn ich mich meines Rechtes bediene, thue ich Niemanden Unrecht,“ den Nachdruck als ein natürliches und ehrliches Gewerb hinzustellen. Denn einmal sagen sie, hab ich das Recht, mit meinem Eigenthum zu machen, was ich will, d. h., ein gekauftes Buchexemplar tau­sendfältig zu 303 vervielfältigen und wieder zu verkaufen; könnte man sie aber nicht füglich fragen, ob man mit einem gekauften Stocke thun könne, was man wolle und schlagen, wen man wolle? Sodann behaupten sie in der That, und wie mich anders gesinnte Kenner des römischen Rechts versichern mit allzugroßer und unbegründeter Keckheit, daß man jedes Gewerb treiben, jeden Gewinn machen könne, wenn man da­durch auch die Existenz des Andern untergräbt, daß man sich einen Brunnen in seinem Garten graben könne, wenn man dadurch auch dem Nachbar das Wasser abschneidet. Man muß nur ein wenig mit dem römischen Rechte vertraut seyn, um zu wissen, daß der Römer das Meiste, was zu den unmittelbaren Gaben der Natur gehört, wo möglich freigab, daß er das Graben eines Brunnens für ein natürliches, im Bedürfniß gegründetes Recht hält. Weit mehr scheint mir noch dies andere Beispiel von doppeltem Interesse, dessen sich die ersten Anfänger der Insti­tutionen noch erinnern werden, für einen selbst dem römischen Recht nicht fehlenden Grundsatz der Billigkeit, wie wir ihn für das römische Recht in Anspruch nehmen, zu streiten. Wenn nämlich aus des Nachbars Garten ein Baum mit seinen Zweigen herüberhängt, so kann ich diese zwar abschneiden, wenn sie mir die Aussicht versperren und meinem Eigenthum schädlich sind. Allein laß ich sie hängen, so gehört die Frucht davon nicht mir, sondern dem Nachbar, der das Recht hat, zu 304 mir herüber­zukommen und regelmäßig die Früchte abzubrechen, die doch in mein mir gehöriges Gebiet hineinragen, deren Blüthen ich genie­ßen darf und wo alles sich zu vereinigen scheint, mir gewisser­maßen ein Recht auf jenen Ueberhang zuzugestehen. Allein wie schwer ist es, aus solchen Analogien irgend etwas Praktisches für unser modernes Preßrecht zu schließen! Die Juristen sehen immer nur darauf, daß sie fragen, kann in diesem und jenem Kollisionsfalle eine actio, eine Klage Statt finden? Die Klage auf Schadenersatz wollen sie nicht zugeben; so haben andere eine Klage auf Injurie im römischen Sinne des Worts für die Preß­rechtsverletzung herausräthseln wollen. Allein das römische Recht gibt keine Analogie, weil es die Presse nicht gekannt hat und das steht als heilige Ueberzeugung bei gewissenhaften Rechtslehrern fest, daß die Römer, hätten sie die Presse in unserm Sinne gekannt, gegen den Nachdruck würden gestimmt haben.

Es ist nicht anders möglich, in dieser Frage zu einer strikten und klaren Theorie zu kommen, als durch die Bestimmung des Begriffes der Presse. In alten Zeiten, wo die Hilfsmittel des Schriftwesens so beschränkt waren, konnte der Autor aller­dings nur wünschen, daß man sich seiner Gedanken be­mäch­tigte und seine Schriften so oft kopirte, als Interesse für sie vorhanden war. Jezt aber liegt in der Auflage, die der Verfasser von seiner Schrift veranstaltet, 305 der bestimmt ausgespro­chene Wille, daß die Schrift nur so weit ihre Bahn mache, als diese Exem­plare rei­chen; denn, kann ihm nicht sehr daran gelegen seyn, daß z. B. von einer theologischen Schrift, die für die Masse nicht taugt, nur fünf­zig oder hundert Exemplare zu erhalten sind? Wird eine Vermeh­rung dieser Auflage ihn nicht zum Verbrecher an der Staatsreligion machen, während er mit den hundert Exemplaren beweist, daß er nur der Wissenschaft gegenüber ein Mann der freien Forschung seyn wolle? Ich sage nicht, daß solch eine Unterscheidung von Laien- und Tempel­weisheit zu billigen ist; allein tritt uns hier nicht ein Wille entgegen, der ein individuelles Recht hat? Wer hat die Presse so emanzipirt, daß sie größere Gewalt haben soll, als der, der ihr den Inhalt seiner Gedanken gibt? welch ein Recht hat die Buchdruckerei außer­ dem, was sie nur vom Autor emp­fing? Die Presse ist eine beauf­tragte, vom Autor beauftragte, sie besorgt eine Kommission, die in dem Augenblicke, wo der Autor be­friedigt ist, auch zu Ende geht, die unberufner Weise von einer dritten, vierten Presse, der ich gar keinen Auftrag gegeben habe, nicht kann ausgeführt werden, und wenn man sagt, daß in diesem Falle nur Eines nicht geschehen müßte, nämlich, daß die Bücher für Geld verkauft würden, so liegt doch in diesem Kaufe und Verkaufe gerade der stillschwei­gende Ver­trag zum Grunde, daß man dies Buch nur im Betreff der Aus­gabe, die davon veranstaltet 306 worden, sich aneig­nen wollte, in Be­treff des Preises, den die Ausgabe gestattete (daher auch der sogenannte feste Ladenpreis), in Betreff der einen Presse, die nur durch und mit dem Willen des Autors ein Recht zum Drucke hat.

Wenn man das Preßrecht auf das Gedankeneigenthum grün­den will, so ist dieser Ausdruck allerdings unbestimmt und sich selbst widersprechend. Man wendet gegen ihn mit Recht ein, daß man über seine Gedanken kein Eigenthum hätte (höchstens über seine dummen Gedanken), und daß wenig­stens nie eine Reformation zu Stand gekommen wäre, wenn Luther für seine Gedanken ein Recht des Besitzes in dem Sinn angesprochen hätte, daß andere sie nicht hätten fortpflanzen sollen. Mit einem Worte, fortgepflanzt kann alles werden, was man spricht, was man auf dem Katheder dem Inhalte nach vorträgt, was auf der Kanzel gesprochen wird u. s. w. . Allein ein Buch ist mehr, als ein Gedanke, ein Buch ist vor allen Dingen die Form des Gedankens und diese Form ist mein Eigenthum. Es ist meine Individualität, die ich in dem Buch offenbare; kein Gedanke tritt darin auf, ohne das Risiko meiner Person, die Klar­heit und Dunkelheit der Ideen, alles kömmt auf meine Rech­nung. Dies ist das unveräußerliche Eigenthum, welches der Schriftsteller an seinem Buche hat und welches durch die Auf­lage erst Eigen­thum eines Verlegers wird. In der Auflage sprech ich meinen 307 Wunsch, so oder so verbreitet zu werden, aus, und so wie ich in jedem Exemplare dieser Auflage in meinem Ich auftrete, so werd’ ich wohl auch das Recht haben, das wie oft dieser Male zu bestimmen, da doch keine civilisirte Ge­setzgebung dem Individuum, ob es sich nun durch Handel oder Gewerb äußert, das Recht schmälern darf, sich so zu geben, wie es will, und z. B. beim Schriftsteller durch den Umfang einer Auflage das Recht und die Hinterthür offen zu lassen, seine etwaigen Irrthümer möglichst schnell berichtigen zu können, oder auch den Inhalt eines Werkes wieder in sich zurück­neh­men, dadurch, daß das Werk nicht wieder aufs Neue auf­gelegt wird. Tritt hier der Nach­druck dazwischen, so ist es nicht Ent­schä­digungsklage, die man gegen ihn erheben, sondern die Klage auf Gewaltthätigkeit und eine meine Persönlichkeit ver­letzende Mißhandlung. Durch den Preis, welchen man für mein Buch bezahlte, erkaufte man nichts anders, als autoptische Theilnahme zu haben an der Mani­festation und Austragung irgend einer schriftstellerischen Indi­vidualität oder eines sonsti­gen preßlichen Inhaltes. Ein Buch ist wie ein Gerücht, das ich bekannt machen will und wo ich durch den Preis, den man dafür bezahlt, dem Gerüchte gerade die aus­drückliche Bestimmung gebe, daß es sich in der Sphäre der Auf­lage halten soll. Wer die­ses Gerücht austrägt, d. h. nach­druckt, der plaudert es nicht aus (wer würde ihn daran hindern?), son­dern er entstellt 308 es, er entzieht ihm das Merkmal, wel­ches ich ihm aufdrückte, nämlich geheim zu seyn, und ich habe vollen Grund zu klagen gegen willkürliche Verläumdung und Beeinträchtigung meiner Person. Schon, wenn der Nach­druc­ker seinen Diebstahl billiger gibt als das Original, so kann der Verle­ger des Originales klagen, daß er durch den Nachdruck in den Verruf einer ehrlosen Wucherei käme, indem er verschie­dene Preise für ein und dieselbe Sache stellte. Und hier gilt auch die Einrede nicht, daß je auf dem Titel eine andere Firma als die rechtmäßige gestellt wäre, denn diese Firma ist nur eine Note für den Geschäftsverkehr, nicht für das Publikum, welches an der ganzen Sache die Hauptrolle spielt, durch seinen Beutel. Mit einem Worte, der Gesichtspunkt, von welchem aus der Nach­drucker rechtlos ist, liegt nicht im Honorar des Schriftstellers, nicht in dem Verlust des rechtmä­ßigen Verlegers, sondern in der Infamie und Gewaltthätigkeit des Nachdruckers, der den Autor verhindert, sich nach seinem freien Willen mit dem Buchhandel, und dem Verleger, sich nach seinem freien Willen mit dem Pub­likum zu vermitteln.

Die Anarchie der Literatur ist leider selbst Schuld daran, daß es so gänzlich an klaren Begriffen über das Preßwesen mangelt. Blicken wir aber auf den Umfang, den einmal die Presse gewon­nen hat, auf den innigen Zusammenhang derselben mit der Exi­stenz so vieler Tausende, blicken wir andrerseits auch auf 309 den Staat, der unter den Einflüssen dieser Anarchie selber leiden muß, so sollte man sich überzeugen, daß endlich die Zeit ge­kommen ist, die Presse in ihrem Wesen und ihrer Bestimmung fest ins Auge zu fassen und ihr eine eben so organische Freiheit, wie organische Nothwendigkeit zu geben; daß z. B. die Presse vom Völkerrechte ausgeschlossen wird, ist eine jämmerliche In­konsequenz unseres so eifrig nach Recht und Ordnung stre­ben­den Zeitalters. Warum sollte es nicht möglich seyn, die Presse ihrem Inhalte nach an den Staat, der Form nach an die Sprache zu binden? Amerika druckt in einer einzigen Zeitung wörtlich einen kaum in London erschienenen Roman ab; belgische Nach­drücke werden durch Diebstahl in den Pariser Offizinen oft frü­her zur Erscheinung reif, als das Original in Paris. Ist eine solche Verletzung des Völkerrechts und der Völkermoral in einem Jahrhundert möglich, wo nicht nur die Philosophen, sondern auch die Fürsten angefangen haben, über die Möglichkeit eines ewigen Friedens zu träumen? So lange sich das Gewissen der Gesetzgebungen nicht gegen diese Gewaltthätigkeiten empört, wollen wir auch nicht glauben, daß unser Zeitalter schon reif ge­nug ist, um angesehen zu werden, als emanzipirt aus den Zei­ten des Faustrechts.

Aus einer gründlichen Deduktion des Begriffes der Presse würden sich auch die allein wahren Grundsätze über die Freiheit und Beschränkung derselben 310 ergeben. Durch die Anar­chie in der Literatur wurde die Preßlicenz und die Zensur ge­boren. Als die Presse über die Literatur hinaus erweitert wurde, wurde sie das willige Hilfskorps der politischen Parteien und er­oberte sich in England faktisch jene Preßfreiheit, welche juri­stisch ihre Beschränkung in dem Libellgesetz erhielt. Frank­reichs Preßfreiheit ist jüngern Ursprungs und wurde als ein Natur­recht verlangt, und als solches nicht verweigert; allein täglich muß der Staat in Frankreich einsehen, daß eine Presse im Na­turzustand auch ewig in dem natürlichen Zustande des Krieges liegt. Wenn die Preßfreiheit Frankreichs sich nicht so rück­sichtslos äußert, wie die in England, so liegt davon der Grund theils in der schärfern Ahndung, mit welcher in Frankreich die Preßvergehen verfolgt werden, theils in einem den Fran­zosen angeborenen größern Schicklichkeitsgefühle und den meist an­ständigen Individuen, welche dort die Presse bedienen. In Eng­land erlaubt sich die Presse Alles. Ehre und Ruf – nichts schont sie; das leichte Gerücht stempelt sie zur gewissesten Wahrheit. Sie hält die Lüge für die geschickteste Waffe, um den Gegner zu vernichten. Die englische Presse ist so zügellos, wie eine englische Armee, wenn man sie nicht mehr unter die Peitsche stellt. Es liegt nun einmal im Charakter dieses Volkes eine unausrottbare Zügellosigkeit und eine grausame Gewalt­thä­tig­keit, eine Folie, die es allein erklären kann, wie darauf der Name eines 311 Gentleman, der Inbegriff des Anstandes und der Selbstbeschränkung, so grell abstechen kann. In unserer Pres­se aber herrscht der Gentleman nicht mehr. Dort ist der Firniß der gesellschaftlichen Bildung wieder abgewischt und die gewaltthätigste Rohheit der unter dem Druck hervorschim­mernde Hintergrund. Besonnene Gesetzgeber haben über die Abschaf­fung dieses Uebels nachgedacht. Allein die Kollision mit dem politischen und parteiischen Theile der Presse hinderte sie im­mer, der Presse einige vernünftige Schranken zu ziehen. Durch das Zeitungswesen und die Begriffe, die a priori der poli­tischen Opposition zum Grunde liegen, hat der Widerspruch so sehr die Physiognomie eines natürlichen und menschlichen Rechtes be­kommen, daß es unmöglich ist, da den Staat und die durch gewisse Gesetze zu bildende bürgerliche Gemeinschaft zu sub­sti­tuiren, wo gerade in dem Bewußtseyn des natürlichen Men­schenrechtes der Bewegungsgrund zur Opposition liegen soll. Die Presse ist somit, wie das Lallen des Kindes, der un­artikulirte Ausdruck unseres modernen Menschen im Natur­zustand, sie gilt als eine ursprüngliche Begleiterin und Amme, ja als das mit Wasser gefüllte Ei, aus welchem der Embryo reif hervorbricht. Die Presse ist hier schon ganz aus dem politischen Gesichts­punkt herausgerückt und gibt unter dem Schutz des Libell­gesetzes auch dann erst zur Klage Veranlassung, wenn die Juris­prudenz aus ihr injuriöse Thatbestände entnehmen kann. Es ist eigen mit 312 der Preßfreiheit; sie ist für jeden Einzelnen immer ein großes Glück und für die Gesammtheit nicht selten ein großes Unglück.

Die Preßfreiheit, so mangelhaft ihre endlose Unbeschränkt­heit ist, hat doch den großen Vorsprung, daß man zur Abhilfe ihrer Uebertreibungen und Ausschweifungen kein anderes Mittel hat, als die Zensur. Dies muß eine fürchterliche Anstalt seyn. Dem natürlichen Bewußtseyn menschlicher Freiheit steht nichts näher, als durch die Presse seine Gedanken auszutragen. Die Schöp­fung, der man sich hingibt, ist ein zarter und heiliger Pro­zeß, in welchen man, ehe er vollendet, Niemand möchte hinein­blicken lassen. Jezt eine solche Arbeit erst einer vom Staat gesezten Behörde vorzulegen – dies muß ein eben so peinliches Gefühl seyn, als wenn der Autor irgend einem Leser seiner neue­sten Schrift gegenübersizt und er aus jeder Miene entnehmen kann, welches Urtheil sich allmälig in ihm bildet. Auch würde die Zensur noch eher erträglich seyn, wenn sie nicht von vorn herein als Zweig der administrativen Bureaukratie den Stempel der literarischen Inkompetenz trüge. Ein Beamter, der vielleicht alle Kommentarien des vaterländischen Rechtes studirt hat, nie aber ein Werk, das einer andern Wissenschaft oder gar einer Kunst zugehört, ein Beamter, dessen Ideen alle auf die kleinen Räume des Administraturgebäudes gerichtet sind, der nur einen Gott hat, nämlich den Vorgesezten, und nur 313 einen Him­mel, nämlich die Beförderung, – ein solcher Mann soll nun ein Urtheil über deine Schrift abgeben, er soll wissen, wie hoch man in dieser oder jener Streitfrage, die ihm kaum dem Namen nach bekannt ist, die Saiten spannen darf; er soll überdies unparteilich seyn, wo gerade die Juristen die exklusivsten Menschen von der Welt sind und Beamte sich gewöhnt haben, alles, was nicht unmittelbar mit dem Staat zusammenhängt, gleichgültig und nicht selten feindlich zu behandeln. Die literarische Debatte hat ihre Stichwörter, der Zensor versteht sie nicht; sie hat ihre Prä­missen, der Zensor kennt sie nicht und streicht ihre Konse­quenzen. Meinem Gegner war durch irgend eine tolerante Zensur gestattet, mich einen Verläumder zu nennen und mir will man nicht erlauben, einen Narren darauf zu setzen. Der Zensor ist selten in dem Gebiet zu Haus, wofür er als Wächter vom Staat eingesezt ist und dies ist um so schädlicher und drücken­der, als gerade in unserer Zeit die meisten Wissenschaften und übrigen Literaturfächer in ihrem eigenen Bereiche viel inner­liches und zum Theil der Schule noch speziell angehören­des Leben entwickeln. Die negative Richtung des Gedankens ist doch einmal da; die Debatte bewegt sich einmal in dem Wider­spruche gegen das Gegebene, und welcher Zensor wäre tief­blickend genug, um an einem Produkte, das einmal im Gewande des Tages auftritt, das Hervordämmernde, Bessere und Gold­haltige zu entdecken? 314 Wird er nicht, da die ganze Form und Abfassung einer solchen Schrift negativ gehalten ist, in einem Staate, wo die Zensur das einzige blühende Institut ist und Handel und Gewerbe im Gedeihen übertrifft, sie mit einem einzigen Strich verwerfen. Weil es uns gerade jezt in den Litera­turen an den hervorragenden Persönlichkeiten gebricht und das Originelle an die Masse hingegeben ist; weil wir in allen Ge­bieten mehr objektive und solche Gährungen haben, welche den Prinzipien gelten und an welchen alle Theil nehmen; weil wir mit einem Worte uns in Sachen der Kunst und Literatur in einem Uebergangsstadium befinden; so hat gerade in dieser Rücksicht die Zensur ein Amt zu verwalten, wo Ungerech­tig­keiten und Unbesonnenheiten im Nu verübt sind. Durch die Unterdrückung an der einen Stelle bricht der Uebermuth an der andern hervor, und weil die Zensur nur mechanisch gehandhabt werden kann, so zeigen sich in ihr Breschen genug, durch wel­che die immer lauernde und wühlende Belagerungsarmee der Literatur sich, den Moment rasch benutzend, Bahn bricht. Der Staat verlangt von den Schriftstellern, daß sie sich nur in dem unmittelbaren Interesse des Staates fühlen und begreifen sollen. Welch eine Zumuthung in einer Zeit, wo sich die Regierungen doch gestehen müssen, daß eine gewaltsame Unterdrückung der Opposition unmöglich ist und die Lösung der Wider­sprüche erst möglich werden kann, wenn sich die Regierung 315 mit ihnen ausgleicht, wenn sie sich zu sogenannten Kon­zessionen versteht, und die allmälige Verjährung der Lei­den­schaften glücklich zu benutzen weiß! Warum soll nun die Literatur, die gerade die beste Vermittlerin mit den zwiespal­tigen Interessen seyn könnte, nur so denken und schreiben, wie es die Regierung verlangt! Wie kann ein Autor, der kein Beam­ter ist und bei jetzigen Verhältnissen niemals die Aussicht hat, einer zu werden, sich so in den Mittelpunkt des Staates verset­zen, daß er, das wogende Meer der Meinungen und Zeitideen verlassend, nur aus ihm herausschriebe. Was die Ungerech­tig­keit dieser Forderung steigert, sind die Antezedentien der Lite­ratur. Noch nie hat man an sie diese Zumuthungen gemacht, wie jezt. Die Freiheit, die man jezt nicht mehr gestatten will, war früher da; was jezt nicht mehr gesagt werden soll, ist alles schon einmal gesagt worden; die Schriftsteller fühlen sich der vergan­genen Literatur verwandter, als dem heutigen Staate, sie denken nicht an das, was sie sehen, sondern an das, was sie gehört haben.

Ich will nicht sagen, daß der Staat mit gleichgültigen Blicken abwarten solle, wohin die Literatur in ihrer jetzigen Verwirrung hinaus will. Wenn unsere Schrift überall darauf gerichtet war, zu zeigen, daß die meisten Dinge in der Fluxation begriffen waren, so mußten wir dem Staate doch ein Recht einräumen, seine Kräfte alle zusammenzunehmen, um in dieser Fluth nicht fortge­schwemmt zu werden. Allein 316 der Staat soll noch mehr. Er soll nicht bloß das Bestreben zeigen, sich dadurch zu erhalten, daß er den eisernen Anker seines unbeweglichen Schwerpunktes auswirft, sondern er soll auch in dem Grade zugänglich seyn, als nöthig ist, um die ihn umgebenden Widersprüche in sein Inter­esse aufzusaugen und diese Widersprüche selbst zu veranlassen, sich im Staate zu lösen und zu beruhigen. Das Machtwort, das Quos ego der Zensur wirkt nur abstoßend und nährt den Wider­spruch. Das ist höchste Staatsweisheit, in heutigen Verhältnissen den Widerspruch zur Erkenntniß seiner bodenlosen Stellung zu bringen, den guten Keim in ihm von der flüchtigen Schale zu trennen und in die Gärten der positiven Interessen selber zu ver­pflanzen. Die französische Politik Ludwig Philipps ist auch darin so tief und fein, daß sie gerade die am meisten gährende und dem Staat abgewandte Literatur, die heimische, mit den öffentlichen Thatsachen zu versöhnen sucht. Leider liegt es im Charakter der Franzosen, in ihrer Bestechlichkeit und ihrer Geld­gier, daß ihre Aussöhnung nicht selten skandalös ist und der äußerlich so glänzenden, innerlich so schwachen Literatur keine Ehre macht. Allein doch ist es sichtbar, wie Louis Philipp gerade jener extremen Meinungen, die aus dem Saint Simonis­mus mit so viel träumerisch sophistischen Philosophemen hervor­gegangen sind, sich zu bemächtigen sucht, und wenn es mit Vermeidung des Doktrinalismus möglich ist, sich aus 317 ihnen eine Umgebung schafft, welche nicht bloß den Glanz des Wortes, sondern auch die neueste Politur der Tagesphilosophie hat und die, wie bei Michel Chevalier gerade aus dem Widerspruch hervorgehend, aus der Theorie des modernen Sozia­lismus, dem einseitigen Parteigewirre des Tags und der liberalen Phrase mit Stolz und Würde gegenübersteht. So sollte es weiser Politik überall möglich werden, sich der bedenklichen Richtun­gen in der Literatur zu bemächtigen, und wahrlich, es wird auch Nationen geben, die dabei uneigennütziger denken, als die Fran­zosen und keine Pensionen verlangen, sondern nur ewige, ihren Prinzipien angemessene Reformen und – Duldung!

Es muß eine Zensur im höhern Sinne des Wortes geben, eine Superiorität des Staates über die Presse; denn wo will man anders das Strafrecht des Staates herleiten, wenn es sich um Preßvergehen handelt? Die Zensur soll eben darin bestehen, daß sich der Staat seines innigen Zusammenhangs mit der Wissen­schaft und Ideenwelt bewußt wird, daß er nicht nur bereit ist, jede Eroberung im Reiche der Gedanken, jede gereifte Frucht auf dem Felde selbst der vom Wind bewegten Debatte anzu­er­kennen und sich zu eigen machen, sondern auch Eroberungen dieser Art zu unterstützen und die Reife in der Saat wenigstens durch Milde und Sonnenschein zu befördern. Wenn mit dieser höhern Zensur die Preßfreiheit 318 als Modalität für die unmittelbare Produktion verbunden ist, dann wird der Staat noch Mittel genug haben, ordnend, leitend, und selbst beschränkend auf die Presse einzuwirken, ohne gewaltsam in die Produktionen einzugreifen. Mit einem Worte, die Zensur sey das Mittelbare, die Preßfreiheit das Unmittelbare!

Den formellen Standpunkt mit dem materiellen vertauschend, sehen wir im Gebiet der Wissenschaften stets zwei Gegner mit einander im Kampf liegen, die Empirie und die Spekulation. Jene ist bald Sammlerfleiß auf der untersten Stufe, bald auf höherer scharfsinnige Kombination einzelner, zerstreuter That­sachen. Diese kömmt aus einem ganzen Stück und wird den Strom der Thatsachen hinauf oft nur von der Phantasie als Ruder weiter geführt. Die Erfahrung verknüpft einzelne Wahrnehmun­gen zu Resultaten, denen sie den Stempel des Gesetzes auf­drückt. Die Spekulation trachtet nach derselben Nothwendigkeit ihrer Behauptungen und nimmt dafür zunächst die Anerkennung ihrer Prinzipien in Anspruch.

Die Erfahrung und Spekulation bezeichnen beide eine ver­schiedene Weise, den Stoff der Wissenschaften zu bewäl­tigen. Sie drücken sogar eine Parteiung aus, wie sie fast im Ge­biete jeder Wissenschaft sich gegenübersteht, wo die einen nur glau­ben, was sie sehen, und die andern sagen, selig wären die, wel­che, noch ehe sie sahen, schon glaubten. So gingen auch beide Methoden in der Entwicklung der Wissenschaften immer 319parallel, nicht aber auch immer Hand in Hand. Die eine Methode verwarf die andere. Wenn auch der Inhalt der For­schungen derselbe war, so entfremdete ihn die entgegengesezte Form. Der eine vermißt sich, die Welt schaffen zu wollen, bloß durch seinen Willen und durch philosophische Formeln; der andere verlangt zu demselben Zweck einige Millionen Sonnen­stäub­chen als Baumaterial. Sie glauben dasselbe leisten zu kön­nen, nur auf verschiedene Art und verfolgen sich nicht selten, wie zwei Handwerker, die nach Kundschaft streben.

Die Empirie ist jünger als die Spekulation; denn die Phantasie hat früher die Materie zu erklären gesucht, als das physikalische Experiment. Der einfachsten empirischen Methode des Unter­richts ging die Dichtung voran. Die ersten Spuren von Philosophie sind spekulativer, nicht empirischer Art. Man muß im Gebiet der Empirie noch unterscheiden, erstens das historische Wissen, welches die Kritik bedingt, und zweitens die spekulative Empirie, welche den Uebergang zu einer Versöhnung beider Methoden bildet und ihr bezeichnendes Merkmal darin hat, daß sie vor dem Denkprozesse erst die Fähigkeit zum Denken, vor der Beute erst die Fangarme untersucht. Das historische Wissen ist die erste Form, in welcher das spezielle Wesen der Gelehrsamkeit auftrat. Ein Gelehrter ist zunächst nur der, welcher in irgend einer Wissenschaft den ganzen Vorrath von Fragen, auf 320 die es darin ankommt, und sodann die voll­ständige Kenntniß aller der darauf gegebenen Antworten besizt. Diese Art von Gelehrsamkeit konnte erst in einer Zeit möglich werden, wo sich eine Vollständigkeit in dem literarischen Apparate irgend einer Wissenschaft erreichen ließ. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst war diese unmöglich, und es galt damals überhaupt für die Aufgabe eines Gelehrten, daß er durch Spekulation sein kleines Feld Empirie zu ergänzen und auszudehnen suchte. So verbanden die Scholastiker mit ihrer Anhänglichkeit an die Ueberlieferung doch eine unruhig schwärmende Grübelei, für welche die spätere Zeit die Bücher substituirte. Denn nach dem Buchdruck ward es mit der Zeit möglich, die Gelehrsamkeit in die Vollständigkeit zu setzen und den für weise zu halten, der alles wußte. Die Gelehrsamkeit des sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderts bestand größtentheils in einer oft Staunen erregenden Stoffanhäufung, welche bei dem einen eine rohe und ungeordnete Masse blieb, bei dem andern durch die Eleganz damaliger Bildung, durch lateinischen Styl und passende Art zu zitiren gelichtet und zum Genuß geläutert wurde. Diese rohste Art der Empirie, welche sich in dem historischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Gebiete ausbreitete, steht auf der untersten Stufe. Eine zweite war schon die Schematisirung des weitläufigen Stoffes. Ein Verfahren, das leicht in Spekulation übergehen konnte, indem 321 nämlich der Erfahrungsstoff als etwas sich von selbst Verstehendes und als Erfahrung längst Bewiesenes, in einige logische Klammern gezwängt wurde, die bald anfingen (man denke nur an die Philosophie von Wolf!) für sich betrachtet und von der Spekulation belebt zu werden. Seither trennte sich die gelehrte Thätigkeit in die beiden Arme der Empirie und Spekulation. Bloßes Wissen der Ueberlieferung hörte bald auf, für Gelehrsamkeit zu gelten, z. B. in der klassischen Alterthumskunde mußten solche Gelehrte, wie Fabrici­us, deren ganzes Wissen Gedächtnißsache und Sammlerfleiß war, dem Scharfsinn eines Bentley weichen.

Der Flor der Empirie begann mit den Naturwissenschaften zunächst wohl am eifrigsten im Interesse der Heilkunde. Die Hol­länder, deren philologische Bildung noch die Schulen beherrschte, fingen auch die Universitäten an durch ihre Entdeckungen, namentlich in der Physiologie, zu beherrschen. Das Ver­grö­ßerungsglas zeigte die noch bisher verborgen gewesene Seite der stetigen Naturbildung; das anatomische Skalpett zerlegte den Menschen in seine feinsten Theile. Die Lehre von den Nerven bekam eine neue Gestalt. Noch war auch der Zwiespalt Spekulation und Empirie nicht so weit ausgedehnt, wie späterhin. Die Werke des Kartesius z. B. beginnen mit seinem unsterblichen Satze: ich denke, folglich bin ich, und den tiefen, mathematisch-strikten Folgerungen, 322 die sich aus demselben für die Metaphysik ergeben, und hören mit sehr fleißigen Untersuchungen über Statik und Meteorik auf. Die eigentliche Empirie, die hauptsächlich durch Newton begründet ist, gab diese Verbindung der Physik mit der Metaphysik gänzlich Preis und trachtete nach eignen aus der Natur entlehnten, aber auch auf diese nur anwendbaren Erfahrungssätzen über den Fall, über den Stoß, über den Ton und die Brechung und Schnelligkeit des Lichtes. Von jezt an bekam die Physik eine andere Gestalt, als sie noch in den scholastischen Encyklopädien der Schule hatte. Was hier noch immer behauptet wurde, war dort längst widerlegt. Eine Menge sinniger Erfindungen kamen dem Entdeckungs­geiste der Empirie zu Hilfe, berechnete unzufällige Experimente ergaben neue Gesetze und diese wieder neue Folgerungen für das Allgemeine. Auf diesem Wege ist die Empirie bis auf die neue­ste Zeit fortgeschritten und hat namentlich den Naturwissenschaften diese imposante Geltung verschafft, die sie sich noch um so mehr zu erhalten wußten, als sie für die praktischen Bedürfnisse unserer Existenz eine Menge der sinnreichsten Erleichterungen und Beförderungen abwarfen. Gelehrte, wie Oersted, Berzelius u. A., vereinigen allen Glanz in sich, den eine europäische Berühmtheit widerstrahlen kann. Sie stehen in unserem Zeitalter so groß da, wie die Abälard, die Erasmus und die Melanchthon in dem ihrigen.

323 Neben diesen Fortschritten der Erfahrung und einer auf bewiesene Wahrnehmungen in den einzelnen Wissenschaften selbst zu begründen versuchten Systematik lief die Spekulation mit ungleicher Bewegung einher. Bald war sie der Empirie voraus, bald hinter ihr zurück. Bald verrieth sie etwas durch feine geist­reiche Ahnung, bald mußte sie von der andern Methode Be­lehrung und Berichtigung annehmen. Sie schuf die Systeme im Grundriß, sie baute das Gerüst auf und überließ es dann der Erfahrung, die Fächer auszubauen. Sie versuchte mit logischen und mathematischen Formeln ebenso die Bildung des Embryo im Ei zu beschreiben, wie die Empirie, die die schwierigsten Versuche nicht scheut, um ihren Augen zu trauen. Welche Philosophie sich in dieser Rücksicht keine Wunder zutraute, die verließ den Raum und die Zeit und hielt sich mehr an die moralische Weltordnung. Jene Männer sind groß, wenn es Etwas durch die Lupe zu betrachten gibt, eine Blüthenkapsel, in ihre linneischen oder jüssieu’schen Merkmale zu zerlegen, wenn es sich um die Bestandtheile eines auf dem Felde gefundenen Steines handelt. Diese sind es, wenn man über die Möglichkeit frägt, wie etwas aus Nichts geschaffen werden konnte, wenn man über die Weltseele und die Offenbarung spricht. Jene verstehen es, in dunkeln Perioden Namen und Jahreszahlen anzugeben, die Reihenfolge türkischer Herrscher nebst den Jahren ihrer Regierung u. s. w. Diese 324 wissen ihren Charakter zu schildern und die Sitten der Zeit, in der sie lebten, wissen die Epochen mit einander zu vergleichen und die Fingerzeige einer göttlichen Weltordnung in dieser oder jener Erscheinung nachzuweisen. Jene nennen uns, wenn wir des Nachts mit ihnen wandeln, jeden Stern am Himmel, wissen uns seine Bahn zu beschreiben, seine Größe und seine Entfernung von uns und der Sonne anzugeben, diese werden erst beredt, wenn es sich um die Geheimnisse des menschlichen Gemüthes handelt, wenn man nach der besten Methode der Erziehung frägt und über die Neigungen der Altersstufen und der Stände belehrt seyn will. Dort erfährt man, welche Mittel den Staaten zu Gebote stehen, was sie in Krieg und Marine leisten können, wie viel Schulden sie zu decken, wie viel Einnahmen und Ausgaben sie gegen einander zu verrechnen haben; hier dagegen, welches der Geist ihrer Regierung und Geschichte ist, welche Tendenzen von ihren Staatsmännern befolgt werden, welche Stellung sie in der Gesammtheit der europäischen Politik einnehmen. So lassen sich von dem selbst­denkenden und selbstforschenden Gelehrten an, der die Wissenschaften bereichert, bis zu dem, nur mit dem Hausbedarf einer flüchtigen Bildung ausgestatteten Laien, die Unterschiede von Empirie und Spekulation im Großen und Kleinen verfolgen.

Beide theilen Vorzüge und Fehler; durch vieles äußerliches Tasten und Fühlen verlernt die Empirie 325 das innere Begreifen; vor den Massen von Lichtmaterie, die in das Auge der Spekulation stürzen, wird sie nicht selten blind. Die Empirie zögert, Schlüsse zu machen, wo doch Ober- und Untersatz gegeben sind. Die Spekulation macht auch da welche, wo der zweite Satz nur das Echo des ersten ist. Die Empirie macht Alles zu einer Sache der Untersuchung, selbst dasjenige, was unmittelbar gegeben und an und für sich gewiß ist. Die Spekulation will selbst den Zufall in die Form der Nothwendigkeit zwingen und ohne Gott zu seyn, aus Begriffen Wesen schaffen. Empirie und Spekulation, beide sind trotzig, beide glauben keiner Ergänzung bedürfend zu seyn. Jene verliert sich oft in die Irrgänge des Skeptizismus, diese in die Irrgänge des Aberglaubens. Gleich an Tugenden und Fehlern würden sie immer das Beste thun, wenn sie sich unterstüzten und von einander Belehrung annehmen. Aeußerlich freilich geht dies nicht.

Ein Versuch der Annäherung war die englische Philosophie des vorigen Jahrhunderts und die sogenannte kritische in Deutsch­land. Um den Inhalt der Empirie in die Philosophie einzuführen, entlehnte man der ersten zuvörderst die Form. Ehe man dachte, untersuchte man die Werkzeuge des Denkens, man polirte den Rost von der Konzeption und dem Vermögen, Begriffe zu bilden, ab, und suchte eine Theorie des Erkennens aufzustellen, welche allerdings darauf 326 hinauskam, daß wir nur mangelhaft und in der Bedingung von Zeit und Raum erkennen. Diese Philosophie bewegte sich auf die Länge immer nur in einem und demselben Zirkel, in dem Erkennen des Erkennens; sie machte die Einleitung zur Philosophie, zur Wissenschaft selbst, sie blieb in ihrer Einseitigkeit, wie ein unvollendeter Bau, den die Arbeiter und die Mittel verlassen haben, stehen. Kant ist eine solche Ruine, die schon Ruine war, ehe sie fertig gebaut wurde; großartig, wie der Dom von Cöln, sieht man doch in seinen innern Räumen, die nicht geschlossen sind, das Tageslicht durch das Dach fallen. Was er zur Begründung einer bessern Religions-, Rechts- und Naturlehre gethan hat, folgerte er aus den praktisch-moralischen Bedürfnissen. Die Philosophie selbst, der reine Ge­danke blieb bei ihm in der Einleitung stecken; der Anlauf ist da, aber das Ziel so unermeßlich weit entlegen, daß er aufgeben muß­te, es auf die Art, wie die Kritik der reinen Vernunft zu wollen schien, zu erreichen. So war denn auch die Folge, daß die Philosophie nach ihm wieder zwei verschiedene Wege einschlug, einen logisch-empirischen und einen logisch-spekula­tiven Weg, wie wir unten dies näher bezeichnen wollen.

In den Naturwissenschaften überwog die Empirie und wurde namentlich erst dann von der Spekulation bestritten, wenn sie sich dem Menschen näherte in der Arzneikunde. Die großartigsten Entdeckungen haben 327 im Gebiete der Physik und Che­mie den Fleiß und Scharfsinn der Forscher gekrönt; neue Gesetze sind aufgefunden, ja sogar neue Urstoffe, die sich nicht mehr theilen ließen. Die alte Lehre von den vier Elementen ist eine mythologische Fabel geworden. Elemente nennt der Naturkundige nur noch das, was im Schmelztiegel der Chemie den äußersten Potenzen der Hitze und Neutralisation widersteht und als untheilbar zurückbleibt. In der Physik und Chemie hat man den Weg der Wahrnehmung jeder andern Methode vorziehen müssen, da der Ausbau eines Systems bei der täglich sich mehrenden Masse neuer Entdeckungen unmöglich wurde. Das theoretische Bedürfniß mußte sich begnügen, daß ihr die Praxis zugestand, die gefundenen Wahrheiten in mathematischen Formeln auszudrücken und festzustellen. Die Mathematik ist das theoretische Regulativ der Empirie geworden. Eine andere Ordnung gestatten die Naturforscher nicht, am wenigsten eine metaphysische, wo die Formeln früher da seyn sollen, als ihre faktischen Beweise im Experiment. Es läuft dabei freilich viel Hylozoismus, viel massive Empirie unter.

Wir haben schon oben in dem Kapitel „der Stein der Weisen“ die Bemerkung gemacht, wie außerordentlich die Wissenschaften in Spannung gesezt worden sind durch die praktischen Bedürfnisse, welche in der menschlichen Existenz lagen. Die Ver­einfachungsmethoden der Gewerbe sind die Folge der außerordentlichen Fortschritte, 328 welche in neuerer Zeit die Chemie gemacht hat. Liest man die Werke eines Berzelius, so ergreift uns Erstaunen über die Herrschaft, welche die Wissenschaft über die Natur hat gewinnen können. Alle Handgriffe der Schöpfung scheinen dem Demiurgos abgelernt. Die Gattungen in der Natur fließen in einander über, was kaum noch das Eine war, ist schnell das Andere geworden. Die Luft, welche uns auf dem Felde Meteorsteine herabwirft, kann ebenso im chemischen Apparat behandelt werden, so daß sie einen sichtbaren Niederschlag zurückläßt, ja schon über die Sphäre des Unorganischen hinaus soll es möglich werden, Leben zu erzeugen, so daß wenigstens von Seite der Thierwelt jenes Märchen der Alchymie vom Homunkulus sich verwirklichen zu wollen scheint (die Crossische Thiererzeugung).

Es ist, als hätte die Zeit in der That nun jene Kraft gefunden, die zwischen der Materie und dem Gedanken in der Mitte liegt und den Uebergang aus dem großen Worte des Schöpfers: „es werde,“ in die faktische Sichtbarkeit des Unermeßlichen: „es ward,“ bildet. Der Elektromagnetismus ist dieses geheimnißvol­le Leben, welches als Galvanismus selbst in das Todte kömmt, wenn man nur versteht, den schlummernden Pol durch den ihm entsprechenden Gegenpol zu wecken. Der Dampf ist die Seele der Mechanik geworden, aber etwas unendlich Geheimnißvolleres die der Physik. Sollte eine Spekulation 329 erforderlich seyn, um die zerstreuten Erfahrungen der Physik zu einem höhern Ziele zu führen, dann müßte sie an die Elektrizität anknüpfen, in welcher es deutlich genug ausgesprochen liegt, daß schon die Beziehungen der Dinge unter einander Leben wirken und das Geheimniß aus der Materie die eingeschlossenen Funken der Schöpferkraft zu schlagen, nur in der Auffindung der Analogie liegt, in der Auffindung entsprechender Stoffe, welche eine Frik­tion zulassen. Die meisten der großen Resultate, welche der neuern Physik geglückt sind, machten sich durch die Vermittlung des elektromagnetischen Prozesses. Noch sind alle Werkstätten der Naturforschung in voller Thätigkeit, um die höchsten Grade dieser Kraft auszumessen und wir bemerkten schon früher, daß es vielleicht noch gelingt, die Wirkungen des Dampfes durch die der Polarität zu überflügeln.

Wenn die neuere Chemie und Physik mehr ein sonder Gut der Wissenschaft ist, so ließen einige andere Naturwissenschaften zu, daß das größere Publikum an ihnen Antheil nahm und sie dadurch fast in die Mode gebracht sind. Welch eine Anregung ist nicht allen Gebildeten durch die Verdienste Cuviers gegeben worden! Mit wie vielem Eifer verfolgte man nicht die interessanten Untersuchungen über die Schöpfung, welche die Geo­logie auch in einer den Laien verständlichen Sprache führte! Die Betrachtungen über die Urwelt kamen dem so sehr auf die Historie gerichteten Sinne unserer 330 Zeit auf halbem Wege entgegen. Die Geschichte der Erde wurde die Einleitung zur Ge­schichte des Menschen. Cuvier hat nicht nur den Wissenstrieb, sondern auch die Phantasie seiner Zeitgenossen zu beschäftigen gewußt. Er fügt ihnen die ungestalten Ueberreste einer vergangenen Thierwelt zu konsequenten Gebilden zusammen und schuf eine Welt, die, wenn sie auch fabelhaft ist, darum gerade unsrer Einbildungskraft so viele Nahrung gab. Wer bürgt uns, daß die Thiere, welche Cuvier zusammensezte, richtig sind, daß dieser Kopf auch wirklich dem Mastodon angehört, jene Rippe dem zwischen Fisch und Vierfuß die Mitte haltenden Urweltsamphibium! Aber wir haben diese problematische Mosaik gläubig hin­genommen, weil sie so gräulich interessant ist. Ich sage hier nur, daß dieser Theil der Zoologie eine Modesache geworden ist, ohne die großen wissenschaftlichen Resultate in Zweifel zu ziehen, welche sich aus den Urweltsknochen für den Verlauf der zoologischen Naturbildung ergeben. Auch die Erdbildung beschäftigt viel die allgemeine Theilnahme; es wundert mich, daß noch kein Romantiker darauf gekommen ist, An­sichten der Urwelt zur Unterhaltung zu schreiben, etwa die Liebesgeschichte zweier Geister auf dem ersten Erdniederschlage oder philosophische Betrachtungen eines jener gewaltigen Qua­drupeden, die sich durch die ungeheuern Schilfwälder der Urwelt schlichen und die, da die Menschen noch nicht lebten, nach Cuvier 331 weit klüger und verständiger gewesen seyn sollen, als jezt noch der Elephant. Und der Elephant war doch nur ein Kolibri der Urwelt.

Eine hier einschlagende Wissenschaft, welche den ganzen Verlauf des Ganges zwischen Empirie und Spekulation durchgemacht hat, ist die Medizin. Man braucht nur auf den Zustand zu sehen, in welchem sich diese Wissenschaften befinden und wird sich bald von der Feindseligkeit der Prinzipien überzeugt haben, die sich auf diesem Gebiete wechselseitig bestritten. Jedes neue philosophische System hat auch auf die Medizin reagirt. Galt es eine Heilung der kranken Geister, so konnte man gewiß seyn, daß auch immer eine Methode zur Heilung der kran­ken Leiber folgen würde. Was ist Krankheit? Sie muß ihre Ursachen haben, sie muß etwas Anomales seyn, da der Tod in seiner Normalgestalt nur die Entkräftung ist. Ist die Verdauung gehindert; sind die Nerven belegt; ist das Blut entzündet? Da hat man die Hauptfragen, welche die verschiedenen Systeme der Medizin an den leidenden Körper richten. Der eine wählt Mittel zum Depri­miren, der andere zum Steigern. Der eine sagt: Krank­heit ist ein Ueberfluß und entzieht; der andere: Krankheit ist ein Mangel auf dieser Seite und steigert und potenzirt auf der andern. Ja es gibt sogar Aerzte, welche die physischen Krankheiten moralisch heilen wollen und statt Abführungen und Brechmittel Gebete und Bußübungen 332 verschreiben. Die philosophischen Systeme, die Stimmungen des Zeitgeistes, der Aberglaube, die Mystik, alles hat auf die Lehre vom Kranken und zu heilenden Menschen Einfluß gehabt.

Wer ist dabei mehr zu bedauern, als der Patient? Er stöhnt und ächzt, der Arzt wird an sein Lager gerufen, dieser freut sich der Gelegenheit, von einem Vorschlage, den er so eben in einem Buche gelesen, die Anwendung zu machen; das Leiden wird die willkommene Gelegenheit zu einem Experimente. Ein anderer hat gute anatomische Studien gemacht, er würde die Todten, wenn sie krank würden, sehr gut heilen können; wie aber die Lebenden? So ist die Medizin eine Kunst, die wir am meisten verwünschen und die wir doch am meisten bedürfen. Ohnehin sind die Aerzte diejenige gelehrte Klasse, welche vielleicht am eifersüchtigsten über ihre so zweifelhaften Kenntnisse wacht. In keinem Fach vermessen sich die Schüler mit so gräßlichen Schwüren auf die Lehren ihrer Meister, als in der Medizin. Was sie in den Schulen gelernt haben, scheint ihnen meistentheils unwiderleglich; eine Ueberzeugung, die sie einmal gewannen, können sie, selbst wenn hundert Fälle dagegen zeugen, nie wieder aufgeben. Ein Mittel, das einmal half, wenden sie immer wieder an, wenn es später auch zehnmal fehlschlug. Die Aerzte fühlen allerdings, daß sie eine traurige Figur spielen, wenn sie selbst an ihrem Erlernten zu zweifeln anfangen. 333 Darum halten sie keck an dem, wofür sie einmal auf der Schule das Lehrgeld bezahlt haben und geben somit dem Nachen Charons immer noch Ueberfracht zu seinem gewöhnlichen Passagiergute. Auch ist es ihrer Gewinnsucht ganz angemessen, daß sie sich weit weniger um die Gesundheit, als die Krankheit bekümmern. Es gibt Bücher genug, welche lehren, wie man die Krankheit heilen kann, und nur wenige, welche darüber sprechen, wie man sich seine Gesundheit erhält. Die diätetischen Handbücher sind es nicht, welche diesen Mangel ersetzen, sondern es müßte Schriften geben, welche gerade wie die Heilmittel für die einzelnen Krankheiten aufgeführt werden, so auch die Schutzmittel dagegen enthielten. Was nützen die Vorschriften: sey mäßig, trinke Wasser, schlafe nicht zu viel und zu wenig! wenn man nicht weiß, wodurch man gerade einer Lungenentzündung entgeht; was man meiden muß, wenn man Neigung zu Nervenleiden hat; was man zu essen, zu trinken, zu thun und zu lassen hat, wenn man sich vor der Schwindsucht fürchtet? Wenn ich nun hier hinzufüge, daß die Aerzte Kundschaft haben wollen, so werden sie mich verdammen und auch andere werden sagen: der Vorwurf ist platt. Allein als Korporation und der ganzen Menschheit gegenüber sind die Aerzte immer uneigennützig und einzig nur auf deren Wohl bedacht; allein im Einzelnen, jeder für sich genommen, mit seinem Wagen und seinen beiden Pferden, und namentlich mit 334 seiner nicht sehr ausgedehnten Kundschaft, in einer großen Stadt, die mit Aerzten besezt ist, oder auf dem Lande, wo die Leute die Gewohnheit haben, gesund zu seyn, da nehmen sie sich anders, und, wer gesteht es nicht, oft weit gehässiger aus.

Man kann sagen, daß ich hier Sitten und nicht Wissenschaft schildere; allein wie sehr diese durch jene bedingt wird, erkennt man auch daraus, daß es kein geringer Fehler der medizinischen Systematik ist, wenn sie für die Krankheiten aller Länderstriche ein und dieselbe Behandlung vorschreibt. Das Klima und die Lebensart sind meist immer der Sitz der Krankheiten und ihre Behandlung sollte darnach sich richten. Man hat gut lächeln, wenn man hört, daß in Italien Alles nach der Methode des Gegendrucks geheilt wird; allein beim Italiener ist die Krankheit fast immer Ueberreizung und seine Natur und Gewohnheit nicht von der Art, daß bloß die Entziehung und Depression ihn wieder ins Gleichgewicht bringt, sondern der Ueberreiz auf der einen Seite erfordert fast einen eben so großen auf der andern, eine Heilungsmethode, die für Deutschland und England, auf die Länder der nüchternen Reflexion nicht paßt. Ja selbst die Blutreinigungsmethode der Franzosen scheint mir vollkommen für diese Nation angemessen; die Ueberreizung entsteht mehr aus der Sinnlichkeit bei den Italienern, die Entzündung aber bei den Franzosen aus einem Temperament, das mehr nach Außen als nach Innen 335 lebt und jede innerliche Regung gleich äußerlich zu bethätigen sucht. Der Italiener will mit dem Zügel durchgehn; da nüzt es nur, wenn man den Zügel scharf anzieht und den Kranken gleichsam zwingt, seinen harten Mund auf dem Gebiß zu brechen. Der Franzose aber ist ein Luftball, den, wenn er stark angefüllt ist, unsere Seile nicht zurückhalten, sondern bei dem man nur nöthig hat, mit der Nadel in den Ball zu stechen, wo das ausströmende Gas ihn schon hier unten fesseln und auf den Normalstand beschränken wird. Um dies weiter auszuführen, muß man weniger Patient, wie ich, und mehr Arzt seyn.

Von Frankreich aus wird durch einen alten Mann, Namens Hahnemann, jezt ein neues medizinisches System verbreitet, das sehr unschädlicher Natur seyn soll, und es mehr, wo es etwas versieht, durch Unterlassen als Zuvielthun verschuldet. Herr Hahnemann, ein Deutscher, hat seine Lehren schon in seinem Vaterlande zu befestigen gewußt; er rechnete aber durch seine Ansiedelung in Paris darauf, auch die übrige gebildete Welt für sein System zu gewinnen. Es besteht dasselbe in der konsequenten Durchführung des Satzes, daß Verwandtes durch Verwandtes geheilt wird, das heißt: daß Frost durch Schnee, daß das Fieber, welches wir durch China erzeugen können, auch durch China wieder geheilt werde. Der Naturphilosophie widerspricht ein solcher Satz keinesweges, 336 denn die organische Entwicklung macht sich selten durch Chemie, durch Vermischung heterogener Bestandtheile, sondern immer nur durch die Wirkung des Gleichartigen auf das Gleichartige, durch Assimilation. Zeigt das Quecksilber nicht deutlich, daß es ebenfalls dieselben Schäden verursacht, für deren Heilung es mit so vielem Glück angewandt wird? Können die Aerzte bei einem durch Quecksilber Geheilten bestimmen, ob sekundäre Zufälle oder Nachwehen die Folge des Heilmittels, oder die Folge der noch nicht getilgten Krankheit sind? Gewiß würde man sich diesem Satze, daß nur das Gleiche auf Gleiches wirkt und namentlich auf eine dem Organismus zuträgliche Art wirkt, so daß die hier erzeugte Heilung keine anderswo erzeugte Krankheit zur Folge hat, sich leichter bequemen, wenn die Homöopathie nicht auch zugleich den Grundsatz hätte, ihre Mittel im Zustande der Verdünnung zu geben. Das alltägliche Gefühl widerstrebt dieser Maxime, welche freilich darauf gebaut ist, daß ja eine zu starke Portion gerade die Krankheit befördern müßte, welche durch die kleine nur in ihrem Verlaufe berührt, gestört und auf den naturgemäßen Organismus wieder zurückgeführt werden soll. Die Heilkraft des menschlichen Körpers ist im Grunde das einzige Mittel, welches kräftig wirkt und es kommt nur darauf an, diese Heilkraft in Thätigkeit zu setzen, ihr eine Anregung zu geben und sie da zu wecken, wo sie schlummert oder übertäubt ist.

337 So sollen denn auch jedenfalls die kleinen Portionen der Homöopathie nur dazu dienen, den Krankheiten in ihrem Lau­fe zu begegnen, sie zwar nicht mit mächtiger Gewalt zurückzuschleudern, wohl aber so lange zu hemmen, das heißt: nur einfach zu bestimmen, zu modifiziren, bis die schlummernde Heilkraft die Krankheit eingeholt und überflügelt hat. So haben also die Heilmittel der Homöopathie auch keine positive Kraft, sondern nur eine negative, indem sie selbst nichts wirken, als eine noch stärkere und mächtigere Wirkung, nämlich die Reaktion der Natur. Ist es im Moralischen nicht ganz dieselbe Erscheinung, die man in der Erziehung anwenden könnte, wenn nicht die Handlungen der Menschen auf Ueberzeugung, Lehre und Urtheil gegründet seyn sollten! Mag es einen unverwüstlichen Trieb zum Bösen geben, es gibt aber auch, wenigstens in der gesitteten Welt, einen unverwüstlichen Trieb zum Guten. Braucht man in der Erziehung mehr, als dem Laster das Bild seiner selbst vorzuhalten, um es zur Tugend zurückzuführen? Ist das böse Beispiel nicht oft vom Bösen abschreckender, als das Gute? Und bedarf es bei natürlich unverdorbenen Menschen wohl oft mehr, um sie zum Guten zurückzuführen, als ihnen die Konsequenzen des Bösen zu zeigen; und weil gerade die Homöopathie somit einzig und allein nur auf die Heilkraft der Natur gegründet ist, so mußte sie diese auch auf jede Art zu heben und zu beleben suchen; sie 338 mußte sie von den Einflüssen einer unmäßigen Lebensweise befreien, mußte Speis und Trank den Gesetzen der strengsten Diätetik unterwerfen und alles zu verhüten suchen, was die heilende Nähe der Natur verschleiert und zurückhält. Diese homöopathische Diät aber ist die einzige Seite des Systems, die bis jezt erst allein nur Glauben gefunden hat. Diese rühmt man, als wenn die Homöopathie einzig und allein auf den frivolen Satz begründet wäre, daß man sich als Kranker mäßig halten müsse! Es ist eben so, als wenn man an einem philosophischen Systeme bloß die schöne Konsequenz oder an dem Christenthume die schöne Moral als etwas so Neues und Treffliches zu schätzen erbötig ist! Was aus der Homöopathie werden wird, mag die Zukunft wissen. Ihr Schicksal wird wahrscheinlich von irgend einer neuauftauchenden Krankheit abhängen, welche sie vielleicht nur allein zu heilen im Stande wäre. Leider hat sie sich an der geheimnißvollen Cholera nicht be­währen können, denn dies ist gerade eine Krankheit, die in ihrem heftigen krampfhaften Charakter ganz mit dem gewaltsamen Charakter der herrschenden Heilmittellehre zusammenzuhängen scheint, wiewohl heftige Medikamente im Stande sind, einen Ueberreiz zu erzeugen, der sich kaum wieder bewältigen läßt.

Nach diesen fragmentarischen und von einem Laien kommenden Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand der Natur­wissenschaften, steigen wir zum 339 geistigen Gebiete em­por, zu dem historischen Fache. Historie ist in ihrem weitesten Sinne zu nehmen, als Inbegriff aller positiven, die moralischen Interessen des Menschen betreffenden Wissenschaften. Die Rechts- und Staatslehre mit ihren viel verzweigten Nebenfächern gehört hier eben so her, wie die Geschichte selbst und, was die Geschichte betrifft, auch alles, was in den höhern, spekulativen Wissenschaften, z. B. der Theologie historisch-philologisches Ma­terial ist.

In diesem Gebiete haben sich nun Empirie und Spekulation nicht weniger bestritten, wie im vorigen. Dem positiven Rechte stellte sich ein Naturrecht gegenüber; an die Stelle einer kritischen Behandlung der Geschichte trat beim einen politisch-pragmatische, beim andern eine philosophisch-konstruktive. Ja der ungeheuere Stoff, den die Jahrhunderte aufgestapelt haben und den jeder Tag mit seinen regellosen Erfahrungen aufs Neue vermehrt, erheischte eine Vereinfachung, eine Trennung der Haupt- von den Nebensachen, Licht und Ordnung. War in der Naturwissenschaft das Experiment und die mathematische Formel der Regulator ihrer wüsten und unabsehbaren Mannigfaltigkeit, so ist es im historischen Gebiete die Kritik. Sie trennte die Spreu vom Waizen, sie vertheilte Licht und Schatten in den Mas­­sen, ja sie sollte es wenigstens thun, sie sollte nicht am Einzelnen haften, und die Historie aus dem Zustand einer chronik­artigen Anhäufung auf guten Glauben überlieferter Thatsachen in den andern 340 einer unabsehbaren bloß kritischen Um­ackerung werfen. War in den alten Geschichtswerken, in den Kom­pendien der Jurisprudenz, in den Handbüchern der klassischen Alterthumskunde sonst alles Material, eine rohe und ungeordnete Masse, wo Wahres und Falsches oft barok in einander vermischt lagen; so gewann es bald das Ansehen, als hätten sich diese Fächer nur in Kritik verwandelt, in eine unendliche Reihe von Fragezeichen, in einen Kirchhof kleiner aufgeworfener Untersuchungshügel, wo man wieder das Alte hatte, nur das Innere nach Außen, das Vordere nach Hinten gekehrt. Die Zweifelsucht hat auf diese Art das ganze Material der Geschichte durchwühlt. Kein Name wurde mehr in seiner überlieferten Geltung angenommen, die Mythologie wurde tief bis auf jenes Gebiet, was man früher für Geschichte gehalten hatte, ausgedehnt; ehemalige historische Fakta mußte man gegen Sagen austauschen.

Und wenn auch von jenen Männern, an die ein Jeder durch diese Beispiele erinnert wird, Wolf, Niebuhr und Andere, Ausgezeichnetes und wahrhaft Nützliches geleistet worden ist, so zeigt sich doch z. B. auf dem Gebiet der Jurisprudenz offenbar die schädliche Wirkung einer bloß kritischen Zersetzung der Stoffe. Das römische Recht z. B. hörte bei vielen Juristen auf, vom bloß logischen Gesichtspunkt betrachtet und als Aushilfe für positive Gesetzgebungen benuzt zu werden; das Corpus Juris fiel in seinen 341 Elementen auseinander und schuf jene für Juristen wenigstens so unzweckmäßige römische Rechtsgeschichte, die man billig den Philologen hätte überlassen sollen. Es gibt nun Rechtslehrer, welche nur noch historisch-kritische Notizenjäger sind, die den zusammenhängenden Bau des römischen Rechtes getrost auseinanderfallen ließen und sich Tag für Tag nur mit dem Einzelnen beschäftigen. Die Institutionen sind praktisch lehrreicher geworden, als die Pandekten. Die Leztern sind ein Tummelfeld für ein meist scharfsinniges, aber zweckloses Treiben. Die Folge dieses Verfahrens, das man als normal in die Wissenschaft einführen wollte, war verderblich genug; denn dieser Zersplitterung verdankt man es, daß man an dem Berufe unserer Zeit für die Gesetzgebung zu zweifeln anfing und statt eine frische, aus dem Geist der Zeitgenossen emporblühende Gesetzgebung zu befördern, sich auch in politischen Fragen völ­lig an die Vergangenheit und das Gegebene anlehnte.

Wenn die Spekulation diese planlose Zerfahrenheit beschränkte, wenn sie dem behaglichen Kritizismus Schranken sezte und ihn zwang, was man zu sagen pflegt, in ernsten Dingen bei der Stange zu bleiben, dann hat sie für die historischen Wissenschaften viel geleistet. Hätte sie nur nicht öfters die Einheit, die sie dem Stoffe derselben geben wollte, von fremden Gebieten her entlehnt, hätte sie sich nur mehr aus dem Materiale selbst emporheben können und das 342 faktische Schiboleth dem philosophischen vorgezogen. Ich sage nicht, daß die Spitzen, welche die Spekulation der Historie gegeben hat, die faktischen Zielpunkte verfehlt hätten, allein das Streben der Spe­kulation würde umfassender und wirksamer gewesen seyn, wenn sie sich von Formeln befreit und einzig und allein nur an die Sprache der Thatsachen gehalten hätte. Wenn in dem Material eine höhere Einheit liegt, so genügt es ja schon, daß sie sich aus ihm selbst herauswickelt. Die philosophische Begründung eines Gegenstandes muß durch und durch die ursprüngliche Farbe des­selben tragen. Wenn der trockne Begriff der Blume, ihr Zweck und Ziel im Sinne der Philosophie auch nur das Samenkorn ist, so wird man doch die Menschen schwer überzeugen, daß nicht die eigentliche Bestimmung der Blume darin lag, dies Samenkorn gerade in der bunten Gestalt der Blätter und Blüthen und gerade in dem süßen Dufte der Pflanze zu offenbaren. Was hier gerügt wird, trifft nicht bloß die Philosophie der Geschichte, sondern eben so sehr auch die philosophischen Begründungen anderer der Geschichte zugetheilter positiver Fächer.

Wenn sich in unserer Zeit Empirie und Spekulation zu versöhnen scheinen, so gilt dies von den historischen Wissenschaften bis jezt noch am wenigsten. Hier liegt die Kritik mit der Philosophie noch im Kampfe, hier gelangt bis jezt nur erst eine Versöhnung beider Methoden, entweder durch moralische 343 Humanitätsrücksichten, oder durch einen Pragmatismus, der sich hier politisch, dort mehr schön-geistig äußert. In dem engern Gebiet der Weltgeschichte selbst hat einstweilen noch die Charakteristik und die synoptische Behandlung eine harmonische Regelung des Stoffes erzielt, namentlich hat in neuerer Zeit durch das Memoire sich ein eigenes Inkarnat auf die Haut der Geschichte gelegt, und ihr dies schöne, verlockende Ansehen gegeben, welches sich in einigen Werken der neuern französischen Geschichtschreibung so reizend ausprägt. Es scheint, als wenn das, was der Franzose lumières nennt, also die geistreiche, vorurtheilsfreie Weltbildung hauptsächlich sich noch bis jezt am glücklichsten in der Bewältigung der Historie bewähren konnte. Es scheinen außerordentliche weltliche Kenntnisse und die reichsten Erfahrungen innerhalb des höheren Staatslebens dazu zu gehören, daß einer jezt den Stoff, den er zuvor als Gelehrter sich zuzurichten wußte, auch als Historiker auf ansprechende Weise überwindet. Ob unter diesen Umständen sich auch nicht für die Geschichte die nachtheiligen Folgen äußern werden, welche die nur bloß geistreiche Virtuosität zu begleiten pflegen, das muß die Zukunft entscheiden. Inzwischen haben in den Hilfs- und Nebenwissenschaften der Historie die kritischen Intensionen sich zwar erhalten, aber gemäßigt, ja auch eine Einheit für die Behandlung im Ganzen und Großen hat sich ergeben, wenn auch nur eine praktische 344 und provisorische, nämlich so, daß einerseits gewisse unumstößliche moralische Wahrheiten und andererseits manche dem Herzen wohlthuende Gefühlsthatsachen gleichsam jene Fähnchen in der Geschichte bilden, nach welchen der Feldmesser das Terrain absticht und seine Augenmerke nimmt.

Warum macht die Philosophie all diesen unbstimmten Lagen und Methoden der Wissenschaft kein Ende? Warum benuzt sie den großen Vorsprung, den sie in ihrem einmal gegebenen unver­änderten Gegenstand besizt, nicht, um in die streitenden Elemente der empirischen Wissenschaften Friede und eine ihrem Stoffe fortdauernd angemessene Methode zu bringen? Allein die Philosophie selbst ist wohl die bewegteste aller Wissenschaften. Die Feststeckung ihres Gebietes nüzt ihr nichts, denn es ist eine unsichtbare Region. Wie oft bestreitet sie nicht selbst jenen Inhalt, den ihr Jahrhunderte zugestanden haben. Unter diesen Verhältnissen ergab sich das auffallende Resultat, daß die Philoso­phie in unserer Zeit weit weniger Achtung genießt, als im Alter­thum. Sie, die hätte vor allen leuchten und die Fackel tragen sol­len, wurde von den historischen und Naturwissenschaften überflügelt, und was man auch an Einrichtungen und Gesetzen in unserer Zeit trifft, selten hat man die Philosophie um Rath gefragt und beachtet sie, wenn sie selbst aus freien Stücken einen gibt.

345 In England hat sich überhaupt bei dem Worte Philosophie der metaphysische Nebenbegriff verloren. Wenn man von einer philosophischen Maschinenlehre, von einem philosophischen Rezept zur Stiefelwichse spricht, so ist damit nur noch eine Methode bezeichnet, die sich der Paragraphen und Kapitel bedient. In England werden die Fragen der Gesetzgebung, die doch mit der Philosophie in genauer Berührung stehen, niemals durch die leztere erläutert. Die empirischen Wissenschaften haben die Oberhand und die Philosophie ist weniger dazu bestimmt, Gedachtes zu überliefern, als denken zu lehren; sie soll keine Begriffe einpflanzen, sondern die, welche man schon hat, nur regeln und ordnen.

Und doch hatten die Engländer so vielen Beruf, in der Philosophie die erste Rolle zu spielen. Sie hatten Phantasie und nüchternen Verstand genug, um keiner von beiden Geistesthätigkeiten ausschließlich anheimzufallen. Die vorzüglichsten Be­we­gungen innerhalb der Philosophie verdankt man Engländern. Bako von Verulam wirkte zwar großartiger auf die Naturwissenschaften, als auf die Philosophie, allein seine Theorie der Phänomene war es schon, auf welche Locke und Hume weiter fortbauten. Welchen Einfluß hatten nicht diese beiden Heroen der englischen Literatur auf die allgemeine europäische Bildung im vorigen Jahrhundert! Wenn auch Europa mehr seine philosophische Richtung durch Frankreichs skeptische 346 Maximen bekam, so war es doch hauptsächlich Locke, der ihren Ton angegeben hatte, der nicht bloß in der Philosophie ein neues Verfahren schuf, sondern auch, unterstüzt von den umfassendsten Kenntnissen, auf Politik und Gesetzgebung einzuwirken wußte. Montesquieu und Voltaire sind die Schüler seines Geistes. In der Richtung, welche die Philosophie damals nahm, in ihrer Einwirkung auf die geoffenbarte Theologie wagte Hume noch mehr als Locke. Dieser hatte nur die Elemente eines Skeptizismus, jener bildete sie vollständig aus. Der große Einfluß, den Locke auf Frankreich gehabt hatte, fiel Hume’n in Deutschland zu. Kant entnahm ihm die Prinzipien seiner berühmten kritischen Methode, denen er mit der Zeit freilich eine andere Richtung gab, als Hume, welcher sich in den Propyläen des Kritizismus erhielt und das Allerheiligste der Ontologie nicht nur für verschlossen erklärte, sondern ganz ohne allen Zugang für eine hohe Mauer ohne Thüre. Der Erfolg der Hume’schen Philosophie war ein endloser Skeptizismus. Die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes waren einmal untersucht, die höhern Untersuchungen über die Wesenheit der Dinge für Täuschungen erklärt und in dieser negativen Art hätte auch wohl die Philosophie aufhören müssen, ferner eine Wissenschaft zu seyn. Es war das Streben der von Reid gestifteten und von Stewart weiter ausgeführten schottischen Schule der Philosophie, ihre Wissenschaftlichkeit 347 zu erhalten. Obgleich die schottische Schule zu denselben Resultaten kömmt, wie Hume, so trachtete sie doch darnach, selbst in den negativen Elementen, worin sie sich bewegte, doch einiges Positive und die ganze Philosophie Aussprechende, im Gewande des Systems festzustellen. Man hält es für sonderbar, wenn man der schottischen Philosophie das Verdienst einräumt, sie hätte die Philosophie wieder fixirt. Ja es war dies der Hume’schen Philosophie gegenüber, die nur den Verstand untersuchte und das Uebrige auf sich beruhen ließ, ein großes Verdienst. Schon die Polemik gegen Dogmatismus und Phantasterei erforderte, daß die Gegner Ordnung in ihre Reihe brachten und diese begann Reid damit herzustellen, daß er in die Philosophie wieder die Konsequenz einer Wissenschaft einzuführen trachtete.

Die schottische Philosophie geht sogleich von dem unmittelbaren Dualismus unsrer Erfahrungen aus, der uns überall auf entweder etwas Geistiges oder etwas Körperliches stoßen läßt. Wenn wir in der Kenntniß der Materie größere Fortschritte gemacht hätten, als in der des Geistes, so liegt dies ihr zu Folge theils in der falschen Methode, theils in der mangelhaften Abgränzung der Philosophie und endlich in ihrer Verwechslung des Wesens mit der Erscheinung, der Ursache mit der Wirkung. Die Methode, welche sie nun befolgten, geht vollkommen wieder von Hume aus; ihr Weg ist die 348 empirische Erfahrung, ist die Erkenntniß des Zunächstliegenden und die Schlußfolgerung von ihm auf das Entferntere. So dicht gedrängt die Erfahrungen im Anfange der Wissenschaft gesäet sind, so spärlich werden sie auf dem höhern Gebiete in der Metaphysik; hier werden ganze Gebiete, welche früher die Philosophie behauptete, preisgegeben, hier zucken die Philosophen die Achseln, beklagen, daß man nichts wisse, finden aber gerade die Wissenschaft darin, zu beweisen, daß man hier nichts wissen könne. Die schottische Philosophie ist daher nur Psychologie. Sie beschäftigt sich mit den Ursachen und Bedingungen unserer Erkenntniß, sie baut ein System von sinnlichen und wohl auch mehr oder weniger geistigen Wahrnehmungen auf, läßt hier und da etwas ahnden oder vermuthen, kehrt aber immer wieder auf den Menschen, als das Maß der gegebenen Dinge zurück. Diese Philosophie, so unvollständig ihr äußeres Aussehen ist, hat doch unstreitig viel wohl­thätige Resultate für manche praktische Fragen abgeworfen. Sie hat nicht nur der Theologie nützen können, sondern auch den Naturwissenschaften und besonders jenem Theile der Arzneikunde, welcher den Krankheiten der menschlichen Seele gewidmet ist. Diese Philosophie ist überhaupt nichts, als eine gei­stige Physiologie, die gerade ebenso, wie die körperliche, durch Erfahrungen geleitet wird, das Verwandte mit einander vergleicht, das Aehnliche vom Täuschenden sondert und etwa sich ergebende 349 Widersprüche auf billige und zurückhaltende Weise zu schlichten sucht.

Die vorzüglichsten Erscheinungen der französischen neuern Philosophie sind Uebertragungen und Modifikationen des schot­tischen Empirismus. Die Franzosen, ich erinnere an Royer Collard, Jouffroy, Cousin und Andere, konnten sich nicht überwinden, ihrem für das Abstrakte sehr geneigten Geiste das Opfer zu bringen, daß sie die enge Beschränkung, welche die Schotten der Philosophie gegeben hatten, nicht etwas weiter aus­zudehnen suchten. Sie lüfteten, wenn auch mit behutsamer Hand, den Schleier der Metaphysik und versuchten zu beweisen, daß eine nähere Beschäftigung mit ihr und hier und da ein gefundenes Resultat die Voraussetzungen der schottischen Philosophie durchaus nicht verletze und wohl mit ihnen überein­stimme. So fügte man sich in Frankreich auch nicht der strengen Abscheidung zwischen dem Geist und Körper, sondern gestattet Uebergänge in einander, indem man nur zwischen physischen und intellektuellen Erscheinungen sondert. Von deutscher Philosophie entlehnten die Franzosen den Satz, daß es in unserem Geiste unmittelbare Ueberzeugungen gäbe, die nicht von einer äußern Erfahrung abhingen. Dies sind die kantischen Kategorien, welche die Franzosen aus der Philosophie nicht in die Hypothesensucht der Scholastik verbannt wissen wollen. Einige mystische Tendenzen gehen in Frankreich dieser überwiegenden Richtung 350 seiner vorzüglichsten Geister parallel. Die Doktrinärs in Frankreich, Guizot an der Spitze, haben sich alle in der Hauptsache als Anhänger der schottischen Philosophie erklärt.

Weit reicher, glänzender und zugleich verworrener ist die Kunde, die uns von der Philosophie in Deutschland zukömmt. Diese tiefsinnige Nation hat gerade in Zeiten politischer Erniedrigung sich durch Ausbildung seiner geistigen Schätze zu trösten und zu veredeln gesucht. Der französischen Revolution folgt hier eine Revolution der Geister, die in der That alle Phasen ihres Vorbilds durchmachte, die Ideen in Anklagestand versezte, sie zur Guillotine schleppte, und nachdem die durch Kant hervorgerufene kritische Gährung vorüber war, den Despotismus Napoleons in Gestalt Fichte’scher und Schelling’scher Machtsprüche wiedergab. Sucht man in der neuern Geschichte nach einem Punkte, wo sich die höchste Geisteskraft der Generation sammelte, und wo alle die Zeit bewegenden Ideen mit einer gewissen nothwendigen Entwicklung sich unter einander gruppirten, so muß man die Geschichte der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel als eine solche anerkennen. Dies war eine Epoche, welche den widerwärtigsten Zeitereignissen zum Trotz in unserer Zeit wie eine Oase in der Wüste lag. Unterirdische Kanäle verbanden sie mit den Geheimnissen des Orients und den schönsten Blüthenmonden des dichterischen Geistes der Griechen. 351 Cartesius, Spinoza, Leibnitz und das Christenthum wurden im Schooße dieser so organischen und methodischen Gährung neu geboren; es ist dies ein Punkt, von welchem wenigstens ideell alle Strahlenbrechungen der Zeit aus­gegangen zu seyn scheinen, obgleich die Zeit nichts mit ihm un­mittelbar gemein hatte, und sich hier das merkwürdige Schauspiel wiederholte, daß mitten im Gewühle des Krieges eine Reihe ernster und weiser Philosophen schweigsam ihre Zirkel zeich­neten.

Es herrscht in der deutschen Philosophie ein überschwänglicher Idealismus. In die subtilsten Nadellöcher wußte sie den, bis zur Unsichtbarkeit gespizten Faden ihrer Dialektik einzufädeln, in der Luft fand sie Bahnen, vom Unsichtbaren wußte sie die Schatten zu zeichnen. Diese Philosophie ist ein außerordentlicher Beleg für den Scharfsinn und die Einbildungskraft der deutschen Nation. Es wird eine Zeit kommen, wo man, wie zum Theil schon jezt, von dem philosophischen Werthe der meisten Leistungen des deutschen Idealismus abstrahiren, aber in ihrer systematischen Abrundung, sie als die erhabensten Dichtungen bewundern wird, und wer vermag zu sagen, wo die Gränze liegt, welche in dieser Philosophie in der That das Mögliche vom Unwahrscheinlichen trennt. Wo ist noch Gewißheit und heller Sonnenschein, wo schießen schon die Nebel auf und tanzen wie Irrlichter der Dämmerung? Die deutschen Philosophen gehen nicht von der unmittelbaren Erfahrung aus, 352 weil diese nie­mals zu einem Systeme führen kann und ihr Vorsprung ist es, daß wir das Gefühl einer harmonischen Weltordnung als unmittelbare Thatsache in uns tragen. Darauf fußend beginnt diese Phi­losophie mit den Begriffen des Seyns, des Daseyns, der Schöpfung, und ist dabei wenigstens ihrer eigenen Versicherung nach so weit entfernt, nur bloß mathematische Formeln geben zu wol­len, daß sie vielmehr selbst die Logik zur Metaphysik gemacht hat und in der höchsten Potenz ihres Idealismus damit endete, daß, wie in Gott, Denken und Gedachtes Eines sey, so auch die ganze Weltordnung, die Ontologie eine Logik im erhabensten Style seyn müsse. Die Materie störte diese kühnen Träume nicht; ob da ein Baum rauscht, ein Fluß sich schäumend von einem Berge stürzt, ob da im Menschen selbst durch Schmerz und Krankheit sich das Gefühl von Seele und Leib, von Leben und Tod, wie eine unwiderrufliche Wahrheit ausspricht; die deutsche Philosophie kümmert dies nichts. Ich bin gleich Ich, bin gleich Nicht-ich; ich, mein Gedanke beherrscht die Welt.

Wenn man in der schottischen und französischen Philosophie, und z. B. in so kläglichen Schematismen, wie sie der Saint Simonismus aufgestellt hat, mit Recht über die Weitläuftigkeit und Schwierigkeit erstaunt, welche diesen Methoden die Materie darbietet, so hat die deutsche Philosophie, die sich vom Fetischdienst der Materie, vom Aberglauben der bloßen Erscheinung 353 trennte, sie auf das würdigste überflügelt. Mögen wir das unmittelbare Gefühl des Dualismus haben und im nächsten Bewußtseyn Geist und Materie nicht verwechseln, so lebte in uns doch nicht weniger die thatsächliche Ueberzeugung, daß die Materie in den Fesseln des Geistes liegt, daß sie Staub ist und ihre Bestimmung darin finden wird, einst im leeren Nichts zu verwehen. Die deutsche Philosophie hat die Spekulation eben so sehr von der kindischen Furcht vor der Materie, wie vor der Geheimnißkrämerei dessen, was man das eigentliche Wesen der Dinge nennt, befreit. Kant, der eine aus Skeptizismus und Dogma­tismus gemischte Philosophie aufstellte, hatte ein versiegeltes Vermächtniß hinterlassen, welches seine Erben öffneten, nämlich, daß wir die wahre, die eigentliche, die an sich seyende Natur der Dinge nicht erkennen könnten. Kant hatte gesagt, von einem Apfel weiß ich, daß er herbe schmeckt, hinlänglich rund ist, ein Herz mit Samenkörnern hat, ich kenne alle seine Eigenschaften, und dennoch nicht, was er eigentlich ist. Kant meinte, man wisse also nicht, was dieser Apfel im Bewußtseyn Gottes wäre, wie er sich in jener unbegreiflichen Macht, die die Welt geschaffen hat, manifestire, und gegen dieses Bedenken waren die Systeme seiner kühnen Nachfolger gerichtet. Ungleich der schottischen Philosophie und der Kant’schen, die bloß die Erkenntniß der Erscheinungen und Eigenschaften für möglich hiel­ten, behaupteten sie, 354 gerade in den Erscheinungen läge die eigentliche Wesenheit der Dinge und es wäre einerseits die Hohl­heit der Materie, daß sie nur ihr Aeußeres wäre, und andererseits ihre von Gott so einmal gegebene Bestimmung. Freilich, wenn Alles, was wir sehen, keine andere Innerlichkeit hat, als bloß seine Aeußerlichkeit, wenn die Schale der Kern ist, oder der Kern nicht in der Erscheinung, sondern in dem Gesetze der Erscheinung liegt, dann bricht die Materie bald in ihrem Innersten zusammen, sie ist hohl und hindert uns nicht, in ihre äußersten Anfänge, in die metaphysischen Ideen zurückzukehren. Und darin liegt gewissermaßen eine Aussöhnung mit der Empirie, daß die neueste Gestaltung der deutschen Philosophie sich wohl hütet, die Erscheinung so oben hin zu behandeln, wie sie die Philosophie des Ich gleich Ich behandelt hatte. Es ist das Bild des Baumes, der uns die Methode und das Wesen der jetzigen Kulmination der deutschen Philosophie versinnlichen kann. So wie der Baum aus einem Saatkorn entspringt, Wurzeln faßt, zum Lichte aufschießt, Aeste treibt, Blätter, Blüthen, Früchte und zulezt wieder dasselbe Samenkorn, von dem es ausgegangen ist, so hat diese Philosophie im höchsten Idealismus, darin auch den Realismus anerkannt, daß sie diese fortwährende Erscheinung des Wesens für etwas Wesentliches hält, daß sie nachweisen konnte, wie in dem ersten Keime des Samens schon Blatt, Blüthe und Frucht konkret 355 enthalten sey, ja daß durch die Produktion des Samens aus dem, was auch nur vom Samen gekommen ist, durch die Selbsterzeugung und Einheit des Anfangs und Endes auch der ewige Zirkel der Göttlichkeit und die auf jeder Stufe der Erscheinung, auf dem Blatt, der Blüthe immer unmittelbare Nähe der Wesenheit bewiesen ist. Und wenn man dieser Philosophie den Vorwurf des Pantheismus machen will, so nimmt sie ihn einmal an in dem edleren Sinne, nach welchem Alles, was da ist, Gottes ist und weist ihn zurück in dem gemeinern, nach welchem Alles, was da ist, auch göttliche Verehrung genießen solle. Wenn es unläugbar ist, daß die Schöpfung so gut, wie unser Geist eine Offenbarung Gottes ist, so werden wir einmal einsehen, daß doch am Baume der Stamm nicht so verehrungswürdig ist, wie die Blüthe und werden zweitens auch nicht die Blüthe zum ausschließlichen Zielpunkte unserer Andacht machen, sondern uns nur jener Totalität der Gotteskraft, die im Ganzen und Großen wirkt, hingeben; der ächte Pantheismus, den kein Philosoph von sich weisen sollte, ist der, daß wir sagen, Alles ist zwar Gott, aber nicht Jedes, Jedes ist nicht Gott, aber Gottes; die Harmonie ist Gott, aber die einzelne Note als Ein­zelne kaum göttlich.

Suchen wir nun einige Hauptresultate dem gegenwärtigen Stande der Philosophie zu entnehmen, so 356 tritt uns zuerst im Betreff der Wissenschaft selbst ein großes Ergebniß entgegen.

Mag der Kampf einzelner Tonangeber in der Philosophie gegen ihre Rivale auf Tod und Leben gerichtet seyn, die erste Generation ihrer Schüler wird den Fanatismus theilen, die zweite aber schon nach einer Versöhnung trachten. Der Hauptgrund des Zwiespaltes ist fast immer die Methode und auch diese nicht einmal in dem Grade, daß man nicht behaupten dürfe, der nüchterne verstandesmäßige Skeptizismus z. B. wäre überall abgeschärft, bei den Schotten, weil sie ja gegen Hume auftraten, bei den Franzosen, die gegen die Schotten die Metaphysik geltend machen wollen und nun erst gar bei den Deutschen, einer Nation, die sich für das Auge Gottes selber hält. Einer der mächtigsten Gründe schon, welcher die zeitgenössische Philosophie zur Eintracht führen muß, liegt in der offenen gelichteten Fernsicht, welche unsere Zeit in der Geschichte der Philosophie gewonnen hat. Welches neue philosophische System würde sich noch so plump ankündigen, daß es die ganze philosophische Vergangenheit mit dem Fuße von sich stieße, und nicht vielmehr, wie in ihrem eigenen Ahnensaale mit stummem Ernste wandelte, und jeder Säule, jedem Bildniß eine sinnige Betrachtung zuwendete! Faßten diese hohen Denker nicht meist alle Alles zusammen, was zu ihrer Zeit zu denken würdig und zu wissen möglich war? Stehen an der Spitze der 357 Zeitperioden in der Historie schon Ideen, die in das verworrene Gewühl von Namen und Jahreszahlen erhellende Schlaglichter warfen; sollten da nicht die Philosophen so viel Blitzesstrahlen in ihre verewigte Hand gefaßt haben, als sie bewältigen konnten, um in die schwüle Zeit ihre elektrischen Luftreinigungen zu donnern?

Wenn die Geschichte der Menschheit ein sinniger Bau ist, dann ist es auch die Geschichte der Philosophie, das sehen wir mit klaren Augen, das entnehmen wir aus der Achtung, die wir dem Scharfsinn aller dahin gegangenen Denker zollen müssen, das entnehmen wir aus den Grundlagen, die befestigt, aus den Irrthümern, die begangen seyn mußten, daß wir selbst einen Bau aufführten und die Wahrheit, unsere Wahrheit, unsere Ueberzeugung als Kuppel darauf sezten. Wenn die jezt herrschenden Philosophien durch die Gegenwart nicht gebunden werden, so bindet sie die Vergangenheit.

Das zweite Resultat der modernen Philosophie, unabhängig von der Wissenschaft, möge ihrer positiven und historischen Stellung gelten. Die Geschichte beweist, daß die Philosophie nicht immer in die Fugen der Zeit, welche sie gebar, passen woll­te. Sokrates galt für den Weisesten, aber nicht für den Besten der Griechen, er mußte den Giftbecher trinken; die Philosophie des Heilandes wurde an das Kreuz geschlagen; die Philosopheme späterer Jahrhunderte 358 bestiegen den Scheiterhau­fen. Waren es bis dahin nur einzelne originelle Persönlichkeiten gewesen, welche den bestehenden Verhältnissen als Opfer fielen, so hat die Philosophie, welche seit Bako in ihre großartige Bewegung kam und mehr auf die Massen, als auf die Schulen, mehr auf die Erde als den Himmel gerichtet war, vollends mit dem Bestehenden im offenbaren Widerspruche gestanden. Dieser Bruch der Philosophie, theils mit der allerdings abgelebten Geschichte, theils mit dem versteinerten Glauben, brachte sie in eine sehr schwierige Stellung, zog ihr die Feindschaft der Gewalt zu und bewahrte sie bei allem Guten, das die Geschichte, die Sitten und der Glauben ihr verdanken, doch nicht vor Uebertreibungen, welche Niemanden schädlicher waren, als ihren eigenen, inneren, auch wissenschaftlichen Zwecken. Von der heutigen Philosophie aber hat man keinen Grund mehr, gleiche Besorgnisse zu hegen. Namentlich dadurch, daß sie zuerst zu einer rationellen Wissenschaft der Geschichte gekommen ist, hat sich aus dem Schooße der Philosophie eine große Achtung vor historischen, durch die Umstände gegebenen Entwicklungen erzeugt. Die Philosophie schulmeistert die Geschichte nicht mehr, sie ist überhaupt weit mehr auf ihr inneres, spekulatives Leben bedacht, als auf eine Anwendung für die Praxis; eine Philosophie, wie die Lockische, die nur zu politischen Zwecken ersonnen wurde, ist unserer Zeit nicht mehr analog; denn für die Politik haben 359 wir in dem gesunden Menschenverstand, in den positiven Interessen und leider auch allerdings in den Leidenschaften Faktoren genug. Es ist dies ein sehr denkwürdiges Resultat der neuern Philosophie, daß sie mit den öffentlichen Verhältnissen keine direkte Verbindung mehr unterhält und sich lediglich auf ihre wissenschaftlichen Grenzen beschränkt.

Eine Reaktion der Philosophie gegen die gesellschaftliche Sitte hat überhaupt selten stattgefunden. Man kann Rousseaus Maximen, die aus dem Zorn und dem Mißtrauen eines heftigen Gemüthes hervorgingen, nicht eigentlich Philosophie nennen. Eine solche Umwandlung des Lebens in der Familie und der Schule, wie seine Richtung hervorgerufen hat, hat wenigstens die Philosophie nie wieder erreichen können. Da in neuerer Zeit das Institut der Ehe angetastet worden ist und sogar unsere Gewerbe in ein neues System gebracht werden sollten, so ist wieder der Saint Simonismus als Philosophie von so untergeordneter Bedeutung, daß man ihn weit eher für ein neues System der Nationalökonomie als der Metaphysik halten möchte. Die ausschließlich wissenschaftliche Philosophie unserer Tage kömmt demnach in den Sitten fast auf das Gegebene zurück. Die Familie wird als eine der ersten Offenbarungen des gesitteten Lebens anerkannt und auch das Meiste, was aus ihrem Schooße kam, von der Philosophie heilig gesprochen. Die Philosophie kann für Schule und 360 Haus einzelne Grundsätze aufstellen, welche entweder den herrschenden widersprechen oder für eine in der Minorität befindliche Ansicht Partei nehmen; allein dies ist nur eine zufällige Konsequenz derselben. Die Sittenreformation ist keine Haupttendenz der Philosophie mehr. Von dieser Seite ist sie selbst im Guten, das sie leisten könnte, zu lässig geworden. Denn wenn die Möglichkeit, vieles in unserem nächsten unmittelbaren Leben besser zu bestimmen, wohl vorhanden ist, so würde die Philosophie hier eine glücklichere Lehrmeisterin seyn, als jene populäre Literatur, deren Motiv mehr das Gefühl als der Gedanke ist; vielleicht hält sich die Philosophie nur zu weit entfernt von unsern Umgangssitten; sie, der man zu einer hier und da wohl möglichen Reform mehr Beruf allgemein zugestehen würde, als jenen einzelnen sogenannten Weltverbesserern, deren mitunter redliche Absichten ihre unbegründete wis­senschaftliche Stellung und ihren Mangel an doktrinärem Nimbus meist immer entgelten müssen.

Selbst in der Religion erhebt sich die Philosophie des Tages wenig über das Gegebene. Ja, wir finden, daß die Philosophie weit eher geneigt ist, sich für die Wahrhaftigkeit des Inhalts jener Dogmen zu erklären, welche von den freisinnigen Richtungen innerhalb der Theologie selbst bestritten werden. Die Philosophie, selbst in England und Frankreich, ist weit geneigter, sich gegen, als für den Deismus zu 361 erklären. Die Theo­logie, überrascht von einer Freundschaft, die sie nach vorangegangenen Beispielen sich nicht hätte träumen lassen, ist meist kälter gegen die Philosophie, als diese nach ihrem heutigen religiösen Inhalte verdient; sie will die Form nicht zugeben, in welcher die leztere das Wesen des Christenthums ausspricht, und wenn es philosophische Systeme gibt, die sich für die Dreieinigkeit, für die Gottheit Christi und den ganzen Inhalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses aussprechen, so verdächtigt sie wohl gar die Motive dieser orthodoxen Hingebung, bestreitet die Aufrichtigkeit derselben und wird durch die Versicherung beängstigt, daß man den dogmatischen Inhalt des Christenthums auch noch anders, als durch den bloßen Glauben begreifen könne. Wahrlich dieser Streit ist zulezt unwesentlich und hindert nicht, über die merkwürdige Richtung zu erstaunen, welche die Philosophie unserer Tage genommen hat. Keine Gegnerin des Lebens, widerspricht sie auch dem Christenthume nicht und gibt es zu dieser Höhe auch verschiedene Stufen, so steht doch auf der untersten keineswegs die Frivolität des achtzehnten Jahrhunderts, sondern mit Ernst und Emsigkeit wird das Wesen der Religion geprüft und dies selbst da, wo jedes Extrem von Mysti­zismus undenkbar ist. Die Stellung der Philosophie zur Theologie ist jezt dadurch von der Philosophie des vorigen Jahrhunderts unterschieden, daß früher nicht bloß die Theologie ange­griffen wurde, 362 sondern auch ihr Gegenstand, während, wenn sich jezt noch eine polemische Richtung findet, diese nicht mehr dem Inhalt, sondern der Methode der Theologie gilt, indem diese beschuldigt wird, für jenen mangelhaft zu sorgen. Daß aus diesem Streite vielleicht eine vernünftigere Auffassung der historischen Begründung des Christenthums hervorgehen dürfte, haben wir schon oben bemerkt. Hier genüge die Angabe dieses denkwürdigen Faktums, daß die Philosophie auch in der Religion über das Gegebene sich nicht erhebt, sondern das Gepräge einer Neuerung nur in der etwas modifizirten Auffassung desselben liegt.

In Betreff des Staates scheint die Philosophie parteiischer zu seyn, aber wenn man sie früher in den Reihen der Opposition fand, so findet man sie jezt gerade in denen, welche das Bestehende vertheidigen. Ein sprechendes Beispiel dieser Erscheinung haben wir in Frankreich. Die Doktrinärs sind ursprünglich Anhänger der schottischen Philosophie, welche hauptsächlich von Royer Collard auf französischen Boden verpflanzt wurde. Dem Jesuitismus gegenüber war die Doktrine ein heftiger Widerspruch; in jener Kammer, die Manuel von ihren Sitzungen ausschloß, konnte man die Doktrine leicht für jakobinisch erklären und der ihr zu Grunde liegenden Philosophie dieselbe Richtung zuschreiben, welche die politische Philosophie des vorigen Jahrhunderts hatte. Allein jezt hat sich dies Verhältniß umgekehrt. Die Doktrinärs 363 sind in die Fußstapfen der Labourdonnaie’s getreten, sie sind königlicher gesinnt als die Könige, sie vertheidigen der Revolution, ja einer gesetzmäßigen Opposition gegenüber, mehr als den status quo, mehr als die Ordnung, sie vertheidigen eine Staatstheorie, die in philosophischen Lehren wurzelt und eher durch das Gegebene, als durch das neu zu Begründende ihnen realisirt scheint. Zu gewissen Konzessionen im Interesse der Bürgerfreiheit gern geneigt, den Prärogativen des Adels, wenn auch nicht ihm selbst abhold und den König von der Verantwortlichkeit, dann aber auch allerdings von der Selbstregierung befreiend, haben die Doktrinärs einen gewissen Grad von Freiheit mit ihrer Abneigung gegen den ewigen Fluß der Dinge und die grenzenlose Negation des Zeitgeistes wohl zu vermischen gewußt. Wenn sie Positives vert­hei­digen, so gilt dies gerade nicht unmittelbar dem Gegebenen, wohl aber mittelbar, da das faktisch Gegebene ihrer philosophischen Theorie am nächsten kömmt, und wenigstens den Buchstaben für das hergibt, in welches sie allerdings einen andern Sinn legen. Und so ist auch in Deutschland die Philosophie weit entfernt, mit der politischen Neuerung sich zu verbinden. Natürlich, die Neuerung hat kein Ziel; wäre sie eine fertige, in sich begründete und vor neuem Verfall sichere Republik, wer weiß, ob die Philosophen sich mit dem dann Bestehenden nicht eben so gut abfinden würden, wie jezt mit der Monarchie! Es ist wahr: 364 die Philosophie muß über den Staat eine Meinung haben, sie muß sich doch für äußere Formen und dauernde Gesetze erklären; man verlangt ja eben so gut einen Staat von ihr, wie eine Kirche und eine Logik, ihr Ziel muß also von Haus aus konservativ seyn. Es kann einige Fragen geben, was die Verwaltung und Gesetzgebung betrifft, wo die Philosophie sich den herrschenden Grundsätzen nicht fügt, allein in der Hauptsache haben wir auch hier das gleiche Resultat, wie auf den beiden vorigen Stufen. Die Tonangabe zu den politischen Debatten unserer Zeit kömmt von der Philosophie nicht her; sie ist zu sehr Dogmatismus, um negativen Richtungen die Fahne voranzutragen.

Mag sich nun die Philosophie hier im Recht oder Unrecht befinden, so werden wir das wohl zugestehen müssen, daß sie keine besonders großartige Rolle spielt und sich in einer ihrer hohen Aufgaben nicht angemessenen Lage mehr befindet. Sie gleicht einem Fürsten, der sich im Inkognito eines gewöhnlichen Ueberrockes ohne Stern unter das Volk mischt. All’ ihre Kraft ist entweder in ihren eigenen Schooß zurückgedrängt oder sie benuzt sie nur zum Kampfe gegen die Katheder, gegen die Kollegen, die sich in diesem oder jenem wissenschaftlichen Bereiche, in der Thierarzneikunde, in der Landwirthschaftslehre einem allzu krassen Empirismus ergeben. Da ist allerdings die heutige Philosophie in voller Windmühlenthätigkeit und schrotet mit den 365 Mühlsteinen ihrer Prinzipien manches grobe Korn zu feinem Mehl. Sie gibt sich mit der Ausbesserung alter abgerissener Methoden ab. Sie vervorschuhet abgelaufene Stiefeln, sie flechtet die Löcher in Körben und Stühlen zu, sie wendet Kleider, überzieht abgenuzte Kravatten wieder frisch, sezt in mangelhafte Regenschirme neues Fischbein ein, bügelt die Beulen in alten Hüten wieder auf, kurz sie hat mehr ein Trödelgeschäft, als einen Weltberuf; sie sizt in einer kleinen Schuhflickerbude, nicht auf dem höchsten Berge, von dem man die Welt übersehen kann. So ist es auch schwer, aus der Stellung der Philosophie zum öffentlichen Leben, jezt für sie oder das Leztere ein Prognostikon zu stellen. Wird die Philosophie Antheil haben an der Lösung jener Fragen, mit welchen wir unsere Zeitgenossen beschäftigt sehen? Wird sie die Irrthümer berichtigen, die Leidenschaften versöhnen, die Interessen befriedigen können? Wird die Philosophie die Nebel unserer Befürchtungen zerstreuen? Wird sie den Unterdrückten zum Siege und der Ungerechtigkeit zum Sturze verhelfen? Wird sie die Götzen des politischen und religiösen Aberglaubens stürzen? Wird sie alles das leisten, was ihres Amtes wäre, wenn sie nicht in einem Winkel, sondern auf dem Markte und in der Volksversammlung säße? Nein, die Philosophie ist jezt weder Wettermacher, noch Windfahne mehr; ist sie weiser als früher, so ist sie es auch deßhalb, weil Weisheit die Tugend der Entsagung ist.

366 Was die nächste Zukunft zu lösen hat, und wie sie es zu lösen hat, können wir vielleicht durch eine intelligente und vorurtheilsfreie Philosophie erfahren; aber sie selbst wird sich nicht an die Spitze der Bewegung stellen. Unsere Zeit ist nur ein Mittelglied in einer Kette von Gewesenen und Kommenden, wir bilden den Uebergang aus Feindlichem in Feindliches, wir können überall die Punkte bestimmen, wo die Interessen in Konflikt gerathen müssen, wo es zur Zündung der sich begegnenden Brennstoffe kommen muß, nicht aber einen Punkt, wo sich eine friedliche Beilegung denken ließe; ja wo sie sich denken ließe, wüßten wir schon; allein, wo sie auch wirklich eintreten wird, das liegt nicht in unserer Hand. Alle Tendenzen, die wir sich durchkreuzen sehen, haben einmal ihren ursprünglichen Stoß erhalten und müssen die nachhaltige Kraft desselben in sich ablaufen; griffen wir hinein, um einer der Kugeln eine willkürliche Richtung zu geben, wer weiß, ob wir die Verwirrung nicht vergrößerten? Es wäre trostlos, wenn wir hie und da nicht einen Frieden oder einen Waffenstillstand ahneten, wenn wir nicht Grenzen sähen, an welchen dieser oder jener Irrthum vor unsern sichtlichen Augen scheitern muß; allein daß die Philosophie den Streit versöhne, davon sind wir so weit entfernt, daß vielmehr Weisheit da nur hinderlich seyn würde, wo der Friede die Folge eines gestillten eigennützigen Bedürfnisses seyn wird. Wir haben Meinungen und 367 Ansichten, die sich bekämpfen, diese kann die Philosophie berichtigen, aber niemals wird das Andere, woraus unsere Zeit zusammengesezt ist, Vernunft annehmen, nämlich die Leidenschaft und das Interesse. Nicht die Vernunft ist im Gedränge, sondern das Privilegium; und man blicke nur nach Ländern, wie Spanien, ob da wohl eine Aussicht vorhanden ist, daß dort die gewaltigen Leidenschaften der Rachsucht und des Hasses jemals anders, als durch Befriedigung derselben könnten ausgesöhnt werden! Wollen wir auf die nächste Zukunft unseres Welttheiles schließen, so werden wir die traulichen Schat­ten der Wissenschaft verlassen und mit schwerem Herzen wieder mitten in das wirre Durcheinander der Ereignisse treten müssen, von welchem wir beim Beginne dieses Werkes ausgegangen sind.

Wenn wir von der Zukunft einiges am Schlusse dieses Werkes zu errathen suchen wollen, so können wir nicht von der Ewig­keit sprechen, welche der Prophezeihung angehört. Was die Zu­kunft Großes und Seltsames in ihrem Schooße birgt, errathen wir nicht; denn selten, daß ein gleichartiger Zug von Interesse und Bestrebungen sich in der Geschichte lange aus sich selbst ohne anderweitige Zuthat fortspinnt; meist immer durchschneidet die gebahnte Straße der Thatsachen das spezifisch Neue, wie wohl die Griechen zur Zeit des Perikles sich denken konnten, daß vielleicht einst die Macht der Perser doch einmal der steigenden Uneinigkeit und 368 Verrätherei in Hellas sich bemächtigen würde; Niemand aber an den mazedonischen Staat dachte und zur Zeit des Demosthenes wiederum Niemand, daß wenig über hundert Jahre vergehen würde, wo ein ganz neues Volk an die Stelle der Mazedonier treten würde, die Römer. Und was konnten Kato und Cicero über ihre Zeit philosophiren, mit welcher Wahrscheinlichkeit, die ohnedies noch ein Erfolg krönte, konnten sie der sinkenden Größe und Freiheit des römischen Reiches nachdenken, der Alleinherrschaft, der Tyran­nei und der endlichen Auflösung; allein wer von ihnen dachte an das spezifisch Neue, welches sich mit dem Christenthum in den Verlauf der römischen Geschichte mischte? Und so baute sich eine Epoche über die andere, immer bedingt und belebt durch etwas, was selbst der nächsten Vergangenheit noch ein Geheimniß gewesen war. Möglich, daß für Europas Zukunft geo­graphi­sche und ethnologische Umwälzungen weniger zu erwarten stehen, als vielleicht Erfindungen, welche die Menschheit jezt noch nicht ahnt, wie Napoleon, als Fulton ihm die Kraft des Dam­pfes, als Mittel, die Welt zu erobern, anempfahl, nicht glauben wollte und nicht wissen konnte, wie Zeit und Raum durch Dampf­schiffe und Eisenbahnen würden abgekürzt werden. Möglich aber auch, daß wir das Höchste in dieser Hinsicht erreicht haben und daß das Neue von einer ganz andern Seite aus losbrechen könnte. Es ist charakteristisch in der Geschichte, daß 369 von daher, wo man das Neue zu erwarten pflegt und ihm mit Kopf und Hand entgegenarbeitet, es niemals kommt. Man kann Theorien verfolgen, z. B. in der Wissenschaft; man kann sein Leben der Aufgabe widmen, irgend ein vorhandenes Material zu einem Systeme zusammenzusetzen, und plötzlich wird eine neue Schrift entdeckt, plötzlich bringt der Zufall von einer ganz andern Seite her eine neue naturwissenschaftliche Erfahrung, und die Wissenschaft nimmt eine Richtung, die sie nie ge­ahnt. So wollen wir uns auch nicht darauf einlassen, Grillen nachzuhängen und etwa uns fragen: welches ist die Bestimmung unseres Welttheils, werden die andern eine Gewalt über ihn gewinnen, wird Amerika von Eroberungslust ergriffen, wird Asien durch den Hunger und die Menschenüberzahl getrieben werden, sich auf Europa zu werfen; wird das Christenthum ewig seyn – wird unser Erdball diese oder jene Bestimmung haben; werden die Menschen auf immer aussterben und einer neuen Schöpfung und höheren Wesen Platz machen? Dies Alles ist in Gottes Hand gegeben.

Leichter ist es, die kleinen Verwickelungen des Momentes im Voraus zu lösen. Wer divinatorisches Talent besizt, die Geschichte studirt hat und in ihr selbst einen Platz, wenn nur der Ruf an ihn käme, auszufüllen vermöchte, der sagt uns wohl, wie aus den im Januar gegebenen Faktoren, sich im Dezember des Jahres ein Erfolg zusammenziehen muß. Im 370 Moment, wo dies geschrieben wird, schafft sich die Königin Viktoria ihr erstes Parlament, die konservative Aristokratie hat ihre äußersten Kräfte aufgeboten, um der liberalen das Gegengewicht zu halten, das Uebermaß der Anstrengung verräth die Nähe der Entscheidung. Man braucht wenig politischen Takt zu haben, um an dem Aeußersten, was die beiden Parteien leisten, sich zu überzeugen, daß diese Art des Gegensatzes bald sich überlebt haben wird. Dem Radikalismus eines OConnel verdankt die Whigpartei ihre augenblickliche Erhaltung, die in England und Schottland durchgefallnen Kandidaten des Ministeriums wurden durch seinen Einfluß in den ihm sklavisch anhängenden Flecken Irlands gewählt, der Atlas der Demagogie trägt das ganze Firmament der gegenwärtigen englischen Politik; wie soll dies enden? Whigs und Tories reiben sich aneinander auf, der Radikalismus benuzt den Streit und erhebt sein Haupt. Kömmt er zum Siege auf friedlichem Wege, so geschähe es gewiß nur dadurch, daß die mürben Reste der zweigespaltenen Aristokratie seinen Boden düngten und ihm jene politische Haltung, jene gemäßigte Begrenzung gäben, ohne welche die Radikalpartei in England nie zu einem Siege kommen könnte. Das Ziel, worauf England lossteuert, ist dies: Wir haben Freiheit, aber nur persönliche, historische, bedingt durch hundert veraltete Anomalien. Wir wollen die Freiheit nicht mehr als ein Werk früherer, tumultuarischer 371 Jahrhunderte, sondern als die Blüthe der Zeit, in welcher wir leben, wir wollen die Freiheit Englands homogen mit unserm Jahrhundert machen, wir wollen sie nicht auf Briefe, Akte und Privilegien gründen, sondern auf Grundsätze und Theorien, sie soll nicht Folge einer Maschinerie seyn, wo ein Stand dem andern das Gleichgewicht hält und eine Schwäche von der andern ihre Kraft entnimmt, sondern wir wollen einen organischen Bau haben, der aus einem Stücke, nach ei­nem Plane errichtet wird; die Reform des Oberhauses und ein neues Wahlsystem sind die Parole dieser Tendenz, welche siegen wird, je mehr England einerseits in seiner merkantilischen Blüthe zurückkömmt und andererseits die Whig- und Radikalpartei sich im Geist eines wahrhaft freisinnigen Konstitutionalismus versöhnt.

Wie Spanien sich beruhigen wird, zeigt vielleicht schon das nächste Zeitungsblatt. Wird Don Carlos jenen bonapartistischen Konsulargeist, welcher die Direktorialregierung stürzen wollte und das daraus entstehende Wirrsal benutzen? Wird er, indem dies zum Drucke kömmt, schon in Madrid seyn? Ist er es, so bürgt uns vielleicht die Erfahrung dieses Mannes dafür, daß das konstitutionelle Prinzip von ihm nicht wird verschmäht werden dürfen. Er wird nicht strafen, sondern versöhnen müssen; er ist vertraut genug mit Spaniens neuerer Geschichte, um zu wissen, daß in diesem Lande die Rache der Sieger nur zu neuen 372 verzweifelten Aufständen der Besiegten führt. Und Frankreich mit dem Spielzeug seiner neuen Eisenbahnen, mit seinen Gemäldeausstellungen und algierischen Traktaten, mit den kriegsgerichtlichen Komödien seiner eigensinnigen Generäle, mit den Verurtheilungen auf Lebenszeit und den darauf erfolgenden Amnestieakten, wohin strebt es anders, als so, wie es nach Sturm und Ungewitter einst in Napoleons Person sich mit romantischer Hingebung beruhigte, so sich auch in der Familie Orleans zu beruhigen? Zeigt uns das ganze übrige Europa nicht ein kleines, stilles, detaillirtes Treiben mit Nachklängen aus der Vergangenheit, mit Drohungen, die von ihrem Beispiel unterstüzt werden, mit kleinen Ereiferungen für die sogenannte gesetzmäßige Freiheit? Wie leicht ist hier, den nächsten Moment zu bestimmen? Wie hat selbst Rußland sich so schnell wieder in die Karten blicken lassen, und verräth uns eine Erschöpfung, die das westliche Europa von der Furcht vor den Kosaken wieder befreit hat! Hier ist nichts, das sich nicht auf einfache Weise lösen würde; selbst das Patent des Herzogs von Cumberland flößt der Reaktion kein Vertrauen und der Freiheit keine Besorgniß ein.

Wenn man nach dem Momente und dem Charakter, welchen das erste Dritttheil unseres Jahrhunderts gezeigt hat, auch auf die fernere von den Grenzen des Jahrhunderts eingeschlossene Zukunft schließen will, so möcht’ es, vom Arme Gottes abgesehen, nicht 373 schwer seyn, zu bestimmen, wessen wir uns gewärtig halten dürfen. Was wird uns das Jahrhundert im Ganzen und Großen bringen, welche Grundsätze werden sich befestigen, welches wird der Same seyn, den künftige Zeiten von den unsrigen erben werden?

Der Inhalt unseres ganzen Werkes kam darauf hinaus, daß unsere Zeit die Resultate der Revolution sich auf gesetzmäßige Weise sichern will. Friedlich wird der Charakter unseres Jahrhunderts bleiben. Es hat am Kriege erlebt, wie wenig er die Frei­heit sichert, wie sehr er das allgemeine Wohl der einzelnen Will­kür preisgibt, selbst wenn diese das schöne Schauspiel darbietet, mit Genie verbunden zu seyn. Was zur Befestigung des Nationalwohles gehört, hat sich schon über die Untersuchung erhoben. Man rechnet dazu die rechtlich gesicherten Verfassungen der Staaten, die Erleichterungen der Existenz, die Abschaffung der Geburtsprivilegien, die Abschaffung der Priestervor­rechte. Wer wird läugnen, daß dies die Resultate der Revolution sind? Allein verschieden vom vorigen Jahrhundert wird sich das unsrige dadurch auszeichnen, daß es den Geist der Liebe und Versöhnung wieder walten ließ, daß es die Befreiung der einen nicht ohne Entschädigung der andern lassen will, daß es einen Abscheu empfindet, die Saatfelder der Humanität mit Blut zu düngen. Weil das, was unser Jahrhundert erstrebt, im Staate nur sich bilden kann, so umgeht 374 es den gegebenen Staat nicht, zieht ihm einen erst zu schaffenden vor und sucht aus ihm das Beste, was er vor der Hand enthält, zu entnehmen. Die Abneigung gegen die Fürsten mildert sich, wenn sie nur irgend einen Enthusiasmus für die ernste Aufgabe der Zeit verrathen. Aufrichtige Anerkennung bei den Fürsten, daß sie nur der Zufall auf eine Stelle erhob, wo sie zwar Menschen seyn dürfen, mit den unvermeidlichen Schwächen und Irrthümern, aber eigentlich doch nur die Bevollmächtigte einer höheren Idee sind, gewinnt wieder die Zuneigung der Gehorchenden. Wo Unruhe und Unbehaglichkeit zum Vorschein kommen, da entstehen sie wahrscheinlich nur aus Ueberdruß, daß die Regierungen das Falsche wählen, wo ihnen das Richtige so leicht an die Hand gegeben ist, daß sie Partei nehmen, wo sie neutralisiren sollen. In der Stimmung der Gemüther ist Schwäche mit Tugend gemischt; was man erreichen kann, wenn man sie zu benutzen weiß, zeigt das Beispiel Louis Philipps, seitdem er sich von der Schulmeisterei der Doktrinärs befreit hat.

Die konstitutionelle Verfassung wird das Schiboleth unseres Jahrhunderts bleiben. Jeder Tag zeigt, welch’ einer Ausbildung sie fähig ist, und welcher Ausbildung sie bedarf, um den Bedürfnissen, falls ihnen die Oeffentlichkeit abhelfen kann, entgegen zu kommen. Kein Staat wird sie umgehen können, ja derjenige Staat, welcher ihres äußern Gerüstes noch 375 entbehren zu können glaubt, wird sich doch immer der Wendung bedienen müssen, daß er Institutionen aufzuweisen hätte, welche die Konstitution ersezten, Persönlichkeiten, welche die Garantie zur Zeit noch unnöthig machten. Wenn zwischen der Fürsten- und der Volkssouveränität die Wahr­heit in der Mitte liegt, dann gibt es dafür keinen andern organischen Ausdruck, als eine Verfassung. Wenn die drei Staatsgewalten in einer wahrhaften Einheit wirken sollen, so muß es wiederum durch die Verfassung eine auf die andere können. Es ist möglich, daß die beste Staatsverfassung noch über ihrer gegenwärtigen konstitutionellen Form hinausliegt, aber daß sie durch diese hindurch muß, daß in ihr, wenn nicht die Form, doch das Wesen derselben (allein wie läßt sich Beides trennen?) muß aufgenommen seyn, steht fest. Gegen den ersten politischen Grundsatz unserer Zeit, die konstitutionelle Regierungsform, vermag nur diejenige Tendenz et­was einzuwenden, welche auch ohne Weiteres sich dem Geist der Zeit feindselig gegenüberstellt.

Es kömmt aber nicht allein auf die Form an, sondern noch mehr auf den Geist, der sie belebt. Sonst würden, wie dies wohl ge­schieht, alle feudalen Ueberlieferungen eilen, sich hinter verfassungsmäßige Schanzen zu werfen. Die Konstitution sichert nicht Jedem das, was er hat, sondern nur das, was ihm gebührt. Unser Jahrhundert ist darin so rücksichtsvoll, daß es die hier nothwendig ins Gedräng kommende 376 Eigenthumsfrage durch billige Abfindung zu lösen sucht. Wenn wir uns auszudrücken pflegen, daß der Bürgergeist in unserer Zeit alle übrigen Interessen überwiegt, so ist dies allerdings nur eine einseitige Bezeichnung. Das Richtige ist: Jahrhunderte hat der dritte Stand gebraucht, um sich eine Geltung zu geben. Er ist ein glücklicherer Vermittler der Staatsinteressen geworden, als der Adel. Wenn er den leztern an Macht überragt, ihn an Reichthum weit hinter sich läßt und selbst an Bildung übertrifft, so muß er auch gegen jenen immerdar einen Vorsprung gewonnen haben, in welchem ihn der Adel nicht wieder einholen kann. Ueberdies ist dieser dem dritten Stand gewordene Vorrang keine Usurpation, sondern die natürliche Folge einer Menge von Umständen, die alle zusammenkommen mußten, um den Adel in seiner früheren Geltung zu untergraben. Deßhalb sollen auch die Verfassungen nicht dazu dienen, feudalistische Ansprüche auch für die Gegen­wart noch zu befestigen und etwa ein Gleichgewicht zwischen dem Adel und dem Bürger in den modernen Staaten her­zustel­len; sondern es soll im Staat der Ueberhang mit einer entschieden abschüssigen Tendenz dem dritten Stande gebühren und die übrige Standschaft nur dazu dienen, den Staat in seiner Neigung von dem völligen Sturz zur Demokratie zurückzuhalten und der bürgerlichen Tendenz einigermaßen auch einen Zügel anzulegen.

377 Ein damit verschwistertes Resultat unsres Jahrhunderts ist der Kampf gegen die Privilegien. Wir wollen den Adel, weil er einmal da ist; aber Berechtigungen darf er seiner Geburt nicht, sondern nur seiner Bildung und seinem Verdienste entnehmen. Wir wollen die Religion, aber so wenig als möglich in Gestalt einer Kirche, welche weltliche Rechte ausüben darf. Seitdem der Adel sich den Grundbesitz hat nehmen lassen, und der Bürger, der ihn kaufte, nicht eo ipso dadurch in den Adel rückte, ist dies stolze Institut der Vergangenheit zertrümmert, sind diese unter uns herumwandelnden Edelleute, die nur noch den Namen und nichts mehr von der Sache des Adels haben, traurige Schatten einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Da jedenfalls das Vor­­handenseyn einer Adelskaste, die nur noch die Firma und nicht mehr den reellen Werth des Adels besizt, nur des immer nicht zu vermeidenden exklusiven Benehmens wegen zu Verwirrungen in dem politischen Leben der Gegenwart führt, so sollten einsichtsvolle Regenten, die einsehen, wie ihnen ein solcher federleichter Adel mehr schadet, als nüzt, ihn auch ohne weiteres aufheben. Sie sollten die Maxime, daß Adel nur an einem gewissen Güterbesitz hafte, ein für allemal annehmen, und sie mit der in England herrschenden Adelsverfassung, mit der Primogenitur und dem System der jüngern Söhne, die nicht mehr den Titel ihrer Väter führen, verbinden, denn wo soll 378 da Einigkeit und Vertrauen in das politische Leben kommen, wo sich durch den dritten Stand hindurch Namen drängen, die eine ganz unverdiente Auszeichnung besitzen und einen Unterschied erzeugen, der auf faktische Verhältnisse gar nicht begründet ist? Erst, wenn nur die adlig sind, welche ein gewisses Quantum von Länderbesitz haben und die, welche sich diesen Länderbesitz auch erwerben, es ohne weiteres werden können, dann würde der Adel, sowie der Doktortitel die Gelehrsamkeit bedeutet, so nichts als den Güterbesitz bezeichnen. Er würde dann nichts Exklusives für den Bürgerstand mehr seyn, und nicht mehr jenes große Hinderniß eines behaglichen Staatslebens bilden, welches er bis jezt noch immer in Deutschland und minder emanzipirten Ländern ist. Und wie mit dem Adel, so auch mit der Kirche. Der Zeitgeist wird sich nie mehr bereitwillig finden, ihr politische Rechte einzuräumen, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so soll die Kirche selbst aufhören, in Rücksicht auf die Religion in der Art eine Korporation zu bilden, daß sie etwa Staatskirche genannt wird oder sonst einen Vorzug vor jeder andern beliebigen religiösen Ueberzeugung genießt. Man kann diesen Zeitgeist verdammen, aber wo ist die Kraft, die ihn tödten könnte?

Endlich verlangt das Jahrhundert Freiheit für Handel und Gewerbe. Niemanden, es sey denn einen Erfinder, soll ein Monopol schützen. Der Staat soll 379 seine größern Hilfsmittel nicht benutzen, um in irgend einem Handels- oder Gewerbszweige mit dem Privatmann zu konkurriren. Wenn irgend Etwas dazu beiträgt, die Resultate der Revolution auf gesetzmäßige Weise zu erobern, so sind es die Erleichterungen des industriellen und merkantilischen Verkehrs. Um zu leben, wurden wir geboren, und um leben zu können, müssen wir unsere Hände rühren. Da die Existenz jezt weit schwieriger zu bewältigen ist, als früher, wo die ungleich vertheilten Reichthümer in der Masse noch nicht so sehr den Drang erzeugt hatten, über die Linie der Armuth hinaus zu gehen, so sind die Menschen auch mehr an die materielle Nothwendigkeit gebunden und gewöhnten sich an ein unumgängliches Interesse, das sie immer noch neben den sonstigen Tendenzen der Zeit, zu halten und zu schützen suchten. Ja, wäre im vorigen Jahrhundert der Bürgerstand schon so wohlhabend gewesen, wie jezt, hätten Handel und Gewerbe so sehr, wie heute, das nächste Interesse in Anspruch genommen, so würde man jene Reihe gewaltsamer Katastrophen nicht erlebt haben, an welche sich die lezten Dezennien unseres Jahrhunderts weit weniger anschließen werden, als es wohl noch die ersten thaten. Die Lenker der Völkerschicksale wissen, wie die stockenden Gewerbe die Ursachen der Unzufriedenheit nähren und die blühenden immer geneigt sind, sich mit der Autorität gegen Tumulte zu verbinden. So haben 380 auch die Regenten nichts eifriger zu thun, als sich dieses Beistandes der Betriebsamen gegen die immer mehr und mehr abnehmende Ideologie zu versichern. Alle nur möglichen Erleichterungen des Gewerblichen und Handelverkehrs liegen im Schooße des Jahrhunderts. Erfindungen, die eine neue Methode in Anwendung bringen, werden mit Jubel begrüßt. Die Gelehrsamkeit, welche diesem Drange nach Neuem entgegenkömmt, wird als die Modewissenschaft des Tages von allen Händen getragen. Die Beschleunigung der Wege, der Sieg über das Meer, Brücken, die über die Flüsse ge­schlagen, Häfen, Waarenhallen, Schiffe, die gebaut werden, dürf­ten im nächsten Leben unserer Zeitgenossen wichtige historische Momente werden. Ein Handelstraktat wird mehr Epoche machen, als eine politische Allianz.

Weiter möcht’ ich in die Zukunft, die vor unsern Augen liegt, mich nicht verlieren. Auch will ich nichts von dem, was einmal charakteristisch für unsere Zeit werden will, vom gemüthlichen, poetischen oder philosophischen Standpunkte einer Kritik unter­werfen. Möge nur dies eintreten, daß man einst von unsern Zeit­genossen noch Folgendes sagen kann:

Ihr Leben war mühselig, aber ihr Tod nicht ohne Hoffnung. Sie hatten eine verworrene Erbschaft zu theilen, mehr Schulden als Gewinn; aber sie betrachteten sich wie Brüder und gaben Jedem so viel, als seine Schultern zu tragen vermochten. Sie hin-381terließen mehr, als sie empfangen hatten. Die Schulden wurden getilgt und neue Kapitale angelegt. Sie arbeiteten auf dem Felde im Schweiße ihres Angesichts, hörten aber mit Freuden zu, wenn die Lerche sang. Sie waren zu geplagt und zu eng gedrängt, als daß sie selber vor Gott oft niedergesunken und ihm eine langwierige Andacht gewidmet hätten, aber in das Lob der Natur, in den Preis und Ruhm Gottes, den alle Welt singt, stimmten sie mit ein und dankten gerührt, wenn ein Anderer statt ihrer und für sie betete. Im öffentlichen Leben waren sie mißtrauisch, aber nicht feindselig. Abgewandt dem Staate, der sie nicht alle immer mit gleicher Liebe zu umfassen schien, wühlten sie doch nicht gegen seinen Bestand. Sie dienten ihm als Freigelassene, die sich gern aus langer Gewöhnung noch Knechte nennen, und brauchten ihr Recht nur, wenn es in Gefahr war, ihnen genommen zu werden. Das Vaterland war ihnen ein verworrner und doch heiliger Begriff. Sie hatten Sehnsucht zur Aussöhnung zwi­schen den Nationen und waren leichtgläubig genug, Andre nur nach sich selbst zu beurtheilen, vom Nachbar nur Gutes zu erwarten, wie sie selbst es ihm wünschten. Lieber als das Vaterland wurde ihnen die Muttersprache. Dieser hingen sie mit jener innigen, unzerstörbaren Liebe nach, welche sie für das Vaterland nur in sich hegten, wenn es bedroht wurde, nie aber, wenn die Liebe zu den Seinen die zu den Andern verlezt hätte. Ja, 382 dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Im Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Interesse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Interesse, und erzogen die Ihrigen nicht für einen Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. In der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt’ er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Im Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch 383 zu brechen. Sie starben ungerne, was viel sagen will, für den Werth des Lebens, welchen sie verließen. Die Mühen und Schmerzen des Daseyns hatten sie sich gewöhnt, als die eigentliche Form des Lebens zu betrachten. Da sie nicht mehr erwarteten, vermißten sie selbst das Wenige, was ihnen geboten wurde, ungern; doch starben sie nicht ohne Hoffnung.

Ich aber habe meinen Zweck erreicht, wenn dieses Buch in dem Gewirre von Schriften, die unsre Zeit oft ohne Fug und Grund in die Zukunft vererbt, von irgend einem Weisen, der das neunzehnte Jahrhundert so schildern will, wie wir wohl das achtzehnte, als Quelle benuzt wird. Schildert es meine Zeitgenossen nicht immer so, wie sie sind, so genügt es schon, dereinst zu wissen, wofür wir uns gehalten haben. Und wenn sich in diesen anspruchslosen Skizzen und Erörterungen Irrthümer finden, so werden sie auch als solche nicht ohne Gewinn für die Zukunft seyn. Sie werden unsere Zeit vielleicht dadurch am meisten charakterisiren, daß wir sie für Wahrheit gehalten haben.

384 Anhang.#

Wie wir vom Alterthum die klassischen Ueberreste unsterblicher Gedichte, Geschichtswerke, Bauten und Bildsäulen haben, aber aus den Schriften eines Plutarch, eines „mittagsbrodweisen“ Athenäus, aus unbedeutenden Votivtafeln und staatsökonomischen Ausgaben, die man auf Inschriften verzeichnet findet, das innere Getriebe des Alterthums noch besser kennen lernt, wie aus jenen; so wird auch dieses Werk seine Bestimmung, die Zu­kunft über die Gegenwart aufzuklären, nicht verfehlen. Selbst die Irrthümer dieses Werkes, wenn sie eine irgend-wie nur zeitgemäße Entschuldigung zulassen, sprechen vielleicht deutlicher für den Charakter der Epoche, welcher es gewidmet ist, als die Wahrheiten, die sich zu allen Jahrhunderten gleichbleiben. Und um diesen Eindruck des unmittelbar vom Tage Gegebenen unserm Werke noch unmittelbarer zu sichern, damit der Moment den später prüfenden Zeiten noch lebensfrischer und bunter in die Augen springe, folge hier eine Betrachtung, die der Anbruch des Jahres, in welchem diese Blätter vollendet wurden, in ihrem Verfasser anregte.

385 Das siebente Jahr der Julirevolution! Wie die linke Seite fürchtet, das erste der magern, wie die rechte hofft, das lezte der fetten Jahre. Im Allgemeinen ist es ein merkwürdiger Ge­genstand, der die Feder des Publicisten beschäftigen darf, dieses allmälige Ausklingen der Julirevolution, diese Ausgleichung des Außerordentlichen und Neuen mit dem Gewohnten und Alten, diese Legitimisirung, wie die Einen, diese Reaktionen, wie die Andern sagen werden, mit unparteiischer Resignation zu verfolgen. Mit dem Jahre 1830 wurde die politische Existenz Europas in eine chaotische Gährung geworfen, durch Stoffe, welche aus dem Conflikt der Umstände, wie elektrischer Niederschlag geboren waren, durch hundert Elemente der Persönlichkeit, durch getäuschte Hoffnungen, stille und mächtige Wünsche, kurz durch jene allgemeine Centrifugalität der Geister und Gemüther, welche man fühlt, wenn man an eine neue Periode, an ein neues Saatfeld gereifter Prämissen Saturn seine herbstliche Sichel sezt. Doch jedes Jahr, das auf jene Epoche folgte, versuchte die Aufregung der Gemüther und die Verwirrung der Thatsachen allmälig immer mehr in die Fugen der alten Gewöhnung zurückzudrängen und die Resultate der neuen Erfahrung beim Kapitalstock der Vergangenheit anzulegen. Im ersten Jahr der Julirevolution fällt Polen, im zweiten beruhigt sich die Gährung Deutschlands, im dritten werden die republikanischen Institutionen aus der 386 Umgebung der französischen Monarchie wieder weggenommen, im vierten fällt sogar das Ministerium der Reform, im fünften siegt die unumschränkte Monarchie durch Noten im Osten und sogar durch die Waffengewalt im Südwesten, im sechsten Jahre treiben sich die gescheiterten Trümmer der Revolution auf dem Meere einer nicht bloß mißgünstigen Stimmung der Umstände, sondern gar schon der öffentlichen Meinung rettungslos und ohne Asyl umher; was wird das siebente Jahr der Revolution bringen?

Daß alle Begebenheiten seit jenem Augenblicke, wo die Julirevolution mit dem status quo sich zu versöhnen suchte, also seit dem 7. August, dem Geburtstag der Orleanischen Dynastie, den einen unabänderlichen Zug verrathen, gleichsam wie eine in die Luft geschnellte Last wieder die Sicherheit der heimathlichen und mütterlichen Erde zu finden, dies ist über allen Zweifel gesezt. Allein man sollte darin weniger eine politische, als eine moralische, ja nicht einmal so sehr moralische, wie natürliche Entdeckung zu machen glauben. Auch ohne rückwirkende und ent­gegenstemmende Kräfte würde das einfache natürliche Gesetz der Gravitation den Aufschwung wieder dahin zurückgebracht haben, von wo er sich erhob. Der Publicist, verpflichtet, den Zwiespalt der Menschen und Dinge nicht zu mehren, sondern wo er nur kann, Hände zur Versöhnung in einander zu legen, der Publicist hat die Aufgabe, an den Erscheinungen, wel­che die Geschichte 387 der sechs lezten Jahre darbietet, den Verlauf der Natürlichkeit nachzuweisen, das menschliche Gemüth gegen die exaltirte Schroffheit zur That auffordernder Umstände geltend zu machen, die Halbheit der in den Begeben­heiten liegenden Keime nachzuweisen, und überhaupt, obschon ein Mann der politischen Debatte, doch die Debatte als das zu zeichnen, was sie ist, als einen oft nur trüglichen Thermometer der Hitze und der Kälte, welche sich in den Empfindungen der Zeitgenossen findet. Für diese ruhige Betrachtung dessen, was wir seit sechs Jahren mit einander verlebt haben, wird jezt der Augenblick erst günstig, jezt, wo man sich allmälig daran gewöhnt, die Mäßigung der Unparteilichkeit nicht mit dem Indifferentismus der Parteilosigkeit zu verwechseln. Jezt, wo zum Bei­spiel ein so entschiedenes Nivellement der politischen Urtheils­kraft eingetreten ist, daß man jedem Worte Dank sagen muß, welches noch mit Milde, Klugheit und feiner Berechnung zwischen das tritt, was wir rings um uns sehen, Triumph, Besorgniß, Apathie, Mißlaune, Stillschweigen. Man lasse doch den Geist des Mechanismus auch in diesem Bereiche nicht über sich kommen, daß man immer nur glauben wolle an rück- und vorwärtswirkende Kräfte, an Maulkörbe, Bajonette; man gewöhne sich daran, daß das, was geschieht, wenn auch nicht immer, doch selten anders geschehen konnte, und daß wenigstens im Urtheil eines freimüthigen Publicisten nicht das 388 Resultat des Kampfes, sondern die sich gegenüberstehenden Kräfte, nicht der Sieg der Einen und die Niederlage der Andern entscheidet, sondern der Inbegriff von Kräften, der zum Kampfe auftreten, hier angreifen und dort Widerstand leisten konnte. Es ist Zeit, den Gesichtspunkt aller politischen Betrachtungen nachgerade nur innerhalb der Historie zu nehmen, weniger von Parteien und Systemen zu sprechen, als von Völkern, Nationalinteressen und jenen allgemeinen Individualitätsbezügen, welche noch jedem Jahrhundert seinen eigenthümlichen Charakter gegeben haben. Nicht Discussionen dieser oder jener symbolischen Formel, nicht die Erbitterung der zu verschiedenen Glaubensfahnen schwörenden Völker und Parteien, wo sich immer Nationales oder sonstige Antipathien in den Haß mischten, entscheiden zum Beispiel über das Wesen des sechzehnten Jahrhunderts, sondern jenes allgemeine Interesse eines endlich zur Entscheidung kommen­den Kampfes zwischen Licht und Finsterniß, so daß man bei der Reformation, um nur von dieser zu sprechen, weit weniger auf den sehen muß, welcher sie machte, als auf die, welche sie vorbereiteten, und wieder auf die, welche ihre Fortschritte begünstigten, ohne sich für das Schiboleth des Tages auszusprechen. In einer ähnlichen allgemeinen Betrachtung unserer Zeit, in einem Gesichtspunkt, der historisch ergriffen ist, liegt gegenwärtig nur noch die Möglichkeit, die Zeitgenossen über Vergangenheit und Zukunft 389 aufzuklären, sie das Vorübergehende von dem Ewigen in ihren Interessen unterscheiden zu lehren, und ihnen ein Daseyn erquicklich zu machen, welches, wenn es nur momentane Blüthen und Freuden treiben sollte, ihnen leicht ohne allen Duft und alle Freude erscheinen würde.

Dennoch wollen wir nicht vom Jahrhundert sprechen, sondern nur von einem hundertsten Theile desselben. Wir wollen hier nicht philosophiren, sondern uns den Moment vergegenwär­tigen, klar, lebendig, thatsächlich. Man soll über die Politik des Jahrhunderts immer so schreiben können, daß man eine Anknüpfung seiner Behauptungen dem Leser an seine tägliche Zei­tungslektüre nicht allzusehr erschwert. Aus dem Wirrwarr der kon­fusen Tagsgeschichte entstehen die Irrthümer, Unbehaglichkeiten und Indigestionen des Zeitgeistes. Man muß die Brücke vom Ewigen zu seiner zeitlichen Erscheinung nicht allzu riesenartig bauen. Versuchen wir es demnach, unsere Auffassung der Zeit anzuknüpfen zuerst an die Politik Louis Philipps, zweitens an die Ausbildung der englischen Reform, drittens an die Verwirrung der pyrenäischen Halbin­sel, und endlich viertens an den beweglichen hin und her irrenden Schwerpunkt der Politik des Ori­ents.

Man behauptet nicht zu viel, wenn man in Louis Philipp den Wendepunkt aller Ereignisse sieht, welche das allmälige Schicksal der Julirevolution 390 entschieden haben. Und dies nicht allein durch die Masse von Ehrgeiz, Dienstanerbietung, Intrigue, Leidenschaft, die sich um ihn herum gruppirt, und seine Entschließungen gefangen nehmen will, sondern noch weit mehr durch ihn selbst, durch die Unveränderlichkeit seiner eige­nen Ideen und die Zähigkeit, mit der er billigt und doch verwirft, an sich zieht und doch zurückstößt, freundlich grüßt und damit bedeutungsvoll drohen will, wenig verspricht, ohne abzuweisen, nichts hält, ohne streng genommen für wortbrüchig erklärt wer­den zu können. Wer ist Louis Philipp? Jezt ein König, ehe­mals ein Lehrer in der Schweiz, der Unterricht in der Mathe­matik gab. Er muß die Fähigkeit im höchsten Grade besitzen, sich in fremde Zustände zu versetzen, fremde Resignation nach seinem eigenen Besitzthum zu ermessen, diese große Eigen­schaft, welche allen im Glück Gebornen abgeht, und sie ent­weder gegen den Entbehrenden abstumpft, oder seinen Verlust auf sentimentale Weise viel zu hoch anschlagen läßt. Wer den Geschmack des Besitzes nicht fein und nachhaltig durchkosten kann, versteht auch nie, die Distanzen und Intervallen abzu­mes­sen von Mehr zu Minder, von Allem zu Etwas und von Etwas zu Nichts. Louis Philipp ist kein geborner Herrscher. Er ist nur der Repräsentant einer gewissen rationellen Nothwen­digkeit der Monarchie, die gerade er vorzustellen glücklicher­weise eine Berechtigung des Blutes hatte. Er ist der Sohn eines Republika­ners. 391 Als Louis Philipp Egalité hat er lernen müssen, von dem, was ihm angeboren, nichts zu erwarten, und im Ge­gentheil alles nur von dem, was er sich selbst zu erwerben im Stande war. Der angebornen Würde beraubt, blieb ihm nichts übrig, als sich durch Studium und Entsagung dazu die mora­lische Berech­tigung zu geben. Was ihm die späteren Wendungen der Ge­schichte wieder verschafften, Reichthum, Namen, poli­tische Stel­lung, einen Königsscepter, das alles mußte er weit entfernt seyn, mit dem Gefühle anzutreten, als wäre es sein un­mittelbares Eigenthum. Durch diese fortwährende Reflexion eines in sich zwiegespalteten Bewußtseyns überkam ihn jenes Oekonomi­siren, jenes Geizen mit dem Augenblicke und mit sich selbst, welches man ihm mit nicht besonderem Takte, als kauf­män­nische Eigenschaft ausgelegt hat, da es doch nur der Zwie­spalt seines, durch Schicksal und Bestimmung nach zwei entge­gen­ge­sezten Seiten hingezogenen Gemüthes ist.

Man kann eine Bedeutung darin finden, daß gerade nach der Julirevolution ein solcher Mann an die Spitze der Ereignisse (ich sage nicht, als aktiver Moment, sondern nur als Wendepunkt) ge­stellt ist, welcher die beiden Extreme der Zeit in sich selbst zu vereinigen scheint. Ein Republikaner von unten herauf bis zum Träger einer Krone, das ist weniger außerordentlich, als die Mit­telglieder, die zwischen beiden Extremen inne liegen, und alle dem Prinzipe 392 huldigen: der Mensch ist, was er ist, nur durch sich selbst, man muß ringen, klettern; man muß hungern, viel lernen, viel wissen, man kann keine Würde haben, ohne sie sich zu verdienen, man ist alles das, was man durch sich selber seyn will. Die Organe der Torypartei verspotten den Napoleon of peace; allein es liegt eine merkwürdige Parallele im Leben Napo­leons und Louis Philipps. Die Größe Napoleons ist ganz antik und plastisch. Er wurde, was er ist, durch die Unerschrok­kenheit seines eisernen Trittes, und durch die zermalmende Kraft seines ehrgeizigen Armes. Aber Louis Philipp hat ganz denselben Weg gemacht, wenn gleich nicht in den Stürmen der Schlacht, sondern durch ein romantisch-labyrinthisches Ge­winde von Abenteuern und Zurücksetzungen allmälig bis zur Höhe jenes grünen Zweiges der Friedenspalme, zu deren Seg­nungen und Consequenzen sicher noch die kommen wird, daß er gefeit vor republikanischen Pistolenschüssen im Arm der Seini­gen entschlummern wird. Die ganze Lebensbahn Louis Phi­lipps ist auf diese schon stereotyp werdenden Ideen der Jezt­welt gegründet, auf Bürgerlichkeit, auf eine gewisse Nüchtern­heit sentimentaler und populärer Philosophie, auf indi­viduelle Tüchtigkeit und Ausdehnung im einmal erworbenen Berufe, auf einen gewissen stillen Ehrgeiz, der sich niemals so weit vor­dringen würde, daß er compromittirt werden könnte, kurz auf Eigenheiten und Prinzipien, die 393 allerdings unsrer Zeit ein etwas kaufmännisches und comptoiristisches Ansehen geben.

Ein so durchgeführter Lebenslauf kann auch nur mit der Poli­tik endigen, für welche sich Louis Philipp entschieden hat. All sein Vermögen und seine Kraft ist ein Erwerb. Nachtwachen und Entbehrungen kleben daran. Die Sicherung dieses Erwerbes ist der einzige beseligende Gedanke, mit welchem er aus der Mitte seines jetzigen Glückes einmal durch den Tod heraustreten würde. Er will nicht bloß etwas erworben haben, sondern auch eine Erbschaft hinterlassen. Er findet sein Glück darin, das­jenige, was er nach und nach sich angeeignet hat, seinen Erben im Ganzen und Großen zu hinterlassen. Befestigung, Erhaltung, Sicherstellung sind die leitenden Prinzipien der Politik Louis Philipps und machen ihn zum natürlichen Oberhaupt aller derjenigen, welche nicht nur haben, sondern auch lieb haben, was sie besitzen. Was besizt nun aber Louis Philipp? Die Herrschaft über eine Nation (gegen die Herrschaft über das Land haben die Franzosen protestirt), welche durch eigenes Auflehnen gegen die überlieferte Gewohnheit, durch die Leichtigkeit, mit der sie ihre Herrscher veränderte, durch den Ehrgeiz, kein willen­loses Conglomerat von Abhängigkeiten vorzustellen, eine ganz eigene Behandlung erfordert. Louis Philipp will sich zu­nächst durch die Franzosen erhalten, und ist weltweise genug, dahin zu arbeiten, daß die 394 Franzosen nur wünschen sollen, sich ihn zu erhalten. Vielleicht ist es auch Ueberzeugung, wenn Louis Philipp noch nach jedem Attentate auf sein Leben jenen von der Opposition vielfach bekrittelten Satz aufgestellt hat: „Ich sehe, daß mein eigenes Leben das Unterpfand für Frank­reichs Ruhe und Glück ist.“ Louis Philipp kennt die Geschichte genug, um alle Interessen der Jeztwelt nebenein­an­der zu stellen, das Gleichartige aus ihnen auszuziehen und auf das, was der Majorität förderlich ist, einen Schluß zu machen, der zufällig mit seinem eigenen Interesse übereinstimmt. Ich glaube, daß Louis Philipp abdanken würde, wenn er die Ma­jo­rität der Nation gegen sich hätte. Da er sie aber für sich hat, so nimmt er diese Erfahrung zwar zunächst als eine Pflicht, zulezt aber immer als eine Gunst des Glückes auf, die einmal erlangt, man sich auch dauernd zu sichern verpflichtet und berechtigt sey.

Nimmt man für die Rathschläge, welche den König der Fran­zosen bedienen wollen, drei Nüancen, Guizot, Dupin und Odi­llon Barrot an, so steht es fest, daß, wenn auch für den Augenblick der König irgend einer dieser drei Parteien den Hand­schuh einer augenblicklichen Gunst in den Schooß wirft, doch hinter dem Visiere des von ihnen entlehnten Systems immer sein eigenes specielles Hausinteresse durchschimmert. Casimir Pe­ri­er war der einzige Rathgeber des Königs, bei welchem es zweifelhaft 395 blieb, ob seine Politik das ganz-identische Interesse Louis Philipps deckte, oder ob der König auch bei ihm eine Annäherung vermißte, welcher zu Liebe Guizot schon einigemal und Thiers vielleicht auf immer gefallen ist. Viel­leicht betrachtete Louis Philipp seine Stellung in den ersten Jahren nach der Julirevolution noch immer als interimistisch; vielleicht suchte er damals noch den Schwerpunkt der Interessen Frankreichs irgendwo zu finden, bis er ihn, wie er oft genug ge­sagt hat, in seinem eigenen Leben fand. Diese unverdeckte Ueberzeugung ist die merkwürdige Kluft, die ihn selbst von seinen Freunden trennt, die ihm mit der Zeit sogar diejenigen abwendig gemacht hat, welche doch alles dazu beigetragen hat­ten, ihn in dieser siegreichen Ueberzeugung zu stärken, die ihm behilflich waren, erst die englische Allianz zu schließen, dann sie mit der russischen zu vertauschen, die als Brautwerber für seine Söhne und Töchter auftraten und ihn in jeder Weise an die europäischen Dynastien assimilirten. Und doch ist dies das Ab­weichende, welches sich in den Systemen selbst der entschie­densten Hingebung gegen Louis Philipp zeigt, daß die Dok­trin, der Tiersparti, die dynastische Oppo­sition, Jeder in seiner Art, vom Glücke Frankreichs eine Mei­nung hat, die auf That­sachen, Erfahrungssätze und historische Prinzipien gegründet ist. Diese Positivität abstrakter Systeme, dies Verwerfen aller Persönlichkeit hat Guizot mit Odillon Barrot so gut ge­mein, 396 wie mit Dupin; nur Thiers machte vielleicht eine Ausnahme und war, wie die unbedeu­tenden Herren von Mont­alivet und Sebastiani, allen königlichen Spezialitäten aufs Entschiedenste hingegeben, nur die einzige spanische Frage viel­leicht ausgenommen, wo sich bei Thiers noch einmal der Journalist, der entschiedene Feind alles Carlismus regte. Die Pistolenschüsse einerseits und die Ministerialkrisen andrerseits machen jedoch, daß Louis Phi­lipp in seinen Hausinteressen allmälig immer mehr die von verschiedenen Parteien über Frank­reichs Wohl aufgestellten Grundsätze absorbirt und zulezt von den Staatsmännern kein andres System mehr verlangen wird, als das einer persönlichen Hingebung. Er sieht das Wohl Frankreichs in der neuen Dyna­stie und sucht eines durch das andere zu befestigen.

Machen wir nun von dieser hier in Kürze skizzirten poli­tischen Sachlage Frankreichs eine Anwendung auf die Interessen Europas im Ganzen und Großen, so kann man nicht läugnen, daß die Interessen Louis Philipps, ob zufällig oder noth­wendig, allmälig der Einschlag des ganzen europäischen Staats­gewebes geworden sind. Die alliirten Monarchen haben Frank­reich besiegt. Preußen besizt zum Beispiel vor allen krieg­füh­renden Nationen voraus eine imposante Kriegsmacht, und was von allen übrigen kriegführenden Nationen gefürchtet wird, meh­rere höchst wichtige Geheimnisse der Belagerungskunst. Dennoch 397 gelang es Frankreich selbst unter der matten Herr­schaft der Bourbonen, noch den kaum versöhnten Feind als Beobachtungsgarnison im Lande habend, die meisten europäi­schen Fragen in seine eigne Discussion zu verwickeln, so daß es geblieben ist der Puls und der Sitz der Symptome für die ge­sunden und krankhaften Zustände unseres Welttheils. So sind auch nach der Julirevolution alle erfreulich an- oder bedenk­lich aufregenden Impulse von Frankreich ausgegangen, siegten oder wurden auswärts besiegt, und kehrten entweder beutebela­den, triumphirend oder gedemüthigt, erfroren oder verwundet auf den Herd ihres Ursprungs wieder zurück. So möchte, wenn man einmal annehmen muß, daß sich durch die Julirevolution eine neue Frage zur Entscheidung drängte, die letzliche Bestim­mung über das Schicksal derselben jezt in Deutschland, ja sogar in der Schweiz und in England schwierig, vielleicht unmöglich seyn. Die Politik Louis Philipps dage­gen ist der Barometer aller Abstufungen, welche nach und nach die von der Julirevo­lution geweckten Fragen erleiden mußten, der Abstufungen so­wohl von der Leidenschaft herab zur Beson­nenheit und bessern Einsicht, wie von begeisterten Träumen und hörbaren Wün­schen hinunter zur getäuschten Hoffnung. Alles, was wir zuerst aus der Julirevolution als unerheblichen Ballast werfen sahen und die Schiffstrümmer, die sich jezt, wo sie allmälig scheitert, eines nach dem andern an die Ufer des 398 Bestehenden wer­fen, vergegenwärtigt uns die Politik der Tui­lerien.

Im Allgemeinen wird man eingestehen müssen, daß die Revolution sich allmälig um das Recht ihrer Entscheidung, ja sogar um das Recht der Initiative gebracht hat. Alles an ihr Formelle hat sich compromittirt, alles Reelle hat wenigstens da­durch, daß es selbst von denen, die ihr widerstrebten, angenom­men werden mußte, sich dem Vorurtheile nicht entziehen kön­nen, daß es auch ohne gewaltsam angewandte Mittel würde er­reicht worden seyn. Eine solche Ueberzeugung kann aber nicht durchdringen, wenn sich nicht auch auf der andern Seite das Gegentheil der Revolution mit den Berufungen, Appellationen, mit den scheinbaren Rechtsbegründungen derselben abzufinden sucht. Es ist durch den Ursprung und den Fortgang der Macht Louis Philipps klar genug bewiesen, daß die bloß einseitige Bekämpfung der Revolution zwar einen momentanen Sieg er­zwingen kann, aber dabei doch ohne Resultate ist, weil mit dem Siege auf der andern Seite keine vollständige Niederlage ver­bunden war. Man vernichtet die Revolution nur dadurch, daß man sich bemüht, ihr nichts zum Vorwande dienen zu lassen. Es dürfen die strengsten Gesetze nur gegen den Mißbrauch der Freiheit gerichtet seyn. Die Freiheit selbst muß dagegen Ziel, Mittel und Weg jeder Maßregel werden, welche für die Politik einige Dauer verspricht. Die Grundlage der 399 Discussion, die ganze politische, ja sogar wissenschaftliche und literarische Dialektik muß in sofern auf die Thatsachen der Revolution ge­richtet seyn, daß sie ihnen nicht mit blödem Auge aus dem Wege geht, daß sie den Feind sogar aufsucht und jede ihrer Behauptungen mit der offen zugestandenen Frage der Revo­lution in eine mehr als bloß ausweichende und verächtliche Berührung führt. Welches ist der große Vorsprung, den Frank­reich in seiner innern Politik vor andern Staaten voraus hat? Es kennt die Revolution, es fürchtet sie, aber es verachtet sie nicht, es läßt sich mit den exaltirtesten Träumen in Unterhandlungen ein, die wenigstens das Gute haben, daß das Ueberfliegende methodisch beschämt wird. Bei dieser Verfahrungsweise wird man auch immer darauf herauskommen, daß es gewisse Haupt­grundlagen der modernen Existenz als Mensch und Bürger gibt, die einmal unbedingt als absolute Nothwendigkeit gelten müs­sen, wenn man sie auch relativ einschränkt, z. B. durch Sep­tembergesetze, welche nicht das Prinzip der freien Presse, son­dern nur einen unmäßigen Gebrauch derselben einschränken.

Wenn die Revolution sich auf den reinen Ursprung zu­rückführen ließe, daß sie ohne Leidenschaft und egoistische Absicht der Menschheit nur ihr Angestammtes und Natürliches zu erhalten sucht, so drückt England vielleicht noch voll­stän­diger und freier das Ewige und Unverjährliche gewisser men­schen­rechtlicher Prinzipien 400 aus. England kann noch weit mehr wie Frankreich als Muster dienen für diejenigen poli­ti­schen Fragen, welche bei der Aufklärung und den Fortschritten unseres Jahrhunderts kaum noch in Discussion kommen sollten. England steht nur deßhalb hinter Frankreich zurück, weil es eine Specialität ohne recht passende Anknüpfung für andere Staaten ist. Eben die Discussion macht Frankreich trotz seines viel schwä­cher ausgebildeten Sinnes für Bürgerthum und Menschenwürde doch mehr zum Symptom jener Resultate, welcher sich der Zeitgeist in der Schwebe des Augenblicks rühmen darf. Das mei­ste an den politischen Parteikämpfen Englands ist dagegen auf historische Grundlagen gebaut, die nur eine ungefähre Ver­gleichung mit dem übrigen Europa zulassen. Die Zufälligkeit, wie die englischen Staatsmänner die Herren ihrer Meinungen werden, wie Torysmus und Whigismus oft nur eine Folge des ererbten Blutes und Vorurtheils, ja noch öfter die Folge einer capriciösen Laune, wie es unfehlbar bei Palmerston, Lyndhurst, Peel der Fall ist, weicht zu auffallend von der Art ab, wie man auf dem Continente auf dem Schlachtfelde der Meinungen zu Bun­desgenossen und Gegnern kommt.

Demokratie und Aristokratie sind Früchte eines ganz ver­schiedenen Stammes, während Whigismus und Torysmus doch immer zulezt die Zwillinge einer und derselben aristo­kratischen Mutter sind. Der Liberalismus der whigistischen Partei ist rein eine 401 Prinzipiensache und dagegen die Basis ihrer bür­ger­lichen Existenz so vollkommen aristokratisch, wie das Vor­urtheil des Adels nur immer seyn kann. Die whigistische Ari­stokratie ist sogar weit reicher, als die torystische und als große Güterbesitzer den Vorwürfen des Egoismus weit mehr ausgesezt, als jene. End­lich die Radikalpartei leidet vollends keine rechte Beziehung zu dem, was sie im Ganzen und Großen für Europa beweisen könnte. Ihre Theorie ist entweder durchaus französisch oder verbindet einen gewissen Amerikanismus der Prinzipien mit utopistischen Träumen, wie sie Bentham und besonders Owen angewendet haben. Leztlich hat sich sogar noch in England eine Art liberaler Doktrinärs gebildet, die seit einiger Zeit im Parla­mente der Fahne des Herrn Grote folgen. Dieser kleine Pha­lanx verwirft die historischen Anknüpfungen des bisherigen englischen Partei­we­sens und sucht seinerseits gegen Whigs und Torys und auch gegen Radikale, die immer historische Vorbilder, wenn nicht Frankreich, doch Rom und Griechenland vor Augen haben, ih­rerseits aprioristische Thatsachen geltend zu machen. Er ist kenntlich durch das Schiboleth der Wahlreform und der gehei­men Abstimmung.

Hätten die Engländer von jeher diese Mittheilungslust beses­sen, die sie jetzt zu beselen scheint, hätten sie schon früher ihren Egoismus durch wißbegierige Betrachtungen fremder Ver­hält­nisse, wie dies 402 jezt der Fall ist, zu widerlegen gesucht, so würde Europa vielleicht einen ganz andern Entwicklungsgang genommen, vielleicht die ganze französische Revolution, Napo­leon und alle jene Folgen derselben, welche die Existenz und die Ideen gleich sehr verwirrten, vermieden haben. Man muß den Engländern dies stolze Bewußtseyn lassen, daß sie die Gefahren, die Europa gegenwärtig läuft, die Europa namentlich zur Zeit der französischen Revolution lief, schon vor hundert Jahren überstanden haben. England war eine Republik, nicht bloß durch Zufall, wie Holland, oder aus Armuth, wie die Schweiz, sondern aus Prinzip, aus lauter Prämissen, die erst hundert Jahre später in Frankreich beinah zu einer Schicksals­nothwendigkeit reiften. England hatte seine Clubbs, seine Jako­biner, es hatte seinen Militärdespotismus, seine Restauration, es hatte längst jene Erfahrungen, welche, da sie von Frankreich ge­macht wurden, eine so außerordentliche Wirksamkeit auf das ganze übrige Europa hatten. England besaß aber nie die Fähig­keit, sich mitzutheilen; es verschloß seine Geschichte, wie seinen Charakter, es verzehrte sich an seinem eigenen Ruhme und hat dafür auch die Demüthigung erfahren müssen, daß die fran­zösische Revolution, ein Plagiat der englischen, nicht nur zu Ende des vorigen Jahrhunderts, sondern auch noch im Jahre 1830 in ihren lezten Gewitterschlägen jenseits des Kanals eine größere Wirkung hervorbrachte, als der das 403 Ausländische verachtende Engländer dem Charakter der Nation und der Dau­erhaftigkeit ihrer Einrichtungen zugetraut hätte.

Wir können, indem wir von Englands Einfluß auf Europa sprechen, hier nicht umhin, einen Ideengang zu entwickeln, wel­cher sich mit glänzender Wahrscheinlichkeit uns aufdrängt. Man kann im Allgemeinen als gewiß annehmen, daß die meisten Er­fahrungen und Abstraktionen, welche im vorigen Jahrhundert auf die Literatur paßten, im neunzehnten Jahrhundert auf die Verhältnisse der Politik zutreffen. Es läßt sich zwischen beiden Zeiträumen und beiden sie bewegenden Ideenkreisen eine Paral­lele ziehen, die in allen Beziehungen schlagend ist. Was heu­tigen Tags die Literatur ist, das war im vorigen Jahrhundert die Politik, eine Tradition mit viel Routine, viel Feinheit und spitz­findiger Gewandtheit, die aber durchaus aller frischen, leben­digen Kraft ermangelte, zwar das Alte sehr gut zu beurtheilen, aber durchaus nichts Neues zu schaffen wußte. Was die Frie­densschlüsse, Allianztraktate und diplomatischen Noten in der Politik sind, das ist in der Literatur die Kritik, die Konversation, die Rhetorik. Wir haben gegenwärtig sehr feine und gespizte Federn. Wir hatten im Anfang des vorigen Jahrhunderts sehr schlaue und umsichtige Staatsmänner. Wir haben jezt viel Witz; wir hatten früher viel Intrigue (Intrigue ist der objektive Witz der Verhältnisse). Wir haben jezt 404 manche Einzelstehende, wirklich poetische Erscheinungen; wir hatten im vorigen Jahr­hundert hier und da treffliche Persönlichkeiten in Schweden, Schottland, Ungarn und in Corsika. Der ganze behagliche Eklektizismus, der jezt in der Literatur herrscht, herrschte im vorigen Jahrhundert in der Politik. Trifft diese Parallele von der einen Seite zu, so ist sie noch schlagender von der andern. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts ging zu Anfang von den Franzosen aus, wurde dann von den Engländern erobert und von den Deutschen auf eine Höhe gebracht, die Frankreich und Eng­land nur noch immer ahnen, und freilich an uns, die wir von jener Höhe längst herabgestiegen sind, nicht begreifen können. Racine, Boileau, Voltaire hatten über alle Literaturen des beginnenden und mittleren vorigen Jahrhunderts das Prinzipat errungen. England sogar hatte Shakespeare vergessen und zog die Poesie Johnsohns und seiner Schule, die drei Ein­heiten der bunten Mannigfaltigkeit ihrer ältern Heroen vor. All­mälig aber gewann in England der bessere Geschmack die Ober­hand. Wenn man auch den Werth der Natur in der Poesie noch nicht zu schätzen wußte, so machte doch das sentimentale Gen­re, welchem man sich hingab, ohnehin, daß sich allmälig die Individualität, das unmittelbare Gefühl als das einzig Natürliche und Schöne auch prinzipienmäßig feststellte. Man hatte noch nicht Sinn genug, die Schönheit Shakespeares wieder zu 405 verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Nai­vetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbil­dete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Be­griffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Impuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstum­men und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen.

Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmit­telbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem gan­zen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maß­stabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, wel­che von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den west­phälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Mode­zuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fisch­bein, der, wenn er sich überlebt haben 406 wird, uns gemah­nen dürfte, wie wir jezt eine Tragödie von Racine lesen, präch­tige und wallende Conceptionen, bauschiger Redeprunk, die feinsten, praktischen, großblumigen Bemerkungen, schmei­chelnd einen neuen Louis quatorze, der Volkssouveränität, fertig und abgerundet in Form, Haltung und System. Es gibt Heroen, es gibt Kleinmeister des Liberalismus. Der gottbegeisterte Schmelz einer Athalie sinkt herab zur Verknöcherung eines Gott­sched’schen Dramas. Wir erleben überall mit dem Libe­ra­lismus dasselbe. Wir finden, daß er begeistert, daß er die Reli­gion von Millionen ist; wir finden aber auch zugleich, daß er nicht von Seiten der Conservative, sondern gerade sogar von der dem Neuen mit ganzer Seele hingegebenen Partei des Fort­schrittes schon als nüchtern, vertrocknet und das Gemüth auf keine Weise mit frischem Thau befeuchtend zurückgewiesen wird. Wir stehen in der Politik gerade da, wo wir im vorigen Jahrhundert mit der Literatur standen. Wir schreiben unsere Bre­mer Beiträge, wir bekämpfen die einseitige Erstarrung der Theo­rien, wir verwerfen jede feudalistische Reaktion, jede Lotterei im Gebiete des Schönen und Wahren, wir bekämpfen aber auch das, was sich als das Neueste vom Jahre ausgibt, den schema­tisirenden, papiernen Constitutionalismus unserer Zeit, eine Ma­nier des Fortschrittes, die sich schon längst wieder innerhalb der Schranken der einseitigsten Pedanterei bewegt. Das Neue wollen und Gottsched 407 bekämpfen! Die Revo­lution der Schön­heitsbegriffe lehren und die Theorie Batteux verwerfen! Dies war der Widerspruch, welchen man jenen Gei­stern vorhielt, welche die zweite Hälfte des vorigen Jahr­hunderts zur klassi­schen Periode stempelten, die sich aber bald rechtfer­tigen konn­ten durch die Hinweisung auf das englische Vorbild. Trifft unsere Parallele zu, so werden noch zehn Jahre etwa der Abhän­gigkeit unserer politischen Begriffe von den französi­schen Theo­­rien hingehen, und sich dann neue Begrün­dungen über Politik und praktische Staatsrechtslehre von der Lage des öffent­lichen Geistes her in England entwickeln.

Was dürfte dies nun seyn, was Europa von der Wendung der englischen Politik zu erwarten hätte? Schwerlich eine neue Theorie, aber dafür ein desto schlagenderes Beispiel. Man kann von der englischen Literatur und Geschichte sehr gut Maximen abziehen, wenn auch weniger Systematik, worin die Franzosen stärker sind. Ja sogar das Persönliche, die Entwickelung eines einzelnen Charakters, der mit dem geschickt angelegten Hebel seiner Talente die schwierigsten Situationen in der Schwebe seines Willens zu halten weiß, wird um so mehr auf die Ur­theils­bildung Europas wirken, als die Theorien in Frankreich bis dahin vielleicht gänzlich verstummt und beigetreten sind. Die Politik Louis Philipps wird ihr Ziel nicht verfehlen. Sie wird durch eine fast leidenschaftliche 408 Beförderung der materiellen Interessen den einen Theil Frankreichs sich verpflichten, und den andern in die Apathie werfen. Diese Politik wird damit enden, daß Frankreich in jene unbedeutende Stellung tritt, welche es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einnahm. Die kleine Debatte, die man dem Franzosen immer wird erlauben müssen, wird sie glauben machen, sie trügen das Schicksal der Welt auf der Schwungkraft ihrer Zunge: allein Frankreich wird sich in seinen Impulsen auf den Fortschritt politischer Aufklärung erschöpft haben. Ihre Position wird nur Theorien haben, die schon widerlegt sind, und die Regierung wird nur eine einfache Thatsache ohne große Meinungscircumflexe seyn wollen. Was muß dann eintreten? England mit seinen lebensfrischen, von Geschichte und Erfahrung strotzenden Interessen tritt in den Vordergrund, entwickelt und löst die schwierigen Knoten, die sich in seiner Politik gegenwärtig zusammenknüpfen, und wird für Europa nicht bloß ein Schauspiel des Auges, sondern noch weit mehr eine Bildungsschule der besseren Einsicht. Niemals wird Europa dasjenige geradezu nachahmen, was England ihm vormacht, weil England überhaupt nichts machen kann, das nicht mit dem Maße seiner gegebenen Zustände auf das Engste zusammenhängt; allein es wird eine moralische Wirksamkeit seyn, welche von der Lösung aller jener Fragen, die jezt in England mit so viel Schroffheit auf die Spitze gestellt 409 werden, auf den Continent übergeht. Die Monotonie der englischen Politik, welche gegenwärtig die Theilnahme an derselben ermüdet, dies jährliche Wiederkehren derselben Resultate, und die wunderliche Zähigkeit eines Volkes, welches unermüdlich zu derselben drohenden Stellung Jahr aus, Jahr ein sich zusammengruppirt, ohne, was der Franzose längst gethan hätte, zuzuschlagen; dies ist die sicherste Garantie, daß sich in England das entschiedene Colorit der entgegengesezten Wünsche und Parteibestrebungen nicht ver­wischen wird, wie dies gerade bei dem sanguinischen Franzosen der Fall ist, der die Schanze, welche er nicht bei dem ersten, allerdings heldenmüthigen Anlaufe nimmt, lieber preisgibt. Durch diese für den Berichterstatter sich freilich bis zur Ermüdung wiederholenden politischen Versammlungen, Meetings, Reform- und Conservativdiners werden die schwebenden Fragen der eng­lischen Politik im Lande so volksthümlich und gemeinfaßlich, daß das Schlachtfeld künftiger Entscheidung nicht mehr bloß das Parlament, sondern ganz Großbritannien wird. Die politischen Begriffe, so häufig wiederholt, müssen zur Klarheit und zur Reife, selbst in dem Kopfe des gemeinen Mannes gedeihen. Die Zehntenfrage, die Appropriation, die Municipalreform, diese Fragen sind jezt schon im Stande, von den ersten besten aus dem Volke erläutert zu werden; es kann nicht mehr zehn Jahre währen, daß sich zu diesen Consequenzen der 410 Reform noch gesellen werden die Krongesetze, die Emancipation der Dissenters, die Reform des Oberhauses, die Reform der Universitäten, ja sogar die Abschaffung einer privilegirten Haus-, Hof- und Staatskirche. Das ganze Gebäude des englischen Staatslebens steht auf dem Spiele, und nur die Gewöhnung an den brausenden Crater des Vulkans läßt uns mit der ruhigen Unruhe eines neugierigen Zeitungslesers an demselben vorübergehen, und wohl gar glauben, dieses Hin- und Herüber der poli­tischen Debatten in Eng­land könne leicht etwas Stereotypes und nur der Formalität zu Liebe nicht geschlichtetes Kämpfen seyn. Keineswegs! In zehn Jahren wird das englische Volk des ewigen Einerleis von Druck und Gegendruck müde geworden seyn; es wird entscheidende Ge­rechtigkeit für Irland, gänzliche Abschaffung der Zehnten, und einer sie ersetzenden unrichtig vertheilten Grundrente verlangen. Irland wird eine Gemeindeverfassung haben müssen, die ihm er­laubt, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen, permanente Agita­tionscollegien zu errichten. Sogar die Nüancen von Whigismus und Torysmus werden verschwinden und sich immer mehr die politischen Erscheinungen nach dem demokratischen und aristokratischen Prinzipe richten. Die englische Melancholie wird von dem Spleen zurückkommen, modernes Comfort und mittelalterlichen Feudalismus aus poetischem Interesse zu verbinden, hier eine Dampfmühle zu 411 bauen und dort noch einen gothischen Thurm zu lassen, in welchem z. B. die Universitätseulen von Oxford und Cambridge noch immer Gelegenheit nehmen werden, sich einzunisten. Die englische Aristokratie wird ihre Pfrün­den, ihre Privilegien, diese Waffen, mit welchen sie das Volksinteresse bekämpfen, selbst, wenn sie zu den Whigs gehören, strecken müssen. Die Engländer werden einsehen, daß sie ihre vormittägigen Sonntagsbetstunden, ihre goldgepreßten Gebetbücher und ihre prüden gesellschaftlichen Vor­urtheile, wenn sie einmal darauf etwas geben, auch dann noch beibehalten können, wenn sie sich der Last einer Priesterschaft, die vom Krämersohn bis zum Erzbischof von Canterbury hinaufsteigt, und alle Intoleranz und Tyrannei der homines novi besizt, entledigt. Man kann nicht annehmen, daß im Hintergrunde der englischen Debatten jezt noch friedliche Beruhigungen, durchgesezte Bills und bloß die Majoritäten liegen, sondern es muß ein Kampf um Seyn und Nichtseyn werden, der vielleicht das Gute hat, daß er nicht blutig wird, daß er nicht im Interesse der Proletärs geführt wird, und daß er überhaupt in Europa nicht zur Erweckung der Leidenschaften, sondern zur Aufklärung der Meinungen und zur Berichtigung grassirender Irrthümer dienen wird.

Eine Bürgschaft, daß die englische Politik weit eher als die französische im Stande ist, auf die Entschließung der Bevorrechteten des Continents zu 412 wirken, liegt in manchen homogenen Umständen. Wir wollen hier die Vergleichung mit der Literatur, welche wir vorhin anstellten, nicht mehr als Beweis dienen lassen; weil der Sinn für das Schöne, welchem sich freilich im vorigen Jahrhunderte die Prälaten und Fürsten am wenigsten entfremden wollten, nicht so viele Aufopferung verlangt, wie der Sinn für Wahrheit und Recht. Allein wir finden ihn doch schon hier und da bei Hochgestellten im Organismus unserer Gesellschaft, da sie in sich eine Vorliebe für die Thaten und Ergebnisse der englischen Geschichte und Sitten mit vielem Nachdruck hegen und pflegen. Wenn auch dieser englische Dilettantismus weit mehr der Aristokratie, als der Ueberzeugung vom Richtigen und Tüchtigen zu Gute kommt, so ist es doch eigenthümlich, daß man in mehreren von ihren Privilegien umnebelten Köpfen oft den Gedanken antreffen kann, daß sie die Anknüpfung z. B. eines deutschen Verfassungswerkes an die eng­­lische Constitution nicht anders als billigen würden. Es ist nicht die bloße Bevorzugung der Aristokratie und des Pärswesens, welches hier so blendend wirkt, sondern eine unwillkürliche Nachgiebigkeit gegen die theoretische Richtigkeit, welche sich aus der Construktion des englischen Staates von selbst aufdrängt. Diese Geneigtheit für England sollte man an den Machthabern, überhaupt bei denen, welche bei der Gleichstellung poli­tischer Rechte immer etwas würden herauszugeben haben, zu nähren suchen. 413 Wie radikal auch die Tendenzen seyn mögen, welche in zehn bis zwanzig Jahren der englischen Staatslage einen außerordentlichen Umschwung werden gegeben haben, so liegen doch in den Mitteln, die zu diesem Ziele führten, wiederum so viel Tugenden der Mäßigung, des Temporisirens und jener edlen Leidenschaften, welche dem Gesammt­wohle zu Liebe die Liebe des Gesammtwohles doch nicht überstürzen, daß selbst solche Besorgnisse, die von den Fortschritten der Demokratie die Auflösung aller Bande der Ordnung erwarten, an die Umgestaltung des so beliebten englischen Musterstaates sich gewöhnen dürften. Mit einem Wort, es ist immer die Monarchie, die erhalten werden soll, es ist die Freiheit, die nur herrschen soll als Gesetz; es ist immer Aristokratie erforderlich, um das Gesetz in der Glorie seiner Souveränität erscheinen zu machen; der Staat soll nicht untergraben, sondern nur auf die rechten Grundlagen gebaut werden. Diese ächte Verschmelzung von Frei­­heit und Gesetz, von Menschenurrecht und politischem Vorrecht soll, wie sie sich in England findet, den Lauf um die Welt machen. König und Volk, beide sollen unverletzbar und heilig in ihrem Bereiche seyn. Alle Publicisten würden recht daran thun, der unabwendlichen Richtung, welche der Zeitgeist noch im Laufe dieses Jahrhunderts nach der Politik Englands ebenso hin­nehmen wird, wie er sie nach der Industrie dieses Landes schon genommen hat, nach Geisteskräften 414 vorzuarbeiten. Der öf­fentliche Wissenstrieb wird von Frankreichs schlaff gewordenen Brüsten loslassen und sich einer Nahrungsquelle zuwenden, welche gesunder Kraftmittheilung die reichste Fülle hat. Geben wir auf England Acht! Es läßt von seinen Eroberungen im Bereiche politischer Aufklärung nichts mehr fahren, im Jahre 1837 nicht, und auch später nicht.

Wir steigen jezt, nachdem wir von Frankreich und England zu sprechen aufgehört haben, zu Fragen hinunter, die weniger dem Jahrhundert als dem mehr oder weniger bedrängten Augenblicke angehören. Leider sehen wir und haben zu allen Zeiten in der Geschichte gesehen, daß da, wo das Unwichtigste entschieden wurde, die meisten Anstrengungen gemacht wurden. Die Reformation machte sich durch Disputationen, der dreißigjährige Krieg, der sie besiegeln sollte, schadete ihr mehr, als er ihr nuzte. Da, wo das meiste Blut floß, stand selten ein für die Geschichte wichtiges Leben auf dem Spiele. So war es zur Zeit Roms, zur Zeit der Völkerwanderung; so war es unter Napo­leon, der dem Ewigen in der Geschichte und in der Menschenbrust durch seine Schlachtfelder gar nichts genüzt hat; so ist es noch jezt. Der Krieg auf der pyrenäischen Halbinsel kann kaum noch als ein Krieg der Grundsätze betrachtet werden, und wenn dies vielleicht auch mehr oder weniger, so doch niemals, als eine Entscheidung derselben. Der spanische Krieg handelt sich um eine Erbschaft. Don Carlos muß 415 einsehen, daß er die Majorität des von ihm angesprochenen Landes entschieden gegen sich hat; selbst, wenn ihn ein Zufall siegen ließe, wofür keine Wahrscheinlichkeit vorhanden, muß er wohl fühlen, daß er nicht an die Pforten seiner Lustschlösser La granja, San Ildephonso und Escurial schreiben dürfte: Yo, El rey absoluto! Er würde sich zu politischen Unterpfändern verstehen müssen. Der Grundsatz einer gewissen politischen Freiheit ist auf der Halbinsel so entschieden, daß selbst Ferdinand ihm nicht mehr widerstehen konnte, und Don Carlos nicht anders, als durch ihn seinen sehr fraglichen Sieg befestigen zu können glauben dürfte. Der spanische Kampf ist fast nur von Persönlichkeiten durch­webt und würde selbst, wenn er für Don Carlos sich entschiede, doch niemals das Prinzip des Liberalismus streitig machen. Die reine, lautere Quelle der Wahrheit ist ohnedies bei jenen, welche in Spanien die Freiheit wollen, so getrübt, daß man diesen Kampf nicht anders als ein Zufälliges, und nur der politischen Neugier zu Paß kommendes Intermezzo betrachten sollte.

Der Carlismus hat im verflossenen Jahre in ganz Spanien eine Rundschau angestellt. Gomez hat Europa bewiesen, daß im mittlern und südlichen Spanien gerade nicht viel Thatkraft, aber auch nicht die geringste Vorliebe für das absolute Regierungssystem und die Inquisition herrscht. Gomez, der Unerreichbare genannt, zog wie ein Komet mit feurigem 416 Schweife durch die Mancha, Estremadura, Granada und Andalusien, sengend und plündernd. Er kehrte in die baskischen Provinzen zurück, ohne einen Mann mehr zu haben, als er von dort mitgenommen hatte. Der Carlismus hat nirgends seinen Sitz als in diesen Provinzen, und alle Welt weiß, daß dieselben ebenso gut mit Mina gekämpft hätten, wie sie gegen ihn kämpften, je nach den günstigen oder ungünstigen Aussichten, welche sich von Madrid aus für ihre ererbten Fueros gestalteten. Don Carlos ist weit mehr ein Gefangener, als ein Befreier. Er wird in den Bergen zurückgehalten, um die lebendige Bundeslade der altbaskischen und navarrischen Verfassung zu bleiben. Er hat von denen, die nicht zunächst im provinciellen Interesse ihm dienen, nur solche Män­ner um sich versammelt, welche durch frühere Lebensschicksale der in Madrid jezt herrschenden Ordnung der Dinge zufällig entfremdet sind. Er hat über die Priester zu gebieten, und doch nicht in dem Umfange, daß z. B. in Südspanien unter dem Schutz des siegreichen Gomez ein Geistlicher versucht hätte, seinen Kirchsprengel um die Fahne des Prätendenten zu versammeln. Man muß die gewöhnliche Behauptung verwerfen, daß alles, was in Spanien das untere Volk berührt, was noch in den Boden der Natur und Gewohnheit eingewurzelt ist, und sich frei erhalten konnte von den aufklärerischen Tendenzen der neuern Zeit, zu den natürlichen Verbündeten des Carlismus 417 gehören soll. Es sind weit weniger moralische Elemente, auf welche Don Carlos in Land und Stadt rechnen konnte, als die Elemente der Unordnung, die in einem so schlecht policirten Lande wie Spanien, überall dicht gesäet liegen. Die Freibeuter der Land­­straßen, die Schmuggler an den Grenzen sind die natürlichen Genossen jeder abenteuerlichen Unternehmung, das Prinzip derselben mag Licht oder Finsterniß seyn. Rechnet man hinzu, daß sich der Prätendent zunächst in den Händen einer Partei befindet, welche die Camarilla des kleinen Hofes von Onnate spielt, und daß von der Verblendung dieser Höflinge wahrscheinlich solche Maßregeln ausgehen, nach welchen z. B. neuerdings Bruno Villareal vom Oberbefehlshaber zum Aide-de-camp degradirt ist, so dürfte sich als sehr wahrscheinlich herausstellen, daß die Vertreter des baskischen und navarresischen Interesses die unter Echevarria, Sagastibelza und andern stehenden Junten, welche das Insurrectionsheer verpflegen, bewaffnen und überhaupt auch für die Operationen desselben den Hofkriegsrath bilden, vielleicht über kurz oder lang die Hand ergreifen, welche das Gouvernement in Madrid weise genug seyn sollte, den einmal unverbesserlichen und eximirt blei­­ben wollenden Provinzen anzubieten. Wenn der Frühling den Carlisten nicht die Nachtheile wieder einbringt, die der Winter ihnen zuzuziehen pflegt, so zweifeln wir nicht, daß Don Carlos mit derselben 418 Schnelligkeit, mit der er unter dem Schutze einer falschen Perücke und eines falschen Passes Frankreich durchreiste, bald nach London wieder zurückkehren dürfte.

Die entgegengesezte Partei beweist, daß sie sich mit dem allgemeinen Volksinteresse nivellirt, schon dadurch, daß die verschiedenartigsten Charaktere und Gesinnungen bereits Raum fin­den, aus ihrem Versteck hervorzutreten und sich an eine Regierung anzuschließen, die ihren revolutionären Ursprung verwischen zu wollen scheint, und besonders auf die Herstellung der Ruhe und der Ordnung und des Nationalkredites bedacht ist. Es tauchen auf alte und neue Konstitutionelle, Ajacuchus, unter welchem Namen man diejenigen begreift, welche ehemals gegen die Befreiung Südamerikas im Felde gestanden hatten, Administratoren, bloß energische Persönlichkeiten, kurz eine bunte Reihe von Individuen, denen freilich das große Talent abgeht, welches die exilirten Anilleros und Afranzesados, überhaupt das Justemilieu mit nach Frankreich und England hinübergenommen hat. Wenn die revolutionäre Umwühlung der Ge­müther durch Unterdrückung von Zeitschriften, Schließung von Clubbs und Verbannung exaltirter Chefs glücklich eingehalten ist, so möchte vielleicht die größere Gefahr in jenen jungen militärischen Anführern liegen, welche in ihren Fort­schrit­ten gegen den Carlismus eine Unterstützung ihrer ehrgeizigen Ab­sichten zu finden wissen. 419 Denn je siegreicher ihre Hand nach vorwärts, desto größer die Ansprüche, nach welchen sie sie rückwärts ausstrecken. Glücklicherweise sind Narvaez und Alaix so große Neulinge, daß ihr Ehrgeiz vielleicht bloß darin besteht, bei ihrer Jugend schon von der Nation anerkannt zu werden. Sie sind vielleicht gutmüthig genug, mit bescheiden niedergeschlagenen Augenwimpern nur nach jenen Kränzen zu verlangen, welche die Cortes auf ihre Stirne drücken werden. Endlich das Ministerium anlangend, so sucht dasselbe Spanien so viel wie möglich gegen die Interessen Europas auszugleichen, und kann dies auch um so leichter, da es selbst nicht nur ein Pro­dukt der Revolution ist, sondern vielleicht auch sein Möglichstes gethan hat, die Revolution, ehe es selbst von ihr in die Höhe ge­hoben wurde, zu produciren. Das Land selbst haßt die Verpflanzung des Jakobinismus nach Spanien um so mehr, als diejenigen, welche sich dazu bekannten und mit dem Vertrauen beehrt wurden, daß sie etwas Gewalt in die Hand bekamen, sich wirklich auf eine klägliche Weise compromittirten, wie z. B. Escalante. Am klarsten scheint über alle diese Vorgänge Men­dizabal zu sehen, der wahrscheinlich in beständigen Geld­verwicklungen die Menschen von der Seite hinlänglich ken­nen gelernt hat, wo sie alle so ziemlich sich gleich sind. Er such­te Interessen anzufachen und ins Feuer zu führen. Er belebte den Ehrgeiz, stellte sich an die Spitze von 420 Nationalsubscriptionen und belohnte die heldenmüthigen Vertheidiger von Bilbao mit den Titeln der Hochwohlgeborenheit und der Excellenz. Zulezt ist Glanz, sey es der Ehre, oder des Goldes, immer die größte Macht der Magie. Spanien ist naiv genug, an die Flitter vergänglicher Ehre zu glauben. Gewisse Deklamationen dagegen auf der Tribüne oder in den Journalen wirken im phan­tastischen Süden nicht so, wie im reflektiven Norden, und dieser Unterschied geht sogar so weit, daß fast alle Appellation an die Theorie der Menschenrechte, diese ganze Dialektik neuzeitiger, aufgeklärter Begriffe über die Verhältnisse des Staats, die Spanier zum größten Theile kalt lassen, weil diese Bildung immer die Farbe ihres ausländischen Ursprungs nicht verläugnen kann. Die Spanier lieben die Sentenz, die Phrase, den Kothurn, aber Prunk und Pracht muß dabei entfaltet werden. Der Spanier will zu gleicher Zeit seine Phantasie und seinen Verstand beschäftigt wissen; er adoptirt die Menschenrechte und folgt dem Triumph­wagen einer leichtsinnigen Königin. Beide Hinneigungen mit ein­ander zu verbinden, zu gleicher Zeit den Ehrgeiz und das Nachdenken in jenem Lande zu sättigen, die Nation wie Kinder und Männer behandeln, – das ist die Politik, welche die Staatsmänner jenes Landes befolgen müssen. Für Europa ergibt sich dar­aus nicht viel; die Mischungen der jetzigen spanischen Geschichte sind so heterogen, daß auch nicht 421 ein einziges Gesetz in gehöriger Klarheit für die öffentliche Meinung der Welt sich herausscheiden läßt. Spanien steckt noch immer in der Donquixoterie; es wird alle Zeiten und alle Geschmäcke verbinden; es wird den Cid, die Blume des Ritterthums, mit dem alten Paire Matthieu, dem Catechismuslehrer der französischen Re­volution, vereinden. Es würfelt alle Perioden in einander, und ist für die Philosophie eben so unbedeutend, wie es groß und reich ist für die Dichtkunst.

Das Gebiet der Prinzipien verlassen wir vollends, wenn wir uns dem vierten und lezten Gegenstande dieser Erörterungen nähern; der orientalischen Frage. Hier sind wir wieder zurückgekehrt zur Politik der Interessen und der Territorialvergrößerung. Hier wird nicht gefragt: An wen glaubst du? An Haller oder Bentham? Es sey denn, daß Rußland die Completirung der ägyptischen Armee mit Polen fürchtet, oder die griechische Anleihe von Seiten Frankreichs in ihren lezten Serien verweigert werden dürfte, so lange nicht Hellas unter den Schutz einer, die bürgerliche Freiheit garantirenden Verfassung gestellt ist. Alles Uebrige, was sich in den Gewässern des Schwarzen und mit­telländischen Meeres durchkreuzt, die Intriguen, die aus einem hölzernen Pallast in Pera in den andern gesponnen werden, kommen auf einen Eigennutz zurück, den man sonderbarer Weise moralischer Unlauterkeit niemals zu beschuldigen pflegt, 422 wenn er auf das Interesse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts allein besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach wel­chem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kom­mende Erbverlassenschaft? – Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche Montesquieus liegt: die Türken kam­piren nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden 423 seyn, wie sie will, sie ist da, sie blickt mit gierigen und abmessenden Augen schon nach dem ersten Ereignisse, das im Orient eintreffen möchte; sie steht gerüstet in Algier, in Malta, an der Militärgrenze, in den Häfen des schwarzen Meeres. – Der erste Grundsatz eines Erben muß der seyn, daß er bei Lebzeiten des Erb­lassers alle Mittel anwendet, jede Zersplitterung der Verlassenschaft zu hintertreiben. Aus diesem Grundsatze erklärt sich die consequente Politik, welche wir die großen Mächte gegen den Vicekönig von Aegypten beobachten sehen. Dieser Emporkömm­­ling besizt dieselbe Tendenz, die noch jeder der Pforte unterworfene Satrap befolgt hat, sich mit seiner Provinz unabhängig zu machen. Schwerlich aber würde der Vicekönig in diesem Bestre­ben so glänzende Fortschritte gemacht haben, wenn er nicht ge­glaubt hätte, sich bei jeder feindlichen Bewegung, die er gegen die Pforte versuchte, des Beifalls der sogenannten alliirten, aber bei Navarino nur einmal alliirt gewesenen Mächte zu versehen. Und so zweideutig sind die Absichten Europas mit der Türkei, daß sie in der That nicht zu wissen scheinen, sollen sie Aegypten von der Pforte trennen oder nicht. Der Widerspruch Aegyptens gegen die Pforte ist den Mächten erwünscht, weil er die Pforte selbst schwächt, und sie zwingt, Schutz und Hilfe zu suchen. Er ist ihnen auf der einen Seite erwünscht, weil er die Tradition von der Ohnmacht der Pforte unterhält und immer einmal Gelegenheit 424 darbieten kann zur Einmischung. Auf der andern Seite hüten sich aber die Mächte wohl, den Bruch zwischen dem Großherrn und dem Satrapen zur Reife kommen zu lassen, aus keinem andern Grunde, als weil die Selbstständigkeit Aegyptens, von Europa garantirt, Europa um einen Theil der Erbschaft bringen würde. Eng­land hat noch das besondere Interesse, den Vicekönig nicht allzusehr erstarken zu lassen, weil derselbe nicht übel Lust haben könnte, einmal gegen den Norden gesichert, von Syrien und Arabien aus, die Ufer des rothen Meeres entlang, am Euphrat und Tigris hin, seine Herrschaft bis nach Indien auszubreiten. Auch Frankreich hat ein Interesse dabei, den Verband Aegyptens mit der Pforte entschieden zu unterhalten, weil bei seinen Fortschritten auf der afrikanischen Küste Aegypten zulezt der Gegner und der den Sieg derselben krönende Schlußpunkt seyn würde. Das allmälige Einverständniß darüber, daß das erste Erforderniß der orientalischen Politik die Aufrechthaltung der Integrität der Erbschaft seyn müsse, hat die drei Kabinette der Tuilerien, von Saint James und Petersburg (das Wiener Kabinet beobachtet eine großartige Neutralität) seit einiger Zeit wieder näher zusammengeführt. Wenigstens rüstet man in den englischen Häfen keine kriegerischen Expeditionen mehr, die Journale enthalten keine Deklamationen, durch welche man verleitet wird, zu glauben, eine Kriegserklärung müsse so excentrischen Angriffen unmittelbar 425 auf dem Fuße folgen. Durch Frankreichs Herabstimmungen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu England und eine Hinneigung zur russischen Allianz, von der man nicht weiß, ob sie ihren Grund in Ueberzeugung oder Bestechung gehabt hat, wurde allmälig der orientalische Horizont dem mißtrauischen Auge der englischen Poli­tik entrückt. Denn England, so stark es sich glaubt, mag ohne fran­zösische, wenn auch nur moralische Unterstützung gegen Rußland nichts unternehmen. Rußland war auch, wenn es nicht vollends die Flamme des Krieges hätte wollen ausbrechen lassen, genöthigt, seine etwas vorschnell auf die Riegel der Pforte gelegte Hand wieder zurückzuziehen. Rußland hat noch keinen Krieg gegen England geführt, und weiß recht gut, daß ihm diese Nation selbst die Mittel zu einem ausdauernden Verfahren hätte vorschießen müssen, was nicht geschehen wäre; Rußland hatte außerdem einige Versprechungen zu erfüllen, denen es ohne Eklat sich nicht entziehen konnte. Es räumte Silistria; es begnüg­te sich, einen Theil seines Einflusses auf die Pforte nur noch in den Fürstenthümern oberhalb der Donau geltend zu machen, ja sogar der andere noch zurückbleibende Theil wurde durch eine zur Schlichtung der Churchillschen Affaire erfolgte Absetzung eines russisch gesinnten Seraskiers sehr beschränkt. Rechnet man noch hinzu, eine andere große europäische Macht, wie wenigstens die Berichte der allgemeinen Zeitung versichert haben, 426 durch ihre friedfertige und alles Eigennutzes entkleidete Stellung in Konstantinopel die den Sultan umspiegelnden Intriguen paralisirt hat, so muß man gestehen, daß Rußland in der Türkei seither ein so großes Stück Terrain verloren hat, als man nach dem Vertrage von Unkiar Iskelessi nicht hätte glauben sollen. Inzwischen lauten die Berichte aus dem Orient dahin, daß Rußland, unbekümmert um die diplomatische Polemik von Konstantinopel, sich bereits faktisch im türkischen Reiche zu arrondiren anfängt. Was es ohne Lärmen und Schwertstreich nehmen kann, nimmt es; die Ohnmacht des türkischen Reiches und das Vertrauen in die russische Bundesgenossenschaft hat die Grenzen der türkischen Besitzungen von aller Gegenwehr entblöst, und es möglich gemacht, daß nicht unglaubwürdige Berichte aus dem Orient behaupten konn­ten, Rußland hätte seit dem Jahre 1814 theils im Krieg, theils im Frieden, sich um 300 deutsche Meilen, bis in das Innere der euro­päischen Türkei hinein, bereits zu vergrößern gewußt. Wie soll England diese stillschweigende Verrückung der Geographie hintertreiben? Sie geschieht ohne alle Controlle, ohne alle pomp­hafte Besitzergreifung. England weiß, was vorgeht, und wird sich entschließen müssen, den Sitz seiner orientalischen Diplomatie von Konstantinopel nach Teheran zu verlegen. Nur durch eine, mit allen Mitteln der Civilisation und des Geldes herbeigeführte Erstarkung des 427 persischen Reiches durch die Anlegung einer Verbindung zwischen Persien und Indien, welche nicht nur Handels-, sondern auch Kriegsstraße werden müßte, lassen sich die faktischen Arrondissements der russischen Vergrößerungssucht hintertreiben.

Es ist zu allen Zeiten so gewesen, daß man im Schooße des Friedens von einer nahen kriegerischen Zukunft träumt. Je kleiner die gegenwärtigen Ereignisse sind, desto mehr findet die Phrase Beifall, daß wir am Vorabend großer Ereignisse stehen. Es wird auch gegenwärtig diese Wendung oft theils als Hoffnung gebraucht, theils als Befürchtung. Ich glaube allerdings, daß wir einer Krisis entgegen gehen; allein die Vorstellung, welche viele davon haben, wird auf alle Fälle viel zu groß seyn. Wer eine allgemeine Umgestaltung der Dinge erwartet, wer schon im Geiste von einem Napoleon träumt und ihn mit den Dynastien schalten und walten sieht, dürfte sich leicht getäuscht haben. Die Revolution als eine radikale und allgemeine ist in ihrem Prinzipe auf immer besiegt. Sie kann als Hebel, um hier oder da eine schwerfällige Materie in Gang zu bringen, uns immer wieder begegnen; allein die großen Ereignisse, von denen ihre Freunde träumen, bestätigen sich nicht. Dennoch glaube ich nochmals, daß wir einer Krisis entgegengehen, und bin davon so fest überzeugt, daß ich an eine ungestörte Dauer jenes Laufes, welchen die Dinge gegenwärtig z. B. in 428 Frankreich genommen haben, nicht glaube. Ich bin überzeugt, daß die Julirevolution eine Bestimmung hatte und daß sie dieselbe zum Theil verfehlte. Sie mußte diese Bestimmung in ihrem ersten Stadium verfehlen, weil sie kein Sieg der Propaganda seyn sollte, weil in ihr ein abgeschlossenes Resultat, nicht bloß eine vage Aufreizung ins Unendliche lag. Ordnung, Gesetz und unter ihrem Schutze die Entwicklung moralischer und materieller Wohlfahrt; das sind die Grundzüge, auf welchen unser Jahrhundert sein Gebäude aufführen will. Mit diesen Gütern soll aber auch die politische Freiheit aufs innigste verbunden seyn. Die Saat des aufge­klärten achtzehnten Jahrhunderts fiel auf den Weg. Unsre Zeit soll davon die Ernte in ihre Scheunen tragen, und das, was im vorigen Jahrhundert draußen auf dem Felde stand, unbeschüzt, dem Hagel und Gewitter ausgesezt, soll das neunzehnte Jahrhundert in wahrhaftes und gesundes Brod des Lebens verwandeln. Ja diesen Satz hat die Julirevolution gegen die Restauration vertheidigen wollen. Der Satz wurde anerkannt, er wurde die Grundlage einer neuen Dynastie; er wurde die Grundlage einer Menge von neuen Verfassungen oder das Regulativ, wodurch man ältere dem Bedürfnisse der Zeit angemessener machte. Daß man hiergegen vergebens streitet, daß man die Julirevolution für eine Episode ausgeben will, daß die gegenwärtige französische Politik ihren Ursprung verwischen 429 und die übrige europäische Politik sie nur unter dieser Bedingung anerkennen will, das ist die Veranlassung, die wahrscheinlich noch einmal genommen wird, um die Julirevolution zu berichtigen. Wer mehr erwartet, wird sich getäuscht finden; die Fürsten werden auf ihren Thronen bleiben; die Völker werden keinem der monarchischen Ordnung gewidmeten Gesetze den Gehorsam aufkündigen. Aber eine Berichtigung der Julirevolution läge nicht im Bereich der Unmöglichkeit; sie würde ihre Folgen haben, sie würde in ganz Europa das Gleichgewicht der materiellen und moralischen Interessen herstellen; sie würde das erzeugen, woran es noch an allen Orten gebricht, nämlich ein unbedingtes Vertrauen zwischen den Regierten und Regierenden; sie würde die Furcht vor der Revolution ausrotten, sie würde das schiefe Wesen, was in die Begegnung der wichtigsten Faktoren öffentlicher Zustände, z. B. des Staates und der Literatur gekommen ist, in gerade Rich­tung bringen. Sie würde machen, daß sich unsre öffentlichen Debatten von der geisttödten­den Einseitigkeit losrissen, mit wel­cher sie gegenwärtig geführt werden; sie würde das Parteienwesen untergraben, welches alle Verständigungen im Gebiete der Moral, Religion und Wissenschaft verhindert, und die Völker ermuthigen, sich noch durch andere und höhere Dinge einen behaglichen Frieden zu stiften, als durch die Beförderung materieller Interessen, bei welchen gar leicht Herz und Gemüt 430 vertrocknen. Das alles wird die Pforte eines Ereignisses seyn, welches den Völkern beweist, daß die Fürsten nimmermehr eine Reaktion ins Unendliche wagen dürfen, und den Fürsten, daß die Völker unter politischer Freiheit nur jene malerische, sonnige Beleuchtung verstehen, bei welcher sie ihre irdischen Güter, Friede und Glückseligkeit ernten wollen.

Ich bin fest überzeugt, daß unsre Zukunft nicht mehr mit so viel Historienlärm betäubt seyn wird, als es der Wendepunkt des vorigen und des laufenden Jahrhunderts war; der vorhin von mir bezeichnete Moment geht vielleicht ohne alles Waffengeräusch vorüber. Versteht z. B. der Herzog von Orleans seine Mission, so gibt er selbst seine Hand her, um eine Geburt, die die Zeit in zehn oder zwanzig Jahren noch dürfte zu bestehen haben, in aller Kürze mit entsagender und hochherziger Gesinnung zu er­leichtern. Versteht er sie nicht, so haben die Interessen, an welche sich die Menschen der Jeztwelt einmal bis aufs äußerste an­klammern, eine so starke Mauer gegen die anschwellende Fluth einer Volksbewegung gezogen, daß eine allgemeine Ueberschwemmung der schönen Resultate, die wir durch eine langjährige Erfahrung gewonnen haben, nicht mehr zu befürchten steht. Nein, wir wollen unsrer Zeit tiefer auf den Grund gehen; wir wol­len uns darüber Geständnisse machen, was wir verloren haben, was wir besitzen und was wir uns noch zu erwerben haben.

431 Gerade in dem, wonach wir unsere Arme jezt so jählings ausgestreckt haben, gerade in der Feststellung unserer Begriffe über Staat und politische Freiheit liegen schon lange unsre Reichthümer; denn die politischen Theorien, die Einheit und Trennung der Gewalten, das Verfassungs-, Verwaltungs- und Polizeiwesen, ja in diesen Kenntnissen haben wir Fortschritte gemacht, daß man glauben möchte, zwischen dem Jahre 1788 und 1837 lägen Jahrhunderte zwischen. Die politische Frage ist längst gelöst und wird ohne Zweifel mit noch einigen wenigen leichten Catastrophen, die in der Geschichte der Völker und ganzer Erdtheile nicht ausbleiben, vielleicht für das Stadium, wel­ches unsre Zeit zu erklimmen bestimmt ist, auf immer beigelegt seyn. Allein unendlich ärmer und hilfsbedürftiger sind wir in moralischer und geistiger Rücksicht geworden. Da gibt es Lücken, die schon wie Abgründe aussehen, zu erfüllen, da sind ganze Wege verschüttet, ganze Hügel vom Winde der Zeit abgetragen worden, da hat sich Moos über den Marmor der Schönheit gezogen, wucherndes, giftiges Unkraut zwischen die An­pflan­zungen der großen, erhabenen Literaturgeschichte der Vergangenheit; da spiegelt sich der stille sinnige Mond nicht mehr in dem Antlitz eines Sees, der über und über mit einer grünen Sumpfdecke bezogen ist. In der Religion und Moral sind die Völker ärmer geworden; das achtzehnte Jahrhundert las weniger als unsre Zeit, doch 432 las es Gediegeneres, die Theilnahme an der Erörterung moralischer Fragen von tieferer und himmlischerer Bedeutung war weit allgemeiner, als sie es jezt ist. Jezt läßt der Indifferentismus das Meiste, was jedem über das Ewige zu wissen ziemt, unberührt und unerörtert. Soll dieser Zustand fortdauern? sollen die Gemüther verflachen und die Herzen, diese starren Eisblöcke, nicht wieder aufthauen? Sollen moralische und spirituelle Interessen nicht jene Geister wieder versöhnen können, die sich über die politischen Discussionen so schroff gegenüber stellten? Es ist wahrlich eines Jeden, der durch Rede und Schrift auf das Volk einwirken kann, würdig, Gedankenreihen von solcher Verbindung vor allen übrigen Vorschub zu leisten. Man soll als Schriftsteller seine Aufgabe darin erblicken, die Menschen abzulenken von dem jähen Zuge, mit welchem sich in der Verfolgung der vom Augenblick auf die Tagesordnung gebrachten Fragen überstürzen. Es hat Perioden in der Geschichte gegeben, wo die Appellation von dem, was man um sich her erlebte, an die höhern Regionen der Kunst, Wissenschaft, der Erziehung und Religion ein Trost war; jezt sollten wir aus dieser Appellation eine Belehrung machen. Um in unsern Begriffen nicht auf die äußerste einseitige Spitze getrieben zu werden, ist es dringend nöthig, daß wir das Terrain derselben ausdehnen und verallgemeinern.

433 Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere Abmachung des Alten, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern Abmachung des Alten hingab. Indem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merk­male wichtiger wären, als die Individuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen 434 neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Indifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord Byron, wie Victor Hugo und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord Byron vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die 435 Zeitgenossen neben ihren übrigen Beschäftigungen und Absichten er­tragen können. Die Literatur zog sonst um alle geistigen Bestrebungen der Völker ihre vermittelnden, belehrenden und aufklärenden Grenzen; jezt ist sie nur noch eine beigeordnete Ergän­zung zu denselben. Wenn die neuere französische Literatur, die vielleicht am meisten in neuerer Zeit getrieben und gegohren hat, auch noch am meisten von einem innerlichen, theoretischen Selbstzwecke beselt schien, so finden wir seit einigen Jahren gerade wieder einen auffallenden Stillstand in den Bestrebungen dieser Literatur eingetreten. Diese kühnen, formlosen Neuerer scheinen seit einiger Zeit alle wieder verstummt. Was ist davon anders der Grund, als daß dieser kurze Flor nicht etwa aus einem Zusammenhange der Literatur mit dem ganzen Leben des Volkes hervorging, sondern aus der vorzüglichen Begabung einzelner Persönlichkeiten, die die Gattungen der Poesie beliebig zur Behauptung ihrer Originalität benuzten und einer organischen Einheit ihrer Bestrebungen sich am allerwenigsten bewußt waren. Ja die Literatur ist tief in den Hintergrund unsrer neuern Geschichte gestellt; was wir von der Zukunft erwarten, was wir auf dem Gebiete der Politik, der Religion und der Sitte gern sich Bahn brechen sehen möchten, das erwarten wir bereits am allerwenigsten durch die Literatur, durch ein Hilfsmittel, welches doch bis jezt noch alle Zeiten über ihr Wohl und Wehe, über ihre 436 Besitzthümer und Entbehrungen aufgeklärt hat. So wie die Post die Vermittlung der Entfernung ist, so braucht man das Schriftwesen jezt nur noch als eine sichtbare Verkörperung der ihnen zur Verbreitung anvertrauten Gedanken. Die Gedanken selbst will man von den Individuen abziehen, man will objektive Wünsche, Gefühle und ganz verkörperte Ideen aus den Massen herausgreifen, oder den Massen zuführen. Die Literatur ist dabei entweder ein ganz gleichgültiger und uneingeweihter Dollmetscher geworden, oder sie muß, um ihre Worte in Thaten zu verwandeln, mit den frechsten und leidenschaftlichsten Farben auftragen.

Es wird mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden seyn, die Literatur unserer Zeit aus ihrem erniedrigten Zustande zu befreien. Es ist ein großes Unglück, daß sich so viel schöne Hebel und Kräfte der Literatur, so viel ausgezeichnete, schriftstellerische Talente dazu hergegeben haben, in dem Streite der Interessen Partei zu nehmen, und als Advokaten so mancher Privilegien, namentlich gegen die Ideen aufzutreten, welche das Volk mit politischer und religiöser Freiheit verbinden wollte. Es hat sich hierdurch der Masse eine große Abneigung gegen die Literatur überhaupt bemächtigt. Die Wirkung des Gedruckten ist beinah jezt keine andere, als eine Zweifel erregende; der gemeine Mann liest und erwägt darauf, wie viel er davon wohl glauben dürfe. Im Allgemeinen 437 hat die Literatur in unsern Tagen eine sehr zweideutige Stellung, man vertraut ihr nicht, und fürchtet sie doch. Die stark aufgetragenen Farben, die ihre innere Erschöpfung mit sich bringt, haben sie in eine Menge von Verlegenheiten verwickelt, aus denen sie sich zuweilen mit Preisgebung der Consequenz und der Ehre wieder herauszufinden suchte. Es ist wahrhaft traurig; das Publikum ist so kühl gegen die Autoren, und dankt ihnen kaum, wenn sie für die Ideen ins Feuer gehen, und gefangen werden, und suchen sie sich wieder in Freiheit zu setzen, so klagt das vorhin so kalte und gleichgültige Publikum wieder den Mangel an Consequenz an, den sich der Unglückliche, der gern wirksam seyn möchte, zu Schulden kommen läßt. Ja die politischen Leidenschaften haben in der Literatur große Verwirrung angerichtet, ihr Phalanx ist auseinandergesprengt; sie ist weder eine Macht, die löset, noch eine, die fesselt. Die Gährungen in ihr bleiben unverstanden von der Menge, die Resultate wissen nicht, an welche bestehende Verhältnisse sie sich anknüpfen sollen. Der Materialismus unserer Zeit bedarf vollends weder der Lehre vom Schönen, noch vom Wahren, er verlangt sehr viel mechanische Kenntnisse, Sprachen und reelle Wissenschaften, und die Zeit und Anstrengung, welche die Erlernung derselben kostet, wird der Theilnahme an der Literatur in Abrechnung gebracht. Der Mensch hat nur über wenig Jahre zu gebieten, er hat bei der immer mehr 438 steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen.

Ich komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt 439 ins Unendliche spiralförmig empor. Die Lösung einer Frage macht schon wieder eine andere zweifelhaft; wenn wir im Vollgenusse jenes politischen Friedens seyn werden, nach welchem sich alle unserer gegenwärtigen Monotonie überdrüssigen Gemüther sehnen, so brauchen wir uns nur umzublicken, um neue Schaaren gerüsteter Probleme zu erblicken, die auf schnaubenden Rossen in die Schlacht der Discussion geführt seyn wollen. Da werden moralische und religiöse Fragen aus den Nebeln hervorleuchten und auch Minerva mit den Musen wird hervortreten, um Ansprüche zu machen auf Wiedereinsetzung in ihre alten Tempel. Wenn es in irgend einem Bereiche Widersprüche zu lösen, Feindschaften zu versöhnen und keimende Saaten gegen Frost und Ungewitter zu schützen gibt, so ist es in der Literatur; sie schmachtet nach Selbständigkeit, nach Emanzipation von dem Dienstverhältnisse, in welches sie sich durch die Unbill der Zeit begeben mußte; sie will die Traditionen jener goldenen Zeitalter der Antike und der Romantik fortsetzen, die Kunst von einer falschen Zweckbestimmung befreien, und den Gedanken von keinen andern Gesetzen beherrschen lassen, als denen seiner eigenen organischen Entwickelung. Die Literatur unserer Zeit offenbart überall, wo man hinblickt, eine Ahnung des Neuen, aber noch kennt sie die Grundlagen nicht, auf welche sie ihre erträumten Schöpfungen bauen dürfte. So wahr aber Alles, was an die Geschichte 440 jemals eine Frage gerichtet hat, von ihr auch darauf eine Antwort erhält, so wahr wird die Zeit kommen, wo sich der Formalismus auch unserer sonstigen Zustände, und vor allen Dingen die politischen Einförmigkeiten, als allerdings wichtige, aber darum noch nicht ewige Crisen werden überstanden, und die Wolken von einem Himmel genommen seyn, an welchem uns die Sonne und die ewigen Sterne wieder grüßen werden.

Apparat#

Der Apparat des zweiten Bandes ist identisch mit dem des ersten Bandes und dort einzusehen.