K. Immermann in Hamburg#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
05.12.2019

Text#

609 K. Immermann in Hamburg.#

Es war ein trüber Novembermorgen (1838). Man muß den November in Hamburg kennen, um zu wissen, wie grau der Himmel umdüstert, wie vom Nebel jedes Haus angefeuchtet, wie unwegsam jede Straße der Stadt war und vollends jeder Weg vor dem Thore wie aufgelockert - alles düster und nur heiter, wenn es Abend wird und die Lichter einen künstlichen Tag schaffen, mit welchem man erst zu leben und aufzuathmen beginnt.

Ich blätterte in dem ersten Bande des Münchhausen von Immermann und las mit innerem Behagen ein Begleitungsschreiben des Autors, welches Zugeständnisse enthielt, die dem Jüngern vom Ältern unerwartet kamen. In demselben Augenblicke brachte der Lohnbediente des Streit’schen Hôtels eine Visitenkarte: „Dr. Immermann, Landgerichtsrath aus Düsseldorf.“

Eine Stunde später begrüßte mich der Angemeldete selbst. Eine stattliche Figur im grünen Reiseüberrock, eine Gestalt, die ich hätte kennen müssen, da sie oft beschrieben war. Abweichend jedoch von der hergebrachten Schilderung war eine gewisse bürgerliche Nachlässigkeit, ein etwas provinzieller Pli in der Haltung, die auffallend weiche, fast weichliche deutsche Aussprache im Magdeburger Dialekt mit regelmäßigem J statt G, ein zwar plastisch geformter Kopf, jedoch mit etwas blassen, schlaffen Zügen und ein Auge, dessen Ausdruck bald in Hoheit und Strenge, bald in scheinbarer Harmlosigkeit, zuweilen aber, wenn die Brauen sich etwas zusammenzogen, in beinahe dämonischer Unheimlichkeit spielte. Das ganze Immermann’sche Wesen, das in seinen Schriften offen vor uns liegt, prägte sich in diesen Augen aus. Sie zogen an und schreckten ab. Bald goethisch würdevoll, bald sanft wie ein Frühlingslied, bald aber auch hoffmännisch spukend und so unheimlich, daß man bei dem klar denkenden, begeisterten und immer erregten Manne doch wieder zu seinem Herzen den Glauben verlor. Sah man fort und blickte wieder hin, so war die dunkle Wolke verschwunden. Durch diese persönliche Begrüßung wurde mir plötzlich viel in dem Wesen des so ausgezeichneten Mannes verständlich.

Es ist nicht zu vermeiden, daß erste Begegnungen zwischen Schriftstellern aus unsrer jüngern Periode mit denen einer ältern immer etwas Gespanntes haben. Immermann gehörte zu den Autoren, die mehr als ein Anderer Neigung zu einer literarischen Aristokratie hatten. Wenn sich nur die Geister und Talente darnach gefunden hätten, er würde wohl mit ihnen eine literarische Adelskette geschlossen haben, gegen welche wir Jüngern nicht hätten aufkommen dürfen. Indessen überraschte ihn eine sonderbare Erscheinung. Die jüngere Literatur hatte so viel Namen mit rücksichtslosem Überzeugungseifer hart angelassen, nur an Immermann hatte sie Freude und Interesse. Dieser kräftige Geist stand isolirt, sein Verhalten zur Gegenwart war zum größten Theil polemisch, seine Ansichten über unsere Zeit verlangten allerdings Widerspruch, aber man konnte sich ihm von vielen Seiten nahen, da er von allen, wenn auch nicht anregend, doch beziehungsreich war. Er gestand mir, von meiner Analyse seiner „Epigonen“ (siehe: „Götter, Helden, Don Quixote“), wie er sich ausdrückte, „erschüttert“ worden zu seyn. Es gäbe in der That, wie ich es entwickelt hätte, in ihm zwei Naturen: eine rein poetische und eine rein 610 verständige, eine romantische und eine praktische. Die letzte zöge ihn, nur auszusprechen, was wahr ist, und da er das Schöne nur in der Form des Romantischen kannte, so mußte er in einem beständigen Kampfe mit sich liegen, da eben das Romantisch-Schöne nicht das Wahre, sondern nur die schöne Täuschung ist. So war das Dichterische bei ihm immer nur Ansatz, eine Illusion des Augenblicks, die sogleich wieder von einer ernüchterten Regung seines freien, unabhängigkeitsfrohen Verstandes abgelöst wurde. Die wahre Theorie ist die, daß der Verstand ein integrirender Bestandtheil des ächten Dichters seyn soll, der nur da zu einem Dualismus sichtlich heraustreten kann, wo die dichterische Kraft sich nur auf der romantischen Stufe hält, wie dies bei Immermann der Fall war, der nicht aus Goethe, sondern aus Tieck, Arnim, Brentano, der Shakespearomanie u. s. w. zur Dichtung kam. Wenn man diese allerdings achtbaren Stufen des poetischen Bewußtseyns nicht überwunden hat, wird man sich auch stets in einer so unbehaglichen Stimmung betreffen, wie Immermann. Wer, wie er, heute für Merlin und die Schlacht bei Ronceval schwärmte und morgen über Gemeindeverfassung, Julirevolution und praktische Reform des Theaters mit dem klarsten Verstande sprach, den Adel schön fand und doch wieder Witz genug besaß, ihn lächerlich zu machen, mit Görres, unbedingt hingegeben, in seinen „Volksbüchern“ blätterte und den Athanasius verdammen mußte, der konnte nicht zur Einheit seines Dichterbewußtseyns kommen und hätte höchstens vielleicht im Drama Dauerndes leisten können, wenn sein Gemüth Milde, sein Herz Entäußerung genug besessen hätte.

Über diese Fragen, über sein nothwendiges Auslaufen in den satyrischen Roman (humoristisch ist Münchhausen nicht) über den fernern Inhalt dieses damals noch nicht ganz erschienenen Buches und einiges Praktische, das zur Orientirung auf dem Hamburger Terrain gehörte, tauschten wir die ersten Verständigungen aus. Immermann sprach besonnen und in fertigem Styl. Ahnen ließ er nichts, sondern was er gab, sollte gerade dies und nichts anderes seyn. Übrigens ängstigte mich fast das Entgegenkommen des berühmten Mannes. Er hatte mich im Münchhausen einigemal durchgehechelt und erst später gelesen, wie ich ihn in seinen „Epigonen“ verstanden; dies machte ihm soviel Kummer und preßte ihm soviel gutmüthige, milde Worte ab, daß ich unter seinen Beschwichtigungen mehr litt, als er. Ich kann wohl sagen, daß diese schöne Menschlichkeit an einem gefeierten Manne mich tief gerührt hat und ich die beklommene Stimmung damit endete: „Gott, wir dürfen in Deutschland uns über so wenig Menschen lustig machen, daß wir Schriftsteller es uns schon nachsehen müssen, wenn wir es übereinander thun.“

Für den Abend hatte Lebrün einige Kunstfreunde eingeladen, die er, auf sein Zimmer durch Krankheit gebannt, nach dem Theater bei sich zum Nachtessen erwartete. Man gab Kabale und Liebe. Immermann schenkte, wie sich dies von seiner Liebhaberei für das Theater erwarten ließ, der Vorstellung die größte Aufmerksamkeit. Schäfer und Schmidt sprachen ihn als Reste „der alten Schule“ sehr an. An dem Darsteller des Ferdinand vermißte er Zartheit der Zeichnung. Herrn Hoppé, der bei ihm in Düsseldorf begonnen hatte, hier für das erste Fach engagirt zu finden, überraschte ihn. Bei Lebrün fand er viel Gelegenheit, vom Theater zu sprechen. Seine Ansichten kamen ungefähr darauf hinaus: „Ich glaube, daß dem Schauspielwesen nur durch größeren Fleiß der Darsteller oder würdigeren Eifer ihrer Direktoren zu helfen ist. Selbst dem Talente muß von einer leitenden Hand die Bahn gewiesen werden. Ich hab’ in Düsseldorf es versucht, mit einer verhältnißmäßig sehr mangelhaften Truppe es doch bis zu Mustervorstellungen zu bringen, die wir auf den größten Bühnen hätten vorzuführen wagen dürfen. Freilich gelangten wir dahin nur durch den angestrengtesten Fleiß, den wir auf die Proben verwandten. Noch in der Nacht konnte man uns, nach der abendlichen Vorstellung, auf den Brettern antreffen, um z. B. Tiecks Blaubart einzustudieren, mit dem ich den Versuch machen wollte, ob auch wohl in diesem Genre etwas darstellbar wäre. Schmerzlich berührt bin ich, so oft ich an die Düsseldorfer Bühne denke, nicht an das, was sie war, sondern was sie unter günstigeren Umständen hätte werden können. Wir haben ein höchst gebildetes Publikum, das uns theilweise entgegenkam; die Maler übernahmen Vieles für unsern scenischen Apparat unentgeldlich zu schaffen, was man anderwärts hätte theuer bezahlen müssen, und dafür doch nicht so gut gehabt hätte. Ich wollte die Concurrenz der Oper aushalten, ich wollte dem Repertoir einen zwar nicht pedantischen und gelehrten Charakter geben, es aber wählen und von ihm Ephemeren des Tages entfernt halten; daß die Kasse hier Ausfälle erlitt, stand zu erwarten; daß die Aktionäre meinem Wirken sich widersetzten, verdenk’ ich ihnen nicht; wohl aber trag’ ich es bitter denen nach, die ich in Berlin um Hülfe anrief. Ich bat, man 611 sollte das Theater zum Königlichen erheben. Hätten die Rheinprovinzen nicht eine solche Freundlichkeit verdient? Düsseldorf war der passendste Ort für eine solche Kunstanstalt, die den Rheinlanden Muster und Vorgang hätte seyn können; aber der König schlug mein Gesuch ab. Dieses Königsstädter Theater in Berlin mit seinen Gemeinheiten erhalten sie! Ich gestehe, daß das Theater bei mir Leidenschaft ist und daß ich trotz des unglücklichen Ausgangs meiner Verwaltung die Jahre der Mühe und Sorge, die ich auf die Düsseldorfer Bühne verwandte, zu den schönsten meines Lebens zähle; die Schauspieler liebten mich, und diese Liebe machte mich glücklich. Um so betrübter ist es für mich, daß ich, meiner Ehre wegen, verschwören mußte, je wieder das dortige Theater zu besuchen. Ich kümmere mich nicht mehr um das Repertoir, lasse mir erzählen und hoffe, wenn ich nach Cöln versetzt werden sollte, dort nachzuholen, was ich versäume. Es ist meine Absicht, eine Reihe von Erinnerungen aus meinem Leben herauszugeben und mich in diesen ausführlich auch über die für mich so denkwürdige Düsseldorfer Theaterperiode auszusprechen.“

613 Von den anwesenden Gästen (Prätzel, J. R. Lenz, Kitzerow u. A.) trug jeder zur Belebung des Gesprächs bei. Lebrün öffnete seinen Schatz von Theateranekdoten und wußte Vieles, was die Andern nur andeutungsweise kannten, beim rechten Namen zu nennen und bei jeder dramaturgischen Frage praktisch den Nagel auf den Kopf zu treffen. Die Skizze, die Immermann in dem Frankschen Taschenbuche dramatischer Originalien über Grabbe geliefert hatte, brachte das Gespräch auf diesen wunderlichen elektrischen Geist, der eine Weile am Horizonte unserer Literatur unheimlich leuchtete und dann in grauen, leeren Dunst verpuffte. Immermann hatte sich Grabbe’s in Düsseldorf angenommen und war dafür von einigen Literaten, z. B. Duller, noch mit üblen Anschuldigungen belohnt worden. Er sagte: „Was sollt’ ich mit dem abentheuerlichen Manne thun? Mit ihm in die Örter gehen, wo er sich an physischen Übersättigungen gefiel, in die Trinkstuben und anderwärts hin, das konnt’ ich nicht. Ihn zu geistiger Produktion anzuregen, unterließ ich nie; doch er erwiederte, daß ich ihm mechanische Beschäftigungen geben sollte. Er wollte Abschriften machen. Und weil ich wohl einsah, daß er dabei sein zerstreutes Wesen vielleicht noch am leichtesten sammeln könnte, so ließ ich ihn Rollen und Noten schreiben. Auf irgend eine Weise, wenn er nicht verhungern wollte, mußt’ er sich doch durch die Welt bringen. Ihn ganz und gar zu ernähren, erlaubten meine Mittel nicht. Und kein Buchhändler war geneigt, einem so zerfahrenen Manne, der nichts produzirte, Vorschüsse zu geben.“ Ich kann heilig bestätigen, daß Immermann mit wärmster Theilnahme von dem unglücklichen Manne sprach, dessen Untergang er seinen häuslichen Verhältnissen und schlechter Gesellschaft zuschrieb. Selbst die radikale Herzlosigkeit, die sich in Grabbe’s genialisirenden Produkten, meiner Meinung nach, unverkennbar ausspricht, die feigste Hinterlist und die Tücke eines eitlen Herzens, die Grabbe’s Detmolder Bekannten nicht läugnen können, selbst diese Einwürfe, die ich gegen das ganze Gehaben dieses Mannes machte, wollte er nicht gelten lassen, sondern nahm ihn als einen Verzogenen und früh durch seine Verhältnisse Verdorbenen in Schutz. Die Entstellung seiner Beziehungen zu ihm war ihm sehr verdrießlich und er drohte mit großer Heftigkeit, dagegen nächstens öffentlich anzugehen.

Spät in der Nacht trennte sich die Gesellschaft. Lenz, der wackere Künstler, nahm von Immermann, als wir schon dem Jungfernstieg uns näherten, mit einer Verehrung Abschied, die dem Dichter wohlthat. Lenz schien diese Wärme in die Darstellung der Opfer des Schweigens mithinübergenommen zu haben, wo er später den alten Herzog mit einer Begeisterung spielte, die diese Rolle zu einer seiner besten Leistungen macht. „Diese ältern Schauspieler,“ sagte Immermann, „sind darum, trotz ihrer Wunderlichkeiten, so sehr zu verehren, weil sie für ihre Kunst schwärmen und sich noch im spätesten Alter ein junges Herz bewahrten.“

Der Mond war aufgegangen. Das Laub der entblätterten Bäume raschelte im kühlen Nachtwinde. Magische Lichter blitzten über die sanftgeschaukelte Wogenmasse des Alsterbassins. Die Pyramide des Petrithurms ragte geisterhaft in den glänzenden Sternenhimmel. Die Pa-614villons und Hallen auf der berühmten Promenade Hamburgs waren geschlossen, rings alles still und bezaubernd, denn man muß wissen, daß in Hamburg die Nächte schöner als die Tage sind. Wir wollten uns noch nicht trennen und wandelten die entlaubten Alléen auf und ab. Wie hätten wir ahnen können, daß der Engel des Todes dem begeisterten Manne, der von großen Entwürfen träumte, schon so dicht auf der Ferse nachschlich! Eben war Immermann im Begriff, ein Verhältniß, das bisher seine Freiheit gehemmt hatte, abzuschütteln, jugendlich dachte er an Vermählung mit der Jugend, er wollte häuslich, als Charakter, als Dichter, neue Entpuppungen feiern, er hatte wieder Vertrauen zu sich und seiner Zeit gewonnen. Wer kennt nicht diese entfesselte Schwärmerei eines poetischen Gemüths, wenn der Mond am Himmel steht und man nur das nachhallende Echo unsrer Schritte in den einsamen Straßen hört! Wie mancher Freundschaftsbund ist in diesen Weihestunden geschlossen; wie Viele, die sich am Tage flohen, haben sich in einer solchen Nacht verstanden, ergründet, versöhnt und umarmt! Die edelsten Bündnisse sind die, zu deren Zeugen man die Sterne wählt.

Immermann wünschte sich von Hamburg eine genauere Kenntniß zu verschaffen. Der Hafen mit seinen Anknüpfungen an ferne Länder und Meere beschäftigte ihn viel. Dem norddeutschen Wesen innigst zugethan, erfreute ihn jede neue Erfahrung, die er hier im Gebiet der Sitte, des Verkehrs, der Lebenseinrichtung machte. Er knüpfte eine alte buchhändlerische Beziehung wieder an, besuchte die Lenker unsers Theaters, sahe Wienbarg, dessen Monographie über Helgoland er eben gelesen hatte, und sprach zuletzt den Wunsch aus, Hamburg auch in seinen Unsitten kennen zu lernen. Es ist eine eigne Erfahrung, die wir in Hamburg machen. Jeder Fremde, der uns besucht, zwingt uns, sein Cicerone durch die „Salons“ zu werden. Da soll man Vormittags Klopstocks Grab in Ottensen und des Abends die Orgien des Hamburger Berges zeigen. So ist es aber mit der Phantasie eines Dichters! Sie malt sich kleine Brocken-Berge gleich zu Chimborasso’s aus. Immermann verlangte in den „vier Löwen“ und bei P. Ahrens die Courtille der Pariser Vorstädte zu sehen. Er fand den Ton und das Benehmen weit anständiger, als er sich gedacht hatte. Zuletzt widerte ihn aber das Treiben an und er riß sich davon mit einem Ekel los, der seinem sittlichen Ernste Ehre macht.

Ermüdet von der Monotonie der empfangenen Eindrücke, die für den folgenden Tag angesetzte Abreise bedauernd, suchten wir einen stillen Ort, um noch einige Stunden in heiterem Gedankenaustausch beisammenbleiben zu können. Die Wächter hatten schon lange die eilfte Stunde abgerufen. Am Gänsemarkt, in dem kleinen Kellerstübchen der Madame Lorentz, waren wir ungestört. Eine Batterie von Austern pflanzten wir um uns her und besannen uns nicht lange, da man zu Austern entweder Porter oder Rheinwein trinkt, die grünen Römer mit dem Saft der vaterländischen Rebe zu füllen. Die Zunge wurde frei, das Herz erwärmte sich. Wir sprachen von Deutschlands Glück und Zukunft.

Es ist ein eignes Schicksal unsres Volks, daß wir vom Vaterland nicht reden können, ohne uns zu streiten. Wenn Immermann von geistigen Interessen sprach, war er Revolutionär; so oft er auf Deutschlands politische Lage kam, war er preußischer Beamter und ehemaliger Freiwilliger. So steckte er auch jetzt die schwarze und weiße Cokarde auf und sagte: „Ich bin Franzosenfeind.“ Ich antwortete: „Franzosen oder nicht. Ich bleibe dabei, daß Sie sich in Ihrem Reisejournal nicht so über die deutschen Interessen ausgesprochen haben, wie es ein Freigesinnter sollte. Sie bereis’ten Süddeutschland und fanden alle die constitutionellen Bestrebungen desselben lächerlich. Ich kann Ihnen sagen, daß Itzstein, Paul Pfizer, Jordan sicher Männer von deutschem Schrot und Korn sind. Sie haben sich durch Ihr „Reisejournal“ außerordentlich geschadet. Möglich, daß Sie damals von daher, wo Sie jetzt selbst verzweifeln, bessern Wind erwarteten.“ „Der mich vielleicht selbst flotter machen sollte? Nein - sagte er - es ist mir angeboren, ich kann mich von den Begriffen nicht trennen, mit denen ich großgeworden bin. Nur im Sozialen, Literarischen, Artistischen bin ich gezwungen, den merkwürdigen Umschwung der neuern Ideen anzuerkennen und so kann ich Ihnen sagen, beschäftigt mich gerade nichts so sehr, als das verpönte Gebiet, in welchem sich die neuere Literatur bei uns bewegt. Es ist meine Absicht, selbst an diesen Discussionen Theil zu nehmen, mag man nun auch die Autoren, die sich darauf einlassen, mit dem Namen des jungen oder des alten Deutschland bezeichnen.“

Das „Reisejournal“ gab uns noch vielen Stoff zum Streite. Ich wollte durchaus geltend machen, daß er über die darin enthaltene einseitige Auffassung der neuern politischen Entwickelung jetzt selbst hinaus wäre: Er stemmte sich bis aufs Äußerste, um sich von dem Vorwurf einer Inconsequenz freizuhalten. Was sollt’ ich opponiren? Er 615 fuhr fort: „Das Prinzip, welches diese Neuerungen in der Literatur hervorrief, war unbedingt ein nothwendiges. Freilich wird es Einem schwer gemacht, es immer in seinen jetzigen Trägern anzuerkennen. ***** ist ein drolliger Kauz, aber ein heilloser Flunkerer, dem man nichts glauben kann, und dessen neuere Sachen ich nicht mehr gelesen habe. Freiligrath zieht mich durch seine Originalität sehr an. Es ist doch etwas Neues in seiner Art und Manches in seinen Versen ächt poetisch. ********* diplomatisirt auch mit dem Zeitgeiste, weil er seine Rechnung dabei findet. Er war als Schriftsteller nie etwas, hat sich immer so mit fortpoussirt und ich möchte ihn, wie Friedrich der Große einen Marquis in seiner Umgebung, so den Marquis Peu à Peu der gegenwärtigen deutschen Autoren nennen. Seine Brief- und Nachlaßverletzungen gränzen an’s Unglaubliche. Mundt mag ich nicht. Von ***** hab’ ich nichts, als seine drolligen Lobpreisungen des Mundt gelesen. ***** ist ein interessantes Talent, allein bei der freundlichsten Gesinnung, die ich für ihn hege, muß man doch über die nichtssagende Oberflächlichkeit, mit der er ein paar Romane zusammengeschrieben hat, statt seiner erröthen.“ Besonders, gestand er, rege ihn in den neuern Versuchen alles an, was die Natur und die Bestimmung des Weibes beträfe. Es wäre zwar leicht, diese Erörterungen nach der lächerlichen Seite hin zu wenden, allein das könne nicht hindern, daß ihr relativer Werth dadurch geschmälert werde. Es schien mir fast, als wenn ihn die Bekanntschaft mit irgend einer exceptionellen weiblichen Natur so begeistert von einer Frage reden ließ, bei der man auf jeden Schritt in die Gefahr geräth, aus einem tiefsinnigen Denker um die Breite eines Haares ein Phantast zu werden. Er versprach, in seinen „Memorabilien“ auf alles, was in diesem Gebiete von uns durchgesprochen wurde, zurückzukommen.

Es war nahe an ein Uhr. Der Mond schien nicht so hell, als in der vergangenen Nacht. Trübe Wolken verschleierten ihn, die Alster war in Nebel gehüllt. Wir nahmen Abschied ohne Scene. Es entfuhr uns kein: „Es hat mich gefreut“ - keine der hergebrachten Schlußfiguren, mit welchen wir persönliche Begegnungen abzurunden pflegen. Wir dankten nicht für die wechselseitige Aufmerksamkeit. Wohl aber blieb die Hand des Jüngern länger in der Hand des Ältern, als bei der Bewillkommnung am Tage vorher. Ein warmer Druck, ein letztes Begegnen des Auges, ein scharfer Ostwind, der grelle Ruf des Wächters vom Petrithurm: ein Uhr! „Auf Wiedersehen denn?“ „Auf Wiedersehen!“ Ich hörte nur noch fernhin sein nachdrückliches Klopfen an der verschlossenen Hausthür des Hôtels. Wiedergesehen haben wir uns nicht.

Immermann wurde zu früh von dem irdischen Schauplatz unsers Wirkens weggenommen. Erst jetzt fing er an, in seiner Zeit feste Wurzeln zu fassen, erst jetzt, wo er die positiven Versuche in der Dichtkunst aufgegeben hatte und, auf sein eignes Wesen sich beschränkend, im Roman, dem heitern und ernsten, so glückliche Erfolge feierte. Was ihm fehlte, um „populär“ zu werden, hätte er sich wohl geben können, aber er hätte wieder dadurch seine Kraft vermindern und das, was er besaß, verrücken müssen. Immermann war Egoist, so lange ihm die Anerkennung fehlte. Als er diese fand, lös’te sich sein Gemüth auf, zugleich aber auch seine Existenz; er starb. Es giebt Naturen, die an ihrem Wesen nichts ändern dürfen, ohne nicht zugleich ihren ganzen Bau zu zerstören. Und doch sollen wir da, wo wir an uns auf Lücken stoßen, ändern, ausfüllen und selbst auf Lebensgefahr bessern, denn auch der Tod ist eine Pflicht, die wir den Göttern zu leisten haben und Sterben leicht unser schönster Beruf.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Der Beitrag K. Immermann in Hamburg wurde wenige Wochen nach Immermanns Tod (25. August 1840) im "Telegraph für Deutschland" veröffentlicht und 1842 in Gutzkows Textsammlung Mosaik. Novellen und Skizzen (Bd. 3 der Vermischten Schriften) nahezu unverändert übernommen. Die einzige markante Abweichung des Buchdrucks vom Journaldruck besteht in der Chiffrierung des Namens von Theodor Mundt: Die Immermann zugeschriebene Äußerung Mundt mag ich nicht (19,27-28 unserer Ausgabe) ändert Gutzkow 1842 in *** mag ich nicht (VSch, Bd. 3, S. 161). Eine weitere Nennung Mundts wird ebenfalls durch drei Sternchen ersetzt. Die anderen Chiffrierungen von Namen durch Sternchen bleiben erhalten. Sie betreffen Äußerungen Immermanns über lebende Autoren. Der zeitgenössische Leser dürfte diese leicht erraten haben, zumal die Zahl der Sternchen mit der Anzahl von Buchstaben in den Namen der gemeinten Persönlichkeiten übereinstimmt.

Jahrzehnte später, 1875, nahm Gutzkow die Arbeit in den neunten Band seiner Gesammelten Werke auf, eine stark erweiterte Ausgabe der Oeffentlichen Charaktere von 1835 bzw. 1845. Gutzkow legte dieser Veröffentlichung nicht den Journaldruck zugrunde, sondern benutzte den Text der ersten Buchausgabe. Diesen unterzog er einer ausgiebigen stilistischen Überarbeitung: Wendungen wurden knapper gefasst, Worte umgestellt, einzelne Ausdrücke gestrichen oder neu hinzugefügt. Die Stern-Chiffren, die er in J und E benutzte, löste er durch Namensnennungen auf.

Die gravierendste inhaltliche Änderung in A2 betrifft wieder Immermanns Äußerung über Theodor Mundt. Der Satz Mundt mag ich nicht findet sich in A2 überhaupt nicht mehr. Stattdessen soll Immermann gesagt haben: Mundt ist ein interessantes Talent; allein bei der freundlichsten Gesinnung, die ich für ihn hege, muß man doch über die nichtssagende Oberflächlichkeit, mit der er ein paar Romane zusammengeschrieben hat, statt seiner erröthen. (GWII, Bd. 9, S. 296-297.) Bei diesem Satz ist in der Journalfassung (19,29-32 unserer Ausgabe) mit den fünf Sternchen sicher nicht Mundt gemeint, sondern vermutlich Heinrich Laube. Und wenn es in J heißt: Von ***** hab' ich nichts, als seine drolligen Lobpreisungen des Mundt gelesen (19,28-29 unserer Ausgabe), so dürfte sich hinter den fünf Sternchen der Name von Mundts Freund und Mitstreiter Ferdinand Gustav Kühne verbergen. Gutzkow ersetzt aber 1875 diese fünf Sternchen durch den Namen Laubes und Mundt durch den Namen des Fürsten Pückler. Abweichend von der Erstfassung lässt er 1875 Immermann also sagen: Von Laube habe ich nichts, als seine drolligen Lobpreisungen des Fürsten Pückler gelesen. (GWII, Bd. 9, S. 296.) Somit passen einige Zuschreibungen 1875 nicht mehr, und es besteht zwischen den Fassungen von J und A2 ein eklatanter Widerspruch, was Immermanns angebliche Äußerungen über Mundt angeht.

J K[arl] G[utzkow]: K. Immermann in Hamburg. In: Telegraph für Deutschland. Hamburg. Nr. 153, [23.] September 1840, S. 609-616; Nr. 154, [25.] September 1840, S. 613-615. (Rasch 3.40.09.23)
E K. Immermann in Hamburg. In: Karl Gutzkow: Mosaik. Novellen u. Skizzen. (Vermischte Schriften. Bd. 3.) Leipzig: Weber, 1842. S. 148-163. (Rasch 2.23.3.8)
A2 Karl Immermann in Hamburg. In: Karl Gutzkow: Oeffentliche Charaktere. (Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 9.) Jena: Costenoble, [1875]. S. 288-298. (Rasch 1.5.9.28)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Kleine autobiographische Schriften und Memorabilien. Hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2018. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 3.)

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.