Nur Schiller und Goethe?#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Madleen Podewski
Fassung
1.3: Korrektur Apparat
Letzte Bearbeitung
30.06.2021

Text#

621 Nur Schiller und Goethe?#

I.#

Bei jenen vorjährigen Festmahlen zu Ehren Schiller’s, wo die Toaste auf das Ideal mit dem Realismus des Rindsfilets, der Gesang des Liedes an der Freude „schönen Götterfunken“ mit den inzwischen kalt gewordenen Puddings abwechselte, konnte man unter den Reihen der Gäste manchen beobachten, der es zwar am Bescheidthun mit seinem Glase nicht fehlen ließ, jedoch nach jeder Rede, der ein schmetternder Tusch gefolgt war, sich zu seinem Nachbar wandte und allerlei kleine Verschwörungsgedanken zu brüten schien.

Jedenfalls war es eine der bedeutsamern Physiognomieen.

Entweder ein Gelehrter mit einem feinen und geistreichen Lächeln, hinter dem sich allerlei kritische Bedenken zu verstecken schienen, oder ein Beamter mit einem Ordensbande, der mit gelassener Miene hinnahm, was sich heute alles von gefährlichen demagogischen Anschauungen unter dem Deckmantel – der Literaturgeschichte einschmuggelte, oder einer jener höchst verehrungswürdigen Handelsherren, die, unbe-622schadet ihres Commerzienrathtitels, für höhere Interessen als die der Credit mobiliers nicht unempfänglich geblieben sind und z. B. beim Kunstverein die maßgebende Stimme haben.

Alle diese Flüsternden und eigentlich etwas ironisch in den Jubel Dreinschauenden hatten offenbar einen geheimen Privatcultus. Auf die rauschendsten Toaste brachten sie kleine Was-wir-lieben-Gesundheiten aus, nickten sich mit pfiffigen Mienen, blinzelten mit klugbedeutsamen Aeuglein.

„Nicht wahr“, lispelte der Geheime Ober-Regierungsrath seinem Nachbar, dem Gymnasialdirector, „Ihr Herz gehört denn doch wesentlich nur Goethen an?“

Der Gymnasialdirector sieht schmunzelnd auf seinen eben gewechselten Teller und spricht: „Man macht das nun in diesen Tagen eben so mit! ...“

Ja der Mann erhebt sich sogar nach einigen Minuten und bringt einen Toast aus auf Schiller als den Sänger der Frauen, einen officiellen, auf dem Programm vorgezeichneten, der mit „Ehret die Frauen, sie flechten und weben – “ beginnt. Er erntet ein stürmisches Bravo; jeder Ehemann nickt schwärmerisch seiner Ehehälfte; die Damen in der Nähe der Festredner beeilen sich, mit dem Director, einem alten Junggesellen, ermunternd anzustoßen.

Zehn Secunden darauf sagt der Justizrath ihm zur linken: „Wie fein Sie aber andeuteten, daß im Grunde doch Goethe die Frauen viel besser verstanden hat und – Schiller sie eigentlich alle nach einer einzigen Schablone zeichnete!“

„St! St! Vorsicht!“ heißt es beim Director und ringsum; denn schon hat sich die Zahl der stillen Goethe-Separatisten vermehrt und wieder hält ein anderer einen Vortrag über – Schiller’s enges Verhältniß – sogar zur Religion und zum Christenthum! – –

Gewiß eine merkwürdige Erscheinung, daß eine Nation zwei Dichter hat, die so ganz entgegengesetzten Naturen, der beschaulichen sowol wie der thatkräftigen, als voller Ausdruck ihres Seins und Empfindens dienen können.

Wenn man in Weimar das Doppelstandbild sieht, das Rietschel’s Kunst geschaffen, glaubt man anfangs an eine organische Einheit beider Gegensätze. Das (beiläufig: unruhige, weder Schillern noch Goethen ganz zu dem ihnen gerade auf weimarischem Boden gebührenden Recht der eigenen und getrennten Individualität kommenlassende Bildwerk) will gleichsam sagen: Hier ist Anfang und Ende der deutschen Literatur! Hier ist ein Ganzes, bestehend aus zwei gleichen, ebenbürtigen Theilen! Hier ist eine in sich abgeschlossene große und einheitliche Epoche!

Wie nahe sich Goethe und Schiller berührten, wie sie in den Zeiten ihrer Reife sogar ihr Schaffen zum Gegenstand einer gemeinschaftlichen Berathung machten, sie sind an sich in ihrem Wesen doch mehr getrennt, als man einzuräumen pflegt. Aus dem kleinsten Gedicht Goethe’s oder Schiller’s weht ein verschiedener Geist. Man kann sie nicht in demselben Tonfall lesen, man kann sie nicht mit derselben Wirkung für das Ohr hören. Selbst die ruhige Betrachtung, wo sie in Schiller überwiegt, hat eine Wirkung auf das sanguinisch-melancholische Temperament, während die ruhige Betrachtung Goethe’s, obgleich sie lebensvoller scheint, obgleich sie sich von der wirklichen Erscheinung der Dinge nicht in bloßes Denken und Beobachten nach allgemeinen Begriffsmerkmalen zurückzieht, beruhigend wirkt und das cholerisch-phlegmatische Temperament ergreift. Der Moment der That, die sittliche Wirkung fehlt keinem, aber bei Schiller geht die Wirkung mehr nach außen und reißt den Menschen zum Anschluß an das Schöne und Gute hin, das ihm in allgemeinen Idealgestalten vorschwebt (daher ein bei seinen Schöpfungen durchgehendes Preisen der Freundschaft und Verbrüderung); bei Goethe geht der sittliche Entschluß mehr innenwärts und festigt die Widerstandskraft im Menschen bei den Stürmen des Geschicks und vorzugsweise durch Isolirung. Bei Schiller suchen sich die Wipfel der Bäume zu berühren, bei Goethe die Wurzeln. Man kann nicht sagen, was besser. Die angeborene Natur entscheidet, jene Mischungen des Bluts, die das Temperament und die Empfänglichkeit bilden. Und nach dieser Voraussetzung sagen in dem Denkmal Goethe und Schiller gleichsam: Mann und Weib bilden den Menschen, Tag und Nacht die Zeit – auch wir sind in dieser Art eine Einheit.

Es liegt hierin viel Wahres und doch kann man in solchen Parallelen zu weit gehen. Wenn man z. B. nur allein sagen wollte, Goethe wäre der Dichter der männlichen Kraft und Weisheit, Schiller der Dichter der strahlenden Jugend, so irrt man sich. Goethe zeigt wol einen frühen Abschluß des ersten Lenzstrebens, er macht den Eindruck, daß die erste Frühlingslust des Daseins bald in ihm verwehte und alles in und an ihm dem schönen Herbst und kräftigenden Winter zueilte; andern dagegen, denen seine Weise wegen ihrer gleichgearteten Natur entspricht, wirkt sie gerade unausgesetzt lenzhaft, immer jugendlich und neubelebend, immer zu frischem Beginnen anspornend. Unser Leben ist eben kein Leben der ständigen That. Was wir thun, verrechnet die große Staatsbuchhalterei des 19. Jahrhunderts zu den allgemeinen Thatsachen des Friedens und der Ordnung. Wir würden erschrecken über einen jugendlichen Sinn, der gleich in der ersten Bewährung seiner Kraft nach Goethe’s Lebensregeln handeln wollte – der Pedant, der künftige engherzige Aristokrat würde uns fertig erscheinen –, um aber ausharren zu können auf dem Posten, den unsere schwache Kraft in Zeiten wie die unserigen erreichen kann, um sich eine stets lebendige Empfänglichkeit und einen freudigen Sinn der Antheilnahme an allem, was die Zeit und das Leben bietet, sichern zu können, erhält die Bildung mehr Ermunterung durch Goethe als durch Schiller. Wen erhebt das Gefühl, sich sagen zu müssen: Du bist im Alter der entschwundenen „Ideale“! Wen erhebt 623 es, anfangs die Welt und das Leben nach Schiller’s Auffassungen zu ergreifen und dann doch aus Schiller’s eigenen Epigrammen und Xenien hören zu müssen, daß es eigentlich „so nicht gemeint gewesen“!

Scheine es aber darum nicht etwa, als ob wir allzu lebhaft jenen stillen Separatisten das Wort redeten, die unter den grünen Kränzen und Fahnen zu Ehren Schiller’s für Goethe tagten. Wir wollen das Gleichgewicht herstellen und nur bestreiten, daß Schiller und Goethe ein Ganzes ausdrücken.

Aus Tausenden von Abbildungen sind dem, der in Weimar nicht die Rietschel’sche Schöpfung selbst sah, die beiden hehren Gestalten bekannt. Beide halten Einen Lorberkranz. In Goethe’s Hand ruht er schon länger, schon sicherer. Schiller berührt ihn halb, halb erst faßt er danach. Goethe’s linker Arm ruht auf Schiller’s rechter Schulter. Goethe steht fest, Schiller scheint im Vorschreiten begriffen. Im ganzen genommen macht die Gruppe den Eindruck, als führte Goethe dem deutschen Volke eine Erscheinung vor, die die Zeit gewagt hat, neben ihn zu stellen und die er als ihm ebenbürtig anerkennt. Diese Auffassung entspricht dem Gesammtbilde, das wir von dem Doppelwerth und der Doppelbedeutung beider großen Namen haben dürfen. Richtiger historisch müßte allerdings das handelnde Spiel der Gruppe umgekehrt sein. Schiller müßte Goethen vorführen. Schiller müßte gerade dem zagenden, der Dichtkunst abgewandten, ja in tiefe Verstimmung und Lebensverdüsterung gefallenen Goethe die Kränze zeigen, die ihm immer noch in der Ferne winkten, während seine bisherigen alten zu des reifern Mannes Füßen von ihm zu unbeachtet und verstreut liegen. Doch wollen wir von der Gruppe nicht alle unsere Bedenken wiederholen. Sie ist unruhiger, als sie sein sollte; sie macht den Eindruck eines Actes, der der monumentalen Würde widerspricht; sie hebt eben durch den Act die irdische Zuthat zum Ideellen, z. B. die Bekleidung, zu sehr hervor und beschäftigt durch die Gegensätze, z. B. dieser Tracht, das Auge bis zum Eindruck des Genrebildes. Auf alle Fälle lieber wäre uns, Weimar hätte ein Standbild, das Goethen allein, und ein anderes, das Schillern allein feiert, oder beide stünden zusammen – dann freilich als ideale Allegorie, als Gedanke in antikem Gewande.

Zusammen also standen sie im Leben allerdings – –

Als der lebensvolle, ruhmgefeierte Dichter des „Werther“, „Götz“, „Clavigo“ mit seinem fürstlichen Protector und jüngern Freunde eine gemeinschaftliche Reise nach der Schweiz machte, kehrten sie auf der Rückfahrt in Stuttgart ein und wohnten einem jener Acte der herzoglich würtembergischen „Karlsschule“ bei, die wir in neuerer Zeit auf der Bühne und durch bildliche Darstellung uns so gegenwärtig veranschaulicht gesehen haben. Schiller, gerade 20 Jahre alt (1779), erhielt drei Preise – nicht für deutsche Sprache und Philosophie – für Arbeiten in der Medicin. Wie befriedigt, zukunftssicher und stolz mag der junge Rath des Herzogs von Weimar auf den schüchternen Eleven geblickt haben, der mit den andern jungen Akademikern in seiner hellblauen Uniform, mit Zopf und in Kamaschen, vor den hohen Herrschaften seine Belobigungen erhielt! Und diesem Bilde bedeutungsvoll analog – sehen wir zehn Jahre später in engster Verknüpfung mit Schiller den aus Italien heimkehrenden Goethe, von dessen wiedergewonnener Kraft und Sammlung man Großes erwartet hatte, der unter den Anschauungen der alten classischen Trümmerwelt nach aller Hoffnung die erhabensten Befruchtungen der Phantasie mitbringen sollte und von alledem nichts wahr machte; selbst „Iphigenie“ und „Tasso“ hatte er aus Deutschland bereits mitgenommen und brachte sie nur umgeschmolzen in Verse zurück, ebenso wie die Ueberarbeitung von „Egmont“. Ein tiefer Verdruß nagte an Goethe’s Leben; die lange Einsamkeit der Reise hatte ihn auch für Weimar zum Einsiedler gemacht; neues Leben, neue Bewegung rauschte um ihn her; er begann eins und das andere und ließ es liegen, nahe daran, seine dichterischen Stimmungen bereits für abgeschlossen zu erklären. Eingebungen einer ihn immer mehr beschleichenden Philosophie der Abstreifung aller Blütenhoffnungen vom Leben, eines fast gewaltsamen Verharrenwollens im kleinen und unbedeutenden, im kleinsten Theile, der jedem das Ganze erscheinen dürfe, griffen immer mehr in ihm Platz. Wohl mag die immer ernster werdende Zeit diesen Druck auf Goethe’s Innere unterstützt haben. Seine Natur wurde die, sich in dem Maße, als der Mensch in das Allgemeine herausgefordert wird, in das Allerbesonderste zurückzuziehen. Gegen die Zumuthungen des immer lebendiger, in Deutschland namentlich von der Philosophie mächtig bewegten Jahrhunderts war Goethe im Stande, sich mit mathematischem Planzeichnen und Anlegung von Herbarien zu verwahren. In diesen Stimmungen näherte sich ihm Schiller. Schiller war inzwischen durch die „Räuber“, „Fiesco“, „Kabale und Liebe“, „Don Carlos“, seinen „Abfall der Niederlande“, seine schwungvollen philosophischen größern Gedichte ein Liebling des Tags geworden, ein schon gefeierter Schriftsteller, ein Mittelpunkt, um den sich begeisterte Freunde scharten, ein Mittelpunkt der tonangebenden Production, der er in einem neu von ihm begründeten Journal einen Sammelplatz eröffnete. Goethe’s Lesen dieser Aufforderung zur Mitarbeiterschaft an einer Zeitschrift, die der emporgekommene Karlsschüler herausgab, ist der Anfang der Vereinigung. Goethe antwortet, sagt zu, erbietet sich zu jeder Beihülfe, selbst zu Lückenbüßern, selbst zur Füllung leeren Raums. Wie ein Neuling, wie ein Anfänger feiert der in Mismuth und Vertrocknung Gerathene eine Wiedergeburt und einen neuen Ansatz zum Leben durch Schiller.

Alles das ist unleugbar. Und doch sind Goethe und Schiller zu sehr zwei Begriffe geworden, die sich gegenseitig ergänzen und die volle, von allen 624 Seiten mögliche Betrachtung der Literatur ausdrücken sollen. Diese Allheit bestreiten wir. „Schiller und Goethe“ drücken nicht das ganze Gebiet des dichterischen Schaffens aus, bezeichnen nicht die Bahnen, in denen allein die deutsche Literatur zu wandeln hat. Es gibt Nothwendigkeiten im geschichtlichen Gang unserer Literatur, für welche sich weder bei Schiller noch bei Goethe der entsprechende Ausdruck findet.

Darüber in einem zweiten Artikel.

638 II.#

Zwei Richtungen werden in der deutschen Literatur immer gleichzeitig nebeneinander gehen: die ideale und die reale.

Bei andern Nationen ist dies nicht der Fall.

Bei uns bekämpfen sie sich – oft mit dem bittersten Haß. Man kann nicht liebloser urtheilen, als die Romantiker über Schiller urtheilten. Ebenso ist von der in Schiller lebenden Kritik Goethe verketzert worden. Der Gegensatz dauert bis auf den heutigen Tag und richtet Verwirrung und Entmuthigung genug an.

Andere Literaturen sind zur Vermeidung solchen Streites besser daran. Ihre Sprache hat größere Armuth, aber festere Grundsätze. Gerade der Reichthum der deutschen Sprache läßt bei uns so vieles zu, was der Franzose sogleich ausschließt. Der Franzose hat eine einzige bestimmte poetische Sprechweise, die auf jedem Gebiet der Poesie gleich ist, während sogar der Deutsche nicht einmal die Sprache der Bilder und des pathetischen Glanzes vorzugsweise für alle Gebiete der Poesie fordert und in der That im Erhabenen noch naiv sein kann. Die Franzosen haben bis zur Stunde nicht gewagt, die Tragödien Shakspeare’s auf ihre Bühne zu verpflanzen. Das schallende Gelächter, das sich erhob, als man „Othello“ in Ducis’ Uebersetzung gab und der Mohr seine auf den höchsten Ernst berechnete Leidenschaft an ein Schnupftuch anknüpfte, hat jeden Versuch, es in Paris mit Macbeth’s, Lear’s, Richard’s III. Natürlichkeiten zu wagen, abgeschreckt. Der Franzose steht ganz auf dem Standpunkte Schiller’s und kann von Goethe’s Art nur die eine Hälfte begreifen.

Schiller und Goethe passen allerdings im wesentlichen für ein vollständiges Decken der Begriffe Ideal und Real, aber dennoch muß man das Zuspitzen und Aufgipfeln unserer ganzen Literatur in die Pyramide „Schiller und Goethe“ nicht nur eine Ungerechtigkeit gegen so viel anderweitig Würdiges und Bedeutendes, sondern auch ein gefahrvolles Princip für die Beurtheilung der Gegenwart nennen.

Man hat in diesen beiden Heroen alles finden wollen; man hat schon angefangen, Lessing, Herder, Wieland ihnen nur in der Art beizuordnen, daß sie allenfalls in ihrem Schatten Platz haben. Die Erläuterungen über Schiller und Goethe nehmen kein Ende. Vom Standpunkt des wirklich Geleisteten mag diese Huldigung begründet sein; bedenklich wird sie für das lebenschaffende, befruchtende, fortzeugende Princip der Literatur.

Um aus dem Bann des Begriffs „Schiller und Goethe“ herauszukommen, hat man angefangen, andere Namen höher zu heben, als sie bisher standen, z. B. Heinrich von Kleist; eine Neuerung jedoch, die wir bei aller Achtung vor diesem Dichter nicht unterschreiben können.

Glücklicher war es, als man (vorzugsweise nach Gottschall’s Literaturgeschichte) mit gleicher Berechtigung des tonangebenden Werthes neben Schiller und Goethe Jean Paul stellte.

Dieser Ausweg läßt sich nicht rechtfertigen durch die Leistungen Jean Paul’s, denn sie sind vergessen bis auf einige Bruchstücke, die in den „Mustersammlungen“ mitgetheilt werden; aber in Jean Paul’s dichterischem Wesen liegt etwas, das sich als vollkommen gleichberechtigt neben Goethe und Schiller stellen darf. Es ist dies eine Eigenthümlichkeit, die sogar nachhaltiger und bedeutsamer wirkend geworden ist als die Nachzeugung des Goethe-Schiller’schen Geistes. Wir meinen damit nicht allein den Humor an sich, sondern die ganze freie Subjectivität, das dichterische Ich, im Gegensatz zur Gebundenheit dieses Ichs durch die Dichtgattungen.

Man muß aufrichtig sein und sagen, daß, nachdem sich in Schiller alles sofort zum Drama, in Goethe alles zum Epos und Roman drängte, das fernere und nach beiden gekommene anderweitige Festhalten ihrer Wirkungen und ihres Vorbildes im Drama und im Epos keine besondere Befruchtung unserer Literatur geworden ist.  Auch jetzt noch ist dies ständige Preisen, Deuten und Auslegen z. B. der Schiller’schen Dramen zwar eine hochverdiente Huldigung, die dem Dichter selbst gebührt, aber völlig zwecklos für die Theorie des Dramas. Schiller gab seine Dramen so wie sie sind. Sie sind Denkmale seines Geistes. Sind sie mustergültig? Genügen sie der Theorie des Dramas? Kann und soll man in ihrer Weise für die Bühne dichten? Für die Bühne mag vorübergehend etwas gewonnen sein, wenn sich neben „Tell“, „Jungfrau“, „Wallenstein“, „Maria Stuart“ in gleicher, mehr oder minder behaglicher Breite „Essex“, „Cromwell“, „Oldenbarneveldt“, „De Witt“ u. s. w. stellen; aber literargeschichtlich bedeutungsvoll wird nach solcher Richtung hin schwerlich wieder etwas hervorgebracht werden, ebenso wenig wie nach der Richtung des Goethe’schen „Tasso“ und der „Iphigenie“ durch die neuen „Klytämnestren“, „Sabinerinnen“, „Witwen des Agis“, „Iphigenien in Delphi“ u. dergl. hervorgebracht worden ist. Alles das sind schöne akademische Studien; sie drücken einen achtbaren Ruhepunkt, eine Stockung aus, eine Pause vor dem Beginn des Neuen, eine anmuthige Verbreiterung, keine Vertiefung.

Jean Paul ist nun aber in der That in gewissem Sinne mehr als Schiller und Goethe der Vater der ganzen neuern Literatur von Bedeutung geworden. Er ist es nicht deshalb, weil sein Humor sofort ansteckte und eine neue Form der Dichtweise aufbrachte, die im wesentlichen die Romantiker angenommen haben, sie nur von ihrer Ueberladung 639 befreiend, sie sozusagen goethisirend; noch weniger durch seine gestaltungslosen Romane – er ist es geworden z. B. durch seinen durchgängigen Gebrauch der Prosa, einer Dichtform, deren unwiderleglich dennoch poetische Wirkung die Nothwendigkeit des Verses für den Begriff des Dichters bei uns ein- für allemal ausgeschlossen hat; er ist es geworden durch das in seinem Dichten und Schaffen festgehaltene, nicht in die überlieferten Dichtungsformen untergetauchte, nicht von ihnen absolut verbrauchte Ich. Nenne man dies Jean Paul’sche Princip Humor oder Ironie, nenne man es Geist oder Esprit, nenne man es Witz oder Phantasie – Goethe und Schiller stehen vereinsamt, wenn man sich vergegenwärtigt, was um sie her sich seit ihrer Blütezeit in Deutschland an Schönheit und Eigenthümlichkeit entwickelte. Tieck ist z. B. der geläuterte und geschmackvoller wiedergegebene Jean Paul, sowol der Jean Paul der Erfindung wie der Jean Paul der Selbstironie und der Ansicht des bürgerlichen Lebens. Bei E. T. A. Hoffmann kann man sich nicht lange aufhalten wollen; aber die ganze Periode unserer spätern Lyrik, von Platen an bis Lenau, ist das subjective, träumerische, gestaltungslose Ich und mit Schiller gar nicht, mit Goethe nur im „Faust“ und im Liede verwandt. Immermann ist der potenzirte und kräftigere Tieck. Heine und Börne bekennen sich ausdrücklich zu Jean Paul. Und der Reiz dieser Individualitätspoesie entfaltete sich immer mehr; er wurde zur Poesie der Arabeske, des Beiwerks, jener sinnigen Beobachtung, die dem träumerischen, die Dinge am Sonnenstrahl widerglänzenlassenden Ich entspricht; er wurde so zur Poesie des Details, des nothwendigen Details, und führte zum Idyll. Unsere Dorfgeschichten, einige unserer neuern Theaterstücke sind Eingebungen jenes sich im Detail vertiefenden All-Blicks, der am einzelnen verweilt und im subjectiven Behagen die schöpferische Kraft mit ihrem Stoffe heiter und frei spielen läßt. Diese Macht des Ich kann sich in der Behandlung ihrer Stoffe zum abgeschlossenen Kunstwerk erheben. Der richtige Weg, die Literatur der Deutschen fortzuführen, bleibt es gewiß. Alle unsere neuern Arbeiten von Bedeutung auf dem Gebiet der Novelle und des Dramas haben mit „Schiller und Goethe“ wenig gemein.

Als Goethe und Schiller zu schaffen anfingen, gab es einen Begriff, den man wol hier und da als das Kennzeichen des Nichtpoeten hinstellt und der doch damals, als „Fiesco“ und „Clavigo“ geschaffen wurden, mit dem dichterischen Genie völlig gleichbedeutend war, den „witzigen Kopf“. Das sind die Dichter noch bei Gottsched, Gellert, Bodmer, Haller, Lessing. „Originalgenies“, „ingeniöse Köpfe“ kamen nach ihnen auf und erst später kamen mit den Romantikern die „Titanen“, die „Propheten“, die „träumerischen Menschenkinder“, die „Offenbarungen Gottes“ u. s. w. Wir möchten wol, daß die Dichter wieder „witzige Köpfe“, „ingeniöse Köpfe“ und „Originalgenies“ würden. Diese Bezeichnung schließt die Möglichkeit, ein Dichterleben später im großen und ganzen wieder einen „Tempel“ u. dergl. zu nennen, wie bei den rhetorischen Decorationen des Schillerfestes geschehen, gar nicht aus – Schiller’s „Geisterseher“ könnte sich mit seinem vexirend spielenden Inhalt aus Voltaire’s und Diderot’s Schule alle Tage in einem französischen Feuilleton sehen lassen.

Doch nicht blos das freie Ich und der „ingeniöse“, „witzige Kopf“ möge der Literaturgeschichte erhalten bleiben als Drittes neben der „classischen Harmonie“ Schiller’s und Goethe’s, sondern die resolute Freiheit des Dichtens, Denkens und Empfindens überhaupt in ihrem ganzen Umfange. Es hat gewiß sein Herrliches, wenn man das Doppelstandbild in Weimar von allen Seiten betrachtet und andachtsvoll von diesen beiden großen Genien, von ihren Wirkungen und von der Welt spricht, die sie in sich bargen, und von ihrer weihevollen Weise, diese Welt zu beherrschen und zu verkündigen; heilige Worte sind: Adel der Anschauungen, sittliche Vertiefung, Cultus des Schönen, classische Vollendung. Wollte man aber sofort jeden jetzt noch Schaffenden nach diesen Maßstäben beurtheilen, wollten wir seinem ersten Worte, das uns von der Leier entgegenrauscht, gleich aufhorchen und dann erwarten, daß sofort auch bei ihm und über ihn diese majestätischen Tubaklänge ertönen, so würde sich die Literatur bald in Sonntags-Nachmittagsgottesdienst verwandeln; selbst die stolzeste, auf den Schiller- und Goethe-Cultus gegründete Akademie mit dem glänzendsten Marmorgetäfel der „Formen“ würde etwas Oedes, Kaltes und Langweiliges haben.

Eine kritisch-pragmatische deutsche Literaturgeschichte mit scharfer Hervorhebung Leipzigs, Berlins, Hamburgs, Braunschweigs, Frankfurts am Main, Strasburgs, Zürichs, Pempelforts, Münchens, Jenas und mit bedeutender – Einschränkung Weimars wäre eine Arbeit von großem Verdienst.

Apparat#

Bearbeitung: Madleen Podewski, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J [Anon.:] Nur Schiller und Goethe? I-II. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. N. F. Bd. 5, Nr. 39, [23. Juni] 1860, S. 621-624; N. F. Bd. 5, Nr. 40, [1. Juli] 1860, S. 638-639. (Rasch 3.60.06.23)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte. Mit weiteren Texten Gutzkows zur Goethe-Rezeption im 19. Jahrhundert hg. von Madleen Podewski. Münster: Oktober Verlag, 2019. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 3.)

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.