Der Zauberer von Rom. Fünftes Buch#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
  2. Stephan Landshuter
  3. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2: TEI-Auszeichnung
Letzte Bearbeitung
03.10.2021

Text#

Fünftes Buch.#

3 1.#

„C. M. B.

Caspar, Melchior, Balthasar.

… Diese Namen der heiligen drei Könige aus dem Morgenland schrieb die alte Zeit über Thür und Schwelle eines jedes Christenhauses, um dem Heiland daraus eine Weihnachtskrippe zu bereiten.

Aber sie können noch mehr sagen, die heiligen drei Könige aus dem Morgenland! Sie können euch zurufen: C. M. B.: C–reuzige M–eine B–egierden! C–hristus M–ein B–ekenntniß! C–hristus M–eine B–ahn! C–ommunicire M–it B–edacht! C–abalen M–üssen B–rechen! C–abinetsweisheit M–acht B–ankrott!“

In dieser harmlos zeitgemäßen Weise war in der uralten Archipresbyteriatskirche zwischen Witoborn, Stift Heiligenkreuz und Schloß Westerhof, am heiligen Dreikönigstag gepredigt worden vor einer aus Hoch und Niedrig bestehenden Gemeinde, die auch deshalb so zahlreich vertreten war, weil alles erwartete, der von vierundzwanzig Damenhänden gefertigte Wunderteppich, die vom Doctor 4 Laurenz Püttmeyer gezeichnete Vision der „Seherin von Westerhof“, würde heute vom Pfarrer Norbert Müllenhoff geweiht werden. Diese „Weihe“ mußte dem ersten Betreten des Teppichs durch den erwarteten Archipresbyter vorangehen.

Aber noch drei Wochen vergingen, bis diese heilige Handlung vollzogen werden konnte. Die Damen hatten für den Kirchenfürsten zu viel zu sticken und damit jenen Müllenhoff’schen – „Bankrott aller Cabinetsweisheit“ zu beweisen …

Armgart war mit ihrem Drachen, den sie, wie Terschka an jenem Abend bei Piter Kattendyk berichtet, durch „längern Umgang lieb gewonnen hatte“, fast die erste fertig und hatte sich bereits wieder in zwei „Vielliebchen“ verloren, die sie für Thiebold und Benno fertigte, eine Cigarrentasche und einen Aschenbecher … Nur ihre übrigen Mitfräulein im Stifte zögerten so lange mit Ablieferung ihrer Einzeltheile der großen Arbeit, die dann Jean Tübbicke, nicht Schneidermeister, sondern – man staune des Fortschritts zu Witoborn! – „Maître-tailleur“ in der alten Priesterstadt und sogar der Sohn eines Meßners, des alten Meßners Tübbicke hier zu Sanct-Libori selbst, nach Püttmeyer’s Zeichnung zusammenzunähen hatte.

Armgart saß am Dreikönigstag gleichfalls in der Kirche.

Ach, sie deutete sich diese akrostichische Nutzanwendung von C. M. B. aus dem Munde des jungen so schlagfertigen Geistlichen, der noch nicht zu lange aus dem Seminar gekommen war und schon auf zwei Pfarren fungirt und seines reformatorischen Eifers wegen zwar überall Spectakel gehabt, aber dennoch diese höchst vor-5treffliche Pfarre auf den Dorste-Camphausen’schen Gütern bekommen hatte, in ihrer Weise …

Ihr – sprachen Caspar Melchior Balthasar: Herr! C–röne M–ein B–eginnen! … Daß sie dabei „Cröne“ mit einem C schrieb, entsprach den Witoborner alten Gesangbüchern. Stand doch die ganze Bildung jener Gegend noch auf dem Standpunkte mehr von 1738 als von hundert Jahren später. Die wunderherrlichen Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff, dieser edeln, anschauungsreichen Sängerin, die, wie Benno von Asselyn gelegentlich zum Verdruß der Tante Benigna von Ubbelohde beim Thee auf Westerhof gesagt hatte, auf dem Parnaß auch das Heidekraut und die Buchweizengrütze aussäete, diese Gedichte kannte Armgart; aber mit Andacht las sie seit Kindesbeinen nur die Poesie auf den Kreuzwegstationen und Wallanlagen von Witoborn und in den Corridoren ihres Stiftes Heiligenkreuz. Denn dort war sie eingetreten. In der That hielt sie jetzt Markt mit ihren Naturaleinkünften (in diesem Winter freilich erst Einen einträglichen mit zehn Schinken, zehn Würsten und zehn Speckseiten) … Ueber ihrer Thür stand:

O Libori, o Antoni, zwei Gefäß der Heiligkeit,
Daß wir müssen euch begrüßen, heißet uns die Schuldigkeit!
O Libori, o Antoni, steht uns bei am letzten End’,
Daß nicht sterben und verderben! Führet uns in Jesu Händ’!

Welches ist Armgart’s „Beginnen“? … Wir können vorläufig nur sagen: Noch mehr, als sie schon sonst war, ist sie Grüblerin geworden. Stundenlang konnten ihre braunen Augen in die innersten Wände ihrer kleinen, ahnungsvollen Gedankenwelt zurückschauen. Stundenlang 6 konnte sie ihre bekannten weißen Vorderzähnchen ohne Bedeckung der schmerzlichverzogenen Lippen lassen, wenn sie über etwas grübelte, was ihr seltsam schien. Und was erschien ihr nicht seltsam! Noch jetzt, wenn von der Erblassenschaft der Dorste’schen Besitzungen, von dem Grafen Joseph, ihrer geliebten Paula Vater, als von dem Erblasser die Rede war, konnte sie sich fragen, ob denn dies schmerzliche Wort nicht eigentlich zu sprechen wäre: Er – blasser und den im Tode tief Erblassenden, leichenweiß erbleichenden edeln alten Herrn bezeichnen sollte? Eine Erbskette nahm sie noch jetzt für eine Kette, die man von geliebten Personen, etwa einer theuern Mutter, erbt, nicht als Kette von Kügelchen, so groß wie Erbsen. Wenn der Onkel Levinus Abends nach dem Nachtessen in Schloß Westerhof vom Untergang der westfälischen Herrschaft und von Napoleon’s Sturz in Rußland sprach und die Schlacht bei Mosaisk erwähnte, träumte und grübelte sie, wie doch nur mit dieser Begebenheit das zuweilen in Kunstgesprächen und bei schönen römischen Brochen vorgekommene ahnungsvoll poetische Wort Mosaik zusammenhängen könnte. O, schon das achtjährige Kind ließ sich nicht nehmen, daß in dem auf dem Finkenhof, einem Wirthshause in der Nähe zuweilen gesungenen Liede: „Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht!“ keine Lampe, mit der ja ohnehin kein Mensch springen würde, sondern ein springend erhitztes Lämmchen gemeint wäre. Zwölfjährig schon, wo sie noch nicht ahnte, daß sie selbst einst in Lindenwerth wohnen würde, auf das jene Ritter-Toggenburg’s-Sage vom angestarrten Fenster der Geliebten in Wahrheit 7 einst gegangen sein soll, sprach sie Schiller’s, aus einem Schulbuch ihr bekannt gewordenes Gedicht: „Ritter, treue Schwesterliebe widmet euch dies Herz!“ nie anders, als: „Rittertreue, Schwesterliebe –!“ Drückte doch beides das ihr Schönste und Herrlichste im Leben aus: Ritterliche Treue und schwesterliche Liebe.

Drei Wochen darauf wurde dann endlich wirklich der Teppich geweiht. Das war ein festlicher, hoch katholischer Sonntag! … Hier in viel rauherer Gegend, als in der Residenz des Kirchenfürsten, war es zwar schon vollständiger Winter und der Schnee lag fußhoch und darunter hatte kurz vor seinem Fallen etwas Frost alles Flach- und Hügelland mit seinen Walleinschnitten und Hecken gehärtet und gefestet … Jetzt erst recht zeigte sich die Isolirung, die hier den Charakter des Zusammenwohnens bildet … Der Bauer auf seinem Kamp, der Junker auf seinem Hof schließt sich ab, wie wenn dies Land, gleichfalls nach Benno’s früherer Aeußerung, ein Meer wäre und seine Wohnungen Inseln oder Schiffe … Ringsum hat jeder bei sich in nächster Nähe gleich, was er bedarf. Selbst im Bauernhause liegen sogleich mit der Viehstall und der Backofen. Den Wald opferte man nicht ganz, sondern behielt eine gute Strecke davon als Grenzmarke der Aecker. Nirgendwo findet man hier die langen Ackerfeldfurchen, die in unübersehbarer Einförmigkeit nur von vollständigen Dörfern abgelöst werden. Hier ist das Dorf aufgelöst in Höfe, die auch jetzt im Schnee, der scheinbar alles nivellirt, an den rauchenden Schornsteinen sichtbar sind. Man glaubt eine unterm Schnee nach allen Orten hin sich öffnende unabsehbare Kraterwelt zu erblicken. Gegen 8 Osten hin ragen einige alte Thürme auf, wie wenn sich eine Citadelle dort erhöbe. Das ist Schloß Westerhof. Gegen Süden zu zeigt ein ganz buckelig geschnörkelter, mit Schiefer belegter Thurm (was man heraussehen kann, da der Schnee nicht von allen Seiten an den Rundungen festhielt) das Stift Heiligenkreuz. Und inmitten dieser großen Rundsicht, welche Berge, Wälder, Seen, die Witobach, an der das thurmreiche Witoborn liegt, mehr ahnen als deutlich unterscheiden läßt, liegt dann am Fuße einer kleinen Anhöhe die alte einst byzantinisch angelegte, jetzt höchst zopfig überbaute Kirche von grünlichem Sandstein Sanct-Libori. In nächster Nähe gehört dazu ein Stückchen Wald, der nur die Einfriedigung eines Kamps ist, dessen Inneres zwei stattliche moderne Häuser bilden, das des Pfarrers und das des Schullehrers von Westerhof … Aber diese ganze Winterlandschaft ist heute belebt, wie im erwachenden Frühling! Sieben bis acht Schlitten stehen unten vor dem Kalvarienberg des Aufgangs, davor schellenklingelnde Rosse mit langen fliegenden Decken … Die putzigen Türkenköpfe auf den Schnäbeln der Schlitten gafft die Jugend von drei Meilen in der Runde an. Dazwischen die Bauern und die „Kötter“ und die Knechte in Pelzkappen; die Frauen trotz der Kälte in all den wunderlichen Hauben und fliegenden Aufsätzen, die der Tracht jener Gegend eigen sind; die alten Mütterchen mit großen weißen Krägen, die sie halb den so sehnlichst vom Adel erwarteten Barmherzigen Schwestern ähnlich machten; in der Hand der reichen Bäuerinnen ein goldgeschnittenes Gebetbuch, ein Rosenkranz am Gürtel, auf der Brust eine Ringelkette von vergoldeten Medaillen …

9 Die Weihe ist endlich vorüber … In den Schnee hineinblickend mußte die sich zerstreuende Gemeinde nur bunte Flecken sehen, wie wenn man in die Sonne geschaut, so prächtig war der Teppich gewesen, der vorm Hochaltar hoch an rothen Stangen mit Goldtroddeln geprangt hatte. Er leuchtete wie der Widerschein eines Fensters im mailänder Dom. Violett und gelb und blau und rubinroth strahlten die bunten Gewebe und namentlich wurde der Pfau des heiligen Liborius von einem auch dazu gerade hervorblitzenden Sonnenlichtsschimmer prächtig erleuchtet. Norbert Müllenhoff predigte in seiner jungkatholischen Weise. Wieder knüpfte er an Caspar Melchior Balthasar an und sagte, die wilden Thiere des Teppichs da, die wären auch in dem Land heimisch, von wannen jene Morgenlandskönige gekommen. Dann schilderte er diese Morgenlandskönige gelegentlich im Gegensatz zu den Abendlandskönigen. Jene waren theilweise, sagte er, schwarz von außen, diese sind nicht selten schwarz von innen. Jene brachten dem Heiland köstliche Geschenke, diese beraubten nicht selten den Heiland noch und bestöhlen ihn und plünderten ihm das Stroh aus seiner dürftigen armen Krippe, der Kirche. Jene hätten sich auf einen einzigen Stern am Himmel verlassen, diese ertheilten Hunderte von Sternen auf die Brust ihrer Schmeichler und gingen dennoch in der Irre. Dann sagte der Redner: Auch der Pfau, der den heiligen Liborius geleitet hätte, wäre ein solcher himmlischer Stern gewesen! Man sollte doch nur hinblicken auf sein geschwungenes Rad! Wie das in ihm von Licht und Farbe funkelte! Zwölf Augen säßen in dem Rand des Rades und hätten gewacht über 10 den Weg, den der Heilige damals durch die Heiden hindurch hätte nehmen müssen, um gerade hieher nach Westerhof zu kommen, wohin ihn seine ganze Sehnsucht zog! Jetzt müßte freilich die Kirche, um wie dieser Heilige durch alles noch herrschende Heidenthum hindurchzukommen, viel kleinere und bescheidenere Vögel zu Führern wählen, leider – vor allem nur die schüchterne Taube. Glücklicherweise wäre diese aber denn auch nichts Kleineres, als eben der Heilige Geist selbst. Und so wollten auch sie, zaghaft und schüchtern, die gute Sache des ewigen Gottes und seiner Heiligen in dieser Welt der Gewalt vertreten, wollten flicken an den Schäden, so gut es ginge mit Menschenkraft, wollten die Kirche ausbauen, wo sie allzu schadhaft würde; denn die Kirche Gottes, sagte er mit einem jetzt etwas sonderbar blinzelnden Blick auf den Dorste’schen Kirchenstuhl auf dem Chore ihm gerade gegenüber, die ist nicht byzantinisch, nicht gothisch, nicht Renaissance, nicht Rococo gebaut, sondern einfach blos – felsenfest! Das hat Sanct-Paulus bereits den Korinthern anzuhören gegeben, fuhr er fort, die sich auf ihre Säulenknaufe und Säulenordnungen bekanntlich so viel eingebildet! Warum würde sonst Sanct-Paulus gerade in der zweiten Epistel an die Korinther Kapitel 5 über das wahre christliche Bauwesen seine Meinung abgegeben haben?

Aufrichtig gestanden, diese Bemerkungen des Pfarrers waren Anzüglichkeiten. Aber man war dergleichen an dem jungen, frischen, noch ganz studentisch aussehenden Mann von etwa dreißig Jahren in der Gegend schon gewohnt. In dem gräflichen Stuhl im Emporchor verstand man sehr wohl, was gemeint war mit dem Blick auf Terschka, 11 auf Levinus von Hülleshoven, Armgart’s Onkel, der die Dorste’schen Güter verwaltete …

Und trotz des feierlichen Tages, war das erste Wort, das Norbert Müllenhoff nun in der Sakristei, mit beiden Armen sich zum Erwärmen auf die Schultern schlagend, sprach:

Nein hier eine wahre Hundskälte das!

Zähneklappernd trat er an einen in der Sakristei stehenden eisernen Ofen, der auf drei Schritte allerdings eine Glühhitze verbreitete, aber nicht den übrigen Raum erwärmte. Das Rohr entließ den Dampf durch eines der großen Rundfenster …

Ich sagt’ es ja gleich, Herr Pfarrer! Die neue Thür, die Sie durchaus durchgebrochen haben wollten – begann der alte Meßner Tübbicke, Vater des maître-tailleur

Schweigen Sie! sagte der Geistliche und entkleidete sich …

Der Meßner war ein alter hagerer Mann mit einer rothen Flachsperrüke. In seinem langen rothen Rock sah er selbst wie einer der auf den Dörfern wandelnden heiligen drei Könige aus, die mit ihrem: Wir sind die Könige aus Morgenland, ho, je! an den Thüren bettelten. Auch eine Art Scepter hatte er in der Hand, die lange Lichtputze, mit der er in der sich nun entleerenden Kirche die Altarkerzen auslöschen wollte …

Wirklich, Herr Pfarrer, diese neue Thür, die sonst nicht da war – begann Tübbicke aufs neue …

Wollen Sie wol schweigen! wiederholte Müllenhoff aufstampfend und zog sich seine Meßkleider aus. Ein 12 für allemal, Tübbicke, rief er dem Alten nach, wenn ich vom Allerheiligsten komme oder von der Kanzel herab, so sollen Sie mich nicht eher anreden, bis ich Sie gefragt habe!

Gut, gut, gut! antwortete der Alte brummend und kopfschüttelnd über seinen neuen Vorgesetzten … der für sich weniger maliciös, als sozusagen eher burschikos fortbrummte:

Diese Sucht von den Meßnern, überall mit uns umzugehen, als wenn der ganze Gottesdienst ein bloßer Spaß gewesen wäre! Schon wie die Barbiere kommen sie des Morgens zu Gott und kramen in der Sakristei ihre Neuigkeiten aus!

Nun pfiff sich sogar Müllenhoff eine leichte Weise und genoß im Stillen seinen Triumph, in die Predigt hinein eine Rüge des gräflichen Bauwesens eingeflochten zu haben …

Tübbicke kam zurück …

Tübbicke! sagte der Pfarrer, etwas versöhnlicher gestimmt. Daß wir uns so wenig verstehen!

Sechsundsiebzig! war die Antwort …

Ja, Tübbicke, Sie sollten sich einen Beistand halten! Wenn Ihr Sohn nicht in Witoborn maître-tailleur wäre – Schande, Schande auch über diese neubackene Aefferei!

Ei, mein Sohn war in Paris, Herr Pfarrer!

Deshalb will er kein deutscher Ziegenbock mehr sein? Es ist ja wahr! Er trägt einen Bart, der Kerl, so lang wie ein Kameel!

Herr Pfarrer, junge Leute –

Vierzig Jahre alt ist der communistische Mucker! 13 Tübbicke, Tübbicke! Ich höre, daß Ihr maître-tailleur auf dem Finkenhof verkehrt! Ich sage Ihnen, rathen Sie ihm Gutes! Der Finkenhof und alles, was wir hierorts von Sodom und Gomorrha noch im Rest haben, hat an mir einen schlimmen Aufpasser! Warten Sie ab! Sitzt auch noch der Kirchenfürst in Ketten und Banden, der Sieg ist unser! Wir haben unsere Kraft fühlen gelernt! Nun muß es von Grund aus in Deutschland anders werden. Jetzt zumal, wo hier auch bald eine luthersche Herrschaft commandiren soll …

Na, ich denke doch, sagte Tübbicke, der Herr Archipresbyter wird an uns beiden seine Freude haben, Herr Pfarrer!

Bald darauf hielt denn auch wirklich der Archipresbyter Bonaventura von Asselyn das Hochamt zu Sanct-Libori und Müllenhoff administrirte dabei nur und mußte sich dem Domherrn unterordnen. Es war ein Fest für die ganze Gegend, wieder die Kirche überfüllt, der Eindruck einer nie so würdig celebrirten Messe, wie vorauszusehen, der heiligste. Auch Bonaventura’s spätere Rede zündete. Man hatte hier nie so schön vom Thema der Zeichen und Wunder sprechen hören. Wenn das Wesen der Zeichen und Wunder, hatte der Priester im weißgoldenen Gewande gesagt, schwer zu deuten wäre, so wisse man doch Eines ganz bestimmt, was zu ihnen gehöre: Liebe. „Die Menschen müßten sich gegenseitig erst etwas werth sein, wenn sie sich zu Propheten und Aerzten werden könnten.“ Der Redner vermied die ihm gegenübersitzende Paula 14 zu bezeichnen, aber man gedachte nur ihrer. Er übertrug das Uebersinnliche in diejenige Seite der Natur, die uns offen und enthüllt vorliege und zugleich ihre heiligste und höchste wäre, in die Seele, in das Gefühl … Der Text des Sonntagsevangeliums Quinquagesimä: „Jesus weissagt sein Leiden“ gab die Veranlassung zu diesem Thema, das Bonaventura sonst wol vermieden hätte. Er mußte darüber predigen. Er sagte, wir wüßten alle selbst unser künftiges Schicksal, wenn wir uns nur mehr gewöhnten in Gott zu leben, d. h. auf die innere Stimme in uns selbst zu hören.

Auch nach diesem ersten Gottesdienste und während Bonaventura (wie sich wol denken läßt) tief schweigsam und von seinen neuen Eindrücken erschüttert in der Sakristei sich entkleidete und ringsum die Bevölkerung aufgeregt, urtheilend, vergleichend, erwartungsvoll sich zerstreute, polterte Müllenhoff, der gewissermaßen nur Bonaventura’s Vicar war, wieder über die baulichen Grillen des Barons Levinus …

Für sein chemisches Laboratorium weiß er nicht genug Geld auszugeben! sagte er. Ja, Herr von Asselyn, melden Sie ihm das! Diese Thür hier muß neu gebaut werden! Es ist wahr, ich habe sie verlangt, aber sehen Sie nur, wie der Schnee hereinfegt! Eine Doppelthür muß es sein! Und überhaupt, was hoff’ ich nicht alles von Ihnen!

Bonaventura verstand kaum etwas von Tübbicke’s dienstgefälliger Erläuterung … Früher war die Sakristei ohne eigenen Eingang gewesen. Der Pfarrer mußte durch die Kirche gehen. Müllenhoff hatte erst eine Thür 15 durchbrechen lassen. Nun lag sie ihm doch dem Wind und dem Wetter zu offen ausgesetzt …

Als noch der Eingang durchs Schiff war, hat hier ein Cardinal celebrirt –! äußerte Tübbicke …

Schweigen Sie! bedeutete Norbert und reichte dem Domherrn eine Prise …

Tübbicke ging auch heute wieder in die Kirche, um die Lichter zu löschen …

Müllenhoff sprach hinter ihm her:

Nicht wahr, der Meinung sind Sie doch auch, Domherr? Man muß das Reinigen der Kirche mit dem Nächsten anfangen, was nur unser Kehrbesen trifft! Dieser Tübbicke ist wie die Meßner sämmtlich sind! Ich sagte ihm schon neulich: Tübbicke, sitzt das Wachs noch nächsten Freitag an den Leuchtern auf der Epistelseite, so nehm’ ich mit eigner Hand vor dem Introibo ein Tuch und putze die heiligen Gefäße selbst vor der ganzen Gemeinde rein!

Bonaventura, in tiefen Gedanken, lächelte und sprach:

Dann können Sie ja mit dem Apostel sagen: Es sind Gefäße des Zorns!

Bonaventura sah am alten Tübbicke, er hatte die gewöhnliche Krankheit der Kirchendiener (wie auch Lucindens Vater als Schulmeister), sich mit dem lieben Gott auf einem ganz besonders kameradschaftlichen Fuße zu wissen. Auch Tübbicke war wie ein alter guter Kammerdiener der Heiligen. Die Livree der Mutter Gottes trug er, wie wenn er die hohe Frau einst als Kind auf seinen Knieen geschaukelt hätte. Christus war ihm fast wie der „junge Herr“ in seiner Himmels-16familie und die wechselnden Geistlichen waren ihm nur neuangeworbene Hofmeister, die manches gar nicht in der Weise verstanden, wie die Tradition des hochgräflich himmlischen Hofstaats es mit sich brachte. Das war nun gerade der Anstoß, den Müllenhoff nahm. Ich glaube, Sie dünken sich wol einen Liturgiker, hatte er dem Alten gleich nach seiner ersten Messe gesagt, als dieser ihm bemerken wollte, daß seit neun Jahrhunderten in der Liborikirche die Communicanten erst dann knieeten, wenn sie an die Communicantenbank kämen, vorher dürften sie stehen. Nach Müllenhoff mußten sie gleich knieen und zwar utroque genu! wie er donnerte. Und von dem Tage an, wo Tübbicke sich bei wiederholter Anfechtung seiner alten Art, die Gläubigen zu ordnen und zu scharen und bei erneuetem Rufe: Utroque genu! die Bemerkung erlaubt hatte: Na, Herr Pfarrer, Sie werden sehen, daß die Bauern sich beklagen, weil die Jungens auf die Art zu viel Hosen zerreißen! da war offene Fehde zwischen beiden. Tübbicke vertheidigte das alte Herkommen und die Schwäche aller Creatur, Müllenhoff aber das Gesetz, den hochheiligsten Buchstaben und die neukatholische Reform.

Bonaventura mußte zuletzt sogar des erneuerten Streites lachen. Als wenn Tübbicke alle gegen ihn in seiner Abwesenheit erhobenen Anklagen gehört hätte, brachte er den Leuchter, den er gereinigt hatte, zeigte ihn stumm seinem Vorgesetzten, drehte ihn vor den Augen desselben rundum und schloß ihn ebenso schweigsam in einen Schrank.

Müllenhoff hatte darauf seinen langen wattirten 17 Winterrock angezogen und den Hut aufgesetzt … Einen Stock, den er sonst trug, hatte er sich vor seinem Dechanten geloben müssen abzulegen, weil schon vorgekommen war, daß er bei Vorwürfen, die er zufällig ihm im Felde Begegnenden machte, ihn zur Unterstützung benutzte. Bonaventura hüllte sich in einen Pelz. Auf ihn wartete ein Schlitten, der ihn nach Schloß Westerhof bringen sollte, wo er täglich zu Mittag speiste.

Als Tübbicke die neue Thür aufschloß und den Schnee wegstieß, bat Müllenhoff seinen Vorgesetzten:

Herr von Asselyn! Noch eins! Erinnern Sie doch den Herrn Baron von Hülleshoven, daß ich auch meinen eigenen Eingang haben muß in die Hofkapelle auf dem Schloß!

Herr Domherr, ein Eingang ist in die Hofkapelle, erläuterte Tübbicke; aber er führt durch andere, verschlossene und höchst wichtige Zimmer –

Ein durchbohrend strafender Blick Müllenhoff’s verwies ihn zum Schweigen …

Ich will die Schlüssel zu diesen Zimmern haben! sagte er zu Bonaventura mit scharfer Bestimmtheit.

Herr Pfarrer, dieser Eingang führt erst durch die Bibliothek und durch das Archiv! Der Baron hat ja nichts davon hören wollen …

Müllenhoff beherrschte sich …

Ich will, sprach er wie mit einem Märtyrerblick auf Tübbicke und jedes Wort betonend, ich will auch in die Sakristei der Schloßkirche meinen eigenen Eingang haben! Wenn dieser durch das Archiv führt, so gebührt mir um so mehr ein Schlüssel zu demselben, als die Ur-18kunden und Kirchenbücher der Pastorei gleichfalls in demselben aufbewahrt werden!

Der Patron ist, soviel ich weiß, dafür verantwortlich! sagte Bonaventura.

Seit neun Jahrhunderten! setzte Tübbicke hinzu …

Schweigen Sie! brach Müllenhoff jetzt aus – mit kindlich gemäßigter Stimme aber, als fürchtete er, zum blutdürstigen Tiger zu werden, fuhr er zu Bonaventura gewandt fort:

Ich bitte, Herr von Asselyn! Es ist mir nicht angenehm, in meiner bürgerlichen Tracht erst durch die Kirche zu gehen und dann hinterm Altar erst Toilette zu machen. Ich will, daß die Gemeinde, auch selbst die vornehmste, mich gleich nur in meinen Priestergewändern sieht. Der Schlüssel zum Archiv soll von mir wie ein Heiligthum verwahrt werden.

Bonaventura setzte sich mit dem Versprechen in den Schlitten, die Sache nach Wunsch zu ordnen, wenn es irgend thunlich wäre … Noch standen Menschen draußen, die den so lange Erwarteten noch einmal sehen wollten … Mit einem Blick des Neides sah ihm Müllenhoff nach, als er von dannen fuhr, und verwies die Umstehenden, sich nun nicht länger aufzuhalten.

Norbert Müllenhoff war ein noch zelotischerer Geistlicher als Beda Hunnius. Dieser hatte in seinem reformatorischen Wirken doch nur die Lehre und den Kampf mit der protestantischen Welt vor Augen, jener gehörte schon ganz den jungen Geistlichen der Michahelles’schen Richtung an, die in Allem eine Wiederherstellung des alten kirchlichen Lebens wagten und die Axt nicht blos an die Zweige, son-19dern an die Wurzel selbst legen wollten. Norbert Müllenhoff war ein Priester im Geist des Kirchenfürsten. Ein Bauernsohn, zeigte er die ganze Kraft, Energie und Selbstgenüge, wie sie hier zu Lande den Nachkommen der alten Sachsen eigen ist. Sein Aeußeres drückte einen ursprünglichen Beruf zur Thätigkeit, zum Krieger, Geschäftsmann, Arbeiter auf einem Felde des muthigen Bewährens aus; aber trotz seiner gewölbten Brust, seiner Stimme wie ein Löwe, war er zum Geistlichen bestimmt worden, wie bei diesen Bauern Sitte ist, die selbst bei Vermögen nicht unterlassen können, eines ihrer Kinder der Kirche zu weihen. Zwar machte Norbert den ganzen Weg, der in diesem Falle Herkommen ist, durch Stipendien, Freitische, Freibücher, Freiwohnungen hindurch, nahm dies aber alles wie etwas, was sich von selbst verstand. Die Priesterweihe gibt einer solchen Natur ein Bewußtsein, als wäre sie gefeit gegen alle Anfechtung der Welt. Aus diesem levitischen Stolz heraus fing die Zeit überall an ihre Kirchenreformen zu befördern. Aus den jesuitisch geleiteten Seminaren kommen die jüngern Geistlichen wie endlich losgelassene junge Streitstiere. Sie bohren die Erde auf mit ihren Hörnern, rennen im Kreise rundum und scheuen den Kampf mit Königen und Kaisern nicht. Leider gehören zu denen, vor denen sie keine Furcht haben, auch die Könige und Kaiser des Denkens und der Wissenschaft. Norbert Müllenhoff war als Vicar in einem Walddorf des Gebirges, dann als Vicar in Witoborn, jetzt hier als Pfarrer zu Sanct-Libori, wie Beda Hunnius, nicht nur im Stande, von einer „hundsföttischen Art“ zu sprechen, den lieben Herr Gott beim Benetzen 20 der Brust mit Weihwasser um das Symbol des eigenen demüthigen Kreuztragens zu „betrügen“, indem man nur zwei „zimpferliche, schandbare Pünktchen“ machte, statt sich das ewige „Stigma des Heils“ und „die Signatur der Erlösung“ mit zwei „gründlichen Querbalken“ auf die Brust zu drücken … er verwarf Poesie und alle Zauber der Bildung. Er verwünschte „die Niedertracht der Sentimentalität“, sprach von einem nur um unserer gnadenreichen Gottesmutter willen zu duldenden „Weibsvolk“, donnerte gegen den „vornehmen Kirchenpöbel“, der während der Messe nicht knieen wollte oder, wenn er knieete, nur so eine leise Andeutung machte, als wäre „Gott eine Excellenz oder eine Durchlaucht“, vor der eine höfliche Verneigung genüge. „O diese kniesteifen Heiden!“ rief er dann wol, wieder zu den Bauern zurücklenkend, aus; „man sollte sie nur sehen, wenn sie Kegel schieben und dabei die Beine wie mit Oel geschmiert ausgrätschen können – daß dich! – als hätten sie’s von den Possenreißern gelernt auf dem Liborimarkt zu Witoborn!“ Sanft und lieblich und wie mit Lerchentrillern aufsteigend schilderte er dann wieder ein wahrhaft frommes Leben, das alle Ceremonien wie ein gutgeartetes Kind mitmachte; aber gleich schlug er wieder mit Hämmern drein, wenn es „klapperdürren Vorurtheilen“ galt oder „fadenscheinigem Tagesruhm“. Wie der heilige Augustinus sagte er: „Die Menschen lieb’ ich, aber ihre Irrthümer schlag’ ich todt!“ – eine Procedur, gegen welche selbst Onkel Levinus im Abendgespräch auf Schloß Westerhof geltend machte, daß der Herr Pfarrer auf die Art denn doch wol auch manchmal in die 21 Lage jenes Bären kommen könnte, der auf der Stirn seines schlummernden Herrn die störende Fliege mit einem schweren Steine und somit ihn selbst erschlug.

Müssen Sie sich denn ewig in alles mischen? fuhr jetzt Müllenhoff heraus zu dem im Schnee hinter ihm hertrottenden Alten, der mit ihm in einem und demselben Hause wohnte …

Es würde, da Tübbicke zu erwidern liebte, unfehlbar zu lebhafterer Discussion gekommen sein, wenn nicht eben aus den kahlen, schneegepuderten Gebüschen jemand herausgetreten wäre, der, halb dem davonfliegenden Schlitten nachschielend, halb die Ankommenden und auf das Pfarrhaus Zugehenden höflich begrüßend, mit scheuer Unterwürfigkeit einen Brief in die Höhe gehalten hätte, den sofort der Pfarrer ergriff …

Der Fremde sprach mit etwas fremdartigem Accent:

Erlaubniß, Herr –!

Er deutete auf den Alten, dem der Brief bestimmt war …

Müllenhoff las die Aufschrift und gab den Brief an Tübbicke …

Er musterte schon den Fremden von oben bis unten …

Von Ihrem Herrn Sohn – in Witoborn – wenn ich die Ehre habe – Herrn Tübbicke –? sprach dieser mit einer eigenthümlichen Betonung …

Müllenhoff ging weiter und murmelte:

Aha! Vom maître-tailleur –!

Auch die andern schritten, sich ihm anschließend, dem Pfarrhause zu und der Meßner suchte mit den Worten: 22 Von meinem Sohn? Was ist denn nur? Was soll es denn? eifrigst nach seiner Brille …

Ich werde lesen! wandte sich Müllenhoff und erbot sich, den Inhalt mitzutheilen, da Tübbicke nicht sofort die Brille finden konnte …

Bitte, Herr Pfarrer – sagte dieser zögernd …

Einige Raben krächzten, flogen auf und schüttelten den Schnee von den Zweigen, auf denen sie gesessen hatten, und gerade auf den Brief …

„Liber Vater!“ las schon Müllenhoff und unterbrach sich sofort: Schreibt der Kerl „Lieber“ ohne E! – „Lieber Vater! Dieser überbringer“ – „Ueberbringer“ klein! – „ist ein guter Freund zu mir!“ – „Zu mir“! Das ist wol ein Ueberbleibsel aus Paris? – „Es ist ein gelernter Friseur“ – Sieh! Sieh! Das Wort schreibt er richtig! – „und sucht ein Enkagement“ – Heidengugguck! Der Franzos! – „wo möglich bei großen herrschaften als Bedienter“ – Klein die „Herrschaften“, obgleich er sie „groß“ nennt; Bedienter groß! Reiner Communismus! – „Lieber vater“ – Sanct-Libori! Was ist hier das Schulwesen vernachlässigt! – „Könnten Sie es machen, so recom – man –“ – Brich dir den Hals nicht! – „tiren Sie ihn auf das Schloß“ – als La – La – Lagay! … Geyer! Als Lakai! … „Tante Schmeling“ – Aha! „Läßt grüßen und sorgen Sie doch bei Dem – Sie wissen schon von wegen!“ – Das bin ich? – „Fanchon ist recht krank, wenn’s nur nichts auf sich hat“ – Wer ist Fanchon? Eine Hündin, die geworfen hat – von wegen der Schmeling –?

23 Jesus Maria! rief der Alte. Mein Enkelchen!

Ist Fanchon krank? – wandte er sich zu dem Ueberbringer …

Dieser war theils mit gespanntester Aufmerksamkeit der Vorlesung des Briefes, theils den Zwischenreden des gestrengen Herrn Pfarrers gefolgt und fand sich nicht sogleich zurecht …

Mein Herzblättchen?! Steht denn nichts weiter im Briefe, Herr Pfarrer? … rief Tübbicke …

Fanchon! Fanchon! Hat den Namen hier ein christlicher Pfarrer gegeben?

Franziska! Herr Pfarrer! Das Kind ist mein Augapfel!

Der Fremde, der einen wassergrünen Winterrock von langhaarigem Flaus trug, eine tief in die Augen gedrückte Pelzkappe, einen rothen Shawl um den Hals geschlungen, Pelzhandschuhe und Filzüberschuhe an den Füßen, gab die Auskunft, daß er eigentlich auf einer Reise nach Polen begriffen wäre, aber gern auch hier bleiben würde, wenn er Condition finden könnte – Herr Tübbicke wäre eine alte Bekanntschaft von ihm aus Paris – er hätte ihm seine Fürsprache empfohlen für die Herrschaft auf dem Schlosse – er könne „frisir“, spräche französisch, könne auch Pferde „dressir’“ – Fanchon hätte sich erkältet, läge im Bette – aber Madame Schmeling hätte gesagt, daß es nichts auf sich hätte …

Doctert die also auch, die holdwertheste! ließ Müllenhoff einfallen …

Schon war er weiter voraus, während der alte Tübbicke seinem Schutzbefohlenen still die Schulter klopfte 24 und das Seinige zu thun versprach, ihn auf dem Schlosse zu empfehlen …

Frau Schmeling aber war eine Landhebamme, mit der Müllenhoff gleichfalls im offenen Kriege lebte. Die Frau war an sich die Religiosität selbst. Sie vertheilte Bilder, Amulette und Rosenkränze zur Unterstützung aller der Zustände, die auf ihre Hülfe angewiesen waren; sie rieth jedem, zur heiligen Barbara zu beten während eines Gewitters, zu Sanct-Florian und Sanct-Antonius gegen Feuer, zu Antonius II. gegen Wasser, zum heiligen Dionysius gegen Kopfschmerzen, zum heiligen Blasius gegen steifen Hals, zur heiligen Lucia gegen Augenleiden, zur heiligen Palonia gegen Zahnschmerzen, zum heiligen Dominicus gegen Fiebersfrost, zum heiligen Rochus gegen die Cholera, und ihre Kreißenden und ihre Gebärenden hatten als zwei ihr immer assistirende Hebärzte im Himmel den heiligen Ramon und den heiligen Lazarus, aller der Marienbilder nicht zu gedenken, die unter jenem alten Gemäuer, in dieser alten blitzzerschlagenen Eiche, da und dort eine traditionelle Kraft für die wichtigsten Vorkommnisse im Frauenleben hatten und durch ein „gestiftetes“ Lichtchen gerade ebenso zu sympathetischen Curen gebraucht wurden, wie die in Schiller und Goethe lebende Bildung sich manchmal auch mit Sympathie die Rose vertreiben läßt. Alles, was nur zum christlichen Heidenthume gehörte, war in üppigster Blüte bei Frau Schmeling und todt zu schlagen hätte sie angerathen jeden Ketzer, der bei einer Procession vor dem hochwürdigsten Gute nicht wenigstens den Hut abgenommen. Aber über alle diese Dämmerungszustände 25 fehlte der Frau, wie der ganzen Bevölkerung, das theoretische, klare, formelle Bewußtsein. Sie meinte, trotz aller Aves und Rosenkränze ließe sich die Lust am Leben lieben. Die jungen Bursche hier ringsum, stattlichen Aussehens, waren drei Jahre im Kriegsheere gewesen und brachten fröhliche Welt, Leben und Lebenlassen heim. Nun sollten auf Müllenhoff’s und vieler hoher Herrschaften Betrieb ein Jünglingsbund und ein Jungfrauenbund gestiftet werden und sich alles verpflichten, nicht zu fluchen, nicht zu trinken, nicht zu tanzen und besonders den Finkenhof nicht mehr zu besuchen. Da war Frau Schmeling eine Gegnerin des eifernden Pfarrers geworden. Ohne den Finkenhof gibt es keine Geburten mehr! fuhr sie Müllenhoff an, als sie gelegentlich von einer Nothtaufe, die sie verrichtet hatte an einem sterbenden Kinde, Bericht erstattete und mit aufrichtiger Beredsamkeit auseinandersetzte, daß die Musikanten auch Menschen wären und auch etwas verdienen müßten. Ja sie ließ sich bei ihren sechzig Jahren nicht von dem jungen Pfarrer abkanzeln und mit „sittenlosem Weibsbild“ tractiren. Sie sagte, daß es Familienväter genug gäbe, die ihren Söhnen lieber statt Taschengeld die Erlaubniß ertheilten, sich’s im Kegelspiel selbst zu verdienen, genug Familienmütter, die mit sechs bis sieben stattlichen Töchtern gesegnet wären und den Tanzboden für die beste Gelegenheit halten müßten, sie loszuwerden … Von dieser Frau konnte Müllenhoff nichts hören, ohne im höchsten Grade gereizt zu werden.

Er war noch nicht in sein Studirzimmer getreten, als der alte Tübbicke schon mit einer der Mägde, die 26 für ihn und den Pfarrer sorgten, darüber einverstanden war, daß der Freund seines Sohnes vorläufig gleich zu Mittag bleiben sollte …

Müllenhoff fand Briefschaften vor und ließ den Ankömmling außer Acht …

Es war dies aber ein williger Mann, dieser Herr Dionysius Schneid aus Strasburg, der sich jeder Arbeit unterzog. Einen Beistand bedurften der alte Tübbicke und die Kathrein; der Domherr wohnte nicht auf dem Schloß, sondern hier in seinem geistlichen Hause von Sanct-Libori oben im ersten Stock; zu den jetzt doppelt nothwendigen Hülfsleistungen fehlten die Hände … Aber war auch der Herr Dionysius Schneid schon etwas steif und schwerfällig, so war er doch keineswegs unbrauchbar, ob im Stall des Schlosses für die Pferde oder im Hausdienst zum Spalten des Holzes oder zur Hülfe in der Küche oder selbst zur Pflege einer herrschaftlichen Garderobe – ja er wurde zuletzt auf das Schloß empfohlen und dort wirklich angenommen.

Wenn auch für Westerhof große Veränderungen bevorstanden, an Leben und Bewegung fehlte es nicht, und besonders da gerade jetzt, an demselben Sonntage, nach der Heimfahrt von der Kirche, alle Herrschaften, die in der Kirche gewesen waren, von der wenn auch nicht überraschenden, doch gerade für Schloß Westerhof nicht bedeutungslosen Nachricht empfangen wurden, daß in verwichener Nacht der Onkel der Comtesse Paula, der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof, gestorben war.

27 2.#

Am Mittwoch nach diesem Sonntag Quinquagesimä war es, als die stille kalte Winterluft auf Meilen in der Runde von leisen Klagetönen erzitterte …

Der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof sollte gegen Mittag begraben werden … Die Glocken aller Kirchen ringsum waren an diesem Trauertage betheiligt …

Denn welchem Heiligen, welchem Altar war nicht eine Spende zugeflossen von Schloß Neuhof herab in den letzten Lebensjahren seines Besitzers?

Der alte lange klapperdürre Herr hatte die wunderliche Grille gehabt zu glauben, daß er im Leben jedermann beleidigt hätte. Er trachtete danach, sich vor seinem Tode auch mit jedermann auszusöhnen. Tage lang stand er oben in den Bergen an den Fenstern seines hochherrlichen Schlosses Neuhof, winkte den Vorübergehenden und warf ihnen blanke Thaler hinunter, nur damit sie sagen sollten: Ganz gehorsamsten Dank, Excellenz! Schon lange waren Wächter bestellt, die seiner Verschwendung Einhalt thun mußten. Es kam vor, daß 28 die Fenster vernagelt wurden, wenn er zu heftig rief: Das ist ja Jérôme’s Testament! Leute, so laßt doch meinem Sohn seinen Willen! Ich hab’s ihm vom Seinigen zu geben versprechen müssen, schon damals, als er die Bachstelze nicht heirathen konnte –! Die Lisabeth allein, die noch immer oben war, konnte ihn begütigen. Sie gab ihm die Versicherung, die Bachstelze liefe ja schon längst in der Welt mit andern … Dann nahm er sich zusammen … Er wurde zuweilen so ruhig, daß man ihm seine Freude gewähren konnte, eine Staatskutsche anspannen zu lassen, vier Pferde davor, Kutscher und Vorreiter in Galalivree, und so hinauszufahren in die Gegend. Alle seine Orden trug er dann, saß am offenen Schlage und nickte jedem. Fuhr man durch den Düsternbrook, an der Eiche vorüber, wo er den Deichgrafen erstochen hatte, nach Kloster Himmelpfort, wo er einst Klingsohrn untergebracht, nach Schloß Westerhof, wo er ehedem der Beherrscher aller Verhältnisse, Vormund Paula’s gewesen war, durch Witoborn, wo der Rittmeister von Enckefuß an seinen Schlag trat und ihm so lange von den Flöhen seines Pudels sprach, bis der Sohn des Kronsyndikus, der Präsident, zuletzt seine ganze Verschuldung arrangirte: so lachte zwar jedermann, aber der vornehme, alte, weißhaarige Herr mit den riesigen Augenbrauen nahm alles für Wohlwollen, grüßte und griff in die Tasche, um auch die Freundlichkeiten zu bezahlen. Er glaubte durch Geld alles machen zu können. Seine Wächter nahmen ihm das Geld ab und erklärten, es später berichtigen zu wollen, womit er sich auch zufrieden gab. Von seiner Vergangenheit erschreckte ihn nichts. 29 Er konnte im Düsternbrook die alte im Absterben begriffene Eiche sehen, an der sein Opfer niedergesunken war, und blieb sich in seiner immer zufriedenen Haltung gleich. Das Gedächtniß verließ ihn fast gänzlich. Wenn es da und dort in voller Helle noch dies und jenes Vergangene beleuchtete, knüpfte er Handlungen daran, die mit den Verhältnissen in keinem Zusammenhange standen. So erkannte er vollkommen wieder jenen Pfarrer von Eibendorf, Herrn Huber, der nach Witoborn als Pfarrer der dortigen kleinen, aber gut dotirten evangelischen Gemeinde versetzt war. Bei diesem ließ er oft seinen Vierspänner vorm Hause halten, ließ sich von den Kindern, wenn Herr Huber selbst nicht da war, die Harmonica spielen, die seinen Sohn Jérôme so oft beruhigt hatte, fragte sogar Madame Huber nach der Bachstelze und übergab kurz vor seinem Tode dem Pfarrer ein Testament mit dem heimlichen Bedeuten, es wäre seine wahre letzte Willensmeinung und nach seinem Tode dürfte nichts anderes vollzogen werden, als was er in diesen Blättern niedergeschrieben hätte. Er ertheilte darin Pensionen an alle Welt, ja an Namen, die schon lange in seiner Gegenwart niemand mehr nannte. So an den Bruder Hubertus, „meinen ehemaligen Jäger, obgleich er mir viel Wild gestohlen“, jährlich 10000 Thaler; an Dr. Klingsohr, „wenn er exemplarisch lebt und seiner Mutter Ehre macht, ein für allemal 100000 Thaler“; an eine gewisse Lucinde Schwarz, „aus der Familie derer, die das Pulver erfunden haben“, „alle Kleider von meinen ehemaligen Maitressen, wenn sie dieselben in der Komödie brauchen kann“; an den Musikus Stammer „das Gnaden-30brot und eine ehrenvolle Versorgung, wenn er sämmtliche Kinder von mir anständig erziehen und unterrichten will“; … dem Küfer Stephan Lengenich „geb’ ich 100000 Thaler, unter der Bedingung, daß er die Lisabeth heirathet und die Hochzeit auf dem Finkenhof ausgerichtet wird, wo ich alles freihalten werde“ … „Ansprüche meiner zweiten Frau erkenn’ ich nicht an; auch wenn sie heiliggesprochen werden sollte“ – „ihre Kinder soll Leo Perl erziehen, aber wehe ihm, wenn er sie beschneiden läßt. Mein Freund, der Dechant von Asselyn bürgt mir dafür. Die Pension seiner Schwägerin, der Buschbeck, kann dafür verdoppelt werden“ … „Meine Dosen und Bilder vermach’ ich meinem Freunde dem Dechanten Asselyn, aber ich wünsche, daß er weniger mit Juden, als mit Heiligen umgeht“ … „Seinem Bedienten Windhack hat er auf jeden Stern im Himmel in meinem Namen einen Thaler zu legen, was Freiherrlich Wittekind’sche Kameralverwaltung berichtigen wird.“

Pfarrer Huber schickte dies verworrene Geschreibsel an den Sohn des Testators und Universalerben, den Präsidenten …

Die Untersuchung über die Ermordung des Deichgrafen war ein Jahr lang auf falscher Fährte geführt worden. Eine energische, gegen den Kronsyndikus gerichtete Wiederaufnahme hinderte die mannichfach vertheilte Gerichtsbarkeit des hier einschlagenden, an mehrere Souveränetäten vertheilten Terrains. Zuletzt trat der Geisteszustand des Schuldigen jeder Feststellung eines sichern Urtheils entgegen. Im Volke stand die Thä-31terschaft des Kronsyndikus fest und Sagen gingen genug von einem Galgenrade, das er auf seinem Boden hätte aufstellen müssen, von einem Strick, den ihm der König unter seinem Ordensbande um den Hals zu tragen befohlen, von Geisterspuk und mitternächtigem Grauen aller Art. Der ringswohnende Adel ignorirte etwas nicht Erwiesenes; aber auch ohnehin war der Umgang mit dem schon lange gekennzeichneten Manne seit Jahren abgebrochen. Bei alledem fehlte, des Präsidenten und der Verwandtschaft mit den Dorstes wegen, nicht ein äußerer Antheil an dem Leichenbegängnisse. Der Kronsyndikus wurde im Familienbegräbniß der reichen Klosterkirche Himmelpfort beigesetzt. Dem Trauerzuge, der ihn von Schloß Neuhof abholen sollte, wohnte der Adel der Umgegend bei. Die Frauen, vorzugsweise die Damen des Stiftes Heiligenkreuz und die weiblichen Bewohner des Schlosses Westerhof, hörten gleichzeitig eine Todtenmesse, die in Sanct-Libori gehalten wurde. Das unausgesprochene, aber laute Geheimniß über diesen wilden Nachbar lag seit Jahren schwer und drückend auf allen Gemüthern und wohl empfand man mit athemloser Beklemmung, wie ein einziger Mensch so einen ganzen Landstrich und tausend Herzen in Beunruhigung hatte versetzen können. Im Mittelalter war alles das gewöhnlich. Auch jetzt noch hatte man ein Gefühl, daß im Lutterberge, dem Fegfeuer des dortigen Adels, eine Seele vergebens auf Erlösung harrte. Nach Armgart’s uns bekannten Zeichnungen flog hier ein geflügeltes Kreuz im Gottesherzen nicht aufwärts, den Flammen der göttlichen Liebe zu, sondern kopfüber geradeswegs zur Hölle.

32 Da ein ganzer Volksstrom zum Gebirge hinaus war, um dem prächtigen, von den Franciscanern begleiteten Leichenconduct beizuwohnen, so war die Kirche nur wenig besucht und ausschließlich von der vornehmen Welt. Zu dieser Sphäre stand Norbert Müllenhoff – Bonaventura war beim Leichenbegängniß – in einem gleichsam nur hinter dem Rücken derselben strengen und schroffen Verhältniß. Hinterrücks hatte er alle Floskeln von „breiweicher Sentimentalität“, „Empfindungsrührei“, „Stunden der Andachtspinselei“, „Lavendel-Christenthum“, immer in Bereitschaft, aber ein Schwindel überkam ihn, davon etwas in unmittelbarer Gegenwart der hier ohnehin höchst andächtig gestimmten Vornehmheit selbst anzuwenden. Und heute war ihm förmlich beklommen zu Muthe; denn er hatte eine Einladung nach Witoborn erhalten zu einer hochfrommen Frau von Sicking, die mit ihm eine Berathung anstellen wollte über die auf Ostern hin zum ersten male hier zu Lande zu versuchenden „Exercitien“. Ein ganzer Kreis vornehmer Gläubigen von nah und fern wollte zusammentreten und in einem von Frau von Sicking bewohnten, zwischen Witoborn und Westerhof gelegenen Landsitz zum ersten male vierzehn Tage lang bei verschlossener Eingangspforte desselben unter geistlicher Oberleitung religiösen Uebungen obliegen. Die Dame entschuldigte ihre Nichtanwesenheit in der Kirche und bat den Herrn Pfarrer bei ihr zu Mittag zu speisen und das Nähere gemeinschaftlich zu besprechen …

Müllenhoff war von dem Wohlgeruch des feinen Billets ganz betäubt und verrichtete seinen Gottesdienst 33 mit einer Zerstreuung, die ihm sogar die Anwesenheit des Schulmeisters als Meßners statt Tübbicke’s gleichgültig machte, ja ruhig mit anhören ließ, daß der Schulmeister berichtete: Tübbicke’s Herzblättchen liegt auf den Tod; er ist nach Witoborn und will, wenn nichts hilft, nach dem Schloß und die Gräfin um Hülfe bitten! …

Gräfin Paula, die Kranke durch Gebet und Berührung heilte, war in der Kirche anwesend. Armgart saß neben ihr, das ganze Stift und Tante Benigna. Ja er hörte, daß der Zeichner des Teppichs, Herr Dr. Laurenz Püttmeyer, der berühmte „Philosoph von Eschede“, auch der Messe heute zuhörte, die auf dem von ihm gezeichneten Teppich gelesen wurde … Einigemal verklingelten sich die Ministranten … aber Müllenhoff ließ alles geschehen … Er dachte nur an die Einladung der Frau von Sicking, an Exercitien mit Höhergebildeten …

Nach der Messe war es schon elf Uhr, die Baronin erwartete ihn um zwei; er eilte etwas zu frühstücken und dann rasch noch etwas die bekannte Anleitung zu Exercitien von Ignaz Loyola durchzusehen …

Es war schon still und einsam um die Kirche her. Der Schulmeister begleitete ihn und erzählte, daß Tübbicke schon den „Bruder Strasburger“ auf dem Schlosse untergebracht hätte. Müllenhoff hörte nichts, zog nur das zarte Billet aus der Tasche und athmete seinen Duft ein … Frau von Sicking war eine der gottseligsten Witwen der Gegend, noch höchst anmuthig, sehr reich und sehr selbständig … Er mußte mit sich kämpfen, in der Praxis dasselbe zu bleiben, was er mit der vornehmen Welt in der Theorie war.

34 Da geschah es zum Glück, daß die Kathrein sagte:

Herr Pfarrer! Der Meyer ist da, der Moorbauer, der Finkenmüller, der Hennicke und auch der Leyendecker!

Kathrein mußte das zweimal berichten …

Nun besann er sich.

Es waren die Mitglieder des Kirchenconvents und des Rügengerichts … Die Männer waren gekommen, weil heute doch die ganze Gegend feierte … Es galt dem nun überall in Deutschland beginnenden ersten Ausbau des kirchlich-sittlichen Lebens und wenn auch Müllenhoff gern gehabt hätte, sein Vorgesetzter, der Domherr, wäre bei dieser Scene zugegen gewesen, so ergriff er doch die Gelegenheit, den gefährlichen Schwindel, den ihm das Esbouquet der Frau von Sicking verursachte, jetzt männlich zu bekämpfen, aß sein Frühstück, gerührte Eier mit Schinken, hieb in das schwarze Brot hinein, trank einige Züge kräftigen Biers und trat in sein Empfangszimmer, wo ihn aus dem ehrerbietigen Gruße von fünf Männern „der verstockte Geist des ganzen Jahrhunderts“ zum Kampfe herausforderte …

Aha! Aha! rief er, mit der Serviette in der Hand und sich noch den Mund wischend, als er eintrat und die stehenden Männer aufforderte, sich zu setzen …

Er fand fünf Männer, den Meyer von Westerhof, den Finkenmüller, der das Wirthshaus zum Finkenhof hielt, den Moorbauer und zwei andere aus der Gemeinde, nicht zu gewaltige Gestalten, eher schmächtige, mit tief herabhängendem Haar über den kleinen Stirnen, im Auge eine etwas ungewisse und scheue Lebhaftigkeit …

Der Meyer überreichte ein langes Schreiben, worin 35 er alle Punkte aufgesetzt hatte, die sie nach langem Streit endlich von ihrem Pfarrer beherzigt wünschten …

Müllenhoff nahm das Papier, als wäre es ein alter schmutziger Lumpen, und fragte:

Wer hat das – – gesudelt?

Der Meyer stockte, sagte aber zuletzt:

Der Schreiber vom Herrn Landrath!

So? Also an ketzerisches Volk wendet man sich hier? …

Damit schnitt er sich eine Feder zum Zahnstochern …

Der Schreiber ist ja katholisch! … hieß es.

Und er schrieb’s bei mir … ergänzte der Finkenmüller …

Aha! Aha! Drum riecht das Papier so nach Taback und Branntewein! … Nun gut! … Wir werden’s ja sehen … Was steht denn nun hier?

Im Grund war Müllenhoff froh, wieder auf die Art in sein rechtes polemisches Fahrwasser zu kommen …

Er las das Geschriebene und begleitete jeden Satz mit einem ironischen: Ei, ei! Sieh! Sieh! Auch gut! Bravo! … Allmählich kam er in ein lauteres Lesen und trug vor:

– – „Und da wir Leute von Westerhof doch wenigstens bei unserer gnädigsten Gutsherrschaft verbleiben werden und keine Gefahr ist, bei der großen und bevorstehenden Umänderung der Verhältnisse mit den andern Gütern an die fremde Linie zu kommen, so stehen wir auch für unsere Rechte und Pflichten ein. Wenn auch hochgräfliche Gnaden sollten den Schleier nehmen und ihr gottseliges, wunderbares Leben im Kloster zu beschließen wünschen, so hat uns Herr von Hülleshoven 36 doch versichert, daß er die Verwaltung wie bisher fortführen und sorgen würde, daß rechtgläubige Seelen hier an ihrem ewigen Heil keinen Schaden nehmen. (So? – unterbrach sich der Lesende – dafür kann der Herr von Hülleshoven sorgen?) Auch hat der Herr Referendar Benno von Asselyn alles geordnet, was bei diesen Aenderungen sowol der Landschaft wie der Kirche an Rechten vorbehalten bleiben muß, selbst bis auf das Waldleseholz in dem von Herrn Thiebold de Jonge verkauften Walde, wo Herr von Terschka sich bereit fanden zur Abkaufung mit einer namhaften Summe ein für allemal, die nun unsern Armenkassen zugute kommt. Herr von Asselyn hat im Namen des Herrn Oberprocurators Nück nicht nachgelassen, daß der Finkenhof nach wie vor 47 Thaler 20 Groschen 7 Pfennige jährlich an das Rochusspital in Witoborn zu entrichten hat, was Finkenmüller nicht auftreiben kann, wenn ihm der Tanz abgesagt wird –“

Aha! Da platzt die Bombe! schloß vorläufig der Pfarrer und stocherte die Zähne.

Ja, das kann ich nicht! polterte der Finkenmüller seine so lange verhaltene Stimmung rundweg und bestimmt heraus …

Müllenhoff las wieder für sich und langsamer. Er stopfte sich dabei in aller Gemüthlichkeit eine Pfeife, während der Bogen auf dem Tische lag und von seinen feurig lebendigen Augen in weitester Distanz gelesen wurde …

„Fünftens, begann er dann wieder, ist der «Pfaffe von Ystrup» ein Lieblingstanz der Leute, der seit hundert 37 Jahren hier zu Land getanzt wird. Sechstens sind die Jünglings- und Jungfrauenbündnisse schon deshalb eine reine Unmöglichkeit, weil jedes Gemeindeglied nicht blos einer, sondern schon mehreren Bruderschaften angehört und – mit der größten Ruhe zog Müllenhoff schon den Rauch seiner Pfeife an – der Fleiß und die Arbeit schon genug darunter leiden. Siebentens wollen die Musikanten auch leben und fallen sie, wenn sie nahrungslos sind, der Gemeinde zur Last. Achtens bitten wir, den buckeligen Stammer vom Kirchenbann zu befreien, damit – wieder that er einige Züge – der Krüppel sich sein Brot verdienen kann, seitdem er von Schloß Neuhof weggejagt und nun eigentlich hierher gehört, wo er geboren ist. Neuntens bitten wir, nicht immer die Frau Schmeling ungebührlich auf der Kanzel zu nennen (jetzt stellte Müllenhoff die Pfeife als verstopft hinweg: diese Hebamme reizte ihn am meisten), da die Frau ehrlich ist und alle, die hier leben, durch sie in die Welt gekommen sind! Zehntens ersuchen wir den Herrn Pfarrer, unter allen Umständen auch ins Rügengericht und den Kirchenconvent zu treten, damit wir von dieser ganzen neuen Reformation nicht den Aerger allein haben.“

Ist das nun alles? sagte Müllenhoff und holte sich aufs neue die Pfeife, die er wieder anzündete.

Ja! war die einstimmige Antwort der Männer … Sie lautete fest, aber doch treuherzig. Und durcheinander gingen die Versicherungen der sich Erhebenden, daß sie alle in Güte und in bester Hoffnung auf ein schönes Zusammenwirken und kräftiges Zusammenleben hierher gekommen wären …

38 Ruhe! sprach Müllenhoff mit aller Fassung, machte sich einen Fidibus, zündete wieder an und fuhr dann in den Intervallen des Rauchens fort:

Daß ich mich nur nicht vergriffen habe und da euere Staatsschrift nahm –? Nein! Gott sei Dank! Na, setzt euch jetzt wieder! Also das ist denn nun auch etwas, dergleichen zu erleben in einer Zeit, wo die Gesalbten des Herrn in Kerkern schmachten, der Heilige Vater in Rom auf die Treue seiner Kinder zählt und diese Herrschaften hier in die Hände der Ungläubigen kommen sollen!

Nicht Westerhof! – fiel man einstimmig auf den sich fast für überwunden gebenden Ton des Pfarrers ein …

So! entgegnete Müllenhoff und zog den Brand seiner Pfeife an. Männer, ihr redet, wie ihr’s versteht! Geht die Comtesse ins Kloster, wie lange macht denn der Herr von Hülleshoven noch, der – für euere Seelen gutsagen will? Wird ihn nicht der Aerger um seinen Bruder und die Schwägerin, die hierher ziehen und sich gegenseitig zum Tort leben wollen, schon unters Grab bringen? Wer bürgt uns, daß sich die Zustände hier über Nacht nicht sämmtlich ändern! Leute, Leute, nehmt ein Beispiel – an den Vornehmen selbst! Wißt ihr’s denn nicht schon? Vierundzwanzig steinreiche Herren und Damen wollen sich jetzt einschließen und vierzehn Tage lang nichts thun, als hier fasten und beten!

Herr Pfarrer, die, die nicht zu arbeiten brauchen, die können das – wollte der Moorbauer einschalten und that es auch halb …

Bitte –! unterbrach Müllenhoff, als wenn er denn doch allein jetzt das Wort hätte …

39 Der Moorbauer schwieg und blickte scheu zu Boden …

Vom Tanz – fuhr Müllenhoff fort mit wechselnden Zügen aus der Pfeife – vom Tanz kommt alles Elend der Gemeinden her! Herr Gott im Himmel, sollte man glauben, daß in einem Lande wie dem unserigen, wo die Schüler der Apostel selber gewandelt sind und wo wir bis auf den heutigen Tag den Ruhm behauptet haben, uns Gottes Augapfel nennen zu dürfen von wegen unsers Zusammenhaltens gegen Ketzer und Ketzergenossen, doch das tollste und lustigste Leben sich erhält und die Schenken nicht leer, die Tanzböden zerstampft werden, daß nur die Dielen so krachen! Hunde sind das, die der bessern Mahnung entgegenbellen – aus euern verstockten Herzen; selbst dann schon wieder bellen, wenn ihnen der Mund noch nicht trocken ist von dem gesegneten Leibe des Herrn, den sie Vormittags genossen! Nachmittags auf dem Tanzboden ist alles, alles, alles verdaut! Schändlicher Frevel, zu sagen, daß ja David auch getanzt hat vor der Bundeslade, wie ich schon einmal von Euch, Finkenmüller, habe hören müssen! David hat getanzt, das ist wahr; aber David war lange Zeit ein König, wie meist die unserigen auch sind, zum Gotterbarmen! David war ein solcher Sünder, daß Gott nur um der allweisen Absicht willen, gerade aus seinem Stamm das Heil der Welt zu erwecken, diesen gekrönten Räuber, diesen purpurgekleideten Mörder, diesen ruchlosen Ballettänzer so lange hat leben lassen! Es ist wahr, David ging dann in sich und hat später die lieblichen Psalmen gedichtet zum Lobe des Herrn, aber nur als die fürchterlichste Reue und Buße über ihn gekommen war und ihn das zerknirschendste Beichtbedürfniß an das 40 Ohr gottgesalbter Priester trieb und er in jammervollster Trauer sich auf dem Beichtschemel wand und ausrief: Herr, wo soll ich mich vor dir verbergen? Flieh’ ich gen Abend, so bist du da, und flieh’ ich gen Morgen, so bist du auch da! … Menschen! Männer von Westerhof! – (Müllenhoff legte nun die Pfeife weg) Was hat denn den heiligen Johannes um seinen Kopf gebracht, als der sündenvolle, gottverfluchte Tanz! Herodias, diese Tochter Belials, tanzte sie nicht so wollüstig vor dem Auge des kindesmörderischen Herodes, daß ihr dieser saubre Souverän jede Gnade gestattete, die sie sich erbitten würde? Und was that diese würdige Tochter ihrer Mutter, die die Maitresse des Herodes war und förmlich zur Nachfolgerin ihrer Mutter erzogen wurde? Diese Creatur verlangte nichts schlechteres, als ein heiliges Märtyrerhaupt! Gerade wie ein neues Kleid oder wie jetzt solches Gelichter von den neuen Herodessen Anstellungen für ihren Bruder oder ihren Buhlen im Steuerfach oder im diplomatischen verlangen würde! Du Gekreuzigter! Warum verlangten die beiden Weibsbilder gleich ein Märtyrerhaupt? Weil der gebenedeite Freund unsers heiligsten Erlösers in der Wüste predigte, daß die Juden Buße thun, nicht mehr fluchen, saufen, Karten spielen und tanzen sollten! Fragt doch nur einmal euere Töchter, fragt doch nur einmal euere Weiber, euere Mägde, wenn sie im Finkenhof gerast haben und mit den Burschen zur Seite gehen mit blutrothen Wangen, fragt sie, ob sie nicht mit Freuden auf einer Schüssel auch den Kopf ihres Pfarrers herumpräsentiren könnten, wenn sie auf sein Geheiß dem Pfaffen von Ystrup, euerm jahr-41hundertjährigen Allerheiligsten, entsagen sollten? Und wozu streichen denn die Teufel ihre Violinen? Wozu säet denn der Versucher die Töne wie Hanfsamen aus? Was will er denn fangen in seinem Tanzbodenstrich? Vögel für die Hölle! O dann kommen die Mädchen, etwa fünf Monate nach so einem „Pfaffen von Ystrup“, in den Beichtstuhl! Sonst schlank wie die Pfeifenstiele, jetzt wie die Baßgeigen, weil die Sünde zu Tage kommt! Dann, dann möchten sie nicht Euern Tanzboden, sondern Euere Mühlsteine haben, Finkenmüller, um sich in der Witobach zu ersäufen, da wo sie am tiefsten ist!

Der Finkenmüller wurde gereizt, zerdrückte seine Kappe und sagte, seines Amtes wär’ es, die Rechte beisammen zu halten, die auf seinem Gute hafteten. Ihm könnte die Mühle genügen; aber da er beim Erwerb des Finkenhofs das Recht zu schenken und aufspielen zu lassen mit bezahlt, auch Steuer und Zehnten darauf genug zu geben hätte, so würde er erst auf seine Abfindung anzutragen haben, falls das durchginge, daß hier die jungen Leute jetzt in den Kirchen vor dem hochwürdigsten Gut förmlich beschwören sollten, nicht mehr zu tanzen …

Müllenhoff loderte so auf, als würde schon das hochwürdigste Gut als bloßes Wort in solchem Munde verunreinigt. Er schwieg, sah sich aber um, wie nach einem Donnerkeil aus Rom. Da suchte der Meyer zu vermitteln …

Wie denn auch den Leuten erst zu beweisen wäre, sagte der Meyer mit feiner Stimme, daß sie etwas Unehrbares trieben! Die hohen Herrschaften tanzen alle und geschieht’s in Ehren, Herr Pfarrer, so kann dabei auch keine Sünde sein …

42 Und der Moorbauer berief sich sogar auf den Widerspruch aller Mütter, selbst der ehrbarsten … Die Väter, meinte er, wissen wol, der Tanz sei des Teufels Jahrmarkt; aber wie wollte man nur allen den jungen Weibsen die Lust daran nehmen? Sie brennten ja doch eben zu versessen darauf!

Es ist nun einmal so! rief der fünfte, der Bauer Leyendecker; die Leute schinden sich in der Woche sechs Tage und am siebenten wollen sie aus dem Joch heraus! Es hat alles seine Zeit, Herr Pfarrer! Das Beten hat seine Zeit und das Vergnügen hat seine Zeit! In diesem Land ist denn doch unserm lieben Herrgott und seinen Engeln immer nur wohl gebettet gewesen!

Seid ihr nun fertig? sagte Müllenhoff mit einer lange mit sich selbst ringenden Mäßigung und Geduld …

Ja! riefen alle einstimmig und trotzig …

Ich will euch sagen, Leute, lenkte Müllenhoff etwas ein; laßt uns in Güte reden! Die heiligen Kirchenväter, Chrysostomus an der Spitze, die kann ich hier nicht citiren! Es ist wahr, sie alle sind furchtbar gereizt gegen den Tanz. Es mag sein, weil manche von ihnen noch jenen schauderhaften Tänzen zu nahe gelebt haben, mit denen die Heiden ihre Götzen, die Venus, den Jupiter, die Minerva und ähnliche Affenschande verehrt haben. Aber glaubt ihr denn nicht, daß unter dem Unkraut in den Herzen der jetzigen Jugend, unter der Spreu auf der Tenne noch so viel edler Weizen liegt, daß man ein solches Frauenzimmer – oder – nehmt’s mir nicht übel – euere eigenen Weiber und Töchter, in aller Güte nehmen und ihr sagen kann: Kind, ein 43 Wort im Vertrauen! Sieh Griete, Anne Marie, so ein Bursch wie der Siebdrat oder der Heikerling oder wie die Schlingel heißen, die kürzlich ihre drei Jahre abgedient haben und immer noch mit dem rothen Streifen an ihren Mützen hier herumlaufen und selbst so in die Kirche kommen, in die Kirche, wo nur Eine Cocarde und Eine wahre Landesfarbe herrschen soll, das durchstochene Herz und das Blut unsers gnadenreichsten Erlösers Jesu Christi! – ich sage, wenn ihr sagen wolltet: Griete, Anne Marie, – Gott, Gott, diese heiligen Taufnamen! – wenn dir nun so ein Schlingel im Felde begegnete, in dem hochwallenden Gotteskorn oder im heiligen Walde – nein, den hauen uns die Lutheraner hier nächstens auch noch ab! – oder hinterm Gartenzaun und wollte dich nur so um die Hüfte fassen, wie er’s auf dem Tanzboden thut – Mädchen, könntest du das denn leiden? Würdest du nicht über den Buben außer dir sein? Würdest du nicht über die Schlenker, die man machen muß beim „Pfaffen von Ystrup“ Brust an Brust und Mund an Mund – in den Boden versinken vor Scham? Und würdest du diesen Schlingeln mit den rothen Streifen an den Mützen nicht hinter die Ohren schlagen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht? Nun sieh, würd’ ich als Vater sagen, dergleichen duldest du nun alle Sonntage! Marie Anna, Magdalena, du, die niemand zweideutig ansehen darf, wenn sie im Felde schanzt und züchtig sich schon die Kleider hält, nur wenn der Wind geht, du mein holdseliges Kindlein, du putzest dich Sonntags, behängst dich mit Ketten und Schaustücken, setzest dich in den Finkenhof 44 auf die Bank und lungerst mit gierigem Blick, ob dich denn nicht auch jemand nehmen mag oder ob du wol gar sitzen bleibest und das Blut, hui! das spritzt dir förmlich vor Ungeduld aus den Wangen, wenn immer mehr antreten und du noch vacant bist! Gott, bei deinen hochheiligen Wunden, würd’ ich doch so ein geliebtes theures Kind, die Freude einer Mutter, das Nestküchlein eines Vaters, so ein Bild der Unschuld und holdlieblichen Sitte, beschwören, daß sie sich vergleichen möchte, wie sie daheim sitzen könnte am Spinnrad, eine züchtigliche Maid, sanft und lieblich und unschuldsvoll wie eine Taube … Und, mit dem Bilde vergleicht dann diese Ländler und diese Schottischen! Wie die Röcke fliegen! Wie der Boden kracht! O Familienväter! Schildert ihnen doch das um des enthaupteten Johannes, um dieses ersten Pfarrers auch in einer Wüste, willen! Schildert den Eindruck, wenn nun später die Bursche anfangen von Bier und Taback und Branntewein zu glühen und die süße Unschuld des Herzens, der zarte jungfräuliche Leib euerer liebsüßen Mägdelein, deren Kindeslallen euch ach! so inniglich erquickte, in die Arme solcher Buben sinkt! Schildert ihnen, was diese beweinenswerthen Lümmel nun die Dreistigkeit haben in ihr keusches Ohr für Gift zu träufeln! Wie sie sich hinsetzen, euern Töchtern das klebrige Glas vollschenken lassen und Hand in Hand sie auffordern, mit ihnen erst durch Redensarten hindurchzuwaten, durch den Pfuhl der Erinnerungen und Erfahrungen, die sie aus ihren gottesvergessenen lutherischen Garnisonen mit heimgebracht haben, aus der Plage der allgemeinen Militärpflicht, die ihr schon so oft zu allen drei Teufeln, 45 wo sie herstammt, hingewünscht habt! Unsere Bursche sind schön, herrlich gewachsen, wie ihr selber noch die strammsten Männer seid! O, so kommt es, sie standen fast alle bei der Garde! Nun kehren sie wieder aus der Residenz selbst, wo diese Unglücklichen leben müssen ohne die trauliche Verbindung mit unserer gnadenreichen Mutter, wo sie nur dürftig genießen die heilige Zehrung, die Herzenserleichterung am Ohr eines geweihten Priesters, ja wo eine jammervolle Veranstaltung unserer Neunmalweisen sogar möglich gemacht hat, daß diese armen Tröpfe, diese guten lieben Kerle, euere Söhne, euere Neffen, euere jüngern Brüder, wol gar in die Kirchen der Ketzer commandirt werden und ihr treues Herze, ihr manchmal doch noch reines, unverdorbenes Gemüthe die Weisheit solcher Geistlichen von einer Kanzel herab hören müssen, deren wir ja sogar jetzt einen in Witoborn haben – Gott im Himmel erbarme dich! einen „Priester“ mit sieben lebendigen Kindern! … O, ich beschwöre euch, Familienväter, thut das Eurige, euere Kinder und Kindeskinder, an die ihr mit Stolz denken könnt, nicht zu verkaufen an den, der ausgeht, sie zu verschlingen! Uebernehmt, obschon nicht geweiht, das Amt des Priesters! Sprecht am brennenden Kienspan in jeder Hütte von der Sünde, die ja schon darin liegt, nur etwas zu wagen, was möglicherweise Sünde werden könnte! Grabt es ihnen im Bilde vor, das Grab der Unschuld und Tugend! Sagt ihnen: Wandle, Mensch – Mensch, wandle dort, wo du wünschen möchtest einst dein Sterbebett hingestellt zu haben! Kannst du, o Jungfrau, o Jüngling, dir unter Gefahr einer Todsünde nur vorstellen, daß der Tanz-46boden dein Sterbebett wäre? Kannst du dir denken, daß an diese Stelle ein Priester hinkäme und dir das heilige Oel brächte? Kannst du dir denken, daß die Gliedmaßen deines Leibes dir dort gesalbt werden könnten zum letzten Pfade an die Pforten der Ewigkeit? …

Längst schluchzte der Meyer … Diesem kam die Wehmuth am ersten zu und sie war ihm natürlich. Sie war ihm das schon von der Anstrengung seiner Nerven und dem stärkern Druck derselben infolge seiner schwierigen Zwischenstellung zwischen Gemeinde und Pfarrer …

Auch der Moorbauer wandte sich ab … Auch die beiden andern äußerten Bedürfniß, sich ihre Nasen zu putzen und suchten nach ihren blauen Sacktüchern … Nur der Finkenmüller blieb kalt und wagte ein:

Bitte, Herr Pfarrer –

Schweigen Sie! fuhr ihn Müllenhoff an, ganz aus der sanften Rolle fallend …

Als der Finkenmüller dann schwieg, fiel er auch gegen ihn wieder in den sanftesten Ton zurück und fuhr fort:

Soll denn die Heiligung der Sitten nur möglich sein da drüben in den Berg- und Fabrikdistricten, wo die lutherischen Pastores nichts vom Christenthum kennen als die Bibel, und von ihren eigenen Weibern und Kindern so in Anspruch genommen werden, daß sie für euer Seelenheil keine Zeit mehr übrig haben? Sollen wir nicht zeigen, was gerade wir vermögen aus unserm Grunde, der da ist der Fels Christi? Sollen sie uns verspotten um unsern heiligen Liborius und sagen: Seht, soviel Kinder kommen außerhalb der Ehe bei uns und soviel bei denen! Schlagt mir den Tanzboden ein, sag’ ich, oder ich pro-47phezeie nichts Gutes für unsere Mutter Kirche! Finkenmüller! Geh in dich! Denke, daß die Gemeinde dir ein Opfer bringen wird! Sie wird dir den Ausfall deiner Einnahmen ersetzen! Sie wird den Jungfrauen- und Jünglingsbund nicht abhalten, dennoch bei dir einige Stunden des Sonntags der Erholung und der Freude zu widmen! Ich schlage vor, daß jedes Mitglied in eine Büchse einen Groschen wirft zur Abkaufung des Tanzes! Der heilige Augustinus, der auch erst ein lasterhafter Heide war, ehe er zur Erkenntniß kam, wird diese Spende segnen! Die heilige Afra wird sie segnen, sie, die einst Spiel und Tanz zu Augsburg in ihrem Hause zur Anlockung der Sünde hatte und durch den heiligen Paullinus bekehrt werden mußte, wird sie segnen! Es ist wahr, der heilige Franz von Sales hat unter gewissen Umständen den Tanz gestattet. Aber so innig ich ihn sonst verehre, den frommen Bischof, ich fürchte, er lebte in zu vornehmen Verhältnissen, um sich – (Müllenhoff stockte jetzt etwas) einen Zustand, wie den um Witoborn herum vergegenwärtigen zu können … Er kannte diese Menschen nicht, die jetzt aus dem ihm auffallenderweise sehr werthen Paris kommen … Er kannte Menschen nicht, die dort die Theilung der Güter proclamiren, diese Handwerksburschen, die keinen Hof sehen können, ohne zu sagen: Aber der Garten dazu ist mein! keine Kuh, ohne zu sagen: Aber das Kalb gehört mir! keine Henne, ohne zu sagen: Aber die Eier legt sie für mich! Haben wir nicht etwa auch schon solches Volk unter uns? Maîtres-tailleurs und ähnliche – Schneider?

Schneid hieß der neue Hausknecht, der in Schloß 48 Westerhof eingetreten und dem Meyer noch nicht ordentlich gemeldet war … Jean Tübbicke bürgte für ihn …

Müllenhoff hielt eine Secunde inne. Da fand der Finkenmüller Zeit, einzuwerfen:

Ich bin aber gewiß, der Herr Archipresbyter –

Was sind Sie gewiß? unterbrach Müllenhoff. Ich, ich, auch ohne den Archipresbyter, ja ohne den Heiligen Vater in Rom, hätte die Macht, im Beichtstuhl zu strafen! Ich könnte denen, die in den Stand der Ehe zu treten gedenken, nur eine stille Messe lesen, wenn sie nicht das Versprechen zur heiligen Dreieinigkeit ablegen wollen, auf ihrer Hochzeit nicht tanzen zu lassen! Ich thu’ das nicht. Ich will euch in Güte gewinnen. Hier ist das Büchlein über die Stiftung der Bündnisse. Da habt ihr zwanzig Exemplare zur Vertheilung. Zu nächsten Ostern ist alles in Ordnung. Am Charsamstag hält der Bund eine Procession und laßt nur die Buben stehen und lachen und die losen Weiber und die Hebammen an der Spitze, wir werden die Lästerer schon auf die Knie bringen, wenn in der Mitte der Jugend Ihr, Finkenmüller, selbst die Fahne tragt und ich gleichfalls hinterher gehe, die Hand mit dem hochwürdigsten Gute!

Vor diesem magischen Wort schwiegen nun wol die Männer … Der junge Kämpfer siegte … Alles blieb still … Müllenhoff holte von einem Bücherbret zwanzig kleine Broschüren und zählte sie ihnen ab …

Herr Pfarrer … sagte der Meyer inzwischen. Sie sehen, wir werden das Unserige thun! Es wird einen schweren Kampf kosten! setzte er seufzend hinzu. Schon heute, wo infolge des Leichenbegängnisses alles auf den 49 Beinen ist, schon heute sollt’ es auf dem Finkenhof zwar ein bischen lebhaft werden –

Dem Lutterberg zu Ehren! meinte Müllenhoff im Zählen. Ja, was werden die Teufel heute im Lutterberg rumoren!

Aber tanzen lass’ ich heute nicht! sagte der Finkenmüller. Aber in Zukunft –

Ja habt doch nur Muth, Leute! unterbrach Müllenhoff; habt doch Muth! Das Uebrige macht das Rügengericht und der Kirchenconvent –!

Ja, Kirchenconvent und Rügengericht –! riefen alle durcheinander … Es war ein Thema, dessen Erörterung noch im Rückstand blieb …

Nun? lautete Müllenhoff’s erwartungsvolle Frage …

Sie haben das Rügengericht eingeführt, Herr Pfarrer, sagte der Meyer, und ziehen sich nun selbst zurück? Schieben uns nur so vor? Jeden Ersten sollen wir zu Gericht sitzen und wenn die Weiber uns auslachen und die jungen Bursche uns den Buckel voll Schläge androhen und wir nicht wissen, wie wir unsere Autorität aufrecht erhalten sollen, wollen Sie im Feld spazieren gehen oder in Ihren Büchern studiren? Nein, mit Vergunst, Herr Pfarrer! Wenn das Rügengericht sich halten soll – und ich habe nichts dagegen, wenn wir sorgen, daß nicht jeder Plunder an den Landrath oder die Gerichte kommt – so müssen Sie den Vorsitz führen, Herr Pfarrer!

Und Sonntags Nachmittags müssen Sie die Kirche dazu hergeben! fielen alle ein …

Erst wollte Müllenhoff ironisch ausweichen. Aber auf 50 das Wort „Kirche hergeben“ rief er, als sollte man es hundert Schritt weit hören:

Ich bin das ewige Gericht und sitze zur Rechten des Schöpfers Himmels und der Erden!

Nein, setzte er dann den auf den Tod Erschrockenen hinzu, gebt euch nur getrost diese Autorität selbst!

Die aber – das – das können wir nicht!

Wird kommen, wenn ihr selbst nicht mehr bis Elf im Finkenhof unter den Zöllnern sitzt!

Halten wir uns von den Leuten apart, Herr Pfarrer, so vermögen wir erst gar nichts! sagte Hennicke …

Pro Deo! rief Müllenhoff mit feierlich lauter Stimme. Nicht Per Deum! So fängt jedes Concordat an und ich will euch das übersetzen … Glaubt ihr, guten Leute, daß ihr dem allmächtigen Schöpfer nichts anderes schenken könnt, als was ihr von ihm ausdrücklich zum Geben empfangen habt? Wollt ihr ihm denn gar nichts geben von dem Eurigen, von euerer eigenen Tugend, von euerer eigenen Moral, euerer eigenen Gerechtigkeit? Könnt ihr nichts, nichts beisteuern zur Herstellung der Ordnung in der Welt? Ihr lieben Leute, diese Opfer bringt getrost aus euch selbst! Schenkt dem Gekreuzigten euere eigene Kraft, nicht immer die, die ihr erst seinen Stellvertretern auf Erden verdankt! Ein Seelsorger soll sich nicht in die weltliche Auffassung euerer Händel mischen. Nur vorarbeiten sollt ihr seinem Wirken, sollt ihm in die Hand arbeiten, sollt –

Wir sollen nur so vorm Schuß stehen, Sie hinter unserm Rücken! rief der Finkenmüller, der wieder Oberhand gewinnen wollte und der Groschenbüchse am ver-51schlossenen und doch von ihm neulich frischgedielten Tanzsaal nicht recht traute …

Wenn ich unsichtbar unter euch bin, antwortete Müllenhoff, schon siegestrunken, aber doch scheinbar gelassen und milde, so ist das für euch eine Schande, Männer? Ich werde, wenn wir auf unserm Wege fortgehen und wir die Bündnisse erst haben, nicht verfehlen, das Rügengericht im Beichtstuhl zu unterstützen. Ich werde auch die schwierige Aufgabe, die wir die Visitation nennen, nicht von mir weisen. Ich werde nicht zurückbleiben hinter meinem Amtsbruder in Borkenhagen, der zu den gottverlorenen, unglückseligen Menschen, dem im Kirchenbann lebenden alten Hedemann und seiner Frau, sich nicht die Mühe verdrießen läßt wöchentlich einmal zu gehen, anzupochen, an ihren Herd sich zu stellen und sie zu bitten, an den heiligsten Ort der Welt zurückzukehren und von dem Tisch des wahren Brotes und von der Ruhe in geweihter Erde sich nicht mit Gewalt auszuschließen. Ihr wißt, wie grillig diese alten im Kirchenbann lebenden Leute sind, und wißt, warum?

Ja wohl, Herr Pfarrer!

Die Schuld traf –

Den Pfarrer Langelütje – sagte der Finkenmüller …

Den Landrath! betonte Müllenhoff mit berichtigender Schärfe. Sogleich fuhr er wieder sanfter fort:

Es soll mir ein Stolz sein, wenn solche Verstocktheit mir die Thüre weist! Ein Stolz, wenn ihr mir die Bücher aus der Hand reißt, die ich auf euerer Ofenbank finde und untersuche, ob sie zu lesen euch auch ziemlich ist! Diese Visitationen werden mir gelingen, denn die 52 Kinder sollen mich dabei beschützen! Die Bilder der Heiligen werde ich euern Kleinen zeigen, denen die Thaten derselben erzählen und die Alten werden dann auch schon heranrücken und sich schämen nicht zuzuhören dem, was christlich ist, und ich werde der Freund auch eueres häuslichen Herdes werden. Das Rügengericht aber, das ist euere Sache!

Wenn Sie nur wenigstens, Herr Pfarrer, sagte der bedrängte Meyer, bei der Strafe, die der Kirchenconvent dictirt, mitstimmen wollten!

Auch das nicht, lieb’ Väterchen! Ich bedanke mich, gutes Meyerchen! Ihr sollt selbst am Kreuz des Erlösers tragen helfen! Ei, wißt ihr denn nicht, was unser hochheiliges Rom mit seinen „Concordaten“ sagen will? … Nicht, weil ich nicht die Kraft hätte – ach, unser hochheiligster Jesus, der hatte die Kraft, die Erde aus ihren Angeln zu reißen – Daß er aber dennoch auf Golgatha das Marterholz mit rinnendem Schweiß und tropfendem Blut getragen hat und daß er lieber zusammenbrach wie euersgleichen, das war blos um zu sehen, wer hinzutreten würde – um ihm zu helfen! Gelegenheit wollte er blos andern geben, sich den Miteintritt ins Paradies zu erwerben. Und in dieser göttlichen Güte ahmen ihm jetzt seine geweihten Priester sowol beim Rügengericht wie beim Kirchenconvent und noch in vielen andern weltlichen Dingen nach. Ihr könnt alle Tage so heilig werden, wie Simon von Cyrene es wurde, der dem Heiland das Kreuz tragen half! Weist, ich bitte, die Gelegenheit dazu nicht ab! Kennt ihr den Fluch, der jenen Schuster traf, der das Ausruhen auf den Stationen des heiligen Kreuzwegs unterbrach 53 und frech die beiden Kreuzträger anschnauzte, was sie hier vor seinem Laden halt machten und ihm die Kundschaft verjagten? Bis zur heutigen Stunde haben die Juden infolge dieses Schusters auch noch keine Ruhe gefunden; sie irren innerlich noch immer umher, wenn sie auch äußerlich in Witoborn allerlei Seelen und einige Landräthe im Sack haben. Jeder Jude, den ich sehe, und säng’ er noch so schön, wie der, der neulich hier mit dem Herrn von Terschka die Güter vermaß und eine gottlose Arie nach der andern pfiff, kommt mir wie eine unbegrabene Leiche vor. Der Kirchenconvent, das seid ihr! Wer die Gemeinde als Spieler und Vagabund belästigt, nicht zum Abendmahl kommt, schlechte Bücher liest, den laßt getrost euere Entrüstung fühlen und wenn es zehnmal die meinige ist und es euere Schwäger oder Vettern sind, die es trifft! Ich kenne das. Auf meiner ersten Pfarre – ja, da saß ich im Kirchenconvent. Was geschah? Jede Strafe mußte ich dictirt haben! Der Meyer dort war Soldat gewesen und ein wahrer Profoß an Zorn und Strafwuth. Für jedes Zuspätkommen bei der Messe hätte er einen Louisd’or verlangen mögen, von denen zumal, wo er wußte, daß sie dergleichen Waare im Kasten haben. Begegnete er dann so einem um lumpige fünf Groschen Gestraften, so grüßte er ihn schon von weitem als Herzbruderkamerad und schüttelte ihm die Hand und sagte: Brüderlein fein, wie leid that mir’s doch neulich wieder mit den fünf Groschen, aber – nun bohrte er einen Esel in die Luft und mit einer Kutte drüber und gleichsam als wenn – siehst du, der Pfaffe drüben, der hat’s decretirt, hat nicht eher nachgelassen! 54 Ja, der Kerl haßte seinen Schwager so, daß er ihn über den Weg hätte vergiften können, und nun sollte ichs immer gewesen sein? Nein, solche Niedertracht lass’ ich bei uns nicht aufkommen … Ihr richtet! Ihr straft! Und dann muß ich euch auch noch in aller Aufrichtigkeit sagen: Die Beweise der Würdigkeit, die ihr habt, in meiner Gesellschaft zu sitzen, müßt ihr mir erst noch geben. Ich schätze euch als Männer von Rang und Ansehen, aber der Taback, den ihr manchmal raucht, ist nicht meine Sorte. Ich meine das in aller Güte und anders als hier in der Pfeife (– er nahm diese jetzt wieder –) aber es ist mir bereits schon vorgekommen – ich will nichts von euch sagen – daß Jockel, wenn er einmal wegen Schwächung citirt wurde – den vorsitzenden Pfarrer anzulachen die Frechheit hatte und sagte: Wir sind allzumal Sünder und brauchen einen und denselben Doctor! Nein, unsern Willen sollt ihr thun; das versteht sich; aber aus euerer eigenen Entschließung! So machen wir’s von jetzt an auch allüberall! Auch im Großen, auch in Staatsangelegenheiten. Das nennt man Concordate. Ihr Leute! Pastoralklug ist gut. Leider aber, wie die Welt nun einmal ist, muß man auch manchmal ein Bissel pastoralpfiffig sein!

Damit lachte Müllenhoff sich selbst so vergnügt Beifall, daß auch die Bauern um ihn her lachen mußten und der Meyer meinte:

Na, wir kommen schon zusammen, Herr Pfarrer! Geben Sie ein bischen nach und wir auch ein bischen – alles mit Bedacht und ohne uns und Ihnen etwas zu vergeben! Neulich noch rieth uns Herr von Terschka selber dazu, daß wir uns ganz nach Ihnen richteten!

55 So? sagte Müllenhoff, sich im Lachen mäßigend …

Ja, fuhr der Moorbauer fort, wir sollten für den Bund die Auszeichnung einer Medaille einführen, dann würden alle beitreten!

Da hatte er Recht! meinte Müllenhoff und setzte hinzu: Nun, der ist ja wenigstens noch von uns!

Und dann sagte er auch, sollten wir mit dem Domherrn sprechen! Der würde allem schon das rechte Schick geben …

Nun ist’s genug! sagte Müllenhoff kurzweg und that, als wollte er gehen. Das Lob des Domherrn mochte er nicht hören …

Die Männer öffneten die Thür. Erst wollte der Moorbauer hinaus, der am nächsten stand …

Wie er sich verbeugte, fiel er fast, sah dann hinter sich und entdeckte etwas, das auf der Flur draußen stand und beinahe von ihm umgeworfen wurde …

Auch Hennicke stolperte schon …

Was steht denn da? fragte Müllenhoff aus seinem innersten Vergnügtsein heraus …

Die Männer traten in die Stube zurück und blickten auf einen Korb, der dicht an der Thürschwelle stand und verdeckt war …

Was soll denn das da? sagte Müllenhoff und suchte nach seiner Bedienung.

Der Korb sah seltsam aus. Niemand hatte recht den Muth ihn wegzuheben. Er war oben offen und hatte ein kleines Schirmdach, das mit rothem Zeuge verhängt war … Man hätte glauben mögen, es war ein Korb, wie man ihn auf Wiegen befestigt …

56 Müllenhoff, blutroth schon, sah die verlegen lächelnden und zurückweichenden Männer an …

Kathrein! rief er laut. Was steht denn hier im Wege?

Eine Magd, die das kanonische Alter hatte, eine jüngere, die nicht beim Pfarrer, sondern bei ihr diente, kamen herbei und verwunderten sich „des Todes“ über den Korb …

Alle hatten die Ahnung, daß sich jemand ins Haus geschlichen und an der Thürschwelle des Pfarrers – ein Kind ausgesetzt hätte …

Zornentbrannt und doch voll tiefster Verlegenheit riß Müllenhoff die rothen Vorhänge des Korbes auf und richtig! in Betten versteckt, lag mit weißem Häubchen ein Kind, wie sich jedoch die Kathrein sofort überzeugte, kein lebendes, sondern ein allerliebstes, niedliches Wachspüppchen …

Unter Gelächter zog sie es hervor …

Die Männer wagten nicht in das Gelächter mit einzustimmen, sondern hielten die Hand vor den Mund und entfernten sich rasch, um erst draußen, wie man zu sagen pflegt, „loszupruhschen“ …

Das ist – das ist ja ein niederträchtiger Streich – ein Streich nur von der Schmeling! rief der Pfarrer. Meyer! schrie er diesem nach. Sie untersuchen das! Melden’s gleich dem Landrath! Er soll euern Schreiber schicken! Auf der Stelle! Da seht ihr nun euere Zucht und Ordnung! Ich werde das Schandstückchen von euch auf die Kanzel bringen!

Der Meyer stand verlegen an der Hausthür …

57 Es wurde gefragt und geforscht, ob man denn nichts erblickt, niemanden im Hause gesehen hätte …

Den Jean Tübbicke, den buckeligen Stammer, den Perrükenmacher Schneid, alle Verdächtigen rief Müllenhoff der Reihe nach auf … In Witoborn sollten alle Korbmacher, alle Puppenverkäufer, alle Händler mit Betten und rothem Kattun Haussuchung bekommen … Dann wieder fiel ihm die Lächerlichkeit des ganzen Vorfalls auf. Schäumend warf er die Thür hinter sich zu und schrieb nun selbst an die Polizei in Witoborn. Hätte er nur den Tübbicke gehabt, um seinen Zorn ganz auslassen zu können!

Erst allmählich kehrte ihm die Ruhe zurück beim Blättern in den Exercitien Loyola’s und beim Wiederlesen des Billets der Frau von Sicking … Dann ordnete er seine Toilette, rüstete sich mit einigen „geistreichen Gedanken“ für das Diner und ging, ganz ein Papst Hildebrand vom Dorfe, mit festem Schritt hinaus in den frischen Wintertag.

58 3.#

Inzwischen lugte auch auf Augenblicke freundlich die Sonne hervor aus der unermeßlichen Wolkendecke, die ab und zu sich ihrer Schneeansammlungen aufs neue entledigte.

Da, wo die Sonne verborgen gestanden, bekam der Himmel das Ansehen, als wär’ er ganz von geschliffenem Achat, von durchsichtigem, gelbröthlich geflammtem …

Um die Kirche her standen die Bäume in ihrem weißen Krystallschmuck. Im Sommer konnte man sich hier, wenn rings die Ulmenäste wogten und ihre langen Schatten warfen, an einen alten Opferhain erinnert fühlen. Jetzt war es licht ringsum. Schon unter den gefrornen Eiszapfen, die wie die Orgelpfeifen über dem Portal des Ausgangs der Kirche hingen, sah man weit in die schneeverhüllte Ebene hinaus, wo die Wintersaat schlummerte, die Hasen dahinschossen, die Krähen einsam auf rauchenden Dächern stolzierten …

In einer großen, etwas alterthümlichen, nicht aus Hoffart, sondern des Schnees wegen von vier Pferden gezogenen Kutsche saß Paula im Fond mit Tante Benigna, 59 auf dem Rücksitz Armgart und der Doctor Laurenz Püttmeyer, der Philosoph von Eschede, langjähriger Verlobter der jetzt in Paris bei den Fulds weilenden Angelika Müller. Der plötzlich gekündigten Lehrerin von Lindenwerth hatte die kleine freundliche Bettina Bernhard Fuld diese Stellung als Reisebegleiterin und Gesellschafterin bei sich angeboten und Angelika sie angenommen …

Ein so enger Raum! …

Und wie mächtig dehnt sich doch die Lebensbeziehung einer jeden dieser vier Personen in die Welt aus, weit, weit über diese winterliche Fläche und das Echo der wieder beginnenden Glocken hinweg! So aber ist das Leben in seiner Wirklichkeit. Auf der Bühne, da treten Helden durch weit aufgerissene Flügelthüren ein und die Spannung steht, wie eine sich verbeugende Kette von Kammerherren und Lakaien, um einen Fürsten oder – Bettler, wenn gerade das Interesse auf einem Bettler ruht, auf die Scene treten zu lassen. Im Leben aber ist so ein gefeierter Philosoph wie Püttmeyer plötzlich da wie unsereins! Dieser große Mann, für den nun sogar am Ufer der Seine ein treuliebend Herz Propaganda macht und ihn jetzt sogar in einem Bankierhause Wechsel auf die Zukunft ziehen läßt, auf diesen unerschöpflichen Reservefonds aller unverstandenen Geister der Gegenwart, saß hier völlig unerkennbar, tief verloren in einen Mantel, Muff, Shawl und Fußsack –

Laurenz Püttmeyer war heute ein völlig von den Todten Erstandener … Eschede ist ein kleines Städtchen und Püttmeyer bewohnte daselbst zwei Zimmer im Erdgeschoß seines eigenen älterlichen Hauses. Ins grüne Freie, einen 60 Hausgarten, ging er nur, wenn ihm sein Hund und seine Katze die Nelkenbeete verwüsteten – die Nelke war ihm die liebste Blume; sie hat eine schöne Symmetrie und an ihrem Stengel erhebt sich die geschlossene Knospe in einer konischen Gestalt. Und hatte nicht auch sein eigenes ganzes Wesen das eines großen alten Katers? Armgart wenigstens meinte gleich heute in der Frühe, als ihn eine gräfliche Kutsche von Eschede brachte, es fehlten ihm nur an dem glattrasirten Kinn und der langen Oberlippe ein paar spitzabstehende Härchen – und Hinz wäre fertig. So berichtete sie auch schon neulich, als sie zum ersten mal des Doctors Bekanntschaft machte. In Lindenwerth wurde oft Püttmeyer’s Porträt den Mädchen als Medaillon in Aquarell gezeigt. Da hatte er noch blonde Haare, eine scharfe, nicht gar zu spitze Nase, graue, entschlossene Augen, eine bläuliche Färbung des abrasirten Barts und eine ungeheure weiße Halsbinde, in der sich ein vornehm spitzes Kinn versteckte. Nun aber in Wirklichkeit spielte bei dem schon tief Vierzigjährigen alles grau in grau. Der Doctor war ein Sonderling geworden. Man erzählte von dem Sophahocker, daß er eine Wasserflasche, die dem Sonnenstrahl ausgesetzt war und die gegenüberliegenden Gegenstände als Brennspiegel entzündete, nicht etwa aus dem Sonnenstrahl heraustrug, sondern mit einem Makulaturbogen seines Werkes: „Christus und Pythagoras“, umhüllte, blos weil er zu träge war, um aufzustehen und einen Schritt weiter mit seinen schöngestickten Angelika-Pantoffeln zu schlorren und die Flasche in den Schatten zu setzen. Ins Freie ging Püttmeyer dann nur noch jeden Abend, wenn er das beste Hotel von 61 Eschede „bei Schönian’s“ und jeden Sonntag die Kirche besuchte. Seine Verehrerinnen mußten ihn in seiner Wohnung aufsuchen. Und diesen Mann mobil zu machen, das war Armgart gelungen! Gleich nach ihrer Flucht aus Lindenwerth hatte sie ihn wie eine verschüttete pompejanische Ruine entdeckt. Sie hatte die unendliche Liebe und Dankbarkeit, die sie für ihre Lehrerin besaß, für die Arme, die ihretwegen so hart bestraft wurde, auf den Freund des Herzens derselben übertragen und mit jener dem jugendlichen Alter so schön stehenden Liebesübertreibung in ihm aller Welt den Propheten nachgewiesen, der in seinem Land verkannt würde, während die wissenschaftliche Welt von Alexander von Humboldt in Berlin an bis zum alten Windhack zu Kocher am Fall voll von seinem Ruhme wäre. Ruhm verbreitet sich, hatte Angelika oft genug gesagt, in concentrischen Kreisen. Wie auf dem Wasserspiegel die erregte Wellenlinie erst in der Nähe des hineinfallenden Steines klein, dann wachsend und wachsend und in ihrer wahren Größe erst in ihren äußersten Nachschwingungen sichtbar würde, so auch die Anerkennung des Genius, zu dessen wahrer Würdigung dann ja oft auch – die Steine gehörten. Niemanden haßte Armgart so, wie einen gewissen Philosophen Namens Joseph Schelling, der so unersättlich nach Ruhm wäre, daß er auch noch den Lehrstuhl Hegel’s, den bis dahin ein unbedeutender Schüler bekommen, einnehmen und dadurch gleichsam beweisen wollte, daß er von Hegel nicht überwunden worden. Das war in Eschede ein Aufsehen, als eines Tages eine gräflich Dorste’sche Kutsche ins Thor fuhr und ein Livreebedienter nach dem Doctor Püttmeyer 62 fragte! Und schon am Abend, wo Püttmeyer nicht „bei Schönian’s“ erschien (wo sich regelmäßig vier oder fünf Stammgäste einfanden), wußte es die ganze Stadt, daß Fräulein Armgart von Hülleshoven auf Stift Heiligenkreuz den Doctor aufgesucht, ihm eine Vision der Seherin von Westerhof erzählt und ihn veranlaßt hätte, diese zu zeichnen, auszutuschen und mathematisch in vierundzwanzig Theile zu zerlegen zum Muster eines Teppichs. Für den Doctor war dieser Auftrag gewesen, wie wenn man bei einem Drechsler in Witoborn ein Linienschiff für die englische Marine bestellt hätte. Er hatte seine katergrauen, etwas gelbgesprenkelten und schon ganz tageslichtscheu gewordenen Augen aufgezogen, wie wenn der Cultusminister bei ihm wäre vorgefahren gekommen in Begleitung des Oberpräsidenten und ihn zum Mitglied der Akademie gemacht hätte. Er konnte von Stund an nicht mehr regelmäßig denken, nicht schlafen; er verjüngte sich, als kämen seine alten Tage wieder, wo seine Ideen zum ersten male über das vaterländische Heidekraut flügge ins Land aufstiegen wie Märzlerchen und alle Drechselbänke der adeligen Höfe ringsum seine mystischen Dreiecke, Kubusse und Konoiden darstellten. Püttmeyer zeichnete den Teppich, maß ihn, klebte ihn in natura zusammen, wie einen Drachen – voller Drachen. Das erschütterte dann sehr seine Gesundheit. Erst heute hatte man ihn können aus Eschede abholen lassen. Er war wie der selige Nikolaus von der Flüe, den die Eidgenossen aus den wilden Bergen holten, um ihre Streitigkeiten zu schlichten, und den man tragen mußte, weil er das Gehen verlernt hatte. Alles war 63 ihm neu. In Witoborn behauptete er viel mehr Thürme zu sehen, als sonst, während doch einige abgetragen waren. Die Vögel, die am Wege im Schnee hüpften, betrachtete er, als wären es neue Species, die inzwischen der Schöpfer geschaffen. Und daß es sich so treffen mußte, an diesem Tage waren sämmtliche Männer der gewählteren Gesellschaft ins Gebirge nach Schloß Neuhof! Nun konnte er doch sowol in Schloß Westerhof, wie in der Kirche und jetzt wieder auf der Rückfahrt, so recht genießen, als zweiter Frauenlob, mitten unter dankbaren nur weiblichen Händen und Herzen gehegt zu werden. O that das wohl! Gleich einem alten Papagaien hatte er gegurrt und gegrammelt vor Behagen, als ihm die Frauen und Fräulein auf dem Chor vor und nach der Messe so viel Zuckerbrot in Worten gaben, seine Güte, seinen Geist, seinen Geschmack lobten. Wie der große Pfau des Libori wedelte er! Noch stand ihm das einfache Familiendiner im Schloß, für den Nachmittag die Rückfahrt nach Eschede und für einen der nächsten Tage noch eine größere Huldigung bevor. Bei einer Jagd, die in dem von Terschka für Thiebold de Jonge bestimmten Walde gehalten werden sollte, einer Jagd, deren Honneurs der Trauer der Dorste’s wegen ein nachbarlicher Graf Münnich übernommen hatte, sollte Püttmeyer den Damen, die auf Münnichhof die heimkehrenden Nimrod’s erwarteten, sein philosophisch-mathematisches System in der Art erklären, wie er dies alle Jahre einmal in Eschede that, durch Ombres chinoises, d. h. Transparentfiguren in einem dunkeln, weihrauchgefüllten Zimmer.

Und Tante Benigna! Die vielbesprochene Schwester 64 Monika’s! Die sogenannte Meg-Merilies sitzt da nun auch vor uns! … Wie beurtheilt ihr doch die Menschen immer nur nach dem, was sie euch zu euerm eigenen zufälligen Nutzen oder Schaden sind! Die Mutter Monika’s, die Großmutter Armgart’s konnte Tante Benigna, Fräulein von Ubbelohde, allerdings sein; aber von einer Hexe, von einer Kindesräuberin hatte sie gar nichts. Wie lange lag auch jener furor saxonicus schon hinter ihr! Ein schwarzer Trauer-Sammethut mit Kreppbändern zeigte das Antlitz einer funfzigjährigen Jungfrau, deren Augen etwas ermüdet waren, die Lippen weit mehr bedacht eine kleine Zahnlücke als heroische Entschlüsse zu verbergen … Onkel Levinus, ihr Schwager, war ihr Verlobter, mit dem sie sich zu verheirathen vergessen hatte. Sie setzten beide ihren Brautstand mit der immer gleichen Courtoisie fort, die schon bei ihrem ersten Verspruche stattfand. Sie lebten unter Einem Dache, führten die gleichen Geschäfte, die Verwaltung der Güter des Grafen Joseph, zankten sich nicht selten, aber die wirkliche Ehe war in Vergessenheit gerathen. Ob das traurige Beispiel von Bruder und Schwester sie erschreckte? Ob sie Reue hatten über ihre wilde Einmischung in diese unglückliche Ehe? Ob sie in der Erziehung Armgart’s sich hinlänglich verbunden fühlten? Möglich; aber Tante Benigna war keine Meg-Merilies. Ein Kind nimmt geistige Größe für physische und erinnert sich seines kleinen alten Lehrers immer in der Gestalt eines Riesen. Monika war zwanzig Jahre, als sie Benigna zum letzten male sah und ihre um so viele Jahre ältere Schwester stand ihr noch immer in der Leidenschaft vor Augen, von der sie damals gegen sie beseelt war. Wie war aber auch Benigna zusammen-65gegangen! Es ist ein ganz mäßig gebautes, fast anspruchsloses Wesen. Sie kichert verlegen, wenn von Levinus von Hülleshoven als ihrer ersten und einzigen Liebe die Rede ist, wie eine jede andere alte Jungfrau in gleicher Lage auch gethan haben würde. Längst war diese Beziehung unter die Dinge gerathen, deren Lösung der Mensch dem Jenseits überläßt. Tante und Onkel, beide hatten so viel mit ihren Aemtern und nächst diesen auch mit sich selbst zu thun, daß es zu keiner Wiederanknüpfung an die alte Zeit mehr kam; beide vertrockneten in sich selbst. Die Zeit, die Onkel Levinus an der Verwaltung erübrigte, gehörte der Gelehrsamkeit, den Alterthumsstudien, den Entdeckungsreisen ins Innere Afrikas und seinem chemischen Laboratorium. Die Zeit, die Benigna erübrigte, gehörte der „Erziehung“ Paula’s und Armgart’s, die indessen umgekehrt beide mehr die Tante erzogen. Benigna ist allerdings reizbar, sehr streitsüchtig, gutmüthig wol, aber erst nach Anfällen heftiger Strenge, überfromm und sittenrichterisch bis zum Unschönen. Wenn sie dann von allem erschöpft Abends in den Sessel sinkt, schläft sie freilich so gut ein wie andere; ja sie spricht sogar im Traume, nie jedoch etwas Geistreiches. Die beiden Pfleglinge haben sie ganz in der Gewalt; Armgart mit List, Paula mit Güte; und manchmal entwickelte auch sie Neckerei. Trotzdem daß Tante Benigna heute aus ihrem Mantel ohne Pelz („man muß sich nicht verwöhnen“) und ihrem Hute ohne Schleier („Schade was für eine rothe Nase!“) gedankenvoll in die Gegend schaut und immerfort an den beschlagenen Fensterscheiben wischt, um zu sehen, welcher Gottesfriede und welche nächstjährige Erntehoffnung auf der Wintersaat ruht und am wievielten Chausseestein 66 man sich befand, hätte sie doch ganz gern auch ein bischen den Doctor geneckt. Denn sein Frack war doch auch gar zu altmodisch! Wie hatte man ihn in Eschede „eingemummelt“! Wie eine alte Meerkatze saß er da unter seinen Tüchern und Pelzen … Da aber Armgart die Ernsteste im Wagen blieb, mußte Tante Benigna schon ihre Necklust zügeln und stumm den Gedanken Audienz geben, die sie hinlänglich quälten – diese Entäußerung des alten Besitzes, die Zukunft Paula’s, die Leiden und Visionen derselben, der Zustrom so vieler Menschen, die die „Seherin“ beunruhigten, und die Sorgen wieder um diese gar „nicht zu berechnende“ Armgart, um die Nähe ihrer Schwester, um die Ansiedelung ihres Schwagers in Witoborn, sein „unstandesgemäßes“ Fabrikproject mit Hedemann, endlich auch die unruhige Zeit, die Aufregung der Gemüther, die Zänkereien des neuen Pfarrers mit den Gemeindegliedern, und dazu der Pferdestall, die Kühe, die Schafe, die Schweine, die Fruchtpreise, alles, was zwar schon in die Verwaltungssphäre des Onkel Levinus hinübergriff, von diesem jedoch oft so gefährlich vernachlässigt wurde, wenn er hinter seinen Tiegeln und Retorten kauerte oder eine Entdeckung machte von fossilen Thieren in einem Kalksteinbruch oder ihm ein alter Römerhelm überbracht wurde, über dessen muthmaßlichen ehemaligen Besitzer er sämmtliche Bücher des Tacitus wieder noch einmal frisch durchlesen mußte und dann Abhandlungen schrieb und sich in gelehrte Streitigkeiten mit Provinzblättern verwickelte.

Armgart, wie gesagt, ging auf die Necklust der Tante nicht ein … „Herr! Cröne Mein Beginnen!“ sprachen, 67 wie tief innenwärts gewandt, ihre braunen Augen. Auch bei ihr war der Hut von durchbrochenem schwarzen Flor. Ihr dunkelbraunes Haar sah man wenig und auch über das heute wachsweiße, nur am Näschen etwas von der Kälte geröthete Antlitz zog sie zuweilen rasch einen schwarzen Schleier, den sie trotz des „Schade was“ der Tante trug. In ihrer Brust gab es wilde Kämpfe; auf ihrem Antlitz fürchtete sie, die Spuren davon zu verrathen. Gleich nach ihrer Ankunft von Lindenwerth hatte sie am Altar der Stiftskirche zu Heiligenkreuz der Gottesmutter gelobt: „Nicht Vater! Nicht Mutter! Beide!“ Das führte sie durch. Das nähte sie in ihren Drachen. Das stickte sie in ihre Cigarrentasche. Das häkelte sie in ihren Aschenbecher – sie verlor diese Vielliebchen, weil sie nur dem Gedanken lebte, daß die Mutter oder der Vater in jeder Stunde kommen könnten. Auch sie wischte mit dem weißen Tuche, das sie, als könnte sie plötzlich weinen, immer in der Hand hielt, das beschlagene Fenster neben sich ab. Sie that es, um sich zu überzeugen, ob kein Gespenst ihrer Furcht oder Hoffnung hereinschaute … Wie anbetend blickte sie dabei zuweilen zu ihrer lächelnden Freundin Paula hinüber, zuweilen auch wieder in den geflammten Achat am Himmel. Daß es für gewisse Seelen und gewisse Zustände Engel gab, ganz so wesenhaft sichtbar wie die kleinen dicken Jungen, die in der alten Kirche zu Sanct-Libori den Baldachin über dem geschmacklosen Hochaltar hielten, das war in dieser Sphäre eine ganz vollendete Thatsache.

Und Paula, die wir nun auch hätten wiedersehen sollen, nur im Concert der Sphären, nur so, wie sie in Bonaven-68tura’s nächtlichen Träumen auf klingender Luft schwebte – da sitzt nun auch die „Seherin“ – in der Ecke eines altfränkischen Wagens – (die Staatskutschen waren beim Leichenbegängniß), fährt hoch auf bei jedem Verlassen des gefrorenen Gleises und bekommt dann von der Seite einen Ruck der Tante und fast die Berührung der Nasenspitze des Doctors … Es ist so, wie das Leben auch die Kaiser und die Könige auf die Erde eintreten läßt, ohne Krone, auch die künftigen Heiligen ohne allen Heiligenschein. Aus ihrem weiten schweren schwarzen Sammetpelzmantel und dem schwarzen Sammethute heraus ist jetzt nur das längliche edle Antlitz Paula’s ersichtlich. Es besitzt den schärfsten Ausdruck aller Schönheitslinien. Die Nase ist geschwungen; die Augen sind dunkelblau, hochgewölbt, beschattet von vollen Brauen und Wimpern, die im Gegensatz zum goldgelben Haar des Hauptes schwarz wie mit Kohle gezeichnet sind. Die Stirn ist klar und frei, das Kinn ist oval, der Mund lächelnd und die Lippe sonst rosig, heute nur von der Kälte der Kirche etwas erblaßt und auch das Antlitz bleich. In Paula’s Art, das sehen wir auch jetzt aus den eigenthümlich langgesponnenen Fäden ihres Blickes, lag etwas von den Geisterjungfrauen, die zwischen Tag und Nacht im Nebel über die Erde schreiten. Sie würde nicht selbst gesucht haben eine Velleda zu sein und im heiligen Hain des Irminsul zu opfern, aber die Völker ringsum hätten sie an den Altar geführt und ihr Iphigeniens Opfermesser in die Hand gedrückt. Wenn sie ihr Auge mit den seltsam schwarzen langen Wimpern aufschlug, da zog es jede Weltlichkeit empor und wiederum blieb das Geistigste, das sie anregte, doch nicht ohne einen Reiz für die Sinne. Kaum 69 gibt es Bestrickenderes, als allein schon der Blick auf dies Naturspiel: goldblondes Haar und auf den Augenbrauen und Wimpern ein dunkelstes Schwarz.

Paula’s Sinn war so mild, so gütig. Und immer nahe stand der Armen jener Traumgott mit dem Mohnblumenkranz, der nur sanft, sanft die Hand über ihre Augen zu streifen brauchte, und sie entschlief mit räthselhaften Organen, mit denen wir andern nicht schlafen. Dann sprach sie in verworrenen Worten, sah Entferntes mit geschlossenem Auge, hörte selbst das Ticken einer Uhr in entlegensten Räumen. So krank sie sich bei dieser zweifelhaften Gabe des Geschickes fühlte und so unendlich müd sie mit ihrem schlanken Wuchs dahinwallte über die Erde (gegen ein Hüftleiden hatte sie einst lange im Streckbett gelegen): dennoch war ihr Sinn selbst nicht zu ernst oder feierlich. Ei, jetzt am wenigsten, wo Wonnetage ihr aufgegangen waren; erst die Ankunft Benno’s von Asselyn, den sie noch wenig kannte, der aber ein Vorläufer Bonaventura’s war; und dann dieser selbst! Kein Wunder, daß sie trotz der Messe, trotz der Trauer um ihren Oheim, trotz der etwas lauernd grübelnden Miene der Tante Benigna, trotz Armgart’s seit einiger Zeit gar nicht mehr wiederzuerkennender Art und ewig verstörter Abwesenheit, über den Anblick des Doctors Püttmeyer lächelte und höchst freundlich blicken mußte. Schon den ganzen Vormittag war sie durch ihn heiter gestimmt …

Sie kannten ja den unglücklichen Sohn des Onkel Kronsyndikus, Herr Doctor? begann sie mit süßmelodischer, wenn auch leiser Stimme und sprach das fast im Neckton …

70 Der Doctor erkundigte sich bei jeder Frage immer erst mit einem: Wie befehlen –? Taub war er nicht, es war ihm nur ermuthigender, jede Frage zweimal zu hören und inzwischen sich die Antwort zu formuliren.

Als die Frage von Armgart, die wie ein dienender Cherub zu den Füßen ihrer Heiligen saß, wiederholt war – die Tante mußte sich schon lange innerlich sagen: Passen Sie doch besser auf, mein bester Herr! – bestätigte Püttmeyer diese Bekanntschaft in einer eigenthümlichen Vortragsweise. Er pruhstete nicht gerade, räusperte und schnurrte auch nicht, aber sein Stimmchen war höchst fein und konnte erst durch mancherlei Manöver zu hinlänglich ausreichendem Athem kommen …

Durch seine Mittheilungen gab es dann Rückblicke auf manches Düstere und Schauerliche, das lieber in diesem Kreise vermieden gewesen wäre. Der Mönch Sebastus wurde erwähnt, der krank lag im Kloster Himmelpfort, wohin ihn die Regierung hatte zurückbringen lassen. Das Pentagramm und die Tannenfahne (Tanfana), beides Symbole der göttinger Bierhäuser, kamen zur Sprache und bei Gelegenheit der Thaten des Kronsyndikus und der ewigen Ruhe desselben rühmte Püttmeyer wieder Armgart’s Symbolik des Fegefeuers. Die Tante war es, die streng mit ihrem schwarzen Handschuhfinger das niederwärtsfahrende geflügelte Kreuz am beschlagenen Fenster ohne alle Rücksicht hinmalte.

Eine Pause trat nun ein. Armgart durchlebte sie im Geist auf dem Nachen von Lindenwerth. Benno stand mit dem Hut in der Hand sie grüßend, wie sie ab-71fuhr vom Hüneneck … Sie seufzte tief auf … An ihrem Aschenbecher zog sie mit den Schmelzperlen ebenso auch schon manche Thräne auf … Sie sah kaum hin, als Püttmeyer ihre Symbolik so unausgesetzt lobte und ausführlicher noch als im Briefe an die gute Angelika sprach:

Ja, Ihr Herz Gottes, mein sehr geehrtes gnädigstes Fräulein, ist – ist eigentlich der bedeutungsvolle Kreis! Der Kreis ist – hm! – unser inhaltreichstes Symbol! Der Kreis drückt die Welt selbst aus, das All, wie schon die Alten die geringelte Schlange – hm! – noch tiefsinniger aber das Ei als den Urgrund alles Seins bezeichneten. (Die Tante replicirte im Geiste, daß doch die Hühnereier oval wären …) Die Kugel – das runde Ei der Schlange – (das war fast wie ein Treffer auf den errathenen Einwand der berühmten Wirthschafterin) ist das Vollkommenste oder richtiger die Vollkommenheit selbst, der Begriff, die Monade, das Atom. Es ist – hm! – die ganze Einheit, die an den Dingen ihr wahres Wesen ausdrückt! Denn ob nun ein Weltball oder eine Kegelkugel – hm! – eine Kegelkugel – (die Tante dachte hier an den Finkenhof und die Reformen des eifernden Pfarrers) es ist dieselbe Idee der harmonischen Beziehung eines Mittelpunktes – hm! – zu millionenfacher gleichzeitiger Entfernung. Was Sie sehen, meine gnädigsten Herrschaften, der Schnee da – hm! – der Vogel, der bereifte Baum, der Rauch eines Hauses, alles – hm! – ist die Wirkung einer Ursache, die wiederum zu einer andern Ursache als ihrem Mittelpunkte zurücklenkt und so geht das ganze Dasein – hm! – centripetal auf ein Inneres, aber auch immer wieder – 72 hm! – centrifugal auf ein Aeußeres, eine große Rundfläche aller Dinge. Die Allheit – die Allheit dieser Strebungen ist das Sein in Gott. Die Gottheit – ist die Kugel und alle Seelen sind – hm! – Sphäroiden. Das Suchen des Mittelpunktes der Welt gibt den Radius. Wohl dem, der den längsten gefunden hat! Den, der – der durch den Mittelpunkt der Welt geht! Dessen Denken ist – hm! – gleich Gott selbst!

Die Tante fand das alles im Grunde sehr schön und so beim Fahren zwischen Sanct-Libori und Westerhof auch höchst merkwürdig, indessen meinte sie doch, um eine gewisse Opposition, die sich in ihr regte, nicht ganz zu unterdrücken: Oder sein Glauben, Herr Doctor? … Dann wandte sie sich, weil sie, namentlich für die häßlichen Schlangeneier noch irgendeine schärfere Eruption ihrer andern Ansicht von alledem haben mußte, zu Armgart und sagte:

Armgart, Armgart! Was träumst du nur ewig!

Da Armgart kaum zuhörte, sagte Paula, die die dem Doctor ungünstig werdenden Gedanken der Tante errieth:

Liebe Tante, das Kreuz ist nie so schön verklärt worden, wie vom Herrn Doctor Püttmeyer!

So? sagte die Tante fast verächtlich. Die Kugel kann ich für nichts so Großes halten!

Püttmeyer streckte Nase und Kinn aus seinem Shawl hervor und erwiderte:

Ist nicht – hm! – meine Gnädigste – der Apfel des menschlichen Auges – Bitte, gnädigste Comtesse! wandte er sich dann, die Rücksichten der Etikette abwägend, sogleich wieder zu Paula, die zuerst gesprochen. Das Kreuz ist auch eben nur die Offenbarung der Kugel …

73 Nein, nein, nein, nein! rief die Tante. Gott ist keine Kugel …

Armgart nahm noch immer keine Notiz. Sonst würde sie schon längst gesagt haben: Aber ich bitte dich, liebe Tante! Das sind ja gar keine Gegenstände für dich! … Paula blickte auf Armgart. Sollte sie denn nun heute Armgart’s Rolle übernehmen und statt deren polemisiren? … Sie sagte ganz heiter:

Ei, Tantchen, das sind ja doch nur Bilder –!

Ei, das weiß ich sehr wohl –! Ich bin nicht so dumm! … fuhr die Tante auf …

Mein gnädiges Fräulein, beschwichtigte Püttmeyer, wenn ich beim Grafen Münnich die Ehre haben werde, mein System an Beispielen zu erläutern, so zweifle ich nicht an Ihrer – hm! – gewogentlichsten Zustimmung … Gott – hm! – ist die Idee des Kreises, die Radien und Diameter sind die Begriffe – hm! – des Lebens. Die Linie ist das Gegentheil des Kreises, das ewig – hm! – Continuirliche, die Ausdehnung, der Raum und die Zeit. Nun sind aber nur diejenigen Linien vollkommen, die einer Wesenheit angehören und die höchste Wesenheit kann nur sein – hm! – im Mittelpunkte eines Kreises zu stehen – d. h. wie man ja schon im Leben sagt, ins Schwarze zu treffen – (Die Tante dachte hier an die bevorstehende große Jagd mit allen ihren Sorgen und möglichen Unglücksfällen.) Denken Sie sich Linien, die da- oder dorthin gehen – hm! – an der Fläche der Kugel oder ein wenig in sie hinein, Tangenten, Sekanten, alles ohne den Urgrund, der da ist: Dem Mittelpunkt anzugehören! Alle Stre-74bungen des bunten Lebens müssen im Mittelpunkt sich durchkreuzen und so ist das Kreuz – hm! – auch recht der eigentliche Ausdruck der geoffenbarten Gottheit und im Grunde wieder die Kugel, d. h. Gott selbst …

So aufmerksam Paula zuhörte, so interessirt sich jetzt endlich auch Armgart etwas dem Gespräche zuwandte, schüttelte die Tante doch den Kopf und fand diese fromme Wendung, die der arme Denker erst in einem Nachtrag seines Systems gegeben habe, als er wegen „Christus und Pythagoras“ beinahe excommunicirt worden war, keineswegs katholisch und überzeugend … Wir haben auf unsern Altären, sagte sie sogar mit Feinheit, das Kreuz mit zwei Balken, einem langen und einem kurzen, die doch eher dem Oval, als der Kugel entsprechen …

Aber Tante, die Griechen! Der heilige Andreas! warf jetzt fast ärgerlich Armgart hinein …

Ach, das weiß ich selbst! – lehnte im selben Tone die Tante ab und verbat sich den Schein, als wenn sie nicht wüßte, daß das griechische Kreuz, wie das Kreuz beim Johanniterorden, zwei ganz gleiche Schenkel hätte …

Der Einwurf ist ganz richtig! begütigte Püttmeyer die gereizte Stimmung und vergaß keinesweges, daß ihn Drohungen auch mit dem päpstlichen Index einst gezwungen hatten, seine Philosophie urkatholischer zu modeln. Das griechische Kreuz ist in der That unvollkommen! sagte er. Es drückt nur die Gottheit Christi allein aus! Wir Alle wissen aber und bekennen es nicht blos in der christkatholischen Lehre – hm! – daß Gott der Herr die Knechtsgestalt annahm. Demnach ist der längere Balken – hm! – die Gottnatur, der kleinere 75 Querbalken aber die irrende, menschliche – hm! – mittelpunktlose, die durch die Kugel nur ein gewöhnliches Segment macht. Gerade nur an einem solchen Segment konnte der Heiland rufen: Mich dürstet! Nur an einem solchen Kreuze, das halb dem Weltall, halb dem kleinen Jerusalem und dem Jahre 33 nach – hm! – Christi Geburt angehörte, halb dem Gott, halb dem Menschen, konnte Jesus für uns leiden! Jener Doppelquerbalken der großen Würdenträger und des Papstes, ein Symbol, das gleichsam der dreifachen Krone entspricht und das wir auch auf das Haupt – hm! – des Pfauen im Teppich gesetzt haben (Püttmeyer malte ans Fenster ein ‡), ist die Einigung beider Auffassungen, der griechischen und römischen, des Christus des Dogmas und der Concilien, und des Christus der Osterwoche, des leidenden. Uralt ist schon die Ahnung unsers christkatholischen Kreuzes bei allen Völkern. Der Hirtenstab in den Händen des Osiris, der Stab des Hermes, der die Seelen geleitet, der Hirtenstab des Pan, der seinerseits sogar schon das All bedeutete … Das All, meine gnädigsten Herrschaften – hm! – und dazu der Stab des guten „Hirten“! Wie nahe kam da schon die gerade Linie der Ahnung, daß nur noch die große Veranstaltung zum Kreuze fehlte! Moses – hm! – schlug schon mit einem Stab aus Felsen Wasser! Aesculap, der Gott der Heilkunde, trägt einen schlangenumwundenen Stab! Ja im frühgebrauchten Zeichen der Venus, des Sternes der Liebe, sind der Kreis und schon das Kreuz verbunden – ♀. Das ist dann – hm! – der freundliche Morgen- und Abendstern, der Stern des Morgenlandes, 76 der die Wahrheit halb schon ahnte, die dann an der Krippe Jesu erst ganz vernommen wurde, diese Wahrheit, die, wenn man sie ganz bezeichnen wollte, einem Rade gleichkäme, ich meine, dieser Figur: ⊕. Die drückt die ganze Schöpfung aus!

Alle schwiegen … Theils vor Bewunderung, theils vor Nichtverständniß, theils aber auch – vor Schauder an dem Bilde des Rades, das Püttmeyer an die Fensterscheiben malte … Armgart und Paula kannten die Sage von dem Rade auf dem Schloß des Kronsyndikus …

Püttmeyer begriff das eintretende Schweigen nicht. Er war gewohnt, solche tiefkatholische Philosophie lebhafter applaudirt zu hören. Dennoch hob ihn bald wieder die Aussicht auf den vornehmen Comfort des Schlosses und auf das Mittagsmahl …

Noch war das Schloß nicht ganz erreicht. Man sah es aber schon. Schloß Westerhof lag auf einer kleinen Insel. Ohne Zweifel war die Brücke, die jetzt von einem Heiligen gehütet wurde, in alten Zeiten eine Zugbrücke gewesen und hatte zu einer Burg geführt, von welcher noch jetzt vielleicht die vier starken Eckthürme des Schlosses herrührten. Der Herrensitz der großen Gütermassen der Dorste-Camphausen stammte aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und war jedenfalls nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges neu auf alten Trümmern erbaut. Von allen Seiten mit hohen Pappeln geziert, bot das Schloß nicht etwa einen Prachtbau dar; Glanzliebe würde nicht dem Charakter der Gegend entsprochen haben. Vier bewohnbare Thürme 77 erhoben sich an den vier Ecken eines Quadratgebäudes, oben sich zuspitzend zu einem schieferbedeckten Runddach mit kupfernem Knauf. Zwischen diesen vier Thürmen gingen vier gleichmäßige Seiten von zwei Stockwerken und zwölf Fenstern der Länge nach, im zweiten Stock an jeder Seite ein Balcon von altem künstlich gewundenen Schmiedeeisen. Ein dritter Stock verengte sich in einen Giebel, der gleichfalls spitz zulief und in einem Knopfe endete, sodaß das ziemlich regelmäßige Gebäude acht Spitzen hatte und recht gut auch einem Kloster entsprochen hätte. Die Wirthschaftsgebäude lagen weiter ab und außerhalb der Insel, die ihrerseits groß genug war, auch noch an der Hinterfronte des Schlosses einen parkartigen Garten zuzulassen, der sich jenseit einer zweiten Brücke verlängerte und jetzt schon manche Anlage aus dem Schnee heraus unterscheiden ließ, zumal wenn sie aus Tannen bestand.

Endlich fuhr der Wagen über den hartfrierenden, knirschenden Schnee und die steinerne Hauptbrücke; die Rosse standen und dampften vor dem Portal, einem kleinen, dem Geschmack des Ganzen völlig entsprechenden Schnörkeldache, das von zwei kurzen Säulchen getragen wurde. Zwei große Hunde sprangen den Rossen entgegen. Nun galt es, sich aus den Pelzen herauszuwinden …

Da aber hatte Tante Benigna schon bemerkt, daß der Schnee auf Paula plötzlich eine eigenthümliche Wirkung zu äußern anfing. Schon lange ermüdeten ihre Augen. Und so theilnehmend Paula lächelte und mit der ganzen Lieblichkeit ihres Antlitzes den Worten des 78 Doctors lauschte (dachte sie doch immer, was wol Bonaventura zu all diesen Philosophemen sagen würde!) – allmählich wurde ihr Blick trüber und immer abwesender. Erst schien nur der Schnee sie zu blenden, die schwarzen Wimpern sanken nieder und hoben sich nur leise; als man aber am Schloß war, hatte auch Armgart schon die Entdeckung gemacht, daß Paula in dem ihr eigenen halb wachen, halb schlafenden Zustande war. Sie verrichtete alle Functionen wie mit vollem Bewußtsein, gab Antworten auf jede an sie gerichtete Frage, nahm Armgart’s Hand, die sie führte, streichelte auch die Hunde, die in allen möglichen Stellungen sie umkreisten, springend, kratzend, als gält’ es, unter den Strohmatten auf der Treppe, die schon beschritten wurde, oder an den Ritzen der dunkelbraun gestrichenen hohen Thüren, die auf die Corridore hinausgingen, nach Mäusen zu jagen. Die Tante dämpfte alles, was stören konnte. Erst als Püttmeyer auf der Treppe eine Anzahl von Kranken sah, Mütter mit Kindern, Blinde, Lahme mit Krücken, Bittende mit Briefen in der Hand, da verstand er, daß ihm heute auch noch das hohe Glück zu Theil werden sollte, Zeuge der vielbesprochenen ekstatischen Zustände der jungen Gräfin zu sein!

Am geheimnißvollen Schleier der Isis zu stehen ist nichts Kleines. Püttmeyer’s Athem, ohnehin nur kurz, stockte vollends. Mechanisch ließ er sich von dem Diener seiner Umhüllungen entkleiden. Fast hätte er auch sein großes weißes Halstuch abbinden lassen, das einer schützenden Ueberbinde ähnlich sah. Die rasche Hülfe eines jungen, in eleganter Toilette hinzuspringenden Mannes schützte ihn 79 vor dem Misverständniß und dem Verlust eines schönen Knotens, den ihm die Frau Steuerinspector Emminghaus mit eigener Hand heute früh gebunden hatte …

Der junge hülfreiche Mann war Thiebold de Jonge … Mit seinem nur „scheinbaren Adel“ hatte er sich nicht an dem Leichenbegängniß betheiligen wollen. Tante Benigna ersah mit sichtlichem Wohlgefallen, wie der vorzugsweise von ihr gern gesehene und ein für allemal geladene Gast sich schon wieder nützlich machte …

Paula wurde von Armgart geführt … Hoch und schlank schritt sie dahin. Den schweren Sammetmantel hatte man ihr schon abgenommen. Sie war unter ihm in schwarze Seide gekleidet. Alle Thüren wurden aufgerissen. Die Diener kannten schon, wie sie sich in solcher Lage zu benehmen hatten … Paula schwebte förmlich … Die Frauen führten sie in ihre Zimmer. Püttmeyer, voll Staunen und die Hände faltend, blieb mit Thiebold allein. Thiebold hatte für eine seiner gewohnten geistreichen Aeußerungen, die in diesem Augenblick lautete: „Nicht wahr? Doch merkwürdig?“ nie so viel Zustimmung gefunden.

Im großen Vorsaal, der etwas düster war, da ein über ihm befindlicher Balcon ihm das Licht nahm, befand sich an der Thür das Weihwasser …

Tante Benigna und Armgart hatten sich beim Eintreten trotz der Aufregung durch Paula’s Zustand benetzt; Paula war vorübergegangen …

Vom Vorsaal schritt man zur Rechten in ein geräumiges, wenn auch nicht zu großes Wohnzimmer. Hier war alles mit Teppichen belegt. Die Vorhänge waren von grüner Seide. Ein Flügel stand aufgeschlagen, auf 80 dem ohne Zweifel Thiebold eben einige Fingerübungen gemacht hatte, denn mit so wenig Virtuosität, wie er sie besaß, hier Effect zu machen, hätte er sich nicht für möglich gedacht. Sopha, Stühle, alles war mit grüner Seide überzogen. Die Etagèren und kleinen Schränke waren von dunkelbraunem Holze und in gothischen Formen. Die Bilder stellten Scenen aus dem Leben der Apostel und Heiligen dar. An frommen Büchern und Provinzialzeitungen war kein Mangel …

Püttmeyer kämpfte nicht wenig, wie er es anstellen sollte, über Dinge, die hier so leicht genommen wurden, sein ganzes Erstaunen auszudrücken. Er kannte Erfahrungen dieser Art nur aus Büchern. Er hatte Abends „bei Schönians“, wo er jeden Abend seine zwei Gläser – Gerstenschleim trank, oder an seine ihn besuchenden Verehrerinnen sich, wenn er um Erklärung angegangen wurde, dahin geäußert, daß das klare und intellectuelle Leben des Menschen die Centripetalität, d. h. das Streben zum Mittelpunkt wäre, aber das Gefühls- und nervöse Leben die Centrifugalität. Er hatte oft geäußert, daß man einer solchen Verrückung und Umkehrung dieser Thätigkeit, wenn sie auch Krankheit wäre, getrost nachgeben und der großen Weltseele näher zu kommen suchen sollte. Da die Visionen der Gräfin keineswegs recht in die christlichen Anschauungen passen wollten, da sie, wie Armgart’s Mutter noch vor kurzem bei Piter Kattendyk etwas zu vorschnell geglaubt hatte, keineswegs immer mit Christus und der Gottesmutter „im Jenseits“ verbunden zu sein behauptete, so hatten die Priester ringsum noch keine besonders entschiedene Meinung über 81 sie aussprechen mögen. Aber die hohe Stellung der Gräfin hinderte ein Einschreiten dagegen. Dann war von der Residenz des Kirchenfürsten, als noch Michahelles allmächtig war, die Weisung gekommen, an den Vorfällen nichts zu stören, sie gehen zu lassen, wie sie gingen, und erst die Ankunft des Domherrn und Archipresbyters von Asselyn abzuwarten, der Bericht erstatten sollte. Umsomehr konnte Püttmeyer die Ansicht von bösen Dämonen und einem unheiligen Zustande bekämpfen; vollends da, als er hörte, daß Paula vorzugsweise von großen unermeßlichen bunten Ringen sprach, durch die allemal erst ihr geistiges Auge hindurchdringen müsse, wie durch ein großes, riesig aufgezogenes Perspectiv … Und als Armgart ihn zum ersten male besuchte und die Rede von Paula’s Visionen war, hatte sie ihm gesagt: Des Magnetiseurs bedarf sie nicht. Der Onkel macht sie durch einfache Berührung hellsehend. Vor Jahren durfte der ehemalige Porteépée-Fähnrich von Asselyn, jetzige Domherr, nur in der Nähe sein, so fühlte sie den Strom, der ihr durch die Fingerspitzen wie in glühenden Tropfen abfiel, und was man sie fragte, sah und hörte und las sie. Erst sind’s immer große bunte Ringe, die sie sieht, dann sind’s grüne Wiesen, darüber leuchtet Violett- und Rosaschein und nun begegnet ihr alles, was diesseit und jenseit der Erde lebt, sowol die großen Jagdhunde des Onkels, wie die Heiligen Gottes, sowol Tantens verlegte Ueberschuhe, wie König David mit seiner Harfe!

Thiebold stellte dem Doctor sich selbst vor und äußerte im Mäcenaston seine Freude, einen so „berühmten Dichter“ 82 persönlich kennen zu lernen … Benno hatte ihm einige Erläuterungen über ihn gegeben und gern hätte er schon à la Piter Kattendyk gesagt: Speisen Sie bei mir!

Ich habe bereits so vieles Schmeichelhafte von Ihnen gehört und „gelesen“! fuhr er fort. Und besonders von Fräulein Angelika Müller! Haben Sie lange keine Nachricht von dieser Vortrefflichsten? Ich habe immer gerechnet, Ihre Verbindung bald annoncirt zu hören. Herr Doctor, Herr Doctor! Ich sollte meinen, es wäre Zeit …

Püttmeyer konnte so raschem Redestrom nicht folgen, wodurch Thiebold veranlaßt wurde aufs neue auf Angelika zurückzukommen und den Geist, das Gemüth, vorzugsweise aber die himmlische Geduld dieser Einzigen zu rühmen …

Püttmeyer bestätigte alles das, seufzte tief auf und sagte wiederholentlich:

Laissez passer! Laissez passer! Laissez passer!

Wie so? entgegnete Thiebold mit elegischem Blick und fuhr sich mit den bei Ankunft des vierspännigen Wagens wieder von ihm angezogenen weißen Handschuhen in sein in Witoborn, wo er mit Benno bei Hedemann wohnte, schön frisirtes Blondhaar und verschluckte eine sentimentale Wendung, die etwa sagen wollte: Auch du mußt dich ja an verklungene Hoffnungen gewöhnen! … Denn Armgart war sonderbarerweise auch ihm das nicht mehr, was sie einst gewesen … Ein Räthsel umspann die Freundin, ein Räthsel, „glücklicherweise“, konnte er in seiner „Bosheit“ sagen, auch für Benno …

Ein Diener trug eben eine sonderbare Last an ihnen 83 vorüber … Es war ein Kissen voll kleiner Gegenstände, wie Nadeln, Ringe, Brochen, Gebetbücher, Rosenkränze, Crucifixe … Der Diener ging damit schnell, aber fast auf den Zehen in die noch offenstehende Thür, durch welche man Paula in die innern Gemächer geführt hatte …

Auf Püttmeyer’s Erstaunen gab ihm Thiebold eine Erklärung. Der Zudrang zu Paula’s Wunderkraft nehme immer mehr zu. Der Onkel Levinus verböte zwar die Abgabe der hundert Dinge, die die Gräfin nur einmal zu berühren brauchte, um sie heilkräftig zu machen, auch Tante Benigna nähme Rücksichten auf Paula’s Gesundheit und Ruhe und dennoch besäße man die Freundlichkeit und „stellenweise“ die Schwäche, der Aufregung der ganzen Provinz und der Zeit ohnehin „Rechnung zu tragen“ … In der That hätte oft ein Schreiber in der Rechenei der gräflichen Güter unausgesetzt mit dem Zurücksenden solcher Dinge zu thun und obgleich der exacte Sinn des Onkels jedem dabei schreiben lasse, er bedauerte diese Gegenstände so zurückschicken zu müssen, wie sie gekommen wären, ließe sich der Volksglaube doch nicht nehmen, daß diese Gegenstände von der wunderthätigen jungen Gräfin, der Seherin von Westerhof, wirklich berührt worden wären. Man empfange ablehnende Antworten und doch wären schon die Briefe den Leuten geweiht und wirkten auch. Im ganzen Lande stünde fest, daß eine von Gräfin Paula berührte Wachskerze nur angezündet zu werden brauchte am Bette eines Leidenden und alsbald würde sein Uebel verschwinden …

84 Püttmeyer thaute vor dieser mittheilsamen Suada auf … Auch er erzählte von Armgart’s Besuch … Fräulein Armgart von Hülleshoven, sagte er, erzählte mir, daß die Comtesse vor allem an sich selber glaube. Sie sagte mir: Wie sollte meine Freundin denn diese eigenthümliche Kraft sich deuten, die ihr ganzes Sein immer wie aufwärts zieht? Es ginge ja durch ihr Inneres, und das ganz körperlich, manchmal ein Strom quer über den Rücken hinweg, als müßte sie sich beugen und, wenn sie wollte und dabei an Gott dächte, theilte sich dieser Strom und liefe in die Arme und Fingerspitzen aus, aus denen es ihr dann wie heiße Tropfen perlte! Schon als Kind hätte ihre süße Freundin diesen Strom gehabt und oft zu Fräulein Benigna, ihrer Erzieherin, gesagt: Tante, ich könnte mich rückwärts biegen wie ein Ring und so mit dem Kopf auf die Erde kommen! Und einmal – doch ich bitte Sie – Herr Baron –

Bitte recht sehr! versicherte Thiebold seine Discretion und erröthete über seinen „scheinbaren Adel“ …

Püttmeyer wollte nur entschuldigen, daß er so viel allein sprach …

Einmal, Herr Baron, war Fräulein Benigna, die die Wirthschaft des Grafen Joseph führte, voll Verzweiflung zu diesem in sein Studirzimmer gestürzt und hatte ihn gerufen, zu Hülfe zu kommen. Da sahen sie Comtesse, so schlank und lang sie schon war, mit aufgelöstem Haar auf der grünseidenen Decke ihres Bettes stehen, im langen spitzenbesetzten Hemde und hochaufgerichtet wider die Wand, dicht zwischen dem Weihwasserkessel, dem Crucifix und dem Bilde ihrer Mutter sich an-85stemmend und gegen die Wand sich so furchtbar drängend, als wollte sie die Mauer eindrücken …

Thiebold strich sich die Frisur, als fühlte er, wie sie sich „vor Horreur“ sträubte …

Ja, Herr Baron! fuhr Püttmeyer erregt fort. Fast unglaublich, aber Fräulein Armgart versicherte es. Der Mond stand gerade gegenüber und schien Comtessen ins Antlitz. Comtesse war bei völliger Besinnung und sagte nur immer: Ich muß das so! Die Aerzte sprachen damals, wie ich wol verstand, von der Entwickelung des weiblichen Lebens und konnten nur Vorbaumaßregeln anempfehlen, wenn die Anfälle sich wiederholten … Aber sie kamen wieder mit allen Schrecken von Bewegungen, die oft aller uns geläufigen Gesetze von der Schwere und Centripetalkraft der Dinge spotteten. Das kranke Mädchen konnte sich gegen die Wand abstemmen und in der Schwebe mit ganzer Körperschwere erhalten. Somnambulismus fehlte damals noch. Vielmehr stellte sich in ihrem fünfzehnten Jahr eine starke Reaction des Körpers in seinen Muskeln und sozusagen irdischern Theilen ein. Der Gang wurde träge, hängend, Comtesse fingen zu hinken an. Nun kamen sie auf die berühmten Streckbetten einer süddeutschen Stadt. Das zweijährige Liegen in einer fast ununterbrochen gleichen Lage schloß ihr allerdings wol die Pforten des Phantasielebens auf; doch bald trat immer deutlicher Clairvoyance hinzu. Sie kannte ihren Zustand. Sie hielt ihn so werth, daß sie, wie Fräulein Armgart versicherte, in der Beichte sich der Eitelkeit anklagte. Da ihr Befinden, einige vorübergehende Störungen ausgenommen, kein eigentlich krankes 86 war, wenn sie sich in ihrer gewohnten Weise erhielt, so blieben von ihr die Zumuthungen künstlich magnetischer Einwirkungen fern. Sie hatte ihre bestimmten Zeiten des Schlafes, bestimmte Bedingungen, wie den langen Anblick des Wassers, des Metalls, des Schnees, die ihr ein waches Träumen verursachten. Dann durfte nur der Herr Baron von Hülleshoven leise einmal mit der Hand über sie hinstreifen und sie antwortete auf jede Frage, die er an sie richtete. Sonst wirkt, hör’ ich, alles auf sie, was sie lieb hat, selbst das Anstreifen – ihrer großen Doggen! Sie ist im Bann des Wohlbefindens bei gewissen Menschen ebenso, wie im Bann des Schmerzes bei andern. Hört sie von Hoffnungen, die auf sie gerichtet werden, so nimmt sie ihr Brevier, liest die entsprechende Tagzeit und glaubt, ihr Gebet müßte geholfen haben; wenigstens zöge es sie, sagte Fräulein Armgart, mit ganzer Seele zu den Leidenden hin … Seit einiger Zeit vollends soll die Heilkraft und die Sehergabe außerordentlich geworden sein …

Hier wurde Püttmeyer’s förmlich in einen reißenden Strom gebrachte Rede von demselben Diener unterbrochen, der eilends und erschreckt zurückkehrte, das Kissen mit den Gegenständen von vorhin noch auf der Hand …

Was ist? fragte Thiebold …

He spreekt! sagte der Diener auf plattdeutsch und eilte bestürzt vorüber …

Sie spricht? … wiederholten beide …

Thiebold, mit jenem Vorwitz, „den auch nur er haben konnte“, zog den Doctor, der sich sträubte, näher, beschritt die offene Thür, kam durch ein Zwischenzimmer, 87 fand wieder eine Thür offen, dann einen schwersammetnen blauen Vorhang, lüftete diesen und ließ ihn plötzlich sinken …

Es war ein kleines Durchgangscabinet, noch vor Paula’s Schlafzimmer … Hier lag die Schlafende auf einem Ruhebett und sprach in vernehmlichen Worten.

88 4.#

Dies Vorcabinet war ein Neubau, der eine frühere Unterbrechung der Wohn- und Schlafzimmer durch einen Gang verhinderte und verdeckte. Von einem obern Zimmer hatte es ein durch gedämpftes Glas hereinfallendes Kuppellicht …

Das Schlafzimmer daneben war fast dunkel, aber die dunkeln Schatten leuchteten bunt. An den Fenstern prangten praktikable bunte Läden von bleigefügten, schön zusammengestellten alten Kirchenfenstertrümmern …

Es sah hier aus wie der Eingang in eine Kapelle …

In dem Vorcabinet, beschienen von dem matten Kuppellicht, lag Paula, völlig angekleidet auf einem Ruhebett … Die Haare glänzten golden … Ihre Augen waren geschlossen, ihre Blicke lächelten … Armgart stand zu Paula’s Häupten, selbst geisterhaft wie eine Botin aus jenem Traumreich, von dem einst der griechische Sänger sagte, es hätte zwei Ausgangspforten, eine von Elfenbein, aus dieser kämen die unwahren Träume, eine von Horn, aus dieser kämen die zutreffenden … Die Tante hielt Paula’s Hände …

Thiebold wagte nicht einzutreten, zog sich aber auch 89 nicht zurück und winkte vielmehr dem Doctor, der so kreideweiß war, wie seine Halsbinde …

Deutlich hörte man die langsam und hellgesprochenen Worte:

O die liebe, liebe, liebe Sonne! … Wie glitzert das im Schnee … Ein Brillant auf jeder Tannenspitze … Ach, ach! … Das ist ein Schatz – im Düsternbrook …

Im Düsternbrook?

Püttmeyer glaubte, die Seherin wäre in dem Reiche der ewigen Kreise, Tangenten und Sekanten – Der Düsternbrook lag nur drei Meilen von hier …

St! sagte aber Thiebold schon, nur auf eine Ahnung hin, Püttmeyer könnte sich erläuternd oder anzweifelnd bewegen …

Püttmeyer schluckte nur seine Angst hinunter und hielt sich an einen Stuhl, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren …

Nun kommen sie! fuhr die Träumende fort … Wie sie so lieblich singen, die Mönche! … Silberbeschlagen ist der Sarg … Laienbrüder tragen ihn … Die Armen! Wie die Füße so nackt durch den Schnee müssen! … Alle singen: Dona eis pacem … Wie heißt das, Fräulein – Schwarz? …

Die Träumende schwieg …

Thiebold stand schreckergriffen. Er glaubte, „versichert sein zu dürfen“, daß die Gräfin drei Meilen weit das eben stattfindende Begräbniß des Kronsyndikus sähe; aber was sollte dann Fräulein Schwarz, die doch wol niemand anders sein konnte, als ihre frühere Gesellschafterin, 90 jene Lucinde, der Benno ein lateinisches Wörterbuch gekauft hatte? War denn diese bei dem Begräbniß zugegen?

Püttmeyer schlich athemlos einen Schritt näher …

Die Gräfin sprach schon wieder laut, doch etwas unverständlicher …

Erst allmählich unterschied man die Worte:

Die Wagen nehmen ja kein Ende … Ich zähle schon dreiundzwanzig … in dem ersten hinter den Franciscanern sitzt der Präsident von Wittekind … Neben ihm der Domherr …

Wieder eine Pause …

Dann der Onkel mit Benno –! fuhr Paula fort …

Wieder schwieg sie …

Es geht so langsam … Den Schnee schütten die Bauern auf … Da läuft ein Reh über den Weg … Alles ringsum Wald … Aber die Menschen … Singen die und sie läuten auf dem Schlosse … Der Zug kann jetzt nicht durch … Jetzt schweigen die Mönche … Einer singt … Pater Ivo … „Maria, Maienkönigin! Dich will der Mai begrüßen!“ … Der Mai in diesem Winter! …

Püttmeyer kannte ja auch den Mariensänger, den Grafen Johannes von Zeesen, der mit seinem Husch! Husch! die Melusinen verjagte …

In der dritten Kutsche … fuhr Paula den Bebenden fort zu erzählen … da sitzt der Herr von Terschka … Bei ihm der Landrath … Wie jung ist der heute wieder! … Herr von Enckefuß ist ganz geschminkt und schön frisirt … Die Mönche singen … Wie scheint die liebe Sonne auf den silbernen Sarg! … Ein Kissen 91 liegt auf ihm mit allen Orden des Onkels! … Wie funkelt das! … Vierzehn Mönche sind es … Zwei fehlen … Sebastus und Hubertus fehlen …

Sebastus? – sagte, seinem Temperament verfallend, Thiebold halblaut …

Den seh’ ich ja jetzt auch! … hauchte Paula, als wenn sie Thiebold’s Frage gehört hätte und alle, auch wol drinnen die Frauen, mochten denken: Den Sohn des Mannes sieht sie, der erschlagen wurde von dem Todten, den sie eben begraben?

Der liegt recht krank! fuhr Paula fort. Er liegt im Krankenkämmerchen von Himmelpfort … Ach, das ist da eng und klein! … Durch ein Gitter … Da kann er in eine andere Zelle sehen, nicht acht Schritte lang … Das ist die Kapelle der Kranken … Fünf Schritte breit ist auch die nur … Maria von altem bunten Holze … Neben ihr – dahin also legen sie ihre Weihnachtskrippchen? … Ein Oechslein … ein Eselein … wie zum Spiel für Kinder … Gebt sie ihm doch! … Geht das Eselchen nicht durch das Gitter? … Es geht … Armer Pater, spiel’ mit dem Krippchen der Franciscaner! …

Lange blieb es jetzt drinnen still …

Tante Benigna sprach endlich laut und betonte die Worte so scharf, als könnte Paula dadurch verhindert werden, ferner ihren Geist außerhalb der körperlichen Hülle dahin schweifen zu lassen …

Armgart aber schien das höchste Verlangen zu tragen, vom Leichenbegängniß mehr zu wissen …

Nein! Nein! Komm! sagte die Tante mit Entschiedenheit …

92 Laß sie doch, Tante! bat Armgart …

Sie träumt das nur so – komm! … Sie sieht es nicht …

Die Tante hatte schon die Vorhänge ergriffen und bedeutete die Männer, sich nicht den Zwang anzulegen, zu leise aufzutreten; man dürfte getrost ganz laut sprechen …

Schon wollte sich entfernend Püttmeyer in Andacht, Thiebold in Bewunderung ausbrechen, als Armgart, die sich nicht trennen konnte und jetzt weit über dem mit einer seidenen Decke belegten Ruhesopha hingestreckt lag und das in glatten Scheitel gewundene Haar der Freundin streichelte, hastig winkte und die Tante bedeutete, Paula schiene einen heftigen Schmerz zu fühlen …

Schnell wandte sich die Tante …

Da sie gleichfalls zu sehen glaubte, daß sich Paula durch irgendetwas erschreckt fühlen mußte, kehrte sie zurück …

Der Vorhang, der die Männer von dem Gemache trennte, fiel wieder zu; aber sie hörten die angsterfüllte Stimme der Träumenden in kurzen Sätzen die Worte ausstoßen:

Wer stört nur da – die Ruhe des Todten? … Der Zug hält ja … Wer spricht? … Das ist die Eiche, an der … Wer spricht nur immer und predigt so laut? … Ha! … Herr von Terschka springt aus dem Wagen … Die Mönche schweigen … Benno … Gensdarmen … Der – Jude …

Merkwürdig! rief Thiebold, dem das Traumsprechen Paula’s an sich nicht neu war, und ergriff die Hand des zitternden Doctors, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat. Was mag denn nur vorgefallen sein? …

93 Nichts mehr wurde hörbar … Man vernahm ein Murmeln der Gräfin, ein unverständliches Sprechen, wie durch die Zähne … Dann war alles still.

Die Tante kam heraus und sagte, scheinbar voll Beruhigung und doch voll Bestürzung:

Sie ist erwacht!

Jetzt – in einem Augenblicke – flüsterte Thiebold …

Wo ich, konnte die Tante für sich hinzusetzen, schon die Freude habe zu sehen, wie dieser liebenswürdige junge Mann förmlich schon unter dem Umstand leidet, seinen Hut nicht holen und sich bei etwas Vorgefallenem nützlich machen zu können … Wie ganz anders das, als einst z. B. mein Levinus war! …

Im Erwachen weiß sie nichts mehr von dem, was sie im Traumschlaf gesehen? fragte Püttmeyer im Gehen und athemlos vor Beklemmung …

Kein Wort weiß sie dann! bestätigte die Tante. Sie können sich denken, wie diese Dinge uns aufregen. So besonders lebhaft sprach sie seit lange nicht wieder, und wir glaubten schon den höchsten Grad erreicht zu haben … Sie werden sehen, daß sich unser Engel nach einigen Minuten erholt hat und am Arm ihrer Freundin eintritt, als wenn nichts geschehen wäre … Was mag nur die plötzliche Störung gewesen sein! Und gerade da, an – der verhängnißvollen Eiche? …

So kamen sie in das behagliche Wohnzimmer zurück …

Und Sie dürfen in der That annehmen, meine Gnädigste, begann Püttmeyer, daß das alles –

Na natürlicherweise! fiel Thiebold ein und erklärte es für „selbstverständlich“, daß die Herren, die gegen 94 Abend zurückkommen würden, alles das als wirklich so vorgefallen bestätigen würden …

Püttmeyer mußte bedauern, daß die weite Entfernung Eschedes ihn zwang, unmittelbar nach dem Diner sich schon in den Wagen zu setzen, der ihn heute früh abgeholt hatte, und wieder in sein Städtchen zurückzufahren …

Die Tante war inzwischen mit der Nachfrage um das Diner beschäftigt. Die Störung des Leichenbegängnisses nahm sie allmählich für etwas wirklich Vorgekommenes, vielleicht doch nur Unverfängliches. Sie wüßte, sagte sie, wie schreckhaft Paula wäre und wie schon die geringste Abweichung von dem, was in der Ordnung, sie in Verwirrung bringen könnte …

Thiebold schwebte hoch über der Erde. Er erzählte eine Anzahl von Geschichten, die ihm die alten Holzvermesser seines Geschäfts, die Förster und Holzschläger auf seinen Reisen als glaubhafte „Ahnungen“ versichert hätten. Er behauptete, in Canada englische, aus Schottland gebürtige Soldaten gesehen zu haben, die am zweiten Gesicht krank waren; krank, betonte er, wenn man krank eine so wunderbare Gabe nennen könnte, die sogar ansteckend sein soll; ja in der That, Herr Doctor –! Thiebold versicherte, daß ihm Hedemann erzählt hätte, wenn in einer schottischen Compagnie nur ein einziger Geister sähe, sähen bald alle welche. Selbst der Oberst von Hülleshoven, der doch gewiß ein Mann ohne Vorurtheile wäre, hätte dies versichert –

Nun kam die Tante von einer Inspection des jenseit des großen Empfangssaales gedeckten Tisches zurück 95 und Thiebold mußte von dem hier bedenklichen Obersten schweigen …

Die Tante reichte Püttmeyern den Arm … Thiebold bedeutete, auf Paula und Armgart warten zu müssen. Die Tante bat ihn zu kommen; die jungen Damen würden nicht ausbleiben …

In der That erschien, als die drei Vorausgegangenen in einem fast im Styl eines klösterlichen Refectoriums angelegten, rings mit kunstvoll ausgelegten hohen Schränken und krystall- und silberbeschwerten Büffets versehenen Zimmer an ihren Stühlen standen, Paula, geführt von Armgart.

Beide kamen wie aus der Märchenwelt. Paula wie eine Fee, Armgart wie ein ihr dienender Elfe. Jene in heiterer Sicherheit, ahnungsvoll im Besitz ihres Reichthums und in der Fülle ihrer Gaben, sie ohne Anspruch auf Dank verschenkend … Diese der Erde angehörender, minder zuverlässig, eher wie das Licht des Mondes gehalten gegen den Strahl der Sonne … Beide hätten Kränze auf ihren schönen bleichen Häuptern tragen sollen, Paula von himmelblauen Winden, Armgart von grünem Epheu … Armgart klammerte sich an ihre Freundin, wie wenn diese das Geheimniß auch ihres Lebens hielt … Paula, selbst so hülfsbedürftig, selbst so schwankend bewegt von ihrem innerlich bangen, äußerlich zwar noch immer glänzenden, aber doch ungewissen Geschick, bewegt von ihrer stillen Liebe, bewegt von ihrem Naturlose, das sie sogar von dem, was ihr eben geschehen war, selbst nichts wissen ließ, schwebte sicherer dahin als Armgart, die fast mit scheuem Gewissen zur Erde blickte …

96 Das Mittagsmahl stand in seltsamem Gegensatz zu dem eben Erlebten. Suppe, Rothwild, Auerhähne, grünes Kraut und Kastanien – und hinter jedem Stuhl vielleicht ein abgeschiedener Geist! In einem Winkel des Zimmers auf einem Fußsessel, vielleicht mit der Trauerhaube die Schwester des Kronsyndikus, Paula’s längst verstorbene Mutter … Vielleicht Graf Joseph, der eben an einer alten, neuvergoldeten Rococo-Wanduhr die zufällig schnurrenden Gewichte aufzog … Wer hätte nicht außer sich vor Staunen fragen mögen: Wie ist dir denn nun das, du Heiligste deines Geschlechts? Wie fühlst du dich nur? Was sahst du denn am gespaltenen Eichbaum? Wer predigte nur so laut? Kann das wirklich derselbe Mund sein, der vorhin ein wunderbares Ferngesicht erzählte und der jetzt so den silbernen Löffel leert, wie wir, völlig harmlos von des Doctors bedauerlicher Abreise spricht und sogar Armgart neckt, die „ein Buch über Philosophie zu schreiben scheine; denn so, wie sie sich seit einigen Tagen umgewandelt hätte, das könnte nur eine Gelehrte, die freilich auch von Angelika soviel Mathematik gelernt hätte“ …

Thiebold war glücklicherweise der Mann, der jetzt über die schwierigsten Fragen wie über schwindelnde Brückchen hinwegschlüpfte, dabei jeden niederfallenden Knäuel einer Bemerkung episodisch aufhob und ein seltenes Gemisch von geselligen Tugenden zur Bewunderung der Tante bot, die solchen Männerschlag in der Welt für unmöglich gehalten hatte. Püttmeyer versank in ein stillbeschauliches Grübeln … er sah Paula starr an, verwechselte sein 97 Messer mit der Gabel, nahm zum Braten zu gleicher Zeit Compot und Salat und beging all die Diätfehler, vor denen ihn seine Verehrerinnen in Eschede beim Abschied so ernstlich gewarnt hatten. Thiebold hatte dabei ganz nach Moppes’ und Piter’s Theorie die Art, den Wein einzuschenken, als wär’s Wasser. Da fand kein Nöthigen statt, kein Abwarten, ob ein Glas schon ganz geleert war; wie er in sein Haar griff, um seinen Scheitel zu ordnen, ebenso leicht griff er an die Flasche. Die Tante fand das alles entzückend. Sie lebte auf in dem heitern Anblick, wie die beiden Mädchen wol ein halb Dutzend mal dieselbe Geberde machen mußten, die Hand auf ihre Gläser zu legen und dem Einschenkenwollen zu steuern, während Thiebold ebenso oft dann, ohne sich in seinen Reiseberichten über Amerika, Paris, London und Kocher am Fall stören zu lassen, die Wassercaraffe ergriff und die Wassergläser der Damen bedachte. Er ist allerliebst! sagte ihr zwischen Paula und Armgart hin- und hergehender Blick … Nur Ein Diener konnte dabei bedienen, da zur Vertretung der gräflichen Würde beim Leichenbegängniß fast die ganze Dienerschaft abwesend war und der neuhinzugetretene Dionysius Schneid für ein unmittelbares Bedienen der Herrschaften zu wenig Geschick zeigte …

Im Strom seiner Mittheilungslust und einer bei dem Gefühl, „mit Geistern zu Mittag zu speisen“, höchst natürlichen Aufregung gerieth Thiebold wiederholt auf Armgart’s Aeltern. Er konnte diese Erwähnungen nicht länger zurückhalten; denn bald hatte er vom Obersten eine entschlossene That, bald von der 98 Oberstin eine überraschende Aeußerung zu berichten. Die Tante ermuthigte ihn auch, sich keinen Zwang anzulegen, denn diese Veränderung hatte allerdings stattgefunden: sie war völlig geneigt zur Versöhnung. Ihre Sorge um Armgart wurde zu groß; im Stifte Heiligenkreuz konnte des jungen Mädchens Bleiben nicht sein. Sie hatte bisjetzt die schlechteste Stelle, jährlich nur zwanzig Thaler baar und kaum sechzig in Naturalien. Die Verhältnisse in Westerhof wurden zu schwankend; die Ansiedelung des Obersten von Witoborn mit dem auf die Hedemann’schen Mühlenwerke gerichteten Plane war vor der Thür; Onkel Levinus wurde je älter je grilliger; Tante Benigna sah demnach ganz gern, daß Thiebold ihre Schwester und ihren Schwager zugleich pries … Thiebold wurde dabei auch von ihr nur immer Herr von Jonge genannt … In ihren auf Armgart gerichteten Blicken lag: Wie benimmst du dich nur heute wieder gegen diesen besten aller deiner Bewerber!

Thiebold erzählte von Hedemann, von seiner Lebensrettung, von den Mühlenwerken und von Hedemann’s Aeltern …

Ich war in Borkenhagen … mit meinem Freunde Benno von Asselyn zugleich, der – Sie wissen ja wol, in dem Dorfe da geboren und erzogen worden ist …

Geboren? warf die Tante lächelnd und fast verächtlich ein …

Ganz recht! verbesserte sich Thiebold. Wie kann ich vergessen – Mein Freund ist –

Ein Spanier ja wol? unterbrach den Einschenkenden Püttmeyer, den seine Freundinnen trotz seiner Verbor-99genheit au courant aller Verhältnisse der Gegend hielten und den der Wein und die Geisterwelt seltsam anregten …

Das doch wol eigentlich nicht! berichtigte die Tante mit einem mysteriösen Lächeln. Sie mußte auf die Schüssel, die eben herumgereicht wurde, niederblicken, weil aus Paula’s Augen ein bittender Blick sie traf …

Ein prächtiger Spaziergang! fuhr Thiebold fort. Selbst im Winter! Wir suchten im Wald bei Borkenhagen, in den Vorgebüschen von Schlehdorn, erst den Finkenfang, dann die Wolfshöhe und einen großen dort befindlichen Ebereschenbaum, der in Benno’s Jugenderinnerungen – übrigens wird ja nächstens dort die große Jagd stattfinden – eine merkwürdige Rolle spielt – bitte, gnädigstes Fräulein, genirt Sie die Sonne? …

Schon war’s ein Strahl der abendlichen Sonne, der der Tante ins Antlitz fiel …

Thiebold war schon aufgesprungen, um den Vorhang niederzulassen …

Man bat, sich nicht zu incommodiren …

Püttmeyer wünschte gelegentlich den Tag der Jagd zu wissen, seiner Transparentbilder wegen …

Wir schreiben Ihnen das! sagte die Tante und fuhr, auf Thiebold gewandt und zugleich ärgerlich über ein Erglühen Armgart’s, als von Benno die Rede war, fort: Dann waren Sie gewiß auch auf dem armseligen Hof der närrischen verwilderten Alten, der dicht beim Walde vor Borkenhagen liegt?

Allerdings! rief Thiebold vom Fenster zurückkehrend …

Armgart aber fiel mit leuchtenden Augen ein: Arm-100selig? Das war ehemals der schönste Bauernhof zwischen Borkenhagen und Witoborn! Die Ställe voll Vieh, dabei fünf Pferde und die Scheuern voll Korn … Auf dem Hof hat Benno reiten gelernt! Da hob ihn Hedemann zuerst aufs Pferd! Die Alten schenkten ihm sogar ein schwarzes Füllen! Wie ich im letzten Herbst hinkam und sie daran erinnern wollte, wiesen sie mir freilich die Thür …

Aus dieser Mittheilung ersah man, daß Armgart in der ganzen Gegend zu hospitiren pflegte und überall den Bruder Gutentag machte …

Alte, verdrehte, abscheuliche Menschen sind’s! rief die Tante. Ruchlose sogar!

Warum hast du sie nicht lesen und schreiben gelehrt? entgegnete Armgart …

Ich? Ich? Wie so ich? Soll das eine Anspielung auf – mein Alter sein? erwiderte die Tante und lächelte selbst sogar der Feinheit ihrer Bemerkung, ohne darum ihre zornige Aufwallung zu mildern …

Tantchen! bat Paula und reichte ihre schöne, lange, ovale weiße Hand über den Tisch zur gereizten Verlobten des Onkel Levinus hinüber, während Armgart’s Antlitz glühte und ihre starren Lippen sich nicht regten, eine so absichtlich verkehrte Auslegung ihrer Bemerkung zu berichtigen …

Diese Menschen, fuhr die Tante fort, sind die starrköpfigsten Bauern, die nur je hier zu Lande gelebt haben! Gottesverächter sind sie geworden! Ich gebe zu, sie wurden schlecht behandelt –

101 Von einem Geistlichen! schaltete Püttmeyer gar nicht mehr zaghaft ein …

Auch vom Landrath! ergänzte die Tante. Solcher Trotz dann aber auch gleich! Das kann auch nur bei uns vorkommen! Ich seh’ und erleb’ es ja täglich! Jetzt wieder der Streit um den Tanz im Finkenhof! Bitte, Herr von Jonge, was man Ihnen auch erzählt hat und was Sie in Borkenhagen – mit Herrn von Asselyn – er heißt nur so, es ist ein Adoptivname – gesehen haben mögen, glauben Sie mir, diese Leute sind wie die Büffel! Und die Hedemanns von je die obstinatesten! Den künftigen Herrn Papiermüller nannten sie schon vor Jahren Herrn Remigius Dickschädel!

Auf solche aus dem Munde der Tante, die ja selbst einen Kopf wie von Eisen besaß, überraschend genug kommende Worte, stand seit Jahren fest, konnte keine Einrede gewagt werden. Paula’s Auge richtete sich auf Armgart, deren Inneres vor Parteinahme zu Gunsten Hedemann’s und ihres an Hedemanns Namen betheiligten Vaters aufloderte. Die braunen Augäpfel gingen hin und her, die Lippen öffneten und schlossen sich, die zitternden Finger drehten aus dem frischen witoborner Weißbrot kleine Vierundzwanzigpfünder wie zu einem Bombardement auf alle Welt …

Gnädigstes Fräulein! wandte sich Thiebold zur Tante, ich weiß nicht, ob ich gut unterrichtet bin … Ich weiß nur so viel … Als Freund Hedemann nach Amerika ging, war der Abschied von den Aeltern auf ewig und Hedemann ließ zwei alte Leute in schönem Besitzstand zurück. Damals hatte der „so unglücklich 102 geendete“ Klingsohr, genannt der Deichgraf, die Ablösungen des ganzen Regierungsbezirks zu reguliren. Auch die alten Hedemanns wollten sich freikaufen. Auf ihrem Besitzthum haftete die Verpflichtung, dem Gutsherrn, zufällig dem Landrath, dem dieser Besitz von seiner Frau her gehörte, einen gewissen Theil des Ertrages – enfin, wie viel – kurz, ihm regelmäßig zu zehnten! Zank hatte es schon um dieser Abhängigkeit willen genug gegeben; denn nicht einen Baum durften die Hedemanns abhauen ohne den Willen des Gutsherrn …

Das liegt in den Verhältnissen! sagte die Tante …

Ich glaube das! Nun aber kam nach einem gewissen Leo Perl der Pfarrer Langelütje, der sich schon auf andern Pfarreien den schlechtesten Ruf erworben hatte und mehr Vieh- und Fruchthändler, als ein Seelsorger war …

Darüber ist allerdings nur eine Stimme! gestand die Tante …

Die alten Hedemanns, erzählte Thiebold immer wie forschend, ob er recht berichtet wäre, waren mit ihrem Gutsherrn in Spannung und bedienten sich des Pfarrers, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Der neue Pfarrer erbot sich dazu aufs bereitwilligste … Die Hedemanns cedirten ihm in aller Form die Ablösung und gaben ihm die nicht unerheblichen Summen zur Realisation des Loskaufs. Gut, das Geschäft ist gemacht; die alten Leute, die froh sind, mit dem Landrath in keine directe Beziehung gekommen zu sein, bieten auch dem Pfarrer eine Erkenntlichkeit an. Er schlägt sie nicht aus. Er nimmt sich eine Kuh aus dem Stalle …

Und noch dazu die beste! schaltete die Tante ein … 103 Sie wollte jetzt schon Versöhnung mit Armgart und begann nachzugeben … Er hat sie am Strick gleich selbst sich mitgenommen!

Inzwischen, fuhr Thiebold fort und schenkte wieder ein, indem er die schmollende Armgart fixirte … inzwischen ließen die alten Leute, die, wie fast alle ringsum, Geschriebenes nicht lesen konnten, doch einmal von einem hausirenden Juden die Ablösungspapiere durchsehen. Es war an einem Sonntag Vormittag. Beide, der alte Mann und die alte Frau, saßen bereits in Toilette, um zur Kirche zu gehen. Die Glocken läuteten. In dem Augenblick studirt der fremde Rathgeber heraus, daß in den Papieren in Worten geschrieben eine viel kleinere Summe steht, als sich der Pfarrer von den Hedemanns hatte auszahlen lassen. Nicht wahr? Sie waren von ihrem Seelsorger um zweihundert Thaler und ihre beste Kuh geprellt worden. Diese Menschen, von einer großen Verehrung vor allem, was geistlich ist, glaubten dem Juden nicht. Sie gingen mit ihrem Papier zum Kamp hinaus, um in der Kirche, gleich nach dem Gottesdienst, den Pfarrer selbst zu fragen. Da begegnet ihnen die Kutsche des Landraths. Hedemann’s Vater grüßt und hält nickend sein Papier empor. Herr von Enckefuß läßt halten und frägt, was es gäbe? Die alten Leute tragen ihren Gegenstand vor. Der Hausirer steht in einiger Entfernung. Und jedenfalls merkte Herr von Enckefuß gleich, was die Uhr geschlagen hatte. Um aber den Pfarrer zu schonen, fuhr er den Juden an, hieß ihn sich hier augenblicklich zum Teufel zu scheren – bitte um Entschuldigung! – und behauptete rundweg zu 104 seinem eigenen Nachtheil, der Schein lautete wirklich auf die Summe, die der Pfarrer von ihnen verlangt hätte …

Püttmeyer ergänzte:

Es war gerade die Zeit, wo der Rittmeister eine noch viel größere Unthat aus Gutmüthigkeit verborgen gehalten hatte! …

Die Tante setzte mit Rücksicht auf die noch immer finstere Armgart hinzu:

Sein Herr Sohn ist dafür um so strenger! Der bringt ja alles heraus! Den Kirchenfürsten, den hat der junge Enckefuß verhaften helfen! Den Hammaker hat er auch entdeckt! Den Pater Sebastus hat er hierher geführt! Nur den Leichenräuber von Sanct-Wolfgang hat er noch nicht aufgetrieben …

Diese Zwischenplauderei war zunächst dazu bestimmt, Armgart’s gute Laune zu gewinnen … Dann fing aber auch die Tante schon an, ihren Unmuth auf die Bedienung abzulenken. Sie hörte draußen sprechen, hörte die groben Tritte des die Speisen aus der Küche herzutragenden Dionysius Schneid und zischte um Ruhe …

Paula begleitete die Rede und das Benehmen der Tante mit Blicken auf Armgart, die so viel sagen wollten als: Närrchen, sei doch lieb!

Nun hört’ ich so! fuhr nach einer Discretionspause Thiebold fort. Die alten Hedemanns blieben in der Sache zweifelhaft. Da der Hausirjude das Blinzeln des Landraths wohl verstanden und sich aus dem Staube gemacht hatte, gingen die alten Leute an die Kirche, nicht in sie hinein. Sie sahen von der Thür aus den Pfarrer im Meßornat, wie er das Hochheiligste segnete; sie mußten vor innerm 105 Groll umkehren. Mit dem tiefsten Zweifel in ihrer Brust vergruben sie sich in ihrem einsamen Kamp und ließen, anfangs vor Ungewißheit, vor Ahnung, dann vor sicherer Zuversicht, daß der Pfarrer sie betrogen hätte, mit der Zeit alles lässig gehen. Den Pfarrer anklagen? Ihn unglücklich machen, die Religion schänden –? Das ist diesen Leuten nicht gegeben. Sie bebauten noch ihr Feld, hatten auch noch Knecht und Magd; aber ein Tiefsinn kam über sie, der sie von der Welt nichts mehr hören und sehen lassen wollte. Noch einmal wagten sie zum Schulmeister zu gehen – sie bekämpften sich, da ihnen wieder die Scheu vor einem geweihten Priester kam … So ging der Lebensmuth der alten Leute hin. Sie ließen Hab und Gut in Verfall kommen. Einmal rief die alte Mutter Hedemann die Schulkinder an und ließ sich heimlich von denen die Urkunde vorlesen. Sie hörte leider die Wahrheit; ein Betrug war’s von zweihundert Thalern. Sie verschwieg ihn ihrem Alten. Zur Kirche ging nun keines mehr und Langelütje, den man meist nur in großen Wasserstiefeln sah, auf den Märkten hinter seinem Knechte stehend, beim Fruchtverkauf, der hinderte sie darin auch nicht. So in Mistrauen und Unmuth kamen die alten Leute zurück. Sie entließen den Knecht, die Magd, bestellten ihren Acker nicht mehr, brachen ihr Holz am Wallheck nicht mehr, ließen ihr Vieh sterben und verderben und behielten nichts, als was zum nothdürftigsten Unterhalt diente. Sie säen jetzt nur, was sie selbst brauchen. Jahraus jahrein besteht ihre Mahlzeit aus Bohnen, die sie in Wasser abkochen und über die sie Milch gießen. Nur zu diesem Bedarf werden die Kühe abgemolken …

106 Abgemistet wurde schon lange kein Stück Vieh mehr! ergänzte die wirthschaftskundige Tante. Alles verdarb! Sie zogen ein gefallenes Thier aus dem Stalle und ließen es einfach vorm Hofe liegen. Die Nachbarschaft machte dann dem Lärm der Hunde ein Ende, die sich um das Aas stritten. Nie brauchten sie noch Licht oder Oel; im Winter sitzen sie um den Feuerherd, den sie mit ganzen Bäumen heizen, die sie an ihrem Wall fällen, ins Haus hereinziehen, auf den Herd legen und nun langsam abschwehlen lassen. Oft liegt das eine Ende vom halbbelaubten Baume noch draußen im Freien, vom Schnee überschüttet. Als sie in ihrer Kleidung so weit verfielen, daß sie die Lumpen mit Stroh umbanden, um sie vor dem Herabfallen zu schützen, legten sich die Nachbarn drein. Sie fanden zwei halb schon zu Kindern gewordene Menschen, die in innigster Uebereinstimmung mit sich selbst an ihrem Wahn festhielten, daß die Welt kein Vertrauen mehr verdiene und nichts überflüssiger wäre als die Religion. Man zwang ihnen dann Beistand auf, eine Aufsicht, die dann und wann den Schmutz aus ihrer verfallenen Wohnung entfernt. Der Alte sitzt und raucht aus einer Hollunderpfeife, deren Spitze und Rohr und Abguß und Kopf er sich selbst geschnitzt hat und die immer kleiner wird, weil die paar Zähne, die er hat, sie nach und nach fast ganz „aufmümmeln“. Taback ist sein einziger Luxus. Geld kennen sie nicht. Wer ihnen etwas liefert, Brot, das sie nicht mehr backen, Bohnen, die sie nicht mehr säen, den verweisen sie auf das, was ringsum auf ihrem Eigenthum noch wild wächst. Aber an dem Langelütje kam dann freilich alles heraus. Er sitzt im Jesuiten-Profeßhaus der Residenz des Kirchen-107fürsten. Wohl kamen bessere Geistliche, aber die alten Leute wiesen jeden ab, der sie auf ihrem verfallenen Hofe besuchte. Sie flüchteten zuletzt zur Kuh in den Stall, bis selbst unser Herr Norbert Müllenhoff müde wurde, auf dem brennenden Baumstamm am Herde zu sitzen und ihnen zu predigen … So fand Hedemann seine Aeltern, als er im Herbste hier war. Natürlich hatte er dann Zank mit dem Landrath. Wie’s jetzt mit den alten Leuten aussieht, weiß ich nicht … Die Leute leben im Kirchenbann.

Wäre Monika zugegen gewesen, ihr flammendes Wahrheitsgefühl hätte ohne Zweifel ausgerufen: Gerade aus Liebe zur Religion, gerade aus Verehrung vor der größten Frage der Menschheit geschah dieser Abfall von ihren äußeren Formen! … Und auch in Püttmeyer schürte der Wein und sein vor Jahren tiefgekränkter Denkerstolz den Ausbruch ähnlicher Empfindungen … In Thiebold wirkte Benno’s Urtheil nach, der bei Erzählung dieser Verhältnisse gesagt hatte: Jetzt versteh’ ich, Hedemann, warum Sie die Bibel lieber lesen, als das Brevier …

Armgart aber rief von ihrem Standpunkte: Ja, so muß man die Welt verachten können! Was hilft es, die schlechten Menschen anklagen? Aergern man muß sie und beschämen! Beschämen durch unser Unglück, das man sie zwingt mit anzusehen! Ich gehe doch noch in Witoborn zum Bischof und bitte ihn, von diesen so großen, so echt frommen, so unübertrefflich vornehmen Menschen den allerdings nur zu gerechten Bann zu nehmen!

Man schwieg jetzt … Es war das Mahl vorüber …

108 Auch wurde die Tante von einem Anliegen des Dieners in Anspruch genommen …

Der Diener flüsterte ihr etwas in plattdeutscher Sprache …

Er brachte das Gesuch des alten Kirchendieners Tübbicke, der draußen harrte …

Die Tante erröthete … aber „Herr, sprich nur ein Wort und meine kranke Seele wird gesund!“ sagte der Blick, den sie auf Paula richtete …

Diese bemerkte den Ausdruck eines der ihr schon bekannten Anliegen … Sie hörte das Leid des Alten, der um Hülfe für sein Enkelchen bat …

Paula erhob sich … Ihre Hand zitterte … die blauen Augen wurden tiefdunkel … Aus den Falten ihres weiten schwarzseidenen Kleides nahm sie einen kleinen Rosenkranz von einfachen bunten Steinkügelchen, betete einen Augenblick leise, während alle ihrem Beispiel folgten, küßte das Amulet und reichte es hin … Armgart ergriff es in leidenschaftlichster Erregung und stürzte damit hinaus …

Die Tante nahm Püttmeyer’s Arm, um sich von ihm in das grüne Wohnzimmer führen zu lassen … Sie sah im Gehen auf die Uhr … Es war schon gegen vier … Dunkel war es geworden und der Diener sagte, daß auch der Wagen schon bereit stünde für Eschede. Thiebold hatte Paula geführt … Eine drückend feierliche Stimmung umspann die kleine Gesellschaft, eine Stimmung, die sich mehrte durch Armgart’s Zurückkunft …

Der Alte war zu glücklich! rief sie. Das Kind wird genesen!

109 Paula war weiß geworden wie eine Wachskerze … Sie riß sich los. Sie hatte Thränen im Auge und verschwand … Gern wäre Armgart ihr nachgestürzt, aber die Tante befahl, daß sie blieb. Auch kam der Kaffee, den sie in silberner Maschine zu machen und zu credenzen hatte. Die Tante sank in einen der ringsum stehenden grünseidenen Fauteuils … Ihr „Nick-Viertelstündchen“ kam …

Und Püttmeyer sollte nun so, unter solchen wunderbaren Eindrücken, seinen ganzen Menschen zurücklassen? Er verzweifelte fast … Doch mußte er nach Eschede … Der Weg war zu weit und auch dort wohnten Seelen, die er nicht ängstigen durfte! Mochte er auch von diesen nach allem, was er heute hier erlebt, fühlen wie Armgart, als sie im letzten Herbst im Nachen zu Angelika gesagt hatte: Eine derselben würde als geflügelte Kaffeekanne dem Fegfeuer zufliegen, eine andere als geflügelter Strickstrumpf! er mußte sich losreißen … Auch sein Hund und seine Katze mochten nicht wenig nach ihm kratzen und winseln … Lassen Sie sich nur recht oft bei uns sehen! sagte ihm die Tante schon wie zum Abschied. Geben Sie Ihr Vergrabensein auf, Herr Doctor! Solange wir auf Schloß Westerhof noch hausen werden, sind Sie uns immer willkommen! Adieu, Herr Doctor! Grüßen Sie in Ihrem nächsten Brief – die – die gute – liebe – Angelika …

Die Tante wurde auch schon in ihrer Art somnambul und schlief schon halb. Laurenz Püttmeyer stand da, wie ein vierzigjähriges Kind. Er sah sich um, um beim Abschied nichts zu vergessen. Es that noth, daß Thiebold ihm in die Hand gab, was er mitnehmen mußte, seinen Hut, seine 110 Handschuhe, von denen sich nur einer in seinem Frack, der andere noch drüben im Speisezimmer befand, und nun empfahl er sich wirklich. Thiebold und Armgart, die sich ihren noch im Vorzimmer liegenden Pelz überwarf, begleiteten ihn … Schon hörte man das Schellenklingeln der Pferde … Schon war der Schlag geöffnet … Man hatte dem Gaste vorsorglich noch ein heißes Kohlenbecken in den Wagen gestellt … Man gab ihm noch eine Wildschur des verstorbenen Grafen Joseph zur Benutzung mit … Püttmeyer war im Losreißen von dem merkwürdigsten Tage seines Lebens in einer Verwirrung, die ihm sogar den Streich spielte, daß er ein splendides Trinkgeld statt dem Diener Thiebolden in die Hand steckte … Und Thiebold nahm den Thaler und sagte sich mit verklärter Rührung: „O das kann kommen! Bei gewissen Stimmungen ist dem gebildetsten Menschen nichts unmöglich!“ Er gab das Geld feierlich dem Diener … Schon rollte der Wagen dahin und Thiebold, der in bloßem Kopf stand, war nicht wenig geneigt, Armgart zum Hinaufführen den Arm zu bieten … Schon aber war diese vorausgesprungen … Und Thiebold, als er dem flüchtigen Reh langsam nachfolgte, dachte: Jetzt, jetzt endlich findest du wol den langersehnten, immer vergeblich gesuchten Augenblick, sie allein zu sprechen und jene Geständnisse zu machen, die dir Bonaventura in der Beichte anbefohlen hat! … Er faßte sich Muth, obgleich so vieles, so vieles in Armgart’s Benehmen gegen ihn sowol wie gegen Benno anders geworden war.

Oben befand sich noch die Tante unter dem magnetischen Einfluß ihrer Verdauung … Sie trank zwar den 111 von Armgart bereiteten Kaffee, der bekanntlich wach erhalten soll … Ihr aber machte er die Wirkung, im Lehnsessel Reden zu halten, die etwa in folgender anakoluthischer Verwickelung sich vernehmen ließen und endlich gänzlich abbrachen:

Nun, lieber Herr von Jonge! Nun aber, bitte, bitte, lieber Herr von Jonge, nun spielen Sie uns etwas! … Ich hätte doch den alten Tübbicke noch etwas fragen sollen … Bitte, Herr von Jonge! … Armgart! Noch eine Tasse vielleicht, Herr von Jonge? … Die Schlüssel zum Archiv jeden Sonntag aus der Hand lassen, das geht nicht, Herr von Müllenhoff – von Jonge! … Bitte, Mozart … Das Kind von dem jungen Tübbicke –! Bitte, Herr von Jonge, spielen, spielen! – Nein, man muß sagen, Müllenhoff geht in vielem zu weit! … Ich liebe so die Musi –! … Die Jagd … Transparente Bilder von … Wenn nur unsere Herren bald gesund und wohlbehalten von Neuhof zurückkommen! … Die Musik! … Was sie nur erlebt haben mögen – am Düsternbrook – Bitte, Herr von Jonge! – Die – Die – Sona – Pathé – tique – von van – van von Beetho –

Damit war das Gangliensystem der Tante bezwungen. Sie entschlief, ohne ihre Rede ganz beendet zu haben.

Die Sonate pathétique zu spielen würde sich Thiebold in seiner Vaterstadt nie getraut haben. Die Gegenwart einer Johanna Kattendyk, einer Josephine Moppes, einer Lisette Maus, einer Betty Timpe hätte ihn unrettbar dem „Fluche der Lächerlichkeit“ preisgegeben. In diesem hochadeligen Hause aber, dem, wie in vielen tausenden solcher katholischen Herrensitze Europas, principiell die Bil-112dung des 19. Jahrhunderts halbwegs immer fremd bleibt, gestattete man ihm jede freie Variation über das große Meisterwerk, jede Zuthat aus den seinen Fingern noch geläufigern Cramer’schen Etuden. Thiebold spielte wirklich etwas, wie die Sonate pathétique. „Ein Genuß für Götter!“ sagte er sich selbst voll Bescheidenheit. Er war in jeder Beziehung froh, daß Benno fehlte.

Armgart stand an der Kaffeemaschine … Endlich blies sie die Flamme aus … Es wollte damit nicht so schnell gehen, wie sie wollte … Thiebold brach mitten in seinem schönsten ad libitum ab und sprang hinzu … Mund gegen Mund gerichtet, endete die Flamme …

Thiebold seufzte und wurde kühner und kühner durch das Bewußtsein, daß sich hier einer gemüthlichen Familienscene ein beliebiger Rahmen geben ließ … Die Tante schlief … Paula blieb fern … Sollte er wieder spielen? … Fräulein! sagte er leise. Ich habe Ihnen durchaus eine Mittheilung zu machen …

Armgart betrachtete ihn kalt und doch war ihr die „Liebe“ schon lange ein Begriff geworden, so klar, so verständlich wie sonst nur der Glaube … Sie fürchtete, Thiebold wollte von seiner Liebe sprechen … Sie wollte sich eben deshalb gleichgültig zeigen …

Spielen Sie! sagte sie. Ich lese indessen …

Nein, ich muß Sie sprechen! betheuerte Thiebold mit gedämpfter Stimme. Ein Befehl in der Beichte verlangt es! Der Domherr will es!

Armgart maß Thiebold mit weitgeöffneten Augen …

Wirklich, Fräulein Armgart, ich schwöre Ihnen das beim Heil meiner Seele!

113 Auf so hochheilige Versicherung hin winkte Armgart leise mit der Hand, deutete auf die Thür und ging mit Seufzen in den Vorsaal.

Ein Blinzeln des Auges sagte, Thiebold sollte folgen.

Nehmen Sie Ihren Mantel, Herr de Jonge! sagte sie, sich im Vorsaal wendend und auf des Zögernden Nachkommen wartend …

Thiebold blickte erstaunt auf sie nieder …

Auch sie ergriff ihren Ueberwurf und hüllte sich in ihn mit Thiebold’s Hülfe ein. Dann drückte sie ihm seinen Hut in die Hand …

Sie ging entblößten Hauptes zum Corridor hinaus …

Wohin führt sie dich denn? sagte sich Thiebold mit gesteigertem Befremden …

Draußen war die vom Hofe hereinfallende Beleuchtung am Tage schon immer eine halbdunkle. Jetzt war der Abend hereingebrochen und in den langen Corridoren hätte man sich als Fremder ohne Licht kaum noch zurecht finden können …

Führt sie dich auf ihr Zimmer? sagte sich Thiebold, als Armgart sich links gewandt hatte und in einem dunkeln Gange voranschritt, auf welchen fast klösterlich eine Menge Zimmer, größtentheils an den Thüren mit Hirschgeweihen geschmückt, hinausgingen …

Sie kamen an Zimmern vorüber, die der Tante und Paula gehörten, an Lauftreppen, die für die Dienerschaft bestimmt waren, an einem der vier Eckthürme, in dem auch Armgart ein eigenes Wohnzimmer hatte … Sie wohnte halb im Stifte, halb hier … beide Wohnungen schmolzen auf so eigenthümliche Weise zusammen, daß sie im 114 Grunde nur eine bildeten … in Heiligenkreuz lag oft ihre Schere und hier ihr Fingerhut … dort arbeitete sie an der Cigarrentasche, hier an dem Aschenbecher … dort lag zuweilen ein Schuh oder ein Strumpf, der durch einen andern, der hier sich befand, erst ein Paar bildete … seit Weihnachten erst besaß sie infolge des entschiedensten Verlangens und nach mannichfacher Prüfung und Berathschlagung Schiller’s Werke … da sie Tag und Nacht darin las, so lagen sie halb in Heiligenkreuz, halb hier in ihrem Thurm. Wenn sie zwischen Heiligenkreuz und Westerhof hin- und herfuhr oder auch zu Fuß ging, begleitete sie ein Bündel von Sachen, das sie hin- und herschleppte. Oft wurde sie von der Tante dafür „Trödelliese“ genannt …

Als Armgart aber auch nicht beim Eingang in ihr Zimmer anhielt, sagte Thiebold stehen bleibend: Ja aber, mein Fräulein, was wird denn nun? …

Er mußte seine Verwunderung abbrechen und folgen … Armgart eilte vorwärts … sie war tief in sich verloren und schloß nur zuweilen gelegentlich ein offen stehendes, in den Hof führendes Fenster. Die Wanderung war jetzt rechts gegangen in einen andern Corridor des großen Geviertes … Hier kamen die Zimmer des Onkels, sein Laboratorium … Auch an diesem – wo oft der Stein der Weisen gesucht wurde und in der Retorte sich als Resultat nur ein Pfund Berliner Neublau ergab, dessen Anfertigung ebenso viel Thaler kostete, als Groschen hingereicht haben würden, den Gegenstand in Witoborn beim Krämer zu kaufen – an zwei Ritterharnischen, die vor des Onkels Thüre Wache haltend im Dunkeln gespenstisch genug 115 aussahen, ging Armgart vorüber, sprang dann eine Treppe hinunter, wandte sich im Erdgeschoß einem neuen Gange zu und führte Thiebold an den im untern Stockwerk befindlichen Bureaustuben, am Archiv, an der Bibliothek vorüber zu einer hohen Thür, die den Eingang in die Schloßkapelle bildete …

Wohl gingen Mägde, Schreiber an ihnen vorüber, wohl sah man über den großen, mit Sandsteinquadern gepflasterten, jetzt mit zusammengeschaufeltem Schnee bedeckten Hof hinweg im Eingangsportal wieder die hier schon gewohnten Hülfesuchenden: Armgart hielt sich bei niemand auf und huschte in die Kirche, die dem Bedürfniß der frommen Bewohner- und Dienerschaft des Hauses immer offen stand …

Dieser Raum war nun erst völlig dunkel …

Armgart blieb an der Thür stehen, ließ den vor Erstaunen sprachlosen Thiebold eintreten, legte den hohen Thürflügel wieder an und ging durch den schmalen Gang der Sitzreihen voraus zum Altar. Dort knixte sie, wie in der Ordnung, vor dem Erlöser, und sagte zu Thiebold, der auf zwei Schritte hinter ihr stand:

Nun, Herr de Jonge! An diesem heiligen Orte – Was ist es, was Sie mir zu sagen haben!

Mein Fräulein, stotterte Thiebold, befremdet von so viel Feierlichkeit und befangen durch die Einsamkeit des weihrauchduftenden Ortes, Sie überraschen mich! In der That …

Herr de Jonge! Sie wissen noch nicht, daß ich mein ganzes Leben unter die Befehle der allerseligsten Jungfrau gestellt habe! Ihr will ich vertrauen, was ich auf 116 dem Herzen habe! Von ihrem Rath hängt all mein Thun, all meine Entschließung ab. Was wollen – oder was sollen Sie mir mittheilen?

Armgart hatte sich vor diesen feierlichen Worten auf die erste Bank dicht am Aufgang zum Altar niedergelassen und kniete …

Allmählich gewöhnte sich Thiebold’s Auge an das Dämmerlicht der auch am Tage wenig erhellbaren Kapelle … Die heiligen Gegenstände, die er rings erblickte, milderten die Weltlichkeit seiner Absichten, obgleich an sich diese „die reellsten“ waren und nichts Geringeres bezweckten, als Armgart seine ganze Verhandlung mit Bonaventura zu erzählen …

Thiebold sah nun, daß die Betende zitterte. Den Kopf hatte Armgart aufs Pult gelehnt. So lag sie wie eine dem Himmel Angehörige … Thiebold hätte sich schon vor ihr selbst niederwerfen mögen; es lag ein so bestrickender Reiz in dem exaltirten Wesen, so viel Zauberisches in dieser gleichsam vor sich selbst entfliehenden, sich mit Gewalt mäßigenden und doch erglühend genug, man sah es, vorhandenen Leidenschaft, daß Thiebold nur durch die geringe „höhere Ausbildung seiner Gefühle“ verhindert wurde, seiner begeisterten Stimmung die einer solchen Situation entsprechenden Worte zu geben.

Fräulein von Hülleshoven! sagte er aber, sich dennoch einen Schwung gebend. Die unvergeßliche Reise von Drusenheim – die Reise durch die Siebenberge – diese Nacht dann mit Extrapost –! O ich erinnere mich nie etwas Aehnliches – oder ich erinnere mich allerdings … oder Sie vielmehr erinnere ich – das ist nämlich der bewußte Gegen-117stand – an den Moment, wo ich Ihnen gegenübersaß und Sie mir die Hand gaben – Wissen Sie noch?

That ich das? sagte Armgart und blickte die neben dem Erlöser stehende Madonna an, als läse sie alles, was sie zu sprechen wagen dürfte, erst von deren Zügen ab …

Das heißt, sagte Thiebold und rückte auf der Bank etwas näher, das heißt, liebenswürdigstes Fräulein, Sie setzten ohne Zweifel damals voraus, daß Ihnen –

Ich setzte nichts voraus! sagte Armgart. Ich war in einem Zustand völliger Betäubung …

Einmal doch – ging Thiebold seinem Ziele, Bonaventura’s Auftrag zu erfüllen, näher, – einmal doch schienen Sie völlig und sehr, sehr zurechnungsfähig – als Sie nämlich mit Innigkeit mir oder vielmehr – ja mein Freund und ich – Sie wissen – Benno von Asselyn – liebt Sie, und auch ich – ich kann bei Gott und auf Ehre! ich kann allerdings nicht leugnen –

O nicht das, Herr de Jonge! hauchte Armgart und hielt die Hand wie zur Abwehr …

Hätt’ ich eine Ahnung gehabt, daß mein Freund Sie in sein Herz geschlossen hat, nie würde ich selbst Ihnen soviel – Beweise meiner – Hochachtung gegeben haben, meiner aufrichtigsten – Fräulein, ich kann wol sagen, stellenweise wahnsinnigen …

O nicht das! Nicht das! wiederholte Armgart …

O Sie kennen die Liebe nicht, diejenige, mein’ ich, die Ihr Anblick in einem – Männerherzen – entzündet, in einem Herzen, das im Stande ist – wie gesagt – einem Freunde zu Liebe selbst die schmerzlichste Entdeckung seines Lebens –

118 Was befahl Ihnen der Domherr mir zu sagen? unterbrach Armgart …

O mein Fräulein! O ich bin zu tief beschämt! O, im Wagen damals glaubten Sie, leugnen Sie es nicht, Benno, der, der säße Ihnen gegenüber! Ja, in der „Verschwiegenheit des Dunkels“ ergriffen Sie – Ihre Hand wenigstens, Ihre Handschuhe waren es – die Hand Asselyn’s, drückten diese voll Innigkeit, ja es fehlte nicht viel, was ich dem Domherrn nicht einmal sagte – Ich beichtete ihm nämlich meinen Betrug – daß nämlich Ihre Hand die seinige – ans Herz zu drücken vermeinte – worauf – wie gesagt aber – Sie waren im stärksten Irrthum! Nämlich der von Ihnen Beglückte war ich! … Und, weit entfernt nun, mein Fräulein, dem Glück eines von mir aufrichtig geschätzten Freundes – oder vielmehr eines meiner „besten Bekannten“ entgegenzutreten, möcht’ ich nur eine Antwort auf die Frage haben: Soll ich ihm nicht das aufrichtige Geständniß machen, mein angebetetes, liebenswürdiges Fräulein, über das, was in jener Nacht zwischen uns allen dreien vorgefallen ist, soll ich es ihm nicht sagen, ihn aufklären –? …

Nein! rief Armgart … Nein! wiederholte sie, und noch einmal sprach sie mit fester Stimme: Nein!

Thiebold wußte nicht, wie ihm geschah … Er mußte sich vor Schrecken über diese leidenschaftliche Ablehnung unwillkürlich umsehen …

Ich soll nicht –? stotterte er …

Nein! war die wiederholte Antwort, die sie nur abbrach, weil am Tabernakel hinter dem Altar plötzlich 119 ein Geräusch gehört wurde. Es schien eine Thür gegangen zu sein …

Dennoch nahm Thiebold nach einigem Aufhorchen die Rede wieder auf und war sogar geneigt, in sein Erstaunen den Vorwurf der Undankbarkeit gegen Benno zu mischen – „von ihm selbst sollte allerdings keine Rede mehr sein“ – aber Fräulein, Sie misverstehen mich! Oder vielmehr im Gegentheil … Der Domherr wünscht, daß ich die Wiederherstellung der Wahrheit und Benno’s Glück befördere! Er selbst will es übernehmen, Benno dann zu sagen –

Nein! Nein! Nein!

Aber ich beschwöre Sie – soll denn alles, was gewesen ist, ausgelöscht –?

Ja!

Die Fahrt durch die Berge gar nicht stattgefunden –?

Nein!

Benno glaubt aber in Ihrem Herzen –

Nichts soll er glauben –

Das ist ja unglaublich! Geradezu fürchterlich! Ich habe ja mit Benno ein ganz freundschaftliches Abkommen getroffen, daß blos Ihre eigene Entscheidung –

Nun sprang Armgart auf …

Ein Ton war beiden zu gleicher Zeit vernehmbar geworden, der ganz in der Nähe dem Schließen eines Schlüssels oder dem Zufallen eines Schlosses entsprach …

Da ist ja jemand! rief Armgart mit erstickter Stimme.

Und schon war auch Thiebold aufgesprungen. Mit drei Sätzen war er auf der Erhöhung des Altars und starrte abwechselnd auf die beiden Vorhänge, die zur Seite hingen …

120 Hinter dem Altar war’s! rief ihm Armgart nach …

Thiebold hob links die rothen Vorhänge auf … Er sah den Raum, der die Sakristei bildete …

Wer ist hier? donnerte Thiebold, wild gereizt wie er war, in das Dunkel hinein …

Armgart, bei aller Angst mit schnell gefaßtem Entschluß, sprang an den zweiten Vorhang, als wenn ihre schwache Kraft einen hier Durchschlüpfenden zurückhalten könnte …

Auf Thiebold’s Rufen folgte keine Antwort … Deutlich aber vernahm man immer noch ein polterndes Geräusch, das die Anwesenheit irgendeines lebendigen Wesens bestätigte …

Es wird eine Katze sein! sagte endlich Thiebold mit dem ganzen, überströmenden Ausdruck seiner Wehmuth, während Armgart sich bereits in gleicher Stimmung auf einen Geist vorbereitet hatte … Sie stand starr und hielt krampfhaft den Vorhang in ihren Händen fest …

Thiebold ging im Dunkeln mit wiederholtem: Wer ist hier? um die Hinterwand des Hochaltars herum …

Stoßen Sie sich nicht! rief Armgart mit elegischem Schmelz. Dort steht Schrank an Schrank …

Es waren die Schränke zur Aufbewahrung der Opfergeräthschaften und Meßgewänder …

Thiebold kam auf der andern Seite Armgart entgegen und versicherte, nichts gesehen zu haben …

Er ging dann noch einmal zurück. Armgart folgte sogar … An einer Thür, die zum Archiv führte, rüttelten beide … sie war verschlossen … An den Schränken rüttelten sie … alles war unversehrt …

121 Wie beide auf der andern Seite wieder herauskamen und Thiebold das Erstaunen über Armgart’s Erklärung und ihre den beiden Freunden nun schon während ihrer ganzen Anwesenheit in der Gegend bewiesene Kälte in feierlichstem Ernste wieder aufnehmen wollte, Armgart sich ihm entzog und fast entfloh, wurde die Aufmerksamkeit auf ein anderes Geräusch gelenkt, das sich leichter erklären ließ …

Peitschen knallten, Schellenbehänge von Rossen klingelten, alle Hunde des Schlosses bellten …

Sie kommen von Neuhof zurück! rief Armgart wie erlöst …

Jetzt hätte Thiebold viel darum gegeben, wenn die Rückkunft des Onkels und Terschka’s sich noch um eine Viertelstunde verzögert hätte … Sich selbst gab er auf, nur in der That die Liebe zu seinem Freunde hieß ihn noch reden … Er hatte schneidende Vorwürfe, bittere Vermuthungen auf seinen Lippen …

Im ganzen Schlosse wurde es mehr und mehr lebendig …

Kommen Sie! rief Armgart. Sie sind’s!

Damit drängte sie zur Thür …

Die Rückkehrenden waren es in der That, und Thiebold hatte sogar eine Ahnung, Benno und Bonaventura würden mitkommen; ersterer vielleicht um ihn abzuholen und auf seinem Heimgang nach Witoborn zu begleiten …

Er konnte Armgart nicht zurückhalten, nicht um Aufklärung bitten, keines seiner aufgeregten Gefühle weiter aussprechen … Schon gingen im Schlosse an allen Flanken die Klingelzüge … Man hörte das An-122fahren der großen vierspännigen Kutsche, des Staatswagens der Dorstes, und einer zweispännigen kleinern, die für Terschka und Benno bestimmt gewesen war …

Thiebold, mit äußerstem Schmerz das Verschwinden einer schönen Lebenshoffnung wie für ewig fürchtend, hätte wenigstens nur noch Armgart’s Hand ergreifen mögen und er that dies auch und hielt sie fest und bat und flehte um Aufklärung …

Lassen Sie! sagte Armgart. Das Wort war fast verletzend, vornehm sogar. Sie war plötzlich wie gereift zur Jungfrau …

Aus allen seinen Himmeln gestürzt, von Armgart’s Kälte wie mit Eisesluft angeweht, folgte Thiebold mit langsamem Schritt …

Im Hofe – da war es lebendig … Die Hunde sprangen und rissen an den Ketten, an die sie zur Nacht gelegt wurden … Laternen wurden emporgehalten … Hin und her rannten die mitgekommenen Diener … Mit Lichtern kam der Diener, der bei Tisch servirt hatte, von der Stiege herunter und rief nach dem neuen Hausknecht, den niemand bemerken konnte …

Vorm Portal hielten die Wagen. Schon standen in der großen Eingangsflur, sich aus ihren Pelzen herauswickelnd, in schwarzen Fracks und weißen Halsbinden und Trauerhandschuhen der Onkel Levinus von Hülleshoven, Baron Wenzel von Terschka und in der That auch Benno …

Bonaventura fehlte … Es ließ sich annehmen, daß er im Trauerhause bei seinem Stiefvater zurückgeblieben war.

123 5.#

Armgart lag, als müßte sie irgendwo ihr sie überwältigendes Gefühl aufs mächtigste ausströmen, im Arm des Onkels …

Sie küßte ihm den Reif von seinem großen graublonden Bart, in dem sich ein Antlitz verbarg – vergleichen wir’s nur geradezu mit einem menschlich gemodelten Thierkopf; denn gibt es gutmüthigere Augen als die des Pferdes oder eines treuen Hundes? Stirn, Backenknochen, Nase (mehr konnte man vor dem Barte nicht sehen) waren hart und massiv, aber die wasserblauen Augen, ohnehin von der Fahrt und der Kälte feucht, glänzten so scheu, so gut, so treuherzig, wie – rügt den Vergleich! – die Augen der großen Bulldoggen an den Ketten im Hof. Armgart umschlang ihn mit einer Innigkeit, als sollte alles, was durch das Gespräch in der Kapelle sich in ihrer Brust vom Gefühl einer mit Gewalt abgelehnten Liebe gesammelt hatte, doch jetzt Einem zugute kommen …

Benno grüßte einfach und schüttelte dem gewissens-124scheuen, im Laternenschimmer vollends geisterbleichen Thiebold die Hand …

Terschka war schon unterwegs, die Tante zu begrüßen, die allen auf halber Treppe entgegenkam, während sich oben auf dem Corridor auch Paula sehen ließ, vor der schon einer der mitgekommenen Diener mit einem silbernen Leuchter von mehreren Flammen stand und ihre zu allen Zeiten feierliche Erscheinung würdevoll beleuchtete.

Gesund und wohl? konnte man freudigst und ungehindert fragen …

Alles glücklich abgelaufen? fragte man schon weniger ungehindert … Denn in Gegenwart Paula’s mochte man nicht verrathen, daß sie eine Störung des Leichenbegängnisses im Düsternbrook gesehen hätte – darüber war keinem von den Zurückgebliebenen ein Zweifel, daß wirklich dort etwas vorgefallen sein mußte …

Oben im Vorsaal ließen die Männer ihre schweren Bekleidungen und fanden, links sogleich durch das Eßzimmer schreitend, in einem heute noch gar nicht geöffnet gewesenen, inzwischen geheizten gemeinschaftlichen großen Wohnsaale im linken Thurm die Zurüstungen zum Thee.

Das war denn ein traulicher Raum. Ein großer runder Tisch, höchst kunstvoll ausgelegt, war nur in der Mitte mit einer kleinen Damastdecke belegt … Auf diesem stand schon die siedende Theemaschine … Nähtische waren dicht noch an diesen Tisch gerückt mit weiblichen Handarbeiten … Eine große, mit einem Blechschirm bedeckte Ampel mit mehreren Flammen, die mit metallenen Ringen an der Decke befestigt war, beleuchtete das ganze, rings mit Gemälden geschmückte, 125 teppichbelegte Zimmer … Die weißen Fenstervorhänge waren niedergelassen … die Gardinen waren zugezogen … das Feuer in einem hohen Kamin prasselte … es war eine Stätte des Friedens …

Onkel Levinus schritt, umschlungen von Paula und Armgart, wie ein von langen Reisen Zurückgekehrter daher … Es war ein untersetzter, stämmig gebauter Herr … In seinem Lächeln lag sogar etwas List, jene List, die der Ausdruck des Geistes ist, den dieser immer dann hat, wo er sich waffen- und harmlos gibt. Der Junggesell zeigte sich in der chevaleresken Begrüßung der Tante, die ihm auch ihrerseits ganz holdseligst entgegenkam und jetzt nicht das Mindeste verrieth von ihren gewohnten Misbilligungen z. B. seiner Methode, die Merinoschafe aus Spanien einzuführen, seines Bohrens auf Steinkohlenlager, die sich nicht fanden, seiner Gestütsveredelungsversuche und ähnlicher Dinge, die sie seit Jahren an dem phantastischen und kostspieligen Wirthschaftsführer controliren mußte …

Terschka fragte nach dem Postpacket, das sie mitgebracht hätten von Witoborn … Armgart wurde sogleich von der Tante bedeutet, es aus dem Wagen zu holen …

Schon sprangen drei Männer zu gleicher Zeit, den Auftrag ihr abzunehmen … Thiebold nicht am sichersten … Benno schon in beschleunigterer Hast … Terschka der Flinkste …

Armgart hielt indeß alle zurück, bat, sich zu ruhen, und ging allein …

Benno, von einer der Tante an ihm ganz ungewohnten 126 Eleganz, wie ein Hochzeiter, zog die Handschuhe aus und strich sich vor innerer Erregung den schwarzen Bart und sein lockiges Haar …

Und der Onkel erzählte schon:

Bonaventura’s Mutter war auf dem Schlosse noch nicht anwesend, aber das große Déjeûner dinatoire, das man zur Stärkung bei den weiten Distanzen der Wohnorte aller Geladenen mit voller Genugthuung antreffen durfte, war höchst kostbar gewesen … Man hatte das Mahl im Stehen eingenommen … um ein Uhr brach endlich der Zug auf … Die Segnungen hatte dann dem Sarge der Geistliche des Sprengels gegeben, in dem das Schloß liegt … Dann hatten die Mönche den Sarg in Empfang genommen, an der Spitze der neue Provinzial, Pater Maurus, Nachfolger des verstorbenen Henricus … Die Beisetzung im Kloster selbst war ohne Feierlichkeit erfolgt … Bonaventura hatte dabei etwas zu sprechen keine Veranlassung … Im Kloster Himmelpfort hatten sich alle Eingeladenen und nur aus Rücksicht um die Dorstes Gekommenen getrennt … Bonaventura war noch mit einem der Wagen des Präsidenten zurückgeblieben, um im Kloster den Pater Sebastus zu besuchen … Dann hatte er wieder nach Schloß Neuhof umkehren und erst morgen im Kreise von Westerhof erscheinen wollen …

Paula hörte diesen Mittheilungen mit Aufmerksamkeit und Ergebung zu …

Benno ergänzte:

Besonders geistlich sind die Gedanken der Leidtragenden nicht gewesen! … Der Landrath machte curiose Späße …

127 Ja, sagte der Onkel, Späße, die für eine Kindtaufe gepaßt hätten! … Niemand ging jedoch besonders darauf ein …

Die Verabredung zur Jagd ist zu Stande gekommen? fiel Thiebold zerstreut ein …

Graf Hovden, die Hakes, Graf Münnich und andere beauftragten uns, mit der gräflichen Jägerei Rücksprache zu nehmen, sagte Terschka, und die Leute meinen, daß gerade heute Abend noch im Finkenhof das Jagdpersonal versammelt sein würde … Herr von Asselyn schlug vor, heute Abend den Umweg über den Finkenhof zu machen … Ich begleite ihn und so bringen wir alles in Ordnung!

Gut! Gut! sagte der Onkel und deutete die Autorität an, die vorzugsweise Terschka hier gebührte. Der Weg ist ja nicht weit …

Die Tante war inzwischen wieder ungeduldig geworden über Armgart, die erklärt hatte, die Post allein besorgen zu können, und nun nicht wiederkam … Sie schien auch schon zu bemerken, daß die Männer in der That etwas im Rückhalt hatten …

Terschka sprach mit Paula und war die Artigkeit und Rücksicht selbst …

Die zurückgekommenen Diener, die in ihrer etwas altfränkischen Staatslivree, Grün mit Gold, geblieben waren, arrangirten den Thee … Die Herren setzten sich …

Wie still, begann der Onkel mit einer wohltönenden, aber nur leisen und, wie dem Forscher ziemt, nur prüfenden Stimme … wie still kann nun so ein wildes Menschenkind werden! Wie lange hat doch dieser Mann in der Welt rumort! Es ist dein Onkel, Paula! Aber 128 der hat die Spanne Zeit, die ihm der Schöpfer gemessen, benutzt wie sein unveräußerliches Eigenthum! Ein schauerlicher Augenblick, als wir in dem dunkeln, schneeverschütteten Grunde an dem hohlen, blitzzerschlagenen Eichbaum vorüberkamen, wo einst der Deichgraf Klingsohr gefallen! … Ja, vorher schon! … Ich erstaunte, im Dickicht ein gewisses Kreuz wiederzufinden, das, solange der Kronsyndikus noch im Gebrauch seiner gesunden Sinne war, an jener Stelle nie stehen durfte … Bruder Hubertus scheint es gewesen zu sein, der es wieder aufgerichtet hat … Er ist von seiner Reise zurück …

Terschka, immer die Thür fixirend, durch die Armgart zurückkehren mußte, und eine Tasse Thee entgegennehmend, sagte:

Ich bin nun fast ein halbes Jahr in der Gegend, hörte soviel vom Bruder Hubertus und sah ihn heute zum ersten mal …

Er ist erst jetzt von Wanderungen heimgekehrt, die ihn bald in dieses, bald in jenes Kloster seines Ordens, oft bis in die Schweiz hineinführen, erwiderte Onkel Levinus. Gleich beim Anblick des Kreuzes, vor der Störung an der Eiche, dachte ich mir: Jetzt muß wol der Knochenmann wieder dasein!

Welche Störung? fragte schon vor dem „Knochenmann“ die Tante und sah Thiebold an, der seinerseits zu der vom herabfallenden Lampenschimmer wie verklärten und nur auf die Erwähnung Bonaventura’s harrenden Paula mit gedankenverlorener Andacht blickte …

Ja! fuhr der Onkel fort, das war, um es nur zu 129 sagen, ein recht verdrießlicher Augenblick! Ein förmliches Todtengericht! Ich zitterte für den Präsidenten, der neben dem Domherrn saß und die Scene erleben mußte! Auch der Landrath, wie uns Herr von Terschka später mittheilte, soll sich furchtsam in seine Ecke gedrückt und vergessen haben, daß gerade seine Autorität hier am Platze war … Wer weiß, wie lange diese Scene gedauert hätte, wäre nicht Herr von Terschka zum Wagen hinausgesprungen und hätte die gehemmte Ordnung des Zuges wiederhergestellt …

Tante Benigna’s Augen hafteten an denen Thiebold’s …

Bruder Hubertus unterstützte Sie endlich, Herr Baron! schaltete Benno ein, den Terschka’s gespanntes Warten auf Armgart zu stören schien … Man hätte von ihm, soviel ich höre, diese Großmuth kaum erwarten sollen …

Welche Großmuth? fragte Terschka. Was hat es mit dem Bruder für eine Bewandtniß?

Das zu erklären, fuhr der Onkel fast frauenzimmerIich erröthend fort, möchte –

Die Tante wußte, daß die „Gegenwart der Damen“ hinderlich war und fiel sogleich ein:

Welche Störung fiel denn nur vor?

Paula saß jetzt, als besänne sie sich auf einen Traum, den sie vor langer, langer Zeit gehabt haben konnte … Auch Benno sah sie auf das Wort des Onkels mit einem ehrfurchtsvollen Blicke an. Sie machte den Eindruck, als wären unter dem Schutz ihrer weit ausgebreiteten Cherubsflügel alle Dinge der Erde rein und unentweiht …

130 Der Zug mußte im Düsternbrook eine Biegung machen, erzählte der Onkel, sodaß wir auch im Wagen alles mit ansehen konnten, was vor uns mit dem Sarge geschah. Vier Laienbrüder trugen ihn. Voraus gingen der Provinzial Maurus und die Mönche und alle sangen. Hintennach folgten die Dienerschaften von Schloß Neuhof, die Vorstände der Wirthschaft, die Beamten der Wittekind’schen Verwaltung. Dann erst kamen die Kutschen. Wie der Sarg an der bekannten Eiche vorüberkam, empfing ihn an dem zum Zusehen bequemsten Platze eine dort versammelte Menschenmenge … Bauern, Knechte, Weiber, Kinder, alles dicht geschart … Zufällig machten die Gesänge der Mönche eine Pause … Da ertönte anfangs eine Geige … In lustiger Melodie fiedelte irgendjemand, den man nicht sah, und gerade aus dem Menschenknäuel heraus … Erst konnte man an einen Bettler denken, der die Gelegenheit nutzen wollte, auf die Art zu einem Almosen zu kommen … Bald aber hörte man eine laute Stimme rufen: Schweig, Todtengräber! Hier erst noch drei Hände voll Erde!

Ihr Heiligen! rief die Tante erstaunend, da auch der Onkel im Erzählen feierlich die Stimme erhob …

In demselben Augenblick ging die Thür auf und Armgart kam zurück …

Sie kam ohne die Brief- und Zeitungsmappe …

Niemand fragte jetzt danach, so ergriffen war noch alles von dem eben Mitgetheilten …

Thiebold klärte Armgart rasch über das auf, wovon die Rede war …

Diese hörte wie geisterhaft und abwesend zu …

131 Schweig, Todtengräber! wiederholte der Onkel. Hier erst drei Hände voll Erde! rief die Stimme. Da trat eine hohe, kräftige Gestalt in grauem Mantel aus der Menge, hielt einen Gegenstand hoch empor, zog den Hut, als wenn er die Raben ringsum, die grauen Wolken, die kahlen zackigen Zweige, die Trauerkutschen grüßen wollte, und rief: Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof! Nimm zu deinem himmlischen Ehrenkleid auch noch diesen Orden mit! Ein ab instantia absolvirter Mörder empfiehlt dich der Gnade Gottes, des Heilands und der allerseligsten Jungfrau! Erschein’ am Tage des Gerichts mit diesem grünen, damals nicht verbrannten Fetzen Tuche –

Die Frauen blickten starr auf den Onkel, der alle diese Worte mit Feierlichkeit nachsprach … Die Tante war vor Entsetzen halb aufgestanden …

Benno berichtete weiter; denn dem Onkel stockte schon die schwache Stimme …

In diesem Augenblick, sagte er, wo wir alle die gleichen Empfindungen haben mußten, wie Sie sie jetzt allein vom bloßen Berichte haben, war die Scene bereits von Herrn von Terschka unterbrochen worden …

Doch nicht! doch nicht! sagte dieser von einem Nachdenken auffahrend … Noch ehe ich aus dem Wagen war, um die Störung zu unterbrechen, war schon ein anderer Zwischenfall eingetreten … Die Geige –

Bitte! ergänzte Benno. Erst hörte man einen schreckhaften Schrei …

Aber auch Paula erhob sich jetzt … Armgart hatte nicht Platz genommen, obgleich ihr Terschka und Thiebold einen Stuhl holten, wie sie eintrat …

132 Ganz recht! bestätigte der Onkel. Man erfuhr, daß im Dienstpersonal ein Frauenzimmer ohnmächtig geworden war. Es war das die Lisabeth, die Beschließerin von Schloß Neuhof …

Dann war – das ja wol – jener Küfer? schaltete die Tante mit Entsetzen ein …

Stephan Lengenich! bestätigte der Onkel. Wir erfuhren es später. Die Verwirrung des Augenblicks ließ sich nicht ganz übersehen, weil inzwischen der Zug schon weiter ging und die Mönche schon wieder sangen. Aber den Anblick alles Spätern hatten die doch noch, die nur langsam nachfuhren. In die Rede des damals ungerechterweise angeklagten Küfers hinein ertönte wieder die Geige. Ihr Spiel war so frech, so teuflisch, so voll Hohn fiel sie ein in die furchtbare Rache des Küfers, die sie gleichsam unterstützen wollte, daß jedermann dem nur danken mußte, der sich plötzlich auf den Geiger warf, ihm sein Instrument aus den Händen schlug und ihn, da er Widerstand leisten wollte, fast mit Füßen trat. Das war dann niemand anders, als unser alter guter Freund, der Bruder Hubertus …

Benno und Thiebold mußten sich mit Besorgniß Paula nähern, die wie in Erstarrung wieder in ihrem Sessel saß, während die Tante an die Thür eilte, um sicher zu sein, daß in diesem Augenblick der Erörterung mislicher Familienverhältnisse die Diener nicht hereinkamen …

Ja, das Maß ist gerüttelt und geschüttelt voll, sagte der Onkel tiefschmerzlich und die Hände gefaltet auf den Tisch vor sich hinlegend, das Maß der Ehrenkränkung, die seiner Familie ein wilder und entsetzlicher Mann hin-133terlassen hat! So ging es doch mit ihm fast funfzig Jahre hindurch! So klagen ihn todte und lebendige Zeugen an! So öffnen sich die Gräber, um ein Geheimniß nach dem andern ans Tageslicht zu bringen! Paula! Du gutes, gutes, treues Kind –

Auf diese liebevolle Anrede, die dem Schmerz galt, den Paula um die Ehre ihrer Familie, um Mutter und Vater empfinden mußte, hatte sie sich rasch aus dem Zimmer entfernt … Armgart flog ihr wie ihr Schatten zu hülfreichem Troste nach …

Nun erzählte die Tante den theilweis hocherstaunenden Männern Paula’s Traumgesicht … Alles was sie gesehen hatte, wurde von den Männern bestätigt …

Wild, wild war der Anblick dessen, was an der Eiche geschah! sagte der Onkel, der seinerseits an diese Visionen schon gewöhnter war. Da mußte sie wol erwachen … Der Geiger war der Taugenichts, der alte buckelige Stammer! Rächen wollte er sich für die Verweisung aus dem Schlosse durch den Präsidenten … Der Küfer hatte den Fetzen Tuch, der einst vom Deichgrafen dem Kronsyndikus abgerissen war und so lange nicht gefunden werden konnte, wenn es überhaupt der echte war, auf den silberbeschlagenen Sarg, mitten unter die Ordensinsignien gelegt! Als er das gethan, taumelte der Mann – es war auf den Schrei der Lisabeth – wie ein Kind und wurde von dem anwesenden Löb Seligmann gehalten, dem Juden, der ihn zu kennen schien. Herr von Terschka, Sie werden ja wol das Nähere von dem drolligen Musikschwärmer erfahren 134 können! Aber dem Geigenspieler ging es schlimm. Hubertus zertrat ihn fast; obgleich Stammer der Bruder des Mädchens war, um das auch der Bruder Abtödter den Kronsyndikus so bitter haßte …

Die Tante, die den Onkel in der weitern Mittheilung der Geschichte des Mönchs Hubertus nicht stören wollte, entfernte sich, um nach Paula zu sehen … Es kamen jetzt Bestandtheile eines Soupers, auch einige Flaschen Wein, die sie den Männern überließ …

Der Abtödter, hört’ ich, nennt man ihn? fragte Terschka kopfschüttelnd, als die Diener fort waren …

Man nennt diesen Mönch so in den Klöstern und im Volke! erklärte der Onkel. Sein eigentlicher Name ist Buschbeck …

Buschbeck! wiederholte Terschka befremdet und wiederholte lange sinnend: Buschbeck? Buschbeck? …

Terschka’s eigenes, allen hier unbekanntes Leben schien mit diesem oder einem ähnlichen Namen eine Beziehung zu haben …

Der Onkel erzählte mit gedämpfter Stimme und rasch die Abwesenheit der Frauen nutzend:

Auch Sie, Herr von Asselyn, werden sich ja wol aus Ihrer auf Hof Borkenhagen verlebten Jugend des Försters Buschbeck – nein, Sie mußten ihn schon nur als Mönch gekannt haben –

Es muß jener Laienbruder sein, sagte Benno, der dem alten Hedemann einmal ein Pferd mit Sympathie curirte … Dreizehn Haupthaare von einem Scharfrichter in einem Teig von Weizenmehl und Oel eingegeben und das Pferd erhielt sich …

135 Der Glaube macht selig! lachte Thiebold, der sich allmählich zu finden und schon wieder zu serviren anfing …

Aber der Onkel entgegnete:

Warum? Die Geheimnisse der Natur sind unergründlich!

Terschka, immer sinnender und ein anerkannter Virtuose der Reitkunst, fiel ein:

Die Hauptsache an dem Mittel werden das Oel und vielleicht auch die Haare gewesen sein! Wann kam denn dieser Mann hier in die Gegend?

In den Jahren vor den Befreiungskriegen, etwa 1808, erzählte der Onkel. Es war ein schlanker und gewandter Mann, der bei den Holländern in Java gedient hatte …

In Java! sprach Terschka leise und sein sonst schon immer wachsbleicher, fast gelblicher Teint nahm eine eigenthümliche Färbung an … Er verlor in dem Grade seine gewohnte Elasticität, daß er jetzt ganz als der Vierzigjährige erkannt werden konnte, der er war, während sonst der viel jugendlichere Benno fast älter aussah, als er …

Er rühmte sich mancher geheimen Jägerkunst und manchem galt er für einen Freischützen! fuhr Onkel Levinus fort … Aber sein Lebenswandel war achtbar und stimmte wenig mit dem Ton, der damals auf Schloß Neuhof herrschte, wo ihn der Kronsyndikus anfangs zum Revierförster machte … Es gab einst eine wilde Zeit auf dem Schlosse da, das wir heute so still und gespenstisch sahen! … Freiherr von Wittekind war durch die Verführungen des damaligen kasselschen Hofes in ein Leben der 136 tollsten Liebeshändel gerathen. Immer hab’ ich gefunden, daß Männer bei einer solchen Lebensweise zuletzt von ihrer Sinnenglut förmlich unterjocht werden. Jeder Gedanke verwandelt sich ihnen in Unlauterkeit, jeder Blick auf ein Weib in Begehrlichkeit, jede Voraussetzung über die Tugend des Menschen in den frechsten Glauben an schlechte Möglichkeiten. Damals war auf dem Schlosse eine Person allmächtig, ein Frauenzimmer zweideutiger Herkunft – eine gewisse –

Benno befreite den Onkel von der Verlegenheit, ganz offen über eine ominöse Beziehung zur Dechanei zu sprechen …

Legen Sie sich keinen Zwang an! sagte er. Frau von Buschbeck hat für die Dechanei nie existirt … Höchstens, daß jetzt ihre Schwester mit dem alten Windhack ihr Privaterstaunen austauscht, wie das hübsche Vermögen der Ermordeten, doch an zwanzigtausend Thaler, an den Bruder Hubertus testirt wurde. Die Stifter und Kirchen sind betrogen worden! Hammaker’s Vertraulichkeit mit der Alten beruhte auf den Codicillen, die er möglich zu machen wußte, um die durch Nück und unter Zeugenassistenz zweier Herren Schnuphase und Klingelpeter getroffenen gottseligen Bestimmungen für den Fall ihres Todes wieder aufzuheben …

Terschka war über die Ermordung der sogenannten Frau Hauptmann von Buschbeck unterrichtet und lauschte mit der größten Spannung …

Diese außerordentliche Zärtlichkeit einer Person, fuhr der Onkel fort, die nicht einen, nein mehrerlei Teufel im Leibe gehabt haben muß, diese auffallende Anhänglichkeit an den Mönch Hubertus ist eine Folge der Eitelkeit, da sich 137 Brigitta von Gülpen durchaus als die Frau Hauptmann von Buschbeck geberden wollte … Als Hauptmann war der holländische Lieutenant Buschbeck verabschiedet worden; er war nicht von Adel, auch nicht etwa schimpflich entlassen; aus eigenem Antrieb hatte er und leider vor Erreichung seines höhern Pensionsgrades seinen Abschied genommen. Man sagt, weil ein dunkler Schleier gehoben wurde, der auf seiner Vergangenheit ruhen soll … Ich kenn’ ihn nicht … Man spricht ja wol von ihm, es wäre ein Scharfrichterssohn? …

Auf diese Frage, die der Onkel an sein eigenes Gedächtniß richtete, wurde Terschka’s Auge das des Falken …

Diesem Fremdling, der in einer erwerbslosen Zeit, müde des damals nur noch einträglichen Kriegsdienstes, hingehalten mit seiner nur geringen Pension, die einfache Stelle eines Försters annahm, schenkte die damalige Wirthschaftsführerin des Freiherrn, Fräulein Brigitta, ihr Herz. Sie war feurigen, lebhaften Sinnes, häßlich dabei wie eine Fledermaus. Der Fremdling konnte sich ihrer Zudringlichkeit nicht erwehren; der Kronsyndikus that nie etwas umsonst und wünschte auf diese Art von einer Person befreit zu sein, die ihm über den Kopf wuchs. Der Abenteurer mag aus Willensschwäche und verblendet von glänzendern Anerbietungen, zugleich berauscht von der Wildheit des damaligen neuhofer Lebens, Zugeständnisse gemacht haben, die er später bereute. Seinen spätern Aeußerungen zufolge will er niemals ein Weib geliebt haben, als nur einmal eine Tochter eines seiner Waldhüter, ein allerdings auffallend schönes Kind, Hedwig Stammer hieß sie, schlank, hochgewachsen, 138 die Schwester dieses Buckeligen, den er heute mishandelt hat …

Nach einer Pause des Erstaunens über diese Zusammenhänge fuhr der Onkel fort:

Hedwig Stammer wurde im stillen seine Liebe und bald entdeckte diesen Treubruch, wie sie es nannte, die Megäre auf dem Schlosse. Sie ersann eine Rache, zu teuflisch um sie nur nachzudenken, wenn nicht die Umstände Begünstigungen zur wirklichen Ausführung des Unglaublichen gegeben hätten. Die Leidenschaften des Kronsyndikus kannten keine Grenzen. Keine Tugend war ihm heilig. Kein Weib, dem er irgend sich glaubte nahen zu können, ließ er ohne Anfechtung. Dabei begünstigte ihn sogar das Glück, ohnehin sein Reichthum und, wie das in solchen Fällen geht, die Courage. Ihm schien ein Widerstand unmöglich und so vermessen war seine Menschenverachtung, daß er sich an die Unschuldigsten wagte, ja durch Umtriebe aller Art es oft dahin zu bringen wußte, daß diese plötzlich in irgendeiner Weise wirklich von seinem Willen abhängig wurden. Hätte der Mann auf einem Throne gesessen, er würde den größten Tyrannen beizuzählen sein …

Ein Blick auf die Nebenthüren und ein Lauschen nach einem fernen Geräusch drückte die Furcht des Onkels aus, die Frauen möchten zurückkommen … Dem fast übersiedenden Wasser im silbernen Kessel sprangen Benno und Thiebold zugleich bei durch Mildern der Flamme …

Ich will es kurz fassen! fuhr der Onkel sich eilend fort. Der Kronsyndikus hatte sein Auge auf die Frau des Deichgrafen Klingsohr geworfen. Die Vertraute seiner Lüste, die Gülpen, unterstützte seine Hoffnungen, 139 weil ihn Unmöglichkeiten unerträglich im Umgang machten. Mit Verachtung zurückgewiesen, entbrannte er in nur noch wilderer Glut. Da entdeckte die Gülpen die Neigung ihres sogenannten Verlobten und schmiedete einen Höllenplan. Durch verstellte Handschriften machte sie die Deichgräfin, wie sie hieß, zur Correspondentin des Kronsyndikus. Die Eitelkeit des Frevlers war einer völligen Sinnlosigkeit fähig. Taumelnd in seinen Hoffnungen, die ihm leider nur selten fehlschlugen, glaubte er der Versicherung der Gülpen, die Deichgräfin warte nur eine Reise ihres Mannes ab, um ihn zu erhören. Dann würde sie selbst einmal aufs Schloß kommen. In einer Nacht, wo kein Stern am Himmel stand, der Kronsyndikus gegen Mitternacht von einem Gelage heimkehrte, wisperte ihm das Scheusal zu: Die Deichgräfin ist da! Sie bleibt auf die Nacht bei mir zum Besuch, das Wetter ist zu schlecht – Wo? ruft der Trunkene und folgt in rasender Begier dem Weibe, das ihn an ihrer knöchernen Hand im Dunkeln geleitet. Plötzlich ist ihr Licht erloschen, alles ringsum finster. In einer engen, dunklen Kammer trifft er eine schlanke, sich eben entkleidende Gestalt, wirft sich auf sie – und erst wenige Minuten später, als es zu spät war, erkennen zwei Menschen ihren grauenhaften Irrthum …

Die Männer saßen erstarrt … Es bedurfte von Seiten des Onkels kaum einer Erklärung, welche Rache hier ein weiblicher Bösewicht vollzogen hatte, der denn auch das Leben durch die Schlinge eines Mörders verlassen sollte … Dennoch erklärte der Onkel das Vorgefallene ausführlicher:

140 Brigitte von Gülpen hatte Hedwig Stammer, die sie tödlich haßte, allmählich an sich gelockt und sicher zu machen gewußt … In ihrer Waldwohnung suchte sie sie öfters auf, erklärte, die Untreue des Hauptmanns bräche ihr zwar das Herz, doch wolle sie sein Glück nicht hindern … Sie befahl nur dem Mädchen, die Besuche, die sie ihr, um ihren guten Willen zu zeigen, machte, dem „Herrn von Buschbeck“ zu verschweigen … Sie versprach eine glänzende Ausstattung, die Unterstützung des Kronsyndikus und lockte das arme Kind immer mehr und mehr an sich … Eines Abends, da sie es so veranstaltet hatte, daß Hedwig einen Auftrag im Schlosse auszurichten hatte, behielt sie sie bei sich, erzählte von dem „Herrn von Buschbeck“, Hedwig’s Geliebten, der noch diesen Abend aufs Schloß kommen müßte und mit dem Kronsyndikus von einer Jagdpartie zurückkäme. Es regnete, es stürmte. Sie versprach, Hedwig’s Ausbleiben über Nacht sogleich bei den besorgten Aeltern ansagen zu lassen und brachte sie in eine Kammer, wo sie zur Nacht ruhen sollte. Das arglose Ding, das bis zwölf Uhr vergebens gewartet hatte, entkleidet sich, läßt, da die Gülpen noch erst gute Nacht zu sagen zurückzukommen erklärte, die Thür offen, löscht auf Befehl das Licht, weil die Gülpen von den Wunderlichkeiten des Kronsyndikus und seiner Strenge gegen Untergebene spricht, und nun stürmt die Gülpen plötzlich herein, ruft: Buschbeck ist da! Er kommt … Hedwig fährt auf, rafft ihre Kleider zusammen – – Genug, drei Tage hielt sich das Weib, dem seine Rache nur zu gut gelungen war, vor der Wuth des Försters, dem die 141 Getäuschte, noch in der Nacht vom Schlosse entfliehend, sich sogleich entdeckte, verborgen … Buschbeck würde sie ermordet haben … sie wußte das … Der Kronsyndikus, damals noch sein eigener Gerichtsherr, verfügte gegen den Förster, der ihn persönlich anfiel, erließ sofortige Verhaftung, dann Dienstentlassung. Lachend verzieh er der Gülpen, nannte noch später, als in der That zufällig die in aller Unschuld abwesende Deichgräfin eines Sohnes genas, diesen, den jetzigen Mönch Sebastus, seinen wahren Sohn, d. h. den Sohn seiner Einbildung, seinen Sohn im Geiste. Hedwig Stammer verfiel in ein Nervenfieber und starb. Den sogenannten Hauptmann von Buschbeck wollten die französischen Gensdarmen zwingen, Kriegsdienste zu nehmen oder die Gegend zu verlassen. Er flüchtete sich nach Kloster Himmelpfort, wo ihn der damalige würdige Guardian Henricus beschützte, vollends als er nach dem Tode Hedwig’s in den Orden trat. Das böse Weib konnte sich nicht länger im Schlosse halten. Reich ausgestattet an Geschenken, für ihre Lebenszeit gesichert durch eine Pension, zog sie von dannen. Sie stellte sich so wahnsinnig verliebt in ihren Verlobten, daß sie alles, was sie von seinen Sachen als Andenken nur ergattern konnte, mitnahm, javanische Pfeilspitzen, chinesische Götzen, große ausgestopfte Vögel … Die Stammers wohnten dann später in einem Pavillon des Schloßparks und hatten das Gnadenbrot vom Kronsyndikus, der seine Jugendthorheiten späterhin, wie das so geht, wenn die Kraft nachläßt, zu bereuen anfing … Und schon einmal wurde ihm der Geiger zum Verhängniß. Dieser Taugenichts war es, der den Tod seines Sohnes 142 Jérôme dadurch veranlaßte, daß er diesen, der zur Pflege in einem Dorfe jenseit des Gebirges beim Pfarrer Huber, der jetzt hier in Witoborn steht, die Nachricht von der nach Hamburg gerichteten Flucht eines gewissen fremdartigen, schönen Mädchens anzeigte, das damals wiederum auf Schloß Neuhof, wenn auch freilich unter andern Verhältnissen, auftauchte –

Bis zur gänzlichen Vollendung seiner Erzählung gelangte der Onkel nicht, denn in diesem Augenblick kehrten die Frauen zurück …

Tief erschüttert schwiegen die Männer …

Was ihnen auf die Lippen ein ernstes Schweigen legte, war nicht blos das Entsetzen über das Vernommene, nicht blos bei Terschka der mannichfache, fast persönliche Antheil, den er an allen diesen Berichten zu nehmen schien, nicht blos bei Benno die Verbindung alles dessen, was er über Klingsohr und Lucinden wußte, und der Nachhall des grauenhaft dämonischen Wortes des Kronsyndikus: Im Geist ist doch Heinrich Klingsohr mein Sohn! – nicht blos bei Thiebold die Rückerinnerung an jenen Morgen, wo eine so böse Uebelthäterin ermordet gefunden wurde, und an die ihm noch unbekannte Wendung, die das Testament der Ermordeten genommen hatte (Bruder Hubertus sollte in der That das Geld angenommen, aber zu bestimmten Zwecken cedirt haben) – das ernste feierliche Schweigen wurde noch mehr hervorgerufen durch den Gegensatz, in welchem die reine, lichtumflossene, weiblich verklärte Gegenwart der Wiedereingetretenen zu dem Unreinen stand, das durch mensch-143liche Leidenschaft wie aus einem Schwefelpfuhle heraufbeschworen so im Leben ans Licht treten kann.

Die endlich von der Tante mitgebrachte Postmappe, aus der sie schon ihre eigenen Briefe und die für Paula herausgenommen hatte, bot Gelegenheit, daß sich die Empfindungen sammelten und eine Stimmung des Friedens und wenigstens äußerlichen Behagens wiederherstellte …

Auch von Püttmeyer’s Besuch erzählte jetzt die Tante … Das lebhafte Interesse, das daran der Onkel nahm, wurde an einem ebenso lebhaften äußern Ausdruck dafür nur durch die weit ausgebreiteten Zeitungen und das fortgesetzte Mahl verhindert …

Auf Schloß Westerhof war man sonst, was die Zeitereignisse anlangte, immer ziemlich spät hinter ihnen zurück. Die neuen französischen Ministerien wurden gewöhnlich erst bekannt, wenn sie schon wieder abgedankt hatten. Man hielt die Zeitungen der nahe liegenden Städte, las sie aber nur von hinten her nach vorn, erst in den Familiennachrichten und dann erst in der politischen Rubrik und diese überschlug man oft auch gänzlich … Paula durfte sogar keine Zeitung früher lesen, ehe nicht die Tante sie censirt hatte; denn schon lange kam es vor, daß Berichte: „Aus Witoborn“ oder: „Von der Witobach“ über die „Seherin von Westerhof“ oder über die „Dorste’sche Erbschaftsfrage“ schrieben. Seit dem Kirchenstreit war eine etwas größere Leselust eingetreten. Die Tante, Paula, Armgart, das Stift Heiligenkreuz schwärmten für den abgesetzten Kirchenfürsten. Onkel Levinus entzog sich dem gemeinsamen Geiste der Provinz um so weniger, als für ihn zwar nicht, wie bei Professor Guido Gold-144finger, schon der Schöpfer in der Erschaffung der Pflanzen und Blumen das katholische Princip voraus signalisiren wollte, doch die Geschichte, vorzugsweise die der alten Hindus, ihm entschiedene Tendenzen zum römischen Glauben verrieth. Oft schon hatte er mit dem Bruder Hubertus über den Glauben der Chinesen gesprochen und sah überall die Anknüpfungspunkte der Missionäre verfehlt. Er konnte oft auf einige Monate ganz die Chemie, leider auch die Oekonomie vergessen, nur um die Dreieinigkeit nicht in den Glauben des Confucius hineinzutragen, sondern sie „ganz evident“ aus ihm heraus zu entwickeln. Eine Reise nach Aethiopien, zunächst um daselbst dem wirklichen Vorhandensein des bekanntlich nur im englischen Wappen und in der Bibel vorkommenden fabelhaften Einhorns nachzuforschen, dann aber auch um sich über alles zu orientiren, was mit dem Cultus der „schwarzen Madonna“ bis zum Völkervater Ham zurück zusammenhing, wäre ihm schon bei geringerer Liebe zur Bequemlichkeit eine seiner bedeutendsten Lebensaufgaben gewesen … Den Ghibellinen gegenüber sagte auch er, wie hier alle: „Religion muß apart sein!“ d. h. in keine Verbindung und Abhängigkeit mit der sonst verbürgten politischen Loyalität treten.

Der Erörterungen über das Neueste in diesen Streitigkeiten gab es genug …

Terschka schwieg dazu … Er sah in seine Briefe, die zahlreich waren …

Einen schien er darunter zu vermissen. Er betrachtete die Poststempel und fragte:

Ist das die ganze heutige Post?

145 Armgart fiel ihm in die Rede und begann mit einer plötzlich aufleuchtenden, für die Stimmung des kleinen Kreises fast unpassenden Lebendigkeit und jetzt auch zu Benno gewandt, dessen schmerzlich fragende Blicke sie anfangs gemieden hatte:

Wann soll die Jagd sein? Ich gehe mit! Nicht auf Münnichhof zu den Transparenten, nein! Ich schieße mit den Männern um die Wette! Lassen Sie mir den Pancraz als Leibschütz, Herr von Asselyn!

Armgart! lautete der einstimmige Verweis aus des Onkels, der Tante und Paula’s Munde … Alle blickten dabei von ihren Briefen und Zeitungen auf …

Warum denn nicht? fuhr Armgart mit glühendem Antlitz fort. Kann ich nicht schießen? Ich hab’s vom Heydebreck gelernt! Soetbeer und Pancraz können bezeugen, daß ich vor Weihnachten auf dem Wege zum Stift im Niederholz ihnen begegnete, dem Pancraz die Flinte aus der Hand nahm und einen Hasen traf, der unfehlbar mir über den Weg gelaufen wäre! Ich wollte kein Unglück haben …

Die Männer mußten auflachen über diese eigene Art, dem Schicksal seine bösen Vorbedeutungen mit Gewalt zu vereiteln …

Die Tante sah nur kurz vom Brief einer guten Freundin auf und bemerkte:

Deshalb entdeck’ ich auch in deinem Zimmer immer die meisten Spinngewebe! Du denkst, Spinnen bon espoir. Ich aber denke, jedes Unglück, das sich nur durch Wildheit und Unordentlichkeit abwenden läßt, muß man getrost ertragen!

146 Auch dieses Streiflicht auf Armgart’s nicht eben besonders pünktliche Natur blieb nicht ohne ein Lächeln der Männer. Nur, daß sie hätten hinzufügen mögen: Aber laß uns doch über dich lachen, du süßer Narr! Gerade dein Koboldsgeist ist’s ja, der andern so himmlischer Abkunft erscheint! Rumore, wie du willst, verschleppe Bücher und Nähtereien und Federn und Dintenfässer; gerade darin liegt uns ja dein bestrickender Reiz! … Armgart faßte jedoch dies Lächeln nicht so. Düster blinzelte sie die Reihe herum und musterte, wer sich zu lachen erlaubt hätte … Vorwurfsvoll blickte sie besonders auf Thiebold, dem sie sogar laut sagte: Das amusirt Sie wol? … Benno’s Blick hielt sie nicht aus … An Terschka huschte ihr Auge noch scheuer vorüber …

Benno sah das ganze seit Wochen so befremdliche Wesen und staunte …

Inzwischen sprach die Tante von den Ombres chinoises und jetzt mit der größten Schonung. Sie rühmte die Philosopheme Püttmeyer’s ebenso, wie sie sie heute früh verworfen hatte … Sie kam darauf durch ihre Lectüre …

Ich lese da eben einen Brief von der guten Angelika Müller aus Paris! schaltete sie ein. Was ist die in neuen Verhältnissen! … Die Fulds sehen die Minister und die berühmtesten Namen bei sich … Ei, Herr von Terschka, Madame Fuld läßt sich Ihnen empfehlen … Und ob Sie nicht im nächsten Sommer wieder auf ihrer Villa erschienen? … Die neue Erweiterung des Gartens, des Pavillons, würde ganz nach Ihren Ideen gebaut werden, schreibt Angelika … Und wann Sie denn 147 nach Wien reisten? ließe Madame Fuld fragen … Ei, ei, Herr von Terschka, welches Interesse von einer so jungen und gewiß höchst liebenswürdigen Frau!

Armgart fixirte Terschka aufs lebhafteste, als er dies Lob der Frau Bettina Fuld bestätigte … Paula mußte ihre Hand auf Armgart’s Scheitel legen, wie gleichsam um ihre stürmenden Gedanken zu beruhigen …

Jede Lücke des nicht im wohlthuenden Zusammenhange bleibenden Gesprächs gehörte natürlich wieder Thiebold … Mit seiner immer lebendigen Theilnahme, mit seiner Empfänglichkeit für alles und jedes füllte er sie … Die Tante überhäufte ihn mit Thee, Zwieback, kalten Fleischspeisen und einem „Herr von Jonge“ nach dem andern. Er war eben der Liebling ihres Herzens. Als endlich die Rede fiel, daß die Männer wirklich noch auf den Finkenhof gehen und mit dem gräflichen Jagdpersonal die versprochene Rücksprache nehmen wollten, und Benno und Thiebold erklärten, sie würden von dort auf einem kürzern Wege zu Fuß nach Witoborn zurückkehren, protestirte die Tante mit Beseitigung aller ihrer noch unbeendigten Lectüre entschieden und behauptete, eine solche Gefahr vor Schneeverwehungen nimmermehr zuzugeben … Die jungen Männer versicherten, daß der Schnee fröre und ihnen diese Wanderung den größten Genuß gewähren, ja Bedürfniß sein würde. Auf die immer und immer wiederholten Einwendungen der Tante wurde zuletzt Armgart ausfallend und fand es sonderbar, Männern ihren Willen zu nehmen. Sicher hätte dies kühne Wort dann die wechselnde Ebbe und Flut im Gemüth der Tante zum Ueberströmen der letztern gebracht, wäre nicht der Onkel gleicher Meinung 148 gewesen und hätte erklärt, wie man nur den jungen Herren ein Vergnügen rauben könnte. Dabei that er, als wenn ja auch nur sein aufopferndes jahrelanges Leben hier unter den Frauen auf Schloß Westerhof schuld daran wäre, daß er nicht die anstrengendsten Entdeckungsreisen nach Cochinchina unternommen hätte.

Paula’s Schweigen gebot den Aufbruch zu beschleunigen … Es war ihnen allen schon geschehen, daß die Leidende eben noch theilnehmend ihren Gesprächen lauschte und plötzlich auf eine Anrede im Traum erwiderte …

Als die Männer gegangen waren – Thiebold mit bedeutsamen Seufzern, Benno vergebens auf den Händedruck hoffend, der ihm von Armgart sonst immer so unbefangen geworden, Terschka fast von ihr ausgezeichnet durch manche beflissene Frage, manche lebhaft erwidernde Antwort – überschüttete die Tante Armgart mit all dem Mismuth, der sich in den gespannten Zuständen ihres Gemüths seither angesammelt hatte. Von Tage zu Tage nahm die Reizbarkeit und Ungeduld Benigna’s zu. Ein ängstlicher Blick in die Zukunft verdüsterte ihr alles, was sie umgab, und schon lange war es immer nur Armgart, die der Blitzableiter aller ihrer Verstimmungen werden mußte.

Nein, je älter, desto unerträglicher wirst du doch, Armgart! rief sie und das noch in Gegenwart des Onkels. Seit du von Lindenwerth zurück bist, erkennt man dich nicht mehr! Verkehrt warst du schon immer; aber so vorwitzig, wie jetzt deine Aeußerungen sind, so keck, wie ich dich z. B. vorhin drüben im Durchstöbern der Postmappe fand, 149 bist du nie gewesen! Hat es das Fräulein Müller versehen, die in ihrer Geduld und Nachgiebigkeit sich jetzt sogar den Sitten eines vornehmen Judenhauses in Paris fügt, oder ist dir die Stiftsdame zu Kopf gestiegen oder ich weiß es nicht, was die Schuld trägt! Die Jagd mitmachen! Hasen schießen, die einem über den Weg laufen könnten! Wahrhaftig! Ich habe gar keine Geduld mehr für dich!

Nun, nun, nun, nun –! beschwichtigte der Onkel fortlesend …

Und Paula bat schmeichelnd:

Tantchen!

Armgart aber stand wie das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Alles Weh der Erde legte sich um ihren mit lächelnder Duldung geöffneten Mund …

Deine Mutter war aber ebenso! fuhr die erzürnte Schwester derselben fort. Und dein Vater, der nicht minder! duckte sie den aufblickenden Onkel nieder. Von einer Jagd kam auch deren erste Uneinigkeit. Monika wollte auch schießen können und ging mit auf die Jagd und als Ulrich einigemal fehlschoß, lachte sie und hielt es ihm mit Spott vor. Ein Mann kann vom Weibe viel ertragen, aber ihm unritterlich zu erscheinen, reizt. Zumal bei einer solchen Empfindlichkeit, wie bei allen diesen Hülleshovens! Ja, versteck’ dich nur jetzt so hinter Paula! Geh nur so herum und thu’, als wenn du deine Rechtfertigung wie eine verlorene Stecknadel im Zimmer suchtest! Auch liesest du nichts, du arbeitest nichts, die Vielliebchen werden wol nach einem Jahre fertig sein, Musik hörst du kaum, geschweige daß du sie wieder vornimmst; ganz wie 150 deine Mutter war, die auch noch jetzt, „hoch in den Dreißigen“, ein reines Kind sein soll! Auch an dir wird die Familie wenig Freude erleben …

Armgart, statt zu reden, hob die gefaltenen Hände gen Himmel …

Paula besänftigte die Tante, die jedoch von Armgart selbst unterbrochen sein wollte, um versöhnt zu werden. Armgart blieb still. Keine Schmeichelküsse, keine Liebkosungen, keine Scherze, nichts gab sie wie sonst. Ebenso erblaßt, wie vorhin hocherglühend, ging sie im Zimmer hin und her, machte sich mit ihren glänzend aufgeschlagenen Augen dies und das zu schaffen und sagte nur zur „factischen Berichtigung“:

Die Mutter ist fünfunddreißig Jahre!

Der Onkel wollte jetzt auf sein Zimmer und Frieden und die Stimmung der Güte zurücklassen. Das neue Aufbrausen der Tante unterbrach er durch ein lautes Vorlesen eines der erhaltenen Briefe. Dabei hielt er seine linke Hand in die Höhe. Er wollte, daß sie Armgart ergriff und als Ablenker ihrer Stimmung benutzte. Armgart sah die freundliche Geberde und stürzte auch auf die Hand zu, küßte sie und drückte sie heftig an ihr Herz.

Jetzt empfand die Tante den Neid ihrer „Liebe“. Dieser Neid äußerte sich in Thränen, die ihr auf die Wange rollten …

Des Onkels fest vorlesende Stimme hinderte noch die Rückkehr zu den sich schon in Güte lösenden Empfindungen; vorläufig war es Paula, von der die Tante ans Herz gezogen wurde …

Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen dankte 151 (nach des Onkels in alle diese aufgeregten Stimmungen eines hochgestellten, edlen, doch von seinen vielen Erlebnissen tief erschütterten Familienkreises beschwichtigend einfallendem Bericht) auf das von ihm erhaltene Schreiben aufs verbindlichste. Sie war glücklich in England angekommen, wohnte auf dem Lande bei Lady Elliot und wünschte ihrerseits nur den friedlichsten Fortgang aller der Dinge, die Gottes Rathschluß über das Schicksal beider Linien verhängt hätte. Erst bei einigen religiösen Anzüglichkeiten und der Erwähnung der Krankheitszustände der jungen Comtesse hörte der Onkel im lauten Vorlesen, das er zur Dämpfung des Streites wörtlich begonnen, auf …

Die Tante benutzte die nun entstehende Pause und knüpfte an London Betrachtungen über Paris und würde sich selbst auf Aethiopien, China und die Chemie eingelassen haben, wenn das Gespräch nur ausdrückte, wie sehr „ihr Herz“ bei alledem unter Armgart’s Trotz und verhärteter Gesinnung litt …

Der Sturm der Gemüther war indessen vorüber … milderes Wetter stellte sich ein und endlich schlug es neun, wo man auf dem Lande schon an die Nachtruhe denkt …

Der Onkel erhob sich zuerst und erklärte wiederholt, noch arbeiten zu müssen … Die Tante plauderte von einigen Anmeldungen ihrer Freundinnen zu den Exercitien, die Pfarrer Müllenhoff auf Betrieb der Frau von Sicking arrangiren sollte …

Der Onkel erwiderte:

Aber der rauhe Mann eignet sich doch gar nicht zu 152 dergleichen! Die indischen Fakirs sind keine Braminen! Im Ganges gibt es mancherlei Bäder! Ich hoffe, daß er nichts unternimmt ohne den Domherrn, seinen Vorgesetzten …

Die Tante, mit dem unendlichsten Bedürfniß nach Einverständniß, stimmte vollkommen diesen Aeußerungen bei. Auch sie fand Müllenhoff’s Weise so übertrieben, so aufreizend, daß es für die Religion selbst Gefahr brächte …

Und der Onkel fiel ein:

Wie ich immer gesagt habe …

Wie Sie immer gesagt haben … bestätigte die Tante …

Den Finkenhof kann man den Leuten nicht nehmen …

Den kann man ihnen nicht nehmen …

Man macht dem Mann alles nach Wunsch …

Und doch ist ihm nichts recht …

Den eigenen Eingang zur Sakristei in unsrer Kapelle geb’ ich ihm auf keinen Fall …

Wie werden Sie denn! …

Seine Manieren sind unglaublich! Mitten in der heiligen Messe putzt er an den Leuchtern und schüttelt den Kopf über den alten Tübbicke …

Den guten alten Tübbicke …

Armgart kam jetzt wirklich zur Gruppe, die der Onkel, die Tante und Paula bildeten, mit hinüber …

Die Schulkinder, fuhr der Onkel fort, läßt er eine Stunde lang knieen, um ihnen ihre sogenannte Kniesteifigkeit zu vertreiben!

Zu Lichtmeß will er Unterricht geben im richtigen Tempo des Rosenkranzgebetes!

153 Diese Harmonie braucht der Himmel nicht, wenn’s nur in unsern Herzen keine Dissonanzen gibt!

Wer jetzt ein Blumenstöckchen in eine Kapelle stiftet, von dem will er vorher die Anzeige haben, ob er auch keine Alfanzereien bringt!

Und ich denke, wenn ein liebend Gemüth einen Tannenzweig brächte oder ein thönernes Lämmchen …

Es ist das gewiß auch eine kindliche Gabe!

Ei, es hat sogar einen ernsten Sinn und erinnert an manchen bedeutungsvollen Mythus, der bereits bei denen alten Aegyptern als eine Vorahnung zu betrachten war zu manchem heiligen spätern Gebrauch!

Die Tante gähnte nun zwar, sagte aber:

O Sie sollten ihm das alles einmal auseinandersetzen, lieber Hülleshoven!

Der Onkel küßte jetzt Armgart … Das süßeste Einverständniß schien hergestellt … Nur Eines fehlte noch, daß auch die Tante mit Armgart sich ausdrücklich aussöhnte …

Aber dieser feierliche Moment blieb nach der Entfernung des Onkels aus …

Paula ging … Die Diener waren schon zugegen … Armgart sprang sofort hinter Paula her und schloß sich ihr an … Die Tante blieb allein … Sie blieb es einige Minuten … Niemand kam zu ihr zurück … Thränen traten der alten Jungfrau in die Augen und mit einem Gefühl des Vorwurfs, das ihr über diese und ähnliche Dinge sagte: Deine Strafe das für die alte Zeit! ging sie auf ihr Zimmer.

Armgart! sagte inzwischen Paula, als sich diese ihr 154 anschloß und ihre schlanke Hüfte krampfhaft umfaßte. Du solltest bei der Tante bleiben!

Wenn ich in meinen Thurm gehe, poch’ ich noch einmal bei ihr an und sag’ ihr gute Nacht! flüsterte Armgart …

Sie ließ den Diener, der leuchtete, vorangehen …

Armgart durfte nicht mehr in Paula’s unmittelbarer Nähe schlafen wie sonst. Seit ihrer Rückkehr von Lindenwerth hatte beide die Tante getrennt … Aber Abends noch eine Weile mit Paula, wenn diese sich wohl fühlte, zu plaudern, ließ sie sich, so oft sie in Westerhof verweilte, nicht nehmen …

Die Vorhänge des Schlafzimmers Paula’s waren schon zurückgelehnt … Im Vorgemach, wo ein kleiner Ofen stand, der geheizt wurde, half Armgart die geliebte Freundin entkleiden … Oft sprach Paula schon im Gehen und Stehen Dinge, die „einer andern Welt angehörten“ … Dann brachte sie Armgart zur Ruhe, rief einem Kammermädchen, das in der Nähe schlief, und trennte sich nicht eher von beiden, als bis Paula in völligen Schlummer versunken war …

Heute leuchteten Paula’s Augen hell auf … Eine stille Sehnsucht lag in ihnen … eine Sehnsucht, die Armgart vollkommen verstand …

Stürmisch warf sich Armgart der Freundin, die zu ihr herniederblickte, an die Brust und rief mit erstickter Stimme: Ach! Ach! Was sind wir doch unglücklich!

Meine gute Armgart! erwiderte, dies Wort ablehnend, die ältere Freundin. Warum unglücklich? …

Paula’s Leben war ja ein einziges Schmerz-, oder ein 155 einziges Wohlgefühl, sie wußte es selbst nicht zu unterscheiden … Sie liebte einen Priester; sie hatte auch das sichere Gefühl, wieder geliebt zu sein … Geständnisse hatte es früher nicht und auch jetzt noch nicht gegeben … Vor Armgart aber war alles das nicht mehr geheim … Selbst wenn Armgart zu viel Scheu gehabt hätte zu sagen: Du liebst den Domherrn! stand es doch schon lange ohne Worte zwischen ihnen fest … Selbst das stand fest, daß sogar Paula’s etwaiger Eintritt in ein Kloster eine Art höherer Vermählung mit Bonaventura sein konnte … So flossen noch die reinen Gedanken, die Jungfrauenseelen mit der Liebe verbinden, gleichviel, ob zu Besitz oder zu Entsagung, bei beiden mit ihrem religiösen Pflichtgefühl ineinander …

Seit einiger Zeit trat Armgart freilich immermehr aus dem Bann des harmlosen Träumens heraus … Lag das an der Flucht aus der Pension in Lindenwerth? … Oder jetzt an dem Zusammenleben mit so vielen liebebedürftigen jungen und alten Mädchen im Stift? … Lag es an ihrer eigenthümlichen Schwankung zwischen den Bewerbungen Benno’s und Thiebold’s? … Sie regte schon seit lange jeden Abend die Phantasie ihrer Freundin auf. Auch heute durch Klagen über des Domherrn Ausbleiben … über Thiebold’s Fragen, die sie andeutete … über Benno, „der sich so sicher dünkte“ … und endlich stockte sie …

Paula fragte befremdet:

Du hast heute etwas –?!

O könntest du doch für mich in die Zukunft sehen! rief Armgart wie aus tiefster Seele heraus …

156 Laß das! Laß daß! erwiderte Paula schmerzerfüllt.

Armgart hob ihre Augen bittend auf … Das Weiße darin blitzte wie Email, wie feuchtes Silber …

Paula wandte sich, als unterläge sie schon diesem Glanz und Schimmer und Armgart’s Bitten … Laß uns beten! sagte sie … beten gegen Versuchung!

Paula! – hauchte Armgart. Morgen mußt du mir sagen – ich frage dich –

Nimmermehr! rief Paula. Ich verbiete dir alles! … Und wie wild erregt von einer Furcht, die sie plötzlich in allen ihren Geistern vor sich selbst ergriff, fuhr Paula fort: Ihr seid so grausam gegen mich! Ihr tödtet mich noch!

Paula! bat Armgart …

Ich kann ja so nicht fortleben! sprach Paula zitternd vor Aufregung. Laßt mich doch sein, wie ihr alle seid! Jesus Maria! Es sprengt mir noch das Herz! Geht das so fort, muß ich wünschen, jenes Mädchen kehrt zurück, das allein gehindert hat, daß ich im Traume sprach! Wenn sie kam, wich jede Kraft von mir! Ich will ja nur sein, wie alle andern Menschen sind …

Armgart wußte, daß Lucinde gemeint war, jene Lucinde, in deren unmittelbarer Nähe Paula mit der Zeit ganz von ihrer Ekstase zurückkam, doch mit großem damit verbundenen physischen Schmerz, den auch Armgart damals an der Maximinuskapelle selbst empfunden haben wollte, als sie Lucinden nach den Beschreibungen Paula’s sofort erkannte …

Beide Mädchen standen lange schweigend und in Wehmuth verloren … Ob sich ihnen wol vergegenwärtigte, daß Paula genesen konnte, wie alle Aerzte sagten, durch – 157 die Liebe? Ob sie wol ahnten, daß Bonaventura auch da von sich sagte, was er, zwischen Lucinde und Paula in der Mitte der Versuchungen stehend, am Abend jener Beichte verzweifelnd ausrief: Ein Priester bist du! Ein Mensch ohne Leben! Ohne männliches Zeugniß für deinen Schöpfer! … Das alles lag nur dunkel in ihnen. In allen jungen Mädchenherzen, ehe das Los über sie geworfen ist, zittert nur ein schmerzlichsüßes Ahnen von ihrem zukünftigen Geschick. Bald leiser, bald stürmischer meldet sich die Sehnsucht, die Pforte der Zukunft geöffnet zu sehen. Oft ist es wol plötzlich ein jugendlichschöner Gott, der aus düsterm Nebel heraus, wildfremd, wie das herrlichste Ebenbild der Mannesschöne, mit riesiger Umarmung die Harrende umfängt; oft liegt aber auch nur ein ödes, trauervolles Einerlei auf ihrem unbestimmten Innern und alles, was ihr wird und was sie beginnt, ist ihr wie Ohnmacht und todte Dämmerung.

Da rief der Wächter wieder die Stunde …

Schlaf wohl! hauchte Paula und drückte Armgart an ihr Herz …

Armgart wollte anfangs gehen …

Aber, zur Thür des Vorgemachs angekommen, blieb sie stehen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rief:

Paula! Paula!

Was hast du? sprach diese, sie wieder näherziehend …

Ein „Du mußt – mir –!“ preßte sich von Armgart’s Brust …

Ich begreife dich nicht – Was muß ich?

Armgart zog einen Brief aus der Brust und sagte:

158 Paula! Diesen Brief – an Terschka – den hab’ ich aus der Mappe – zurückbehalten … Ich gebe ihn nicht eher ab, als bis du ihn gelesen hast!

Armgart! rief Paula und zitterte … Sie ergriff vorwurfsvollen Blicks den aus der Residenz des Kirchenfürsten gekommenen Brief und fragte:

Von wem ist er?

Von meiner Mutter! … Was hat Terschka – mit meiner Mutter! Sie lieben sich! Paula, Paula! Das ist mein Tod!

Armgart! sagte Paula beruhigend …

Nur Ein Ziel meines Lebens hab’ ich! fuhr Armgart in zitternder Erregung fort. Meine Aeltern auszusöhnen! Sonst will ich nichts! Wüßtest du nur, wie ich neulich in Witoborn war! Ich war bei Hedemann! Ich ließ mir eine Stunde lang vom Vater erzählen! Ich lieb’ ihn mehr, als meine Mutter – nein, ich liebe auch meine Mutter – mein Gelübde hat der Himmel und ich will es vollziehen und wär’s durch meinen Tod …

Armgart faltete die Hände und hielt sie empor zu einem Crucifix, das an der Wand hing …

Warum soll – aber Terschka nur – nicht deiner Mutter schreiben und sie – an ihn? fragte Paula, entsetzt über den fanatischen Ausdruck der Gefühle Armgart’s …

Wie, entgegnete Armgart; dieser lebhafte Briefwechsel? Diese Begeisterung, wenn er von ihr spricht? Neulich seine schnelle Reise, um die Gräfin zu begrüßen? Nur ein Vorwand war es, um die Mutter zu sehen! O, schon im Hüneneck sah ich an der Eile, mit der er 159 die Zimmer bestellte, wie er sie liebt! Und sie, sie – sie könnte –! Dieser Brief ist von ihr – Paula, du, du sollst ihn lesen!

Paula verwies Armgart ihr Ansinnen mit Unwillen; denn sie wußte wol, was Armgart meinte … Sie wußte, daß der Brief nicht erbrochen zu werden brauchte; sie wußte, daß sie alles lesen konnte, was man ihr im Hochschlaf auf ihr Nervengeflecht legte … Ob auch uneröffnete Briefe? … Versucht war es nicht … Hier glaubte man nicht an die Unmöglichkeit.

Wie eine unreine Versuchung wehrte Paula Armgart’s überredende Geberde ab. Sie sagte schmerzerfüllt, doch entschieden:

Gute Nacht, Armgart! … Misbrauche mein Unglück nicht! … Ich verbiete es dir! … Es muß ein Ende damit werden … Gott wird mich erlösen … Sei gut, Armgart! … Sei gut! … Und nun, gute Nacht!

Damit verschwand sie hinter dem Vorhang, den sie wieder fallen ließ, und schloß die Thür zu ihrem Schlafgemach ab … Wieder tönte das Horn des Wächters …

Armgart ging zögernd auf ein Zimmer weiter zurück … Sie hörte noch, daß sich Paula sogar einriegelte … Dann trat sie durch eine Nebenthür auf den kalten Corridor …

Ein Diener folgte und begleitete sie mit einem Licht in ihren Thurm …

An dem Zimmer der Tante ging sie vorüber, ohne daß sie es merkte. Ein äußerster Entschluß kämpfte in ihr, ein tiefes Sinnen beherrschte ihr ganzes Sein …

160 Krampfhaft preßte sie den Brief, den sie in ihr Busentuch gesteckt hatte … Schon hatte sie den Finger an das Siegel gelegt … schon zuckte die Hand, es aufzureißen … Sie dachte an den Beistand der Beichte, der sie leichter über die Folgen eines solchen Vergehens hinwegführen würde … an Bonaventura … an Benno …

Da verließ sie allmählich der wilde Muth …

Der Diener stand und harrte ihres Befehls …

Legt das – in Herrn von Terschka’s – Zimmer! hauchte sie. Es ist ein Brief für ihn, der – vergessen wurde …

Der Diener nahm den Brief und wandte sich den Zimmern Terschka’s zu.

Armgart verschwand in ihrem Zimmer.

161 6.#

Drei Männer, in Mäntel gehüllt, schreiten in die Winternacht hinaus …

Nicht mondhell ist sie; nur sternenlicht … Und weithin über das wellige Land liegt mitleuchtend die Decke des Schnees …

Grabesstill rings die Welt … Schlummernd alles Erdenloos … Wer flüsterte sich nicht: Gibt es denn geheimnißvolle Kräfte, die schicksalsmächtig über Raum und Zeit und das Herz in unserer Brust gebieten? Und wer antwortete nicht: Ihr stilles Hüten glaubt man jetzt zu hören … Winterlandschaftsstille ist – Friedensmahnruf – Sehnsuchts- – Ahnungsweckruf …

Anfangs noch hallte zwischen Terschka, Benno und Thiebold der erlebte Tag und Abend nach. Man bewunderte die Kraft der Vision, die sich so in die Vorgänge des Leichenconductes hatte versetzen können. Benno mußte Thiebold zurückhalten, der eine natürliche Erklärung, die Terschka gab, nicht wollte gelten lassen. Terschka hatte gesagt: Wer die Gegend und die Verhältnisse kennt, würde 162 sich die Scenen, die heute vorfallen konnten, auch ohne ein Wunder haben ausmalen können! … Aber die Unterbrechung? entgegnete Thiebold … Benno antwortete statt Terschka’s: Ich will der Natur nichts von ihren Tiefen nehmen. Aber ich glaube doch, daß wir uns durch die Gewohnheiten des Daseins in geistigen Dingen zu sehr die Sinne abstumpfen, wie in leiblichen. Ein bis in sein Alter mit den einfachsten Speisen Aufgezogener ist empfindlich für jede Veränderung seiner Nahrung. Ebenso gewöhnen wir uns durch Misbrauch unserer seelischen Kräfte die Feinfühligkeit des geistigen Spürsinns ab. Bei der Ankunft am Düsternbrook mußte die junge Gräfin etwas Unerwartetes voraussetzen; sie dachte an die Eiche, sah sie und nahe lag das allen Bekannte.

Von Armgart wurde nur bei Gelegenheit – der Hasen gesprochen, deren Spuren sich an kleinen Eindrücken links und rechts im Schnee auf den Aeckern verfolgen ließen … In Thiebold und Benno dämmerte die Ahnung, daß Terschka es war, um dessentwillen sie von Armgart vernachlässigt wurden … Ja, beim Weidwerkgespräch wieder sah man Terschka’s blendende Eigenschaften. Auch Benno und Thiebold verstanden sich darauf, aber nicht so, wie er, der die Jagd verfolgen konnte bis auf alle Vorzüge neuer Entdeckungen aus den Gewehrfabriken von Suhl und Lüttich. Von Terschka sah man täglich das Erstaunenerregende. Der schmächtige bleiche, immer bewegliche Fremdling war ein Reiter, der im Sturm dahinflog. Manches Roß, das den Koller hatte, bestieg er und bändigte es wie ein Beschwörer. Noch neulich, wie ein dem Grafen Münnich gehörendes Thier sich 163 unter ihm schmiegte, wie es die mit seiner Linken mächtig geschwungene Reitgerte über den Kopf hinweg fühlte, sich krümmte bis zur Erde und den Kopf fast in den Schnee bohrte, dann wieder aufschnellte, mit beiden Hinterfüßen sich ebenso rasch auf die Kruppe setzte, dann davonflog pfeilgeschwind und fast wie mit Scham, sich überwunden zu sehen – da war das ein Schauspiel voll Vernichtung für Benno und Thiebold; Armgart stand dicht in der Nähe und sagte nur immer: Nein, nein, ich habe gar keine Furcht für Herrn von Terschka! …

Nach einer halben Stunde war der Finkenhof erreicht. Versteckt lag er unter Bäumen und Wallhecken. Eine Mühle, ein Tanzhaus, eine Kegelbahn, ringsum Nebengebäude; ein großes Anwesen. Den Finkenmüller hatten Schank und Mehlsack reich gemacht inmitten mannichfachen Elends. Auf der Saline, bei den Kalköfen, in den Moorbrennereien wurde schnell baares Geld verdient, ebenso schnell auch glitt es wieder weg und meist im Finkenhof, wo Sonntags die bekannte falschgestimmte Trompete ländlicher Musik von vier Uhr Nachmittags bis zehn Uhr zu Tanz und Jubel zu locken nicht müde wurde.

Anfangs schien es auf dem Finkenhof stiller, als man erwartete. Schon besorgte man, die gräfliche Jägerei nicht anzutreffen. Man hätte sie aufs Schloß rufen können. Terschka weilte aber gern unter den hiesigen Menschen; sie hatten ihn mit Haß empfangen; schon waren alle für ihn eingenommen … Wir kommen zu spät! sagte er und deutete auf manchen Heimkehrenden, der an ihnen vor-164überging und grüßte … Dann fragte er sie … Es hieß: Die Jäger sind da, Herr Baron!

Nun bogen sie vom Fahrweg ab und sahen den Finkenhof hell und belebt. Der jeden Morgen frisch aufgeeiste Bach schien zu dampfen. Die Kegelbahn hatte Licht. An den wie mit Fett bestrichenen Fensterscheiben hätte man Scenen aus dem vaterländischen Rekrutenleben an die gegenüberliegende Wand gemalt erblicken können: „Fritze riecht zum ersten male Pulver“ oder: „Fritze macht die erste Bekanntschaft mit blauen Bohnen“, alles im Stil von Krähwinkel ausgeführt … Im Tanzsaal ist’s still; aber im Wirthshaus sitzen Menschen genug und Gesang sogar gibt es. Benno sagte: Ihren Volkstanz stampfen sie! Den lustigen Pfaffen von Ystrup! Und schon hörte man:

He, he! Der ist zu arm,
Daß Gott erbarm’!
He, he! Der ist zu dick,
Hat kein Geschick!

Behalte die Besinnung, wer kann, der da eintritt in diesen Dampf und Dunst von Hitze und Taback und Bier und Branntwein! Unter einem Heiligenbild an der Seite des Flurs hängt eine Lampe, eine ewige sogar; Fidibus von dünnen Holzspänen liegen daneben: man kann sich Pfeifen und Cigarren an ihr anzünden. Die drei Gäste thun es, um ein Antidoton zu haben gegen die Dünste, die ihrer drinnen harren. Was jedoch stärkt das Ohr, diesen Gesang zu ertragen, der mit einer Festigkeit, wie wenn man Holzblöcke in die Erde rammt, den Eintretenden entgegenbraust? …

165 Jetzt ertönt das „He, he!“ plötzlich schwächer und die Pfeifen gleiten einen halben Zoll aus dem Munde. Man erkennt die Eintretenden. Eine Magd, zu gleicher Zeit an zehn Fingern zehn Biergläser in der Schwebe haltend, blinzelt um den Weg zu weisen mit den Augen dahin, wo die hochgräfliche Jägerei sitzt, hinter einen Ofen von einer so pagodenhaften Dimension, daß Onkel Levinus über die gelegentliche Aeußerung studirt haben würde, zwischen den Oefen der witoborner Heide und den alten Bauten der Indier zu Dschaggernaut fände ein urweltlicher Zusammenhang statt.

Und während nun hier mit dem Oberförster, mit dem Wild- und Hegemeister, mit dem Jagdzeugmeister und einem Unterförster des letzten Grafen von Dorste-Camphausen die Vorbereitungen verabredet wurden, die zu einer großen Vertilgungsjagd in einem von Thiebold de Jonge um 80000 Thaler gekauften Walde – seufzend hatte er draußen die mangelnde Floßgelegenheit am Mühlbach erwogen – gehören sollten, zu einer Jagd, die unter den scheinbaren Auspicien des nächsten Nachbars, Grafen Münnich auf Münnichhof gehalten werden sollte; während die Zahl der Treiber, der Hunde, die Vorräthe des Jagdgeräths besprochen und von Benno mit lebhafter Orientirung die Schauplätze seiner geheimnißvollen Jugend unterschieden wurden, der Zehnterwald von der Birkenschonung, die Knüppelheide von der borkenhagener Saustiege – während dann auch noch der Finkenmüller, der Meyer, der Moorbauer ehrerbietigst in den Kreis eintraten, verfolgen wir einen Ankömmling, der langsam daherhumpelnd noch spät von Witoborn herüberkommt …

166 Es ist ein kleiner Mann, nicht unkräftig gebaut. Zwischen den Schultern trägt er die Last eines Buckels und unter den Armen, in ein Tuch gewickelt, einen länglichen Gegenstand, den man an einem hervorstehenden Fiedelbogen für eine Geige halten darf … Der weiße beulenreiche Hut ist tief über den Kopf gestülpt, den ein Pflaster am Auge entstellt … Ein grauer Mantel, angezogen wie ein Militärmantel, schützt den Wanderer auf seinem Wege, den er nur langsam fortsetzen kann, da er heute aus den Händen des Bruder Hubertus eine schlechtere Testamentszahlung vom Kronsyndikus bekommen hat, als ihm dieser in dem beim Pfarrer Huber in Witoborn niedergelegten letzten Willen zugedacht …

Es ist Stammer, der Geiger …

Alle wissen schon sein Unglück und jeder, der ihm begegnet, lacht seines Hinkens und seines Pflasters … Besonders gram ist ihm dabei niemand; Müllenhoff hatte schon Recht: Dies Volk hat zu lange die Milde des Krummstabs gefühlt und liebt Zechen und wildes Aufschlagen auf den Tisch und alle Sünden, die freilich dann so viele Wächter des Himmels, wie Witoborn einst zählte, auch wieder leichter vergeben konnten. Sie fehlen wol bei keiner Procession, sie werfen sich vor jedem Altar nieder, lassen sich jeden Besuch im witoborner Münster und jeden Kuß auf einen Reliquienschrein vom Küster schriftlich bescheinigen, um damit einst vor Gottes Thron oder bei einem Anliegen um freies Brennholz aus einem geistlichen Walde auftreten zu können; aber nirgends wird auch noch soviel wildes Naturrecht geübt, nirgends soviel Holz schon von selbst gestohlen, nirgends soviel Wild 167 im Mondlicht in die Büsche geworfen, mit Zweigen überdeckt und bei guter Gelegenheit harmlos von einem vorüberfahrenden Heuwagen abgeholt, nirgends wird dem damals nur langsamen Vorschreiten des Zollvereins und der nahen „Grenze“ soviel Vortheil abgeschmuggelt für Kattun, Zucker, Kaffee, nirgends ein Hader mit dem Gutsherrn so listig geführt … Stammer fiedelte ihnen in alles das seine lustigen Weisen hinein oder sprach sogar über die alte und die neue Zeit in offner Rede und setzte einen Refrain drauf, eine Strophe gesprochen und eine gespielt, bis der Gensdarm kam oder der Meyer oder der Finkenmüller und die Schwänke des bösen Alten verbot, dessen lästernder Mund schon einst ein halbes Kind, Lucinde damals, aus ihrem Pavillon verbannt hatte nach dem Tode des Deichgrafen.

Mancher redet den Geiger an … Er knirscht fast mit den Zähnen vor Wuth … Mitleid wird ihm nicht; Alle wissen’s doch, boshaft ist er und Bruder Hubertus „der Abtödter“ ist der endlich zurückgekehrte Liebling der ganzen Gegend; die Kinder werden dem frommen Bruder doch wieder mit der dampfenden Schüssel entgegenkommen, wenn er sich mit seinem Topfe naht; er wird die Pferde und die Kühe und die Menschen heilen – und sieht er auch aus wie der leibhafte Tod und ist sein Lachen ein Grinsen wie aus einem Knochengesicht, die Mädchen fürchten ihn nicht, wenn er ihnen einsam im Kornfeld begegnet … sie wissen, daß er ihnen doch Briefe schreibt nach der Garnison, wo ihre Liebsten weilen, daß er ihnen doch heimlich Botengänge ausrichtet zu allen Husaren, die in Witoborn stehen …

168 An einem Kreuzweg sieht der racheschnaubende Stammer einen Mann, der des Weges nicht kundig scheint und nicht weiß, ob er geradeaus gehen oder lieber links sich wenden soll …

Landsmann! ruft der andere den Geiger an … Wo ist die Route nach Libori – Pfarrhaus –?

Stammer zeigte nach rechts:

Gerade da, wo Ihr herkommt! Oder dort drüben herum, wenn Ihr erst noch auf dem Finkenhof einheizen wollt! Es macht kalt!

Der Verirrte war ein stämmiger Mann mit Pelzkappe und Düffelrock und rothem Comfortable um den Hals und hatte die Hände in den Seitentaschen … Er kannte den Namen des Finkenhofes und fragte:

Geht Ihr dahin?

Auf zwei Beinen. Sind Sie fremd in der Gegend?

Aus Strasburg –

„O du schöne Stadt!“ sang der Geiger mit verbissener Lustigkeit. Ich bin ein Musikus, und Sie –?

Von Metier Perrükenmacher!

Möcht’ ich Ihnen meine gelben Haare verkaufen! Eine Hand voll schlug ich heute umsonst los! Daß dich! Und jetzt –?

Dionysius Schneid sah inzwischen das Pflaster über der Nase seines Auskunftgebers, bedauerte ihn, plauderte allerlei Schnick-schnack und klimperte zur Antwort auf die letzte Frage in der Tasche mit den Worten, Geld hätt’ er genug, um bis nach Polen zu kommen … einstweilen wär’ er hier in gräfliche Dienste getreten auf Schloß Westerhof, wenn auch noch ohne Livree; heute Abend 169 wollt’ er sich den Rest seiner „Bagage“ aus dem Pfarrhause holen, wo ihn auf einige Tage der alte Tübbicke „logirt“ hätte …

Sind Sie doch nicht gar der große Prophet, den immer Herr Tübbicke junior aus Paris erwartet? Der, der die Welt wie ein Stück Tuch zerschneiden soll und jedem einen Fetzen gibt – ja so! mir (sagte Stammer innehaltend und nach einer wunden Stelle seines Leibes greifend, die ihn schmerzte) schon meinen – Fetzen – von einem adeligen – Jagdrock –

Dionysius Schneid verstand nicht diese in den Bart gemurmelte Anspielung auf die Ursache der Schmerzen, die dem Geiger durch vielleicht zu schnelles Gehen gemehrt wurden … wol aber begriff er vollkommen die Anspielung auf die Communauté, die ihn einst mit dem jungen Tübbicke in Paris bekannt gemacht hatte …

Ha, ha, ha! fiel er mit grobem Gelächter ein. Diese Propheten stecken jetzt alle in Prison! Einer kriegt soviel Wasser und Brot wie der andere! Das ist die Theilung der Propriété!

Dionysius Schneid, der sich dem seinen Witz ganz freundlich begrinsenden Geiger befreundete, schien auf dem Schloß Urlaub für die ganze Nacht genommen zu haben und ging in den Finkenhof mit. Das Lachen der Vorübergehenden über den Buckeligen reizte seine Neugier nur noch mehr und am Finkenhof angekommen sah er, welchem verwogenen alten Knaben er folgte. Stammer zog, obschon ein tiefer Verdruß an ihm nagte, seine Geige aus dem alten Tuch, nahm seinen Fiedelbogen und hielt feierlichen Einzug mit schlenkernd 170 ausgeworfenen Beinen, frech und übermüthig einen Geschwindmarsch streichend, den er schon auf der Schwelle begann … Ein schallendes Lachen empfing beide Ankömmlinge …

Auch Dionysius Schneid ließ die brennenden Augen vergnügt im Kreise rollen. Das Lachen und Glückwünschen belustigte ihn … Die jungen Bursche sprangen auf und tanzten hinter dem Geiger her … Die Alten streckten ruhig fortrauchend die Beine vor, um ihn zum Fallen zu bringen … Stammer wich aus, warf seine gelbweißen langen Haare mit kecker Geberde hinterrücks und marschirte gerade auf den Tanzsaal zu … Dieser war nicht geheizt, aber einige Bursche sprangen doch an, ergriffen die Mägde, die aufwarteten, und würden wenigstens einmal mit bloßer Begleitung einer Geige den Pfaffen von Ystrup gestampft haben, wenn nicht der Meyer, der Moorbauer und der Finkenmüller selbst gekommen wären und eingedenk der Gelöbnisse, die sie heute dem Pfarrer gegeben, und trotz der vielbelachten, allgemein verbreiteten und alle guten Vorsätze entkräftenden Nachricht, nächstens würde bei Herrn Müllenhoff getauft werden, Ruhe geboten hätten …

Stammer vermittelte die neue Bekanntschaft mit solchen, die sich, wenn ein anderer Geld zeigte und „anfahren“ ließ, ihrerseits auch nicht „kohlen“ ließen … Die Hauptsache war Kartenspiel … Guthmanns und Herren von Binnenthals gibt es auch im Bauernstande und auf „Schafskopf“ kann man verhältnißmäßig ebenso geprellt werden, wie Piter in Pyrmont auf „Einundzwanzig“ … Stammer berechnete schon seinen Antheil, 171 als er Herrn Dionysius Schneid mit ein paar Salzsiedern bekannt gemacht hatte, die im glücklichen Kartenspiel Meister waren …

Inzwischen hätte das Geschäft der „Herren vom Schlosse“ hinter dem urweltlichen Kachelofen schon vorüber sein können. Indessen „ein Wort gibt das andere“ und wo sich einmal Thiebold’s Zunge festgehakt hat, kann sie sobald nicht wieder los. Aus einer löblichen Popularitätsbestrebung hatte man sogar dem Finkenmüller nicht abgeschlagen, von ihm, natürlich gegen Zahlung, drei „steife Grogs“ anzunehmen, die er ihnen als die vorzüglichste Leistung seiner Großmagd offerirte. Die Aussicht, daß Herr de Jonge den Wald kaufte, in dem nächstens zum letzten male gepirscht werden sollte, eröffnete dem ganzen Jagd- und Waldhutpersonal glänzende Aussichten auf Schlag- und Holzvermessungstrinkgelder. Bedauern, daß im Zehnterforst die Hirsche zum letzten male junge Tannenkeime knuspern sollten, war eine hier unbekannte Sentimentalität. Nur der Meyer äußerte von der künftigen Bestimmung dieses Forstes zu Eisenbahnschwellen einige fromme Seufzer, die an Müllenhoff’s Predigten erinnerten, der die Locomotive darzustellen pflegte wie die vom Teufel entführte Braut der Hölle, voran Satan mit einer Peitsche aus lichterlohem Kometenfeuer, hintenauf hockend Drachen und Ungethüme der Unterwelt und in den Waggons fahrend Juden und Judengenossen, Gottesläugner, Consistorialräthe, Offiziere und Gensdarmen, alles was zum Leben des neunzehnten Jahrhunderts gehöre … Ja auch Benno seufzte: Der Zehnterwald! Kein Holz hatt’ ich 172 so lieb, wie das! Stellen gab’s da, die für’s Edelwild ein Paradies waren! Büsche an kleinen Wassern, wie gemacht für die Brunst, einsam wie Mutterschoos!

Brauchte da ein Jäger wol aufs Blatten zu schießen? fiel als leiser Wehmuthsaccord vom Hegemeister ein …

Nein, sagte der Oberförster, wischte sich aber nur das „neu angefahrene“ Bier aus dem greisen Barte, keine Thräne, der ganze Forst gab schon einen Ton von sich, auf den die Rehe von allen Weltgegenden hereinkamen!

Den Ton des Schweigens! sagte Benno für sich und horchte auf die Terschka’sche lebhaftere Seitendebatte, wo man vom Düsternbrook sprach, als von einem Gehölz, wo seit Menschengedenken kein Hund „ein Wild stellte“.

Das führte denn auf das heute von Allen Erlebte …

Man legte sich freilich die Rücksichten auf, die der An- und Abstand geboten …

Man lächelte nur, munkelte, stopfte sich „mit Verlaub“ eine neue Pfeife und wartete auf den, der die meiste Courage hätte, um mit der Rede durchzubrechen …

Des Küfers Stephan Lengenich entsannen sich alle von vor Jahren …

Auch Löb Seligmann war jedem bekannt. Der hatte den Küfer zurückgehalten, als dieser seine „Entlastung“ feierlich vollzogen … Dann war Löb auf den Schrei der Lisabeth und die Störung durch den Geiger und den Mönch, wahrscheinlich auf Schloß Neuhof zurück verschwunden, wo ihn schon der Präsident von Wittekind zu schätzen begann …

Das nun war der Augenblick, wo man die Geige Stammer’s hörte und vor dem grellen Lachen, mit dem sein 173 Eintreten empfangen wurde, sein eigen Wort nicht verstand …

Nach dem, was Onkel Levinus über die alten Dinge von Schloß Neuhof erzählt hatte, mußten die drei Herren vom Schloß wol angenehm überrascht und begierig sein, sich diesen Geiger näher anzuschauen … Schon wurde seine Charakteristik gegeben …

Er ist im Kirchenbann …

Ein alter Kerl von fast sechzig Jahren schon …

Putzig ist’s, wenn er allein spielt! Immer erzählt er dazwischen eine Lüge, wie Eulenspiegel …

Oder auch manchmal eine Wahrheit! sagte der Oberförster und betrachtete wie mit einer Auffoderung, den Geiger näher zu rufen, Herrn von Terschka …

Terschka gab den Ausschlag, daß man sich allerdings eine solche Erscheinung nicht entgehen lassen sollte … Benno erneuerte gern eine Bekanntschaft aus seiner frühesten Jugend … Und so war denn Thiebold schon aus, ihn zu holen …

Umringt von denen, die sich nicht zu Dionysius Schneid und zum Spiele hielten, erschien der heute so übel zugerichtete, langhaarige Buckelige … Trüb beschienen ihn die wenigen Oellampen, deren Lichtstrahlen vollends ermatteten durch den Qualm der Pfeifen und Cigarren … Der Dunst des Ofens zwang die drei Herren vom Schloß, von diesem mit ihren Schemeln abzurücken … Der Finkenwirth bediente allseitig und entfernte von den Honoratioren die Nachdrängenden. Er that das wie mit Kammerherrenanstand …

Stammer schlenderte näher und grüßte trotzig … 174 Seine kohlschwarzen Augen lachten verschmitzt die vornehmen Frager an. Seine dünnen Beine verneigten sich fast wie mit einem frauenzimmerlichen Knix … Dann legte er beide langen Arme, die die Geige und den Fiedelbogen hielten, auf den Rücken, als wollt’ er sagen: Nun, was soll’s?

Terschka, der hier das Wort führte, sagte nicht ohne Würde, aber in seinem fremdartigen Dialekt:

Ei Sie! Ei Sie! Sie haben halt das Unglück, hör’ ich, dem Herrn Pfarrer nicht zu gefallen!

Ich gefalle mir selbst nicht! Sehen Sie nur! Der liebe Gott hat mich nicht richtig wachsen lassen! … Das war mit einem Herumdrehen des Rückens die Antwort …

Sie haben, fuhr Terschka nach dem Lachen fort, hör’ ich, sehr ein großes Talent! Auf der Geige könnte der Paganini von Ihnen lernen, sagt man! Ich würde an Ihrer Statt mein Publikum nicht groß genug haben können; selbst der Herr Pfarrer dürfte mir nicht fehlen, wenn ich einmal eine gute Sonate spielte …

Man murmelte und lächelte auch ihm … Stammer’s Gedanken weilten zwar jetzt mehr bei dem Kloster Himmelpfort, als bei Sanct-Libori, doch stellte er sich demüthig …

Schließen Sie Frieden mit Herrn Müllenhoff, fuhr Terschka, seiner Stellung eingedenk, fort. Er meint es gewiß gut mit euch allen! Auf Ordnung und gute Sitte muß halt auch die neue Herrschaft sehen! Ein Jünglings- und ein Jungfrauenbund ist gar so übel nicht und schließt die Freude keineswegs aus. Daß die Musik an sich Gott wohlgefällig ist, zeigt euch Sonntags jede Messe! … 175 Ihr aber, Stammer, sollt ja zur Geige allerlei Schnurren vortragen können! Nun, wenn Ihr in Euere Lügen ein paar Körner Wahrheit einmischen wollt, soll’s uns noch einmal so lieb sein! Trinkt und fangt dann mit einem Gespaß an!

Benno und Thiebold mußten dieser Weise, sich hier unter den Leuten vornehm und zugleich populär, streng und doch tolerant zu geben, „leider“ ihren ganzen Beifall schenken …

Knick! Knack! drehte Stammer inzwischen die Wirbel seiner Geige, probirte die Saiten mit dem Fiedelbogen und begann mit einigen Läufen seine hier landbekannte Art der Improvisation …

In einem singenden Tone sprach er:

Ein kleines Kind bin ich im Wald geboren – An einem schönen, schönen, wunderschönen Sommertag –

Mit rascher und gesprächsweiser Stimme setzte er hinzu:

Im Juli war’s – wo freilich die Tage anfangen kürzer zu werden … ich glaube, darum bin ich auch zu kurz in die Welt gekommen …

Die Leute lachten … Stammer ließ den Fiedelbogen langsam über die Saiten gleiten und sprach dabei:

Ach! Was ist nicht alles jetzt länger geworden! Die Tage sind’s am allerersten; auf die Art weil man so desto länger arbeiten muß! Sonst aber waren nur die Dreigroschenbrote länger und die Elle war’s und dick wurde jedermann – nicht blos die Wirthe …

In ein Lachen über den Finkenmüller wirbelte der Improvisator einige Läufer hinein, zog dann wieder, 176 als es stiller wurde, einen einzigen, langsamen und klagenden Ton und sagte:

O du schöne Zeit! Du liebe Zeit! Ja, hatte man sonst im Winter, wie jetzt, kein Brennholz, so ging man blos zu einem heiligen Domherrn! Ach, auch das war in der schönen Zeit nicht ’mal nöthig! Man brauchte blos seine Frau zu schicken oder seine Tochter und alles war in Ordnung …

In das gesteigerte Lachen, dem sich selbst die „Herren vom Schloß“ anschließen mußten, fiel ein wildes Dideldei der Geige wieder als Refrain ein …

Da liegt nun das Jägerkindlein in der Wiegen! fuhr er wieder, als sich alles beruhigt, mit elegischem Tone und halb singend fort. Ich war meiner Mutter ganze Lust! Milch – gab sie mir von unserer Ziegen –

Im leichten Tone setzte er mit raschem Sprechen den Lachenden hinzu: Kein Wunder, daß sich früh der Bock in mir regte …

Neues Lachen … der alte Possenreißer machte einen zweideutigen Bockssprung …

Elegischer aber fuhr er fort und fixirte die Jäger, die sich ihm gleichgültiger zeigten:

Es war noch nicht die Zeit, als wir zum ersten male hier zu Lande hörten: Straf mir Jott! Wat soll nun so en Junge werden? Er kann nicht Kammmacher, Stellmacher, Siebmacher, Korbmacher, Raschmacher, Schuldenmacher – kein Jäger nicht werden …

Die Jäger ließen sich den Scherz gefallen …

Lassen wir ihn das Schönste auf der Erden, einen 177 Musikus beim fürstbischöflich witobornschen Stadttrompeter werden! …

Eine wilde musikalische Figur folgte …

Der Stadttrompeter, setzte er dann wieder parlando zum singend Gezogenen hinzu, hatte damals die Wassersucht, was sonst keine Leibkrankheit der Musikanten ist. Dennoch lernt’ ich von ihm noch zu guter letzt die Flöte, die Clarinette, Waldhorn, Trompete, Violine und Guitarre, welche letztere ich sogar schon wieder einem Fräulein auf Schloß Neuhof beibringen konnte – die Stunde ein Maß Bier und ein übers andere mal sechs Pfennige …

Niemand von den „Herren vom Schloß“ erwartete wol, daß diese sentimentale Guitarrenspielerin – die raffinirte Mörderin der Schwester des Geigers war, die später wirklich auch selbst Ermordete …

Fräulein von Gülpen hieß die Dame! sagte Stammer. In stillen Abendstunden, wenn der Kronsyndikus in Kassel war, lockten wir die Fledermäuse ans Fenster und spielten und sangen: Guter Mond, du gehst so stille! bis eines Tages unterm Fenster ein Jäger anbiß. Schön war er nicht. Eine große Kaffeetrommel, in die man ihn in Java einsperrte, hatte ihn braun gebrannt –!

Alle wußten sogleich, daß Bruder Hubertus gemeint war und sahen voraus, daß sich der Buckelige vor den Herrschaften an ihm rächen würde über die Mishandlung, die ihm heute in ihrer Gegenwart angethan war … Terschka, Thiebold und Benno fühlten die Schauer der Erinnerung an die Erzählungen des Onkels Levinus …

Einige kühne musikalische Figuren, die des Geigers 178 jetzt ausbrechenden Zorn verriethen, wurden gestrichen als Zeichen, daß er an seine Pointe kam … Er fuhr singend fort:

So ging es her zu jener Zeit – heidi! … Auf Schloß Neuhof – heidi! heidi! heidi! … Viel Herrn und Damen – ei, ei, ei! … Musik und Tanz und Gasterei! … Und Parlez-vous français, Musje? … Italienerinnen – „Nix versteh!“ …

Blos unser Geld verstanden sie – setzte er parlando hinzu, und das kräftige deutsche Wort: „Tar Teifel!“ … Eine war so gut wie die zweite Baronin und sagte nur immer: „Tar Teifel!“ … Ihre Reitpeitsche hieb – hui! – über alles weg, was ihr in den Weg kam. Eine Sängerin war’s aus Rom –! „Nix versteh“, als „Tar Teifel!“ und nur „viel Geld“, „gute Geld“, „schwere Geld“ und Brillante – aber „von die echte“ –! „Tar Teifel!“ fluchte sie zu Wagen und zu Pferde! Aber schön war sie –! Und lachen konnte sie –! Auch über mich und sogar über den schönen Mann aus der Kaffeetrommel!

Wilde Variationen fielen wieder ein … Unfehlbar war eine Rache an Hubertus das Ziel …

Alle betrachteten Terschka, um gerade an ihm, an der Hauptperson des Abends, die Wirkung dieser Possen zu beobachten …

Da – ist – denn aber gekommen – fuhr Stammer mit pathetischem Nasenton fort – der großmächtige – Winter Anno Zwölf – und – (so ein einziges „und“ zog er schon wie eine lange, lange Note) und – da sind die Füchse – die Wölfe – die Franzosen – sind 179 gekommen – und daß Gott erbarm’! – man hätte seinem Feind nicht abgeschlagen ein Stück Pumpernickel, was ihm sonst nur eine Brotsorte von Stein gewesen war … Sakkernungdediö! Da zog auch Herr von Bosbeck einmal einen Tuchrock an –

Buschbeck! verbesserten einige Stimmen …

Terschka horchte immer mehr auf …

Die Hitz’ bei zwanzig Grad unter Null war ihm denn doch zu arg und ob er gleich ’ne Haut hat wie Leder, gegerbtes Rindsleder, der Herr von Bosbeck …

Buschbeck! verbesserten schon ihrer mehr …

Die hat er, eine Haut von Büffelleder! Ich hab’ sie oft genug selbst gesehen … Eines Tages sah ich sogar an Bosbeck’s Arm –

Buschbeck! schrieen die Zuhörer …

Bosbeck –? wiederholte Terschka für sich …

Bosbeck ist sein Name! rief jetzt kreischend der Geiger voll Tücke und auf der Höhe seiner Rache angekommen. Es ist ja ein Vetter von dem Bosbeck selig, der in Gröningen am Galgen hing …

Terschka schauderte ersichtlich …

Die Umstehenden schwiegen … Daß es mit des Mönches früherem Leben nicht geheuer war, wußten alle …

Sah’ ich denn nicht, krächzte der tückische Geiger, sah ich denn nicht – auf dem Leder hier am Arm, wo andere Menschen, sogar die Buckeligen, höchstens ein ehrliches Muttermal haben – ein Galgenrad eingebrannt? Ganz wie damals beim Liborius Pollmann, bei Dominicus Klapproth, Jean Picard und wie sie alle heißen, 180 die dazumal das Geld flüssig zu machen wußten – rund ist ein Rad und rund ist die Welt und –

Nun fiedelte und sang der Geiger eine wilde Melodie …

Da unterbrach ihn aber ein Lärm, der sich aus einem hintern Winkel erhob …

Schlagt den Hund todt! rief man dort aus kreischenden Kehlen durcheinander …

Alles, noch starrend und murmelnd und flüsternd über die unglaubliche Mähr, daß der fromme Bruder Hubertus auf seinem Arm könnte ein Verbrecherzeichen eingebrannt haben, wandte sich ungern …

Der Finkenmüller sah eine Rauferei und rannte schon fast den Geiger nieder und warf sich dazwischen.

Die Spieler hatten den von Stammer mitgebrachten Fremdling zu Boden geworfen … Sie, die gehofft hatten, einen reich mit Geld Ausgestatteten prellen zu können, waren es von ihm geworden … Geschuppt hat er! hieß es, und zwei bekannte liederliche Bursche rangen mit dem Voltenschläger, der sich wehrte, hielten ihn auf den Boden nieder, während andere den Finkenmüller zurückhielten und durcheinander schrieen: Wie er abhob, sahen wir’s! – Schon da, als er mischte! – Daumen hat er wie ein Dieb! …

Ruhe! rief der Meyer und machte den Herrschaften Bahn …

Terschka’s aufgeregtes Herantreten, Thiebold’s Zurückhalten der beiden Salzsieder, Benno’s energisches Bedeuten um Ruhe unterbrach die Fortsetzung der Künste des Geigers und des Kampfes, welcher letztere sich sogar 181 durch einen zufälligen Umstand plötzlich in Heiterkeit auflöste … Herrn Dionysius Schneid entglitt unter den Fäusten seiner überlegenen Angreifer ein Schmuck seines Hauptes, eine pechschwarze Tour, die über einen plötzlich sichtbar werdenden, kurzgeschnittenen rothhaarigen Schädel geklebt war … Das dann zu gleicher Zeit noch hineingeworfene Wort des hinzutretenden Geigers: Es ist ja ein Perrükenmacher! machte selbst Thiebold und Benno lachen, und so erhob sich der Strasburger und benutzte den Moment, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und heimlich zu entfernen …

Der Wächter draußen rief die zehnte Stunde … Alles beruhigte sich jetzt, gedachte der Heimkehr und ließ zunächst die „Herrschaften“ durch, die sich jetzt empfahlen …

Die Jäger gaben ihnen noch eine Weile das Geleite …

Der Meyer, der Moorbauer blieben zur Kritik des Abends zurück. Da sie bestätigten, daß Herr von Terschka plötzlich in ein auffallendes Schweigen verfallen war, wurden dem Geiger vom Finkenwirth für seinen frechen und lügnerischen Ausfall auf den Liebling der Gegend und einen Mann Gottes die bittersten Vorwürfe gemacht. Als Stammer entgegnen wollte, warf ihn der Wirth ohne weiteres zum Hause hinaus …

Draußen an den sich kreuzenden Wegen zerstreute sich dann alles …

Benno sagte zu Thiebold: „Tar Teifel!“ Den rothen Kerl muß ich doch schon irgendwo gesehen haben?

Auch Terschka hörte dies, glaubte aber die Rede wäre von dem Brandmal des Hubertus … Darf er denn 182 solange außerhalb seines Klosters leben? fragte er, nahm, als sein Irrthum berichtigt, seine Frage bestätigt worden, Abschied von Benno und Thiebold und ging mit dem Oberförster und dem Wildmeister dem Schlosse zu …

Die Schläge der zehnten Stunde erklangen von allen Seiten her durch die stille Nacht …

Die nächst hörbare Uhr war schon die von Schloß Westerhof …

Selbst vom schneebedeckten Jesuitenthurm in Witoborn hörte man in der nächtlichen Stille das bekannte hastige Jesuitenläuten …

Und öde wie die Winternacht, war die Stimmung der Freunde … Was sie jetzt hätten aussprechen können, war schon in diesen Tagen so oft gegenseitig ausgeschüttet worden … O wie war Armgart so seltsam geworden! Wie lag es winterlich auf dem Herzen der Freunde! Erstorben alle Blüten, verklungen alle Freuden, begraben die schönste Maienzeit des Lebens! … Der Scherz mit den „Vielliebchen“ war die letzte Erinnerung gewesen an den Ton vergangener Stunden …

Thiebold’s Art und sein schlechtes Gewissen litten es freilich nicht, daß er so ganz zu allem Herzleid schwieg. Seine Zunge wurde nicht müde bald die Geister des Jenseits, bald die Vicinalwege des Diesseits zu besprechen, bald den Doctor Püttmeyer, bald die Jagd, bald das unheimliche, vielleicht gar nicht existirende Brandmal auf dem Arme des Mönches Hubertus, bald den Räuber Bosbeck – eine Jugenderinnerung – bald die Guitarrestunden der ermordeten Frau Hauptmann zu erläutern … Alles, was er damit nur sagen konnte, lautete im Grunde seines Herzens: Was 183 hebt uns ach! mit so luftigen Schwingen in die kalte leere Luft und läßt uns schweben wie Fieberkranke, die da jammern des gefürchteten jähen ewigen Niedersturzes! Was geht vor in diesem Chaos des Erdenlebens, im dunkeln Rath der Götter, die die Menschenloose zu ihrer Freude mischen! Wohin wandeln wir! Was geschieht! Wie nur so angstvoll klopfen unsere Herzen, wie so bang mahnt unsere Ahnung! Geister halten, führen uns – aber wohin geht ihr Weg, wo ist das glückliche Ziel?

Nach einer Wanderung von einer halben Stunde hörten sie das Rauschen der berühmten Mühlen von Witoborn. In ihren Donnerton versank alles, was Thiebold nur sprach, um richtiger, wenn auch sehr prosaisch zu sagen: Ist es denn möglich, daß man uns, uns – – diesen Terschka, einen Mann von vierzig Jahren vorziehen kann!

Benno lebte hier auf dem Schauplatz der ersten Erinnerungen seines dunkeln Lebens schon seit Wochen wie im Traum. Seine Rückkehr zur Schreibstube Nück’s stand nahe bevor. Er schloß auch mit diesem Tage ab, wie schon seit lange mit seinem ganzen Leben. Seine Entsagung war eine um so schmerzlichere, als er sich die Philosophie gebildet hatte: Was du dir unsers Daseins für würdig hältst, mußt du dir hienieden zu erringen suchen! … Die erfahrungslose Jugend baut sich ja schneller Systeme, als das geprüfte Alter. Gehen diese Systeme hervor aus „Enttäuschungen“ und „gescheiterten Hoffnungen“, dann zerfallen sie wol leicht wieder in Trümmer; aber jäher ist ihre Dauer, 184 gefahrvoller wird sie für das Herz, wenn sie aus jener Jugendstimmung entstehen, die wenig erwartend vom Jenseits auch vom Diesseits nur mit bitterer Verachtung spricht, von ihm am wenigsten noch etwas hofft, zu seinen Gunsten am wenigsten noch etwas unternimmt …

Eine volle, freie, erhebende Stunde mit Bonaventura hatte Benno noch nicht finden können.

185 7.#

Auch für Bonaventura war dieser Aufenthalt eine Rückkehr auf den Schauplatz seiner ersten Jugend.

Auch ihn zog hierher eine Liebe und eine froh-bange Sehnsucht … Er kannte Paula als Kind, dann kannte er sie mit dem Ausdruck jungfräulich erster Reife … Jetzt erwartete er nach allem, was er von ihr wußte, ein Bild voll elegischer Hoheit, eine gefangene junge Königin, die in einem einsamen Schlosse wandelt, hoheitsvoll und tief hülfsbedürftig zugleich.

Die Beklemmung, in Paula’s seltsam bedingtes Lebensdasein einzutreten, wuchs mit der Nachwirkung dessen, was in der Residenz des Kirchenfürsten noch in den letzten Augenblicken von ihm erlebt werden mußte. Die Begegnung mit Bickert im Beichtstuhl, die Hoffnung auf Rückgabe der im Sarge des alten Mevissen gefundenen Papiere – Lucinden’s Erklärung, daß dieser Schatz in ihren Händen war – wie durchrieselte ihn da mit schüttelndem Frost die Erinnerung an die aus ihrem Mund gekommenen schonungslosen Drohungen! Eine Rachegöttin umschwebte sie ihn auf allen Wegen. Das 186 Schwirren ihrer Eumenidenflügel glaubte er zu hören, das Leuchten ihrer geschwungenen Fackel in dunkler Nacht zu sehen. „Der ganze, ganze Bau der Kirche!“ Dies tiefhöhnende Wort hallte durch seine Seele wie Grabesruf. Was konnte der treue Diener seines Vaters aufbewahrt, was von diesem zum Aufbewahren erhalten haben, das an sein Dasein eine so große Thatsache, den Bau der Kirche, knüpfen ließ und nicht ganz zerstört, ja vielleicht ausdrücklich einem Grabe einverleibt werden sollte?

Der ganze Bau der Kirche! … O da war er denn nun in diesem heiligen Witoborn! Hier hatten Bischöfe gethront und den Krummstab als Scepter geführt und nicht Eine bedeutsame Erinnerung an deutsche Größe, Kraft und Bildung war zurückgeblieben. Kleinliche Häuser, ärmliche Straßen, in entlegener Gegend, in einer halben Wüste ein glänzender Palast, die Residenz dieser Bischöfe, jetzt eine Kaserne. Nichts vom Vergangenen zurückgeblieben, als eine Unzahl Kirchen, ein düsteres Jesuitenstift, Gefäße von Silber und Gold in den Truhen der Sakristeien, Monstranzen mit Edelsteinen, Fahnen und Baldachine von kostbarer Stickerei. Hier und da fand sich eine bessere Erinnerung aus der Zeit der Aufklärung. Einige Priester hatten in dem Geiste des Onkels Dechanten gewirkt. Einiges war geschehen für Priesterbildung, Jugendunterricht und würdigere Gottesverehrung – aber der neue römische Geist überbaute schon seit lange alles wieder mit seinem künstlichen Mittelalter. Am Markt, in den Läden der Hauptstraßen waren die Schaufenster besetzt mit Monstranzen, Kelchen, Crucifixen, Madonnen aus Alabaster und Bronze, 187 Erzeugnissen einer Industrie, deren Spuren sich bis dahin verloren, wo man sogar dem Salon einen gewissen koketten kirchlichen Ausdruck jetzt zu geben versuchte. Eine Procession hier, eine Procession dort. Bruderschaften fast für jeden Tag der Woche in Bewegung. Männer, Weiber, Kinder mit Lichtchen in den Händen, mit Fahnenwimpeln, Kreuzen, Meßner und Chorknaben dazwischen in bunten Gewändern, singend und sprechend mit allen jenen Dissonanzen und unsichern Rhythmen, die ihm seine Glaubensvirtuosität früher als so rührend erscheinen ließ. Jetzt sah er in diesem Kirchgang so vieler Männer an Wochentagen nur die Versäumniß ihrer Arbeit. Ehe er nach dem Pfarrhause zu Sanct-Libori fuhr, war er „Bei Tangermanns“ abgestiegen. Ihm gegenüber hatte ein Kapuzinerkloster eine Kirche, vor der in einem Aufputz wie für Kinder – eine kleine Madonna in natürlichen Kleidern von Sammet und Seide auf offener Straße stand.

Am Morgen gleich nach seiner Ankunft kamen Benno, Thiebold, Hedemann. Erstere beide wohnten in einem Müllerhäuschen, das etwas entlegen lag vom donnernden Geräusch der schon von Hedemann selbst betriebenen Mühlen. Das Wiedersehen war hocherfreut. Bei Benno sogar mit ironischem Lächeln, als es der Frage galt nach dem ersten Besuch auf Westerhof; bei Thiebold mit der scheuen Befangenheit eines schuldbewußten Schülers vor seinem Lehrer; bei Hedemann mit jener bekannten immer mehr sich bei ihm ausbildenden, lächelndstrengen Sicherheit des Bibelglaubens; Hedemann hatte in der That ketzerische Grundsätze aus England und Amerika mit heim-188gebracht und wurde in ihnen durch die Erfahrungen, die seine greisen Aeltern mit dem Pfarrer Langelütje gemacht, in Gedankengängen bestärkt, die zu irgendeinem, vielleicht für ihn verhängnißvollen Ziele führen mußten. Daß der Domherr nicht in Witoborn blieb, wußte man. Bonaventura wollte seinen nominellen Pfarrsitz selbst einnehmen und schon war nach einem Wägelchen geschickt worden, ihn an seinen eigentlichen Wohnsitz zu führen, den er einem alten Brauche gemäß bis gegen Ostern einnehmen mußte. Benno bedauerte diese Trennung. Er schilderte das Haus „Bei Tangermanns“ als einen unterhaltenden Rest altdeutscher Gastfreundschaft, der indessen die Trinkgelder und modernen Preise nicht ausschlösse. Seht nur, sagte er, dies alte Mauerwerk mit bunten pariser Tapeten beklebt! Goldleisten über wurmstichige Balken! Parquetfußböden neben grünen Kachelöfen! Thiebold setzte hinzu: Lästern Sie nicht! Das beste ist ein patriarchalischer Weinkeller, aus dem man nur leider allein durch Schmeichelei einen Niersteiner Gelbsiegel bekommen kann! Der alte Tangermann hat auf seiner Weinkarte alle nur möglichen Cabinetsauslesen und Dompräsenze, gibt sie aber nicht her, wenn man sie nur so einfach bestellt, wie wahrscheinlich unser Freund Piter Kattendyk gethan hat, als er von witoborner Krätzer sprach! Erst sagt der Kellner regelmäßig: Der alte Herr Tangermann hat den Schlüssel! Erst muß man an Herrn Tangermann’s Stube klopfen, muß erst seine ausgestopften Vögel bewundern, die herrlichen Aquatintas an den Wänden, die Napoleonischen Rührscenen aus Fontainebleau und Sanct-Helena bewundern, ehe 189 man das Gespräch auf seine Jahrgänge bringen und ihn geneigt stimmen kann, eine Probe heraufzuholen, die dann aber dennoch keineswegs zu einem altpatriarchalischen, sondern ganz modernen Preise abgelassen wird, wie nur in irgendeinem Victoriahotel! Und Hedemann setzte hinzu: In der Kunst, dem alten Tangermann diese guten Stunden abzuschmeicheln, ist niemand bewanderter gewesen als der Landrath von Enckefuß!

Dieser Name gab dann Fernsichten in die betrübenden Eindrücke des Kirchenstreites … Fernsichten auch auf Schloß Neuhof, auf Bonaventura’s Stiefvater, seine Mutter, ja zuletzt auf Klingsohr, von dem man wußte, daß er gewaltsam nach dem Kloster Himmelpfort zurückgeführt worden … Ein Leben im Gasthof stört dann freilich jeden Schmerz … Hier ein Zimmer, wo ein Trauernder weint, nebenan eins, wo ein Musterreiter die neuesten Modearien singt – Letzteres geschah wenigstens der kleinen Gesellschaft. Nur Zufall war es, daß ein gewisser Mann nebenan, der sich eben rasirte, die Namen seiner Nachbarn nicht zu erfahren begehrte und, verloren in die täglichen Geschäfte, die ihn erst mit Herrn von Terschka, jetzt schon mit allen umwohnenden Adeligen verbanden, ja schon auf Schloß Neuhof riefen, sich nicht als Löb Seligmann aus Kocher am Fall seinen alten Bekannten zu erkennen gab … Und doch wie sang er sich selber vorm Spiegel an: „Dies Bildniß ist bezaubernd schön!“ wie jodelte er, wenn er plötzlich von Extrapostideen befallen wurde, das damals neue: „Ho, ho! So schön und froh! Der Postillon von Lonjumeau!“

Im Pfarrhause bei Norbert Müllenhoff fand Bona-190ventura zwei Zimmer schon für sich hergerichtet, Zimmer, in deren Ausstattung er die liebende Sorgfalt aller der Menschen erkannte, die ihn hier namentlich auf den Adelssitzen voll hoher Spannung erwarteten. Es waren zwei einfache Wohnzimmer eines allerdings neugebauten massiven Hauses, aber mit einem Comfort ausgestattet, der alle Spuren trug vorzugsweise vom nahen Westerhof und vom Stifte Heiligenkreuz. Die Namen Paula, Benigna, Armgart glänzten unter allen, die der alte Tübbicke als die Stifterinnen dieser Herrlichkeiten nannte … Norbert Müllenhoff stand mit scheuer Spannung in der Nähe. Er hatte die ihm eigenthümlich derbe Courage mehr nur nach unten hin; nach obenhin nur dann, wenn er der Masse gegenüberstand … ein einzelnes gesticktes Damentaschentuch mit dem Geruch von Esbouquet konnte ihn nicht blos im Salon, sondern sogar im Beichtstuhl stutzig machen.

In diesem Müllenhoff fand sich Bonaventura bald zurecht. Es war die Richtung, die Michahelles auch bei ihm vorausgesetzt hatte, die neue Richtung einer fast burschikosen Verachtung alles dessen, was mit Bildung und Aufklärung verbunden ist. Müllenhoff’s jeweiliges grelles Auflachen, wenn er einen seiner Einfälle selbst doch auch allzu schlagend fand, charakterisirte ihn sofort; denn nichts charakterisirt uns mehr, als die Art, wie wir lachen. Hier fehlte selbst die Koketterie, die doch Beda Hunnius noch mit der Poesie trieb. Diese jungkatholische Richtung renommirt mit der Verachtung jeder Beziehung ihrer täglichen Denk-, Rede- und Thätigkeitsweise mit dem, was dem Geist der Aufklärung an-191gehört. Gleich die Frühstücksbutter, die seine Aufwärterin zu einem zweiten Frühstück für ihn und seinen Gast hereinbrachte, schob Müllenhoff mit den Worten zurück: „Nehm’ Sie die Butter mit! Ganz frische soll’s sein! Die da riecht – toleranzig!“

Schon bei diesem Frühstück erschienen die zuvorkommenden Besuche des Herrn Levinus von Hülleshoven, des Herrn von Terschka, des Grafen Münnich und immer mehr zunehmend einer Anzahl von Adeligen und Geistlichen, die sämmtlich in stattlichen Kutschen kamen … Selbst die drei ältesten Stiftsdamen von Heiligenkreuz fuhren vor … So schnell hatte sich die Kunde von des jungen Domherrn endlicher Ankunft verbreitet. Die Räumlichkeit wurde fast zu klein; die Gäste, die den Längstersehnten begrüßen wollten, konnten nur eine kurze Weile bleiben.

Ueber die Zeit sprach man, über den Kirchenfürsten. Durch alles, was Bonaventura von Aeußerungen eines erschreckenden Fanatismus vernahm, tönte wie ein Grundaccord immer der gottbegnadete Zustand Paula’s hindurch. Selbst die Erbfolgefrage verschwand dagegen. Es fielen Fragen, wie die: Ob die Gräfin kürzlich nicht wieder „die Besuche ihres göttlichen Bräutigams“ empfangen hätte? Dabei beobachtete man nicht nur die Mienen des antwortenden Onkel Levinus, sondern schon das Erröthen des Domherrn. Man hatte von Bonaventura die Vorstellung eines Fanatikers, eines parteinehmenden Zeloten, der, wie Michahelles angedeutet hatte, seine bereits allen bekannte seelische Beziehung zur Ekstatischen zu einem noch festern Seelenbunde knüpfen, die noch unbestimmt 192 tastende Gefühls- und Anschauungswelt derselben regeln, ihre Visionen und Heilkräfte zu einem vollgültigeren Zeugniß für die wiederum prophetisch gewordene Zeit und den Triumph der Kirche verwandeln würde … Er sah diese Gleisnerblicke, dies süße Lächeln, hörte dies bedeutungsvolle Seufzen, das bei allem Schein der Demuth mit einem festen und sichern Gange auf ein gemeinschaftliches Ziel losging, über das man sich nicht einmal in offen ausgesprochener Verabredung und Geständnissen befand … In einem stattlichen Wagen, zwischen dem Onkel Levinus und Terschka, fuhr Bonaventura dann auf Schloß Westerhof.

Die Prüfung, Paula im kleinen Kreise oder gar allein wiederzusehen, wurde ihm beim ersten Gruße nicht. Er fand gleich ganz Westerhof in festlicher Bewegung. Die Damen der Gegend, vorzugsweise das Stift Heiligenkreuz, waren in Toilette versammelt; Paula stand umgeben von jungen Mädchen, von Frauen und Matronen …

Einen Schritt trat sie hervor und reichte ihm die Hand … Endlich Traum und Erfüllung … Schmerz und Seligkeit … und wiederum doch nur – Seligkeit und Schmerz!

Mit den Jahren waren beide gereifter geworden … Sie erblüht zur hehren Jungfrau … Er ein Mann – Ein Mann? Ein Priester! Angewiesen, Segen zu ertheilen, anderer Glück zu heiligen und selbst zu entbehren …

Rings ein Reden und Grüßen und ein Durcheinander der – Bewirthung …

Aber Paula war es doch! … Ihr Seelenfreund von vergangenen Tagen war es doch! … Ihr Erröthen und 193 das seine … ein Roth war es, als beschiene beide die Sonne in ihrer heiligsten Frühe, Aufgangsglanz vom Osten, vom fernsten Ganges her … War das noch Winter um sie her? … Zwei Seelen grüßten sich, die da weilten, wo die Nachtigallen sangen …

Armgart fühlte das schon ahnungsvoll und schwärmerisch mit … sie hielt Paula, um daß sie vor Ueberseligkeit nur nicht schwankte … Wie Epheu schlang sie sich um ein lebendig gewordenes Marmorbild …

Die Geisterjungfrau sprach … Sie sprach mehr als je … Was sie sprach, hörte Bonaventura, er verstand es nicht … Auch Armgart plauderte noch ihm unverständlich … Wie im Wirbel stand er … Armgart sah den Vielbesprochenen zum ersten male … Die einfache Tracht! Nur ein langer schwarzer Ueberrock; altmodisch der Schnitt; die Weste hochgehend, wie die Regel will; das Haar entstellt … Nichts, was anziehen konnte, als die Gestalt nur und der edle Ausdruck des Hauptes … Armgart starrte dem allen und horchte seinen Worten, deren Klang ihr sofort wie Melodie erschien, denn was Paula liebte, liebte sogleich auch sie …

Der Himmel öffnet zuweilen durch Engelhand seine Pforten … Dann strömt einen Augenblick überirdischer Glanz über die Menschen und ringsum ist auch zuweilen dann wirklich die feierliche Andacht da und das heilige Verständniß … Ha diese kluge Welt! … Sie wußte schon alles … Ein einziger geisterhafter Augenblick sprach schon im stillen zu allen: Er kennt diese tiefblauen Augen, kennt den feuchtschimmernden Glanz derselben, die dunkeln Augenwimpern, die wie die Schwingen auch der Seele Paula’s nicht unruhig flat-194terten, sondern ruhig über ihrem blauen Himmel thronten … Nun staunt er doch wol, daß diese Augen sich noch immer schließen und mehr noch als sonst schon in die Ferne sehen können? … Und ziert dich denn noch immer dieselbe Schüchternheit, du vornehme Jungfrau, derselbe zagende Muth, der alles duldete, selbst wenn die böse Lucinde, von der hier mancher wußte, ihre Stellung vergaß und Befehle ertheilte, wo sie deren nur zu empfangen hatte …

Verständigungen des Herzens konnten nur im Blicke liegen … Einen Schleier nach dem andern, der das kaum ja auch Auszusprechende verhüllte, wob schon gleich wieder das Leben in der buntesten Fülle seiner Anregungen … Da gab es zu besprechen! Die nächste und entfernteste Zukunft Paula’s! Die Zeit selbst mit ihren ringsum ertönenden verworrenen Stimmen! Und die Prophetengabe der Herrin des Schlosses, auf deren Namen wol noch mehr Wunder und Voraussagungen gingen, als in Wahrheit begründet waren, wie war das ängstlich! Auffallend erschien, daß mit Bonaventura’s Ankunft in Paula ein gehobener Schwung kam, der die Kraft des Geistes über den Körper zu stärken schien. Schon am ersten Tage hielt sich die Leidende über der versammelten Menschenmenge empor, erlag nicht dem Druck derselben, der sonst sie in solcher Lage immer plötzlich entschlummern machte. Und das nahm zu, wurde besser von Tage zu Tage. Sie erlag seltener der räthselhaften Krankheit ihrer Nerven. Was so mancher im stillen schon von der Ehe gesagt hatte, sie wäre ein Ausweg, der die Gräfin völlig heilen würde, zeigte sich dem Schärferblickenden annähernd. Statt einer 195 Steigerung der Neigung zum Traumschlaf trat anfangs eine Minderung ein.

Die erste Messe zu Sanct-Libori, die erste von der Kanzel gesprochene „Application“ kennen wir. Sie riefen auch hier die Wirkungen hervor, die von Bonaventura’s Auftreten unzertrennlich scheinen. Der Kreis von Bekanntschaften, der ihn schon wie gefangen nahm, wuchs. Seine Oberaufsicht über den Gang der kirchlichen Angelegenheiten in diesem Sprengel war mehr eine formelle Pflicht. Bonaventura erkannte dann auch zu sehr die Heftigkeit seines untergebenen Pfarrers, um mit einem Naturell zu streiten, das nicht zu ändern war und sogleich auch für seine Unarten als Vorwand heilige Namen hatte. Ironie half ihm gegen Uebertreibungen. „Denken Sie das?“ „Ziehen Sie das also wirklich vor?“ Von Witoborn’s Geistlichen und Mönchen kam Bonaventura regelmäßig heim wie aus einem Kriegslager.

Die stillen Abendstunden auf Schloß Westerhof waren dann glückselige Momente. Terschka, Benno und Thiebold theilten sie, und da Armgart nicht immer zugegen war, blieb Paula der alleinige Mittelpunkt. Armgart wurde allerdings auch für Bonaventura mit der Zeit befremdend. Sie wanderte zwischen Westerhof und Heiligenkreuz, oft ganz allein, ohne die mindeste Furcht, selbst wenn sie durch einen ansehnlichen Wald gehen mußte. Bonaventura sprach von ihrer Mutter und von ihrem Vater mit gleicher Unbefangenheit. Eine Parteilichkeit für Benno entdeckte er nicht, mehr noch für Thiebold, am meisten für Terschka, der ihm gleichfalls neu und nicht sogleich erklärbar war. Terschka nannte Armgart eine Cactusblume. Der Onkel erläu-196terte: „Brennendroth und von einer schönen Zeichnung, aber gewachsen auf einem gefahrvoll stachlichten Stamm!“ … Nun geht es so, daß Menschen, die gerade das Bedürfniß haben, sich aneinander anzuschließen und sich einen hohen Werth einzugestehen, doch nur durch Reibung und Aneinanderstreifen sich nähern. Bonaventura hatte noch nichts von Thiebold’s Buße vernommen und nur ewig Terschka und Terschka hört’ er –? Wäre das möglich! sagte er sich. Armgart, ein Mädchen wie ein Thautropfe, und dennoch, dennoch eine so schnelle Wandelung –? Hier lag ein Räthsel vor und er erklärte sich’s aus der Schwäche des weiblichen Gemüths und zürnte ihr und strafte sie schon oft oder „trumpfte sie ab“, „duckte“ sie, wie es die Tante Benigna mit wahrer Genugthuung nannte … freilich nur durch ein Lächeln oder eine kurze ironische Zwischenfrage.

Ehe hier tiefere Blicke und Verständigungen folgten, kam dann die bange Fahrt zum Schlosse Neuhof, an dem Tage, als es hieß, der Kronsyndikus ist im Arm seines plötzlich angekommenen Sohnes, des Präsidenten, verschieden. Die schuldige Rücksicht verlangte, daß Bonaventura den zweiten Gatten seiner Mutter auf diese Nachricht sofort besuchte. Daß die Mutter nicht mitgekommen, wußte er. Er traf am Montag den Präsidenten in der ganzen Erregung, die ein längst vorausgesehener Fall, dessen endliches Eintreten man sogar den Umständen nach wünschen mußte, zuletzt doch hervorzubringen pflegt. Sein Stiefvater war auffallend gealtert. Er begrüßte Bonaventura mit all der scheinbaren Herzlichkeit, die ihm zu Gebote stand. Seine Gesundheit erklärte er nicht für die beste, sprach von Reisen nach dem Süden, von seinem Abschied, den 197 er nehmen wollte, von den Schwierigkeiten, die sich bei Abwickelung seiner Erbschaft ergäben, von dem Mistrauen, das ihm infolge des Kirchenstreits hier um seiner amtlichen Stellung willen entgegentreten würde. Er brachte Nachrichten vom Kirchenfürsten, der in seiner Gefangenschaft sich mit Ruhe in sein Schicksal ergäbe, wäre er sich doch bewußt, Anlaß einer Aufregung gewesen zu sein, die seinen Grundsätzen jetzt zugute kam; er rauche seine Pfeife, ginge auf den Wällen der Festung spazieren und wünsche nicht einmal die politischen Demonstrationen, die der Adel der diesseit und jenseit des großen Stromes gelegenen Provinzen beim Landesfürsten unternähme – „sie könnten ja nur in jenem revolutionären Sinne gedeutet werden, den er nie befürwortet hätte; denn die Kirche hätte nichts mit der neuen Richtung des Lamennais gemein, sie wäre alt genug und könne immer noch warten und warten bis ihr die geistige Hülfe käme“ … Von der Mutter sagte der Präsident, sie würde auf dem Schlosse, das sie nie besucht hatte, gleich nach dem Begräbniß eintreffen. Der Präsident war kälter, wortkarger und verschlossener denn je geworden.

Am Begräbnißtage saß Bonaventura in dem Trauerwagen neben dem Stiefvater. Wohl sah er, daß selbst diese starren Züge erregter wurden, als sich der Zug dem Düsternbrook näherte. Als die Scene an der Eiche vorfiel, erblaßte der Präsident; das Wort erstarb auf seinen Lippen; in eine Ecke gedrückt wartete er ab, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, als die Störung vorüber war und ihm Bonaventura zu seiner Beruhigung 198 die leisen Worte sprach: „Paulus sagt: Der Tod ist der letzte Feind! Nun wird ja Friede sein!“ … Zum Kloster Himmelpfort gehörte eine große, nicht ungefällige, lichthelle Kirche. Sie lag an der Spitze eines der Winkel, die durch ein großes Viereck gebildet wurden; durch eine Mauer gebildet, die das Kloster einschloß. Das Kloster selbst, ein zweistöckig Gebäude, mit einem Thürmchen versehen, gehörte dem siebzehnten Jahrhundert an, die Kirche dem achtzehnten. Ringsum standen Obstbäume; im Innern des Klostergartens waren die Beete mit Stroh belegt und deuteten eine freundliche Vegetation für den Sommer an. Hinter einem dieser kleinen Fenster, die ringsum das viereckige Gebäude erhellten, wohnte Klingsohr. Ihn sah man nicht unter den Franciscanern, die den Sarg begleiteten. Auch den Bruder Hubertus, auf den Bonaventura nach allem, was er über den „Abtödter“ durch Klingsohr und Jodocus Hammaker wußte, begierig sein mußte, konnte er weder beim Beginn des Zuges noch jetzt entdecken und an der verhängnißvollen Eiche war gerade ihm der Anblick entzogen gewesen, den die andern Wagen ungehinderter hatten, der Anblick, wie plötzlich unerwartet auftauchend Hubertus mehr der Störung durch den Musikanten, als der Anrede des Sarges durch einen andern Störer der Todtenruhe, durch den Küfer, ein Ende machte … Die Kirche diente als Erbbegräbniß vieler ringsum wohnenden Adelsfamilien. Bilder sah man, Seitenaltäre und Beichtstühle, keine Säulen oder Bogen. Der Hochaltar war im Stil der Franciscanerkirchen; jeder Orden hat seine eigene Weise, seine eigene geistige und physische Farbe sogar, die er seinen 199 Kirchen anhaucht. Bei den Franciscanern ist alles braun, mäßig vergoldet, hier und da ein blaues Band etwa an einer Maria, ein weißer Schimmer etwa von der Taube, die über dem Tabernakel schwebt; regelmäßig steht der Ordensstifter vor dem Crucifix mit dem bekannten ekstatischen Liebesblick der Ergebenheit, mit seiner auf das Herz gelegten linken Hand; der Fußboden ist von Stein, die Wände sind weiß, nur hier und da vom Ruß der Lichter angeschwärzt; das Ganze einer solchen Franciscanerkirche ist dem Volk eingehend durch eine gewisse altfränkische Einfachheit wie die Heimlichkeit alter, von Großältern ererbter, braungebeizter Möbeln mit geschweiften Bogen und bronzenen Schlüssellöchern und Ringen an den Schubläden … Hier war es, wo der Kronsyndikus in die Gewölbe gesenkt wurde … Das über ihn Unausgesprochene, doch von allen Gefühlte verklang in dem Brausen einer stattlichen Orgel … Der Provinzial-Guardian fand auf dem bereits auf dem Schlosse von Weihduft überräucherten Sarg auch jenes Stückchen Tuch nicht mehr, das wol in den Schnee gefallen sein und im Schmelzen desselben an der Frühlingssonne vermodern wird …

Da Bonaventura Klingsohr besuchen wollte, behielt er eine der Trauerkutschen zurück … Der Präsident versprach, bald auf Westerhof zu erscheinen und dann auch sogleich in Begleitung der bis dahin vielleicht angekommenen Mutter Bonaventura’s.

Der ehemalige Graf von Zeesen, der jetzige Pater Ivo, wurde von Bonaventura bald entdeckt … Klingsohr hatte ihm ja im vorigen Jahre seine Geschichte er-200zählt … Er wußte, daß seine ehemalige Verlobte als Schwester Therese bei den Karmeliterinnen wohnte … Ein hagerer, blasser Mönch kam mit einem Weihwedel daher und wehte durch die Luft, als stäubte er auch diese rein … Die Gäste, das Gesinde, die nachdrängenden Landbewohner hatten die Kirche verlassen; nur einige Arbeiter blieben, die über die Oeffnung, in die der Sarg des Kronsyndikus hinuntergelassen, wieder die Steinplatte zu legen hatten … Nach drei Uhr war es … Die Brüder hatten auf dem Schlosse eine Art „Frühstück im Stehen“ eingenommen … Ob wol da noch Pater Ivo das Brustbild seines alten Freundes Jérôme erkannt hatte? … Dort summte er, ohne aufzusehen, Lieder zum Lobe Mariä; auch hier that er es … Niemanden blickte er dabei an, niemanden gab er Antwort … Er lebte nur sich und Maria … Sein Eigenthum war an die Landschaft gegeben worden für eine Irrenanstalt, deren die Provinz – immer dringender bedürftig wurde … An der Oeffnung, in deren Tiefe der silberbeschlagene Sarg blinkte, mußten eine Menge Melusinen sitzen … wie huschte er dahin daher mit seinem Wedel und jagte die Unheiligen fort!

Es ist Pater Ivo! sagte ein junger Mönch, auf Bonaventura zutretend. Er ist irr’, wie Sie wol sehen, Herr Domherr!

Der junge Mönch nannte sich Pater Quirinus … Er hatte ein Bund Schlüssel in der Hand, wollte erst die Schränke schließen, in welche der Guardian seine Meßopferkleider, die Mönche die Requisiten der Räucherung des Sarges und die Tücher gelegt hatten, auf denen 201 er ausgestellt gestanden hatte; dann galt es, das Hauptportal der Kirche zu schließen – für die Arbeiter und Betbedürftigen gab es einen allen Bewohnern der Gegend bekannten kleinen, versteckten Nebenausgang.

Bonaventura sah sich erkannt, sprach sein Verlangen aus, den Pater Sebastus zu besuchen, und willigte gern ein, die Erlaubniß dazu so lange abzuwarten, bis Pater Quirinus sein Amt beendet hatte …

Er begleitete ihn auf seinem Rundgange hinter der Sakristei …

Mit der größten Unbefangenheit sagte der junge, frisch und blühend aussehende Mann und mit einer ganz gewöhnlichen Sprechweise:

Unser Bruder Hubertus ist nicht zugegen! Er kam gerade recht von einer Reise, um die unverschämte Störung durch den Musikanten abzutrumpfen! Viel lügt man auch über den Kronsyndikus! Wir hier müssen ihn schätzen! Manches, was Sie hier an Gold und Silber sehen, haben wir in seinen letzten Tagen von ihm bekommen!

Dem für einen Geistlichen fast zu resoluten jungen Mann erwiderte Bonaventura:

Als sich der Verstorbene vor einigen Jahren sein Erbbegräbniß neu herrichten ließ, widersprach, hör’ ich, der selige Provinzial Henricus und schrieb deshalb nach Rom …

Ganz recht! erwiderte der junge Mönch. Cardinal Ceccone schickte durch Vermittelung des Ministeriums den Spruch der heiligen Pönitentiarie. Der Kronsyndikus legte eine Generalbeichte ab, die an unsern Ordensgeneral nach Rom gegangen ist. Seitdem kam der 202 Befehl, ihm keine der geistlichen Wohlthaten zu entziehen …

Der junge Mönch machte Anstalt, Bonaventura alles zu zeigen, was die Kirche an alten Bildern, kostbaren Gefäßen und gestickten Gewändern besaß …

Bonaventura ließ es geschehen … Konnte er sich doch indeß in die Vorstellung finden, diesen aufgerissenen Fußboden dort im Zusammenhang mit Rom zu wissen! Cardinal Ceccone, der politische Lenker der Geschicke des Kirchenstaats – der Großpönitentiar und Oberinquisitor der ganzen katholischen Welt – der General der Franciscaner – drei höchste Würdenträger der Kirche betheiligt an dem aufgedeckten Leben des Kronsyndikus! Dort vielleicht alles enthüllt, was hier der Welt ewig unbekannt blieb! Dort vielleicht alle Schleier hinweggezogen, die seit Jahren über dem Leben auf Schloß Neuhof hingen! Dort vielleicht auch die Gründe bekannt, warum seit Jahren der Dechant nur mit dem Ausdruck des größten Mismuths seines alten Freundes, des Kronsyndikus gedachte! Dort auch vielleicht – ein Zusammenhang – es durchzuckte ihn das so – mit jenen Drohungen, die Lucinde gegen ihn selbst auszustoßen gewagt?

Der junge Mönch entfaltete kostbare Meßgewänder, warf sich sogar eine „Kasel“ um und zeigte mit wohlgemuther Freude, wie schwer sie an echtem Golde war …

Die ist noch nicht zu alt! sagte er. Die verstorbene Frau von Wittekind hat die köstliche Arbeit, die in Paris gemacht wurde, vor vierzig Jahren gestiftet …

Das war die Schwiegermutter seiner Mutter …

203 Pater Ivo ging leise singend vorüber, huschte mit dem Weihwedel und jagte die Geister fort …

Pater Quirinus sah ihm lachend nach, während Bonaventura in Rührung stand …

Beim Oeffnen der übrigen Schränke und dem wiederholten Anlegen der kostbaren Gewänder durch den jungen Pater erkannte Bonaventura einen oft vorkommenden Fehler seiner geistlichen Brüder, Eitelkeit auf ihren malerischen äußern Schmuck beim Cultus. Die Mönche von Kloster Himmelpfort lasen ringsum in kleinen Kapellen die Messe … Rom hält die Menschheit doch an tausend Fäden! sagte sich Bonaventura …

Als der junge Mönch eine Anzahl Gefäße aus dem Verschluß doppelter und dreifacher Schlösser hervorholte, fragte er ihn:

Warum traten Sie in den Orden?

Es war mir die beste Versorgung! erwiderte der junge Mann … Ich bin armer Aeltern Kind, wollte studiren, brachte mich kümmerlich durch und hatte keinen Muth, auf die Universität zu gehen. Ich wollte ins Postfach, meldete mich und wurde wegen Ueberfluß von Meldungen nicht angenommen. Eine Braut, die ich hatte, wollte nicht länger warten und heirathete mir vor der Nase weg einen andern. Das verdroß mich. Ich wußte nicht, was anfangen, und ging ins Kloster. Zwei Jahre war ich Novize. Jetzt hab’ ich die Weihen und bin versorgt.

Sie wollen nicht höher hinauf? Haben keinen Ehrgeiz? fragte Bonaventura, erstaunt über diesen Mangel an Empfindung bei einem doch so traurigen Geschick …

204 Nein! war die unbefangene Antwort …

Also gibt Ihnen der Schmerz über die Täuschung durch Ihre Liebe diese Kraft, so zu entbehren und zu entsagen? …

Meine Braut handelte vernünftig! Ich hätte erst zehn Jahre auf eine Anstellung bei der Post oder im Steuerfach warten müssen! Jetzt hab’ ich mein Brot; für mich freilich nur allein, aber das kann man ertragen …

Währenddesssen schloß der junge wohlgenährte Pater einen Schrank nach dem andern auf und zu, knixte erst vor jedem geweihten Gegenstande, zeigte ihn dann, schloß ihn wieder mit einem Knix ein, alles nach derselben Cadenz und mit der größten innern Befriedigung.

Bonaventura konnte sich in eine solche Weihelosigkeit nicht finden. Er mochte noch immer glauben, daß hier ein Schmerz überwunden und für die Zufriedenheit an diesem Berufe vielleicht auch Pater Hubertus’ Abrichtung gesorgt hätte …

Auch Ihnen hat zu dieser wohlgemuthen Ergebung in manche Entbehrung gewiß der „Bruder Abtödter“ verholfen? fragte er …

Pater Quirin lachte …

Na ja! sagte er. So kennen Sie also auch den alten Knaben? Er konnte sich lange nicht in den Frieden finden, den die Kirche mit seinem alten Feinde schloß, mit dem Kronsyndikus! Allen ist aufgefallen, daß er doch gerade heute zurückkehrte und sogar für Ordnung sorgte. Knochen hat er wie Eisen – aber mich brauchte er nicht zu bändigen! Ich thue hier, was ich muß. Wir 205 haben alle unsere leidliche Bequemlichkeit. Ich zeige Ihnen das Refectorium …

Entbehren Sie gar nichts? fragte Bonaventura im Weitergehen …

Gewiß nichts! antwortete Pater Quirinus und küßte mit gemachter Andacht eine Monstranz, die über und über mit Edelsteinen besetzt war und nur bei den höchsten Veranlassungen aus diesen wohlverwahrten Schränken genommen wurde.

Diese gleichbleibende Gelassenheit streifte in Bonaventura wiederum alle Blüten ab. Er konnte sich nicht finden und erinnerte wenigstens an den Zauber der Freundschaft und des Zusammenlebens in einem Kloster …

Aber auch dem erwiderte der junge Mann:

O nein! Wir sind hier zusammen keine Freunde! Es ist auch gut so! So wie wir uns aneinander anschließen, fangen wir an über unsere Verhältnisse Gedanken zu haben; dann verbittern wir uns vieles, worüber wir jetzt nicht grübeln. Jeder ist besser für sich!

Diese Freundschaften kommen also doch vor?

Selten! lautete die Antwort, während sich der Mönch umsah und jetzt leiser sprach. Sowie sich zwei Brüder allzu sehr aneinander schließen, im Garten zu oft zusammen spazieren gehen, sowie man bemerkt, daß sie bei Tisch zusammensitzen wollen oder auch auf der an der Thür des Guardians hängenden Tafel über unsere Wochenverrichtungen zu häufig zusammenzukommen suchen, so werden die Leute getrennt.

Das ist ja eine Grausamkeit, wallte es in Bonaventura auf … Der einzige Trost der Einsamkeit – 206 der freundschaftliche Austausch der Gedanken und Gefühle! Der Rückblick auf ein vergangenes Leben! Die gemeinschaftlichen Tröstungen an den Quellen des Wissens und des Denkens! … Aber er durfte alles das nur durch Seufzen ausdrücken und sagte sich im stillen: O die Menschennatur ist doch im Durchschnitt ganz so wie bei diesem jungen Manne! Was ist bei Tausenden ihre geistige Meinung? Ihr Bedürfniß nach Erhaltung, Ernährung, Unterkunft! Solche Institutionen wie die Klöster glaubt’ ich auf Felsen gebaut und ich sehe: Einen Beutel mit Geld in der Hand und sie lassen sich wie Kartenhäuser umblasen!

Durch einen Seitengang kam man aus der Sakristei in das Kloster. Ein Kreuzgang von altem, morschem Holz führte zu ihm hinüber. An der Wand der Kirche hingen, allemal einer Oeffnung an der andern, in einen mit Schnee bedeckten Garten hinausgehenden Seite gegenüber, Bilder, die von einem Tüncher verfertigt schienen und Wunder des heiligen Franciscus vorstellten. Jedes derselben war geistlos. Schon aus der Jahreszahl 1707 konnte man den Geschmack sowol der Malerei, wie den Stil der Unterschriften erkennen. An die Poesie eines winterlich romantischen Klosterkreuzgangs, wie ihn unser Lessing gemalt hat, war hier nicht zu denken. Eine hölzerne Gitterthür führte ins Kloster. Pater Ivo schlenderte leise singend in einem der langen Gänge und Quirinus sprang fast wie ein Tänzer mit seiner langen Kutte voraus, um dem Provinzial-Guardian Maurus die Meldung zu machen … Einstweilen trat Bonaventura in das Refectorium. Es ähnelte einem Wirthshauszimmer 207 auf dem Lande mit alten Holzpfeilern, mächtigem Ofen, Stellagen zum Aufschichten der Eßgeräthschaften. Von hier aus sah man durch kleine Scheiben in den innern, strohbedeckten Garten …

Bonaventura sehnte sich, ein Wort der Ermunterung mit Sebastus zu sprechen … Aus Lucindens Beichte wußte er ja, daß er hatte nach Belgien entfliehen wollen … Sie hatte ihm sogar die Ueberredung, daß Sebastus zu den Jesuiten hatte entfliehen wollen, nicht verschwiegen … Daran nun zu erinnern war Bonaventura freilich verboten … Alles, was er etwa Lehrreiches, Warnendes oder Ermunterndes gerade über diesen Punkt mit dem Convertiten hätte sprechen können, mußte ausdrücklich unterbleiben … Als Beichtvater durfte er nicht mehr von ihm wissen, als was Sebastus selbst voraussetzen konnte … Er mußte unwahr sein.

Die in Reihe und Glied aufgestellten steinernen Bierkrüge der Mönche musternd, hörte er Quirinus’ Rückkehr …

Dieser kam bestürzt. Er sagte, der Pater Sebastus hätte eine Pön verwirkt und sollte niemanden sprechen; der Provinzial würde sogleich selbst erscheinen und sich dem Herrn Domherrn entschuldigen …

Bald auch kam Pater Maurus. Aeußerlich war er nicht zu unterscheiden von allen andern Mönchen. Man kann in Rom auf der Via Appia in einem Omnibus mit Bauern aus Tivoli fahren, hat neben sich einen einfachen Mönch in weißem Kleide sitzen und weiß nicht, daß es der großmächtige General der Dominicaner ist … Pater Maurus war ein hoher, starkknochiger Mann. Seine 208 buschigen und schwarzen Brauen lagen trotzig über den funkelnden Augen, die sich den Ausdruck der Unterwürfigkeit gaben. Immer erstarb sein Lächeln ebenso rasch wie es kam. Eher glich dieser Mönch einem Gefängnißwärter als einem Boten des Friedens.

Pater Quirinus zog sich zurück … Der Provinzial und der Domherr setzten sich auf die nächsten Holzschemel …

Vergebung, Herr Domherr, sagte der Provinzial, wir haben mit dem Pater Sebastus einen schweren Stand! Die Regierung lieferte ihn uns aus der Residenz des Kirchenfürsten zurück mit dem Bedeuten, ihm jede schriftstellerische Thätigkeit zu untersagen, jede Theilnahme an unserm gegenwärtigen traurigen Kampfe. Die Weisung war überflüssig, da der Pater ohnehin erkrankte und uns eine Zeit lang ernste Besorgnisse einflößte. Seit einiger Zeit geht es ihm besser; doch ließen wir ihn in der Krankenstube, weil er, in seine Zelle zurückgekehrt, seine Pflicht, Nachts zwölf Uhr aufzustehen und in den Chor zu gehen, um zu singen, wie jeder andere hätte erfüllen müssen. Heute in aller Frühe besuchten ihn zwei Fremde, ein Jude und jener Mensch, dem wir vor wenig Stunden den frechen Auftritt im Düsternbrook verdankten. Ich nehme Ihr Vertrauen in Anspruch, Herr Domherr! Denken Sie sich die Verabredung! Jenes Stück Tuch, das der Störenfried auf den Sarg zu legen wagte, bekam er von unserm Pater, dem Sohne des damals unglücklich, wie man jetzt sicher weiß, nur im Wortwechsel und nach offener Gegenwehr Gefallenen. Dafür verlangte er von 209 jenem Juden, wie von dem Küfer – Stephan Lengenich ist sein Name – die Mittel zur Flucht …

Wie erfuhren Sie das? war eine Frage, die Bonaventura mehr aus Schreck aussprach, als in Voraussetzung, daß die Gespräche, die im Krankenzimmer gehalten wurden, belauscht werden konnten … Erst als er Pater Quirinus an der zufällig aufgehenden Thür des Refectoriums stehen sah, kam ihm die Vorstellung, daß seine Frage ohne Beantwortung bleiben konnte …

Wir wissen es, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit verdrossenem Blick auf die Thür. Wir wußten es schon in der Frühe. Ich hatte mir eine ernste Ermahnung als einzige Buße vorgenommen. Seitdem jedoch durch des Paters Mitwirkung eine heilige Handlung gestört, eine ganze Familie, der er selbst früher so oft bekannt hat Dank schuldig zu sein, durch sein Zuthun unverantwortlich compromittirt worden ist, hab’ ich ihm statt des Krankenzimmers die Strafzelle angewiesen. Ich kann nicht wünschen, daß Sie ihn in seinem gegenwärtigen Zustande sehen.

In welchem Zustande? fragte Bonaventura mit gesteigertem Bangen und folgte der Bewegung des Provinzials, der sein Ohr spitzte, als vernähme er irgendwoher einen Ruf …

In der That hörte man in dumpfer weiter Ferne einen Ton wie einen Schrei um Hülfe …

Bonaventura mußte aufspringen und sich an dem Schemel halten … Das ist er? sagte er und deutete auf das Fenster, von wo der gellende Schrei gekommen war.

210 Er ist es! Ja! sprach der Provinzial mit kalter Ruhe … So tobt er in seiner Strafzelle und spricht wild durcheinander … Ich lass’ ihn binden, wenn er nicht schweigt …

Lassen Sie mich zu ihm! bat Bonaventura …

Herr Domherr, diese Wohlthat wäre unverdient … Er würde auch Sie anfahren wie ein wildes Thier …

Nein, nein, wir kennen uns!

Sie würden uns die Züchtigung stören, die ein Pater verdient, der aus seinem Kloster entfliehen will!

Bonaventura stand mit schwindendem Bewußtsein. Er sah Abgrund und Nacht um sich her und bei alledem – auch die fernwirkende, trügerisch lockende Gewalt Lucindens! … Sie hatte den Mönch, ihren ehemaligen Geliebten, in Knabentracht besucht! Ihr Lächeln, ihre muthige Rede hatte ihn – „um ihn aus meinen Bahnen zu entfernen“, hatte sie ihm frank und frei gebeichtet – zur Flucht überredet … Sie hatte seinen Muth, seinen Ehrgeiz entflammt zu einer neuen Entwickelung seines immer noch reichen, wenn auch verirrten Geistes … Eine Gelegenheit zur Flucht bot sich vielleicht … So, wie er jetzt die gräßliche Stimme hörte, die der eines Ertrinkenden glich, klang ihm in der Erinnerung sein eigener Seelenaufschrei, als an jenem Abend der Abreise ihn plötzlich Lucinde verlassen hatte und ein wilder Sturm durch seine Adern brauste … Zu ihr! Zu ihr! klang es aus Sebastus’ Munde in sein Ohr … Besinnungslos ergriff er seinen Hut und bat wiederholt:

O lassen Sie mich zu ihm!

211 Herr Domherr! lehnte der Provinzial fast vorwurfsvoll ab … Wenn er sich beruhigt hat! Morgen! setzte er hinzu …

So bitt’ ich – grüßen Sie ihn von mir! hauchte der liebevolle Priester, seufzend über die Nothwendigkeit, den Formen und Satzungen seiner Kirche sich ergeben zu müssen. Sagen Sie ihm, daß ich in dieser Gegend weile, daß ich den ersten ruhigen Augenblick, den Sie mir anzeigen werden, benutzen und zu ihm kommen will! Versprechen Sie mir’s!

Sehr gern, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit derselben Freundlichkeit, als handelte es sich um die Anzeige eines in völlig natürlicher Weise eintretenden harmlosen Ereignisses …

Und Bruder Hubertus? drängte Bonaventura, jetzt schon im Gehen … Vermochte der nicht sonst so viel über ihn?

Auch das ist ein Mitglied unsers Klosters, erwiderte der Provinzial, im Gehen verbindlich die linke Seite nehmend, mit dem wir viel Geduld haben müssen! Er war in Angelegenheiten einer Erbschaft, die er machte, verreist …

Bonaventura trug als Beichtpriester eine solche Last von Thatsachen in seinem Gedächtniß, daß er nach einem Verhältniß fragte, das er doch schon öfters, von Benno sowol wie von Hammaker, fast vollständig erfahren hatte … Er fand sich allmählich zurecht und unterbrach die Erläuterungen des Provinzials:

Ganz recht! Ich weiß! Er wird das von einer Ermordeten geerbte Geld dem Kloster geben …

212 Doch nicht! war des Provinzials verdrießliche Antwort. Dieser Hubertus hat wunderliche Seiten. Im Vertrauen gesagt, er hat einen etwas dunkeln Ursprung. Man sagt geradezu: Seine Angehörigen sind auf dem Richtplatz gestorben! An einem Tage, wo eine Gaunerbande, zu der er als Knabe gehören mußte, aufgehoben, das Haus, in dem sie sich vertheidigte, genommen und angezündet wurde, soll unser Bruder – sagt man, und sei es auch unter uns, Herr Domherr! – zwei Stock hoch aus dem Fenster gesprungen sein, in jedem Arm mit einem Kinde … Glücklich kam er mit den beiden Kindern zur Erde nieder, entrann den Flammen, entrann der Verfolgung, machte einen abenteuerlichen Lebenslauf, wurde ein an sich ganz vortrefflicher Mensch, exemplarisch in seiner Aufführung, nur störende Seltsamkeiten hat er. Als Jäger des Kronsyndikus erlebte er einen bittern Verdruß und wurde deshalb Mönch. Mancherlei leistete er schon unter Pater Henricus, meinem Vorgänger. Jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, die zwanzigtausend Thaler, die er von jener Frau Buschbeck – sie nannte sich schon nach seinem Namen, während sie doch nur eine gewisse von Gülpen und seine Verlobte war – ererbte, wenn irgendmöglich, dazu anzuwenden, sie den beiden Kindern zukommen zu lassen, die er einst aus dem Feuer rettete, falls sie sich entdecken ließen. Sie waren ihm, nachdem er sie im stillen erzogen hatte, abgenommen worden. Jetzt correspondirt er nach Holland, Frankreich, Italien, um ihre Spur zu finden. Ich schrieb nach Rom, ob ich ihm auf ein Jahr die Erlaubniß ertheilen kann, scheinbar in irgendeinem andern Auftrage in die Welt hinauszuwandern. Bis die Antwort da ist, 213 gestattete ich ihm vorläufig auf eigene Verantwortung die Reise nach Holland, von der er jetzt zurückgekommen.

Unter diesen Mittheilungen waren beide, in der Ferne wieder von dem leise singenden Ivo verfolgt, an die kleine Thür gekommen, die den verborgeneren Eingang zur Kirche bildete.

Hier stand Bonaventura’s Wagen …

Mit einem Abschied, den der Provinzial nahm, als wenn ein Offizier von seinen untergebenen Mannschaften einem andern hohen Militär eine einfache conversationelle Mittheilung gemacht hätte, bestieg Bonaventura seinen Wagen … Ein Bedienter in Trauerlivree war vom Präsidenten für den Stiefsohn des Hauses zurückgelassen worden … So fuhr Bonaventura in schon heraufgezogener Dämmerung von dannen.

O ihr Klöster, seid ihr denn Zufluchtsstätten des Friedens und der reinen Menschenliebe?! …

So tönte es in allseitig schmerzlichster Betrachtung durch Bonaventura’s Inneres, als er in die schon dunkelnde Ferne hinausfuhr, hin- und hergeschleudert auf den Furchen der Feldwege, die zurückzulegen waren, um in kürzerer Frist auf Schloß Westerhof zurückzukommen, wohin der Kutscher ihn glaubte fahren zu müssen …

Erst nach einer Stunde, während durch sein Herz alle schrillen Accorde des Zweifels, alle klagenden der Wehmuth zogen, entdeckte er in der allmählich ganz hereingebrochenen Nacht die Absicht des Kutschers, klopfte ihm und befahl die Richtung zu nehmen nach Sanct-Libori ins Pfarrhaus … Wie sollte er Frieden bringen in die stille Abendgemeinschaft des Schlosses! Wie den schrecklichen 214 Ruf nicht verrathen, der immer noch wie ein: Zu Hülfe! an sein Ohr tönte –! Ein anderer Ton schloß sich an, ein hochfeierlicher, wie am Tage des Gerichts einst die Lüfte Stimmen tragen werden … jenes Wort, das ihm einst der Onkel in Kocher am Fall gesprochen an dem schönen goldenen Sommermorgen: „Wenn ich mich zuweilen in unserer katholischen Welt umsehe, ist’s mir doch, als sähe ich in alten Verließen die Gebeine der Geopferten modern.“

Und bei alledem schwatzte nun schon Norbert Müllenhoff wieder, daß er den Ankommenden mit Sehnsucht erwartet hätte, bot Pfeifen, Cigarren, Vesperbrot, Unterhaltung durch Zeitungen, Broschüren, durch seine eigene werthe Person, und legte ihm zuletzt sogar „mit Schüchternheit“ einen Versuch vor, wie die „Exercitien“ der Frau von Sicking zu organisiren wären … Von dem an seiner Thür heute früh ausgestellten Wachskindchen schwieg er wohlweislich, weil er nichts verrathen mochte von einer Gegnerschaft, die in der Gemeinde mehr seine Person als sein System traf.

Bonaventura, erschöpft, geduldig an sich schon, nahm das Papier, um es in Muße durchzulesen. Er blieb eine Stunde auf seinem Zimmer. Um sich zu sammeln, schrieb er Briefe, las Rechnungen, zerstreute sich mit Zeitungen … Zuletzt bereute er, doch nicht nach Westerhof gefahren zu sein … Selbst für Thiebold’s schwaches Klavierspiel wäre er jetzt dankbar gewesen …

Beim gemeinschaftlichen Abendimbiß, den er nicht ablehnen konnte, mußte er dem Wirth, der fast immer allein das Wort führte, auf alle Gebiete der Seelsorge und 215 Liturgik folgen, ihm sogar in manchem Recht geben. So z. B. als er gegen die Einmischung der Dilettantenmusik in den Cultus sprach und sagte:

Ueberhaupt, Herr Domherr, wenn ich höre, die Stiftsdamen von Heiligenkreuz wollen nächste Ostern wieder in der Messe mitsingen, da weht mich schon ein Grauen an! O diese Eitelkeit! Diese Eifersucht! Diese Prätension! Jenes Fräulein will ein Solo singen, diese alte Comtesse nicht minder, nun kommt der Singdirector aus Witoborn und bringt mir diese Botschaft und jene; die eine ist heiser, die andere hat sich krank geärgert; gerade wie bei der Komödie! Und was spielt das Altarsakrament dabei für eine Rolle! Wie die Affen müssen wir stehen und warten, bis die Damen nur auf dem Chore einzufallen die Gnade haben! Sursum corda! ruf’ ich und diese Weibsen halten mir kein Stichwort! Hat sich bei einer die Spitzenmantille verschoben, so kann die heilige Wandlung warten, bis der Schaden wiederhergestellt ist! Da bin ich für unsere einfachen Kapelljungen! Sagen Sie selbst, das ist doch frisch, ländlich, geht zu Herzen. Freilich muß auch da so ein Heidenkerl, so ein Cantor, nicht dabei sein und wunder thun, als wenn unser Herrgott im Himmel zunächst nur für die Unterbringung der Instrumentalmusik zu sorgen hat!

Bonaventura mußte des Eiferers lächeln, der in manchem Recht hatte, wenn er auch die neurömische Reaction wie einen Landsturm organisirt haben wollte …

Mir ganz recht, sagte Müllenhoff, wenn wir, wie in Frankreich und Belgien, nun recht bald endlich auch die Jesuiten kriegen! Sie brauchen ja nur manchmal zu 216 kommen, manchmal zu predigen und können dann immer wieder abziehen. Die Pfarrer hätten keinen Nutzen davon, sagen unsere aufgeklärten und faulen Collegen? Im Gegentheil! Die Jesuiten lassen durch ihre Predigten so viel Schrecken zurück, daß uns das auf Monate lang zugute kommt. Machen sie’s zu arg, so können wir Pfarrer immer sagen: Seht ihr, so fegen euch andere; seid froh, daß ihr an uns so sanfte Flederwische habt! … Sie waren ja auch früher Pfarrer auf dem Lande? setzte Müllenhoff hinzu und schenkte wacker ein …

Gewiß, gewiß! antwortete Bonaventura zerstreut und deckte sein Glas mit der Hand …

Müllenhoff erzählte seine Verhandlung mit den Gemeindevorständen, seine Reform des Finkenhofs, seine Stiftung des Jünglings- und Jungfrauenbundes, seine Gewohnheiten beim Beichthören, seine Uebungen im richtigen Rosenkranzsprechen und seine Heilung der „Kniesteifigkeit“ …

Bonaventura’s Lächeln und Schweigen nahm er für volle Zustimmung und beklagte nur, daß, „im Vertrauen gesagt“, ihn der Umgang mit den vielen Vornehmen oft in ärgste Verlegenheit setze … Aufrichtig gesagt, warf er halb ernst, halb im Scherz ein, obgleich ich heute den Tanz zur tiefsten Hölle gewünscht habe, so sollten wir doch – im Seminar wirklich etwas tanzen lernen! Blos des Anstands und einer gewissen Manier wegen!

Die Jesuiten lehren’s ja! sagte Bonaventura … Aber wie wollen Sie dann nur, fuhr er fort, bei solcher Scheu die Exercitien halten mit so vielen vornehmen Herrschaften? Ueberhaupt, wie denken Sie sich denn diese Uebungen?

217 Die Exercitien dauern vier Wochen! sagte Müllenhoff. Die Herrschaften, einige zwanzig, wohnen für die Zeit alle bei Frau von Sicking! Jeder Tag hat seine bestimmte Regel! Alle geistlichen Handlungen und Erweckungen kann ich allein nicht verrichten; Sie werden auf dem Papier, das ich Ihnen gab, finden, wie ich mindestens noch drei bis vier Priester als Aushülfe hinzunehmen muß … Ich nehme sie mir aus Witoborn. Manche Rücksichten muß ich freilich dabei beobachten. Dem Provinzial von den Franciscanern darf ich die Ehre einen Vortrag zu halten nicht entziehen, sogar ein Gebet zum Schluß muß ich mir vom Bischof selbst erbitten. Mir, auf dessen Sprengel die ganze Veranstaltung fällt und der ich dadurch das Recht habe, die Sache zu leiten und zu beobachten und mir dies Recht auch nicht nehmen lasse, mir behalt’ ich die Montags- und Donnerstagserweckungen vor. Apropos! Ich habe mir eine methodische Schilderung des Fegfeuers, der Hölle und des Paradieses vorgenommen … Eine zeitgemäße und moderne Hölle …

„Und nun, du beneidenswerther Verdammter, wird ein Sendbote Lucifer’s dir entgegentreten“, sprach Müllenhoff sogleich aus dem Kopfe, während Bonaventura, seinem Ohr nicht trauend, noch mit dem Lachreiz kämpfte … „im glühenden Widerschein der Majestät Seines Herrn und wird dir die «Stunden der Andacht» zeigen, die du in den Zeiten deiner Denkglaubigkeit das Buch der Bücher nanntest! Hast du auf Erden geglaubt“ – Der Sprecher stockte, zog ein Concept aus der Rocktasche und las dem Gaste, der nicht wußte, wie ihm geschah:

„Hast du auf Erden geglaubt, im Schatten einer 218 Laube, von Bienen umschwärmt, unter dem Duft von Hollunderblüten dich vor dem wahren Hochaltar und dem Sanctissimum deines Schöpfers zu befinden, besonders wenn du dazu noch aus diesem deinem Buch der Bücher ein Kapitel über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hattest, und gingst dann hin und begossest deine Blumen, etwa wie wenn du selbst ein solches Lob deines Schöpfers wärest, aber kein anderes heiliges Naß brauchtest, als deinen sentimentalen «Thautropfen», keinen andern Kelch, als die Gießkanne deiner angebeteten «Natur» – dann, dann, du beweinenswerther Denkglaubiger, sollst du, umschwärmt von feurigen Hornissen, dein geliebtes Buch, die «Stunden der Andacht» wiederfinden als «Jahrhunderte der Qual», sollst sie auswendig lernen rück- und vorwärts, sollst sie in alle Sprachen übersetzen, selbst in die, die du nicht gelernt hast, und wehe dir, wenn ein Jota fehlt, wenn von dir ein Zeitwort falsch angewendet, eine Feinheit fremder Sprachen unbeachtet geblieben ist!“ …

Das ist ja mehr, als Nero und Busiris! rief Bonaventura in die Hände schlagend …

„Da kommen sie denn“, fuhr Müllenhoff ungehindert fort, „diese Schmachtenden, diese Zärtlichen, die über einen Käfer weinen konnten, den ihr Fuß im Grase zertrat, und keinen Blick, geschweige eine Thräne dafür hatten, wenn sie stündlich ihren Gott, ihren Heiland und seine Gebote mit Füßen traten! Jene Schmachtenden, die ein Marienwürmchen liebkosen und bewundern können und Maria selbst nur für eine ganz gewöhnliche Mutter wie andere auch halten! Jene Empfindsamen, die mit 219 Freimaurermoral alle Todsünden zuflicken, alle Risse der Herzen mit phrasenhaftem Kalk und Mörtel zu verschmieren wissen! Ihre ruchlosen Devisen: «Thue recht und scheue niemand!» oder «Wir glauben all’ an Einen Gott!» die werden mit Flammenschrift an dem Vorhof desjenigen Theiles der Hölle stehen, der gerade diesen Patent-Seelen extra bestimmt ist! Riesengroß werden die Buchstaben sein, die die Teufel mit dreizinkigen Gabeln schüren müssen, damit sie ganz so brennen, wie sie im Munde dieser Freimaurer lebten und nicht etwa lauten: «Thue recht und scheue dennoch Gott und seine Heiligen!» oder: «Es ist nur Ein Gott, in dem allein das wahre Heil!» O, des Jammerns dann, wenn diese Freimaurerseelen zu dem Gekreuzigten, dessen einflußreiche Stellung bei Gott sie nun wol erkannt haben werden, aufblicken und auch vor diesem dann um Titel, Orden und Beförderungen schmachten, aber der feurige Osiris mit dem Ochsenkopf ihnen nachläuft, sie zu umarmen als seine ägyptischen Brüder. Oder wenn ihre Logenschwester Isis, die holde Mutter Natur, ihre gnadenreiche Allerseligste, ihnen zuruft: Hebt meinen bekannten Sais-Schleier! – und sie sehen dann ihre geliebte Mutter aus hundert Brüsten deren Wohlthaten spenden, feuerspeiende Berge, Erdbeben und daherbrausende, aus den Schienen gegangene Locomotiven! Alle ihre Mittler und Erlöser werden ihnen zuwinken mit den Wohlthaten, die diese spenden können – Buddha mit der Kunst, hundert Jahre auf einem Beine zu stehen, Sesostris mit Pyramiden, die erst auf ihren Leibern das sichere Fundament bekommen sollen! Selbst ihr letzter Prophet, Nathan der Weise, wird ihnen an-220bieten von den Waaren, die er gerade aus Damascus mitgebracht hat, vorzugsweise jenen Mantel mit dem rothen Templerkreuze, einen Mantel von Blei, so schwer, daß sie damit alle Greuel und Verbrechen zu tragen glauben sollen, die sie hienieden mit ihrem verschlissenen Humanitätsgarderobenstück der Liebe bemäntelt, beduldungelt und betoleranzelt haben“ …

Genug, genug! rief Bonaventura; ich fürchte mich vor meiner Nachtruhe! … Er deutete auf einen Wächter, der auch hier die zehnte Stunde abrief, und entfernte sich mit einem einfachen, alle Hoffnungen des Pfarrers auf Zustimmung und Beifall ironisch abschneidenden: Gute Nacht! …

Jeden Morgen las Bonaventura die Messe. Bald in Sanct-Libori, bald in Heiligenkreuz, bald auf dem Schlosse. Dann besuchte er auch wol die Schule, war viel in Witoborn, wo ihm die schuldige Rücksicht gebot, diese oder jene hervorragende Persönlichkeit zu besuchen. Beichtabnahmen hielt er nicht, so sehr auch mancher danach Verlangen trug.

Als er am folgenden Morgen nach Heiligenkreuz gegangen war, wo vor den Stiftsdamen von ihm die Messe gelesen werden sollte, fand er, als die heilige Handlung vorüber und er schon im Begriff stand, sich in der Sakristei zu entkleiden, Thiebold, der ihm die gestrigen Erlebnisse schildern wollte, soweit sie die ihm in der Beichte von Bonaventura vorgeschriebene Pflicht betrafen …

Thiebold hatte vorausgesetzt, daß er dem Domherrn diese Mittheilungen in der entsprechenden seelsorglichen 221 Form zu machen hätte, und suchte ihn deshalb im Meßornate auf. Schon sehr zeitig mußte er mit seinem Einspänner aus Witoborn ausgefahren sein.

Der Cantor fungirte für den alten Tübbicke, dem diese Frühwege schon auch sonst zu beschwerlich wurden …

Auf eine Weisung, die der Cantor erhielt, beide allein zu lassen, begann Thiebold die Mittheilung all des Räthselhaften, das ihm Armgart gestern in der Kapelle angedeutet hatte, und wollte hören, ob nun doch noch eine Verpflichtung bestünde, seinem Freunde Benno die „stattgefundene Täuschung“ mitzutheilen …

Bonaventura erwiderte nach ernstem Sinnen über die Worte Armgart’s:

Ich glaube, lieber Herr de Jonge, daß Sie jetzt besser thun, diesen Gegenstand fallen zu lassen. Ziehen Sie vor, Ihren Fehler durch desto innigere Beweise der Freundschaft für unsern guten Benno wieder gut zu machen! Armgart will nicht, daß Benno etwas von ihren frühern Empfindungen erfährt? Dann um so besser, wenn ihn die gegenwärtigen des jungen Mädchens nicht enttäuschen. Zu jung und unklar noch in sich selbst scheint sie mir zu sein, als daß ihr Herz schon in dem Grade für irgendjemand sollte entschieden haben, um etwas auf die Beweise ihrer Gunst zu bauen. Ein Mädchenherz in diesem Alter ist eine unbekannte Insel, die der Seefahrer mit Zagen betritt, ungewiß, was sie birgt; bald hoffend, bald getäuscht geht er vorwärts, bei jedem Schritt entdeckt er Unerwartetes und findet sich erst nach langer Zeit in ihm zurecht. Zunächst wird das Wiedersehen ihrer Aeltern sie ganz in Beschlag 222 nehmen. Ich höre, daß beide sich bald in dieser Gegend einstellen werden …

Der Oberst wenigstens! fiel Thiebold ein. Ich weiß es für bestimmt von Hedemann … Er kann in acht bis vierzehn Tagen hier sein. Schon liegt Hedemann’s Gesuch an die städtische Behörde von Witoborn vor, vorläufig die Wasserkraft der Witobach auf Handpapier gehen zu lassen … Die Aufregung, die in der Stadt dieser Antrag hervorgebracht hat, ist ridicül … Alles intriguirt dagegen … In der heiligen Stadt Witoborn Papier fabriziren! Eine Erfindung des Satans fördern! … Entschuldigen Sie, Herr Domherr, ich erzähle nur, was ich von Benno und von Offizieren „Bei Tangermanns“ gehört habe …

Bonaventura begriff, was sich von einem so dumpfen Geiste, wie er ihn hier überall vorfand, voraussetzen ließ, und fügte hinzu:

Aber auch Frau von Hülleshoven hat die Absicht, ihren Gatten nicht allein sich in die Lage versetzen zu sehen, Armgart so nahe zu kommen. An dem Tage, wo der Oberst in Witoborn eintrifft, ist sie hier im Stifte, wo sie eine Verwandte der Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien, ein Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, aufzunehmen versprochen hat … Verrathen Sie jedoch nichts davon! Sie kennen Armgart’s Phantasie –

Ihr Gelübde! Die Aeltern sollen sich vereinigen oder niemand gewinnt sie …

Bonaventura schüttelte den Kopf … Noch immer die Grille, die er schon aus den in Kocher am Fall gelesenen Briefen kannte …

223 Thiebold versprach auf viel mehr, als „nur auf Ehre“ sein unverbrüchlichstes Schweigen über die von zwei Seiten auf Armgart anrückende Prüfung und bot dann dem Domherrn seinen Einspänner an. Er wollte noch im Stifte bleiben und bei den Damen Besuche machen. Er erklärte, dann zu Fuß nach Westerhof zu gehen, wo er wie fast täglich zu Mittag speiste. Tante Benigna hatte ihn von dem Frühboten, der jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, schon wieder einladen lassen, ihn, nicht Benno. „Wir sind es Terschka schuldig“, sagte sie zum Onkel Levinus, der gegen die steten Zurücksetzungen Benno’s bescheidene Bedenken erhob, „daß wir auf den Bevollmächtigten Nück’s keinen zu großen Werth legen.“

Bonaventura mußte den Vorstellungen Thiebold’s nachgeben, schon aus Rücksicht auf den Gaul, der hier bis Mittag hätte im Freien zubringen müssen; Thiebold war im Stifte so beliebt, daß er bei einem Morgenbesuch leicht in die Lage kam, gleich zu Mittag, nicht selten zum Nachtessen zu bleiben … Es war eben Thiebold’s Talent, alle Menschen zu gewinnen … Er wußte nicht nur einige Dutzend Pfänderspiele, sondern ließ auch Garn und Seide auf sich abwickeln … Dabei seine bequeme Prätensionslosigkeit in Bildungssachen! Er machte gar kein Hehl daraus, daß er bei weitem weniger wußte, als Alexander von Humboldt. Wenn eine von den Damen dichtete (und es waren nur fünf oder sechs darunter, die nicht etwa eine Ausnahme machten, sondern ihr Dichten nur nicht eingestanden), so bewunderte er jeden Vers, jedes Bild, hatte nie dergleichen gehört oder gelesen und war ein Zuhörer so voll 224 Aufmerksamkeit, daß er schon eine ganze Sammlung von Liedern im Portefeuille beisammen hatte, die sein Freund Joseph Moppes componiren und Aloys Effingh mit Illustrationen versehen sollte.

Flüchtig noch erfuhr Bonaventura von Thiebold die wiedergekehrte Visionsgabe Paula’s und von dem witoborner Kutscher die Genesung der kleinen Tochter des Herrn Jean Tübbicke durch einen Rosenkranz, den sie gestern gesegnet hatte … Im Pfarrhause fand Bonaventura die Bestätigung. Der alte Tübbicke empfing ihn mit freudestrahlendem Antlitz. Die kleine Fanchon lag nach Aller Meinung im Sterben, als der Großvater mit dem Amulet kam. Man legte es dem athemlosen, fieberglühenden Kinde um den Hals; es stellte sich Schweiß ein, das Fieber ließ nach und schon berichtete der maître-tailleur Jean Tübbicke, der im Pfarrhaus selbst zugegen war, von einer vortrefflichen und stärkenden Nacht. Herr Jean Tübbicke kam, um beim Pfarrer aufs entschiedenste gegen den Verdacht zu opponiren, daß es Tante Schmeling wäre, die an seiner Thürschwelle Kinder aussetzte. Es kam zu einem heftigen Auftritt. Müllenhoff entließ ihn mit den Worten: „Affenschänderisches Volk! Grützköpfige Dummheit, wenn du nun gar noch ausländische Bettelpfennige für holländische Dukaten nimmst! Lallst deine edle deutsche Muttersprache halb schon nur, wie ein blökendes Kalb, und willst noch auf Zeisigart französisch zwitschern und niedlich thun mit Elefantenbeinen? Ei, daß dir doch über Nacht die Engel vom Himmel dein maître-tailleur-Schild vom Fenster nähmen! Siehst du denn nicht, was ein altchristliches 225 Gebet für Gnade im Gefolge hat? Gehst du nicht endlich in dich, Gütertheiler, so hängt in dem Schild noch das Bret zum Sarge deiner Fanchon über deinem Hause!“

Schlimm, schlimm, schlimm! brummte nur immer im Gehen vor sich hin der alte Tübbicke, enträthselte dem Domherrn den Zusammenhang dieses Zanks und kam auf die Gräfin und seinen zunächst Gott, dann ihr darzubringenden Dank zurück …

Bonaventura litt unter allen diesen Mittheilungen … Auch Thiebold’s Erzählung von der Vision der Schlafenden bewies, daß Paula’s ekstatische Zustände doch wieder zurückkehrten. Noch hatte er keinem derselben seit ihrem Wiedersehen beigewohnt … Mit bangem Herzen eilte er nach Westerhof. Einen vollen, vollen Tag hatte er ohne Paula sein können! … Der scharfe Wind erfrischte seine Wange. Die kahlen Pappeln, Buchen und Erlen am Wege ächzten … Er drückte den Hut auf die Stirn. Seinen warmgefütterten Winterrock fest an sich ziehend, schritt er sehnsuchtbeflügelt dahin … Da lagen – nach einer kleinen Stunde – die vier Thürme des Schlosses! Weißschimmernd der graue Schiefer an den Stellen, wo der Wind den Schnee abgetrieben! Hinter den Fenstern dort oben das süße Mysterium, wo Frauen von zarter Sitte und holder Anmuth wohnen! Gar nicht gedenken konnte er, wie ihm Paula’s Dasein doch nur so war, wie dem Baume sein Blatt kommt und geht und wiederkehrt und wieder schwindet, immer ein anderes ist und doch dasselbe, tausendfach immer nur Eines, Wirklichkeit und doch nur ein 226 Begriff. Wäre das edle Gemälde der Gräfin nicht wie auf Goldgrund gemalt gewesen – er wäre vielleicht verloren gewesen. Irgendeine einzelne Schalkhaftigkeit, wie sie Armgart besaß, irgendeine lächelnde Caprice, wie Lucinde, und der Erscheinung Paula’s wäre jene Leibhaftigkeit verliehen gewesen, die herausfordert. Ihm aber war sie so wie Andern; auffallend mußte erscheinen, daß die auch jetzt doch noch so reiche Erbin nicht von Freiern umgeben wurde, Paula konnte sich nur entweder selbst verschenken oder sie mußte verschenkt werden; ein Werben um sie, ein sie Liebenmüssen oder Liebenwollen schien bei einer so geistig vornehmen Natur kaum aufzukommen.

Vor dem Schlosse fand Bonaventura, wie um diese Zeit fast immer, eine Anzahl Wagen. Zu den vielen Rücksichten der Etikette gesellte sich die hier stets genährte Neugier und dann war gestern beim Leichenbegängniß so vieles vorgefallen, worüber man seine Gedanken austauschen mußte; ja auch die neue Kunde war schon überall hinausgegangen, die Gräfin hätte das Leichenbegängniß selbst gesehen und ein von ihrem Leib genommener Rosenkranz hätte ein Kind in Witoborn vom Tode gerettet. Auf den Treppenstufen sah Bonaventura wieder die Zahl der Gichtbrüchigen und Blinden und Hülfsbedürftigen wie sonst …

Armgart kam ihm auf der Treppe entgegen und theilte den Harrenden Amulete aus, die Paula berührt hatte. Diejenigen unter seinen Arzneien, deren Heilkraft verbürgt ist, kann der Apotheker nicht mit größerer Zuversicht verabfolgen, als hier Armgart, nicht einmal mit Verlegenheit 227 vor Bonaventura niederblickend, eine Anzahl kleiner Kissen austheilte, deren sie und die Stiftsdamen tagein tagaus eine Anzahl verfertigten. Diese Kissen waren fingerlang, fingerdick, von weißer Seide, innen mit Baumwolle gefüttert, von außen bildeten lose und weite Stiche ein rothseidenes Kreuz … Paula berührte sie nur und sie sollten heilen. Armgart theilte diese Kissen aus mit einer Zuversicht, als müßte sie jeden Zweifel daran für teuflisch erklären … O gut, rief sie dazwischen dem Domherrn entgegen, daß Sie kommen! Paula schlummert! Reden Sie mit ihr! Alles steht erwartungsvoll! Sie spricht wie gestern! Aber da sie niemand zu fragen wagt, antwortet sie nicht zusammenhängend! Der Onkel verbietet es andern! Sie, Sie, Domherr, Sie könnten endlich ein Machtwort sprechen! …

Bonaventura stand voll Zagen …

Als Armgart die Leidenden entlassen hatte, ergriff sie Bonaventura’s Hände, von denen die eine, schon während des Beobachtens der Scene des Austheilens der Kissen, ihres Handschuhs sich entledigt hatte. Halten Sie doch die Leiter, auf der Paula gen Himmel steigt! sagte sie, beide Hände ergreifend. Warum thun Sie’s nur nicht! Alles sehnt sich danach und niemand mehr als Paula selbst! Oder gab es keine heilige Theresia, sah Franz von Assisi nicht den Himmel offen? Nicht die heilige Brigitta? Erleuchtete Gott nicht Katharina von Genua und nun erst gar die von Siena? Hören Sie, was Paula redet und fragen Sie dann selbst!

Was soll ich fragen! sprach Bonaventura wie gefangen … Alles wurde still umher … Herrschaften und 228 Diener waren in den innern Gemächern und standen ohne Zweifel um Paula’s Lager … Armgart hielt fort und fort seine Hände …

Eine Handbewegung nur von Ihnen! Diese weiße Hand auf ihr Herz gelegt! Eine sanfte Frage nur von Ihrem Munde! O kommen Sie!

Armgart! – lehnte Bonaventura, voll Mismuth ohnehin gegen Armgart, ab; Armgart küßte ihm jetzt selbst seine Hand …

Fragen Sie nach meinem Vater! Nach meiner Mutter! Ob es wahr ist, daß sie jede Stunde hier eintreffen können! Fragen Sie, ob die Zukunft uns alle, alle – unglücklich macht!

Bonaventura blickte finster. Er hörte zwar im Geist die Worte des Herrn, der durch Prophetenmund, Joel 2, 28.29 spricht: „Es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht der Herr, da will ich von meinem Geist über alles Fleisch ausgießen. Und euere Söhne und Töchter werden weissagen, euere Jünglinge werden Gesichte schauen und euern Aeltesten werden Traumgesichte erscheinen. Ja auch über meine Knechte und Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geiste ausgießen und sie werden weissagen“ … Dennoch wollte er mit der Hand über Armgart’s Stirn streichen und ihr sagen: „Mädchen, laß doch nur treu und wahrhaft dein eignes Herz reden und du hast deine Zukunft gewiß!“

Nun aber ergriff Armgart blitzesschnell einen Ring an des Zögernden Hand … Es war der Trauring seiner Mutter, jener, den der Onkel Dechant in dem Leichenhause des Sanct-Bernhard gefunden hatte, jener Ring, der als Er-229kennungsmittel vor dem entstellten Körper seines Vaters gelegen, derselbe Ring, von dem Bonaventura ähnlich wie Lucinde von Bickert’s Schrift, gesagt hatte: In ihm liegt die ganze Lebensfrage unserer Kirche! Und noch ehe er wußte, was geschehen, hatte Armgart den Ring schon ihm abgezogen und war mit ihrem Raube davongeeilt …

Sie eilte in den Vorsaal, dessen Thür sie offen ließ …

Bonaventura, bestürzt über ein Vorhaben, das er nicht sogleich begriff, folgte … Die wenigen Anwesenden, die aufgeregt in dem grünen Nebenzimmer standen, grüßend, wandte er sich Armgart zu, die mit ihrer Eroberung noch eine Weile sinnend vor dem Onkel Levinus stand, als wollte sie von diesem erst die Erlaubniß haben, Paula – mit dem Ringe zu magnetisiren … Dann aber, ohne seinen fragenden und zürnenden Blick zu erwidern, ging sie rasch durch die offen stehenden Thüren dem von der übrigen Zahl der Besucher schon umstandenen Schlummerlager Paula’s zu …

Es waren so viel Frauen zugegen, der Verkehr durch alle geöffneten Zimmer hindurch war so gehindert, daß Bonaventura’s Eintreten die Aufmerksamkeit nicht fand, wie sonst … Aller Augen waren auf Paula gerichtet … Auch einige geistliche Herren aus Witoborn waren zugegen und drangen in Bonaventura, den andern zu folgen … Mit einer Empfindung, als wären die Engel vom Himmel gegenwärtig, drängte sich alles dem Vorzimmer zu vor Paula’s Schlafgemach …

Hier lag sie auf dem Ruhesopha … Die Vorhänge 230 waren zurückgezogen; einige Stiftsdamen standen um sie her, Armgart knieete vor ihr und steckte eben leise, nur von Bonaventura beobachtet, seinen blinkenden Raub an den Ringfinger der linken Hand Paula’s … Teppiche milderten jedes Geräusch der Umstehenden …

Paula schien in der That Reden vor sich hin zu murmeln …

O das ist schön! sagte sie endlich vernehmbarer und ihr fieberhaft angehauchtes Antlitz begann zu lächeln. Sie schien die Annäherung eines magnetischen Rapportes zu fühlen, ja schien sie wie eine geistige Nahrung einzusaugen …

Wie wird es so licht und so hell jetzt! … sagte sie plötzlich lauter und wie begeistert. Von der Sonne! … Alles! Alles! … Auch ihr Leib ist Licht! … Die Lichttropfen gleiten ihr aus den Fingern!

Wem? fragten einige. Auch Bonaventura mit wehmuthumschleierten Augen …

Onkel Levinus erläuterte mit gedämpfter Stimme und trotz der Gewöhnung an diese Erlebnisse doch erzitternd:

Das wird der Hochschlaf! Immer, wenn sie den höhern Grad des Hellsehens erreicht, spricht sie von sich selbst als von einer dritten Person! Es ist dann, als schritte ihr Geist aus dem Körper heraus, sodaß sie sich selbst sieht. Das Tröpfeln aus den Fingerspitzen ist der Anfang …

Tante Benigna bemerkte jetzt den Ring an Paula’s Finger, wagte aber keine Frage oder Einsprache zu thun und bangte nur, wie alle …

231 Paula schwieg eine Weile, als wartete sie das Entgleiten des elektrischen Fluidums aus ihren Fingerspitzen oder die weitere Annäherung Bonaventura’s ab …

Auch Terschka trat inzwischen zu den ängstlich Harrenden … er grüßte Bonaventura und die, die er heute noch nicht gesehen hatte …

Wie ist das so schön! fuhr Paula in kurzen Sätzen fort… Ach, die herrlichen Blumen! … Rosen um dunkle Cypressen! … Die gehen ja hoch hinauf bis ins grüne Laub! … An den Blättern zittern Thautropfen, die die Sonne bescheint! … Die sanfte Datura! … Die stolze Magnolika! …

Der Onkel schaltete bedeutsam ein:

Die absolute Wesenheit der Dinge! Erst kommt sie durch Blumen, dann durch bunte Ringe und Kreise! Es ist zuletzt die Welt des reinen Seins ohne Zeit und ohne Raum …

Paula fuhr jedoch im Gegentheil fort:

Ein herrliches Schloß! … Mit einer Fahne auf dem Thurm! … Wald und Berg! … Immer hört sie ein Glöcklein, das nicht aufhören will! …

Onkel Levinus sah sich um und deutete mit stummem Blick nach oben. Er wollte sagen: Sie hört die Harmonie der Sphären …

Hirten kommen aus den Thälern, fuhr Paula fort, und steigen zum grünen Wald hinauf! … Wie in der Kirche ist’s unter den Bäumen! … Die Bäume werfen so lange Schatten! So lange! … Vor großen Kirchenfenstern schimmern so die grünseidenen Vorhänge! …

Onkel Levinus lächelte die Geistlichen und die Da-232men an, als wollte er sagen: Die langen grünen Schatten sind die Urbilder der Dinge! Die ewigen Grundformen! … Und Tante Benigna bedauerte im stillen nur die Abwesenheit Püttmeyer’s … Auch Thiebold’s, der zum Essen kommen sollte und durch die anwesenden Stiftsdamen abgesagt worden war, weil er heute wieder, wie so oft, dort zurückbehalten wurde zum Vierhändigspielen mit mindestens drei bis vier der Stiftsfräulein die Reihe herum …

Und Armgart, die noch immer knieete, wandte ihren Kopf mit einem Bitteblick auf Bonaventura und langte mit dem Arme, als sollte er näher treten, Paula magnetisiren und sie ausdrücklich um ihre Anschauungen befragen …

Bonaventura stand in scheuer, schmerzlicher Befangenheit …

Paula aber that dem Onkel Levinus heute nicht den Gefallen, bei dem reinen Sein der Dinge zu bleiben, sondern fuhr fort:

Bienenstöcke sieht sie zwischen den mächtigen Bäumen! … Das sind Kastanienbäume! … Sie kennt sie! … Die blühen schon! Die rothen Pyramiden! Und die Mandelbäume, die blühten gar schon ab! … Die Bienen umschwärmen sie! … Und immer, immer läutet die Glocke … Nun sucht sie die Glocke … sie hängt ja an einem Ast der Bäume, dicht vor der Hütte von Moos! …

Onkel Levinus schien betroffen, daß sich in der Sphäre des reinen Siderismus heute soviel tellurische Ueberbleibsel finden sollten …

233 Es ist ja fast – wie in – Italien! … bemerkte inzwischen Terschka …

Italien! … Dies Wort genügte den Damen im Grunde noch mehr, als das reine Sein … Was führte die Seherin nach Italien? … Paula konnte mit irdischen Augen bis nach Italien sehen? …

Die Messe liest er nicht! … sprach Paula nach einer Weile, während alles lauschte und Onkel Levinus noch immer nicht an eine Versetzung der Anschauungen Paula’s nach Italien, sondern nur ins Geisterreich selbst glaubte … Mit ganz lauter und bestimmter Anrede fragte er die Schlummernde jetzt: Wer? …

Der Eremit! antwortete Paula …

Sieht sie denn einen Eremiten? fuhr der Onkel fort, mit scharfer Betonung, etwa in der Art, wie ein Arzt mit einem Typhuskranken spricht …

Mit weißem Bart! antwortete Paula kindlichsten Gehorsams … Ein heiliger Gesang wallt herauf … Sie tragen Fahnen –

Es ist eine Procession! wagte sogar ein Kanonikus aus Witoborn jetzt laut zu äußern. Vielleicht war auch er geneigt, eher an die Sphäre des reinen Seins, als an Italien zu glauben und in der Procession einen Beweis für die Rechtgläubigkeit des Himmels zu finden …

Sie sieht keine Bilder, keine Fahnen … antwortete Paula … Sie kommen in der Hand mit Büchern … Größer sind sie als die Breviere … viel größer …

Triumphirend blickte der Onkel um sich. Die Geistlichen und die Frauen erhielten wieder einen Anhalt für das Jenseits; denn ohne Zweifel waren diese großen 234 Bücher, wenn nicht die Gesetzestafeln des Moses selbst, doch Schriften der Kirchenväter oder Missalien, die Paula in den Händen der rechtgläubigen, geisterhaften Gestalten sah …

Sie lesen in den Büchern! … fuhr die Schlafende fort … Der Mann mit weißem Barte erklärt sie … „Gott ist ein Geist“, spricht er, „und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!“ Die sanfte Stimme! …

Bonaventura stand athemlos. Sein Blick fiel auf Terschka, der ihm voll Erstaunen zuflüsterte:

Ich glaube die Gegend zu kennen …

All die Blumen und die Käfer und die Bienen summen! … Wie grün ist das! … Smaragdgrün! Wie wenn in unserm Buchenpark die ersten Frühlingslauben sich wölben … Aber das sind nun Eichen! … Tief unten ist alles so milde, so weich und sanft …

Wer ist der Redner? fragte Onkel Levinus scharf …

Die Frauen erwarteten keine andere Antwort, als: Gott der Herr selbst!

Sie kennt ihn nicht! … sagte Paula …

Das Sprechen in der dritten Person hatte etwas Gespenstisches, das niemanden mehr bewegte als Bonaventura. Armgart’s fortgesetztes Bitten lehnte er mit der Hand ab. Doch kaum sah Armgart dies Vorstrecken seiner Hand, so erhob sich das phantastische Mädchen, ergriff sie und wollte ihn dem Lager näher ziehen …

Bonaventura machte nun in der That ein Kreuz über die ganze Länge der in schwarzer Seide gekleideten, in rüh-235render Halbbewußtlosigkeit daliegenden, fieberhaft angehauchten Gestalt der Gräfin und trat wieder zurück …

„Herr, wie so lange!“ sprach jetzt Paula mit erhöhter Kraft. „Auf, schlage ihn, denn das ist der Tag, an welchem der Herr hat übergeben deinen Feind in seine Hand!“ Die Hand auf das Buch hält er! … Hält es hoch empor! … „Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin!“ „Der Odem Gottes weht über die Lande!“ … Sie kann jetzt nicht hören … Die Frauen weinen … Die Männer reichen sich die Hände … Jetzt – jetzt – Ein Kelch – geht – um …

Ein einziger Ton des Schreckens unterbrach Paula’s Vision … Ein Kelch geht um? Das mußte eine Versammlung von Ketzern sein! … Das war die gemeinsame Empfindung …

Sie trinken alle daraus! fuhr Paula mit Bestimmtheit fort …

Einige der Frauen, die sich gesetzt hatten, erhoben sich … Andere, die standen, mußten sich nach Sesseln umsehen. Die Geistlichen blickten fragend bald auf Bonaventura, bald auf den Onkel Levinus, der gewissermaßen für alle diese Dinge die Verantwortlichkeit zu übernehmen hatte …

Es ist, sagte Paula – nicht die Messe –

In Bonaventura’s Innerm war es, als fühlte er die Erde unter sich wanken … Paula sprach wie seine innersten Gedanken aus …

Das Buch ist die Bibel! sagte Paula …

Der Schrecken vermehrte sich …

236 Der schöne Pokal! … Von rothem Krystall! … Wie Blut? … Ja er sagt: „Noch wird es in Strömen fließen, bis deine Burg, o Herr, Zion, deine Zinne, erobert ist!“ … Er ergreift den Kelch … Die Hand ist so weiß … wie der Schnee der Alpen … dort oben …

Längst zitterte schon in Bonaventura die Erinnerung an den geheimnißvollen Brief, den er empfangen, die Einladung, einst unter den Eichen von Castellungo zu erscheinen, dort ein neues Martyrium anzutreten, das der verbesserten Kirche … Und wie dann Paula selbst ihre eigene schöne weiße Hand emporhielt und sein Ring, der Trauring seiner Mutter, zu aller Erstaunen an ihrem Ringfinger blitzte, konnte er sein Herz nicht länger bewältigen … Aller Anwesenden uneingedenk, entsetzt über die Vergleichung der weißen Hand mit dem Alpenschnee und wieder doch von der frohen Hoffnung neu beseelt, daß sein Vater nicht in die Abgründe der Lavinen stürzte, nicht in der schaudervollen Morgue des Sanct-Bernhard vermoderte, nicht auf dem Friedhof zu Sanct-Remy auf dem Wege nach Aosta begraben lag, wiederholte auch er die Frage:

Wer ist der Redner?

Da schwieg anfangs Paula … Dann aber, zum Zeichen, daß sie Bonaventura’s Stimme wohl erkannt hatte, sagte sie, und sagte das wie vor Ueberraschung wonnig belebt:

Du fragst sie?

Alle – des Du’s staunend – sahen auf Bonaventura …

Schon aber sprach Paula weiter:

237 Es ist kein Greis! Weiß ist sein Haar, schneeweiß, aber seine Haltung noch wacker … Wer es ist? … Er ähnelt – dir! …

Bonaventura zitterte … Armgart ergriff seinen Arm krampfhaft … doch überselig …

Paula fuhr fort:

Seine Hütte gefällt ihr … Drüben aber liegt das Schloß … Die Fahne hat ihre Farben … ihr Wappen …

Wessen? fragte Terschka mit nicht mehr zurückzuhaltender Spannung …

Paula schwieg jetzt … Der Ton dieser Stimme störte sie …

Onkel Levinus deutete auf die Schlummernde selbst und sagte mit dieser stummen Geberde, die Schloßfahne trüge die Farben der Dorste-Camphausen selbst …

Dann ist es Schloß Castellungo! sagte Terschka mit höchstem Erstaunen. Der Eremit ist ein Deutscher, namens Federigo! Ich kenne ihn! Eine religiöse Sekte, die von Comtesse Erdmuthe dort beschützt wird, hat sich jetzt, wie so oft, um ihn versammelt! Ich wäre begierig, ob in diesem Augenblick, wo allerdings dort in dem schönen piemontesischen Thale der Frühling schon in vollster Blüte steht, in der That eine der von ihr geschützten Gottesverehrungen stattfände! Erfahren kann ich das und werde mich darum bemühen …

Terschka näherte sich dem Ruhebett …

Paula aber betete jetzt … Sie sprach Worte, die minder auffallend klangen … Maria und die Heiligen fehlten nicht … Endlich schwieg sie ganz … Einen Reiz, sie noch aus ihrem beginnenden, nun wirklich na-238turgemäßen Schlummer wach zu rufen, konnte nur eine Grausamkeit unerlaubter Neugier sein. Die Tante winkte, daß Paula der Ruhe bedürfte …

Die Frauen gingen zuerst … Die Geistlichen folgten … Onkel Levinus begann von Gräfin Erdmuthe und ihren Reformen …

Terschka entzog sich zwar dem für seine Stellung bedenklichen Gespräch, blieb aber mit Armgart zurück, die ihn festhielt und sich von Castellungo erzählen ließ, über das eines Abends Benno und Thiebold so harmlos gesprochen hatten, dabei sogar Porzia’s gedenkend, als einer Schülerin des Bruders Federigo und vielleicht einer künftigen Gattin Hedemann’s. Die Möglichkeit, daß Paula nur eine Reproduction der Phantasie gegeben hatte, lag nahe. Nur bewunderte Terschka, wie richtig alles zutraf, und Armgart ihrerseits staunte und grübelte, warum gerade jetzt Paula auf diese Anschauung kam. Sinnend und den Trauring betrachtend, den sie wieder zur Zurückgabe an den Domherrn an sich genommen hatte, ließ sie sich Castellungo so genau schildern, daß Terschka am Fenster hinter den Gardinen bei ihr stehen bleiben und flüstern mußte … Sie kehrten lange nicht zu den Uebrigen zurück …

Und doch war inzwischen neuer Besuch gekommen … Wenn Bonaventura annehmen wollte, daß der Trauring seiner Mutter es war, der diese Kette von Anschauungen veranlaßt hatte, wenn er im Bruder Federigo sich seinen Vater denken, in der an ihn gerichteten lateinischen Einladung eine Andeutung des väterlichen Unwillens finden wollte über die Wahl seines Berufes und einen 239 Drang der Sehnsucht des väterlichen Herzens auf ein Wiedersehen, dem dann eine Erörterung über die Ehe als unauflösliches Sakrament der Kirche folgen mußte – so fehlte, um ihn in die höchste Verwirrung zu versetzen, nur das noch, was ihm jetzt geschah …

Der Regierungspräsident von Wittekind stand im grünen Zimmer und war eben erst angekommen …

Zuckte der Schmerz der gewissen Ueberzeugung in Bonaventura: Dein Vater lebt noch und entzog sich nur der Welt, weil unsere Kirche nicht scheidet – so stand er dem Manne gegenüber, der die Hand einer Frau besaß, die seine Mutter war und die vielleicht in Bigamie lebte … Noch mehr … Der Präsident sprach zum Onkel Levinus, zur Tante Benigna und zu Bonaventura zugleich gewandt:

Ich fürchtete ihre Aufregung und ließ drüben eines der geheizten Fremdenzimmer aufschließen … Gehen Sie zu ihr und begrüßen Sie sie lieber erst unter vier Augen!

Wen? konnte Bonaventura nicht mehr fragen; denn schon bestätigte der Präsident dem Ahnenden:

Ihre Mutter! Sie ist gestern Abend angekommen! Wir suchten Sie eben im Pfarrhause auf und hörten, daß Sie hier sind – Die Sehnsucht der vortrefflichen Frau kannte keine Grenzen mehr! Wir fuhren hieher! Sie verlangt nach Ihnen! Machen Sie sie glücklich!

Bonaventura verließ das Zimmer, geführt von Tante Benigna und dem Onkel.

240 8.#

Bonaventura’s Herz überfiel ein Krampf, der ihm die Unterstützung seiner Führer zur Nothwendigkeit machte …

Im Vorsaal stand einer der zur glänzenden Livree noch mit Emblemen der Trauer geschmückten Diener des Präsidenten … Er stand bereit, ihn in das Zimmer zu geleiten, wo ihn seine Mutter erwartete …

Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen! hatte es einst in des Sohnes Brust gerufen …

Wieder riefen ihm wilde Stimmen dies Wort, aber es waren nur noch Stimmen der Erinnerung … Seine Brust trug schon zu schwer an tausend, tausend Bürden des Lebens und des Urtheils, zu schwer, als daß ihm noch die alte rigorose Strenge verblieben wäre … Auf Paula vorhin sich niederwerfen, sie durch Küsse aus den Banden der dämonischen Mächte wach rufen – wenn er das gekonnt hätte! … Alles hatte ihn gezogen, es zu wagen – nun durfte er doch in die friedenbringenden Arme eines Weibes sinken …

Mit überströmender Rührung war er dem Diener 241 gefolgt, der ihn weiter auf den Corridor hinausführte … Die andern Begleiter, die heilige Weihe des Augenblicks erkennend, ließen ihn allein vorschreiten … Der Diener öffnete eine der Thüren, über denen alte Wappen und Jagdtrophäen hingen …

Bewußtlos, nichts von der Umgebung, selbst nicht sogleich die Mutter ganz wiedererkennend, lag Bonaventura an einem Frauenherzen … Er, der Mann, weinte wie ein Kind … die Stätte durfte er geweiht nennen, wo er die Thränen über all die Empfindungen niederlegte, die seit dem immer höher und höher sich steigernden Reichthum seiner schmerzlichen Lebenserfahrungen sich in ihm ansammelten …

Die Mutter selbst war fast befremdet von der Weichheit seiner Stimmung …

Sie hatte solche Begrüßung nicht erwartet nach der Abneigung und dem strengen Urtheil, das ihr vom Sohn über ihre zweite Vermählung bekannt war. Sie wußte eben nicht, wie im Menschenleben oft ein aufgesammeltes Bedürfniß sowol der Liebe, wie des Hasses demjenigen andern zu Gute oder zu Schaden kommt, der uns dann gerade zuerst begegnet und so begegnet, daß nur ein geringstes Wegnehmen von der schweren Last des Vorraths in unserer dafür zu eng gewordenen Seele das Nachstürzen auch alles übrigen bedingt …

Frau von Wittekind war eine Frau hoch und schlank wie ihr Sohn … Ihr Haar war noch dunkel … Ihr Auge besaß eine energische Schärfe … Beim Lächeln der Freude, das sich in die Rührung mischen durfte, 242 zeigte ihr Mund noch wohlerhaltene Zähne … Das Schwarz ihres Kleides stand ihr, wie wenn sie es auch zur Hebung ihrer reinen weißen Haut hätte gewählt haben können … Die Finger waren wohlgerundet … Die ganze Art hatte etwas Vornehmes und abgeschlossen Sicheres … Besaß sie etwas ursprünglich Kaltes, so wurde dies durch die ergreifende Situation jetzt nicht ersichtlich …

Sieben Jahre! … begann sie … Und du, mein Bona, mein Priester! … Und Domherr schon! … Und doch bist du immer, immer so kalt gewesen – deiner Mutter?!

Schon war Bonaventura gefaßter … Er setzte sich mit der Mutter auf ein kleines Kanapee … Es war ein rings mit alten Landschaftsbildern geziertes, behaglich enges Zimmerchen … Umher blieb es still und ohne Störung …

In jungen Jahren haben wir immer viel heroischere Ideen als im Alter! sagte Bonaventura niederblickend …

Nennst du dich alt, mein Sohn! erwiderte die Mutter und streichelte die Wange des Erröthenden … Zugleich wich sie dem von ihr angeregten Thema der bisherigen „Kälte“ wieder aus …

Vom Onkel Dechanten, von Frau von Gülpen, von der alten Renate, von Bonaventura’s Hausstand, von Benno war die Rede … Frau von Wittekind lebte in völlig neuen Verhältnissen, hoffte nun aber eine innigere Anknüpfung derselben wieder an das alte Vergangene …

243 Wird der Präsident auf seinen Posten zurückkehren? fragte Bonaventura …

Nein, mein lieber Sohn! sagte die Mutter. Die Güter, die der Vater hinterlassen hat, sind so umfangreich, die Bewirthschaftung ist in den letzten Jahren, wo die Wunderlichkeiten des Alten über alles Maß gingen, so vernachlässigt worden, daß es Wittekind’s ganzer Kraft bedarf, um alles auf der gebührenden Höhe zu erhalten …

Dann gibt er eine glänzende Aussicht auf Staatswirksamkeit auf! sagte Bonaventura. Oft hatte man geglaubt, gerade seine Hand würde stark genug sein, das Gubernium der aufgeregten westlichen Provinzen zu übernehmen …

Wir haben darüber ernste Berathung gepflogen! entgegnete die Mutter. Meinem Gemüthe widersprach schon lange die falsche Stellung, in die er seinem Glauben gegenüber gerieth! Mit dem Vorangegangenen wird er brechen und sich dem Geist anschließen, der in diesen Gegenden herrscht. Es liegt darin für mein Herz eine tiefe Beruhigung!

Soweit ich unsern Volksstamm kenne, wird es einige Mühe kosten, das gegen ihn herrschende Mistrauen zu widerlegen! sagte Bonaventura aufhorchend. Zumal, da Herr von Wittekind – Bonaventura konnte nicht „Vater“ sagen – in dem Rufe steht, seine frühere Stellung ganz mit Ueberzeugung ausgefüllt zu haben …

Wohl! sagte die Mutter. Wittekind ist eine praktische Natur, wie in gewissem Sinn es auch sein Vater war … Er liebt den Ruhm, vielleicht nur den Ruhm 244 als gerechte Belohnung seiner Thätigkeit. Doch gibt er, soweit es geht, in vielem mir nach. Schon lange litt ich unter seinem Eifer für Administration und Beamtenthum. Jetzt hat er eine entsprechende Beschäftigung und wird, soweit ich ihn kenne, mit Behutsamkeit einlenken auf die neue Bahn, die auch seinem Gemüth eine größere Ruhe geben muß. Denn ebenso gut und weich kann er sein, wie er großmüthig und aufopfernd schon zu allen Zeiten war …

In den letzten Worten lag eine rechtfertigende Erinnerung an Bonaventura’s Vater, an seine Flucht, seinen Tod …

Als Bonaventura schwieg, nahm die Mutter diese Erinnerung von selbst auf … Sie ergriff des Sohnes Hand und sprach mit einer Fassung, die, so schon nach der ersten Rührung des Wiedersehens kommend, überraschen konnte:

Du bist reifer geworden, mein Bona! Du hast die Welt schon in anderm Lichte gesehen, als damals, da der Eindruck meiner Wiederverheirathung dir so befremdlich war! O, nenne mich keine Schuldige! Beurtheile mich nicht so hart, wie der damalige Generalvicar, der gefangene Kirchenfürst, der Wittekind haßte, weil er zu den Organen der Regierung gehörte! Als wir von der nahen Auflösung des Kronsyndikus hörten und da schon hierher reisen wollten, besuchten wir den strengen Mann in seiner Festungshaft. Er war von einem Spaziergang auf den Wällen zurückgekehrt und eben wollt’ er die Tabackspfeife, die er unbekümmert um den Brand, den er in der Christenheit angezündet hat, immer noch frohgemuth fortraucht, wieder füllen, als ihm der Vater – 245 Wittekind und ich gemeldet wurden. Dieser Besuch mußte ihn nicht wenig überraschen. Ich hatte Sie in andern Beziehungen wiederzusehen erwartet, Herr Präsident! sagte er, als er unserm Beileid staunend zugehört. Dieser Schritt wird Sie in eine schiefe Stellung bringen, wenn anders Sie mich nicht als ein Bevollmächtigter der Regierung besuchen! Wir benahmen ihm diese irrthümliche Voraussetzung und erklärten, daß wir Frieden zu schließen gedächten mit denen, mit welchen uns Geburt, Abstammung und gleiche Ueberzeugung in eine Reihe stellten. Er erwiderte: Es wird vielen so gehen, daß sie zur Erkenntniß kommen, und darum preis’ ich mein Loos und will es gern ertragen! Ich bin zum Eckstein geworden! Die Bauleute wollten mich verwerfen; aber ein neues Gebäude wird über mir errichtet werden! Ein segensreiches und vielleicht für ganz Deutschland! Er entließ uns gütig. Deiner gedachte er mit der mein ganzes Mutterherz mächtig überwallenden Prophezeiung, daß Gott dich zu großen Dingen erlesen hätte … Schon wär’ es im Werke, dich als Gesandten der Curie nach Wien zum apostolischen Nuntius zu schicken … Du staunst darüber? … Das wußtest du nicht? … O, ich erkenne deine ganze Natur … in deiner Bescheidenheit! … Mein Sohn! Mein, mein Sohn! … So sei auch versöhnt und nimm die Vergangenheit so licht und rein, wie der schöne Sonnenstrahl dort drüben glänzt über dem blendenden Schnee!

So zart und doch wieder so klug und gewandt in ihrer Denk-, Rede- und Gefühlsweise stand für Bonaventura die Mutter gar nicht mehr in seinem Gedächtniß. 246 Wie hatte sich bei ihr das Vergangene verwischt! Ihm kam bei dem Bilde des Schnees, das sie brauchte, sofort die Erinnerung an den Tod seines Vaters … Mit Bezüglichkeit wiederholte er: Ueber dem blendenden Schnee! … Erst allmählich verstand die Mutter diese Wiederholung und Betonung, seufzte dann tief auf und fuhr fort:

Die gnadenreiche Mutter sei mein Zeuge, daß ich an einen Abgrund erst geführt wurde durch die Umstände, nicht durch meine eigene Schuld! Die Worte des heiligen Sakramentes der Ehe sagen: „Und er soll dein Herr sein!“ Dies Wort, mein lieber Sohn, ist nicht allein darum gesagt, daß die Gattin ihrem Gebieter gehorsame, es ist auch darum gesagt, daß der Gebieter ihr wirklich ein Herr sei! Jede Frau hat das sehnsüchtige Bedürfniß, in ihrem Manne auch wirklich den Führer, den berathenden Freund, ja selbst in zweifelhaften und schwierigen Fällen einen befehlenden Herrn zu haben. Mir war das dein Vater nicht. Im Gegentheil, ich, ein älternloses Fräulein – Besitzthümer hatten ja die Wehrförders, mein Geschlecht, nicht und meine Erziehung war unvollständig – ich wurde der Gebieter für ihn! Nicht durch Laune oder Neigung zum Herrschen, nur durch die Umstände, die ihn unfähig machten, das Ruder selbst zu führen. Diese Asselyns sind ein herrliches, edles Geschlecht gewesen; es ist schmerzlich, daß dieser alte Friesenstamm aussterben muß – Benno kann doch nur den Namen fortführen. Franz, der Dechant, ist die Herzensgüte selbst, aber wie leichtsinnig! In seiner Jugend war er fähig die Bahnen der Geistlichen zu wandeln, die in Frankreich den Untergang der Religion verschuldet 247 haben. Der zweite, Max von Asselyn, Benno’s Adoptivvater, war ein tapferer, ritterlicher Held, ein Offizier von seltener Bravour, aber ganz so abenteuerlich, wie dies in unserm träumerisch eigensinnigen Volksstamm liegt. Was er unternahm, war befremdend. Bracht’ er wol aus dem Kampf, wie andere, gerechte und nach Sitte erworbene Beute mit? Aus Spanien sah ich viele deutsche Offiziere, die dort unter Napoleon kämpfen mußten, mit mancherlei merkwürdigen Dingen heimkehren. Ein Wehrförder, Vetter von mir, brachte aus einem Kloster Bilder mit, aufgerollt wie Landkarten – er hat sie zu enormen Preisen verkaufen können. Max brachte entweder von einer Nonne oder einer – man sagt in seinen Armen gestorbenen – Geliebten einen Sohn mit – Benno, den er wenigstens sein nannte, wenn nicht in das Dunkel, das deinen Vetter umgibt, noch ein völlig anderer Lichtstrahl fällt und Max nicht einmal Benno’s Vater ist. Der dritte Asselyn, Friedrich, mein Gatte, glich den andern nicht an Leichtsinn, aber an leichtem Sinn. Die Verlockung der Welt that ihm nichts, aber die Zerstreuung alles. Nichts wurde bei ihm zum festen Vorsatz; eine Sorglosigkeit, die an sich ihm liebenswürdig stand, machte ihn zum harmlosesten Kostgänger der Schöpfung. Ja, mein Sohn, was Fritz sein nannte, gehörte sogleich auch allen. Jede Schuld, die ihn drückte, bezahlte er in dem Augenblick, wo er konnte, uneingedenk, daß ihn sein guter Wille in neue Verlegenheiten stürzte. Die drei Brüder thaten ihr geringes Erbe zusammen, damit es Max bewirthschaftete. Dieser verband sich dazu mit einem jungen Oekonomen, Hedemann, einem Bauern-248sohn. Die Nachwehen des Kriegs waren verderblich; 1817 war ein Hungerjahr. Max starb. Die Verlassenschaft wurde von den beiden Brüdern verkauft und damit nur ein Käufer, der sich fand (es war der jetzt so heruntergekommene Rittmeister von Enckefuß) dazu erschien, borgten sie wieder selbst für diesen bei andern! So geschah alles, um hier nichts zu haben und da nichts! Nun gehört alles Unsrige hier den Münnichs. Wie gesagt, gute Menschen, diese Asselyns, aber –! Sieh, dein Vater wurde Regierungsrath. Sein Gehalt war gering. Er verschwendete wol nichts, doch die Unregelmäßigkeit seiner Berechnungen stürzte ihn aus einer Verlegenheit in die andere. Der jetzige englische Oberst von Hülleshoven, gleichfalls ein Sonderling, jünger als dein Vater, schloß sich ihm damals an, theilte ihm Liebhabereien mit, wie sie noch jetzt sein Bruder hier in den Thürmen dieses reichen Schlosses nach Wohlgefallen verfolgen kann; denn hier bezahlen die reichen Dorstes seine Thorheiten. Dein Vater ging ebenso mit Begeisterung auf alles Neue ein; er würde sich und seine Familie zu Grunde gerichtet haben ohne einen endlich denn doch wohlthuender wirkenden Freund, als jene Hülleshovens waren. Dies war Friedrich von Wittekind. Bald wurde der der Zahlmeister des Hauses. Dein Vater verwies mich selbst an ihn, um mit ihm zu rechnen! Wie sie beide Friedrich hießen, so wurden sie fast Eine Person! Dein Vater war im Stande, eine Thür zu öffnen und zu sagen: Ah, ihr seid es! Ihr rechnet! Ich störe euch? … Wir saßen dann und rechneten in der That. Ehrgeizig war ich und mochte nicht, daß ein Makel auf unserm Hause haftete. Das, 249 das, mein Sohn, ist ein höchst gefahrvoller Zustand für ein weibliches Herz! Ein Weib ist bedürftig der Liebe, gewiß! Aber ebenso sehr will sie auch die Werthschätzung der Menschen. Und noch mehr, sie will Hochachtung empfinden vor ihrem Mann. Die geregelte Ordnung ist für ihren Sinn etwas Unerläßliches. Ich gestehe, daß ich wohlthuend berührt wurde, wenn ich Wittekind nur eintreten sah, ihn, der damals nicht viel hatte, der mit seinem damals geizigen Vater in Kampf lebte und selbst kaum das Nöthigste erhielt, während, wie nur leider jetzt zu erwiesen ist, die größten Summen auch schon damals fortgingen, um die Folgen des frühern Leichtsinns jenes Gewaltthätigen zu verdecken; die jetzt offen liegenden Papiere seines Nachlasses gewähren grauenhafte Einblicke in seine moralischen Verschuldungen … Kurz, mein Sohn, die Augenblicke, die ich im Anfang meiner Ehe, dich unterm Herzen, dann dich auf meinen Armen tragend, auf dem kleinen Hof Borkenhagen zubrachte, wo du geboren und getauft wurdest – Gott, noch immer steht mir der damalige Pfarrer Leo Perl, ein getaufter Jude, vor Augen! – diese Augenblicke, sag’ ich, waren die glücklichsten meiner Ehe! Als diese Besitzung in andere Hände kam, ich immer in der Stadt bleiben mußte, dein Vater aus Schulden, Wuchernoth nicht mehr herauskam, wurd’ ich moralisch das Weib seines Freundes, der ihm helfend zur Seite stand. Alles war Wittekind, alles entschied der. Der rechnete, der sorgte … Reisen, die dein Vater machen mußte – Dienstreisen, weil er die damalige Regulirung der Klöster, die Einziehung herrenlos gewordener geistlicher Bibliotheken und 250 Archive unter sich hatte – wiesen mich auf Monate ganz an Wittekind. „Laß dir doch von Fritz geben!“ hieß es in den Briefen … Guter Sohn, Asselyn erkannte diesen gefährlichen Zustand erst, als es zu spät war. Ich hatte mich an den Freund, der Freund hatte sich an mich gewöhnt. Nimm an, mein Sohn, du säßest im Beichtstuhl und hörtest das Bekenntniß einer beladenen Seele … Denn eine Last trag’ ich allerdings, eine schwere Last, eine kummervolle, die mir die Ruhe meiner Nächte raubt! … Ach, Asselyn entfernte sich ohne Zweifel doch nur deshalb – – um den Freund und die Gattin glücklich zu machen. Fast muß ich ja glauben, daß der Gute, um uns in unserm Bund nicht zu hindern, sich selbst den Tod gegeben hat!

Die vielleicht noch größere Strafe, der Mutter zu sagen: Und wenn der Vater noch lebte? Wenn ihn soeben Gräfin Paula im Thal von Castellungo als Eremiten und den Freund glücklicher Hirten und Ackerbauer gesehen hätte? … Bonaventura besaß nicht den Muth, diese Strafe der Mutter aufzuerlegen, so sehr ihn die klare, schneidende, vernunftbewußte Selbstrechtfertigung der noch jetzt anmuthigen Frau herausforderte, so sehr ihm wieder jetzt der Vater entgegentrat in der ganzen Liebenswürdigkeit seines träumerischen, von dieser Gattin gewiß nie verstandenen und sicher so nicht, wie verdient, beglückten Sinnes … Doch auch die Schwäche besaß er nicht, der Mutter die Vorstellung etwa von einem Selbstmord des Vaters ganz auszureden. Und sie schien es sogar gern zu hören, daß sein Vater, wenn auch durch Selbstmord – wirklich todt 251 war. Meinst du nicht? fragte sie halb zagend, halb zuversichtlich …

Ich glaube es! war seine Antwort …

Die Mutter stand auf. Ihre Haltung schien sagen zu wollen: So müssen wir uns Fassung geben, eine Genugthuung durch die Religion!

Die umsichtige Frau bat den Sohn, doch einige Tage auf Schloß Neuhof zuzubringen, sich inniger dem Präsidenten anzuschließen, ihre Aussöhnung mit dem Geist der Gegend zu bewirken, die Opferspenden zu vermitteln, die auch sie bereit wären überall zu geben, wo dadurch ihr guter Wille in das rechte Licht träte … Endlich sagte sie noch:

Wittekind wird mannichfachen Rath und Beistand in seinen verwickelten Angelegenheiten bedürfen. Er war zweifelhaft, ob er sich deshalb an Benno wenden sollte! Ich rieth ihm dazu! Dein Urtheil zöge er aber vor, sagt er … Wer ist hier dieser Herr von Terschka, von dem ich soviel reden höre?

Der Bevollmächtigte des Grafen Hugo von Salem-Camphausen, des Erben der Güter der im Mannsstamm ausgestorbenen Dorstes …

Ein geschäftskundiger, kluger Mann hör’ ich …

Ein vielseitiger, gewandter wenigstens …

Es rühmte ihn uns ein Jude, ein Gütermäkler … Ich höre, Benno macht den letzten Versuch, die Rechte des Grafen Hugo anzuzweifeln …

Nur möglich das, wenn eine Urkunde entdeckt würde, die dem Dorste’schen Familienstatut Kraft erst geben soll, wenn die Erben unsere Religion bekennen … Sie fehlt 252 und wahrscheinlich nur deshalb, weil sie niemals ausgestellt wurde …

Es sind viele Urkunden in jener Zeit verschleppt worden, als nach Uebergang dieser Lande in westfälische und dann in unsere Herrschaft, die geistlichen Stifter und so viele Klöster eingingen! War zufällig ein Pergament besonders schön geschrieben, so schickte es dein Vater in das Museum der Hauptstadt, in die Bibliothek des Königs … Dort fand ich schon manchen herrlichen Schatz wieder, den dein Vater uns vor Jahren gezeigt hatte, wenn er aus Witoborn oder sonst einer geistlichen Gegend heimkehrte …

Bonaventura’s Gedanken mußten jetzt wol auf Bickert gerichtet sein … Zwei drückende Vorstellungen: Die gefälschte, bei einem Brand vielleicht hier, auf diesem Schlosse einzuschleppende Urkunde und Lucindens Eroberung aus dem Sarge in Sanct-Wolfgang! Beichtgeständnisse, die er nicht verrathen durfte … Sie machten ihn zum Mitleidenden – zum Mitschuldigen …

Die Mutter sah seine Abwesenheit … Sie bemerkte mit gedämpfter Stimme:

Besonders ist Wittekind in eine Sache verwickelt, die nur innerhalb der geistlichen Sphäre bleiben soll! Ich kenne sie selbst nicht vollständig. Sie hängt mit einer großen Verirrung des Kronsyndikus zusammen und reicht in ihren Folgen sogar bis nach Rom. Auch der Onkel Dechant zu Kocher am Fall soll dabei eine Schuld zu tragen haben. Oft hab’ ich schon gedacht: Hinge wol Benno’s Herkunft damit zusammen? Aber wie er 253 als Kind schon nicht dem Onkel Max ähnelte, so noch weniger dem Onkel Franz – Wittekind schüttelt darüber vollends den Kopf … Nun, ich werde ja auch Benno wiedersehen und mit ihm plaudern! … Wir müssen wol jetzt zur Gesellschaft, Bona! Ich erbebe, die junge Gräfin zu sehen, die so seltsame Zustände hat! Sie lag eben jetzt, wie ich höre, im Hochschlaf? Ich zittere vor Beklemmung! Was sah sie nur?

Ein Bild der Phantasie! sprach Bonaventura mit stockendem Athem zu der schon ganz in das gewohnte Gleis ihres Lebens wieder zurückgekehrten Frau. In Gedanken verloren hatte er der letzten Rede seiner Mutter schon nur noch halbe Aufmerksamkeit geschenkt und nur zur Andeutung, daß Benno des Dechanten Sohn sein könnte, gelächelt … Mutter, hätte er fast gesagt, wie wenig würde Der Anstand genommen haben, Benno die frischen Wangen zu klopfen, ihm seinen schwarzen Bart und sein lockiges Haar zu zupfen und zu sagen: Junge! „Nichten“ haben wir genug in der Dechanei gehabt, aber noch nie einen so echten „Neffen“, wie du bist! Das ist eine falsche Fährte! … Nun aber gingen beide aus dem Zimmer und wandten sich nach vorn …

Die Mutter hing sich in den Arm ihres Sohnes. Man sah, daß sie äußerlich beide sich angehörten. Den Wuchs und die hohe Gestalt hatte Bonaventura von dieser klugen und vorsichtigen Frau; das Herz vom Vater …

Sie sagte: Mein Heiliger! zu ihm, lächelte und trat mit ihm in den Vorsaal.

254 Die Vorstellungen und Begrüßungen währten eine Weile und dann zerstreute sich alles …

Bonaventura blieb zum Mittag … Paula erschien wieder als wäre nichts gewesen … Onkel Levinus und Tante Benigna wurden inzwischen von einer andern Gedankenreihe in Anspruch genommen und thaten geheimnißvoll. Frau von Sicking hatte ihnen geschrieben. Sie hatten viel geflüstert und gerade am meisten, wenn Armgart nicht im Zimmer war. Diese merkte dann bald, daß etwas auf sie Bezügliches im Werke war. Als sie den Namen der Stiftsdame Tüngel-Appelhülsen flüstern hörte, die sich der Bekanntschaft mit ihrer Mutter rühmte – sie war die zweite Partie, die Jérôme von Wittekind hatte machen sollen und war damals nur durch den Calfactor „Türck“ und den Zorn ihrer Mutter über ein verdorbenes Kleid darum gekommen – sagte sie geradezu: Meine Mutter ist da! Die Tante fuhr sie darüber heftig an. Sie schwieg. Jetzt bekam auch Terschka durch einen Expressen aus Witoborn einen Brief und empfahl sich so rasch, daß er nicht einmal bis zum Ende des Mahls blieb. Armgart saß darauf wie besinnungslos. Noch ehe die Tante sich zu ihrem „Nicker“ eingerichtet hatte, war sie verschwunden. Lange nach ihr zu suchen war man nicht gewohnt. Fehlten ihr vielleicht noch zu ihren „Vielliebchen“ Nähseide oder Perlen, so ging sie, wußte man, zu Fuß nach dem Stift und scheute die einsamste Wanderung von fast zwei Stunden nicht. Onkel und Tante fuhren nach dem Kaffee in der That mit eigenthümlichem Geheimthun zu Frau von Sicking und ließen Bonaventura mit Paula allein …

255 Allein – Paula und Bonaventura –

Allein, allein – zwei Seelen, die sich lieben!
Allein, allein –! Wenn auch der Liebe Ja,
Wenn stumm der Liebe Frageblick geblieben –
Allein, allein – doch ist der Himmel da!

Bei allen andern würde es nach Jahren geheißen haben: Weißt du noch, damals an jenem Nachmittag – im grünen Zimmer? – Wir sprachen vom Wetter, besahen Kupferstiche – da rief ich plötzlich: Himmel, wie voll die Hyacinthen blühen! … Ich zählte ihre Glocken, weil ich Angst hatte, daß wir uns beim Besehen der Bilder zu nahe anstreiften! Und ich glaube gar, ich stellte mich dennoch kurzsichtig, nur um mit der Stirn dein goldenes Haar zu berühren! … O, wie Feuerglut war es in meinem ganzen Sein – und du, du wußtest, jetzt ist der Stoff erschöpft, jetzt ist die Unbefangenheit beim Gespräch vorüber – beim Gespräch über was nicht alles, ich glaube über die alten Krater feuerspeiender Berge bei Kocher am Fall, über die byzantinische Baukunst, über die Philosophie Püttmeyer’s! Gleich hattest du etwas anderes; auf die Musik die Bücher, auf die Bücher die Natur, auf die Natur die eben hereingebrachten Zeitungen! … Und du erschrakst nicht einmal, als vom Diener an die Thür geklopft wurde … So tändelten wir den Tag hin bis zum Abend, bis zur süßesten Dämmerstunde, wo endlich mein Auge kein anderes Licht begehrte, als das in deinen Augen strahle, endlich ich auch das so tollkühn sagte, ganz so vom „Licht in deinen Augen“ … Da erbebtest du, brachst zusammen und 256 trotz all deiner List und Fassung lagst du in meinen Armen! …

Armer Priester! … Diese Stunde schenkte dir wirklich der Himmel! Er gab sie in ganzer, seligster Fülle! Er rief auch an diesem Nachmittage Paula nicht in die Sterne zurück, ließ sie nicht wachend träumen, nicht mit geschlossenen Augen sehen … Sie blieb auf der Erde, in deiner Nähe, im lebendigsten, wärmsten Anhauch deines Athems – und du erstauntest sogar, daß Paula nicht entschlummerte, obgleich deine Hand an ihrem seidnen Kleide hinfuhr, oft auch – zufällig? – wirklich sie selbst berührte … Du durftest dir sagen: Dir, dir ist sie beschieden! Du würdest sie durch die Liebe erlösen können von den magischen Banden, die sie gefesselt halten! … Gott wollte die Ehe und gerade die Deine mit ihr! … Alles, alles traf zu … Auch bis zur Abenddämmerung, bis in die erste Stunde nächtlichen Dunkels hinein hattet ihr das volle selige Glück des Alleinseins …

Und dennoch, du armer Levit, was durftest du wagen? Was zu gewinnen hoffen? … Gingst du am Flügel vorüber und lehntest die Epheuranken zurück, die den goldgerahmten Spiegel beschatteten, so sahst du deinen langen Priesterrock! … Sahst du in die geöffnete Kupferstichmappe und prüftest das Zeichen des alten Meisters, das unter dieser Radirung, unter jenem Holzschnitt versteckt und unleserlich stand, so mußte dir erinnerlich werden, daß Paula an deinem vorgebeugten Haupte bemerkte, wie die Schere dir die Mitte deines schönen Haares geraubt! Dem Schicksal konntest du sprechen: Des reinen Herzens Natur ist es, nicht alles 257 zu wollen und viel entbehren zu können; aber auch zu grausam nimmst du, o Verhängniß, uns beim Wort und gewährst uns wirklich nichts! … Paula’s Wesen mußte Bonaventura ohnehin zu entweihen glauben durch eine zu stürmische Werbung. So unterblieb alles … Situation und Wille, Charakter und – die Liebe selbst schmiegte sich unter die Tyrannei des Gelübdes.

Und doch allein, allein – zwei Seelen, die sich lieben! … Wie bestrickend schon, wenn sich Paula selbst beurtheilte über das, was die Welt an ihr so voll Andacht bewunderte! Sie hätte eine Heuchlerin sein können und sie war es nicht. Sie hätte eine Despotin sein können und sie war es nicht. Sie war willenlos, eine durch sich selbst und andere Gefangene. Und so galt ihre Liebe Bonaventura auch nur, wie ein Priester sich lieben lassen darf – in Andacht, in geistiger Schwärmerei … Sie hatte – wie diese Erziehung ist, die von Schiller und Goethe nichts weiß – nicht viel gelesen, nicht viel gesehen. Sie konnte über ihren Kreis hinaus an schwierigen geistigen Dingen nicht lange theilnehmen; sie stand bescheiden zurück, allem Höheren im Zustand jungfräulicher Ueberraschung zugewandt. Aber diese Weise stand ihr hoheitsvoll. Zu ihren Füßen sproßten Lilien, ihr Haupt trug eine Himmelskrone, ihre Schultern bedeckte ein langer, himmelblauer Mantel mit goldenen Sternen. Sie wußte nur das alles nicht von sich selbst. Sie konnte lachen und weinen mit Armgart, sie konnte furchtsam sein wie Tante Benigna, sie konnte mit dem Onkel Levinus an die Möglichkeit, Gold zu machen, glauben. So lebte sie hin … Nun aber mit Bonaventura’s Nähe wuchs ihre Kraft. Sie 258 fing an, sich über sich selbst Rede zu stehen. Seit seiner Ankunft trat sie in allem und jedem mit festerm Willen auf. Das zu wissen beglückt ein zagendes Herz ohnehin und gibt ihm Muth, sich über das Geheimste wahr zu sein … O wie die Liebe so stark macht! … Paula fühlte es mächtig … Sie hätte heute vielleicht zu ihrer Absicht, ins Kloster zu gehen, gedankenlos nein und sogar – ja! sagen können. Sie konnte alles, konnte selbst ein Gelübde ablegen und vielleicht es – betrügen, wenn nur Bonaventura sie an sich gezogen und mit einem Kuß ihr den Muth – seines, seines Lebens gegeben hätte.

In diesem stillen Zimmer, durch dessen Scheiben eben das Abendgold floß, unter diesen Epheuranken, deren grüne und welke Blätter den Priester an einen andern Abschied, den von Lucinden, erinnern mußten, über die Saiten eines geöffneten Flügels hin, dessen Resonanz von jedem durch die Zimmerwärme noch am Leben erhaltenen Insekt leise erbebte – standen sich zwei Menschen gegenüber, die die Natur zum gegenseitigen Besitz bestimmt hatte. Gregor VII. hielt den Arm dazwischen. Wo ist denn nun bei dieser eurer Satzung des Cölibats die Verklärung der Weiblichkeit, sie, die doch die Marienbilder in der aufgeschlagenen Kupferstichmappe verherrlichten, diese Bilder, die Bonaventura, Lucinden gegenüber, selbst einst so begeistert gedeutet hatte! Verunreinigt wird der Priester vom Weibe? Sein Opferdienst am Altar in den gestickten Kleidern vergangener Jahrhunderte macht ihn geschlechtslos? „Die Eunuchen des himmlischen Hofstaates sind wir!“ sagte ihm oft schon der Onkel Dechant. „Trügen wir eine reine Liebe zu einem Weibe im Herzen, unsere Hand würde 259 ja unrein, den Kelch zu berühren! Unrein, um die Oblate zu segnen! Die Nähe des Weibes zerstört die Kraft des Opfers! Und wenn wir auch gestern beichteten, daß wir die thierische Natur mit aller Entfesselung der Leidenschaften in gemeiner Berührung austobten: diese Sünde ist uns heute vergeben. Nur keine reine, nur keine dauernde, offene Liebe zu einem Weibe im Herzen und so an den Altar getreten! Gatte, Vater – wie kann eine solche Hand noch die Geheimnisse der Wandlung vollziehen! Frauenwürde, so denkt – Rom über dich!“ …

Eines der Marienbilder nach dem andern vergegenwärtigte Bonaventura den Abschied von Lucinden … Paula hatte schon öfters nach ihrer frühern Gesellschafterin gefragt, Bonaventura hatte einsilbige Antwort gegeben … Benno, Thiebold und Terschka rühmten sie … Jetzt glich ihr eine der von den Künstlern meist so willkürlich erdachten Madonnen und Paula sagte dies auch …

Bonaventura blieb die Antwort schuldig …

Paula fuhr fort:

Denken Sie sich, wie ich damals nach Westerhof zurückkehrte und von Lucinden sprach, kannte sie ja hier jedermann! Ja ich selbst hatte sie schon als Kind gesehen, wie sie auf Neuhof wohnte und eines Tages dort auf einem goldenen Kahne ruderte! … Als die Leute lachten, flüchtete sie in einen Taubenschlag! … Sie wußte, daß ich aus dieser Gegend war, und nie verrieth sie ihre Bekanntschaft mit dem Kronsyndikus oder mit dessen Sohn oder mit dem Landrath oder mit dem Mönche Sebastus, dem jungen Doctor Klingsohr, der um ihretwillen, sagt man, die Religion wechselte und ins Kloster 260 ging … Sie ist jetzt in Ihrer Stadt und – Sie sehen sie oft?

Ich lebe nur für dich, Paula! … In Bonaventura’s Herzen riefen das tausend Stimmen … Die Lippen sagten nur:

Zuweilen seh’ ich sie!

Arglos fuhr Paula fort:

Auch sie war damals erst katholisch geworden! Alles das wußte niemand! Aber hatt’ ich Furcht und Angst vor ihr! Wissen Sie noch, als ich Italienisch mit ihr lernte, da konnte sie Latein –!

Du aber sprichst in Zungen der Engel! riefen wieder die Stimmen; Bonaventura nickte nur still bejahend …

In der Mappe sahen beide einen Holzschnitt der altdeutschen Schule, wo Jesus im Hause des Lazarus weilt und Maria Magdalena ihm die Füße wäscht … Dies kleine Bild, voll Wahrheit und Lieblichkeit, ließ beide eine Weile verstummen … Beim Umschlagen der Blätter ruhte ihre Hand dicht, dicht an der seinen … Er fühlte die elektrischen Tropfen, von denen Paula im Schlafe behauptete, sie glitten ihr aus den Fingern und verlöschten auf dem Boden. Ihm verlöschten sie im Blut seines Herzens. Warum ergriff er nicht die sanfte, weiche Hand? Warum stieg er nicht auch mit ihr in den goldenen Nachen des Ideals, auf dem sie würdiger ruderte, als Lucinde! In ein „Taubenhaus“ hatte diese sich geflüchtet!

Paula sagte:

Wissen Sie wol, daß ich oft Sehnsucht habe, Lucinden wiederzusehen? Ihr Geist war oft hart und grausam, aber stark. Sie konnte Muth einflößen, wie 261 ein Mann. Auch unterbrach sie mein Leiden und ließ mich dann sein wie andere sind …

Aber mit den größten Schmerzen! schaltete Bonaventura ein …

Ich litt dabei, das ist wahr! sagte Paula. Die Aerzte meinten: Sie hob die Nervenströmung auf. Ich hatte tödliche Schmerzen in ihrer Nähe! Alles that mir wehe – jedes Wort, jede Bewegung von ihr! Aber ich sehne mich doch – ach! – so heraus aus diesem – Doppelleben!

In das Eine, Eine Doppelleben der Liebe! …

Die Stimmen wieder sprachen auch das … Die Arme thaten sich auf, um Paula zu umfangen, sie an sich zu ziehen … Und doch sprach Bonaventura nur schüchtern:

Was bekümmert Sie jetzt daran?

Sonst schon war es Paula’s Klage: Der Hochmuth! Die Selbstüberschätzung! Auch jetzt wiederholte sie diese „Furcht vor sich selbst“ …

Bonaventura sprach:

Stolz sein auf das, was uns die Vorstellung einer größern Vollkommenheit unserer selbst gibt, das ist keine Sünde. Jesus nannte sich – den Sohn Gottes! Aber – auch Trübsale werden Sie haben! Wissen Sie, daß Ihre heutige Vision Anstoß erregte? Als ich mit meiner Mutter zur Gesellschaft zurückkehrte, war man befremdet, wie Sie mit Theilnahme bei einem Bilde verweilten, wo Sie einen Gottesdienst sahen, bei dem der Kelch – von Allen getrunken wurde! …

Was sah ich denn? fragte Paula träumerisch und erhob geisterhaft ihr Haupt …

Herr von Terschka behauptete, einen Eremiten, der 262 in der Nähe des Schlosses Castellungo die Landbewohner zu einem Gottesdienst versammelt, der dort wahrscheinlich unter dem Schutz der Gutsherrin, der Gräfin Erdmuthe, wirklich gehalten wird …

Ich verweile oft bei jenem Schlosse! sagte Paula … Man hat mich schon gefragt, ob ich nicht in Salem, nicht in Castellungo eine Urkunde entdecken könnte, die so emsig von den Feinden der Salems-Camphausen gesucht wird … Benno erzählte davon; auch Terschka, obgleich dieser es nur mit leicht erklärlicher Zurückhaltung that … Noch immer wird diese Urkunde gesucht … Der Procurator Nück hat an Benno geschrieben, er möchte in Gegenwart Terschka’s und des Onkel Levinus noch einmal die Archive von Witoborn und Westerhof durchsuchen lassen … Beide sind auch bereit dazu … Und so verläßt mich, seh’ ich, die Angst der Seele selbst in meiner Traumwelt nicht. Sie zeigt mir wider Willen die Gegenden, wo – mein Schicksal entschieden wird …

Ihr Schicksal? Paula! Welche Zukunft fürchten – Fürchten? Hoffen Sie? …

Diese Worte sprach Bonaventura wirklich. Sein Innerstes wogte im Brand der Liebe und – der Eifersucht …

Nichts, nichts mehr hielt er zurück von der Saat seiner Thränen, die aufgegangen war seit Jahren in den einsamen Stunden der Nacht und der Verzweiflung … Seine Augen leuchteten … Seine Arme hoben sich … Ein Frühling des reinsten, göttlichsten Menschenthums schien um ihn her zu blühen und zu sprießen … Er bebte … schwankte …

263 Und auch Paula zitterte … Eben noch waren ihre tiefblauen Augen aufgeschlagen und blickten gen Himmel, den Augen einer Seherin gleich … Jetzt senkten sich die langen schwarzen Wimpern …

Aber ach! nur Katharina von Siena war es, die Heilige, die vor Bonaventura stand … Sein zages, nazarenisches Herz erinnerte sich schon wieder: Dieser Blick gilt dem Himmel, dem Kloster! Er gilt deinem Stande! …

Doch nur einen Augenblick beherrschte er sich so … Bald fühlte er neubelebende Wonne … eine Wonne seltsamster Glut, seltsamster Gedanken, seltsamster – Verirrungen sogar! Franz von Sales, der Heilige, stand vor ihm, vor dem ja auch einst eine Frau von Chantal kniete … Eine Gattin, eine Mutter verließ ihre weltlichen Lebensbeziehungen, um dem Heiland zu dienen, dessen – einziger Apostel ihr dieser Bischof von Genf erschien! Und auch dieser nannte sie seine Philothea! Wo ist die Grenze der göttlichen Andacht und der Anfang menschlicher Liebe in den Briefen, die sie sich geschrieben haben? Ihr Gebet ging vielleicht wirklich empor zu Gott, doch sie beteten zusammen! Sie stiftete ein Kloster, er hütete es … Sie starb, Franz von Sales segnete den Sarg … sein Inhalt verweste nicht … nach hundert Jahren öffnete man ihn … da war alles Asche … nur das Herz war unversehrt geblieben … Dies Herz … Kann es geirrt haben in jenem Irrthum? … Gelogen in jener Lüge? Paula, Paula – meine Sinne schwindeln – solltest du mir wirklich vielleicht gehören können gerade, gerade – durch den geistlichen Stand? …

Das war ein furchtbarer, frevelnder, romgeborener 264 Gedanke … ein Gedanke der Sünde, der Lüge gegen Natur und Gelübde …

Aber dieser Gedanke – und sollten die Donner um ihn her rollen und Blitze zucken – durchzitterte ihn doch … Seine Pulse flogen, seine Lippen bebten … schon wagte er das bedenklichste aller Worte, das er in solcher Stimmung nur sprechen konnte:

Paula – wenn sich – die Urkunde – fände – wenn Sie dann, wie man allgemein glaubt – sich entschließen müßten – wirklich Ihre Hand – einem Manne zu geben – der doch nur – aus Standesrücksichten –

Paula hatte diese Worte eben abwehren wollen … Sie wollte sie abwehren fast wie verkörperte Wesen, die schon eine Handbewegung zurückstoßen konnte … Sie hielt, am geöffneten Flügel sich mit der Rechten haltend, die Linke dem Sprecher, dessen Athem schon ihren Mund berührte, bebend entgegen … ein Moment noch und der Bund der Herzen war geschlossen … ein Abgrund geöffnet, der Vorhang seines Allerheiligsten zerrissen, der „Bau der Kirche“ zertrümmert …

Da trat eine Störung ein … Draußen gingen lebhaft aufgerissene Thüren …

Jetzt erst erkannten beide, daß es um sie her völlig Nacht geworden war …

Armgart trat stürmisch herein … Sie kam im Hut, mit Pelzüberwurf, von der frischen Luft wie ein rosiger Apfel geröthet … Sie war zwei Stunden Weges nach Heiligenkreuz zu Fuß gegangen und schon wieder zurück …

Hinter ihr her kam Terschka … gleichfalls in einem Pelzrock, den ein grünes Schnurwerk zierte … Spo-265ren klirrten an seinen Füßen … er riß eine Jagdmütze ab …

Terschka hatte, das erfuhr man, Armgart auf Heiligenkreuz, wohin gerade auch ihn jener Brief aus Witoborn abgerufen hatte, angetroffen und sie wieder zurückbegleitet – zu Fuß – über den gefrorenen Schnee hinweg … Sein Roß mußte erst der neu angenommene Dionysius Schneid (dem sein Verkehr auf dem Finkenhof eine ernstliche Verwarnung zugezogen) aus Heiligenkreuz zurückholen. Terschka hatte es stehen lassen, weil er nicht neben Armgart reiten mochte, während sie zu Fuße ging. Sie erklärte, ihn unterwegs sprechen zu müssen; sie war in einer unbegreiflichen Aufregung. Auch das Fräulein von Tüngel-Appelhülsen war in der That bei Frau von Sicking … Es geht etwas vor! sagte sie sich … Es geht etwas vor! wiederholte sie drohend … Sie wollte wieder nach Westerhof zurück. Da hieß es, Thiebold wäre noch im Stift und könnte sie begleiten … Nun erst recht hätte sie nicht bleiben mögen … So ging sie mit Terschka, der gekommen war, mit dem Verwalter einige dringende Rücksprachen zu nehmen … Hätte Terschka gesagt: Setzen wir uns doch beide aufs Roß und jagen nach dem Schloß der Frau von Sicking! – sie hätte es gethan … Daß sie ermüdet wäre, unmöglich den Weg zu Fuß machen könnte, wollte sie nicht hören … Terschka erzählte alles das jetzt wieder, erzählte es dem überraschten Paar und war dabei in einer Aufregung, die beiden nicht entgehen konnte, und übersah die ihrige … Armgart verschwand auf ihrem Zimmer … Alles das bemerkte auch Bonaventura, begriff es aber nur halb; ihm fehlte jede Sammlung; selbst 266 mußte er entfliehen … Zwei Worte noch an Paula, die ihn mit holdseligst verlegenem Lächeln, mit jener Vertraulichkeit wie für alles, was ein Weib auf Erden und im Himmel dem Manne nur sein kann, ansah, und er war verschwunden.

Hinaus stürmte er in die schon hereingebrochene Nacht … Nichts von einem Wagen, dessen Anerbieten man ihm nachrief, hörte er … Schon war er unten an der Hauspforte … Wie die eisige Luft seine heiße Wange streifte! Wie er fast die Locken, die er sonst trug, noch im Winde flattern fühlte! … Ein Geist des Trotzes, der Herausforderung an die Ordnung aller Dinge war über ihn gekommen … Er hätte das Geländer der kleinen Brücke einreißen mögen, an das er sich halten mußte, als er den hartgefrorenen, glatten Weg beschritt … So flog er dahin … Erst allmählich wurde es in ihm ruhiger … Jetzt hätte er Musik hören mögen, rauschende, vollgestimmte – allmählich würde ein einziger süßer, sanfter und wenn den Tod bringender Accord seine ganze Empfindung ausgedrückt haben …

So kam er im Pfarrhause an. Es war tiefdunkel; sein Zimmer nicht erwärmt; Müllenhoff nicht anwesend. In dessen Zimmern wartete er so lange, bis oben bei ihm die erwärmende Flamme loderte …

Wie todt standen doch die Bücher da an den Wänden! Wo er hinsah, war von Strafe, vom Kirchenbann die Rede … Er hörte im Geist das schütternde Gelächter Müllenhoff’s, wenn er seinen eigenen Einfällen applaudirte, und lachte selbst … Er hörte, wie ihn sein College jetzt nennen würde: Salonschlupfer, Lavendel-267seele … Er lachte … „Lieber können sechs Straßenlaternen eingehen, als ein ewiges Licht in einer Kapelle!“ Das war heute früh ein Müllenhoff’sches Wort gewesen, das ihm beim Schimmer der ihm jetzt vorangetragenen Lampe einfiel … Er lachte … Und oben, oben in seinem Zimmer fand er zu seiner glückseligsten Ueberraschung dann einen Brief – aus Kocher am Fall – vom Onkel Dechanten …

Nie noch hatte er so nach den geliebten Zügen gegriffen … Nie noch war ihm so viel Musik entgegengerauscht und so viel Duft entgegengeweht, wie heute aus dem feinen Papier, aus den zierlichen halb arabischen Buchstaben dieser Handschrift, aus dem langen, reichen Inhalt … Wie beglückend stimmte das alles zu dem Bilde Paula’s, das nicht von seiner Seite wich … Die Magd brachte den Thee … Die Lampe verbreitete einen tieftraulichen Schimmer (Lampe, Service, Sofa, alles kam von Schlössern und Höfen der Umgegend und war von ausgesuchter Gediegenheit) … Paula saß neben ihm im Geiste und sprach mit ihm im Geiste und ihr Schatten huschte an den Wänden geschäftig sorgend hin und her; er hatte eine Geisterehe geschlossen … Als er allein war, sprach er leise mit seinem Weibe, redete es an und sagte: Paula! Meine süße, süße Paula! … Dann schlug er sich an die Stirn, aber so sündigte er fort und fort – er hörte nicht auf an sie zu denken, ihrem Athem zu lauschen, ihre Hand zu streifen, hinaus in die Luft, ins Leere Küsse zu geben – was sollte ihn denn erschrecken, jetzt wo er die Dechanei um sich hatte, des Onkels Devise hörte: „Ich mach’s doch so leicht!“ Die grünseidenen Decken und Gehänge in dem Arbeits-268zimmer der Dechanei sah er; die sanften Rollenthüren gingen, wie wenn Frau von Gülpen eintrat oder Windhack einen Besuch oder eine Constellation des Himmels meldete … Er las – las, wie wenn eine neue „Nichte“ ihm und dem Onkel Klavier spielte …

Lieber Alter! schrieb der Onkel. So bist Du denn auf dem Schauplatz Deiner ersten Jugend angekommen und grübelst vielleicht, ob in den alten Kirchenvätern das Schlittschuhlaufen verboten ist! Ich habe Dich sonst oft genug auf dem Ententeich zwischen Borkenhagen und Westerhof dahingleiten und unserm alten Friesenursprung durch graziöse Zickzacks Ehre machen sehen – Nun siehst Du, die Apostel wußten nichts von zwanzig Grad Kälte, wie konnten sie vorschreiben, ob ein junger Domherr Schlittschuhlaufen darf u. s. w. u. s. w. Sage nur: Wie platt, wie rationalistisch oberflächlich ist das wieder! Gut! … Ich beneide Dich zuvörderst um diese Triumphe, die deine Rechtgläubigkeit feiern wird, vorzüglich unter denen Weibsen! … Fühlst Du’s denn endlich, wie schön diese Veranstaltung Gottes ist, daß es Wesen gibt, die an der ganzen Weltgeschichte unbetheiligt bleiben und Alexander, Julius Cäsar und Innocenz III. nur auffassen unter dem Gesichtspunkt, ob solche Leute den Kaffee theurer machen, die Verlobungskarten seltener, die laufenden Moden durch plötzliche Trauergarderoben unterbrechen und dergleichen? Bewundere diese Geistesgegenwart, mit der mitten in unsern Schmerz hinein und während die Männer noch ohne jede Sammlung stehen, die Frauen schon wieder bei einem Sterbefall ihr schwarzes Seidenkleid bestellt haben! Sieh, so haben 269 mich die jugendlichen Regungen meiner Petronella in Erstaunen versetzt, die zwar von ihrer leiblichen – lies nicht etwa: lieblichen – Schwester nichts geerbt hat, aber dennoch „Schanden halber“ bereits in das zweite Stadium des äußern Schmerzes, in den grauen mit Violettschleifen eingetreten ist! Studire Weltgeschichte im Stift Heiligenkreuz! Zwanzig weibliche Wesen, die ohne Zweifel Deine Heiligkeit bewundern und vielleicht auch Dich endlich an die Wahrheit des Satzes erinnern werden: Mulier est hominis confusio!

Ich sehe Dich aber auch, lieber Sohn, wie Du Dich endlich aus Blumen und gestickten Tragbändern und Portefeuilles herauswindest und wieder Deinen feurigen Wagen des Elias besteigst, zunächst die Stufen des Altars und der Kanzel zu Sanct-Libori, dann wol auch die Treppen zu den Regierungscollegien, wo Du – „Gutes wirken“ willst! Ach, mag Dir’s dabei nur nicht so ergehen, wie mir damals, als ich wirklicher Dechant war und ein lutherscher Regierungsrath mir unter eine Rechnung für Oel, Wachs, Wein und Salz beim Salze regelmäßig beischrieb: „Ich frage wiederholt: Gehört denn in die Cultusrechnungen auch die Naturalverpflegung der Herren Pfarrer?“ Wußte der Kerl nicht, daß zu unsern Taufen Salz gehört! Er glaubte, die Rechnung der Köchin hätte sich in die für das Cultusministerium verirrt. Ich schrieb damals an den Rand: „Salz ist ein gutes Ding; so aber das Salz dumm wird, womit soll man würzen! Lucä 14, 34.“ – Du freilich wirst durch solchen „Druck“ auf unsere „arme“ Kirche nicht zum „Rechtgläubigen wider Willen“ gemacht werden; denn nur Römlinge sehen nicht ein, welche ver-270besserte, wahrhaft glänzende Lage gegen früher wir bei alledem in partibus infidelium haben … Doch nichts vom Kirchenstreit! Was sagst Du zu dem noch immer unter polizeilicher Aufsicht stehenden Hunnius? Neulich rief er vor einer Gemeinde, die leider nicht die zu Sanct-Hedwig in Berlin war, sondern nur die Stadtkirche in Kocher am Fall, sage die Stadtkirche in Kocher am Fall!: „Sanct-Paulus war seines Zeichens ein Teppich-, kein Schleier-Macher!“ Diese feine Anspielung auf Professor Schleiermacher in Berlin fiel natürlich bei uns ganz auf den Weg.

Bona, ich warne Dich nur, Deinem Diöcesanklerus nicht etwa in jugendlicher Begeisterung Conferenzen vorzuschlagen, schriftliche Arbeiten zum Circulirenlassen, Lesecirkel, eine Archipresbyteriatsbibliothek und ähnliche Reformphantastereien, die uns arme Einsamkeitsschlucker und Trübsalbläser erheben, zerstreuen und bilden sollen! Du dringst damit nicht durch! Stelle Dich blind und taub für alles, was Du sehen und hören wirst! Unsere Kirche bessert sich einst, aber nur durch große Revolutionen. Bis dahin emancipire sich ein jeder für sich, mache sich zu einem kleinen Privat-Pantheon der gesunden Vernunft und soll ich Dir rathen, suche Dir in Witoborn höchstens nur die allerältesten Priester heraus, alte säcularisirte Benedictiner, einen alten Kapitular, der vielleicht ein armseliges Zimmerchen im Seminar bewohnt, nur um seine Einkünfte für ein paar Schwestern zu sparen. Da wirst Du vielleicht noch einen oder den andern Menschen finden von Gemüth, von herzverklärtem Geist, von lieben alten plauderhaften Er-271innerungen an eine Zeit, wo Lessing seinen „Nathan“ auch für uns gedichtet hat und mancher junge katholische Priester lieber eine schöne luthersche Predigt von Spalding und Reinhard ablas, als selbst eine viel weniger schöne schrieb. Da ist im alten Jesuitenstift ein Gang, wo alle Generale der Jesuiten abgebildet sind! Sieh sie Dir an! Einer schaut pfiffiger aus, als der andere; die Spanier sind besonders schlau, die Deutschen von einer kläglichen Unverbesserlichkeit, sämmtlich, wie es scheint, aus der dümmsten Gegend Deutschlands, aus dem Innviertel; nur einen sieh Dir recht an, der hat eine furchtbar lange Nase, scheint mir jedoch der gutmüthigste von allen. Die Nase ist ganz nur die Ablagerungsstätte für die Schnupftabacksdose. So sah der alte Rector dort aus, als ich bei Witoborn lebte und ein alter lieber Freund von mir, ein ehemals jüdischer Gelehrter, den ich in Paris kennen gelernt hatte, dort convertirte und ins Seminar trat … A propos, solltest Du unsern harmonietrunkenen Herrn Löb Seligmann von hier sehen: die Hasen-Jette läßt ihn grüßen und von seinem Davidchen anzeigen, daß dessen Beine sich stärken und sein Geist von Tag zu Tag dem des jungen Samuel ähnlicher wird … Findest Du unter den Priestern einen solchen kleinen alten dicken Mann mit langer Nase und einer Schnupftabacksdose in der Hand, dann grüß’ ihn von mir, er kennt mich gewiß. Der alte Rector freilich ist jetzt todt …

Sonst – wenn Du arme Kaplane siehst, für die das Wort Stolgebühren bisher nur erst im Examen vorgekommen ist und die am „Freitisch“ bei ihrem Pfarrer 272 verhungern müssen, nun, immerhin, lege für mich aus, Bona, falls Du auf anständige Art einige ihrer drückendsten Schulden tilgen willst und wende ihnen Meßstipendien zu, soviel nur Seelen am Vorhof des Himmels schmachten, und laß die armen Tröpfe nicht herumlaufen und um Messen betteln und bei jedem Sterbefall lungern, ob auch für sie ein Knochen von den zweihundert gestifteten Erlösungsbitten à 10 Silbergroschen abfällt! Und findest Du am Münster in Witoborn auch so arme, blasse, heisere Vicare, die statt der bequemen Domherren Brevier singen müssen und schon um den letzten Ton in ihrer Kehle gekommen sind (könnte doch Löb Seligmann aushelfen!), so zeig dem Bischof die stummen Opfer Roms und seufze immerhin in meinem Namen vorläufig wenigstens um deutsche Sprache statt lateinischen Gesangs! … Lebt denn dort noch die Quart? Muß denn auch da jeder neuernannte Pfründner den vierten Theil seines Einkommens dem Bischof zinsen? O würde das Geld doch angelegt für eines Priesters alte Tage, wo er freudlos, ohne liebende Hand, die für ihn sorgt, ohne ein Herz, das seine grämelnde Laune erträgt, in das Eremitenhaus ziehen muß oder in einen alten Profeßhof kommt, diese Invalidenhäuser der römischen Armeen, wo es zwar keine Stelzfüße, aber arme unglückliche Seelenkrüppel genug gibt! Bona, Bona – nun komm’ ich doch in die Reformen! Man sagt, unterm Mikroskop wäre unser reinstes Quellwasser voll garstiger Infusorien – und Windhack behauptet das auch und verleidete sich dadurch schon zu lange das Wasser und trinkt fast zu viel vom Kocherer Wein –; aber an dem Sold, von dem der Priester sein Dasein bestreitet, läßt man ihn täglich zu schaudervoll sehen, 273 wo er herkommt, läßt ihn zu naß aus allen Taufbecken in unsere Hand gleiten, wo auch noch jeder Seufzer oder Fluch der Armuth frisch am Gegebenen klebt … Schule und Kirche möcht’ ich doch so lange, bis die Heiden oder andere Apostel kommen und eine neue Religion bringen, vom Kleinhandel des eigenen Erwerbs befreit sehen.

Priesterwürde! Das laß ich vorläufig gelten! Aber sieh’ Dich nur recht um und überzeuge Dich, wie jetzt nur ein ganz gewöhnlicher Unzufriedenheitsstoff, der in der Welt lagert und sich gern möglichst loyal und ohne zehn Jahre Festung austoben möchte, diesen neugepredigten Anhalt an Rom sucht! Der Jakobiner versteckt die rothe Mütze unter der Kapuze, der Provinzialgeist stemmt sich wider die Centralisation, den katholischen Plattdeutschen beschämt das vornehme Air des luther’schen Hochdeutschen, der Jurist vom Code Napoléon will nichts vom Landrecht, die Fürsten im Süden fürchten die Kraft der Fürsten im Norden; blos das, das, das gibt den feurigen Teig des jetzigen Umschwungs wie bei der Bildung der Erdrinde. Die Jesuiten und Jesuitengenossen kennen das alles und kneten den Teig und machen sie auch nur kleine Agnus Dei daraus, all ihre Süßlichkeit riecht nach Pech und Schwefel … Du wirst Geistliche bei Witoborn sehen, die so liebfromm sind, daß sie sich nicht mehr die Zähne putzen, blos, weil sie fürchten, dabei Morgens, ehe sie nüchtern Messe zu lesen haben, etwas Wasser zu verschlucken! … Und worauf beruht diese Dumpfheit des Geistes bei den Bessern? Auf dem Glauben, daß man – Vater, Mutter und Heimat kränke, wenn man irgendwie vom Althergebrachten abgehen wollte! Dem Gemüth schließen sich auch hierin Eigensinn und 274 Eitelkeit an. Man glaubt, daß man von der Aufklärung wegen äußerlicher Dinge verspottet werde, wegen seiner Aussprache, wegen seiner dürftigen Gegend, wegen der Zurückgebliebenheit seiner Städte … Nun trotzt man, doch auf seinen einsamen Höfen und Kampen die Lerche so gut trillern hören zu können, wie im schönsten Schweizerthal, trotzt, daß man in seinen dürftigen Städten doch manches liebe mit wildem Wein bewachsene Haus kenne, manches Fenster, wo Mädchenköpfe auch hinter Blumen herausschauen, wenn auch hier die Liebe nur plattdeutsch spräche … Und so hält man denn mit Zähigkeit gerade fest an seinem Zopf! Das ist mit unserer Kirche überall so, seitdem die Reformation in dem stattlicheren Gewand der Wissenschaft und Bildung einhergehen durfte. Ueberall erscheint die Ketzerei den Leuten als eine Verhöhnung nicht etwa des Glaubens, man gibt bedenkliche Schäden an ihm zu, sondern als ein Geringachten – der vielen anderweitigen Gemüthlichkeiten, die sich für den Menschen an seine Jugend, an – seine liebe alte Großmutter anknüpfen …

In Deutschland, laß mich in einem Briefe, wie ich ihn seit Jahren so lang nicht schrieb, fortfahren, in Deutschland sollte nun die Bildung und die gemeinsame Geschichte unsers Volks längst diesen Zwiespalt aufgehoben haben! … Aber jetzt sieh, wie gesorgt wird, daß der Bruch ein ewiger bleibt! … Du wirst im ganzen Stift Heiligenkreuz vielleicht nur ein einziges verstecktes und bestäubtes Exemplar vom Goethe, zwei oder drei Exemplare vom Schiller finden, dagegen alle Blumenlesen, alle nervenangreifenden Kräuterapotheken 275 unsers Beda Hunnius … Ich weiß nicht, ob es in Westerhof jetzt besser ist. Graf Joseph ging über Stolberg’s Horizont nicht mehr hinaus. Levin von Hülleshoven ist ein geistvoller, unterrichteter Mann, schrullenhaft jedoch und höchst afterklug. Die Sicherheit, mit der er sich schon vor vierzig Jahren auf den Bau der Pyramiden verstand, während ihm jeder Backofen, den er bauen ließ, zusammenfiel, wird sich bei seinem Leben unter lauter Frauen nicht gemindert haben. Abenteuerliche Gelehrsamkeit ist alldort ein besonderes Steckenpferd. In jedem Dorf wirst Du die rechte Stelle finden, wo Hermann den Varus schlug. Ist es zweifelhaft, wo das Midgard der Asen lag, wird man immer gegründete Vermuthung für ein Torfmoor bei Eschede oder eine Wiese bei Lüdicke haben. Dieser hinter Vaterlandsliebe sich versteckende Hochmuth ist – allen Deutschen eigen! Er kommt bei keiner Nation so vor, nur Levinus würde vielleicht hinzusetzen: „Bei den Tschippewäern“ … Noch immer sitzen gewiß die Frauen dort und lauschen solchen Orakelsprüchen und auch Männer genug gab es, die vor der Weisheit des Barons von Hülleshoven den Hut abzogen … Die Kunst ist bewunderungswürdig, mit der der Mensch versteht sich eine Gemeinde zu bilden! Selbst Windhack versteht das. Windhack und Levinus ziehen eben nicht die Gelehrten in ihr Vertrauen, sondern die Fischer, die Zöllner, die Teppichmacher, nicht die – Plato und Schleiermacher – doch genug von diesem Kapitel – –

Ich komme auf Westerhof zu sprechen, weil ich möchte, daß Du Deine liebevolle Versöhnlichkeit anwendest, um 276 eine Ausgleichung herbeizuführen zwischen dem Ehepaar Ulrich und Monika. Ich höre, daß die Comtesse Paula Wunder verrichtet und in die Zukunft sieht. Bisjetzt hab’ ich noch in allem, was ich davon erfuhr, zu viel Aberglauben der dort landesüblichen Sorte gefunden. Du wirst wol so gut sein, mich darüber ins Klare zu setzen; denn an und für sich hab’ ich allen Respect vor den geheimnißvollen Ein- und besonders den – Ausgangspforten aus unserm räthselhaften Dasein – Sonst würd’ ich Dich bitten, das schöne junge, Dir theure Wesen zu ersuchen, sich bei den Schicksalsmächten zu erkundigen, was über diese Verwickelungen beschlossen ist. Was wir hier so aus unsern sichtbaren Gestirnen entnehmen können, ist die kurze und bündige Absicht des jüngern, minder gelehrten, doch willensstärkeren Ulrich von Hülleshoven, nächster Tage nach Witoborn zu kommen, auf Westerhof ein kurzes und bündiges Wort zu sprechen und sein Töchterlein Armgart an sich zu nehmen. Zugleich flattert wie eine Taube um ihr vom Geier bedrohtes Nest auch die Mutter und wird, wie sie mir schreibt, nicht verfehlen, das zu beanspruchen, was ihr gehöre. Da könnten denn also diese zwei Menschen sich gegenübertreten und nach meiner Meinung die oft im Leben vorkommende Scene aufführen, daß sich zwei Leute gerade deshalb nicht verstehen, weil sie aus einem und demselben Stoff geschaffen und gerade füreinander bestimmt sind. Denn in der ersten Liebeszeit sucht man sein Gleichartiges – Du kennst das nicht – in der zweiten Liebeszeit sucht man sein Gegentheil und in der dritten Liebeszeit kommt man auf den richtigen Instinct der ersten Liebe wieder zurück und will nur das, was unserer 277 Natur gleichartig ist. So ging es diesen zwei Menschen. Ein Zufall verband sie und sie gehörten sich einander. Da kam eine Willensprobe und sie scheiterte an ihren harten Köpfen. Jetzt scheinen sie vollkommen reif, sich gerade so zu lieben, wie man sich eben noch liebt, wenn man Kinder hat, die schon selbst wieder von Liebe sprechen. Auch das trifft zu: Jede Liebe, die sich in spätern Jahren noch bewähren soll, muß eine andere Nahrung haben, als die der erste Jugendlenz schon allein in seinem schönen Blütenduft findet. Ein Drittes muß sie haben, um dessentwillen sie da ist, um dessentwillen sie sich bewährt, nicht blos die übliche „Brücke“ der Liebe zu den Kindern, sondern eine Idee und wäre es die Erziehung dieser Kinder, eine Erziehung höherer Art, eine mit Bewußtsein und Gedanken. Immer hab’ ich gefunden, daß zuletzt doch in den gleichen Ideen eine unendliche Bindkraft liegt. Zwei Feinde, die sich auch nur Einmal in einer gleichen Idee begegnen, können sich versöhnen.

Bis zu Mariä Verkündigung bleibst Du wol noch in der dortigen Gegend; zur Osterzeit werden sie Deine Schultern in der Kirchenresidenz brauchen. Ich werde bald meine dreijährige „schwere Arbeit“ antreten und auch meine „Visitation“ an der Donau halten. Frau von Gülpen zittert schon wieder, mich Windhack allein überlassen zu sollen, sich zu denken, daß ich bei meinen alten Kreuzsternordensdamen eines Abends sanft beim Whist einschlummere, ein à tout in der Linken, ein „ich passe“ auf den Lippen … So ging ich am liebsten heim! … Aber das kommt mir bei dieser Reise noch nicht, ich weiß es; ich habe die Ahnung, daß ich noch viel böse Ungewitterwolken 278 sich entladen sehen soll. Der Oberprocurator Nück bot mir eine Commission an, die ich ablehnte. Cardinal Ceccone kommt von Rom als apostolischer Nuntius an die Donau. Ihm und dem großen Staatskanzler will man die Lage des gefangenen Kirchenfürsten und die Zukunft Deutschlands ans Herz legen. Don Tiburzio Ceccone zu sehen wäre mir von Werth; aber von seinem Munde dann auch hören zu müssen, was geschehen soll, um in das Vaterland Leibnizens und Kant’s die Luft hinüberzuleiten, die man in den Hörsälen des Collegio Romano athmet – das könnte mein à tout beschleunigen. Uebrigens droht mir bei alledem eine gewisse Beziehung zu Rom. Auch Dir dürfte sie nahen, wenn Dich Dein Stiefvater in Vertraulichkeiten einweihen sollte – ich lese soeben, während ich dies schreibe – der Kronsyndikus ist gestorben! …

Ruhe seiner Asche! – – –

Sorge, daß bei allem, was jetzt etwa zur Sprache kommen könnte, nur Priester zugegen sind; denn darin hatte Benno Recht: Der Beichtstuhl – – –

Genug für heute! Grüße ihn von mir – meinen armen – Zigeunerknaben! Wer weiß, ob ich jetzt nicht endlich mit ihm beredsam werden muß, wenn er mir, so wie Du im letzten Sommer, aus Gräbern der Vergangenheit alte Erkennungszeichen – unserer Sünden bringt –! Hast Du nichts mehr von dem Leichenräuber vernommen? … Grützmacher und Schulzendorf sind recht verdrießlich – über verfehlte „Prämie“ …

Spät Abend ist’s geworden – – Musik hör’ ich schon seit lange nicht mehr – Die Tante correspondirt mit ihrer 279 „Familie“ und will mich durch eine noch immer nicht entdeckte Nachfolgerin ihrer letzten „Nichte“ überraschen. Diese letzte … kam, hör’ ich, um – Deinetwillen! … Bona, Bona, ich hätte die nicht von mir gestoßen … Drei Tage war sie bei uns und sie sind eingeschrieben in die Chronik der Dechanei wie mit Flammenschrift … Selbst den Tod des Lolo (von dem Du wol noch nichts weißt) schreibt die Tante auf Fräulein Schwarzens Rechnung … Mit Beda Hunnius correspondirte sie und die Regierungsräthe lasen – und belachten alle diese mit Beschlag belegten Briefe … Um so stolzer erhebt sie ihr Haupt … Ich höre, sie beherrscht das ganze Kattendyk’sche Haus und niemand mehr, als – den Oberprocurator …

Deine Liebe muß also – goldene Locken tragen? Muß – im Mondlicht wandeln? … Seltsam! Seltsam!

Zerreiß diesen Brief nicht, sondern – verbrenne ihn! Man hat Fälle, daß zerrissene Briefe immer noch gegen uns zeugen können, falls man auf den Gedanken käme, nach unserm Tode uns heilig zu sprechen … Ich glaube, Petronella setzt alles, was sie hat und doch noch zu erben hofft, daran, mir nach meinem Tode diese unverdiente Ehre zuzuwenden …

Ich habe seit Jahren nicht soviel geschrieben … Der Tod des Kronsyndikus versetzt mich – in wehmüthige Aufregung … Lebe wohl, Bona, und denke nur immer, auch wenn Du vielleicht – – in diesen Tagen nicht das Beste von mir vernehmen solltest, ich war schwach – schwach – um der Liebe willen – – Und so fortan wie bislang Dein treuer Onkel.

280 So erheiternd auch anfangs die Stimmung dieses Briefes auf Bonaventura wirken durfte, der Schluß regte zu Besorgnissen und befremdlichem Nachdenken auf …

Dennoch verweilte er nicht zu lange bei den trüben Schatten, die mit diesen Gedankenreihen in sein Inneres fielen. Zu sehr hatte er das Bedürfniß des Glücks und jede Vorstellung nahm bald wieder die holdeste, freundlichste Gestalt an …

So endete der glücklichste Tag seines Lebens.

281 9.#

In ähnlichen, doch zugleich vom tieflastenden Druck der Furcht beschwerten Stimmungen hielt sich auf seinem Zimmer ein Mann, in dessen Inneres wir zum ersten male einblicken wollen.

Nicht lange hatte Armgart in der schwebenden Pein der Ungewißheit über den Onkel und die Tante zu verharren brauchen … Einige Augenblicke später, nachdem Bonaventura gegangen, kamen sie von der Gegend auf Witoborn zurück …

Armgart’s stürmischen Fragen nach dem Ort, wo sie gewesen wären, nach den Nachrichten, die sie mitbrächten, wurden schroffe Antworten zu Theil. Als sie von einer Verabredung sprach, die hinter ihrem Rücken getroffen worden, um sie dem Vater zu überliefern, schwieg man … Aber auch sie verstummte plötzlich; denn Wenzel von Terschka sprach, um einen möglichen Zwist im Keime zu unterbrechen, von ihrer Mutter …

Er nannte Monika von Hülleshoven die Seltenste ihres Geschlechts, einen Edelstein in dem Bunde aller der vortrefflichen Menschen, in deren Nähe er hier zu 282 leben so glücklich wäre, eine Denkerin ohne die Runzeln der Stirn, die dem Gedankenleben zu folgen pflegten und die Leichensteine der Schönheit würden, eine Gelehrte, ohne daß man an ihren Fingern die Dinte sähe, eine Priesterin an den Altären einer noch unausgesprochenen Religion, die alle Menschen verbinden und glücklich machen würde …

Auf dies überraschend enthusiastische Wort ermunterte Paula, die selbst noch wie berauscht war von ihrem geschlossenen Bunde mit Bonaventura, den Sprecher fortzufahren …

Armgart unterbrach ihn aber und sagte aufwallend:

Meine Mutter wird in ihrem wiener Kloster keine andere Religion gefunden haben, als die des dreieinigen Gottes!

Auf diese entscheidende Aeußerung trat eine Stille ein und kein behagliches Gespräch ließ sich heute mehr anknüpfen …

Nach dem Thee trennten sich alle …

Als Wenzel von Terschka auf seinem Zimmer war, machte es ihm der Diener so zurecht, wie der „Rittmeister“ seither gewohnt war immer den Abend noch zuzubringen … Vor Mitternacht ging er nie zur Ruhe … Zwei Zimmer mußten erleuchtet sein … Auf drei, vier Tischen mußten Lampen stehen; denn auf jedem lag ein Actenstoß von diesem oder jenem Inhalt – zu verzweigt war die Geschäftsthätigkeit, der er sich zu widmen hatte …

Geschäftlich war ihm seither alles vortrefflich ge-283gangen … Er konnte seinem Gönner und Freunde Grafen Hugo, er konnte der Mutter desselben, jetzt auch schon an Monika Berichte voll erfreulicher Ergebnisse schicken. Die letzten Chicanen, mit denen Nück noch drohte, waren durch seinen Bevollmächtigten, Benno, gemildert worden. Benno verfuhr mit Entschiedenheit, vermehrte jedoch die Schwierigkeiten nicht. Die Parcellirung war von der Regierung genehmigt. Löb Seligmann hatte die einzelnen Bestandtheile taxirt und schon Angebote vermittelt. Seligmann war hin und her; für seine Geschäftsthätigkeit hatte er eine neue Provinz erobert; kehrte er nach Kocher zurück, so blies er sich schon jetzt das Horn einer Extrapost für die letzte Station, auf der er diese kleine Prahlerei sich gestatten wollte … Endlich wurde eine bedeutende Geldsumme sogleich flüssig durch die an Thiebold de Jonge verkauften Waldungen … Nach Ostern konnte der neue Besitzstand vollständig angetreten werden.

Anfangs war in diesem Kreise Terschka der, der er überall gewesen. Ein Mann von vierzig Jahren und doch noch jugendlich; eine Natur, unheimlich manchem, weil er niemanden Stand hielt, doch erweckte er auch niemanden Furcht oder Besorgniß. Man konnte ihn nur nicht festhalten. Etwas Unstetes lag in seinem ganzen Wesen. Gefällig war er gegen jedermann. Seiner schmächtigen, zierlichen, gewandten Gestalt stand es, da einen Strickknäuel aufzunehmen, dort einer Cigarre Feuer zu geben und dabei doch schon wieder einen Befehl zu ertheilen, den er halb schon selbst ausführte. Thiebold fand ihn sogleich superlativ. Terschka schoß einen Vogel im Fluge, 284 selbst im währenden Reiten. Seine Kunst, die Pferde zu zügeln, war der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Dennoch sagte Benno gleich, nachdem er ihn einige Tage lang beobachtet hatte: Dieser Mann ist nicht schlecht und doch hat er kein gutes Gewissen! …

Von der verfehlten Begrüßung der Gräfin Erdmuthe war Terschka ganz in der Aufregung zurückgekehrt, die der letzten geheimen Zwiesprache zwischen Monika und der Gräfin entsprach, die den Uebertritt derselben zum Lutherthum und eine Vermählung mit Terschka wünschte. An dem Abend bei Piter Kattendyk hatte er ganz wieder in das Innere dieser jungen Frau blicken können, die sich, wie Luther sich aus Rom die Reformation, so aus einem Kloster die Freiheit des Denkens geholt hatte. Er begleitete sie, noch vor dem Auflauf in den Straßen, noch vor dem militärischen Conflict mit den Vereinen, in ihr Hotel, mußte aber Abschied nehmen, da seine Rückreise eines Gerichtstermins wegen unerläßlich war … Nun schrieb er ihr … Sie antwortete … Es waren Briefe der Convenienz, wirkliche oder gesuchte Geschäftsanfragen … Monika antwortete kurz und wich Dem aus, was ihre Empfindungsweise hätte misdeuten können … Terschka hatte keine Berechtigung, auf das Herz dieser Frau zu rechnen … Eine Frau empfindet bald, ob eine Werbung aus dem tiefsten Bedürfniß des Herzens oder nur aus der Phantasie entspringt … Letzteres schien bei Terschka der Fall. Diese seltsame Naturerscheinung, silbergraue Locken auf einem halben Mädchenantlitz, körperliche Reize verbunden mit einem durchaus geistigen Leben – Terschka hatte sich in den Strudeln 285 der Welt genug umgetrieben, um diese Verbindung neu und anziehend zu finden. Wie Terschka auch jugendlich aussah, im Grunde war er ermüdet. Vielleicht hätte er eine edlere Ruhe finden mögen. Vielleicht hätte er gern die Waffen der List und der Kühnheit, die er zwanzig Jahre lang geführt, niedergelegt zu den Füßen einer Liebe, die ihn dann immerhin hätte tyrannisiren mögen. Vielleicht hatte er das Bedürfniß, gut zu sein oder sehnte sich nach Erhebung. Frauen, die in sich gefestet sind, vermögen viel. Schon Gräfin Erdmuthe, die Terschka und ihr Sohn, Graf Hugo, vielfach betrogen hatten, hatte ihn gemildert, gezähmt und als dann eine Monika in diesen Lebenskreis eintrat, empfand Terschka für sie wie für ein Wesen, das ihn, so sagte er auch schon in Wien, von sich selbst befreien könnte und neugeboren werden lassen …

Seit einigen Tagen kam in Terschka’s Wesen etwas, was Benno’s Wort vom bösen Gewissen zu bestätigen schien … Vollends seit der Rückkehr vom Leichenbegängniß, seit dem gestrigen Abend im Finkenhof war Terschka wie zerstört … Er unterzog sich seinen täglichen Geschäften, er rechnete unten im Rentamt mit den Beamten, sorgte für die Vorbereitungen der großen Jagd, war heute wieder früh in Witoborn, Nachmittags in Heiligenkreuz gewesen, besorgte seine Briefe, würzte das Gespräch mit Anekdoten, sprach über die Schweiz, Frankreich, Italien – in Rom war er mehr zu Hause, als er zu gestehen liebte – aber seine Sätze waren abgerissen, seine Uebergänge unvermittelt, seine Antworten zerstreut …

286 Gleich gestern Abend, wo er vom Finkenhof heimgekehrt war, hatte er sein Zimmer zugeschlossen, die Lampen, die er angezündet fand, ausgelöscht bis auf eine, hatte die Vorhänge niedergelassen, als könnten die Pappeln von draußen verrätherisch hereinlugen, hatte seine Kleider abgezogen, sich – vor den Spiegel gestellt, das Hemd zurückgeschlagen, den Aermel aufgestreift und – auf den linken Arm in dem Moment sein Auge gerichtet, wo es klopfte … Erbebend stellte er die Lampe nieder, ließ den Aermel herabgleiten und rief: Wer da? … Ein Diener brachte ihm den Brief, den Armgart hatte unterschlagen wollen …

Nur allein dieser Brief konnte ihn zerstreuen und beruhigen … Er erbrach ihn, las ihn, las ihn wieder … Es waren nur einfache Berichte über die Summen, die die Gräfin im Hotel zu bezahlen hatte … Mittheilungen über ihren Aufenthalt, den Monika nicht mehr verlängern wollte, obgleich sie ihn in einem bescheidneren Zimmer des Hotels genommen hatte … Nachrichten über die Ankunft der Gräfin in London und die erste Bekanntschaft mit Lady Elliot … Kleine Neckereien auch über Lucinde, die Monika näher kennen gelernt hatte und die sie ihm um so mehr empfahl, als ihre Schönheit und ihr Geist an jenem Abend ihn ja, wie sie schrieb, sofort gefesselt und an eine glückliche Vergangenheit erinnert hätte – an jenen Pferdeankauf im Holsteinischen für Hugo’s Regiment – Aber nicht ganz fand Terschka seine Heiterkeit wieder … Gestern und auch heute nicht … Der Bruder Hubertus konnte nicht erwähnt werden, ohne daß er erröthete … 287 Soviel er auch heute in der Gegend umherstreifte, er konnte ihm nicht begegnen … er wünschte das und fürchtete es wieder … Zum Kloster Himmelpfort zog es ihn und wieder jagte es ihn gespenstisch aus dessen Nähe …

Zu den Besorgnissen, die ihn erschreckten, kam die Entdeckung, die im Benehmen Armgart’s lag … Warum hielt sie ihn heute so fest nach Paula’s Vision? … Was wollte sie überhaupt schon seit lange mit ihm? … Errieth sie seine Liebe für ihre Mutter? … Mistraute sie dem Briefwechsel, von dem sie sich unausgesetzt erzählen ließ? … Heute war das auf der Wanderung von Heiligenkreuz mit ihm ein Ton gewesen, der ihn völlig befremden mußte … Daß Thiebold und Benno um Armgart warben, sah er, und ein keineswegs zu scharfes Auge gehörte dazu, sich zu sagen, daß letzterer der Bevorzugte war … Und dennoch, dennoch begann Armgart seit einiger Zeit ihm eine Theilnahme zu schenken, die ihn zu verwirren anfing … Was hat nur das seltsame Mädchen? sagte er sich … Auf der Wanderung heute kam sie von der Mutter ab und sprach wie im Traum, bis Terschka ihr geschworen hatte, er wisse nichts von der Nähe ihrer Mutter … Selbst heute Abend ihr: „Gute Nacht, Herr von Terschka!“ – wie klang das so süß und herbe zugleich, so innig und doch so beklommen, so absichtlich und doch so zurückgehalten! …

Heute wieder schloß sich Terschka ein, was er sonst nie that … Wieder konnte er erschrecken vor jedem unerwarteten Geräusch … Dem Diener, der ihm die Zurückkunft des Rosses von Heiligenkreuz meldete, sagte 288 er bei Gelegenheit des Namens Schneid: Ist das Der, der gestern auf dem Finkenhof unter dem Schutz des buckeligen Stammer erschien und falsch gespielt haben soll? … Er hörte aber nicht weiter auf die Mittheilung, daß Baron Levinus dem Vagabunden nur noch eine dreitägige Frist als Probe seiner Haltung gestattet hätte … Bonaventura hatte auf Bitten des alten Tübbicke selbst ein Fürwort für den ihm unbekannt gebliebenen, ja ihn vermeidenden Fremdling eingelegt …

An Monika hatte Terschka jetzt schreiben wollen. Er wollte ihr Vorwürfe machen, daß sie beabsichtigte, wie er von andern hören müsse, in die Gegend zu kommen, ohne ihn in Kenntniß zu setzen. Verdien’ ich Ihr Vertrauen nicht? hatte er sagen und sein ganzes Gefühl ausströmen wollen … O, ich ahne es, Sie werden sich mit Ihrem Gatten verständigen! Ihr liebliches Kind wird Sie beide verbinden! Die Hoffnung meines Lebens ist dahin! …

Nie hatte er so zu Monika gesprochen … Sollte er es heute wagen? … Heute? … In den Stimmungen, die ihn seit einigen Tagen erfüllten! … In diesen aufgeweckten Erinnerungen, in den quälendsten seines Lebens? … In Ahnungen, Schreckensaussichten, die ihm plötzlich gekommen waren bei Nennung des Namens – Bosbeck? Bei Erwähnung jener beiden Knaben, die Hubertus einst aus dem Feuer rettete?

Erzählen wir von Wenzel von Terschka die Wahrheit.

1798 war er geboren und in der That ein Böhme und in der That vom Adel, wenn auch vom ärmsten.

Sein Vater, einer herabgekommenen Familie angehörend, diente zur Zeit der französischen Revolutionskriege im 289 österreichischen Heere und stand bei Kinsky-Ulanen in jener Heerabtheilung, die anfangs unter Wurmser, später unter Erzherzog Karl gegen die französische Republik am Neckar, Rhein, an der Mosel mit abwechselndem Glücke focht. Seines Adels und Alters ungeachtet war seine Stellung nur gering. Er hatte Lieutenantsrang und bekleidete die Functionen eines Regimentsquartiermeisters. Ihm, der auf dem Marsche immer für die sichere Unterkunft der andern sorgen sollte, begegnete es, daß er bei einem Ueberfall selbst von seinem Regiment abgeschnitten und gefangen genommen wurde. Die französischen Armeen hatten sich damals in Nassau und bis nach Hessen hin festgesetzt, der Gefangene blieb am Rhein in der alten Stadt St.-Goar. Seine Lage war hart und zog sich in die Länge …

Es war die Zeit des Rastadter Gesandtenmords, der die Welt mit Entsetzen erfüllte – man fürchtete Rache an jedem gefangenen Oesterreicher … Der Quartiermeister von Terschka war verheirathet. Seine Frau gehörte dem niedern Bürgerstande an. Ursprünglich war sie eine wohlhabende Bäckerswitwe in einer böhmischen Stadt, die in zweiter Ehe ihr Geschäft verpachtet hatte. Die wenig gebildete, kaum halbwegs deutsch sprechende Frau besaß reichlich die Mittel, um dem, wie sie zu ihrem Schrecken in Erfahrung brachte, gefangenen Gatten zu folgen, setzte sich auf die Post, reiste an den Rhein, kam in St.-Goar an, verfiel jedoch, kaum im Wirthshaus abgestiegen, vor Anstrengung und Aufregung in eine Krankheit, die ihr und beinahe auch einem Kinde, das sie unterm Herzen trug, das Leben kostete … Obgleich sie schon in zwei Monaten Mutter werden mußte, hatte 290 sie sich dennoch diese Reise zugetraut… Sie erlitt eine Frühgeburt und sah ihren Gatten, der von der oberhalb der Stadt gelegenen Festung herbeieilte, nur wieder, um für dies Leben von ihm Abschied zu nehmen … Die Wache, die ihn begleitet hatte, stand voll Rührung. Es war ein herzzerreißender Anblick … Die schon an Jahren vorgerückte Frau erlag dem Opfer ihrer Liebe. Wenzel, wie die Nothtaufe das kaum athmende Kind nannte, war ein Siebenmonatkind. Daher die eigenthümliche Unfertigkeit und scheinbare Unreife in seinem ganzen Wesen … Die Hebamme nahm das halbtodte Kind an sich, besorgte das Begräbniß der Mutter, der Vater schrieb um Mittel nach Böhmen …

Eine schmerzliche Zeit verging dem Gefangenen auf der Festung Rheinfels, die oberhalb des Städtchens St.-Goar liegt. Der Rastadter Gesandtenmord schien die Aussicht der Ranzionirung zu vereiteln und ließ eine Abführung ins Innere Frankreichs erwarten. Die aus Böhmen erhofften Gelder blieben aus. Der Krieg wüthete am Main und bedrohte sogar schon Thüringen … Die Hebamme war keine besonders wohlwollende Frau. Sie hatte Noth mit dem schwer zu erhaltenden Kinde und drang auf eine Verpflegung bei andern Leuten, zu der dem Vater die Mittel fehlten …

Ein Mitgefangener hörte das Seufzen und die Klagen des unglücklichen Kriegers, hörte das Schreien seines Kindes, das man ihm zuweilen brachte, und schlug ihm durch die Wand, die ihn von seinem Nachbar trennte, eines Tages vor, das Kind an seine Frau zu übergeben, die heimlich unten im Orte wohne, selbst 291 nur ein Kind hätte und einem zweiten gewiß bis auf weiteres eine treue Mutter sein würde … Für die Heimlichkeit des Aufenthalts seiner Frau in dem Orte gab er Gründe an, die so stichhaltig schienen, daß der Tiefgebeugte kein Arg hatte … Terschka bewegte sich freier, als der Mitgefangene, der kein erwiesener Verbrecher war, sondern nur wegen mangelnder Legitimation, doch streng gehütet, gefangen saß …

Die Noth und die Hoffnung auf baldige Ranzionirung bewogen Terschka’s Vater, auf den Vorschlag einzugehen. Er erkundigte sich nach seinem Nachbar und nun erfuhr er freilich, daß es ein Mann war, den man für einen Gauner hielt. Es war ein Jude. Man vermuthete, daß sein angeblicher Name Sontheimer schwerlich sein rechter wäre, setzte aber hinzu, daß man sich auch irren könnte. Daß seine Frau im Orte lebte, wußte niemand und da Sontheimer zu dringend gebeten hatte, daß sie nicht genannt würde, schwieg der Kriegsgefangene und ließ sein kaum lebensfähiges Kind an den ihm von seinem Nachbar näher beschriebenen Ort, eine enge, dunkle Gasse dicht am Rhein, bringen … Wie die Umstände waren, war das ein Glück für den Kriegsgefangenen, der durch eine so traurige Verkettung von Umständen um seine Freiheit, um sein Weib kam und noch obenein die Sorge um ein Kind vom Schicksal auferlegt erhielt! … Haus und Herd gab es damals für Tausende nicht mehr … Mit den Armeen zugleich zogen die Bewohnerschaften zerstörter und geplünderter Ortschaften mit Weib und Kind und wo sich Waaren und Gelder hingeflüchtet hatten, da lauerte die Nachstellung und der 292 Ueberfall jener Verbrecherbanden, die wie giftige Pilze nach dem Regen aufschossen im ganzen verwüsteten nordwestlichen und südlichen Deutschland …

Der Kriegsgefangene erhielt noch immer seine Freiheit nicht und dachte oft, obgleich der dazu nöthigen Mittel entblößt, an Flucht … Auf der Festung hatte er freieren Aus- und Eingang, als die andern … Der Jude Sontheimer wurde nicht ins Freie gelassen, sondern wie der gefährlichste Verbrecher gehütet, ohne daß man ihm etwas vorwerfen konnte … Seine wilden Flüche erschreckten oft seinen Nachbar … Voll Entsetzen dachte er an die Aufbewahrung seines Kindes in solchen Händen … Besuchte er aber dann wieder Sontheimer’s Frau, so fand er ein schönes junges Weib, das ihn zwar nur halb verstand (sie war eine Holländerin); aber die Ermahnungen des Kriegers wirkten so lebhaft auf ihr Gemüth ein, daß sie oft Thränen vergoß … Da wurde ihm freilich klar, daß es mit Sontheimer nicht richtig stand; er forschte dahin und dorthin, suchte, ob sonst niemand sein Kind an sich nehmen wollte … Aber noch blieb ihm jede Hülfe vorenthalten … Die Spuren einer so weichen Gesinnung bei jener jungen Jüdin bestachen ihn … er ließ sein Kind um so mehr in ihrer Pflege, als sie auch die hingebendste war … Es kostete bei der schwächlichen Gesundheit des winzigen Knäbleins nicht wenig Aufmerksamkeit, sein Leben zu erhalten … Diese Pflege würde ihm in so wilder Umgebung, bei diesen Durchzügen und Einquartierungen von niemand anders gleich liebevoll und uneigennützig geleistet worden sein …

Allmählich entdeckte der Gefangene durch die Wand-293gespräche die wirkliche Gefährlichkeit seines Nachbars … Der Jude beschwor eines Tages den Krieger, den Gefängnißwärter niederzuschlagen und ihm die Schlüssel zu rauben … Würden sie auf diese Art frei, so wollte er ihn „fürstlich belohnen“ …

Nun begriff der Kriegsgefangene vollkommen den Verdacht der Sicherheitsbehörden … Die Welt war damals von Schrecken erfüllt vor jenen großen Verbrecherbanden. Durch die schlechte Justizpflege der Grenzgebiete Deutschlands und besonders der vielen geistlichen Regierungen hatten sich von Strasburg bis zum Niederrhein alle zerstreuten Elemente des Gaunerthums und der Heimatlosigkeit vereinigt und vorzugsweise durch die überwiegende Theilnehmerschaft der Juden wurde bewiesen, wie es sich an der christlichen Gesellschaft rächt, wenn sie die Juden in einem abgeschlossenen Druck, in der Verweigerung der Ansiedelung und freien Erwerbsübung erhält. Man zitterte vor Abraham Picard, der unter hundert Verkleidungen und täuschenden Entstellungen seiner Person immer den Händen der Justiz zu entschlüpfen wußte und von Holland bis zum Spessart mit seinen Genossen und überall versteckten Helfershelfern raubte und sengte .…

Mit sich kämpfend, was zu thun seine Pflicht war, stand der Kriegsgefangene verzweifelnd zwischen dem Verlangen, die Behörden auf die Gefährlichkeit seines Nachbars aufmerksam zu machen und zwischen der Sorge für sein Kind … Voll Vertrauen zum Herzen des jungen Weibes wollte er sie zu Rathe ziehen … Von seiner ihn immer begleitenden Wache geführt, kam er in die 294 Stadt und in jene dunkle Gasse. Er sucht die Pflegerin seines Kindes, tritt in ihr Zimmer und findet die Jüdin entflohen … Mit beiden Kindern war sie seit einem Tage verschwunden … Außer sich, hielt er jetzt mit keiner seiner Enthüllungen, wenigstens über die heimlich in der Stadt anwesende Frau des Gauners zurück. Sontheimer wurde mit ihm confrontirt. Er stürzte auf den Verbrecher zu, den er zum ersten mal in ganzer Gestalt sah, verlangte Auskunft über den Ort, wo sich sein Weib verborgen haben könnte und hörte nun, wie dieser kecke, wilde, trotzige Mensch, von dem er bisher nur den aus dem vergitterten Fenster gesteckten Kopf gesehen hatte, sich mit einer Verschlagenheit herauszureden wußte, daß er aus Furcht vor Rache an seinem Kinde Anstand nahm, noch alles Fernere zu gestehen, was ihm Sontheimer zugemuthet hatte. Listig sagte dieser: Es ist nicht mein Weib gewesen, sondern das Weib eines andern, der mir schuldig ist und den ich in Nimwegen verklagen muß, wenn ich auf freiem Fuß bin! Laßt mich ziehen! Ich heiße Sontheimer, bin ein ehrlicher Mensch und werde euch die Frau in Nimwegen zeigen, wo sie auf der Utrechter Gracht wohnt!

Geschrieben wurde nun freilich hin und her. Aber gerade dem Niederrhein zu und in Holland wüthete die Kriegsfurie. Städte geriethen in Brand; in nächster Nähe waren die Bauern der Lahngegend, Hessens, am Main bis zum Spessart hinauf als Landsturm organisirt, – mitten in die von der Batavischen Republik heraufziehenden Heere hinein konnte sich der österreichische Krieger noch weniger wagen, selbst wenn er entfloh. Aus Sontheimer war 295 nichts mehr herauszubekommen. Auch da nicht, als endlich der Kriegsgefangene frei und mit vorgeschriebener Reiseroute an die Oesterreicher zurückgegeben wurde. Er durfte nicht etwa in seine Heimat zurückkehren, er mußte nach Italien gehen, wo gerade Suworow die Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen führte. Mit blutendem Herzen trat er seinen ihm vorgeschriebenen Weg an, ließ bei dem „Maire“ von St.-Goar die Erkennungszeichen des flüchtigen Weibes und seines Kindes zurück, bat einige freundlichgesinnte Herzen um Nachrichten, wenn ihnen eine Kunde käme oder wenn der Jude Sontheimer entlarvt würde, und ging über Mainz nach Baiern, von dort über den Vorarlberg nach Tirol und Italien, wo er in der blutigen, für Oesterreich siegreichen Schlacht bei Novi den Tod fand.

Abraham Picard, der gefürchtete Räuber war es selbst gewesen, der bald nach der Entfernung des unglücklichen Kriegers in seinem Gefängniß auf dem Rheinfels ausbrach und noch eine Reihe von Jahren hindurch der Schrecken des Landes blieb. Jene junge Frau war in der That nicht sein Weib, sie war seine Schwiegertochter. Ihr Mann, sein Sohn Heyum Picard, verschaffte ihm zuletzt die Mittel zur Befreiung, nahm aber schon vorher sein Weib zur Sicherung mit sich hinweg. Abraham starb auf dem Schaffot, als die gemeinschaftlichen Maßregeln aller Regierungen diesem Raubwesen ein Ende machten. In den Niederlanden bildeten sich Freiwilligencorps, um den in ihren Schlupfwinkeln verschanzten Räubern förmliche Treffen zu lie-296fern. Oft nach einer Gegenwehr, deren Heldenmuth einer bessern Sache würdig gewesen wäre, fielen die Häupter der Gefangenen bei den Franzosen unter dem Beil des Henkers, bei den Holländern wurden sie gehängt, manche kamen für Lebenszeit auf die Galeere. Den nur Verdächtigen oder den unzurechnungsfähigen Kindern der Verbrecher brannte man Erkennungszeichen auf die Haut, um sie controliren zu können und ihrer Verstellungskunst zeitlebens sicher zu sein. Die Kinder gab man unter die Obhut beaufsichtigter Familien.

Auf diese Art wuchsen Wenzel von Terschka und Jean Picard zusammen auf in einem holländischen Dorfe hart an der deutschen Grenze …

Die Mutter des letztern erlag den Anstrengungen und den Mishandlungen ihres Mannes Heyum Picard schon vor dessen Gefangennahme auf französischem Gebiet und seiner Abführung auf die Galeeren von Brest. Sie hinterließ ihren Pflegling sowol, wie ihr eigenes Kind der Aufsicht eines ältern Knaben, der bei einem Müller Namens Sterz in Arbeit stand – Hanne Sterz, die wir von den unterirdischen Gängen des Profeßhauses in der Residenz des Kirchenfürsten kennen, war einst das Weib eines Hehlers, der auf einer einsam gelegenen Mühle den Gaunern in die Hände arbeitete. Mittel zum Unterhalt fehlten nicht, sogar die reichlichsten gab es. Dieser ältere Knabe hieß Franz Bosbeck und gehörte jener Familie des Jehu Bosbeck an, eines Christen und ehemaligen Offiziers, den sein dissolutes Leben bis in die Berührung mit den verworfensten Kreisen der Gesellschaft führte 297 und der sogar seinen christlichen Glauben abschwur und Jude wurde. Als seinen und seines Bruders Jan Frevelthaten ein endliches Ziel gesetzt wurde, als eine mit beispielloser Kühnheit ausgeführte Flucht aus einem Thurm in Nimwegen, wo Jehu Bosbeck neunzehn Monate mit den Füßen in Wasser stand, das Signal zu einer gemeinsamen Verfolgung auf Tod und Leben wurde, zogen sich alle zerstreuten Familienglieder, die thätigen und die nur hehlenden, in einem Versteck zusammen, einem Meierhof, der einem Mitverschworenen gehörte. Hier wurden sie umzingelt. Es gab einen Kampf, wie im offenen Kriege. Von Kugeln durchbohrt sanken die Verbrecher, die sich mit Verzweiflung wehrten. Ueber Leichen hinweg stürmten die Corps der Freiwilligen. Die Flammen ergriffen das ganze Anwesen. Das Hauptgebäude, ein stattliches Wohnhaus, war durch die gefüllten, in Brand gerathenen Fruchtscheuern eine einzige Feuersglut. Da war es, wo der vierzehnjährige Müllerbursch Franz Bosbeck, ein Verwandter des Hauptführers, zwei Stockwerke hoch aus den Flammen sprang, in jedem Arm einen Knaben, Wenzel von Terschka im linken, Jean Picard im rechten … Wohlbehalten kam er auf den Boden; die rauchenden Trümmer verbargen ihn in ihrem dampfenden Gewölk, er entfloh, rettete sich zu jener Mühle zurück und als auch diese in Asche gelegt wurde, irrte er mit seinen beiden jammernden Pflegbefohlenen, abwechselnd bald den Einen, bald den Andern tragend, hinaus in Nacht und Verzweiflung … Terschka war damals fünf Jahre alt, Picard etwas älter …

298 Noch zuweilen schreckte Terschka die Erinnerung an diese frühesten Lebenseindrücke wie ein Fiebertraum. Heute waren es wilde, leidenschaftverzerrte Gesichter, wie sie Rembrandt und Honthorst malte, die er bei Laternenschimmer würfeln, Karten spielen, zechen sah … Dann wieder sah er Gold- und Silbergeräth aufgehäuft, Säcke mit klingender Münze getragen … Wieherndes Lachen schallte daher dahin. Plötzlich ängstliche Ausrufe des Schreckens über Verrath … Dann blinkende gezückte Messer, geladene Pistolen … er hörte fluchen aus einer Mischsprache von Holländisch, Deutsch, Jüdisch und Französisch … Nichts aber hatte sich unauslöschlicher ihm eingeprägt, als jener Schreckensaugenblick des Brandes, des Hülfejammerns, des Sprunges aus dem Fenster. Alles das stand noch oft vor seiner Seele und doch war es ihm schon lange, als könnte es nicht gewesen sein und wäre nur die mit der Wirklichkeit verwechselte Erinnerung einer Erzählung. Aber das Schreckenvolle dieser Erinnerungen wurde durch ein auch ihm eingebranntes Mal immer wieder neu bestätigt. Er erhielt dies Mal ein Jahr nach jener Flucht. Zwar hatte sie ein der Hehlerbande zugehörender Scharfrichter aufgenommen. Ein Jahr wohnten sie am Fuße eines Hochgerichts. Hier, wo die Gerippe todter Pferde im Hofe moderten, hier unter den abscheuerregenden Vorkommnissen des Abdeckens, hier unter den Zurüstungen von oft massenhaften Hinrichtungen lebten die drei Flüchtlinge, bis sie dem Scharfrichter zur Last fielen und von ihm der Regierung ausgeliefert wurden. Diese gab ihnen den Stempel und lieferte den ältesten zu Schiffe nach 299 Java; den zweiten gab sie nach Frankreich, wo sein Vater in Brest auf den Galeeren saß; den dritten gab sie einer zufällig in Rotterdam anwesenden Kunstreitergesellschaft. Auch diese Trennung von seinen beiden Gefährten war Terschka unvergeßlich. Der gutmüthige Franz Bosbeck weinte zwar nicht, wie er und Jean Picard thaten, aber er schied von seinen Pfleglingen mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes.

Wenzel von Terschka war von seinem achten Jahre an bis zum funfzehnten Kunstreiter. Er kannte im allgemeinen seine Herkunft, sie wurde ihm sogar nach den Untersuchungsprotokollen und den Aussagen des Heyum Picard gerichtlich bescheinigt: aber noch lag die Welt in allgemeiner Kriegsnoth und eine Eroberung der Vater- und Heimatsrechte setzte damals, als Napoleon mit Oesterreich im Kriege lag, für ein unmündiges, so wenig empfohlenes Kind niemand durch. Halb Europa durchzog Wenzel von Terschka mit einer holländischen Kunstreitertruppe. Bald war der Knabe der Liebling der Gesellschaft des berühmten Jân van Prinsteeren und auch der Liebling des Publikums. Seine Behendigkeit und Gewandtheit übertraf alles. Im bunten Kleide auf dem Rosse, in Paris, in London, in den Seestädten erregte er Bewunderung, bis er einst in Amsterdam Unglück hatte und ein Bein brach …

Der große Völkerkrieg gegen Frankreich begann jetzt, die Truppe löste sich auf. Ein aus Java heimkehrender Schweizersoldat nahm den langsam Geheilten mit sich nach seiner Heimat, nach dem Canton Unterwalden …

Zu Stanz war es, am Vierwaldstättersee, wo 1816 für 300 die neue Befestigung der restaurirten italienischen Staaten schweizerische Mannschaft geworben wurde. Wenzel von Terschka, achtzehnjährig, nahm Handgeld von den römischen Werbern, die, wie dies für Neapel geschah, so auch für den Kirchenstaat, eine ansehnliche Truppenmacht zum Schutz für unzuverlässige, erst neu hergestellte Zustände zusammenbrachten. Als Lanzenreiter ging er nach Rom …

An Gelegenheit, sich auszuzeichnen, fehlte es dem äußerlich zwar unscheinbaren, aber mit einer wunderbaren Elasticität begabten Jüngling nicht. Seine Reitkunst übertraf alles. Auch Muth und persönliche Tapferkeit waren ihm nicht abzusprechen, obgleich seine Weise von der seiner fester und sicherer auftretenden überwiegend schweizerischen Kameraden abwich. Die Schweizersoldaten sind in der Fremde das volle Abbild der heimischen Cantonalzustände; ihre Mannszucht ist von einer unerbittlichen Strenge; der Verkehr der aus den alten Landesgeschlechtern gewählten Offiziere mit den Gemeinen ist ein streng geschiedener, das Hinaufrücken in höhere Stellen ein den letztern völlig unmögliches. Indeß wurde Wenzel von Terschka Instructor der Reitschule. Voll Unmuth über die Dienststrenge jedoch und von einem sein Gemüth durchwühlenden Ehrgeiz getrieben offenbarte er sich dem Geistlichen der Truppe. Dieser gehörte den Schweizern selbst als Feldprediger an und erwarb ihm keine Erhörung seiner Wünsche um höheres Avancement. In dem deshalb immermehr sich steigernden Unmuth verlebte Terschka auf dem schönen classischen Boden qualvolle Jahre. Die täglichen Uebungen auf der römischen Campagna, in der Sonnenhitze, auf den dürftigen, schon vom Rosseshuf so vieler Kriege und 301 Völkerwanderungen zerstampften und um jede Fruchtbarkeit gebrachten Heideflächen stimmten ihn oft zur Verzweiflung. Er versuchte den Uebergang zu den Truppen, die inzwischen von der päpstlichen Regierung selbst organisirt wurden; aber sein empfangenes Handgeld verwies ihn in die Reihen der Krieger, bei denen er nun einmal stand. Zuletzt reclamirte er seine Unterthanenschaft beim kaiserlich österreichischen Botschafter, durch dessen Kanzlei ihm auch die von ihm erbetenen Eröffnungen über seine in Böhmen befindliche Familie und sein mütterliches Vermögen zukommen sollten. Aber der strenge geregelte Gang des ganzen römischen Lebens, diese sich überall dort (wie in einem weitläufigen Palast, wo an jeder Treppe von Schildwachen uns eine strenge Zurückweisung wird, wo jede Thür ihre feierliche Aufschrift und ihr drohendes Wappen uns entgegenhält) beklemmend und angsterweckend gebende Geschäftsform verwies ihn immer wieder auf seine Kaserne, die nicht fern vom melancholischen Forum lag, unter den Trümmern der denkwürdigsten Vorwelt, nahe an jenen epheuumwucherten großen Thermen, die man nicht sehen kann, ohne an die grausamen Zeiten zu denken, wo unter dem Namen der Gladiatoren Hunderttausende in abgesteckten Lagern kostbar gemästet wurden, um als Fraß für die wilden Thiere oder, waren es Prätorianer, für den nicht endenden grausamen Krieg und die noch größere Grausamkeit der anstrengendsten Fußmärsche – von Indien nach Britannien zu dienen. Oft kam ihm unter den einsamen weidenbewachsenen Hügeln beim Fernblick auf die blauen Gebirge, beim Ahnen des hinter ihnen aufwogenden Meeres der Ge-302danke an Selbstmord, an Flucht, Desertion; denn zuletzt schreckte ihn selbst der gewaltsame Tod durch die strafende Kugel nicht mehr.

Da erlöste ihn von einem ihm immer qualvoller werdenden Schicksal der Monotonie, der Abhängigkeit im Dienstzwang und des unbefriedigten Ehrgeizes ein neuer Unfall. Nicht das Bedürfniß nach Vertiefung seines regen Geistes war es, das ihm Augenblicke des wildesten Einsetzens seines ihm verhaßten Lebens gab; nur vorzugsweise der gebundene Ehrgeiz, nur die gebundene Leidenschaft tobte sich aus, als er zum zweiten male ein Unglück zu Roß erlebte und von einem für unbezähmbar geltenden Neapolitaner in der That abgeworfen wurde und für todt auf dem Platze blieb. Sein Wagemuth war durch Umstände herausgefordert, die fast an die Zeiten seines Kunstreiterthums erinnerten. Die Schweizertruppen hatten sich 1821 ausgezeichnet bei Unterdrückung der Aufstände des Montferrat und Piemont. Don Tiburzio Ceccone, der jüngere Sproß einer Familie der Nobili, war als Vorsitzender der Prevotalhöfe gegen die carbonarischen Verschwörungen in kurzer Zeit zur höchsten Würde, zum Cardinalat, gelangt. 1819 war er, wie eine dunkle Sage ging, wie Holofernes von Judith, so von einem fanatischen Bürgermädchen Namens Lucrezia Biancchi fast ermordet worden und 1823 saß bei einem Besuche, den der Allgewaltige der Reitbahn der Schweizer-Lanciers zur Anerkennung ihrer geleisteten Dienste machte, neben ihm ein Kind von vier Jahren, bildschön – wie es hieß, seine „Nichte“, wie Andere sagten, sein eigenes, das Kind – jener Lucrezia Biancchi, die 303 noch im Kloster der „Lebendigbegrabenen“ lebte … Neben beiden in angemessener Entfernung, nahe genug, um auf keine Anrede des stolzen, üppigleidenschaftlichen, noch jugendlichen Herrn im schwarzen Kleide mit den rothen Strümpfen die Antwort schuldig zu bleiben, saß, zwar nicht mehr in erster Jugendblüte, aber immer noch in der Schönheit römischer Imperatorenmütter und wie eine gekrönte Heroine die Herzogin von Amarillas, eine frühere Sängerin Fulvia Maldachini … Ringsumher saßen Würdenträger des römischen Hofes, alle auf einer mit bunten Teppichen belegten, mit Blumen geschmückten Estrade und den Reitkünsten der Arena zuschauend … Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen würde zu dem Anblick gesprochen haben: „Offenbarung Johannis 16: Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Thiere und sie war bekleidet mit Scharlach- und Rosinfarbe und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen und hatte einen Becher in der Hand voll Greuel und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu“ –

Wie anmuthig aber, wie freundlich, wie unschuldig machte sich das alles in der Wirklichkeit! Lachen und fröhliche Lust auf den Mienen, so rein wie der tiefblaue Himmel über ihnen, in dem nur wenige rosige Wölkchen wie kleine Montgolfieren schwammen! … Die Trompeten schmetterten … Das störte eine Nachtigall nicht, die in den Syringenbüschen nebenan sich einsam glaubte unter ringsum liegenden zertrümmerten alten Säulenschaften … Wie schwatzte man durcheinander! … Sor-304betti gingen im Kreise, die der Koch Ceccone’s bereitete, dann und wann mit seiner weißen Tellermütze hervorlugend hinter einem improvisirten teppichbehangenen Verschlage … Terrassenartig stiegen rings die Hügel hinan und aus Villa und Kloster und hinter alten Tempelsäulen und Thermenbögen guckte die abgesperrte Neugier in das tieferliegende Bild der Arena, der schnaubenden Rosse und der Quadrille, die die besten Lanzenreiter ausführten auf Rossen, die zu tanzen schienen … Neue kleine goldene Scudis waren geprägt worden mit dem Bildniß des Stellvertreters Christi, zierliche kleine Halbdukaten, mit beziehungsreicher Inschrift auf der Reversseite für den neuen Triumph der Ordnung und des Glaubens … Eine ganze Büchse voll davon rüttelt die kleine Olympia, wie man die vierjährige Nichte nannte, und plaudert und plaudert, wieviel das Kriegsministerium jedem als buona manchia verabfolge, der die schöne Quadrille jetzt zu Pferde tanze … Kein Sirocco weht … Leichte milde Frühlingsluft nach langem Regen … Ein Duft ringsum, wie herübergefächelt aus den Gärten der Hesperiden … Und nun macht Ceccone sogar Witze und spricht, wenn die Rosse sich nicht nach Sitte aufführen, zu einem Mitglied des diplomatischen Corps – auch von Hesperidenäpfeln … Frägt dann rasch die Frau des spanischen Gesandten ihren Mann: Qu’est-il qu’il a dit? so citirt Eminenz selbst mit graziös lächelnder Miene und so, wie auch nur ein Cardinal lächeln kann, einen Vers – aus Guarini’s Schäfergedichten …

Luft, Sonne, Licht, Farbe – Glück und Wonne ringsum – aber Wenzel von Terschka’s Solo mislang 305 doch. Sein Neapolitaner war nicht so leicht gebändigt, wie die Revolution des Generals Pepe. Der kühne Reiter liegt auf dem Boden und alle halten ihn für todt … Dort herauf ragt das Coliseum, wo in solchen Fällen die alten Opfer ruhig aus den Schranken hinweggetragen wurden und der Römer gleichgültig zur Tagesordnung, einem neuen Kämpfer, überging. Ein Kreuz entsühnt jetzt die wilde Stätte und – was schuldigst du auch ewig nur Rom so ungebührlich an, du greise waldensische Herrin von Castellungo! – das Carrousel – hört auch hier sogleich auf … Man trägt den für todt Erklärten in das Ospizio de Benfratelli … Die halbe Büchse voll Paolis wird vorläufig sogleich für ihn allein bestimmt … Die andere Hälfte der buona manchia erhalten die andern ohne weitern Gladiatorenkampf … Die Herrschaften brechen auf und fahren von dannen … Ecclesia abhorret sanguinem – „Die Kirche will kein Blut“ …

Wie wurde der Instructor der Reitbahn bemitleidet! … Man erfuhr: Drei Rippen waren ihm gebrochen … das Uebrige zur Besinnungslosigkeit that die Erschütterung … Nun hörte man vollends noch, daß der Unglückliche einen adeligen Namen trug … Die besonderste Obhut nahm ihn in Schutz …

Drei lange, traurige Monate lag Terschka bei den Benfratellen und war endlich geheilt. Er erklärte, kein Roß mehr besteigen zu können … Er erbittet seinen Abschied und erhält ihn auch …

In der That schleicht er siech und elend in Roms Gassen am Stabe dahin …

306 Aus Böhmen hatte Wenzel von Terschka die Kunde erhalten, daß die Verlassenschaft seiner Mutter schon vor Jahren in Concurs gerathen war, Brand hatte ihr unversichertes Eigenthum entwerthet … auch dachte er nicht mehr gern an Verwandte, die Bäcker waren. So voll Ehrgeiz steckte er, daß es ihn fast ärgerte, als der Laienbruder der Benfratellen, der ihn spazieren führte, an dem kleinen deutschen Friedhofe, der dicht an der Peterskirche liegt, sagte: Sehen Sie nur, Herr, fast alle Deutsche, die hier begraben liegen, sind Bäcker gewesen! Das Backen haben die Römer erst wieder aus Schwaben und Baiern gelernt! Alle diese alten Bilder an den Grabmälern sind deutsche Bäckermeister!*) … Terschka sah kaum hinüber … Er blickte nur zu den Zimmern des Papstes hinauf, zu den Zimmern des Cardinals Ceccone, der im Vatican ein Stockwerk höher als der Papst wohnte … Den Priestern, die im Hospital dienen, erklärte er endlich, als er völlig geheilt war, mit zagender Schüchternheit, daß er wol Lust verspürte, in den geistlichen Stand zu treten …

Der Orden der Jesuiten war noch nicht lange wiederhergestellt und besonders zu ihnen zog es Terschka, da er sich die Kraft zu einem still beschaulichen Leben nicht zutraute. Er war nun fünfundzwanzig Jahre alt und hatte nicht viel gelernt, außer den lebenden Sprachen. Aber sein Geist war mächtig entwickelt gleich seinem Körper – er, der zwei Monate zu früh ins Leben gekommen! Sein Wunsch war ein Wagniß, das ihm mis-307lingen konnte; aber er zeigte sich listig. Er hatte den Muth, an die kleine Olympia zu schreiben und ihr in dem schnell erlernten Italienisch durch ein Sonett zu sagen: „Du süße himmlische Kleine! Sei mein Schutzengel! Erwirke mir die Sporen des heiligen Georg, die mich nicht wieder, wie irdische, im Stich lassen sollen! Ich will für dich beten bei Ignazius von Loyola, der ja auch ein invalider Krieger war und jetzt der Gottesmutter so nahe steht, hilf mir auch auf diesen Weg, du süßer Engel! …“ Olympia, die Tochter jener Lucrezia Biancchi, die sich opferte, um den „Haß des Menschengeschlechts“, wie die Carbonari den obersten Richter der Prevotalhöfe nannten, zu tödten, hüpfte mit diesen Zeilen zur Herzogin von Amarillas, ihrer Erzieherin, ihrer Hofdame, wie man sagen konnte – Tiburzio Ceccone lebte auf fürstlichem Fuß und erzog das Kind der im Kloster der Vivi sepulti lebenden Mutter, die den Tod verwirkt hatte, wie sein eigenes – was gab es da nicht alles zu verschweigen und mit Schleiern zu bedecken! … Die Herzogin zeigte dem Cardinal Abends beim Thee die in leidlichen Versen vorgetragene Bitte des jungen Schweizerlanciers, der Cardinal mit seinem feurigen Cäsarenkopf lachte und Wenzel von Terschka, dessen Antecedentien man noch nicht vollständig kannte, klopfte eines Tages – an die Pforte des Collegium al Gesu

Kommt ihr niederwärts vom ehemaligen Capitol, laßt zur Rechten jene Kapuzinerkirche liegen, wo eine kleine hölzerne Figur, in die Gewänder eines Wickelkindes eingeschlagen, „Bambino“ genannt, als Jesuskind gegen alle Anfechtungen des Lebens angerufen, ja 308 sogar aus der Kirche in Procession abgeholt wird zu Sterbenden oder zu Wöchnerinnen, so steht ihr an einem kleinen Platz vor einer Kirche, die die reichste in Rom, nicht die geschmackvollste ist … Die Façade, die innere Ausschmückung gehört der Kunstepoche Bernini’s. Wagen über Wagen rollen bei ihren Stufen vor, Bettler in langen Reihen berühren die seidenen Gewänder der vornehmsten Damen und reißen den Eintretenden an der Thür große lederne Decken auf, die Vorhänge bilden. Drinnen empfängt dich ein mystisches Dunkel, Weihrauch, Lichterglanz, eine stickige Luft von Tausenden. Nirgends wird so laut gebetet, so sicher gesungen, so feurig gepredigt in Rom wie hier. Marmor und Gold sind verschwendet, Grabmäler stehen mit Statuen von großen Meistern geschmückt, kostbare Kapellen laufen ringsum; sie haben die bequeme Einrichtung, daß sie unter sich durch Thüren zusammenhängen und als trauliche Winkel dienen, in denen man hinter einem Pfeiler flüsternd verweilen oder einer im Schiff zu laut daherschallenden Kanzelrede in aller Stille folgen kann. Am östlichen Ende liegt eine kleine Ausgangsthür. Sie führt den Durchgehenden auf steinernem Fußboden in einen Nebeneingang – man sieht einen düstern Hof, in welchen Fenster eines großen todtenstillen Gebäudes hinausgehen, das sich dicht an die Kirche anlehnt. Kein Gefängniß ist es, obgleich die Fenster vergittert, ja theilweise mit Bretern vernagelt sind; es ist das Colleg der Jesuiten …

Terschka’s Anmeldung wurde durch die Empfehlungen des Cardinals erleichtert. Ein Oberer empfing ihn, legte 309 ihm Fragen vor und – wiederholte diese Fragen noch einmal, nachdem sie schon beantwortet waren. Sonderbar, er fragte nach Dingen, die in vollem Gegensatz zu dem standen, was er ja soeben aus Terschka’s Antworten gehört hatte. Sonderbar, dieser hatte gesagt: Ehrwürdiger Vater, ich hatte bereits bemerkt –! Ein andermal: Wenn ich schon gestand, keine todte Sprache zu kennen, so kann ich doch nicht Griechisch wissen –! Terschka ging … Der Obere nickte ihm freundlich nach …

Niemand ließ sich aber bei ihm wieder sehen. Er wohnte noch immer bei den Benfratellen … Er war vergessen … Wochenlang …

Tag um Tag verging … Terschka gerieth außer sich. Die Benfratellen klärten ihn auf. Der Obere hat Ihren Charakter prüfen wollen! Sie sind ungeduldig! Nur deshalb stellte er sich Ihnen vergeßlich und schwachsinnig, um zu sehen, ob sich bei Ihnen eine heftige Selbstständigkeit Ihres Wesens zeigen würde …

Terschka verstand jetzt das Benehmen des Obern. Voll Verzweiflung über sich selbst wollte er wiederum an die kleine Olympia schreiben … Thun Sie das ja nicht! hieß es allgemein … So geh’ ich noch einmal zu dem Obern! … „Er wird Sie abweisen! Warten Sie in Geduld!“ … Vier Wochen wartete Terschka. Dann rief man ihn in der That wieder … Er hatte „Geduld“ bewiesen …

Ein anderer Oberer erschien und lobte Terschka, daß er sich beherrscht und nicht gemahnt hätte. Auch er fragte vielerlei und Terschka antwortete schon viel ruhiger 310 und mit größerer Vorsicht. Nur als der Obere sagte: So bleiben Sie denn jetzt gleich hier! und Terschka erwiderte: Ehrwürdiger Vater, ich habe erst meine Sachen zu ordnen! da veränderten sich die Gesichtszüge des Examinators … Wieder hatte Terschka nicht bestanden. Wieder hatte er einen andern Willen als man vorausgesetzt … Er ging, seine Verkehrtheit schon ahnend.

Und neue vier Wochen verstrichen, die er warten mußte!

Der Novize seufzte, aber er war schon demüthiger geworden. Sehnsüchtig ging er an dem Collegium vorüber, sah zu den Fenstern des riesigen Gebäudes auf; jede Wallung, anzuklingeln und sich in Erinnerung zu bringen, unterdrückte er und als man dann ihn endlich wirklich rief, schlich er ruhig und ergeben in das ihm angewiesene Zimmer …

Man gab ihm ein Neues Testament, den Thomas a Kempis und Rodriguez über die Gesellschaft Jesu. Er konnte kein Latein. Er mußte dies und alles ganz von vorn erlernen – in seinem fünfundzwanzigsten Jahre! Aber alle Besuche, die er von zwei zu zwei Stunden bald von diesem, bald von jenem Ordensgliede empfing, verließen ihn mit dem Zeugniß, das sie den Oberen ablegen konnten, der junge Noviz besäße Geist und seltene Welterfahrung. Außerordentlich schien er gefallen zu haben. Nach acht Tagen erhielt er ein gedrucktes Examen, das er schriftlich beantworten mußte. Er konnte es deutsch oder italienisch thun …

Schon in dieser Aufforderung zur vollständigen Darlegung seines Lebens lag für ihn ein Anlaß zu mancherlei Besorgniß. Sein Leben enthielt so gefahrvolle 311 Dunkelheiten! Das Mal am Arme! Sein erster Beruf war der einer schnöden Schaustellung seiner Person gewesen! Wie konnte er auf eine künftige Priesterweihe hoffen! Er verzweifelte; denn zum Erfinden von Ausreden und Verschleierungen der Wahrheit verlor er in diesen Mauern schon ganz den Muth. Fast war es ihm auch, als käme man hier am siegreichsten durch, wenn man sich in allen Lagen ein für allemal auf Gnade und Ungnade ergab und sich ganz so nackt und so bloß darlegte, wie man wirklich war …

Schon glaubte der Novize am Ziel seiner Wünsche zu sein, als er in dem gedruckten Formular auf eine Stelle stieß, wo es hieß, daß er sechs Monate noch außerhalb des Hauses der Gesellschaft leben müßte und erst sechs verschiedene anderweitige Proben durchzumachen hätte! Er traute seinen Augen nicht. Wieder ein halbes Jahr seines Lebens verlieren? Von jetzt an – es war zur Zeit der Sommermitte – bis zu Weihnachten wieder in einen halben Zustand zurückversetzt, wieder auf sich selbst angewiesen, auf die Unruhe und Ungeduld seines Herzens? Er hoffte auf Erlaß dieser Bedingung und glaubte an eine in diesem Statut nur so enthaltene und außer Uebung gekommene alte Förmlichkeit. Man holte dann das Blatt ab. Drei Tage vergingen. Schon nahm er am gemeinschaftlichen Mahle theil, schon hatte er sich manches einzelne Ordensmitglied, das ihm zusagte, herausgefunden, da wurde ihm mit freundlichster Miene angekündigt, daß er auf sechs Monate seine Zelle wieder zu verlassen hätte: einen Monat sollte er bei den Schülern des Collegium germanicum wohnen, einen Monat in San-312Michele Kranke pflegen, einen Monat sich als Wallfahrer kleiden und in Rom und auf zehn Meilen in der Runde seinen Unterhalt durch Betteln suchen; dann zurückkehrend sollte er im Collegium täglich einen Monat lang die Stuben reinigen und endlich in einer entfernten Kirche der Vorstadt Knaben in den Anfangsgründen der Religion unterrichten, im sechsten Monat sollte er allen Predigten beiwohnen, deren in den hundert Kirchen Roms drei oder vier täglich und zu verschiedenen Zeiten gehalten wurden und darüber Referate geben und bei allen diesen Proben zu gleicher Zeit auch noch die lateinische Sprache erlernen …

Aufschreien hätte Wenzel von Terschka mögen vor Verzweiflung, aber schon band er sein Bündel und schickte sich an, ruhig die Vorschrift zu erfüllen. Sein Auge blinzelte etwas; er hatte schon bemerkt, daß wie beim Opfer Abraham’s der Wille hier manchmal für die That genommen wurde; er hatte schon bemerkt, daß man allmählich auch unter dieser strengen Disciplin abzuhandeln und abzumarkten versteht. Und in der That, man ließ ihn zwar aus seiner Zelle schreiten, wies ihn aber doch nur zwei Stockwerk höher, um ihn zu jenen deutschen Knaben und Jünglingen gelangen zu lassen, die in Rom zu Priestern erzogen werden. In dem mächtigen Gebäude war auch für diese Platz. Ein Rector empfing ihn, lächelte seines Alters, sprach ihm Muth zu und alles das in deutscher Sprache; Pater Xaver war aus dem Innviertel. Ein rothes Kleid mit einem schwarzledernen Gürtel mußte Terschka anlegen, wie seine Genossen. Um fünf Uhr mußte er aufstehen, das Sakrament in 313 einer Kapelle besuchen, dann in einer Zelle Betrachtungen lesen, sie auswendig lernen, hierauf zur Messe gehen und erst um acht Uhr ein leichtes Frühstück nehmen, zu dem dann noch Matutine und Laudes aus dem Brevier zu sprechen waren; so ging es von Stunde zu Stunde weiter bis zur neunten des Abends, wo im Nu sämmtliche Lichter des Hauses erloschen sein und alle Schüler auf hartem Lager sich dem Schlaf empfehlen mußten. So erst acht Tage lang. Dann aber wurden die Vorschriften leichter. Glückliche Hoffnung, die ihn beseelte, er würde die fünf übrigen Monate erlassen bekommen! Sie erfüllte sich theilweise und in erfreulichster Art. Er brachte sie sämmtlich bei den deutschen Jünglingen zu, deren Unterricht er zu theilen hatte. Schon die Scham, unter Knaben ohne Bart verweilen und Latein von vorn beginnen zu müssen, beflügelte seinen Lerneifer. Er, der das Leben schon in allem kannte, was der natürliche Mensch mit Ungestüm zu fordern pflegt – saß hier auf der Schulbank, doch sein Kleid und sein physischer Bau ließen ihn dabei wenigstens äußerlich so jung erscheinen, wie die neunzehnjährigen …

Seltene, aber glückliche Stunden waren es, wenn die rothgekleidete Schar in den ihr eigenthümlich angehörenden Weinberg wandern durfte, um dort einen Nachmittag, meist ballschlagend und wettlaufend zuzubringen. Dieser Weinberg lag nicht weit von seiner ehemaligen Kaserne, auf den Höhen des Monte Cölio, dicht an einer Kirche, die von außen die merkwürdigste, von innen die abschreckendste aller römischen Kirchen ist. Gerade den deutschen künftigen Priestern hat man die Ro-314tunde des heiligen Stephanus gewidmet, einen alten, sehr denkwürdigen Bau, der mit Bildern grauenhafter Art geschmückt ist. Ausschließlich scheint sie dem Martyrium gewidmet. Da liegt die vom Henker abgerissene blutige Brust der heiligen Agathe auf der Erde; ein Tiger krallt seine Tatze in das Fleisch eines nackten Jünglings; der heilige Hippolyt wird, mit seinen Füßen an flüchtige Pferde gebunden, dahingeschleift – es ist eine blutige Anatomie, eine Morgue, in deren Anschauung gerade die deutschen Jünglinge in Rom – Erholung finden müssen! Wahrhaft erquickend war dann der zuweilen gewährte Besuch in den Gärten des Heiligen Vaters auf dem Quirinal. Die blauen, gelben, grauen Jesuitenschüler erfreuten sich damals dieser Gunst noch öfter, als die rothen; jetzt lernt man auch die Bedeutung dieser rothen Jünglinge schätzen. Wie berauschend, wie ewig an Rom fesselnd, bei Sonnenglut in diesen herrlichen, haushohen, kühlen Boskets von geschnittenen Myrten zu wandeln und da Trucco, ein Kegelspiel, zu spielen! Unter dieser Fülle von Oleandern, blühenden Aloes und Cactus! Unter diesen zahllosen Orangenbäumen, deren Blüten die Luft mit berauschendem Duft erfüllen! Ringsum tobt und wogt das lärmende Rom, die Wagen fahren, die Brunnen schäumen – auf diesem hochgelegenen Hügel verbirgt sich hinter einer chinesisch absperrenden hohen Mauer, dicht an dem Palast der zweiten Residenz des Heiligen Vaters (der Lateran, die dritte, ist ein Stiefkind der Päpste geworden), ein Garten, geschmückt mit allen Reizen der Natur. So dicht gezogen und beschnitten sind die edelsten Platanen, daß es unter ihnen bei glühender 315 Mittagshitze kühl ist, Springbrunnen plätschern, die Lacerten schleichen unter den großen, bis zum Boden wuchernden Feigenblättern dahin, Marmortische und Sessel laden zur Ruhe in den erquickendsten Schatten, den jene zwei Stockwerk hohen geschnittenen engen Myrten- und Ligusterhecken hervorbringen helfen – sie sind in der Breite so schmal, daß man fast nur allein, nicht im Selbander durch sie hindurchschreiten kann. Hier reinigte die balsamischste Luft alle vier Wochen einmal die Brust vom erstickenden Schulstaub. Terschka, der Mann, der schon auf einer ansehnlichen Höhe des Lebens Angekommene, der mit Erinnerungen schon für ein halbes Leben Ausgestattete, konnte hier eine Weile vergessen, daß er wieder zum Kinde geworden, konnte die marmornen Hermen bewundern, die rings von Epheu und Myrte umschlossen in den Boskets standen und oft Frauenbilder der alten Römerzeit von seltener Schönheit darstellten. Zwei dieser Hermen erklärte er in still unterdrückter, noch nicht abgeschworener Liebesglut für die Herzogin von Amarillas und das künftige Jungfrauenbild der Olympia. Sie sind noch jetzt von jedem zu finden vor dem kleinen Casino des Papstes, dicht in der Nähe der Treibhäuser, unter Gruppen von Aloes, zwei weibliche Köpfe voll Starrheit, Verwegenheit und jener Sphinxschönheit, die Terschka in seinem spätern Leben nur zweimal wiedersah, bei jener Angiolina in Dalmatien und bei Lucinden – unter den Offizieren in Kiel sagte er’s damals …

Nachdem Terschka nach zweijährigen Studien ins Collegium wieder hinunterzog, gaben seine Generalbeichten mancherlei Anstoß. Sein vergangenes Leben 316 widersprach den Ansprüchen, die die Kirche an die Unbescholtenheit ihrer Priester macht. Sie duldet keine Entstellung des Rufes wie des Körpers, keine schwächlichen, krankhaften Gestalten, nichts, was irgendwie dem Makel der Welt verfallen ist und etwa dem Geist das Uebergewicht verleiht – auch Pater Sebastus hatte nicht die Weihen empfangen. Aber Wenzel von Terschka bot alles auf, sich Erhörung zu verschaffen und eine Vergessenheit der Jahre, wo er als Kind und Knabe unter Räubern und Gauklern lebte. Eine thatkräftige Natur muß zu einem Ziele, das sie sich einmal gestellt hat, irgendwie hindurch. Sie bereut vielleicht später die Anstrengungen, die sie machte, um des nicht befriedigenden Lohnes willen; aber den Werth des Lohnes, wenn man auch schon seine Geringfügigkeit ahnt, erwägt der nicht, dem eine Laufbahn Mühen macht und dessen Kopf voll Ehrgeiz steckt. Selbst den schon unbedingt gegen ihn entscheidenden Anstoß des Brandmals auf seinem Arme, das durch nichts hinwegzutilgen war, das jeder chemischen Beize, jeder blutigen Operation widerstand, überwand seine Geduld, sein inbrünstiges Bitten, zuletzt seine Intrigue; denn so unmöglich es fast war, außerhalb des Collegiums einen Briefwechsel zu unterhalten, Terschka übersandte wieder einen Brief an die Herzogin von Amarillas und dichtete wieder ein Sonett an Olympia Maldachini …

Die Kleine, die als Italienerin von fünf Jahren schon so entwickelt und willensstark war, wie eine Deutsche von acht, setzte ihrem heiligen Georg Schild und Lanze durch …

Die Väter lächelten und schienen eigenthümliche Pläne zu haben …

317 Terschka erhielt die Sottane, den schwarzen Leibgurt, die schwarzen Strümpfe und Schuhe … sein Haupthaar wurde geschoren.

Ecco un nuovo fratello! rief eines Tages bei Tische der Novizenmeister den übrigen Novizen zu …

Gräfin Erdmuthens Ausruf hatte damals Recht gehabt … Terschka war Jesuit.

318 10.#

Fünf Jahre vergingen dann … Terschka zählte schon dreißig, als er Profeß der drei Gelübde wurde, der Armuth, der Keuschheit, des Gehorsams. Nun wurde er Priester aller Weihen. Zwei Jahre später, kurz nach der Julirevolution, legte er das vierte Gelübde ab, Gehorsam dem Heiligen Vater, unbedingtes Sichverwendenlassen für jeden ihm auferlegten Zweck. So stand er auf dem Gipfel seiner Wünsche.

Und keineswegs war er unbefriedigt. Der Autodidakt liebt sein Wissen, das er sich mühsam errungen hat. Er liebt es mit mehr Begeisterung, als ein von früher Jugend an dafür Geschulter. Und welche Bewährungen gab es nicht! Dienen mußte er unausgesetzt, knechtisch dienen, aber zugleich konnte er nach andern Richtungen hin oft auch schon souverän befehlen … Jede Stufe der Unterwerfung mehr auf der einen Leiter gab auch zugleich auf einer andern eine Stufe der Erhöhung. Er besuchte die Hörsäle der wenige Schritte vom Collegium entfernt liegenden Universität. Hier, wo Hebräisch und Physik nicht nur in demselben Auditorium, sondern oft auch von demselben Lehrer 319 vorgetragen wird, legte er den Grund zu einer Fülle von Thatsachen, die sein Inneres mächtig hoben. Und diese Erweckung, diese stete Gegenständlichkeit und Bewußtheit des Denkens! Schon die Anleitung zu den „Vorspielen“ des Geistes oder zur „Erleuchtung“! … Bonaventura kannte sie, diese Künste der „geistigen Lesung“ und der „Vorspiele“! …

Eine Betrachtung z. B. über das Verjagen der Wechsler aus dem Tempel mußte so geordnet sein:

Erst ist der einfache Stoff zu lesen; dann schlägt im Collegium plötzlich eine Glocke – mit dem ersten Schlag derselben stellt man sich rasch einige Schritte vom Betpult entfernt, denkt sich Gott und die Heiligen unmittelbar gegenwärtig, fällt auf die Knie, küßt die Erde und beginnt die lebendigste Phantasievorspiegelung eines Tempels, eines erhabenen Baues mit Säulen, mit einer, wie beim Pantheon halb eingebauten, halb in der Vorhalle aufgeschlagenen Reihe von Buden … Das Geld klimpert, die Wechsler, wie sie nur auf der Via Condotti oder auf dem Corso stehen mit ihren Napoleond’ors und Papierscheinen, Wucherer mit Habichtnasen, wie sie nur unter den Tuchhallen am Eingang des Ghetto zum Kauf einladen, bieten ihre Waaren an, übervortheilen, schreien – schreien in die Messe der Santa-Maria Monticelli hinein, in die Klingel des Ministranten … Nun erscheint der Heiland, das Haar von Lichtglanz umflossen, die Farbe des Rocks ist roth, der Ueberwurf blau, die Jünger stehen neben ihm … Niemand von den Schreiern weicht aus, niemand achtet die Andacht derer, die der heiligsten Procession sich schon verneigen … 320 Da ergreift Christus – vielleicht einem Tempelvogt (Ausmalung seiner Tracht) – die Geißel, wirft die Tische um, das Geld rollt weit auf die Straße hinaus, das Volk wagt nicht einmal es aufzuraffen, der heilige Zorn ist wie Donnerrollen, sein Auge wie Feuerlohe … „Mein Haus ist ein Bethaus und ihr macht es zur Mördergrube!“ Das schallt dann in die Welt hinaus … Nutzanwendung … endlich Gebet … So ist nach Jesuitenanleitung jeder Vorfall der heiligen Geschichte zu erfassen, so zu umschreiben, so in seine kleinsten Bestandtheile zu zerlegen und die Gedankenordnung nur innerhalb der Ruhestationen des sinnlichen Vorgangs zu wählen … Die Wechsler: das ist die Sünde; der Augenblick der Reinigung: das ist die Buße; der Zustand nachher im Tempel: das ist die Erlösung … Endlich die Vergleichung mit der Gegenwart und die Nutzanwendung auf das innere Herz … bis das Ganze im „Colloquium mit Gott“, mit Gebet, schließt … In dieser Weise wollte auch Müllenhoff versuchen, die Exercitien auf dem Schloß der Frau von Sicking einzurichten.

Für Wenzel von Terschka gab es immer mehr Bewährungen. Selbst seine ritterlichen Künste boten dafür Gelegenheit und wurden sogar absichtlich und ausdrücklich befördert. Die jungen Väter bestiegen zwar nicht selbst das Roß, aber sie voltigirten; Reck und Barren, wie bei den Turnern, fehlten nicht. Auch beaufsichtigten sie da und dort die Erziehungsanstalten. Hier besonders bewunderte man den „Pater Stanislaus“! … ,,Stanislaus“ nannte sich Terschka nach dem heiligen Stanislaus von Kostka, jenem jungen Polen, dessen erster Lebensschmerz damit 321 begann, daß er von seinem Hofmeister und seinem älteren Bruder 1564 gezwungen wurde, zu Wien im Hause eines Lutheraners zu wohnen. Dieser junge Heilige wurde vom Beten und Nachtwachen, wie der heilige Aloysius, das Beichtvorbild unsers Thiebold, elend, kam von allen Kräften und näherte sich dem Tode. Da konnte er die heilige Wegzehrung nicht erhalten, weil sie der lutherische Wiener nicht in sein Haus gebracht haben wollte … Nun erschien dem Knaben die heilige Barbara mit zwei Engeln zur Seite und brachte ihm die ersehnte Speise. Doch sollte er nicht sterben. Maria kam in jeder Nacht und setzte das Jesuskind auf die Decke seines Bettes und sagte ihm jedesmal, wenn er mit diesem gespielt hatte: Stanislaus, tritt in die Gesellschaft Jesu! Stanislaus von Kostka fand für seinen Wunsch in Wien nirgends Gehör. Der Provinzial der Jesuiten verlangte eine väterliche Bescheinigung. Der Vater, ein Senator der Krone Polens, schrieb von seinem Schlosse Rostkau im Posenschen, daß er diesen Beruf seines Sohnes nimmermehr wünschen könne. Stanislaus flehte den apostolischen Nuntius an. Vergebens. Er mochte klopfen an welche Thür er wollte, niemand erwies ihm damals in Wien die Gnade, ihn Jesuit werden zu lassen … Da rieth ihm der Provinzial: Wandere gen Rom zu Franz Borgia, unserm General selbst! … Also that er. Er entsprang seinem Hofmeister, seinem Bruder, zog Bettlerkleider an und ging über Augsburg zunächst nach Dillingen … Hier im Jesuitenkloster mußte er bei Tisch bedienen und die Stuben kehren. Canisius, der berühmte Morallehrer der Jesui-322ten, entließ einen seinem Vater entsprungenen Sohn völlig einverstanden gen Rom … Franz Borgia empfing ihn dort voll Güte und schützte ihn vor dem Zorn des polnischen Senators, der jetzt die Diplomatie zu Hülfe nahm, um sein Vaterrecht zu behaupten … Stanislaus wurde Priester. Er war ein Muster jener „süßen Andacht“, die ein Antlitz wie mit Rosen verklären kann. Ihm mußte befohlen werden, nicht zu lange zu beten. Das wiederholte sich und wurde sein Todesstoß … An den Folgen der Wehmuth, daß man so oft seine Andachtsglut unterbrach, starb der Jüngling, achtzehn Jahre alt. Man sprach den Märtyrer des verweigerten Betens heilig. Wenzel von Terschka hatte als Slawe ein Vorrecht auf seinen Namen, als es bei seiner Priesterweihe gerade drei Bewerber um den Namen Stanislaus gab. Dafür mußte er in der Kapelle San-Andrea, dicht in der Nähe der schönen Gärten des Quirinals, drei Nächte an dem Bild seines Heiligen wachen, an jener Statue, die den sterbenden Jüngling Stanislaus von Kostka darstellt, der Körper von weißem, die Kleider von schwarzem, das Bett von gelbem Marmor …

Eines Tags wurde Terschka zum General der Jesuiten, einem Holländer, gerufen und erfuhr dort in holländischer Sprache folgende, ihn mächtig ergreifende Anrede:

Pater Stanislaus! Die Stunde ist gekommen, wo Sie durch Bewährung im Dienste Ihres Ordens Ihre Schuld der Dankbarkeit abtragen können!

Der Pater verneigte sich … Er ahnte einen schon seit lange mit ihm bezweckten Plan …

323 Es sind Ihnen große Indulgenzen zu Theil geworden! fuhr der General fort. Sie haben Wohlthaten von der Kirche erfahren, die zu den seltensten Fällen gehören! Der Empfehlung Ihrer Gönner werden Sie zeitlebens verpflichtet sein …

Terschka verneigte sich tiefübereinstimmend. In den letzten Jahren war die besondere Protection des Cardinals Ceccone nicht mehr sichtbar gewesen, aber er bedurfte sie auch nicht, da seine Anschlägigkeit anfing, sich alle Wege zu bahnen, und er selbst mit seiner Lage zufrieden war …

Ich ließ einen Rath über Sie halten! begann der General aufs neue. Man sprach für Sie und auch, wie es das Gesetz will, gegen Sie! Eine Stimme gab den Ausschlag, die, daß Sie vermöge Ihres ganzen Naturells dem Orden am besten dadurch dienen würden, wenn Sie – in die Welt zurückkehren! Ein Redner – das würden Sie nicht; zur Gelehrsamkeit und zum Unterricht fehlte Ihnen die Ruhe; Ihr praktischer Sinn wäre es, in dem sich alle Ihre Vorzüge und – Ihre Fehler zu einer möglichst guten Nutzanwendung vereinigten!

Terschka’s schon gründlich jesuitisch gewordenes Naturell grübelte, wer wol sein Ankläger gewesen sein mochte … Dergleichen war schwer zu erforschen. Seiner schmiegsamen Natur gelang es vielleicht. Doch wußte er, diese Contra mußten ja bei einem Gericht stattfinden, Fehler mußten mit Gewalt aufgesucht werden, nur um der Gerechtigkeit nichts zu vergeben … Täglich wurde man so geübt im Beurtheilen der andern … Gingen zwei Jesuiten spa-324zieren, so mußte einer vom andern berichten, was sie unterwegs gesprochen hatten …

Fassen Sie keinen Groll gegen irgendjemand! fuhr der General fort, der die in Terschka’s Innerem sich entwickelnden Gedankenreihen übersah. Scheiden Sie von uns allen wie von Ihren Freunden! Auch nicht einer ist, der Ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren ließe; nur sind die Gaben mannichfach vertheilt und je mehr Ihnen der eine vom Einen nahm, desto mehr mußte er Ihnen vom Andern lassen! Vorzugsweise besitzen Sie Ein Talent – das Talent, sich beliebt zu machen! Viele versuchen sich darin. Nie aber sah ich so glückliche Erfolge, wie bei Ihnen! Sie werden in Wahrheit von uns allen vermißt werden …

Pater Stanislaus lächelte bescheiden und harrte voll Spannung …

Der Auftrag, der Ihnen ertheilt wird, hängt mit unsern Missionen zusammen …

Mit unsern Missionen! … Terschka erwartete ein Reiseziel – jenseit des Meeres … Seine Wünsche waren indifferent, doch schien die Aussicht, jenseit der Meere oft große Gefahren bestehen zu müssen, nicht besonders lockend … Dennoch beherrschte er sich …

Jetzt lächelte sogar der General. Er mußte Pater Stanislaus bewundern, der nicht eine Miene verzog oder sonstwie seinen Verdruß zu äußern wagte …

Ich meine die innere Mission, setzte der General hinzu, die Verherrlichung unsers Ordens in der Sphäre der Lüge und des Abfalls! Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Norden, von dem Sie herkamen! Zunächst auf 325 den großen deutschen Kaiserstaat! Erinnern Sie sich, daß kurz nach dem Schisma, das die Kirche dem abgefallenen Augustinermönch verdankt, Oesterreich zu sieben Achttheilen – zu sieben Achttheilen! – von Rom abgefallen war! In Wien konnte ein Lutheraner sagen: In mein Haus laß’ ich nicht die heilige Wegzehrung bringen! … Durch uns ist das Kaiserreich in den Schoos der Kirche zurückgeführt worden! Die Mittel und Wege dazu waren mannichfach … Sei Ihnen vorläufig diese Mittheilung über Ihre künftige Verwendung – als Anlaß zur Prolusio empfohlen …

Damit war Pater Stanislaus für heute entlassen …

Zur Prolusio –! … Zum Vorspiel der Phantasie –! Aber wie nahm das Wort des Generals auch jetzt den ganzen Menschen gefangen! … Terschka war Mönch, Jesuit, Priester geworden, um sich aus einem Leben aufzuschwingen, das seinem Ehrgeiz nicht entsprach. Adeliger Geburt und dennoch mußte er dienen … dienen in einer Stellung, die ihm keine weitere Erhöhung für die Zukunft darbot … Er ergriff den geistlichen Beruf als einzige Rettung und er war nicht undankbar. Nichts hatte er gewußt, als fremde lebende Sprachen, er wurde durch den Orden ein Mann höherer Bildung. Daß es andere Bildungsformen in der Welt gab, als die ihm gerade hier zu Theil wurden, ahnte er, aber er mußte wol die vorziehen, die gerade das aus ihm machten, was er für jetzt anders nicht hätte geworden sein können. In der That besaß er keine Rednergabe. Selbst in der Schule bewährte er sich nicht. Aber in der Erziehungsanstalt, die durch das Collegium geleitet wurde, gab es vie-326lerlei von ihm glücklich beaufsichtigte Unterrichtsgegenstände; Reiten, Tanzen, Fechten wurde gelehrt. Das ja hat die Erziehung durch Jesuiten so begehrt gemacht. Eitle Schaustellung und Unterhaltung der Phantasie war von jeher und ist die Grundlage der Erziehungsanstalten, die Jesuiten leiten … Terschka lernte die wunderbare Moral des Probabilismus kennen, die ihn wahrhaft blendete. Was nur im Menschen über den schwierigen philosophischen Unterschied zwischen „Gut“ und „Böse“ schlummert, hier fand er Aussprüche dafür voll Kühnheit und blendenden Schimmers. Der Wille wurde in dem Grade von der That getrennt, daß beide in eins zusammenfallen konnten und dennoch unterschieden wurden. Der Wille konnte rein und schuldlos bleiben, er konnte die That unmittelbar hervorgerufen haben und dennoch war letztere nicht sein, sondern nur ein Ergebniß – der Natur. So haben nicht die Materialisten unserer Tage die Willensfreiheit geleugnet, wie die Moral der Jesuiten schon lange die That zum Ergebniß der Umstände macht. In den mislichsten Situationen deckt sie dem Willen immer noch den Rücken. Listig und verschlagen, wie Terschka’s Sinn von Natur war – wenn nicht so sehr aus Wohlgefallen am Bösen, doch aus dem Bedürfniß, seine Kraft zu üben, und um der Voraussetzung willen, daß eben Bildung, diese ersehnte Bildung, zur Wehr und Waffe des Geistes werden müßte und es mit sich brächte, überall Widerstand zu leisten – lernte er, Bildung wäre die Kunst, sich das Leben spielend und ohne den mindesten Schein einer Gewaltthätigkeit dienstbar zu machen.

327 Welche Vorstellungen weckte jetzt die „Prolusio“! Eine Mission nach Oesterreich! Der Abfall von der Kirche! Die verschiedenen Mittel und Wege, die einst eingeschlagen wurden, um sieben Achttheile einer großen Bevölkerung wieder in den alleinseligmachenden Schoos der Kirche zurückzuführen! Seine eigene Herkunft war vielleicht eine hussitische! Welche Studien weckte diese Anregung auf dem Gebiet der Geschichte, welche auf dem Gebiet der menschlichen Seele! Pater Stanislaus brannte auf die Enthüllungen, die ihm würden zu Theil werden. Ja er dachte sich einen tief angelegten Plan entweder auf Böhmen oder Ungarn, wo es noch Protestanten genug gab … Verstand mußte zu seiner Aufgabe gehören; denn das durfte er sich sagen, von seinem Namensheiligen hatte er nichts, was im mindesten auch seinem Antlitz einen rosigen Verklärungsschimmer gegeben hätte; wenn er betete – ihm war der Befehl, nicht zu lange zu beten, niemals gegeben worden.

Erst nach vierzehn Tagen machte der General der Ungewißheit des jungen Professen ein Ende …

Ihre Vorfahren, sagte er, eine Ahnung Terschka’s bestätigend, als beide wieder allein auf der einfachen, allen andern Wohnungen gleichen Zelle des Generals waren, Ihre Vorfahren waren Hussiten! Abtrünnige waren auch sie schon vor Luther! Wir haben aber deren in Italien noch frühere! Es sind die Waldenser! Sie leben noch jetzt mit immer wieder nachwuchernder, unzerstörbarer Kraft im Piemont! Eine Gräfin von Salem-Camphausen, die hinterlassene Witwe eines österreichischen hohen Militärs, Protestantin, beschützt sie von einem ihr angehörenden 328 Schlosse Castellungo aus! Es liegt zwischen Cuneo und Robillante, in dem blühenden Thal, das sich von der Alpenstraße des Col de Tende abwärts senkt! Die Umtriebe dieser Frau überschreiten alles Maß! Sie hat die Könige von Preußen, England, Schweden und Holland aufgerufen, den Waldensern größere Freiheiten zu gewinnen, als sie unter einer rechtgläubigen Bevölkerung in Anspruch nehmen dürfen! Gelang es schon in alten Tagen, das schöne Salzburg zu entvölkern und seiner reichsten Unterthanen zu berauben, die man zuerst mit dem Gift der kaum überwundenen Ketzerei verdarb und dann mit Geld und Gut in die protestantischen Lande lockte; gelang es erst in unsern Tagen, sogar aus dem altgläubigen, so gottgetreuen Tirol Colonieen nach dem uns gleichfalls wieder zurück zu erobernden Schlesien zu entführen: wie soll es werden, wenn mit Hülfe Englands immer weiter auch in das Herz Italiens hinein rechthaberisches Bibellesen und streitsüchtiges Dogma sich verbreitet? Dem Frevel dieser deutschen Gräfin ist ein Ziel zu setzen! Für ihre Dreistigkeit gebührt ihr ebenso eine Züchtigung, wie ein Vorbau den Erfolgen, die sie erringt oder erringen könnte …

Die Aufregung des Generals war so groß, daß er aus der italienischen Sprache wieder in sein heimatliches Idiom verfiel. Terschka konnte, wie er wußte, mit völligem Verständniß folgen …

Diese gefährliche Frau, fuhr der General fort, hat einen Sohn, der in diesem Augenblick bei einem kaiserlichen Reiterregiment noch als Lieutnant steht … Er wird aufsteigen. Sein Glaubensbekenntniß ist das seiner Mut-329ter. Sein Name ist ein hochgefeierter, wenn auch seine Mittel gemessen sind. Binnen kurzem dürften ihm bedeutende Reichthümer zufallen; denn eine zweite, rechtgläubige Linie, im Innern Deutschlands, ist im Begriff auszusterben. Es existirt nun zwar eine alte Urkunde, der zufolge die Bedingung, unter der die wiener Linie diese großen Besitzungen der andern Linie antritt, die Religion der aussterbenden sein müsse … Diese Urkunde findet sich leider nicht. Sie wird seit Jahren gesucht …

Terschka horchte nur immer … Ein eignes Urtheil zu fällen wurde er nicht aufgefordert und fällte selbst keines … Er wartete auf die genauere Angabe des Gegenstandes, auf den er zu achten hatte. Von der Weisheit der Väter seines Ordens war er vollkommen überzeugt …

Der General verweilte jedoch nicht bei der Urkunde, sprach nicht von der Kunst jenes deutschen Convertiten Caspar Scioppius aus der Pfalz, der sein ganzes Leben an die Verherrlichung der Kirche gesetzt hat und seinerseits einer der berüchtigsten Falsarien war. Unter der Autorität von Kaisern und Königen und mit dem Titel eines Grafen von Clara-Valle fälschte er im 17. Jahrhundert Stammbäume und Urkunden, veranlaßte Processe dadurch und entschied sie. Vierzehn Jahre lebte er in Padua bei verschlossenen Thüren, aus Furcht, von seinen Gegnern, die zufällig Jesuiten waren, ermordet zu werden … Er haßte sie und sie haßten ihn, nicht ihrer Moral wegen, nicht seiner Falsa wegen, sondern weil sie ihm sein Latein corrigirt hatten und er ihnen vorwarf, daß im Gegentheil sie keins schreiben könnten …

Terschka lauschte mit athemloser Spannung; aber 330 auch heute blieb die ihm gestellte große Aufgabe wiederholt nur im Stadium der Prolusio …

Der General sagte:

Findet sich die Urkunde, so ist ein Familienabkommen getroffen, daß die letzte Erbin der Dorste-Camphausen sich mit dem letzten Erben der Salem-Camphausen vermählt – eine Rechtgläubige mit einem Ketzer! Findet sie sich nicht, und alle Zeichen sprechen dafür, so fallen an eine ketzerische Familie unermeßliche Reichthümer, in eine rechtgläubige Provinz kommt ein ketzerisches Element, das Scandalum jener Vorgänge im Piemont findet reichere Nahrung und das alles von einer Seite her, wo sich die Kirche einer solchen Störung am wenigsten versehen sollte, aus einer Gegend, wo die Wohlthaten der Rechtgläubigkeit ein Gemeingut sind und Maria Theresia sich bis auf den letzten Augenblick sträubte, jene gottlose Vernichtungsbulle unseres Ordens, die That eines unglücklich Verblendeten, der glücklicherweise nur im Auftrag der uns schützenden und glorreicher wiederherstellenden Vorsehung handelte, auch in ihren Staaten zu vollziehen!

Mit dieser Anregung der Phantasie wurde Terschka aufs neue entlassen … Ueber die Andeutung jenes Widerstandes der Kaiserin Maria Theresia gegen die Bulle: Dominus ac redemptor kam er bald hinweg … Maria Theresia gab der Aufhebung der Jesuiten erst dann ihr Placet, als man ihr, um sie von der Gefährlichkeit, Wortbrüchigkeit und Ungeistlichkeit der Jesuiten zu überzeugen, von ihrer letzten einem Jesuiten gesprochenen Beichte – aus Madrid eine Abschrift schickte … Terschka wußte, 331 daß der Orden diesen Verrath auf eine Intrigue der über ihren Fall frohlockenden Dominicaner schob … Aber welche Fülle der Beziehungen doch! Welche Aussichten der Bewährung! Was sollte geschehen, was von ihm gefördert und unterstützt werden? Welche Hülfsmittel, welche Verbindungen gab es für ihn? Wohin hatte er die Reise zu richten? Zu jener so muthvollen, herausfordernden Gräfin? Zu jener jüngeren Paula? Sollte die Urkunde gesucht werden? Sollte die gemischte Ehe gehindert oder, wie so oft, in dem Sinne „dirigirt“ werden, daß der junge Offizier seine Confession änderte? … Allmählich trat in seine Combinationen immer mehr das Bild dieses jungen Kriegers ein. Er malte sich ihn aus in allen seinen Lebensbezügen. Es überkam ihn eine Ahnung, daß er vielleicht in dessen Nähe geschickt werden sollte …

Diese Ahnung betrog ihn nicht. Der General eröffnete ihm nach einiger Zeit, daß er in die Nähe des Grafen Hugo von Salem-Camphausen geschickt werden sollte. Mitwirkungen und Erleichterungen würden ihm genannt werden. Seine Aufgabe leitete sein Souverän in folgender Weise ein:

Wir wünschen, daß Graf Hugo katholisch wird! Die Rücksichten auf seine Mutter und ihre Umtriebe, auf jene Provinz und die Erbschaft, im eventuellen Falle auf die Ehe, sind die nächsten und dringendsten Aufforderungen, drohenden Gefahren zu begegnen. Zuletzt ist das Werk auch schon an sich ein wohlthätiges. Doch ist es nicht leicht. Wir haben über den jungen Krieger Nachrichten, die für eine große Verehrung seiner Mutter sprechen. Solange 332 sie lebt, würde er ihre Irrthümer schonen und schwerlich ihr die Strafe zufügen, die sie schon um ihrer Umtriebe willen gegen den Bischof von Cuneo und das Kapitel von Robillante verdient! Auch denkt der Orden nicht an ein plötzliches und schnell errungenes Resultat. Wir arbeiten in allem nicht für die Minute, sondern für das Jahr; ein Jahrhundert bedarf es, um durch Tropfen einen Stein auszuhöhlen – Sehen Sie die Statue des Sanct-Peter auf dem Vatican! Wer möchte glauben, daß man einen Fußzehen von uralter felsenfester Bronze so allmählich – hinwegküssen kann! Es gehört dazu eben ein Jahrtausend. Ihre Aufgabe geht in eine weite Fernsicht. Sie dürfen sich Zeit dazu nehmen. Sie dürfen Ihr ganzes Leben daran setzen und müssen es, um die Absicht nicht zu verrathen, die Sie mit Ihrer Handlungsweise verbinden – Sie legen Ihr geistliches Kleid ab! Der Orden dispensirt Sie von jeder Rücksicht auf Ihren Stand! Sie bleiben, was Sie sind – nie verwehend ist der Duft des heiligen Oels, das Sie salbte! Aber selbst das Zeichen der Demuth auf Ihrem Haupte müssen Sie schwinden lassen – Sie erhalten ein Patent als ein auf unbestimmte Zeit beurlaubter Rittmeister in päpstlichen Diensten! Denn gerade darin, daß Sie diesem Anschein, ein Krieger gewesen zu sein, auch wirklich zu entsprechen verstehen, lag – liegt der Grund, warum gerade Sie zu Ihrer Aufgabe gewählt wurden …

Wenzel von Terschka stand betäubt … Darum hatte man an seiner Vergangenheit keinen Anstoß genommen … Darum gleich anfangs keine Erinnerung an seine vergangene Laufbahn … Die Aussicht, mit der Erhebung, mit der Bil-333dung, die er jetzt empfangen, ein weltliches Leben aufs neue, wenn auch nur zum Schein beginnen zu können, machte ihn schwindeln … Der Stand, eine höhere gesellschaftliche Stellung, als die sein Vater bekleidete – alles wieder aufs neue, wenn auch in anderer Art, anerkannt … Gehoben und gehalten von unsichtbaren, mächtigen Händen – – Er vermochte kaum sich zu sammeln und dem in aller Würde, mit feierlichem Ernst, ja mit Fanatismus ihm geschilderten Plane in allen seinen Einzelheiten zu folgen …

Es ist unwahr, wenn man behauptet, Ignaz von Loyola oder seine Schüler hätten gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Dies Wort findet sich nirgends in ihren Constitutionen. Aber der Dechant von Sanct-Zeno, Franz von Asselyn, sagte schon einst zu Bonaventura, als dieser über ein Pamphlet eiferte, das die „Geheimen Verordnungen“ der Jesuiten neu wieder abdrucken ließ: „Du hast Recht, mein Sohn, diese Schrift ist eine Lüge, die seit zweihundert Jahren entlarvt ist! Ich weiß es, ein polnischer Jesuit schrieb diese Monita secreta aus Rache an dem Orden, der ihn ausstieß, weil Hieronymus Zaorowski zügellos und unsittlich war und die Strafe seiner Obern verdiente. Nie haben diese Anleitungen zur Erbschleicherei, zur Verführung jugendlicher Gemüther, zur Bereicherung des Ordens, zur Verhetzung der Ehen, Verhetzung des Staatsfriedens, in den Gesetzen der Gesellschaft gestanden, aber – die Monita secreta sind ein Codex ex post! Sie sind die niedergeschriebene Praxis des Ordens! Sie sind die Tradition neben dem Grundtext! Der Talmud, wie mein alter Freund Leo Perl gesagt haben würde, die Mischna 334 und Gemara neben der Thora! Jener rachsüchtige Pole erzählte scheinbar als verlangte Vorschrift, was sich nur durch die Verderbniß des Ordens allmählich als selbstverständlich in ihm festgesetzt hatte. Ich nehme ja einige glänzende Erscheinungen des Ordens aus. Aber die Gefahr desselben ist darum dieselbe, die Gefahr, die schon in seinem eigenen Wesen liegt, sogar in einer an sich geistvollen und denkwürdigen Eigenthümlichkeit desselben … Die Jesuiten können für sich ein großes Verdienst in Anspruch nehmen. Sie können sagen: Ihr alle habt bisher nur den Christen im Auge gehabt; wir sind die ersten Priester gewesen, die auch dem Menschen ihre Aufmerksamkeit schenkten! Die Seele ist es, die ein Lieblingsstudium dieses Ordens wurde. Die Jesuiten, zu allen Zeiten von einem brennenden Ehrgeiz getrieben, wagten es, mit der Philosophie einen Wettkampf einzugehen. Sie wollten dem Christenthum die größten Glorien erwerben, selbst die, einen Cartesius überflüssig zu machen – Da mußten sie denn wol in die Arena des Denkens steigen! … Und nun dachten sie den Menschen. Sie dachten ihn in der ganzen Schwäche, die uns Priestern durch den Beichtstuhl geläufig wird. Sie dachten ihn mit jener unsaglichen Geduld und Liebe, die wir für die Ausübung unsers Amtes gerade nach dieser Seite hin stündlich empfinden müssen. Sie dachten ihn in jenen steten Momenten der Reue, der Halbheit, der innern Wehmuth, die Großes will und doch in der Ausführung wieder der Natur unterliegt, und so entstand ihr berüchtigtes System der Erwägung, der Rücksicht, der Entschuldigung, der halben und der 335 Viertel-Sünde, jener sogenannte Molinismus, der sich zuletzt noch unter dem Einfluß der von Paris und Versailles ausgehenden galanten Courtoisie und sentimentalen Veredelung früherer Roheit und Brutalität der Hofsitten in eine Moral der ewig lächelnden und achselzuckenden Duldung verwandelte und in die Absicht, in die Intention, in den Rückhaltsgedanken die moralische Verantwortlichkeit setzte, gänzlich die höhere und wahre Sittlichkeit preisgebend!“ … Für Wenzel von Terschka gab es kein anderes Denken, als das in den Formen dieses Molinismus … Daß die Absicht des Ordens, den Grafen Hugo von Salem-Camphausen katholisch zu machen, eine höchst löbliche war, bezweifelte er nicht. Er harrte der Anleitung, wie er gerade als päpstlicher Rittmeister en retraite ein solches Ziel fördern sollte …

Der General sprach:

Sie erhalten eine Liste von Affiliirten in Wien! Geldmittel – nicht im Ueberfluß; denn es wird sogar nöthig sein, daß Sie Schulden machen! Sie sollen eben suchen, sich dem jungen Grafen auf die natürlichste Art zu nähern! Sein Sinn ist offen und leicht. Das gemeinschaftliche Band könnte – Ihr altes Metier sein! Die gleiche Vorliebe für Pferde dürfte die Gelegenheit zur ersten Anknüpfung geben. Stellen Sie sich ihm nach kurzer Zeit als in Ihren Mitteln gebunden vor. Thun Sie das so, daß Sie dabei nicht allzu entblößt erscheinen, so wird er Vertrauen fassen! Sind Sie dankbar, so haben Sie sein Gemüth gewonnen. Ihre Vergangenheit war abenteuerlich genug. Sind Sie auch darüber zum Grafen Hugo leidlich aufrichtig, so bindet die 336 Offenheit. Von Ihrem Priesterstand darf natürlich nicht die Rede sein … sogar sehr, sehr selten von der Religion!

Terschka fand alles das in der Ordnung. Er fand, daß man auf diese Weise einen hochgestellten jungen Mann, von dem man eine Rückkehr zur Kirche wünschte, am besten beobachten ließ. Und als er nur noch zweifelnd aufhorchte, als er hörte, wie doch die Religion als Gesprächsstoff zwischen ihm und Grafen Hugo ausgeschlossen sein könnte – sagte der General:

Man kann die Rückkehr zu unserm Glauben mit Gewalt fördern, man kann sie aber auch von selbst entstehen lassen aus einem still sich meldenden Bedürfniß unsers Gemüthes. Aus welchen Stimmungen wählt man nicht das Gewand des Mönches! Sie, Bruder Stanislaus, traten in den Orden zunächst aus Ehrgeiz. Bei Gelehrten ist es oft der Ueberdruß an der Unfruchtbarkeit ihrer Forschungen. Fürsten und Standespersonen wechselten den Glauben infolge der Reue über ihr vergangenes leichtsinniges Leben. Graf Hugo liebt das Vergnügen. Vielleicht kommen Stunden der Erschöpfung, die dem Heil seiner Seele günstig sind. Diese benutzen Sie zu leichten und ganz wie zufälligen Erweckungen. Wir lassen Ihnen zu dieser Beobachtung Zeit. Leben Sie so harmlos mit ihm wie Sie wollen! Gehen Sie auf alle seine Verhältnisse ein! Geben Sie uns nur dann und wann Bericht; das Uebrige findet sich …

Mit diesen dunkeln, nur der Ahnung von einem zuckenden Streiflicht erhellten Andeutungen verließ der Pater die Zelle des Generals, in drei Tagen das Collegium, in acht Tagen Rom. Seine Vorbereitung zur 337 Rolle eines päpstlichen Rittmeisters machte er in dem Gasthofe der Croce di Malta.

Vorher hätte er sich gern noch dem Cardinal Ceccone empfohlen …

Er wagte deshalb beim General eine Anfrage, erhielt die Erlaubniß, bat im Vatican um eine Audienz und erhielt sie bewilligt bei der Herzogin von Amarillas, bei der der Cardinal jeden Abend nach englischer Sitte den Thee trank …

Die stolze Römerin, die einst in Rollen wie Semiramis geglänzt hatte, vor Jahren in Paris einen spanischen Herzog heirathete, der bald starb, und die dann in ihrer Vaterstadt anfangs mit gemessenen, späterhin reichen Mitteln ein Haus machte, empfing ihn allein und mit dem Stolz einer Frau, die allenfalls auch eine der Kaiserinnen hätte sein können, die sie ehemals spielte … Es war der Kopf jener Herme aus den Gärten des Quirinals …

Sie war in Deutschland bekannt und unterrichtete Terschka in der Art, wie man die Deutschen behandeln müsse … Fest und bestimmt! sagte sie. Denn dies Volk ist voll List und Verschlagenheit! Dies Volk ist um so gefährlicher, als es sich die Miene der Ergebenheit und Treuherzigkeit gibt! Nie hab’ ich eine falschere Nation gefunden, wie diese – und ich bin viel gereist –! Ohne Charakter ist sie in allem! Ich habe die schönsten und vornehmsten Frauen gesehen, die dem König Hieronymus den Hof machten und seine Gunst zu gewinnen suchten. Und dabei rühmen sich diese, besonders in der vorneh-338men Sphäre so gesinnungslosen, unpatriotischen Deutschen fortwährend ihrer Treue und Ehrlichkeit!

Terschka kannte Deutschland wenig und ließ sich belehren …

Die Herzogin gab ihm eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln, ohne zu wissen, in welchen Aufträgen er nach Deutschland zu reisen hatte …

Erst jetzt, in den gegenwärtigen Stimmungen Terschka’s, kam ihm die Erinnerung, daß die Herzogin von Amarillas damals sicher von einer Gegend sprach, die mit der, in welcher er sich jetzt befand, die nämliche war … Sie hatte damals Namen genannt, die seinem Gedächtniß erloschen waren … Immer sinnender, immer vor sich hinbrütender hatte sie gesessen, das Haupt auf die vergoldete Lehne eines hohen Rococosessels gestützt, ja nicht einmal bemerkend, daß Olympia in einem seidenen Kleide durch die Zimmer rauschte, die „Nichte“ des Cardinals, ihre Schutzbefohlene … Dem jungen, inzwischen herangewachsenen, wenn auch nur kleinen Mädchen, das ihr dunkelschwarzes lockiges Haar mit einem goldenen Reifen umschlungen hielt und einen fast gehässigen, medusenhaften Ausdruck des Kopfes bekommen hatte, war die Erinnerung an den Tag in der Reitschule gänzlich entschwunden … Die Herzogin erinnerte sie daran … sie erwähnte nicht ohne Herzlichkeit die Gedichte, die ja Pater Stanislaus aus dem Collegium an sie geschrieben hätte … Olympia machte eine spöttische Miene und wandte sich kalt und gleichgültig ab …

Inzwischen wurde der Cardinal gemeldet …

339 Wenn in Rom ein Cardinal einem Privathause die Ehre seines Besuchs ertheilt, muß ihm die Herrin desselben mit zwei Wachskerzen auf silbernem Leuchter entgegengehen und ihn wie einen Fürsten schon an der Treppe empfangen …

Tiburzio Ceccone, der noch jugendliche, lebensmuthige Lenker der Gerechtigkeit im Kirchenstaat, erschien als ein noch immer schöner, imponirender Mann in der Tracht der Cardinäle, wenn sie außerhalb ihrer Functionen sind, im schwarzen Habit habillé mit rothem Vorstoß, rothen Knöpfen, kurzen schwarzen Beinkleidern, langen rothen Strümpfen, rothem Sammetkäppchen, darüber ein langer schwarzer Krämpenhut, auf dem Rücken ein schwarzes Abbémäntelchen …

Der Cardinal entsann sich vollkommen des Paters Stanislaus und erkundigte sich mit forschend zusammengedrücktem Auge nach dem Ziel seiner Reise … Die Befangenheit Terschka’s, der ihm ausweichend antworten mußte, mochte er sehen, doch machte ihn seine Liebe zu Olympia so zerstreut, daß Terschka reden konnte, was er wollte – er würde nur zu allem wie abwesend genickt haben … Offenbar war er über Terschka’s Mission im Unklaren. Er pries die Fortschritte der Gesellschaft Jesu, namentlich im Kaiserstaate, und sprach von einer Stadt an einem großen Flusse, wo ihre Hauptniederlassung sein sollte. Die Herzogin glaubte gleichfalls eine solche Stadt mit einem Kranz von Bergen zu kennen, nannte aber den Fluß nur klein. Sie verständigten sich beide in der Geographie Deutschlands wie über ein Land, das im Grunde ein einziger großer wü-340ster Wald wäre, bewohnt von einem Geschlecht von Menschen, die an Unbildung und dabei, wie die Herzogin wiederum hinzufügte, an Verschmitztheit ihresgleichen suchten. Sie ihrerseits schien Witoborn an der Witobach, der Cardinal Linz an der Donau im Auge gehabt zu haben – Deutschland war ihnen beiden ein und dasselbe Sibirien.

In Gnaden entlassen, empfahl sich Terschka, reiste ab und nahm bereits in Venedig seine neue weltliche Tracht an. Ueberall producirte er den Paß, der ihn als einen beurlaubten päpstlichen Rittmeister bezeichnete. Sein Talent, sich in seine neue Rolle zu finden, mußte bald sogar ihn selbst überraschen. Hätte er nicht annehmen müssen, daß, wie gewöhnlich, ihm ein Wächter gestellt wäre, der alle seine Schritte beobachtete, er würde seine Freiheit in vollen Zügen genossen haben.

Bald fand sich eine Gelegenheit, die Bekanntschaft des Grafen Hugo zu machen.

341 11.#

Die erste Begegnung mit dem damals schon dreißigjährigen Grafen Hugo fand in Bruck an der Leitha statt, wo dieser in Garnison stand.

Wir schildern sie nicht, da sie sich schon aus allem entnehmen läßt, was wir von Terschka’s persönlichen Talenten und aus den Erinnerungen der Gräfin Erdmuthe wissen.

„Das ist ja ein Jesuit!“ hatte der edlen Frau sofort bei der ersten Bekanntschaft mit diesem neuen Freunde ihres Sohnes eine innere ahnungsvolle Stimme gerufen. Ein Beweis auch zugleich, daß Terschka damals noch ganz die Weise des Paters Stanislaus hatte …

Damals war Terschka noch höflich bis zum Unterwürfigen, zart bis zum Süßen. Er sprach und hörte zugleich auf das, was neben ihm von andern gesprochen wurde, und billigte es zwischen seine eigene Rede hinein, wenn er sie auch doch inzwischen fortsetzte. Er vertheidigte nichts, was irgendjemand unangenehm berühren konnte. Er sprach von seiner Jugend mit einem verklärten Blick gen Himmel und folgte der Phantasie der Gräfin bis auf die Anfänge 342 der Hussiten, bis auf die Trommel aus Ziska’s Haut, bis auf den Kelch in der Fahne der Utraquisten – all diese Vielseitigkeit und Nachgiebigkeit lernt sich aus der Kunst der „Prolusio“. Geistig war er so biegsam, wie er nun auch wiederum körperlich werden konnte. Seine Reitkunst war die magische Kraft, die bald den jungen Offizier und dessen Kameraden an den päpstlichen Rittmeister außer Diensten fesselte.

Nach einem halben Jahr empfand Terschka wol die vielen Bedenklichkeiten, die sich aus dieser Verbindung – für seine Gelübde ergaben. Ueberhaupt welches war das Ziel, auf das er zusteuern sollte? Der Graf hing sich an ihn mit der ganzen Innigkeit, die jungen Männern in jener Zeit eigen ist, wo hunderterlei Vorkommnisse ihrer fröhlichen Lebenslust Rath, Beistand, bald Schmeichler, bald Warner bedürfen. Bald schon konnte Graf Hugo nichts mehr ohne Terschka unternehmen. Terschka wurde der Vertraute aller seiner Liebes-, Ehren- und Geldhändel. Terschka’s Klugheit, seine im Grunde schüchterne und maßhaltende Denkweise, seine Lebenserfahrung gaben in allen Lagen die Aushülfe. Dann sich aber dabei selbst freihalten von den Einflüssen eines solchen Umgangs, vermochte der Genosse nicht länger. Es gab Spiel- und Trinkgelage, Abenteuer, wie sie Boccaccio geschildert hat: wie sollte der Priester sich verhalten? Er bat seinen Vorstand in Rom um eine Beruhigung seines Gewissens.

Aus allem, was er erfuhr, trat ihm klar entgegen, daß ihn die oberste Ordensgewalt aller Rücksichten und Pflichten des Gewissens entband. Der Rittmeister Wen-343zel von Terschka sollte mit dem Grafen Hugo von Salem-Camphausen zwar nicht ganz nach den Worten des Mephisto verfahren:

„Umgaukelt ihn mit süßen Traumgestalten!
Versenkt ihn in ein Meer des Wahns!“ –

sollte ihn nicht absichtlich in die Verderbniß locken, damit er auf der letzten Stufe des erklommenen Tempels der Freude niedersinke mit erschöpfter Kraft und Terschka in der Gewalt hatte, dann das eroberte Opfer dem Schoos der Kirche zuzuführen (oft hatte die Kirche diesen Triumph erlebt) – aber begleiten durfte ihn Pater Stanislaus auf Tritt und Schritt, durfte leben wie er, lieben wie er; nur die Heiligung des Mittels durch den Zweck durfte nicht fehlen. Mitten in diesem Taumel sollten die Ruhepunkte, die schon für den Grafen zuweilen eintraten, dann und wann für harmlose Erweckungen benutzt werden; Erweckungen, die jedoch nur gelegentlich, ganz nur wie zufällig und absichtslos einzustreuen waren … So wenigstens beschied man ihn …

Wie jedoch der menschliche Geist einmal ist, so kann er, wenn auch noch so geschult, niemals für sich gutsagen, wo ihm das Glück der freien Bewegung zu Theil wird. Terschka lebte mit dem Grafen Hugo bald nicht mehr wie der ihn Dirigirende, sondern wie der von seinem Zögling Dirigirte. Vollkommen hatte er mit der Zeit verstanden, was er sollte; er hatte Winke und Anweisungen erhalten, die in zweifelhaften Fällen sogar eher das Schlimme, als das Gute zu wählen anriethen und so war er dem natürlichen Zuge seines fast gleichalterigen Freundes gefolgt, ergab sich ihm mit voller Anhänglichkeit, liebte ihn und 344 ließ sich von ihm beherrschen, statt daß er ihn beherrschte. Die Berichte, die er nach Rom einsandte, wurden unwahr. Terschka gab Zusicherungen über Richtungen des Gemüthes, in die sein Zögling verfallen wäre, die jeder Begründung entbehrten. Nun kam die Furcht der Obern, der junge Graf könnte in solcher Stimmung wol gar in die ascetische Richtung seiner Mutter verfallen. Kannte man auch ohne Zweifel im al Gesù das deutsche Sprichwort: „Der Weg nach Rom geht über Herrnhut!“ so würde doch die ganze Bemühung verfehlt gewesen sein, wenn der Graf sich zuletzt in die Leitung seiner Mutter begeben und deren separatistische Entschiedenheit angenommen hätte. Demnach ertheilte man die Zustimmung zu dem Bedenken, ob Terschka die Kraft des weiblichen Princips, das den Grafen in leichterer Weise beherrschen konnte, verstärkte. Damals war ein eigenthümlicher Collisionsfall im Leben des vornehmen Cavaliers eingetreten. Jene Angiolina, die er in der dalmatinischen Stadt Zara bei einer Kunstreitergesellschaft gesehen hatte, war von ihm in einem gemüthlichen Zuge seines Wesens, das von plötzlichen Einfällen beherrscht wurde, vor acht Jahren ihrer Truppe abgekauft und in eine Pension gegeben worden. Das elfjährige, bildschöne Mädchen hatte er dann und wann wiedergesehen, stets mit einer mächtigen Erregung seines Gefühls. Immer überraschender, immer reicher entfaltete sich die Bildung Angiolina’s. Einmal gab er sie weit fort aus seiner Nähe, nur um sich nicht hinreißen zu lassen und nicht seinem Gefühl zu folgen. Die Neigung Angiolina’s für ihren Wohlthäter war die gleiche. Auch sie floh die 345 Bestrickung ihres Herzens, wenn der schöne junge Mann im glänzenden Harnisch vor ihr stand, das sonst so feurige Auge in milder Dämpfung auf sie niedersenkend. Einige Jahre lang währte dieser Kampf. Terschka wurde der Vertraute. Er nahm zuletzt Partei für den Gedanken, ein so reines Bild nicht zu zerstören. Graf Hugo hegte ihn selbst und litt doch darunter. Oft warf er sich dem Freunde an die Brust und rief: Ich kann nicht ohne sie leben! Von Rom kam eine dunkle Weisung, die fast an das Wort der Schrift erinnerte, daß ein Sünder dem Himmel lieber wäre, als zehn Gerechte …

Pater Stanislaus sah das Maß der künftigen Reue sich mehren, wenn Verhältnisse eintraten, die nicht auf die Dauer so bleiben konnten. Die „Prolusio“ malte es ihm aus: Endlich verläßt doch ein so vornehmer Herr seine Geliebte wieder – vielleicht war es eine Verbindung wie die Ehe – die Gräfin Paula verlangt nicht nur ihre standesmäßige, sondern die volle, auch sittliche Höhe ihrer Rechte als Gattin – der im stillen gedemüthigte Gatte wird schwächer und schwächer und muß der Gattin zuletzt – ein Opfer bringen, jenes, das, wenn auch stumm, die Gattin und die Kirche verlangen … Aqua Toffana das der Jesuitenmoral! Gift aus einer nur zu vollkommenen Kenntniß unserer Natur gezogen! Wo ist da noch Sünde, wenn das Leben des einzelnen nur ein Theil einer großen Maschine wird, die wiederum nicht ein einzelner dirigirt, sondern ein großes Ganzes, das Anfang, Mitte und Ende immer zugleich im Auge hat! Damit die Olive das klare, fließende Oel wird, muß nicht nur ihre saftige Hülle, auch ihr Kern zer-346stampft, auf der Mühle zermalmt werden; was kümmert dich die zerstörte schöne Frucht, wenn aus ihr ein Höheres hervorgeht, das der Einzelne, haftend an der flüchtigen, wenn auch schönen Erscheinung, gar nicht ahnen kann? Und es gibt eine Linie, die, trotzdem daß sie nur Einem Pole zustrebt, doch schwankend ist wie die Magnetnadel, die Grenze zwischen „Gut“ und „Böse“. Die Uebergänge sind oft schroff; ganz deutlich unterscheidet sich das Oel vom Wasser; aber ebenso oft auch rinnen sie ineinander und das schwache Herz, der Sünde schon verfallen, glaubt immer noch unter der Herrschaft reiner und gerechtfertigter Instincte zu stehen! Shakspeare sah die Jesuiten erst entstehen. Sein Richard III., der im Stande war ein Weib am Sarge ihres ermordeten Gatten für sich zu gewinnen, hatte jenen Basiliskenblick, der erstarren macht und jede moralische Entschlußnahme tödtet. Klingsohr, der, eben von der Leiche seines Vaters kommend, in einer dunkeln Nachtstunde von einer wild tyrannischen, imponirend dämonischen, seinen Idealen vom alten Feudalgeist des Mittelalters entsprechenden Natur überredet wird, sie zu schonen – da gehen die schwindelnden Wege im Nachtleben des menschlichen Gemüthes, die niemand sicherer zu wandeln weiß über Dorn und Klippe, fest an der Hand haltend den, den sie führen, als die Jesuiten … Wie sollst du dich dem Menschen nahen? Der Orden sagt: Ut si non bene ei succedant negotia!*) Oder: Etiam optima commoditas est in ipsis 347 vitiis!**) Was hier zunächst nur vom Gewinn des Gemüths für die Gottseligkeit überhaupt gesagt worden ist, wurde es auch von jedem Gewinn für die Kirche selbst.

So lebte Terschka seit einer Reihe von Jahren als täglicher Begleiter, Secretär, Geschäftsführer seines wirklich von ihm geliebten Freundes, des Grafen Hugo von Salem-Camphausen. Sorglos durfte er auf alles eingehen, was zu dessen Lebensverhältnissen gehörte. Er durfte die Mutter des Grafen auf Schloß Salem und in Castellungo besuchen. Er durfte sich dem großen Proceß widmen, durfte reisen im Interesse desselben, durfte die Anhänglichkeit an seinen Freund ohne jeden Eigennutz zur Schau tragen. Der Orden rechnete nicht auf das fünf- oder sechsunddreißigste Lebensjahr des Grafen, er begnügte sich mit einem Schritt, den dieser vielleicht erst in seinem sechzigsten, siebzigsten that. Die Stunden kommen dann schon, wo ein alter Podagrist verdrießlich über die Welt wettert, die jung bleibt, während ihm selbst die Zeit das Haar gebleicht; die Stunden, wo man an einem kalten Winterabend bei Schneegestöber im warmen Zimmer sitzt, Anekdoten von der Vergangenheit durchspricht, die nicht mehr zünden wollen, und dann sagt: Terschka, Terschka, ich fange doch manchmal an zu moralisiren: was ist nun wol das Leben! Und dann zuckt ein solcher mit ihm altgewordener, nun auch weißhaariger Freund, der das Gnadenbrot des Protectors ißt, die Achseln, spricht mit feinem Lächeln von der Ruhe, die ihm denn doch zu-348letzt sein Glaube gewähre, und hat einen Kreis von alten Chorherren, von alten devoten Damen, wo er seine Abende behaglich zubringt und auf die der alte Freund eifersüchtig wird. Nun einmal das schon kühnere Wort hingeworfen: Wenn man denn doch einmal positive Dinge glauben will, lieber Graf, so soll man es auch ganz; lieber alles oder gar nichts! Und das wird dann oft entscheidend … Daraufhin schrieb einst die Gräfin Erdmuthe aus Castellungo, daß Lady Elliot sie besucht hätte und voll Verzweiflung aus Rom gekommen wäre: vierzehn Engländer hätten zu gleicher Zeit in der Katakombe San-Calisto das Abendmahl nach katholischem Ritus genommen – eben auch deshalb: „Will man einmal positive Dinge glauben, dann auch gleich ganz; sonst lieber gar nichts!“

Terschka genoß das wiener Leben wie dafür geboren und erzogen. Er war der Matador der Gesellschaft und heiterer, als Graf Hugo, der mit den Jahren trübsinnig, nachdenklich und nur noch stoßweise von seinem alten Humor erheitert wurde. Terschka hatte seine Rolle nicht vergessen, aber sie erschreckte ihn eher wie die Mahnung an ein leicht herauskommendes Verbrechen, an dem er betheiligt war, als wie an eine ernste und ihm werthe Pflicht. Er konnte erbeben vor einem Brief mit geistlichem Siegel. Oft war es ihm in Abendstunden, wenn er über die Plätze Wien’s eilte, als wenn in den dunkeln Schatten ihm eine verhüllte Person folgte. Die ganze Kette seines Lebens bis zu seinen ersten Anfängen lag dann vor ihm. Gedenke deines Mals am linken Arm! rief ihm einst Nachts im Novembersturm eine 349 Stimme an der uralten Kirche Maria zur Stiegen … Es war eine Gaukelei seiner erhitzten Phantasie. Er kam von Angiolina, wo es glückliche, unterhaltende Abendstunden gab … Dann stürzte er in den Beichtstuhl der Piaristen zu Maria-Treu, auf den er von Rom aus angewiesen war … Kehrte er von der Josephstadt ins Innere Wiens zurück, so war es ihm oft, als müßte ihm aus einem der Fiaker, die an einsamer Stelle hielten, unterm lachenden Sonnenschein ein Unbekannter plötzlich winken, ihn zum Einsteigen auffodern und ihn mit sich zurücknehmen geradeswegs nach Italien in die unterirdischen Kerker, die es im al Gesù gab … Oft auch wünschte er’s, wenn sein Gewissen zu heftig zu schlagen, seine Furcht zu heftig ihn zu erschüttern begann.

Für Terschka war der geistliche Stand nur das gewesen, was Andern die Schul-, Gymnasial- und Universitätsbildung überhaupt. Nur durch Sklaverei hatte er zu einer schöneren Freiheit gelangen können. Aber die Kette ließ ihn nicht. Er zog sie überall hinter sich. Er zog sie mit den Jahren schwerer und schwerer, unmuthiger und unmuthiger. Durch die ihm gestattete Freiheit trat er in eine lebhafte Welt der Discussion ein. Das war damals ein Geist der Freiheit, der Opposition gegen die Herrschaft des allmächtigen Staatskanzlers, eine Lust am Verbotenen und Versagten bis in die höchsten Kreise hinauf, ja bis in die der Unterdrücker selbst, die heimlich mit dem liebäugelten, was sie öffentlich verfolgten. Wie konnte er gegen die Mode des Tags Einspruch thun? Er scherzte mit den andern, lachte mit den Spöttern, ver-350theidigte nichts, was zumal, wär’ es gerade von ihm festgehalten worden, über seine wahre Lebensstellung hätte Verdacht erwecken können. Doch nicht ungestraft wandelst du unter den Palmen! Du lernst die süße Luft der Freiheit lieb gewinnen! Die erquickenden Schatten laden dich zum traulichen Hüttenbauen ein! … Terschka kämpfte mit sich, ob er die Fessel, die ihn hielt, nicht einst brechen, seinem Freund und der von ihm hochverehrten ehrwürdigen Mutter desselben ganz und für immer sich offenbaren sollte.

Die Bekanntschaft der „Frau in silbernen Locken“ vermehrte bis zur Unwiderstehlichkeit in seiner Brust den Drang, diesen Entschluß zu ergreifen. Die Liebe als reine, geläuterte Flamme des Herzens kannte er nicht. Er war ein Wildling gewesen, ein Wanderer der Heide, ein Gaukler, ein Zigeuner. Je schreckhafter er auf das zurückblickte, was er einst war, je gewissensbanger er an seine unwiderruflichen Gelübde dachte, desto ungestümer wuchs sein Verlangen, in allem und jedem das reinigende Feuer der Bildung auf sich wirken zu lassen und die Schlacken der Seele von sich zu werfen. Gerade Monika’s religiöser Freimuth durfte ihn fesseln. Frauen von Geist und Grazie kannte er genug, Allen war er werth; seine immer gleiche Weise war jeder weiblichen Natur willkommen, besonders da, wo sie im Mann vorzugsweise nur einen Ableiter ihrer Laune zu haben wünscht. Monika’s Geist aber war positiv. Sie hatte Ueberzeugungen und konnte Partei ergreifen. Die Menschen sind so dumm, so dumm! Mit einem Zorn konnte sie das ausrufen, daß ihre Augen Funken sprühten. 351 Terschka hatte nur immer zu beruhigen und in die Bahn des Hergebrachten zu lenken. „Sie sind der ewige Leimer und Versöhner!“ sagte sie dann wol. „Sie vermählen den Großtürken mit der Republik Venedig! Was wäre die Welt geworden, hätte es nicht Frauen von Gesinnung gegeben! Perikles lernte Reden erst halten von Aspasien! Die Kraft der Römer lag in ihren Gattinnen und Müttern! Die Frauen haben das Mittelalter vor dem Uebermaß der Barbarei bewahrt! An jeden großen Namen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts knüpft sich eine Frau, die für ihn kämpfte, mit ihm litt, seinen wankenden Muth befeuerte! Napoleon herrschte noch heute, wenn er einer Frau von Geist, vielleicht der Staël, die ihn liebte – sie haßte ihn wenigstens nur aus Liebe – hätte vergeben können, daß sie häßlich war!“ Graf Hugo sagte eines Tages in seiner trockenen und einfachen Art: „Das vergibt sich schon, meine gnädige Frau, wenn man nur eine solche häßliche Frau nicht dann auch sogleich wiederlieben soll!“ Die Mutter fand den Beruf der Frauen für große Eingriffe ins Leben vollkommen bewiesen durch die Schrift. Sie pries nicht die immerhin etwas zweideutige That der Judith, wol aber die der Deborah, die alles Volk zum Kampfe wider Sissera auffoderte, ja jene Jaël sogar, die dem Sissera, als er schlief, einen Nagel durch den Kopf trieb; nur hätten diese Frauen alle dabei Gott die Ehre gegeben, was man von den atheistischen Gönnerinnen der „Herren Rousseau und Voltaire“ nicht sagen könne. „Chère maman“, sagte Graf Hugo scherzend und voll Artigkeit den Dampf seiner Cigarre zum 352 offen stehenden Fenster hinausblasend, „il y en a encore beaucoup de femmes, die uns den Kopf – «vernageln»! Mais, chère maman, – sie müssen hübsch sein!“ Terschka vermittelte und kam auf Napoleon zurück, auf Josephine Beauharnais, auf die Liebe eines einfachen und rein – weiblichen Weibes – „Pah“, sagte Monika, „Josephine Beauharnais war empfindlerisch und verstand sich nur in türkische Shawls zu drapiren!“

Hätte Terschka, den Schwur vergessend, der ihn gefangen hielt, die Liebe Monika’s gewinnen können, er würde sich zu allem entschlossen haben, was zur vollständigen Erreichung seines Glücks gehört hätte. Traten Beide zur Confession der Gräfin Erdmuthe, ihrer Gönnerin, über, so war ihre Verbindung möglich. Aber Monika vermied seine Bewerbung. Sie verstand sie nicht oder gab sich den Schein, sie nicht zu verstehen. Sie wich den Beweisen seiner Gefälligkeit aus. Es gab etwas, was sie von ihm zurückschreckte. Nur die stete Rückkehr der Gräfin auf ein gewisses, wenn auch nur angedeutetes und erst kurz wieder vor ihrer Reise nach England offen behandeltes Kapitel fing an sie zu beunruhigen. Sie floh vor einer Aufregung ihres Innern, die ihr unheimlich wurde; sie floh der Gefahr entgegen, Armgart in die Gewalt ihres aus Amerika zurückgekehrten Gatten übergeben zu sehen. Terschka folgte. Er folgte sogar in der Absicht, Kocher am Fall zu besuchen. Er wollte diesen vielbesprochenen, noch in räthselhafte Nebel und Schleier gehüllten Ulrich von Hülleshoven kennen lernen. Aber die Erbschaftsfrage rief ihn zu bald nach Witoborn. Hier lebte er jetzt seit einem 353 halben Jahre, in dem ganzen, äußerlich mit bewunderungswürdiger Virtuosität verdeckten Zwiespalt seines zerrissenen Innern, in der steten Angst vor einer Mahnung aus Rom, im Kampf mit Entschließungen, die dann für ein ganzes Leben gelten mußten. Und wie war er jetzt so nahe gerückt allen maßgebenden Momenten seiner Vergangenheit; seiner nächsten in der außerordentlichen Katholicität der Gegend – seiner entferntesten in den plötzlichen Entdeckungen, die er über den Laienbruder Hubertus machen mußte! …

Hatte er eine Ahnung, daß sich ihm bald die mächtige Hand, der er nimmermehr glauben durfte entronnen zu sein, mit Riesenkraft nahen würde, so sollte sie sich in der That erfüllen …

Er verbrachte eine schlaflose Nacht …

Am folgenden Morgen begann er seine gewöhnliche Thätigkeit. Er klopfte an die Thür des Onkels Levinus, plauderte und rauchte mit ihm, ließ sich von seinen alten Zauberbüchern, an die der Onkel nicht glaubte und die er dennoch mit hoher Andacht studirte, von seinen chemischen Präparaten erzählen, scherzte sogar über einen Homunculus, den der Onkel am Ende doch noch in der Retorte als seinen Erben und Fortpflanzer des Namens Hülleshoven hinterlassen würde … er war dann einige Stunden im Rentamt, begrüßte die Damen nach der Toilettenzeit, begegnete auch schon wieder im Schlosse Thiebold, der wegen des inzwischen schon auf morgen angesetzten großen Jagdfestes gekommen war und mancherlei über seinen Ankauf zu besprechen hatte, später begegnete er Benno, der den Nicht-Einladungen der Tante zum Trotz doch ab und zu plötzlich auf dem 354 Schlosse erschien, da auch für ihn im Schreibamt des untern Geschosses Veranlassung zu Nachfragen genug gegeben war … Allen diesen Begegnungen zeigte Terschka seine gewohnte heitere und zuvorkommende Art und doch war sein Inneres in räthselhafter Unruhe …

Armgart, bleich und angegriffen, begegnete ihm wieder mit der Postmappe und ließ ihn selbst seine Briefe suchen …

Wiederum war ein Brief von ihrer Mutter darunter. Doch war das Couvert nicht mit ihrer Handschrift geschrieben. Der Poststempel zeigte auf einen Ort, der nur noch wenige Meilen entfernt war …

Als wenn Armgart die richtige Ahnung hätte, daß dieser Brief, den Terschka befremdet an sich nahm und betrachtete, die Ankunft der Mutter verdecken sollte, fixirte sie den Empfänger …

Oeffnen Sie ihn doch! sagte sie mit Bestimmtheit. Es ist doch wol nur ein Brief von meiner Mutter – nicht wahr?

Wie kommen Sie darauf? Sie sehen, die Handschrift –

Und jetzt freilich las Terschka am wenigsten …

Ich weiß alles! sagte sie und warf die Mappe auf einen Tisch, der in der Nähe stand, und eilte davon …

Terschka stand bestürzt. Ein Diener, der des Weges kam, hob einige herausgefallene Briefe und Zeitungen auf und trug die Mappe auf Terschka’s Geheiß zum Onkel Levinus …

Auf seinem Zimmer sah Terschka, daß Armgart recht hatte. Monika war in einer der nahe gelegenen kleinen Städte angekommen und deutete an, daß sie hoffte, in kurzem auf Westerhof zu sein. Sie machte Terschka nicht zum 355 Vertrauten ihrer Absichten. Sie schrieb ihm nur um einer Einlage der Gräfin willen, die diese ihr mit besonderm Couvert abzusenden aufgetragen hatte; es war eine unbedeutende Sache, in der die Gräfin schrieb – sie wollte eben nur Monika zwingen, mit Terschka in Verbindung zu bleiben; sie war in ihrer Art eine ebenso fanatische Proselytenmacherin, wie die Jesuiten auch. Monika’s Begleitschreiben wich allem aus, was ihr Terschka über das nächste Geschäftliche hinausgeschrieben hatte, ja es war förmlich …

Terschka ging im Zimmer auf und nieder. Er verbarg den Brief und sagte sich: Vergebens! Vergebens! Diese Hoffnung erfüllt sich nicht! Das ist ein Traum gewesen, der nur in meiner Phantasie gelebt hat! Dahin ziehen dich deine Sterne nicht! …

Nun mußte ihn Armgart’s Wesen befremden. Er hatte ihm anfangs nicht viel nachgedacht. Seit einigen Tagen bildeten sich ihm in seinem Innern Gedankenreihen darüber. Liebt dich denn wol gar dies seltsame Mädchen? sagte er sich schon seit längerer Zeit. Sie wollte von ihm reiten lernen. Er hatte damit auch begonnen und sich überzeugt, welche Geister sich in ihrem Innern befanden – gebunden und wie entfesselbar! Heute war ihr Benehmen wieder zu auffallend gewesen … Es flammte und brauste in seinem Innern … So kalt die Luft ging, er mußte das Fenster aufreißen … Träume, Wahngebilde der berauschendsten Möglichkeiten umgaukelten ihn …

Da klopfte es an sein Zimmer und Benno war es, der nur flüchtig hereinschaute …

356 Bester Baron, sagte er mit dem ihm eigenen ironischen Lächeln, das seine Lippen vorzugsweise Terschka gegenüber umzog; wissen Sie schon, das Obertribunal hat gestattet, daß Nück’s Verlangen, noch einmal die Archive von Westerhof in Ihrer und meiner Gegenwart untersuchen und nach seiner verdammten Urkunde kramen zu dürfen, genehmigt wird! Herr von Hülleshoven hat dafür den nächsten Montag bestimmt. Ist es wol da auch Ihnen genehm?

Auf sein: Mit Freuden, Herr von Asselyn! war Benno schon verschwunden …

Es lag in Terschka’s Charakter, nicht zurückzubleiben, sondern trotz der größten Aufregung einem Besuche zu folgen und ihm die Begleitung zu geben. An die Cadenz der Höflichkeit, die in der Jesuitenerziehung gelehrt wird, war er gewohnt …

Wie er hinaustrat, war Benno auf einer der kleinen Lauftreppen verschwunden …

Nun aber sah er am entferntesten Ende des Corridors eine seltsame Gruppe …

Dort stand Armgart und reichte eben Thiebold de Jonge die Hand …

Thiebold küßte diese Hand und sie ließ es geschehen …

Fast schien es, als hätte Thiebold auch einen bunten Gegenstand, den er in Händen hielt, mit Küssen bedeckt …

Armgart schien sogar zu weinen … Darauf deutete ein Taschentuch in ihrer Hand …

Schweigend standen beide eine Weile in sich verloren; dann raffte sich Armgart auf, winkte mit der Hand ein Lebewohl und verschwand …

357 Thiebold sah ihr lange nach, zog jetzt gleichfalls sein Taschentuch, trocknete sich – halb die Augen, halb trotz der Kälte, wie im heißesten Sommer, die Stirn und wandte sich, ohne aufzublicken, gleichfalls einer der Lauftreppen zu, die aus dem ersten Stock ins Erdgeschoß führten …

Was ist das nur? sagte sich Terschka und schritt weiter, als müßte er Armgart anreden …

Denn schon, schon faßten ihn die Geister der Versuchung. Eben noch hatten ihn die wenigen Worte Benno’s über die Urkunde mit furchtbarer Macht an den Augenblick erinnert, wo sein General vor ihm stand und ihm sagte: Fände sich die Urkunde, die für die Antretung der Erbschaft unsere Religion bedingt, so würde sich das ganze Verhältniß ändern, die Gräfin würde durch einen Familienpact den Grafen Hugo heirathen müssen und die Aufgabe für uns würde eine leichtere werden! Man riefe ihn dann vielleicht – nach Rom zurück …

Aber dieser wie Donnerton auf ihn einbrechenden Gedankenreihe konnte er nicht volles Gehör schenken, die Mittelstufen derselben wankten, Seligkeit und Qual rangen wie im Titanenkampf … Es zog ihn vorwärts und vorwärts … Was sollte dieser Abschied von dem jungen Thiebold sagen? Warum nur stand vor ihm der liebliche Engel so seltsam bewegt? … Wie verklärt diese Augen! Wie ganz dem Bild ihrer Mutter gleichend! Sie aber noch die wirkliche Jugend, das wirklich blühende Leben – kein Silberschnee des Haares, der die Jugend Lügen strafte … Und Terschka’s Abenteurernatur wurde entfesselter. Losgebunden regte sich die Seele des Emporkömmlings, 358 der sich an alles hält, was ihn erheben und fortreißen kann. Eine der Krallen des apokalyptischen Thieres nach der andern, der „Probabilismus“ und die siebenköpfige jesuitische Moral des: „Besser ist besser!“ packte ihn in furchtbarster Gewalt … Taumelnd folgte er …

Er kam an das Ende des Ganges, der, da das Schloß im Geviert gebaut war, hier nur der Anfang eines im rechten Winkel sich einsetzenden neuen war … Hier sah er, daß Armgart ein in den Hof gehendes Fenster geöffnet hatte und hinunterwinkte …

Dem ihm zunächstliegenden Fenster sein Auge zuwendend sah er, daß es nun auch Benno war, den sie mit schwacher, erstickter Stimme anrief …

Benno unten verstand sie nicht sofort …

Nun winkte sie ihm heraufzukommen …

Benno eilte auf die erste der kleinen Treppen, die in den Hof gingen …

Terschka zog sich zurück …

Offenbar, sagte er sich, hat sie mit de Jonge eben eine Scene gehabt, die sie mit Asselyn ganz ebenso wiederholen will …

Schon war Benno oben, schon hatte er dessen zwar leicht, aber doch ohne Zweifel tieferbebend Armgart dargebrachten Morgengruß vernommen … Armgart erwiderte nichts … Terschka hörte nur das Klappen einer Thür …

Er trat dann wieder vor … Armgart und Benno waren verschwunden …

Das Zimmer, in das sie hatten gehen müssen, kannte er. Es war dasselbe, in dem neulich Bonaventura seine Mutter wiedergesehen. Nichts hielt ihn, 359 am wenigsten die Moral seiner Bildung und Erziehung, zu versuchen, das Gespräch Benno’s und Armgart’s zu belauschen …

Die Schlüssel der Zimmer standen ihm zu Gebote. Mit wenig Sprüngen war er beim Onkel Levinus, schützte das Interesse an einem alten Stammbaum vor, der in einem großen Speisesaal hing, nahm die Schlüssel von der Wand, schloß etwa fünf bis sechs Thüren entfernt von der, hinter welcher jenes Gespräch stattfand, einen Saal auf, schloß wieder hinter sich zu und ging vorsichtig und langsam durch die entweder offen stehenden oder nur leise aufzuklinkenden Verbindungsthüren hindurch bis zu dem Nebenzimmer des Fremdenstübchens …

Auch dort trennte ihn von dem Gespräch nur eine Thür, an die er sein Ohr legte …

Es war kalt und schauerlich still in allen diesen alterthümlichen Räumen, von denen einige mit großer Pracht ausgestattet waren …

Ihn kümmerte nichts … Er horchte nur …

360 12.#

Schon tief in seinen Erörterungen mußte das junge Paar vorgerückt sein.

Dennoch staunte Terschka, eine scheinbar so ruhige Conversation zu vernehmen …

Nein, nein, sagte Armgart mit so leiser Stimme, daß auch nur Sein feines Gehör geschickt war folgen zu können – nein, nein, wissen Sie wol, lieber Freund, damals in Lindenwerth, als Sie uns zum ersten male besucht hatten? Es war ein Frühlingstag. Die Syringen blühten, die Nachtigall sang. Das Pensionat wanderte in die Sieben Berge. Sie, Asselyn, gingen mit uns und als wir in eine Schlucht kamen, die sich so wunderschön öffnete, ganz grün war sie und verlor sich dann in Felder mit goldenen Repssaaten – da hieß es, dies Thal wäre die Aue – und da sagten Sie blos: Hartmann von der Aue! … Wer ist das? fragte ich … Ein Minnesänger! sagten Sie und setzten hinzu: Kennen Sie das Gedicht vom armen Heinrich nicht –?

Eine Pause trat ein … Benno schien sich zu besinnen …

361 Vom armen Benno! sagt’ ich wol – warf er leise und bedeutungsvoll ein …

Nein, nein, erwiderte Armgart, diesem Tone ausweichend, vom armen Heinrich, dem zu Liebe sich einst eine fromme Jungfrau geopfert hätte … Sie wollten’s mir erzählen und die dummen Mädchen kamen dazwischen mit ihren Eseln – wissen Sie noch, sie wollten sämmtlich Esel reiten und die Steigbügel waren zu lang –?

Werden Sie denn morgen mit bei der Jagd sein? unterbrach Benno, der noch nicht zu ahnen schien, was Armgart Ernstes mit ihm vorhatte …

Ich weiß es nicht! antwortete sie. Die Tante sieht soviel Gefahren … Auch ist Paula heute wieder aufgeregter, denn je …

Benno schien nur zuzuhören …

Die Tante hatte den Münnichs versprochen, den Püttmeyer’schen Bildern beizuwohnen … Ich wenigstens könnte mit zu diesen trotz der Trauer … Aber ich weiß es noch nicht … Erzählen Sie mir von Hartmann von der Aue und vom armen Heinrich!

Liebe Armgart, begann Benno, dieser arme Heinrich war ein schwäbischer Ritter, der in den heiligen Krieg zog und das Unglück hatte, statt mit großer Beute nur mit einer schweren Krankheit heimzukehren, die kein Doctor heilen konnte! Man nannte die Krankheit die Miselsucht. Ritter Heinrich war nicht einmal jung, vielleicht nicht besonders liebenswerth, er war ein guter Guts- und Grundherr. Einem seiner Vasallen, seinem Meyer, wie das altdeutsche Gedicht sagt, blühte ein Töchterlein, den Namen hab’ ich vergessen – wollen wir sie – Armgart nennen?

362 Gewiß! antwortete Armgart und sprach dies ganz aus schwerem Herzen und voll ernster Zustimmung …

Nun gut! Des Meyers Töchterlein, Armgart, hört von dem Leid des guten Ritters, der nach Salerno gereist war, wohin man damals reiste seiner in medicinischen Angelegenheiten berühmtesten Universität wegen … Salerno liegt in Italien …

Ich weiß! sagte Armgart auf Benno’s nicht ganz harmlose Erklärung. Aber ihr: Ich weiß! war ohne jede Empfindlichkeit. Klärchen im „Egmont“ konnte, abschließend mit dem Leben, ihr elegisches: „Weißt du, wo meine Heimat ist?“ nicht ergebener sprechen …

Nun kommt eine Botschaft aus Italien! fuhr Benno fort, der Ritter könnte genesen, hieß es, wenn eine Jungfrau rein sich fände, die für ihn in den Tod ginge. Ich kann im Augenblick nicht sagen, liebe Freundin – Sie müssen den Domherrn fragen, der in diesen Gedichten heimischer ist, als ich – ob der Ritter das Blut der Jungfrau trinken oder in seine geöffneten Adern aufnehmen sollte … Letzteres ist auf der Universität Göttingen neulich, das heißt umgekehrt, vorgekommen; ein junger Student hat sich dazu hergegeben, sein Blut durch Transfusion in die blutleeren Adern einer jungen hinsiechenden Frau hinüberleiten zu lassen … Die junge kranke Frau wurde neubelebt durch Studentenblut … Wird sie ihn nicht ewig lieben müssen?

Scherzen Sie nicht, Asselyn!

Sie glauben nicht daran? Dann glauben Sie auch nicht, wie zwei Freunde es machen müssen, die scheiden und sich in der Ferne treue Kunde geben wollen? – 363 Gesetzt wir beide! Ich reise nächster Tage ganz aus Ihrer Nähe – und wer weiß, auf wie lange! …

Asselyn! unterbrach Armgart mit einem sanften Tone, setzte aber, sich sogleich beherrschend, hinzu: Wie machen es zwei Freunde, wenn sie sich trennen und sich voneinander Kunde geben wollen? …

Sie ritzen sich gegenseitig eine Wunde, füllen das tröpfelnde Blut einer dem andern in die seinige und lassen so sie heilen! Reist nun der eine gen Amerika und der andere gen Asien, so können sie sich ohne alles Briefporto, ohne alle Telegraphie im Nu verständigen. Der eine will dem andern sagen: Ich grüße dich von ganzer Seele! – da nimmt er nur eine Stecknadel und sticht auf die geheilte Wunde. Im Nu fühlt der andere an derselben Stelle den Stich. Jetzt gibt er Acht; dieser erste Stich war nur ein: Hab’ Acht! Nun nimmt er ein Blatt Papier, einen Bleistift und zählt die fernern Stiche, die er fühlt. So kommen bestimmte Buchstaben zusammen und zwei auf diese Art blutsverbundene Freunde können über tausend Meilen weit im Nu sich sagen: Es geht mir wohl! Ich liebe dich immer und ewig! Ich sterbe! …

Benno! …

Es dauerte eine Weile, bis Terschka Weiteres hörte … Sein Herz schlug so laut, daß es ihm selbst hörbar wurde …

Endlich schien Benno sich gefunden zu haben … Wenigstens hörte Terschka die Worte:

Zwanzig Meilen nach dem Westen, da gibt es ja noch Postverbindung! Oder wollen Sie etwa weiter noch – nach dem Osten?

364 Vielleicht …

Wohin?

Nach Wien!

Terschka horchte auf …

Mit Ihrer Mutter! sagte Benno gelassen …

Armgart schwieg …

Mit wem? fragte er dringender …

Erzählen Sie mir von der Tochter des Meyers! war Armgart’s ausweichende Antwort …

Mit wem? drängte Benno …

Wie ließ sie ihr Leben für den kranken Ritter?

Mit wem? wiederholte Benno und rief diesmal so laut, daß Armgart ihn um aller Heiligen willen um Ruhe bat …

Was that die Jungfrau? sagte sie dann …

Fragen Sie den Domherrn! antwortete Benno mit hörbarer Erregung und voll Bitterkeit. Ich glaube, sie sollte sich auf den Secirtisch der Anatomie legen und sich von den Professoren zerschneiden lassen! Das Mädchen, ein zweites Käthchen von Heilbronn, reiste richtig nach Salerno, bietet sich auf der Anatomie zu jedem Experimente an – Die Professoren erstaunen und, wie beim Opfer Abraham’s schon der Wille für die That gewirkt hatte, so wird auch hier der Ritter gesund und heirathet die Tochter seines Meyers …

Das ist dumm! wallte Armgart auf …

Wegen der Mesalliance? Oder erwarteten Sie den Opfertod?

Gewiß! … Das Schicksal ist auch wol so gnädig, wie ihr Poeten! Wo etwas Nothwendiges von den 365 Umständen vorgeschrieben wird, geschieht es auch! Das steht in den Sternen!

Armgart! Sie wollen so eigensinnig sein, wie manchmal denn doch – die Liebe Gottes nicht ist? Welchen Opfertod suchen Sie denn?

Armgart schwieg …

Sprechen Sie, Armgart –! Was wollen Sie in Wien –? Ich beschwöre Sie! …

Benno errieth nicht, welche Gedankengänge in Armgart schlummerten, welchen Opfertod sie meinte … Daß aber Wien und Terschka zusammenhing, das mußte ihm gewiß sein … Terschka hörte, daß er eine Rede abbrach, die aus seiner mächtigsten Aufwallung zu kommen schien. Wie mit einer sich beherrschenden Stimme sprach er:

Ich denke, Sie leben nur der Vereinigung Ihrer Aeltern?

Das thu’ ich auch! In wenigen Tagen werden sie verbunden sein!

Wer sagt Ihnen das?

Meine Ahnung!

Was der Mensch getrennt hat, kann kein Gott wieder zusammenfügen! Selbst Sie nicht, Armgart!

Atheist!

Können Sie wissen, was sich Ihre Aeltern vorzuwerfen haben?

Nichts haben sie sich vorzuwerfen! Und wenn –! Die Kirche scheidet nicht! Sagten Sie nicht oft, Vater und Mutter – beide sind Menschen voll Hochherzigkeit und Edelmuth? Und sie sollten sich nicht angehören? Nicht ewig?

366 Liebe erzwingt sich nicht! Das – – das seh’ ich ja!

Die Liebe ist ein Wahn!

Armgart!

Nur Gott ist die Liebe! Gott sagt, wen und was die Liebe wählen soll! … Ha, Sie sprechen von Glück, Benno? Thorheit, Thorheit menschlicher Schwäche, die nur in Befriedigung ihrer eiteln Wünsche Beruhigung findet! Wohl! Schön muß es sein, herrlich zu leben, das geb’ ich zu, wenn das Herz erreicht, wonach es verlangt … Aber auch stückweise es hinzugeben, wenn es die höhere Pflicht begehrt, die Prüfung unserer Größe es will – darin kann ebenso viel Freude liegen – oder glauben Sie nicht, daß Hedwig von Polen glücklich war, als sie dem Ferdinand von Oesterreich, den sie liebte, entsagte und den Heiden Jagello zum Manne nahm, der ihr seine Taufe, die Taufe eines ganzen Volkes, zur Morgengabe brachte? Wie sie ihren Brautschleier der Mutter Gottes von Krakau schenkte, muß ihr das Leben anfangs wie unter einem schwarzen Gewitterhimmel dahingezogen sein! Dann aber umsäumte es sich rosig und gewiß, gewiß – sie wurde glücklich!

Armgart! rief Benno außer sich voll Erstaunen … Und alles wurde jetzt still … Terschka sah im Geist seinen Schutzheiligen, den achtzehnjährigen Polen Stanislaus von Kostka, dem beim Gebet sein Antlitz von Verklärungsschimmer überleuchtet gewesen … Ebenso auch hörte er Monika, deren Methode, zu fühlen und zu denken, ganz dieselbe war, wie bei ihrer Tochter, wenn auch ihr Fühlen und ihr Denken andern Ergebnissen zugute kam … Sein Herz verstand, was er hörte … Dämonen raunten ihm zu: 367 Willst du mitleidig sein mit diesem jungen Mann, der seinen Abschied auf ewig – um deinetwillen erhält? Willst du thöricht sein und um einer solchen von Göttern zu beneidenden Hingebung willen gestehen, daß ihr Opfer – ihre Absicht, ihn – von ihrer Mutter zu trennen, auf einem Irrthum beruht? …

Armgart! Armgart! Ich beschwöre Sie, was geht in Ihnen vor? rief Benno …

Ich lebe – einem Gelübde! …

Himmel, kann denn irgendeine That Gott wohlgefällig sein, die Ihr Herz Gefahren aussetzt, für die keine, keine Himmelskrone Sie entschädigen wird?

Lästerung!

Wem wollen Sie Ihr Herz, Ihre Hand zum Opfer bringen? Warum, warum nur lieben Sie – Terschka?!

Kein Aufschrei Armgart’s erfolgte … Alles blieb still … Lange, lange blieb es still … Terschka begriff nicht, warum beide plötzlich schwiegen …

Allmählich begann Benno zu sprechen … Er sprach so leise, daß Terschka nicht folgen konnte … Dem Schlüsselloch Ohr und Auge zuzuwenden wagte er nicht, ungewiß, ob die nebenan herrschende Stille nicht jede seiner Bewegungen verrathen könnte … Vor seiner Phantasie stand Benno in diesem Augenblick, als müßte er Armgart an beiden Händen halten, müßte ihr tief in die Augen blicken, müßte mit ruhiger Ergebung ihr die ganze Wahrheit seines Herzens enthüllen und ihr sagen: So sollst du hinschwinden, schöner Traum meines Lebens, und wer, wer konnte dich fesseln! Wer konnte dir werther sein, als ich! – –

368 Die Worte, die Terschka allmählich dann unterschied, lauteten:

Armgart! Wenn irgendjemand die Stimmungen kennt, in denen man, wie wir so oft in den Gärten des Enneper Thals nach den schwellenden Früchten über uns nicht langten, ebenso auch sein Glück dahinziehen läßt unerstrebt, so bin ich es! … Aber bleiben Sie nur, Armgart! … Ich wurde schon ruhiger, seit ich wußte, daß auch ein Freund Sie liebt! … Denn wie wollen Sie es nennen, wofür die Sprache nur Ein Wort hat! … Sie erklärten vorhin dem Freund ohne Zweifel mit derselben Bestimmtheit, wie mir, daß Sie aus unserm Leben auszuscheiden wünschen und unsere Bewerbungen ferner nicht mögen … Nun denn! Ich nehme den Aschenbecher, wie er, der Fröhlichere – die Tasche für schnell verkohlende – Cigarren! … Wer Ihr Herz besitzt, ich sagte es vorhin … Herr von Terschka wird eine große gesellschaftliche Stellung einnehmen, wird Sie in das schöne Wien entführen, dort werden Ihnen Glück und Reichthum lächeln! … Fliegen Sie mit ihm zu Roß dahin in flatterndem Gewande! … Aber nehmen Sie ein Wort von mir zum Abschied! … Ich bin Ihnen nichts mehr und nun – nun bin ich mir noch weniger, als schon seit lange … Ihre Tante hat recht, mich wie einen Zigeunerknaben zu behandeln, den man nur aus Barmherzigkeit aufnimmt … Ich bin ein verflogener Vogel und passe für euere Käfige nicht … Doch ich werde Sie wiedersehen; das weiß ich … Wissen Sie, Armgart, daß ich auch Das sicher und fest weiß – daß ich Sie trotz Ihrer von unserm Glauben gebotenen Himmelskronen – ich weiß nicht warum! – unglücklich 369 finden werde? … Und Sie bejahen das –? … Aber auch Ihr räthselhaftes Martyrerthum wird Sie nicht befriedigen! Es gibt Naturen, die nicht aus Erdenstoff geschaffen scheinen und die dennoch mehr den Gesetzen der Erdenschwere unterliegen, als die gemeinen! Ihre Mutter schon rettete sich nur durch eine Flucht ganz aus der Welt heraus vor Gefahren, in die nun auch Sie sich begeben wollen; Ihre Mutter wird von Tausenden verurtheilt, ohne daß sie es verdient; sie wird verurtheilt und – sie leidet darunter … Auch Sie, Sie, Armgart – werden den Beifall der Menschen vergebens suchen, wenn Sie ihn nicht mehr finden können … Ich erschrecke vor Ihrer Zukunft!

Armgart erwiderte leise und sprach lange. Terschka konnte nichts verstehen, als daß sie nur vom Beifall Gottes und von ewiger Trennung sprach …

Endlich wurde alles still …

Die Thür ging … Noch hörte Terschka nur ein plötzliches, heftiges, aus tiefster Seele kommendes Schluchzen …

Armgart mußte allein sein … Ihr Weinen wurde zuletzt so heftig, daß es sein Innerstes durchschnitt …

Anfangs wollte er hinüberstürzen, sich ihr zu Füßen werfen, die Liebe, die wirklich nur ihm, ihm geweiht sein konnte, ablehnen, wollte die Wahrheit bekennen, daß er Priester wäre, ein gerade in ihren Augen todwürdiges Verbrechen begehen würde, schon an ihren Besitz auch nur zu denken – – Dann aber erschreckten ihn – erst die Thränen Armgart’s … er konnte ihr Weinen nicht mehr hören … Er verlor die Besinnung … Leise schlich er auf den Zehen durch die Zimmer zurück, kam zum großen Speisesaal, öffnete die Thür, die in 370 den Corridor führte … Alles war still … Niemand wol hatte ihn beobachtet … Durch ein Fenster in den Hof blickend, entdeckte er Thiebold und Benno, wie beide schweigend, vernichtet, erstarrt zur Erde blickend zum Portal des Schlosses hinausgingen, wahrscheinlich um gemeinschaftlich nach Witoborn – und in ein neues Leben zurückzukehren …

Die Mittagsglocke läutete, die alles in dem kleinern Speisezimmer vereinigte …

Tischgenossen, die der Zufall brachte, gab es in dem gastfreien Hause genug …

Nun schon trat Armgart hinter Terschka hervor … Tief verweint waren zwar noch die Augen … Doch rang sie schon nach Unbefangenheit …

Herr von Terschka, sagte sie mit leiser Stimme, ich will Nachmittag nach Heiligenkreuz …

Der Wagen ist schon für die Damen bestellt! sagte er … Wie mußte er sich beherrschen, nicht ihre Hand zu ergreifen … Nicht in die Augen konnte er ihr sehen …

Es sind mir ihrer zu viel …

So bestell’ ich zwei Wagen …

Ich will zu Fuß gehen …

Es wird Abend werden, ehe Sie fortkönnen …

So können – so können Sie mich ja – begleiten …

Damit stand Terschka allein …

Auf dies Wort „begleiten“ kämpften Himmel und Hölle …

Terschka begriff vollkommen, was in Armgart vorging … Sie hatte ein Gelübde gethan, um den versöhnten Aeltern anzugehören. Sie glaubte: Er wäre ein 371 Hinderniß dieser Versöhnung –! Die Mutter wäre im Begriff, ihn zu lieben –! Deshalb – Deshalb –! Wie Glühstrom fiel es auf ihn: Deshalb reißt Sie mich mit Gewalt von einer eingebildeten Liebe ihrer Mutter los und will mich selbst gewinnen – – – Die Möglichkeit, daß ein solcher Gedanke in ihr entstehen, dies Ertödten ihrer Neigung zu Benno möglich sein konnte, übersah er … Armgart war katholisch! …

Sollte er nun dies Wahngebild sich immer weiter ausbilden, immer verheerender im Herzen der lieblichen Jungfrau um sich greifen lassen? Um sich greifen lassen auf Grund einer Voraussetzung, die – das sah er ja beschämt – in Betreff Monika’s eine völlig unbegründete war und auf Verwickelungen hinausführte, die nie zu lösen schienen –?

Im Abenddunkel sah seine Aufregung ihn mit Armgart allein dahinschreiten durch die Winterlandschaft …

Im Geist sah er Armgart neben sich, im Pelz die Hände bergend, deren eine er vielleicht, von seinem Glück überwältigt, verwegen ergriff beim Eintritt in den dichtern Tannenforst …

Im Geist hörte er, was sein Uebermuth, sein Leichtsinn ihr zu sagen wagen würde: Wie hab’ ich Sie einst schon gesucht an jenem stürmischen Regentag, als die Jugend von Lindenwerth zur Villa in Drusenheim kam! Wie zog mich Ihre Flucht Ihnen nach! Den schnellsten Renner hätt’ ich satteln lassen mögen vor Eifersucht, nur um der Dritte sein zu können unter denen, die in Ihrer Nähe weilen durften …

Dann sah er Eulen auffliegen, die den Schnee 372 von den Aesten verschütteten, auf denen sie gesessen … Rehe, Hirsche – Unthiere, sah er aufgescheucht vom Vortreiben zur morgenden großen Jagd, durch die Gebüsche brechen … Der Mond stieg am äußersten Rand des Horizontes empor … Ausmalen mußte er sich, wie er würde Abschied nehmen müssen an der Allee, die nach Heiligenkreuz führt, und wie er würde zurückkehren, wenn sein alter, gewohnter Lebensübermuth ihn übermannt hätte … Toll, toll würde er in die Nacht hinauslachen, bis – – plötzlich aus den Büschen an jedem Seitenwege ein Bote seines vergangenen Lebens träte – Jean Picard, sein Gespiele – Franz Bosbeck, sein Lebensretter – van Prinsteeren, der ihn einst zuerst aufs Pferd gehoben – jener Schweizersoldat, der ihn mit in die Alpen nahm – er hörte das Stampfen der Rosse in der Kaserne der Lanzenreiter zu Rom – sah die Benfratellen, wie sie ihn in das Spital an der Tiber trugen – dann hatten sie alle, alle Todtenhemden an und Larven über dem Antlitz; es war die Bruderschaft della Morte …

So noch fiebernd, so in Jesuitenart schwankend, so im zagenden Begriff zur Gesellschaft einzutreten, erschütterten ihn zwei Thatsachen, die dann noch zu gleicher Zeit auf ihn eindrangen …

Um ihn her war es plötzlich seltsam lebendig geworden …

Er sah, daß es die Anzeichen einer neuen Vision der Gräfin waren …

Er hörte, daß Stimmen des Erstaunens durcheinander gingen …

Er sah Bonaventura kommen … sah diesen von 373 Tante Benigna, von Onkel Levinus in hastigster Aufregung begrüßt, sah das Erbleichen des Domherrn, als ihm die Mittheilung wurde, daß Paula im Hochschlaf läge und von den schmerzlichsten Anschauungen gefoltert würde …

Zu gleicher Zeit bemerkte er aber auch auf dem Corridor, der zu seinen Zimmern führte, im weitesten Hintergrunde und grell von einem Sonnenstrahl beleuchtet – einen Mönch …

Ein Lebender war das, der da herkam, aber seine funkelnden Augen schienen zwei Flammen aus den Höhlen eines Todtenkopfs zu sein … Die Kiefern des Mundes bewegten sich … Sie lächelten ihm von weitem so freundlich, daß die Grübchen auf den Wangen sich ausfüllten wie mit Blumen unter Leichensteinen … Ein langes, weites, braunes Gewand hing wie über einem Skelet, das lässig, doch absichtsvoll daherschritt …

Herr von Terschka? riefen Diener im Hintergrund … Ist dort! sagten andere und schossen an ihm vorüber …

Ahnend stand Terschka an der Schwelle des Eintrittsaales am Weihebecken …

Der Mönch näherte sich …

Zugleich sprach voll Schrecken Bonaventura, der neben Terschka stand: Um Gott, was sieht sie? …

Eine Feuersbrunst! riefen mehrere Stimmen vom grünen Zimmer her …

Unter Terschka wankte der Boden …

Der Mönch kam näher und näher …

Voll Schmerz und Verzweiflung liegt sie! erzählte 374 man durcheinander … Sie sieht ein Haus in Flammen! Sie fürchtet zu verbrennen! Kommen Sie! Helfen Sie, Herr Domherr!

Aber auch der, der einst Terschka aus den Flammen gerettet, kam näher und doch schien der Corridor sich weit, endlos zu erstrecken bis zu den Corridoren und Kerkern – des Al Gesu in Rom …

Jetzt hielt der gespenstische Bruder einen Brief empor, der nur an Terschka gerichtet sein konnte, denn auf ihn, ihn blickte unverwandt das freundliche Nicken des Todtenhauptes …

Es ist das Schloß, das brennt! berichteten neue Stimmen und riefen Bonaventura, dessen Hand Onkel Levinus ergriffen hatte, als sollte er Hülfe bringen und Paula beruhigen …

Das ist Hubertus! sagte sich Terschka und an seinem Arm brannte das Mal in lichterlohem Feuer …

Bonaventura war aus dem Vorsaal in das grüne Zimmer getreten wie ein Hülfebringender, wie ein Rettender vor dem Tod in Feuersgluten, die er um sich her, seiner Ahnungen eingedenk, durch die Fenster hereinbrechen, rings das Gebälk ergreifen, eine Welt in Asche legen sah …

Und auch Terschka sollte folgen … Onkel Levinus erwartete es und harrte .…

Doch der Mönch, was will – der Mönch? …

Bruder Hubertus! sagte Onkel Levinus, ihn erkennend und nach obwaltenden Umständen erfreut begrüßend. Sie kämen schon zurecht, um auch hier aus Flammen zu retten? Die Gräfin hat eine schwere Vision …

375 Bruder Hubertus trat lächelnden Mitleids näher, verbeugte sich, zuckte die Achseln, als wisse er gegen solche Offenbarungen der Gottheit keine Hülfe, und übergab an Terschka, diesen immer mit seinen Augen wie verschlingend, den Brief, den er ihm schon so lange entgegenhielt …

Terschka ergriff den Brief … Das Siegel war geistlich – – noch kam es nicht aus Rom … Pater Maurus, der Provinzial der Franciscaner, schrieb ihm nur unter dem großen Siegel seines Klosters …

Terschka erbrach und las …

Jetzt zog ihn der Onkel, um das ihm wichtiger Scheinende in den Zimmern drinnen nicht länger zu versäumen …

Ich werde kommen! hauchte Terschka – gelblichbleich war er geworden wie der von der Wintersonne gefärbte Schnee auf den Feldern …

Noch einmal wandte er sich zu dem an der Thürschwelle harrenden und mit glühenden Augen ihn durchbohrenden Boten und sagte:

Ein Brief – für mich – schreibt Ihr Guardian wäre im Kloster angekommen – wissen Sie nicht – woher?

Mit einer Miene, die das seligste Gefühl ausdrücken sollte: Bist du denn, Mann mit dem mir so theuren Namen, mit der ahnungsvollen seltsamen Gestalt, bist du denn wol gar verwandt mit dem Kinde – oder selbst –? sprach dieser ein Wort, das dann für Terschka’s Ohr erklang wie die Posaune des Weltgerichts:

Aus dem Kloster der Piaristen zu Maria Treu in Wien!

376 Terschka – verschwand jetzt … Nicht zusammenbrechend, nicht niedergeschmettert von einem Wort, das ihm lauten durfte: Deine Stunde ist abgelaufen! sondern wie mit einem Muth auf Leben und Tod … Er dachte an Armgart.

Der Mönch stand noch immer und sagte nur zu den Dienern staunend:

Wenzel von Terschka –!

Von den Vielbeschäftigten konnte dem Greise niemand Gehör geben.

Die Schlußkapitel dieses fünften Buchs erfolgen im Anfang des sechsten Bandes.

Fünftes Buch.#

Fortsetzung und Schluß.#

3 13.#

Noch in derselben Nacht schlug das Wetter um. Zum Schnee gesellte sich Regen. So begann die Jagd schon ganz mit Bestätigung der trüben Ahnungen, die Tante Benigna um die Nachtruhe gebracht hatten; Paula sah am Tag zuvor eine Feuersbrunst und zusammenstürzende Gebäude, die sie nicht zu nennen vermochte …

Terschka war heute schon in aller Frühe aufgebrochen und hatte zum Schloß Münnichhof, wo sich die Mehrzahl der Mitglieder des großen Jagdfestes versammeln wollte, einen Umweg über Kloster Himmelpfort gemacht …

Noch am Abend hatte er Armgart nach dem Stift Heiligenkreuz zurückbegleitet, war spät wiedergekommen, dann beim Thee nicht erschienen …

Bonaventura hatte sich unmittelbar nach der Vision entfernt … Mit leicht erklärlicher Aufregung hatte er Paula gefragt, welches Gebäude sie brennen sähe, und von ihr keine Antwort erhalten … Ja er magnetisirte sie, um ihr Auge zu schärfen … Sie verfiel dadurch in einen 4 desto sanftern Schlummer, aus dem sie Niemand mehr wecken mochte …

Onkel Levinus gehörte einer Familie an, die in den frühern geistlichen Zeiten die Landoberjägermeister der Fürstbischöfe von Witoborn gewesen waren. In jagdgemäßen Traditionen war er aufgewachsen. Aber von dem Ideal eines Nimrod stand er so weit entfernt, daß Tante Benigna vollkommen Recht hatte zu befürchten, man könnte statt der erlegten Hirsche und Rehe auch allenfalls ihn selbst, den weiland Candidaten des Erblandoberjägermeisteramts, auf dem Beutewagen nach Hause fahren. Wie sie ihm die Pelzkappe darreichte, den Fußsack seinem Leibschützen Soetbeer auf die Seele band, ja sogar diesem zuflüsterte, wenn der Baron einen feuchten oder zu langen Stand im Walde bekäme, den Fußsack bei der Hand zu behalten; wie sie das Lederfutter untersuchte, in welchem die prachtvoll damascirte Doppelflinte geborgen lag, da hätte nur die – frühere Armgart gefehlt, um diesen Abschied aus dem Tragischen ins Komische zu übersetzen.

Onkel Levinus bewegte sich in seinem Jagdcostüme, zu welchem sich noch die Wildschur gesellte, wie ein „Pelzmärtel“ zur Weihnachtszeit. Aus Bär und Zobel konnte man ihn kaum herausfinden. Das Gesicht war erkennbar nur an zwei Brillengläsern, ohne die er heute behauptete keinen Rehbock zu treffen. Bei seinen Fabrikationen von Berliner Blau, Stärkemehl, Pottasche und künstlichen Düngererden hatte er nie die Brille nöthig; nur auf die Jagd nahm er sie mit, um den Spott, der ihn als Abkommen so vieler fürstbischöflicher 5 Erblandoberjägermeister unfehlbar heute treffen würde, durch ein „kurzes Gesicht“ zu mildern. Und dann war Graf Münnich als ein „schußneidischer“ Cavalier in der ganzen Gegend bekannt. Der ist eifersüchtig auf jeden Schuß, der nicht aus seiner Büchse kommt! sagte der Onkel mit einem Ton, als fielen heute mindestens durch seine Kugel ein Dutzend Rehe …

Eine Jagd in einem Walde, der im Frühjahr nicht mehr sein wird! seufzte Paula beim Abschied …

Ja, alles wird weggeschossen, was Haar oder Federn hat! renommirte der Onkel …

Bitte, bitte, Baron! fiel die Tante ärgerlich über einen so gefährlichen und herausfordernden und noch dazu, sie wußt’ es ja, nur affectirten Ton ein; bitte, sehen Sie nur zu, daß man Ihre Pelzmütze schont!

Die Tante ließ es noch zweifelhaft, ob auch sie zu den Transparentbildern Püttmeyer’s, die Nachmittags den Damen der vornehmen Jäger gezeigt werden sollten, kommen würde … Sie wußte, es gab nachher ein stattliches Jagdbanket, und die Trauer Paula’s gestattete weder ihr, noch Paula, sich in diesem Grade in die Zerstreuungen des Weltlebens zu mischen … Von Armgart, sagte sie, ließe sich erwarten, daß sie mit den Stiftsdamen auf Schloß Münnichhof zu Püttmeyer’s Triumphen kommen würde; diese hätten drei Equipagen aus Witoborn bestellt … Zwei Stiftsdamen, Fräulein von Merwig und Fräulein von Absam, gehörten sogar zu den Jägerinnen und waren berühmt durch ihren Muth und ihre Fehlschüsse …

Mit der Versicherung des Onkels, daß man sich 6 verlassen könnte, er würde sich weder zu lange an dem Banket, noch an dem selbst in dieser frommen Sphäre nach den Jagdpartieen üblichen hohen Spiel betheiligen, entzog er sich endlich dem beklommenen Abschied … Das leichte, trotz des Schneeregens offene und freie Jagdwägelchen rollte von dannen.

Unterwegs pfiff der Wind nicht wenig. Die Brillengläser des kühnen Jägers beschlugen; oft verlor er den Athem, wenn der Wind umsetzte und Leibschütz und Kutscher, die vor ihm saßen, nicht mehr als Windfang dienen konnten. Dennoch wurde er nicht müde, Jagdanekdoten theils selbst zu erzählen, theils sich erzählen zu lassen, Anekdoten, die bis in die glänzendsten Zeiten seiner Familie hinaufreichten und dem Ausspruch: Ecclesia sanguinem abhorret! keineswegs entsprachen; denn immer handelte sich’s darum, wie Se. hochfürstbischöflichen Gnaden dazumalen entweder selbsten die Sau abgefangen oder sich von einem sichern Standorte aus Flinte auf Flinte, bereits geladen, hätten darreichen lassen und die herbeigetriebenen Rehe und Hirsche zum „Plaisir Serenissimi“ zusammengemördert hätten …

Gegen zehn Uhr war man auf Münnichhof …

Auf diesem stattlichen Herrensitze, der noch mit Zugbrücken und einer Anzahl Lünetten für noch vorhandene alte eiserne Böller, mit Wällen und in einem großen ringsumher gehenden Arm der Witobach mit vorgeschobenen Eisbrechern oder sogenannten Dücs d’Alba ausgestattet war und im Innern des Hofs in die Blüte und Herrlichkeit des siebzehnten Jahrhunderts zurück-versetzte, fand man den größten Theil der Gesellschaft 7 wieder, die neulich dem Freiherrn von Wittekind die letzte Ehre gegeben hatte …

Der Hof war belebt von dem Jagdzeug des Grafen, das mit den Contingenten der benachbarten Herrschaften, vorzugsweise dem großen Jagdpersonal der Dorstes vermehrt worden war. Da standen die Wagen für die Jagdtheilnehmer und für die gemachte Beute. Treiber und Jagdbursche hielten die Schweißhunde an der Leine und mancher von letztern trug noch am Halse die „Korallen“, einen Stachelring, nach dessen Abnahme man voraussetzen konnte, das gereizte Thier würde um so gieriger an die wilde Arbeit gehen. Der musikalische Theil der Jagd war durch einige horngeschickte Jäger, vorzugsweise durch die in Jagdcostüme gekleideten Trompeter der Husarengarnison von Witoborn vertreten, ja sogar ein Bajazzo fehlte nicht – der buckelige Stammer hatte sich vom gräflich Dorste’schen Oberförster ein Costüm erbettelt und blies aus Leibeskräften mit den übrigen. In seiner grünen Mütze mit einer Feder sah er aus wie ein Heusprengsel und die Gräfin von Münnich, eine fromme Dame, die ohne eine kirchliche Buße nicht ins Theater ging, mußte im Kreise ihres Besuchs wider Willen über ihn lachen, als sie auf einen Balcon hinaustrat, der in den Hof ging, angelockt von einem Hornsolo, das jedoch des Guten zu viel that und in Dissonanz verendete …

Zu der Blüte des Adels, zu jungen und alten im Bann der hiesigen Anschauungen lebenden Cavalieren, auch Offizieren der benachbarten Garnisonen, hatte sich schon jetzt eine nicht geringe Anzahl Frauen gesellt. 8 Amazonenhaft traten nur einige wenige auf. Mit Spannung erwartete man vorzugsweise die Damen aus dem Stifte … Die Fräulein von Merwig und von Absam blieben ohne Zweifel schon auf dem für den Beginn der Jagd abgesteckten Standorte zurück, an dem sie vorüberfahren mußten und wo sich alle diejenigen einfinden wollten, die erst über Münnichhof einen Umweg gemacht hätten …

Terschka war nicht zu sehen … Jeder fragte nach ihm … Fest stand, daß ihn seine Ritterlichkeit heute wieder zur Hauptperson des Tages machen würde … In der That schon mit „Schußneid“ sagte das Graf Münnich, ein schlanker, von Kopf bis zu Fuß jagdgemäß gerüsteter Herr, dessen Aufregung unter den zwanzig bis dreißig Cavalieren die lebhafteste war …

Benno und Thiebold sollten gleichfalls kommen … Letzterer als baldiger Herr des heute und bis zum Frühjahr zum letzten mal vom Jagdruf widerhallenden Waldes … Der auch an ihn ergangenen Einladung hatte er um so weniger widerstehen können, als er nach den gestrigen schmerzlichen Erfahrungen für Benno’s ihn „jetzt ängstigenden“ Trübsinn und den minder gefährlichen eigenen die erheiternde Wirkung eines solchen Vergnügens geltend machte, auch „nicht leugnen“ konnte, daß ihm ein vom jungen Tübbicke in Witoborn schleunigst nach dem Modejournal angefertigtes Jagdcostüm nicht übel stehen müßte …

In dem großen Ahnensaal, in welchem neben den bis weit über den Westfälischen Friedensschluß hinausreichenden Familienporträts die wunderbarsten Hirsch-9geweihe hingen, solche sogar, die mit Baumästen verwachsen waren, nahm man ein Frühstück ein. Dann wäre man, da die, welche noch fehlten, auf dem gewählten Schießstande im Warten ungeduldig werden konnten, unfehlbar aufgebrochen, wenn sich nicht die Scene auf eine eigenthümliche Art durch das Eintreten einer Persönlichkeit geändert hätte, deren Erscheinen hier Niemand erwartete.

Ein magerer Herr in mittlerer Statur, in der sogenannten Armeeuniform, die Brust mit Orden bedeckt, trat ein … Hinter ihm folgte ein Jäger, der, wie alle Leibschützen, die Flinte seiner Herrschaft trug …

Der Landrath! ging es mit einstimmigem Murmeln durch die Reihen der aus ihren schon wieder angezogenen Pelzröcken und Ueberwürfen kaum erkennbaren Physiognomieen …

Niemand war bestürzter, als der Wirth, Graf Münnich selbst …

Was ist das? rief er erstaunt und allen hörbar …

Bald stellte sich heraus, daß den Landrath von Enckefuß Niemand eingeladen hatte …

Noch mehr … Der feierliche Aufzug des in dieser Sphäre schon lange durch die Zeitereignisse Proscribirten hatte etwas Beängstigendes … Daß dieser weiland „schöne Mann“, ein alter Cavalerieoffizier, sich mit der größten Beflissenheit seinen Bart, sein Haar gefärbt, ja sogar die Runzeln seines fast fleischlosen und nur aus Haut und Knochen bestehenden Kopfes weggemalt hatte, überraschte Niemanden. Auch heute hatte er seine allbekannte Toilette, dieselbe Chevalerie mit den Damen, 10 dasselbe stramme Auftreten mit den hohen Stulpstiefeln, dieselben Scherze, die man an ihm gewohnt war … Aber in so seltsamer Uebertreibung kam alles an ihm zum Vorschein, daß man annehmen mußte, entweder hatte er bereits seinem vormittägigen Lieblingsgetränk, dem Cüração, stark zugesprochen oder er befand sich in allem Ernst in geistiger Unzurechnungsfähigkeit …

Sofort bildete sich eine Phalanx gegen den Vertreter der Regierung, gegen den Mann, der einen Bruder des Kirchenfürsten im Duell erschossen hatte, gegen den Freund des Kronsyndikus, gegen den Vater des Assessors, des jetzigen Rathes von Enckefuß … wiederum sah man die große Kluft des Vaterlandes und immer peinlicher wurde die Verlegenheit für den Jagdherrn … Allgemein stellte man ihm in ergrimmter Aufregung die Zumuthung, er solle den unberufenen Eindringling bedeuten, daß sein Eintreffen auf Schloß Münnichhof ein Misverständniß wäre … Sogar die Gräfin besaß den Muth, die Bedenklichkeiten ihres inzwischen zaghafter gewordenen Gatten zu überwinden und mit der Würde ihrer äußern Erscheinung, mit dem Hochgefühl ihres Zusammenhangs mit dem Träger der dreifachen Krone, den Landrath auf ein Misverständniß aufmerksam zu machen … sie wollte sagen, daß sie sich ein Gewissen daraus gemacht haben würde, den Herrn von Enckefuß „mit Elementen“ zusammenzuführen, „die ihm höchst unangenehm sein müßten“ …

Jetzt aber erfuhr sie durch die Dienerschaft, Herr von Enckefuß wäre durch die Nichteinladung zu einer Jagd, an der jeder Adelige der Gegend theilnähme, in einem 11 Grade beleidigt worden, daß man ihn seiner für nicht mehr mächtig halten könnte. Stündlich hätte er die Einladung zur Jagd abgewartet, hätte sein Schießzeug hervorgesucht, es selbst geputzt, seinen Hund angeredet: Sie danken dich ab, Caro! Sie werfen dir einen Knochen vor, Caro! Sie setzen dich außer Brot, Caro! Dann wäre seine Ungeduld gestiegen, immer hätte er gefragt: Keine Einladung vom Grafen? Keine von Baron Levinus? Keine von Herrn von Terschka? Seit gestern hätte er dann eine Miene angenommen, als wäre die Einladung wirklich erfolgt. Nun hätte er seinem Bedienten befohlen, sich als Jäger anzukleiden. Auf die Einrede, er irre sich, die Einladung fehle, hätten die heftigsten Zornausbrüche geantwortet, sodaß man zuletzt vorgezogen, zu schweigen und sich in alles zu fügen. In diesem Zustand erschien er und scheinbar nicht im mindesten stolz. Er sprach leutselig mit allen, wie wenn sie seine besten Freunde und Bekannte wären … Ein ängstlicher Waffenstillstand zwischen zwei feindlichen Lagern …

Hinein in die Unentschlossenheit, was nun zu beginnen wäre, in den unheimlichen Eindruck des so außerordentlich sichern, ja fröhlichen Benehmens des Landraths ertönten die Signale des Aufbruchs, die Rüden schlugen an, johlten und heulten vor Jagdungeduld, die Jäger klatschten mit den Peitschen, der Zug kam in Bewegung, noch ehe man den Landrath entfernt hatte. Auch jetzt folgte er wohlgemuth und setzte sich auf einen der Wagen, gerade wie wenn er dazu gehörte. Da sein Diener nicht jagdkundig war, blieb derselbe zurück. Es schloß sich dafür dem Landrath ohne 12 weitere Weisung einer der jedem Jagdtheilnehmer zum Beistand beorderten Jäger an …

Die Fahrt dauerte nicht allzu lange. Bald gelangte man in den von hohen Tannen und Buchen bestandenen Wald … Es war die letzte große Jagd in einem Walde, der hundert Jahre bedurfte, um das wieder zu werden, was er war …

An einer Eichenschonung stand unter zwanzig Männern, die hier schon zu Fuß und zu Wagen harrten, einer, der sich in stillem Träumen das auch sagte und rings um sich blickend nachfühlte. Wie wenig liegt ein feiner Sinn in den Auffassungen der Menschen! Wie gehen sie ruhig an Thatsachen vorüber, an denen ein anderer mit Schmerz verweilt!

Benno war es, der auch das sich sprach … In einen einfachen kurzen Militärmantel, grau mit rothem Kragen, war er gehüllt, einen Mantel, den er über seiner gewöhnlichen Kleidung trug. Fest an den Hüften war der Mantel zusammengeschnürt und hob gefällig seine schlanke Gestalt; ein schwarzer bürgerlicher Hut bedeckte sein blasses, leidendes Antlitz … Ueber Thiebold mußte er lächeln, der in einiger Entfernung einen Kreis um sich hatte, dem schon wieder in bester Laune von ihm seine amerikanischen Abenteuer und sein berühmter Sturz in den Sanct-Moritz erzählt wurden …

Für Benno’s Jugendträume gaukelten hier die kleinen Elfen des Waldes daher dahin … Noch einmal hielten sie unsichtbar ihren letzten Reigen unter den grünen Tannen, schwangen sich zum letzten mal auf den Nacken des Wildes, um ihm einen Weg durch 13 das Dickicht zu bahnen vor seinen Verfolgern … zum letzten mal waren die kleinen Seen, die sich hier und dort im Walde fanden und zu denen sonst im Mondlicht die Hirschkühe ihre Kleinen zur Tränke führten, von den Schatten hoher Bäume bekränzt … Bald sollten diese Lichtungen, die sich unter der schmelzenden Schneedecke so geheimnißvoll und traulich im Holze öffneten, dem Winde preisgegeben sein, der über die zurückgelassenen todten Stumpfe der verkauften Stämme fegte … In einem Wald, den ein leichtsinniger Verschwender vor der Zeit lichtet, glaubt man oft Banket gehalten zu sehen von Junkern und geputzten Damen bei musicirenden Eichhörnchen und brummenden Borkenkäfern und taktschlagenden Spechten in den Zweigen … Hier, da der Wald zu Eisenbahnschwellen benutzt wurde, brauste die Locomotive daher und schnaubte und pfiff so teufels- und aufklärungsgemäß, wie nicht blos Norbert Müllenhoff gesagt hätte, sondern selbst Onkel Levinus wiederholte, der, je besorgter er jetzt wurde, desto mehr zu sprechen anfing … Benno war von ihm aufs freundlichste begrüßt worden …

Levinus plauderte schon deshalb, um sich dem Jagdhumor zu entziehen, der auf der Fahrt vom Schloß Münnichhof und hier bei dem Halloh der ersten Begrüßung sich auf seine Kosten zu entwickeln begann. Man fragte ihn, welche Nummer seine Brille hätte, wie viel Wild er heute würde am Leben lassen, ob er es unter einem Sechszehnender thun würde und so fort in jenem jagdüblichen Schrauben, das bei allen schon in vollem Gange war …

14 Ich kenne euere Pfiffe! rief Onkel Levinus. Ihr wollt uns nur sicher machen durch euere schlechten Witze! So wild werd’ ich darum doch noch nicht, daß ich mich vor Zorn mit dem ersten besten Stand begnüge, der mir angewiesen wird! Das ist so eine Ihrer bekannten Finten, Graf Münnich, uns im Spaß alles übersehen zu lassen! Wir Landesoberjägermeister kennen das!

Man befand sich auf einer mitten im Walde liegenden Fläche, die auf einige hundert Schritte weit von Knieholz unterbrochen wurde und sich zur Aufstellung einer doppelten Schützenreihe, auf jeder Seite zwanzig, hinter Busch und Baum, vortrefflich eignete. Eine Freifrau von Stein, die schon vom Schloß mitgekommen war, ließ sich in einem Tragsessel von zwei Bauernburschen ins Holz tragen; eine schon bejahrtere Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß watete selbst durch den Schnee mit Wasserstiefeln, die ihr bis an die Kniee gingen …

Die Wagen waren inzwischen nicht weit vom Eingang in den Forst zurückgeblieben …

In der Ferne und immer näher kommend hörte man schon ein Rasseln und Schlagen in den Büschen und der Oberförster versicherte, es wäre die höchste Zeit, die Posten einzunehmen …

Noch war keine rechte Einigkeit da, denn Terschka fehlte. Alle spähten nach ihm; nicht blos Onkel Levinus, nicht blos Benno und Thiebold, die hinter zwei mächtigen Erlenbäumen, die gabelförmig aus der Erde geschossen, zusammenstanden, Platz genommen hatten … Terschka’s Jagdkunst schien allen bestimmt, den Preis zu gewinnen …

15 Da er ausblieb, wollte man beginnen …

Der Onkel bedeutete die Signalisten und rief:

Diese Eile ist wieder nur eine euerer verdammten Finten! Statt mit Vorsicht und Bedacht die Plätze anzuordnen, wird nun alles mit Hast übers Knie gebrochen! Schweigt! Schweigt! sag’ ich. Die verdammten Intriguanten haben alles abgekartet!

Endlich hörte man nur noch Ein Signal blasen; es kam aus der Ferne. …

Das wird Terschka sein! hieß es …

Terschka kam in der That auf einer Jagdchaise dahergebraust und schon vor ihm – allgemeiner Jubel! – zogen im erweichenden Schnee drei Wagen voll Heiligenkreuzer Stiftsdamen, die eben Terschka einholen wollte …

Das war ein Grüßen jetzt und Rufen und Lachen und Spotten … Aus dem Gewirr der Regenschirme und Pelze und Schleier entwickelten sich zwei Jägerinnen, Fräulein von Merwig und Fräulein von Absam … Und nun ertönte plötzlich noch eine Salve von Bravis und schallendem Händeklatschen … Noch eine dritte Amazone sprang vom Wagen … Es war Armgart von Hülleshoven.

Thiebold und Benno trauten ihren Augen nicht … Sie riefen zum Erstaunen des Onkels diesem hinüber und jetzt nicht im mindesten zu dessen Schrecken … Levinus dachte nur an sich … Seine Stimmung wurde immer wilder und (vor Furcht) kühner: er lobte Armgart und verdammte alle Stubenhocker …

Benno und Thiebold betrachteten sich mit stockendem Herzblut … Es war Armgart … Armgart, die trotz 16 ihrer gestrigen Thränen aus dem einen der drei großen offenen Omnibus, der mit den andern zum Schloß Münnichhof weiter fuhr, heraussprang und von Terschka’s Armen aufgefangen wurde …

Sie trug einen blauen engen, gefütterten Tuchrock über einem grauseidenen Kleide, einen grauen runden Hut mit wallendem blauen Schleier, dunkle Handschuhe und einen carrirten blau-grün-rothen Plaid rings um ihre Schultern geworfen …

Ihr Antlitz war geisterblaß … Ihr Ausdruck, ihr Lächeln ließ ihre zwei weißen Zähnchen blinken, wie immer, wenn sie träumerisch abwesend war … Sie grüßte Niemanden, blinzelte nur zu den beiden weißen Erlen hinüber, wo Benno und Thiebold standen, und ging wie ein Opferlamm willig dorthin, wohin sie Terschka stellte … Ihr ganzes Wesen war gebunden, ihr Wille, des Menschen edelste Kraft, lag vor dem Altar der Gottesmutter … Das ist die katholische Macht des „Gelübdes“.

Der Onkel rief ihr ein Willkommen zu und allerdings sprach er noch drohend:

Na ja! Ich dachte mir doch gleich so etwas! Das wird schön werden – mit der Tante! Jetzt nur Vorsicht! Vorsicht, Herzenskind!

Benno sagte voll Grimm und Verzweiflung zu Thiebold:

Eine förmliche Erklärung wird das heute! Eine öffentliche Vorstellung vor der Gesellschaft! Sehen Sie nur, wie alles flüstert!

Auch Thiebold „war im Begriff, außer sich zu ge-17rathen“; aber hinter jedem der Jagdtheilnehmer stand ein Jäger und bediente das Schießzeug – man mußte etwas vorsichtig sein und that besser, zu schweigen …

Pancraz! rief aber auch Terschka wild auf und ein Jägerbursche, in der grün und gelben Livree der Dorstes, sprang hinzu und bot Armgart die Flinte, offenbar schon im Einverständniß und nach gestern Abend mit ihr getroffener Verabredung …

Sie nahm sie, wie wenn ihre Hand aus einer Urne ein Todesloos zog …

Trara! Trara! Trara! begann es jetzt überall und Halloh! Halloh! An die Plätze! rief man …

Nun lief alles und stellte sich erwartungsvoll … Der mittlere Plan war leer … Zwei Jägerreihen zogen sich vierhundert Schritt entlang … Am äußersten Ende stand der immer laut perorirende Landrath … Ein Rascheln, ein Knacken hörte man jetzt … Siehe da! Fünf Hirsche brachen aus der rechten Flanke des Quarrés, das die Gesellschaft bildete … Die Hunde, die noch an der Leine gehalten wurden, winselten … Die Thiere standen noch Keinem schußrecht …

Da plötzlich ruft eine Stimme – es war die des Grafen: – Tire haut!

Tire haut? … Alles lachte …

Der Lärm der Treiber hatte die gefiederten Bewohner der Baumkronen in Aufregung gebracht, aber der Onkel hatte ganz Recht, als er heftig lospolterte:

Was sind das für Sachen! Dieser verdammte Münnich! Nur die Aufmerksamkeit will er vom laufen-18den Wild ablenken durch die Vögel, die heute gar nicht in Betracht kommen! Es sind nur Flederwische da oben!

Doch über ihn her fiel Schnee von einem abstiebenden Auerhahn …

Pancraz sagte: Herr Baron! Oben „steht Alles ein“!

Während Armgart über den technischen Ausdruck von „einstehendem“ Geflügel vom Onkel eine Belehrung zugeflüstert bekam, erscholl es Piff! Paff! … Von allen Seiten … Vier Hirsche lagen; der fünfte war durchgebrochen …

Aber auch der Auerhahn stürzte herab … Diesen hatte Terschka geschossen …

Darüber gab es Verwirrung genug. Man hatte nun die Hunde losgelassen. Verwundet war das fünfte Thier entflohen. Auf dem Schnee sah man die Schweißspuren. Einige Hundert Schritt von der andern Flanke der Pläne, die man bestand, stutzte der Hirsch, machte, von den Treibern der andern Seite empfangen, Halt und wandte sich zurück. Nun stellte ihn die Meute und der Zunächststehende war berufen, das Thier zu schießen …

Es waren gerade Benno und Thiebold … Thiebold, „vorwitzig, wie auch nur ich sein kann“, schoß – schoß fehl … Jetzt legte Benno an – wollte losdrücken … Paff! Im Nu schon sank das Thier, von einer Kugel getroffen, die vom äußersten Ende der Jagdreihe kam … Der Landrath hatte geschossen … Aus einer Entfernung, wo ihm zum Schuß jede Berechtigung fehlte …

Darüber gab es denn einen gewaltigen Lärm … 19 Diese Anmaßung war gegen alle Regel … Die Kugel hätte fehltreffen, Jemanden verwunden, tödten können …

Zornig schrie man durcheinander … Dem Onkel wurde es immer wirrer zu Muthe … Das fortgesetzte Knallen der Büchsen – an andern Orten brach neues Wild durch – die Nähe der Schießstände, das Pfeifen der Kugeln, Armgart’s ihm jetzt doch „tollkühn“ erscheinende Anwesenheit, alles mahnte zur Vorsicht und in leibhafter Gestalt sah er Tante Benigna neben sich, die mit den ängstlichsten Warnungen ihn beschwor, sich um aller Heiligen willen in keine Gefahr zu begeben … Jetzt auch bemerkte er die geheimen Instructionen, die sein Leibschütz Soetbeer mitbekommen … Hätte Soetbeer vor dem jetzigen Durcheinander etwas von „Fußsack“ merken lassen, würde der Onkel es ihm schön gegeben haben; nun, in dem Geknatter und dem Pulverdampf, ließ er alles zu seinem Besten geschehen …

Ein Rehbock kam mit zwei Riekchen und ging dicht an ihm vorüber … Der Rehbock kam erstaunt und nicht einmal besonders geängstigt „dahergestapelt“, wie Fräulein von Merwig rief – die Familie des Fräuleins hing nach dem Onkel unfehlbar mit dem Geschlecht der alten Merovinger zusammen – der Bock schien zu wissen, daß wenigstens die beiden Rieken, die ihn begleiteten, sonst vor dem Schusse sicher sind, da man Weibchen nicht schießt; es galt aber einen Vertilgungskampf. Unter dem Beileid der kunstgerechten Jäger brachen auch diese zarten Thierchen zusammen und mit so vielen Kugeln, daß sich darüber neuer Streit erhob …

Armgart war schon in fieberhafter Erregung gekom-20men … jetzt stand sie zitternd und hielt sich an Terschka, der nach dem Meisterschuß auf den Auerhahn nicht mehr schoß und nur links und rechts spähte, vorzugsweise hinüberschielend auf Benno und Thiebold … Benno gehörte plötzlich zu den wildesten Jägern … Jede Ladung suchte er so schnell wie möglich los zu werden … Thiebold bat ihn wiederholt, sich zu mäßigen … Nach seinem Fehlschuß hatte er die Courage verloren … Armgart kam ihm vor, sagte er, als wollte sie das Ziel aller Kugeln sein … Und doch schien sie ein überirdischer Geist, den keine Kugel treffen konnte …

Inzwischen fuhr der Landrath fort, eine Unvorsichtigkeit nach der andern zu begehen. Eine seiner Kugeln ging dicht am Handgelenk der Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß vorüber … Die Fräulein aus dem Stifte, ohnehin gegen ihn tendenzgereizt, sprachen über den „tollen Mann“ in Ausdrücken, die keineswegs verriethen, daß auch sie zu den Dichterinnen im Stifte gehörten …

Auf der Jagd, in der Hitze des erregten Blutes, wählt man die Ausdrücke nicht und so hörte der Landrath eine Beleidigung nach der andern …

Seltsam jedoch, er brach auf alles, was ihm von nahe und von fern zugerufen wurde, in Gelächter aus … Man würde ihn fortgewiesen haben, wenn nicht jetzt auf ein gegebenes Signal der Stand geändert worden wäre, um mehr ostwärts zu ziehen. Dem Oberförster kam des Wildes zu wenig … Auf Rechnung des Win-21des schrieb er’s … Nun trat alles aus den Büschen hervor und zog weiter …

Onkel Levinus aber war entschieden dafür, daß man erst den Mann entfernte, „durch den hier heute noch ein Unglück entstehen würde“ … Alle die, welche schlecht geschossen hatten, unterstützten seine Meinung …

Meine Damen! rief der Landrath im Dahinwaten über die Pläne, wo inzwischen schon das gefallene Wild von dem dazu bestimmten Jagdpersonal schnell ausgeweidet wurde … Amor schießt blind, immer blind und trifft doch! Haha! Hier soll man bei offenen Augen die Kugel im Lauf behalten? Korn und Visir! Ein Blinzeln von so schönen Damenaugen – und ich gehöre gleich zu den lumpigsten „Schneidern“, die’s nur geben kann – Meck! Meck! Meck! Meck!

Die Amazonen, selbst die hinter Terschka einherschleichende und Benno und Thiebold wie ihr Gewissen vermeidende Armgart nicht ausgenommen, waren Kennerinnen der Jagd genug, um zu wissen, wie von ihm dies Meck! Meck! spottweise gerufen wurde, weil schlechte Schützen „Schneider“ genannt werden. Fräulein von Merwig hatte den beständigen Beinamen des „Fräuleins von Anflicker“, den sie von ihrer Leidenschaft für die Jagd und ihrer geringen Trefffähigkeit fürs Leben zu behalten fürchten mußte. Doch schon aus dem Aerger, den sie über diesen Spottnamen empfand, konnte man sich denken, wie verletzend es wirkte, daß nun der Landrath allen Jagdgenossen unausgesetzt sein höhnisches Meck! Meck! nachrief …

Die gutmüthigsten Naturen können auf der Jagd, 22 besonders wenn die Füße kalt werden und die Hände lieber in den Pelzhandschuhen stäken, als harrend am kalten Lauf der Flinte, einen determinirten Anflug von Malice bekommen. Jetzt riefen sogar schon die früher schweigsamern Stimmen: Ungebetene Gäste wirft man zur Thür hinaus! Andere: Werft das Gescheite (das Eingeweide) in den Busch für die Füchse! Andere wandten sich zu den Damen: Meine Damen, Sie sprechen von Amor? Wir haben allerdings einen blinden Passagier unter uns!

Graf Münnich wollte keinen Eclat und bot alles auf, den Frieden zu erhalten …

Darüber kam man an den neuen Stand, den der Oberförster bereits angeordnet hatte. Es war wieder eine Pläne, hier rings nur von Tannendickicht umgeben …

Leider hatte sich der Oberförster verrechnet …

So lange man auch harrte, so lange auch die Treiber rasselten und mit ihren Knütteln an die Bäume schlugen, keine „Pfote kam heraus“ – zuletzt einen einzigen Hasen ausgenommen, dessen Erscheinen ein allgemeines Gelächter erregte …

Lampen schoß in natürlicher Großmuth als zu geringfügige Beute Niemand, sondern durch die Stände hindurch wurde der Geängstete hin- und hergewiesen, bis er den Damen fast so nahe zugetrieben wurde, daß sie ihn an den Ohren hätten fassen können …

Wieder störte der Landrath dies komische Intermezzo durch seinen aufgeregten Eifer. Er schoß den Hasen dicht vor den Füßen Armgart’s nieder und hätte diese, die sich nichts gewärtigte, leicht verwunden können …

23 Darüber brach der Unwille der ganzen Gesellschaft in helle Flammen aus …

Armgart lag halb bewußtlos an einen Fichtenstamm gelehnt; die Flinte, die sie, ohne zu schießen, in der Hand gehalten, war ihr entfallen; Benno und Thiebold waren auf halbem Wege ihr zu Hülfe gesprungen, ja setzten sich selbst darüber dem nächsten Schusse aus …

Ueber alles das entstand eine Scene der höchsten Aufregung …

Sie mehrte sich, als der Landrath vorsprang und rief:

Wer raisonnirt hier? Ruhe! Ich befehle! Ich!

Jetzt stand er wuthschäumend auf der Mitte der Pläne …

Ein gemeinsamer Ruf unterbrach ihn:

Er ist verrückt! Haltet ihn! Bindet ihn!

Wirklich schlug der tolle Mann um sich, drohte mit seiner Doppelflinte, deren einer Lauf wahrscheinlich noch geladen war, und würde ein Unglück angerichtet haben, wenn nicht Jemand hervorsprang, ihm die Arme zu halten. Man hielt Benno und Terschka zurück, auf die Jäger rechnend. Eine leicht erklärliche Scheu vor der ersten Verwaltungsbehörde der Gegend hielt die Nächststehenden noch eine Secunde ohne Entschluß –

Da theilten sich die Büsche und mit dem Rufe: Pax vobiscum! sprang mit auffliegender Kutte ein Franciscanermönch auf den Plan, hielt mit einem Arm die Flinte des Landraths und griff mit dem andern so geschickt beide durch die Luft fuchtelnden Hände des ungeberdig Drohenden und Rasenden, daß dieser zwar mit schaumbedecktem Munde sich fest und aufrecht erhielt, 24 aber auch bewegungslos verharrte, nur noch machtlos seinen Bändiger anstarrend …

Bruder Hubertus war es, der selbst weiland ein Jäger gewesen und den entweder das Gebell der Hunde, das Knattern der Flinten oder Terschka’s Anwesenheit angezogen hatte – im Kloster hatte er sich vor wenig Stunden ihm zu nähern gesucht und war von Terschka schnöde abgewiesen worden …

Die Gesellschaft, außer sich über den Vorfall, umringte die Gruppe und rief dem Mönch, der wie der bändigende Tod dastand:

Bewachen Sie ihn! Führen Sie ihn fort!

Ich will Ihnen Leute zurücklassen! rief Graf Münnich …

Der Mönch schüttelte den Kopf, sich verbürgend, er würde schon allein den Unglücklichen in Sicherheit bringen …

Inzwischen bliesen auf ein gegebenes Zeichen die Hörner … Schon zog sich die ganze Gesellschaft in den dichtern Wald … Armgart geführt von Thiebold – Terschka war im Augenblick, da Hubertus erschien, verschwunden …

Still und stiller wurde es ringsum … Die Signale nur hörte man, die den Treibern die Veränderung der Stellung ankündigten und die von diesen fernher wieder beantwortet wurden …

Ein einziger schreckenvoller Augenblick … Jedermann eilte, ihm zu entfliehen.

25 14.#

Wie in nächtlicher Waldeinsamkeit zwei kämpfende Hirsche sich ihre Geweihe so ineinander gebohrt haben können, daß sie sich nicht mehr auseinander zu winden wissen, die Kraft der Stirnen nachlassen fühlen und beide ermattet und zum Sterben bereit, ja wie im Tode zuvor noch versöhnt, zu gleicher Zeit hinsinken, so standen sich der Mönch mit dem Todtenkopf und ein Irrsinniger gegenüber …

Immer schwächer und nachgiebiger wurde der Widerstand des Wuthschäumenden, der barhaupt, ohne seine herabgefallene Mütze, dastand mit schweißbedeckter Stirn. Zuletzt begann er, wie aus einem Traum erwachend, in Ohnmacht zu sinken …

Der Mönch fing ihn mit ungeschwächter Kraft auf. Er hielt ihn unbeweglich in seinen Armen … Kein Laut, keine Anrede kam aus seinem Munde … Der Landrath brach zusammen und verlor die Besinnung …

Einsamkeit ringsum … Nur die düstern Tannen stille Zeugen des schreckhaften Auftritts …

26 Beide Männer auf dem schmelzenden Schnee stehend … Hubertus in Sandalen, der Nässe und Kälte nicht achtend, der Rittmeister mit Koth bespritzt bis zur Achsel … Ein Gegensatz zu dem sich weitab verziehenden Lärm der Jagd, zu dem Knallen der Büchsen, zu dem Bellen der Hunde, zu dem noch jeweiligen Durchbrechen des Wildes, das scheu und stutzend hielt, der den Muth und die Geistesgegenwart eines Helden herausforderte …

Den Arm des Landraths ließ der Mönch noch immer nicht. Er wollte ihn, wenn er zur Besinnung kam, verhindern, zu entfliehen und der Gesellschaft wieder nachzurennen; denn daß er mit einem Mann zu thun hatte, der das Licht der Vernunft verloren, hörte Hubertus bald an dem, was der Unglückliche allmählich zu sprechen begann …

Ich bin der Landrath –! sagte er erwachend …

Wohl! Wohl! Herr von Enckefuß! flüsterte der Mönch mit milder und beruhigender Stimme …

Nehmen Sie sich vor mir in Acht! Ich kenne Sie sehr wohl! fuhr der Rittmeister nach einer Weile fort …

Große Ehre, Herr Landrath!

Sie sind der Doctor Klingsohr!

Pater Sebastus jetzt!

Wie konnten Sie sich unterstehen, mich von meinem Freunde – Wittekind fortzuschicken? Das war ja mein bester, einzigster Freund! Und der – wollte doch sonst das Pfaffengesindel nicht! Laß mich, Kapuziner!

Der Mönch bedeutete den Rittmeister, der den Grafen Münnich mit dem Kronsyndikus verwechselte, auf 27 dessen Jagden er früher den Matador gemacht, mit nickenden Zustimmungen …

Nicht wahr? Ich bin eingeladen? fragte jetzt der Landrath kleinlaut …

Diese Worte wiederholte er öfter und mit Pfiffigkeit und fuhr dann stolz fort:

Mein Vater hat die Schlacht bei Belle-Alliance gewonnen! Sagst du auch: Wellington? Landesverräther! Man muß euch hier alle niederschießen! Alle! Eher kommt keine Ruhe und kein Patriotismus ins Land!

Beide gingen dabei schon fürbaß … Manchmal noch rangen sie, manchmal zankend, manchmal beruhigt still stehend … Der Mönch ermüdete nicht, durch Eingehen auf die Vorstellungen des kranken Mannes ihn zu besänftigen …

Der Tobende rief:

Ich werde euch zeigen, welche Verwandte ich habe! Ihr sollt euch wundern, wer meine Protection ist! Der König hat schon mehr als dreißigmal mit mir gesprochen! Betteln kann ich so gut wie andere, aber – ich gebe keine fünfzig Procent! Auf Spiel, da steht jetzt Strafe … Haha! Tangermann! Zimmer 15! Leutenant von Barnekow und Rittmeister von Enckefuß – nehmt euch in Acht! Rittmeister a. D. … Ade! … Soll ich denn mit Gewalt ein Müller werden?

Dies letztere Wort sprach der Verwirrte plötzlich fast weinerlich …

Ermuntert zur Nachgiebigkeit wurde er durch den Zuspruch des greisen Mönchs, der bald die Milde, bald die Energie selbst war, ihm in allem Recht gab, ihn in 28 dem Glauben bestärkte, daß er der vornehmste, geachtetste und arrangirteste Mann der Provinz wäre und doch wieder festhielt, wenn er ungeberdig um sich schlug … Hedemann, sagte Hubertus, das, das wäre ja der Müller, aber auch noch ein Oberst könnte hier ein Müller werden, setzte er plaudernd hinzu …

Fehlte irgendetwas, um dem in seinem Wesen einfachen, ja trotz seiner Kraft kindlichen Mönch das Vertrauen des Unglücklichen zuzuwenden, so war es die Erwähnung seines Sohnes …

Auf das Kichern und Lachen, mit dem der Landrath ein Dutzend mal auf die Erwähnung des Obersten hintereinander: Papiermüller! Papiermüller! rief, hatte er einen uneröffneten Brief hervorgezogen und stolz gerufen:

Na da kuck’ einmal! Das ist von meinem Sohn!

Von Ihrem Herrn Sohn? hatte kaum der Mönch wiederholt und von seiner letzten Reise her dessen hoffnungsvolle Carrière gerühmt, so leistete der Landrath keinen Widerstand mehr, sondern ergab sich ruhig, folgte und sprach, auf den Brief deutend, mit Behagen:

Ja, mein Sohn, der ist in drei Jahren Minister! Den Adlerorden, den hat er schon – er darf ihn nur noch nicht zeigen! Alles weiß mein Junge … Und wenn du schweigen kannst, Pfäffchen, sollst du hören, was mir mein Sohn geschrieben hat! Das ist die Handschrift, die an ihm der König so sehr liebt! Sein König! … Das kennt ihr hier zu Lande gar nicht, was es heißt: Mein König! … „Helft Leute mir vom Wagen ab“ (sang er mit leiser Stimme), „mein König trank 29 daraus!“ … Lies, Alter, und siehst du, der Bindestrich immer wie ein Grundstrich und der Grundstrich immer wie ein Bindestrich … Das hilft nun nichts! Etwas Apartes muß der Mensch haben!

Mit der feierlichsten Würde seine Autorität behauptend öffnete er den vielleicht kurz vor dem Verlassen seiner Wohnung empfangenen amtlichen Brief und ließ, während er ihn vorlesen wollte, den Mönch mit einsehen …

Nicht daß der Alte in der braunen Kutte neugierig war … Ihm genügte, daß diese Gedankenreihen den Wahnwitzigen zerstreuten und daß er hoffen konnte, ihn so allmählich zum Meyer von Borkenhagen, dem nächsten Ort, zu führen, wo er gedachte ein Fuhrwerk anspannen zu lassen, um den Kranken nach Witoborn in seine Wohnung zurückzubringen …

Plötzlich aber fiel ihm in dem Briefe, der eiligst und offenbar unter dem Siegel amtlicher Verschwiegenheit geschrieben war, ein Zeichen auf, vor dem ihn Schauder ergriff …

War in dem Briefe – von ihm selbst die Rede? …

Stammer (der als der Jagd unwürdig am fernen Waldrand bei der Wagenburg geblieben war) hatte an jenem Abend im Finkenhof Recht gehabt – Hubertus trug jenes bekannte Verbrecherzeichen auf seinem fleischlosen Arme … Was sollte das jetzt –? Er sah dies Zeichen abgebildet in diesem Brief …

Der Landrath hielt, wie ein Fernsichtiger, den Brief so weit von sich zurück, daß Hubertus während des Vorlesens mit einsehen konnte …

30 Aber merkwürdig, der Irrsinnige las etwas völlig Anderes, als was im Briefe stand …

Nur die Ideen las er aus ihm heraus, die in seinem Kopfe lebten, während Hubertus sogleich bemerkte, daß der Inhalt ein hochwichtiger und ihn persönlich betreffender war …

Der Landrath las: Lieber Vater – die Canaillen helfen einmal nicht – Dieser Kattendyk ist und bleibt ein Esel – Nück hat Dir den Tod geschworen – Deine Widersacher triumphiren! Halt’ aber aus, bis ich ans Ruder komme – Dann kann es mir und Dir nicht fehlen und Du zahlst es auch dem Präsidenten heim, gegen den Du viel zu lange zu stolz gewesen bist! – Warum lassest Du Dir Dein Schweigen nicht bezahlen? Warum schonst Du Räuber und Mörder und thust es umsonst? Weil Du zu stolz bist? Ha! Cavalier vom Tschako bis zum Sprungriemen! Lernt uns von Anno 13 kennen, einen Rittmeister von den braunen Husaren! Landfriedensbrecher! Ihr Römlinge! Die Cocarde erkenne ich euch ab! … Auf die Jagd bekommst Du Deine Karte so gut wie hier jeder andere von Distinction! Monsieur le Baron d’Enckefuss est invité à la chasse!

Mit dem Brief salutirte der Rittmeister an seiner wachsledernen Mütze, die Hubertus ihm von der Erde genommen, dann getragen und allmählich aufgesetzt hatte … Seine schwarzen Augen funkelten, die rothe Nase glühte, die Tusche seiner Gesichtsfarbe hatte sich im Regen verwischt und floß um den jetzt in seiner Grauheit sich verrathenden Bart. Jeder, der im Walde dahergekommen 31 wäre und hätte die beiden schreckhaften Gestalten gesehen, wäre bebend zurückgewichen …

Aber auch Hubertus hätte sich jetzt an dem Wankenden halten mögen … Sein Geist war mächtig in der Kraft des Willens, nicht in der Combination … Erst ohne Verständniß blickte er in die Schrift, die ihm der Landrath entgegenhielt, bald aber las er im klarsten Zusammenhange, die Pausen des Landraths nutzend, Folgendes:

„Lieber Vater! Eine Nachricht von Wichtigkeit, die ich Dir persönlich mittheile, damit Du Dir ganz allein das Verdienst dieser Entdeckung erwirbst und die Kränkungen, die der Parteigeist über Dich verhängt, durch Deine Thätigkeit beschämen kannst! Ein Verbrecher, der zwanzig Jahre in Frankreich auf den Galeren lebte, ist in unsere Gegend gekommen und hat sich sogleich bei seinem ersten Auftreten in seiner ganzen Gefährlichkeit gezeigt. Auf einem Kirchhof hat er einen Sarg erbrochen. Ein halbes Jahr hat er dann verstanden, sich in unserer Stadt an einem noch unbekannten Orte verborgen zu halten. Bei den Unruhen, die noch täglich in unserer Stadt über die Verhaftnahme des Kirchenfürsten sich wiederholen, wurde auch er bemerkt und ohne Zweifel steht er im Solde Nück’s, dieses verschlagenen, heimtückischen Menschen. Hammaker, der uns allerdings seit Jahren das Nück’sche Treiben beaufsichtigte, wollte erfahren haben, daß dieser Kerl in Eure Gegend gehen würde, um daselbst etwas auszuführen, was Hammaker nicht zu wissen behauptete. So viel weiß ich, daß Jean Picard oder Jan Bickert (Hubertus stockte im Lesen und 32 hielt sich an den vorstehenden Zweigen eines Busches) auf dem Wege in Eure Gegend ist, reich ausgestattet mit Geld. Suche auf Grund des nachfolgenden Signalements hinter eine mögliche Verkleidung zu kommen: Jean Picard ist gegen fünfzig Jahre, spricht schlecht deutsch, gut französisch, holländisch, hat mittlern Wuchs, röthliches Haar und eine stark orientalische Physiognomie. Auf seinem linken Arm befindet sich das Zeichen der französischen Galeren T. F.; auch soll sich, wie von der Verwaltung der Galeren in Brest geschrieben wurde, der holländische Verbrecherstempel (Hubertus starrte der Abbildung des Zeichens) auf ihm eingebrannt finden. Schließlich mach’ ich Dich aufmerksam, daß auch soeben in größter Eile von hier eine Dir vielleicht von früher her nicht unbekannte Dame Lucinde Schwarz auf Witoborn gereist ist. Beobachte die Schritte derselben! Um so mehr, als ich vermuthe, daß ihre plötzliche Abreise im Zusammenhang mit irgendeinem wahrscheinlich auf Nück’s Anstiften bezweckten Unternehmen des Jean Picard steht. Lucinde Schwarz wird Dir dicht in der Nähe sein und bei einer Frau von Sicking wohnen, an die sie von hier aus empfohlen ist. Beobachte sie und ihren Umgang und laß besonders das Schloß Westerhof bewachen, da ich eine Ahnung habe, daß sich gerade dort etwas ereignen könnte, was nicht in der Ordnung ist! Lieber Vater, in Eile … Dein treuer Sohn E.“

Schon auf eine bloße Anerkennung der vortrefflichen Handschrift des Briefes hin konnte der Mönch ihn ganz an sich nehmen und behalten … Seine knöcherne Hand zitterte, als er den Brief in seine Kutte steckte … Er, 33 der sonst so schnell Gefaßte, hatte die Besinnung verloren …

Denn seit Monaten suchte er ja zwei Menschen, deren Andenken ihm in dem Augenblick aufs lebhafteste entgegengetreten war, als er die Anzeige erhielt, eine ermordete Frau hätte ihm ein Vermögen von zwanzigtausend Thalern hinterlassen … Längst hatte er der Erinnerung an jene Entsetzliche sich entwöhnt … Sein Leben lag ihm nur noch im flüchtigen Augenblick … Nur in Gesprächen mit dem Pater Sebastus tauchte zuweilen ein altes buntes Bild verklungener Tage auf … Sebastus sagte noch kürzlich in seiner Krankenzelle zu ihm: Hubertus! Sie müssen in Java gelernt haben Liebestränke brauen! Gewiß hatte die Frau einen Trank von Ihnen gekriegt! Denn zeitlebens dachte sie nur an Sie und ich will nicht hoffen, fuhr Sebastus fort, daß Ihre Erbschaft das Ergebniß einiger Giftmorde ist, in denen ihrerseits Frau von Buschbeck ihre Force gehabt haben soll! … Hubertus, hocherstaunend, lehnte die Antretung der Erbschaft nicht ab … Die grausame Zerstörerin seines Lebensglücks war durch die Hand jenes Mannes gefallen, der ihn einst in jenen Convict begleitet hatte, wo er am Pater Fulgentius ein so ernstes Strafgericht gehalten, indem er den, der den Tod zu lieben vorgab, auch wirklich nicht verhinderte aus dem Leben zu gehen. Damals noch war dieser hingerichtete Jodocus Hammaker ein junger Mann von Bildung, von Talent gewesen, ein Mann von angenehmen, gefälligen Formen … Wie, hatte er gedacht, wie hatte ein solcher Mann so verwildern, so zum Mörder werden können! … Das weckte ihm sein eigenes ver-34gangenes Leben, eine Jünglingszeit, wo auch er am schaudervollen Rande des Verbrechens so gefahrvoll für seine Seele dahingeschritten … Gedenkend des Tages, als er dem Mörder Jodocus Hammaker im Klostergarten von seiner Vergangenheit, von seinem Sprung aus einem brennenden Hause erzählte, kam ihm mit wehmuthvollen Klängen die Erinnerung an die beiden Kinder, die damals seiner Obhut anvertraut gewesen, diese Kinder, die Gott durch ein Wunder, durch seinen Muth errettet wissen wollte, diese Kinder, von denen er sich, als man ihn nach Java schickte, mit so bitterm Kummer seines jungen Herzens getrennt hatte … Wo mochten sie wol sein? … Das beschäftigte den „seltsamen Heiligen“ in seiner Klostereinsamkeit wie schon sonst seit Jahren, so jetzt aufs neue und lebendiger denn je … Was war aus ihnen geworden? … Wie, wenn sie im Elend, auf dem Weg des Verbrechens lebten? … Er erhielt diese ansehnliche Summe! Er mochte sie seinem Kloster nicht geben, seitdem der ihm und allen verhaßte Pater Maurus Guardian und sogar Provinzial geworden … Wie, dachte er, wenn ich das Geld annähme, meine alten Pflegebefohlenen zu entdecken suchte und es ihnen zukommen ließe, falls sie’s bedürfen sollten oder dessen würdig wären? … Diese Vorstellung erfüllte den Greis mit solcher Lebhaftigkeit, daß er in der Einsamkeit der Klöster, auf den Wanderungen, die er im Auftrag des Provinzials zu machen hatte, stündlich darauf zurückkam: Wo lebt wol Wenzel von Terschka? Wo Jean Picard? … Vor einem halben Jahr hatte er auf einer dieser Wanderungen die Nachricht über jene 35 Erbschaft zuerst empfangen … Gerade war er in Ordensaufträgen in Belgien gewesen, ging nach Holland, kam eben aus Gröningen zurück, hatte von Jean Picard nichts vernommen, als daß er nach einer Reihe von Jahren von Brest fortkam und in Paris verschollen sein sollte; von Wenzel von Terschka nichts, als daß er nach seinem Unfall in Amsterdam nach der Schweiz und von dort nach Italien gegangen war … Nun begegnete er plötzlich vielleicht beiden! … Hier! Hier – dem einen in einer vornehmen, glänzenden Stellung! Dem andern auf dem längst von ihm geahnten Wege des Verbrechens! … Wenzel von Terschka war allerdings ein Name, der, wie er schon gehört hatte, in Böhmen so häufig war, wie die Namen Wilhelm von Schulz oder Heinrich von Schmidt in Deutschland sein könnten … Aber die seltsame Aehnlichkeit der Züge mit denen jenes Kindes, das er bis zum fünften Lebensjahre gekannt hatte, als er an der einsamen Mühle des Müllers Sterz, dann bei einem Scharfrichter zwischen Zütphen und Deventer mit den Knaben lebte … Allerdings, dieser vornehme Cavalier, der in so geheimnißvoller Weise heute mit dem Pater Maurus eingeschlossen war – im einsamen Bibliotheksaale des Klosters, der für diesen Zweck eigens hatte geheizt werden müssen – dieser stand ihm keine Rede, lehnte jede Frage nach seiner Geburt und Jugend und nach Angehörigen seiner Familie ab … Jetzt aber – wirklich Jean Picard! Der lebte! Lebte hier! … Ein Mann mit dem Verbrecherstempel, den er auf Terschka’s linkem Arm bei der Jagd hätte entdecken mögen … Und um so mehr! Diesem Picard gesellte sich der 36 Name jener Lucinde, die er auf dem von ihm gemiedenen Schloß Neuhof selbst zwar nie gesehen hatte, die er aber in allem kannte, was sie dem armen, gebrochenen Pater Sebastus, dem weiland Doctor Klingsohr, so werth gemacht hatte und noch machte … Auch sie in der Nähe! … Sie, um derentwillen Sebastus noch jetzt in seiner Strafzelle klagte … um derentwillen er, vor seiner Rückkehr aus Holland, mit einigen Fremden, die ihn besuchten, eine Flucht verabredet hatte … Sie in Verbindung mit Verbrechern! … Unmöglich, unglaublich! … War sie in der That bei jener vornehmen Frau von Sicking, so beschloß er, soweit ihm die Ueberraschung, soweit ihm die Sorge um den Kranken, den er führte, jetzt schon einen Entschluß, den er zu fassen hatte, möglich machten, zunächst Lucinden aufzusuchen, ihr diesen Brief zu zeigen, ihr nach Jean Picard Fragen vorzulegen, ihr die Pflicht vorzuhalten, ihn jetzt zu unterstützen, soweit seine Kraft reichte, Verbrechen zu hindern, in denen dieser Unglückliche nur zu heimisch zu sein schien …

In solchen Stimmungen, solchen Aufregungen und Ahnungen gewaltiger Conflicte mit seinem Klosterfrieden verlor er um den Kranken, den er führte, die Obhut und Sorge nicht aus dem Auge …

Das seltsame Paar hatte den Wald verlassen und entfernte sich von dem immer mehr verklingenden Lärmen der Jagd …

So manches Reh war an ihnen vorübergesprungen … In den kahlen Zweigen der Bäume rauschte es von den aufgescheuchten Bewohnern derselben …

Schon war es Ein Uhr … Die Jagd dauerte bis 37 gegen Untergang der Sonne. An einer bestimmten Stelle waren die Vorbereitungen zu einem Imbiß im Freien getroffen. Vor fünf Uhr rechnete man nicht auf die dann im Schloß zu genießenden Leistungen der gräflich Münnich’schen Küche, während bis dahin die sich ansammelnden Damen der Jäger von Püttmeyer’s Transparentbildern unterhalten werden sollten …

Immer ruhiger, immer stiller und hinfälliger wurde der Landrath. Hubertus mußte bedacht sein, den Frierenden, fieberhaft Zitternden unter Dach und Fach zu bringen … Der Regen mehrte sich. Auf dem an manchen Stellen spiegelglatten Boden war kaum noch fortzukommen … Kaum hielt sich der Landrath noch aufrecht … Hubertus mußte mehr ihn tragen als führen … Der Wille des Kranken, aus Ueberreizung zur Ohnmacht Zusammensinkenden, Zähneklappernden äußerte sich nur noch durch Zeichen … Ein so unendlich wehmüthiger Ausdruck war trotz der entstellten und beschmutzten Gesichtszüge aus ihnen herauszulesen, daß man wohl annehmen konnte, dem leichtsinnigen, ehrgeizigen Manne hatten die fortgesetzten Kränkungen seines Ehrgefühls, die er nun schon seit Jahren und besonders seit den letzten Monaten erfuhr, das Herz gebrochen.

Der dem Walde nächste Kamp war dem Mönche als der armseligste in ganz Borkenhagen bekannt …

Hier wohnten jene im Kirchenbann befindlichen Aeltern Hedemann’s …

Daß gerade auch der Landrath es gewesen, der diese mit ins Elend gebracht hatte, wußte Hubertus …

Er sah sich in der Gegend um … Niemand war 38 da, der ihm den ohnmächtigen Mann abnehmen und in ein Obdach tragen konnte, das er als Angehöriger der Kirche nicht betreten sollte …

Er wagte jedoch die Sünde auf Rechnung der vielen, die er bald zu beichten haben würde, wenn er fortfuhr nach den Eingebungen zu handeln, die nun plötzlich durch Nennung des Namens Terschka und den Brief, den er in seiner Kutte trug, seinen ganzen Menschen erfüllten …

Eine kleine Anhöhe ging es hinauf, die zu dem Erbe Hedemann’s führte, zu den Alten, die für die Bestellung desselben seit Jahren nichts mehr gethan hatten …

Da lag ihnen schon das Staket, das sonst das wie tief in die Erde gekrochene Haus einfriedigte, in einzelnen Theilen im Wege … Am Brunnen, den kein Stroh vorm Erfrieren des Wassers schützte, lagen die Eimer leck oder eingefroren … Eine Leine hing von einem der wenigen noch umstehenden Bäume zum andern; einige weiße Fetzen an ihr, aussehend vor Frost wie Vogelscheuchen, die gespenstisch im Winde flatterten … Aus dem Hause drang ein blauer stickiger Qualm. Die Thür stand offen; ein Birkenstamm versperrte den Eingang, der vor Rauch kaum zu gewinnen war … In der Küche am Herd saßen auf dem im Kamin brennenden Baum die beiden Alten. Hedemann’s Mutter spann, der Vater schnitt Dauben und Klammern – ein Erwerb, den er auf Drängen des Meyers ergriffen, als der Sohn in der Fremde nicht ahnte, wie übel es mit den Aeltern stand; ein Erwerb, den er fortsetzte, obgleich er nun es nicht mehr nöthig hatte; ein Verlassen oder Verbessern 39 ihres Kamps konnte Hedemann zwar ebenso wenig bewirken, wie ihnen eine Bequemlichkeit durch eine Magd oder einen Knecht anbieten … am Nöthigsten aber fehlte es ihnen nicht mehr …

Der Mönch wußte schon, daß er keinen Gruß bekam, daß ihn ein dumpfes Murmeln hinwies, sich das zu nehmen, was er begehrte …

Selbst der ungewohnte Anblick, ein Mönch, der einen kranken vornehmen Herrn, den Landrath selbst, hereintrug und auf einen Futterkasten setzte – der Landrath fieberte und war besinnungslos – nichts konnte diese Leute aus ihrer welt- und menschenscheuen Fassung bringen … Die Alte spann, der Greis schnitt seine Dauben …

Hubertus fand jedoch Hülfe …

Wie er an den Herd gehen wollte, um den großen Kessel abzuhenken, in dem sich immer in diesen Bauernhäusern das heiße Wasser befindet (er hoffte Butter und etwas Brot zu finden, um dem Kranken eine Suppe zu bereiten), bemerkte er in der gespenstischen Stille eine dritte Person in der Ecke des Kamins. Ein Mann saß da, über ein Buch gebeugt, in dem er las. Wie aus einem Traum erwachend fuhr der Leser auf und sah erst jetzt, was während seiner Zerstreuung geschehen war …

Den Landrath erkannte Remigius Hedemann sogleich; denn dieser war es, der hier bei seinen Aeltern gesessen und inzwischen in seiner Lectüre sich nicht hatte stören lassen … Er las in einer italienischen Bibel …

Was ist das? fragte er, sich erhebend und voll 40 Staunen den Rittmeister von Enckefuß betrachtend. Hat der Landrath ein Unglück gehabt?

Der Mönch erklärte in Kürze den Zustand des Leidenden und bat, sich seiner annehmen zu wollen … Er wollte indessen, nach weiterer Besinnung, lieber zurück auf Münnichhof und den Diener des Landraths rufen mit einem Wagen, der den Unglücklichen nach Witoborn in seine Wohnung führen könnte …

Nun half Hubertus dem unerwarteten Beistand, den er gefunden, um den Besinnungslosen auf ein Strohlager zu tragen …

Sein Auge fiel dabei auf das starke Buch in kleinem Format. Er hielt dessen Sprache für Latein und drückte sein Erstaunen aus über die Gelehrsamkeit, die Hedemann aus Amerika mitgebracht …

Da ist es kein Wunder, sagte er, daß Ihr in Witoborn Papier machen wollt!

Lächelnd erwiderte Hedemann:

Thut Buße und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen!

Im Anordnen des Ruhelagers erwachte der Landrath, besann sich jedoch weder auf die Lage, in der er sich befand, noch auf die Personen, die ihn umgaben. Seinen Bedienten verlangte er und seinen Pudel. Den letztern sah er deutlich vor sich und lachte, wie kahl er den Kerl geschoren hätte … Er hielt die Finger spielend in die Höhe, als ließe er die Flocken durchgleiten, die er dem Thier kürzlich weggeschnitten … Es waren die bekannten Geberden eines Sterbenden …

Hubertus versprach, Hülfe so schnell wie möglich zu 41 schicken … Thut wohl euerm Feinde und so ihn hungert, speiset ihn! sagte auch er mit Bibelworten, das Verhältniß des Landraths zu dieser Hütte andeutend … Zu seinem eigenen Nachtheil hatte ja der leichtsinnige Landrath diese Leute einst in ihrem patriarchalischen Glauben an die Heiligkeit des geweihten Priesterthums irre gemacht …

Hedemann nickte diesem Wort, warf einen Blick auf die Kleidung des Mönchs und sagte, zunächst wol nur mit einer Andeutung des Kirchenbanns, in dem seine Aeltern lebten:

Darin sind wir ja einig! …

Der Landrath blieb bei seinen Feinden … Hedemann pflegte den Sterbenden und gedachte jenes Tags nicht mehr, wo ihn und Porzia Biancchi dessen Sohn beleidigt hatte im Wirthsgarten der Landstraße von Sanct-Wolfgang nach Kocher am Fall …

Seine Mutter spann; sein Vater schnitzelte Dauben …

Während Hubertus, beruhigt jetzt über das nächste Schicksal des Landraths, dessen Diener und Wagen auf Schloß Münnichhof zu suchen eilte und überlegte, wie er in Witoborn es versuchen wollte, sich bei Frau von Sicking einzuführen; während er überlegte, wie er Schloß Westerhof umspähen, Jean Picard entdecken, ihn vielleicht an einem Verbrechen hindern sollte – hatte sich auf Schloß Münnichhof immer zahlreicher jener Kreis der Damen gemehrt, die gleichfalls von Runen und von Zeichen, gleichfalls von Kreuzen und von Rädern sich ergreifen lassen wollten, freilich in einem andern Sinne, als der 42 unbekümmert um Schnee und Regen dahinschreitende, tief den Todtenkopf in seine braune Kapuze hüllende gute alte Laienbruder … Die Simultankirche, worin wir alle zu Einem Gott beten, war in einer Bauernhütte geweiht durch Nächstenliebe und vielleicht im Schloß des Grafen durch einen Denkergeist?

Doctor Laurenz Püttmeyer erschien gegen drei Uhr auf Schloß Münnichhof so feierlich, wie wenn er die erste Vorlesung auf dem endlich ihm überlassenen Lehrstuhl Hegel’s zu halten gedächte …

Noch kunstvoller als neulich hatten die Musen und Grazien von Eschede die Schleife seines weißen Halstuchs gebunden …

So gründlich rasirt war er, daß man der Meinung hätte sein können, die Natur hätte ihn in das Geschlecht der Blaubärte versetzen wollen; denn offenbar war er mit dem frisch rasirten Kinn in die Kälte gegangen, wovon der Mensch bekanntlich blau wird …

Auf der sauber gefältelten Hemdauslage strahlte eine echte Brillantnadel; die weiße Weste, obgleich etwas gelblich durch zu langes Kommodenliegen, war mit einer schweren Uhrkette garnirt … Die elegantesten gelben Handschuhe, die nur in Eschede waren aufzutreiben gewesen, saßen, wenn auch mit etwas zu langen Fingern, doch das Feierlichste versprechend, auf seinen Händen, die heute das Ewige, das Unergründliche hinter ölgetränktem Papierrahmen sichtbar und anschaulich machen wollten … Alles was der Doctor jener Curatel, unter der er stand, hatte abtrotzen können, schmückte ihn heute, auch der große Siegelring mit einem präch-43tigen Karneol, der freilich unter dem Handschuh etwas die Naht gesprengt hatte …

Von einigen zwanzig vornehmen Damen wurde er mit jenem ironischen Lächeln begrüßt, das die vornehme Weltbildung dem der höhern Lebensformen ungewohnten Gelehrten immer bereit hält. Indessen war dies Lächeln, wenn auch satyrisch, doch nicht boshaft. Man ließ die hohe Wissenschaftlichkeit des Doctors um so mehr gelten, als man ja in ihm eine eigenthümliche, unter den besondern Bedingungen dortiger Landschaft stehende Denkergröße besaß. Seine mathematische Philosophie interessirte Jung und Alt in den gewählten, hier die übliche Landstraße deutschen Dichtens und Denkens gänzlich vermeidenden Kreisen und er schätzte sich glücklich, heute einen kurzen Ueberblick seines Systems den vornehmsten und angesehensten Damen der sonderthümlichsten Gegend des deutschen Vaterlandes geben zu können. Die Gräfin Münnich versicherte dem Denker von Eschede, daß er in dem jenseit des hohen Ahnensaals liegenden Zimmer bereits alle Vorbereitungen getroffen finden würde, die er in einem umständlichen Kanzleischreiben an die Frau Gräfin sich erbeten hatte: Ein dunkles, ganz verhangenes Zimmer, ein Gerüst, einige Näpfchen mit Oel, eine große Flasche Spiritus. Das Uebrige brachte er selbst mit und bat sich nur die Erlaubniß aus, vorläufig die Vorbereitungen treffen zu können, bis er die hochgeehrten gnädigsten Damen abrufen würde …

Diese Spannung währte nicht lange. Bald wurden die Damen abgerufen und paarweise schritten sie dem 44 glücklichen Seher nach. Lachend und doch beklommen ging es durch den Ahnensaal, wo schon aufs einladendste die Tafel zum großen Jagdbanket gedeckt wurde …

Püttmeyer war so erfüllt von seiner Aufgabe, daß ihm völlig entging, wer unter den Damen zugegen war …

Es waren jüngere und ältere, hohe und kleinere Gestalten, alle in gewählter Kleidung, mit Trauerzeichen alle – um den Kirchenfürsten … Paula, Tante Benigna, Armgart – sie alle glaubte Püttmeyer zu sehen … So verwirrt war er, daß er eine Gräfin und Freifrau mit der andern verwechselte …

Noch brannten in dem Zimmer, das sie alle betraten, einige Kerzen … Man mußte sich wenigstens orientiren können, wo man Platz nahm …

Als dies geschehen, erloschen auch diese Kerzen und alles war stichdunkel …

Kichernd und scherzhaft um Ruhe zischend und sich räuspernd saßen die vornehmen Frauen … Püttmeyer rumorte, wie ein Puppenspieler, hinter einem großen transparenten Rahmen, der sich allmählich zu erhellen begann …

Zuweilen schien ihm eines seiner Lichtchen umzufallen … Die Gräfin rief dann, ob er nicht Beistand nöthig hätte? … Nein! nein! Meine Allergnädigste! antwortete er … Dennoch hörte man ihn entweder mit sich selbst oder mit einem Gehülfen sprechen … Eine zarte, schüchterne Stimme schien die des letztern zu sein … Himmel! hätte Armgart, wenn sie hier 45 gesessen hätte, gewiß gedacht, vielleicht – steckt Angelika hinten, die glückliche Angelika! Wenn sie diesen Augenblick, diese hohe Anerkennung ihres Geliebten erlebte!

Das Zimmer war überheizt und die Damen bekamen schon eine eigenthümliche Exaltation von den Ausströmungen des Ofens …

Nun mischte sich noch Weihrauchduft in den frühern, der etwas stark auf Verbrauch von Oel und Spiritus schließen ließ …

Die Stimmung wurde immer erregter … Man schwieg jetzt schon deshalb, nur um sich beherrschen zu können, und harrte der kommenden Dinge …

Endlich klingelte Püttmeyer und mit einer nach Festigkeit ringenden Stimme sprach er:

Meine hochgräflichen – hmhm! – und hochfreiherrlichen Gnaden! – Hmhm! – Ich bin glücklich – den Entwickelungsgang meines Systems Ihnen in einer Reihe von Bildern so anschaulich machen zu können, daß Sie selbst prüfen mögen, ob wol meine Lehre – hmhm! – Ihre überzeugte Zustimmung findet! Denken Sie dabei nur immer, daß das, was in Gott Ein Moment ist, im Denken – durch Raum und Zeit seine – hmhm – Ruhepunkte haben muß! Auch unser – hmhm! – christlicher Glaube zerlegt Gottes Größe in ein Vorher und Nachher; denn wie würden wir sonst die Lehre von den – hmhm! – sieben Schöpfungstagen haben?

Ein Murmeln der Zustimmung ging durch den Saal … Dann folgte tiefste Stille … Die Weihrauchdüfte mehrten sich und jetzt begann sogar zu aller 46 Ueberraschung etwas völlig Unerwartetes, eine ganz wunderbare Musik …

Wo kam diese Musik her? Leise anschwellend hoben sich die Töne wie auf Aeolsschwingen. Was hatte der Zauberer von Eschede für ein Instrument mitgebracht? Es war keine Flötenuhr, kein Klavier, keine Orgel … Es war von allen etwas … Das Zimmer bebte von Wohllautsschwingungen, die die Luft zur klingenden machten … Brausend schwoll es an, so mächtig und doch dann wieder so lind und lieblich, daß davon die ganze Seele erfüllt sein durfte …

Und Niemand war erstaunter, als die Gebieterin des Schlosses selbst, die nicht hoch genug versichern konnte, daß sie kein Instrument besäße von solcher Wirkung, ja das eben vernommene nicht einmal zu nennen wisse … Wenn Püttmeyer Orphische Urworte lehren wollte, konnte die Vorbereitung des Gemüths nicht mächtiger getroffen werden …

Als die Töne verklungen waren, einer immer sanft dem andern sich entwindend, da erblickte man plötzlich die ganze Transparenttafel azurblau und aus dem tiefsten Grunde sei’s des Himmels oder des Meeres entwickelten sich leise Schatten, die allmählich die Form einer Unzahl sich durcheinander rollender und sich einander durchschneidender Kreise annahmen …

Püttmeyer sprach mit erhöhter Begeisterung:

Musik ist das Leben des Alls! Denn – das All besteht aus zersprengten – Atomen, die – sich suchen, sich finden – sich abstoßen, verfolgen! – Sehnsucht 47 und Liebe, demzufolge auch Abneigung – hmhm! – und Haß – ist die Seele des Alls …

Die Kreise bewegten sich auch theilweise zurück und es entstand ein Chaos so flimmernder Schatten, wie wenn das geschlossene Auge im Blutandrang ein Durcheinanderwirbeln von zahllosen Staubatomen sieht … Dazu begann das seltsame Instrument in lebhaftern Rhythmen eine entsprechende Begleitung … Nicht schrill oder in mistönender Malerei – seinem Wesen entsprachen nicht so grelle Ausdrucksformen – wol aber in Klagelauten, wie aus der tiefsten Tiefe des Schmerzes und aus der wehmüthigsten Verkennung der Liebe empor …

Inzwischen schilderte Püttmeyer das aus dem Wirbeln der Atome sich ergebende Streben alles Geschaffenen und des Denkens über alles Geschaffene zum Kreise und die Transparenttafel verwandelte sich allmählich in einen lichten Kreis, die blaue Farbe ging in eine rothe über … Die Frauen beanstandeten nicht im mindesten, was Püttmeyer, in immer flüssiger gewordener Rede, über das Symbol der Liebe, über den Ring, über die Schlange, selbst über die Schlangeneier sprach … Das Auge sah in allem nur die herrlichsten Fata Morganen der Ahnung …

Ueber die Musik, die zuweilen schwieg, hatte sich jetzt von einigen Damen, die eingeweiht waren, herumgeflüstert, daß sie auf einer Ueberraschung beruhte, die man der Gräfin bereitet … Mit dem protestantischen Pfarrer Huber war jenes schöne alte Instrument, die Harmonica, nach Witoborn gekommen und, wie der Sinn 48 der Frauen nun einmal ist, bald hatte sich verbreitet, daß dies Instrument zwar in der Art, wie man es handhaben müsse, nicht eben schön zu nennen wäre, in seiner Wirkung aber nur höchstens von dem seelenvollen Schmelz des Violoncells erreicht würde … Jedermann begehrte es zu hören … Man wußte, der „Pfarrer“, die „Frau Pfarrerin“ – wenn diese heiligen Worte so zu gebrauchen nicht Entweihung war – die schon herangewachsenen – „Kinder“ desselben spielten jenes Instrument mit großer Fertigkeit; aber weder des Mannes Haus zu besuchen war den hiesigen Verhältnissen angemessen, noch auch der „Würde“ desselben zuzumuthen, daß er selbst oder seine Angehörigen sich mit seinen Leistungen bei ihnen hören ließen … Um so größer die Ueberraschung, daß Püttmeyer das Allersehnte möglich gemacht hatte … Schon erzählten die Flüsterworte, daß die Verehrerinnen des Doctors in Eschede diese musikalische Illustration der Philosophie ihres Schooskindes zu seinem größern Effecte durchgesetzt hätten, sie, die Armgart – in ihrer Voreiligkeit mit Kaffeekannen und Strickstrümpfen verglichen hatte! … Der „Prediger“, wie man hier zu Lande Herrn Huber lieber nannte, hatte zu dem Vorschlag gelächelt, als er an die ihm schon durch seinen frühern Pflegbefohlenen, den Freiherrn Jérôme von Wittekind, bekannte Philosophie der Drechselbank erinnert wurde; er hatte eingewilligt in den Transport des Instrumentes und es heute mit Püttmeyern in einem verdeckten Wagen und sogar mit seiner Tochter abgesandt, die in der Kunst dies Instrument zu spielen ihn und seine Gattin schon übertraf …

49 Püttmeyer empfand nicht die Genugthuung, die seinem verketzerten Werke: „Christus und Pythagoras“, durch diesen jetzt gern gesehenen Bund mit den Ketzern wurde. Ach, er war schon zu sehr in seiner steten Furcht vor Sakramentsentziehungen, dann auch in seinem Magisterium eingerostet, um von sich noch gegenwärtig zu haben, daß unter dem alten Schlafrock seines freudlosen verkümmerten Daseins doch noch immer die jugendlich schöne Psyche seiner Denkfreiheit mit bunten Schmetterlingsflügeln verborgen lebte … Nicht ganz paßte auf ihn ein Wort, das Onkel Levinus neulich mit stolzem Bewußtsein bei Gelegenheit einer muthigen That sprach, die von einem deutschen Professor gekommen … „Sind wir auch noch so verirrt in den Labyrinthen der Metaphysik, sind wir auch noch so vergraben im Sand, der die Eingänge zu den Pyramiden verschüttet, haben wir sogar als mit Orden umschnürte Geheimräthe uns ganz verloren in Scherwenzeln und Tellerlecken bei Diplomaten und reichen Glückspilzen, plötzlich ruft uns irgendein Signal an unsere stolze Fahne zurück und wir kämpfen doch wieder für die Freiheit und die Unabhängigkeit des Denkens, wir wissen selbst nicht wie!“ … Leider galt dies begeisterte Wort nur einer in diesem Kreise überraschenden großen That eines deutschen Gelehrten … Dr. Guido Goldfinger hatte aus Anlaß des Kirchenstreites (richtiger seiner nah bevorstehenden Hochzeit mit Johanna Kattendyk und des Wunsches der Mutter wegen, daß die Tochter bei ihr blieb) seine außerordentliche, ohnehin unbesoldete Professur niedergelegt …

50 Aber edler, viel höher stand Püttmeyer … Er empörte sich nicht gegen seine Unterdrücker, zu denen auch die Geistlichen gehört hatten; er liebte die Kirche, die ihn auf den Index zu setzen gedroht; aber stolz fing er denn nun auch von sich zu reden an … Wer würde seines Selbstvertrauens haben spotten mögen! … Auch die Frauen blieben im Bann seiner mystischen Zeichen und nahmen einen flammenden Triangel für die Dreieinigkeit, nahmen ein dunkelglühendes Kreuz für die Offenbarung der Liebe, sahen die Offenbarung des Alls im Atom, des Ewigsten im Zeitlichsten … Kommen und Gehen, Werden und Schwinden sind ja ohnehin Gedanken, die dem Frauendasein so urgegenwärtig sind … Sie umspannen jetzt wie immer ihre Herzen wie mit magischen Fäden … Und selbst Frau von Sicking, die frommste der Frommen, hätte nicht geahnt, daß diese Stunde sie ebenso feierlich stimmen würde, wie ihr nur je zu Muthe war im Moment der „Wandelung“ beim heiligsten der Opfer …

Andachtsvoll hörte man selbst manchem Scherz Püttmeyer’s zu, selbst dem, daß das doppelte Dreieck, Pentagramm genannt, den magischen Zeichen der Zauberer angehöre, auch dem Gotte Gambrinus, setzte er lachend hinter dem muthmachenden Oelpapier hinzu, der damit in Göttingen anzeige, wo gutes Bier feil wäre, „worin jedoch nur ein tiefes Symbol des Frühlingsanfangs läge, ein Hausthür-Gedenkzeichen des Hexensabbats auf dem Brocken, da ja am 1. Mai der Hexen Ausritt stattfände, und zwar“ – hier hätte den Doctor eine seiner Escheder Gönnerinnen allerdings ein wenig am 51 Frackschoos zupfen sollen – „auf dem Bock, welches Thier denn auch sothanerweise bis gen München hin im innigsten Zusammenhang geblieben wäre mit dem ersten Labetrunk am ersten Tage des Wonnemonds“ …

Püttmeyer erhob sich aus diesen Gedankenreihen, die den Onkel Levinus zu einem Streite über Bock und Eimbock oder Eimbeck und Eimbecker Bier veranlaßt haben würden, in eine reinere Höhe, als er, angeregt wahrscheinlich von Göttingen und der gerade pausirenden Harmonica und einem Blick auf die Pfarrerstochter von Eibendorf, mit stolzem Selbstbewußtsein fortfuhr:

Heureka! meine Damen, ich habe gefunden! rief einst Pythagoras, als er seinen berühmten Satz vom Quadratinhalt der Schenkel des Dreiecks entdeckte! Heureka! soll auch der Titel meines nächsten Werkes sein! Zu Gott hoff’ ich, daß sich mein Losungswort weiter verbreiten wird, als, wie ich heute erst erfuhr, in jene Berge drüben, wo ein treuer Anhänger meiner Lehre, Jérôme von Wittekind, den Dank für die ihm durch sie gewordene Anregung auf einen einfachen steinernen Würfel schrieb … Mit der Anerkennung neuer Ideen, meine Damen, ist es zu allen Zeiten gewesen, wie mit diesem Gedenkstein … In einem dichten, unzugänglichen Walde erschallt ihr erstes Echo, wie auch jenes Heureka! in der Nähe des Ortes Eibendorf sich jetzt nur noch ausjubelt ins Ohr der Einsamkeit, an einem nur von Schilf und Blumen umstandenen stillen See … Kein Nachen fährt dahin auf diesem See, kein Fischer steht an seinem Ufer … Ein solches einsames Heureka! ist nur anfangs für die Wildniß da, für einen Vogel, der 52 auf ihm sich ausruht, für eine Lacerte, die sich ihr Lager im Moose gesucht hatte, das seinen Sockel überwuchert … Die Zeit kommt dann aber doch, wo auch eine große und bequeme Landstraße zu einem solchen einsamen Steine hinführen wird! …

Die Frauen murmelten Beifall … Die Musik begann ihre anschwellenden Töne … Püttmeyer rüstete sich zu seiner Mystik der Kegelschnitte …

Vom Denkstein bei Eibendorf hatte ohne Zweifel die Tochter des Pfarrers ihm auf der Herfahrt erzählt … Von jenem Heureka!, das Jérôme von Wittekind einst auf den Würfel schrieb, den er an der Stelle errichten ließ, wo er sein Elfenkind, Lucinde, im Riedbruch gefunden …

Als Lucinde dort auf ihrer Flucht vor Oskar Binder ohnmächtig unter den Farrenkräutern und Glockenblumen zusammengesunken war, glitt allerdings eine Lacerte über sie hinweg, die sie damals nicht mehr fühlte …

Hätte sie aber das Thier noch über ihre Hand gleiten gesehen, sie würde ohne Zweifel so aufgesprungen sein, wie eben unter den Zuhörerinnen sich eine Dame erhob mit einem Ausruf, als wenn ihr der Athem versagte und wirklich eine Schlange sie stäche …

Die Dame hielt sich zwar an ihrem Sessel, beruhigte die erschreckenden Frauen mit einer Handbewegung, sprach, zum Sitzenbleiben auffordernd, ein: Bitte! Bitte! – schwankte jedoch der Thür zu und verließ das Zimmer …

Lassen Sie! sagte Frau von Sicking, als die Damen 53 und vorzugsweise die Herrin des Schlosses von einem nothwendigen Beistand sprachen … Es ist die Mamsell, mit der ich gekommen bin! …

Man glaubte sich auf die Versicherung der Dame, die sie eingeführt, verlassen und beruhigen zu dürfen …

Die seraphischen Klänge der Harmonica tönten indessen fort und Püttmeyer erläuterte …

54 15.#

Lucinde war es, die sich aus dem qualmenden dunstigen Zimmer so plötzlich entfernt hatte …

Sie floh in den großen, nun schon dunkelnden Speisesaal … gejagt von Empfindungen, die zu, zu krampfhaft an ein Herz sich preßten, von dessen lauten Schlägen sie fürchtete, sie könnten noch in der rings sie umgebenden Stille vernommen werden …

Nicht daß sie so überwältigend die Form des Vortrags, ihr Inhalt und die Andacht dieses vornehmen Auditoriums ergriff. Das sind Narren! sagte sie sich … Nicht daß sie von Wehmuth ergriffen war beim Anhören der Harmonica, die ihr einen doch immer holdverklungenen Jugendmärchentraum zurückrufen mußte. Sie war im Stande, in dem Herangewachsensein der Kinder des Pfarrers, dessen Namen sie einst angenommen hatte, als sie die Bühne betrat, verdrießlich nur den Gradmesser ihres eigenen Aeltergewordenseins zu sehen … Nicht daß sie Jérôme so rührte, der um ihretwillen Erschossene, Jérôme, der sie anbetete wie eine Heilige, Jérôme, der ihr, ihr jenes Heureka! der dank-55barsten Erinnerung im einsamen Walde gerufen hatte … Alles das waren Anwandelungen einer ihr fremden Sentimentalität … Sie lebte nur der verzehrenden Sorge um das Allernächste.

Schon mit klopfender Brust war sie auf dem Schlosse Münnichhof erschienen …

Schon mit dem größten Widerwillen war sie in jenes dunkle Zimmer getreten …

So gefaßt und ruhig sie erschien, als Frau von Sicking sie als eine ihr aus der Residenz des Kirchenfürsten Empfohlene einführte und der Herrin des Schlosses vorstellte, sie trat auf einem Boden hier auf, der unter ihr wankte …

Dennoch richtete sie sich hoch und majestätisch auf, als beim Vorstellen ihr Name genannt wurde und die Anwesenden die schlanke Gestalt, die in Trauer gehüllt war, musterten, das bleiche, erröthende Antlitz anziehend fanden, ein goldenes Kreuz, das unter einer Trauerecharpe von Spitzen auf der Brust blinkte, für ein Zeichen von Frömmigkeit nahmen. Jenes Mädchen, das in dieser Gegend vor längern Jahren, auf Schloß Neuhof, eine abenteuerliche Rolle gespielt und das gewiß einige unter den Anwesenden schon einmal gesehen hatten, erkannte niemand … Diese schwarzen Augen schienen die Glut der heiligsten Andacht zu bergen … Dieser etwas trotzige Mund schien nur im Beten geübt … Lucinde sprach wenig und setzte sich zu den in immer größerer Anzahl sich sammelnden Damen wie ein Wesen voll Bescheidenheit, eine Bürgerliche, die den Abstand ihrer Stellung von der der andern erwog, 56 obgleich diese gnädiglichst anzudeuten schienen, daß man auch durch Gesinnung geadelt sein könnte …

Die Namen Neuhof, Asselyn, Benno, de Jonge, Stift Heiligenkreuz, Paula, Armgart, Kloster Himmelpfort gingen an ihr vorüber, ohne daß Jemand ihren Antheil bemerkte …

Selbst wie sie die Lehne ihres Sessels ergriff, als die Stiftsdamen, die von Heiligenkreuz kamen, Fräulein Benigna von Ubbelohde und Gräfin Paula um ihr Fernbleiben von Püttmeyer’s „chinesischen Schatten“ entschuldigten und von ihrer gestrigen ängstlichen Flammenvision erzählten, bemerkte Niemand das Beben der zusammengepreßten Lippen, Niemand die Verlegenheit des Lächelns; auch nicht da, als Frau von Sicking sagte: Ja, ich hoffe Sie morgen auf Westerhof vorstellen zu können!

In dem luftleeren Zimmer, während der Bewunderung und des Lauschens auf die Orphische Weisheit des Sehers von Eschede, hielt es sie nicht länger … Sie mußte aufstehen, gehen, reden können … Als ihr Beispiel, wie dies der Nervenschwäche der Frauen geschieht, ansteckte, als bald eine zweite, bald eine dritte Dame entfloh, huschte sie noch aus dem dunkeln Speisesaal mit seinen blendend weißen Gedecken, seinen Gläsern, Schüsseln, Tellern, hinaus in das erste beste Zimmer, dessen Thür ihr zunächstlag …

So betrat sie ein bereits zum Kartenspiel hergerichtetes, behagliches, trauliches Cabinet …

Auch hier war es dunkel; aber sie hätte noch die Vorhänge herablassen, hinter sich zuriegeln mögen, so sehr fühlte sie das Bedürfniß, sich in der Einsamkeit zu den 57 Aufgaben zu sammeln, die sie auf diesen für sie so gefahrvollen Boden hergeführt hatten …

Jetzt, wo sie sich erschöpft auf ein Sopha niederwarf, jetzt knickte sie zusammen. Jetzt war sie so, wie sie schon seit einiger Zeit sich zu geben pflegte, ohne es zu wissen … Etwas Spinnenhaftes hatte sie bekommen, Mageres, Lauerndes, von „Schmerz Gekrümmtes“, wie sie’s nannte, wenn man deshalb ihr Vorwürfe machte … Ihr hoher Wuchs sowol, wie die religiöse Rolle, die sie mit immer größerer Uebung, Gewöhnung, ja sogar schon Einverständniß spielte, brachten es mit sich, daß sie zu den vielen mittlern und kleinen „erbärmlichen“ Wesen dieser Erde den Medusenkopf niederbeugte … Unter den dichten dunkeln Flechten ihres schwarzen Haares, die sie wie ein Turban umgaben, heute das Werk der Kammerjungfer der Frau von Sicking (hier hatte sie nicht Treudchen, die ihr schon zuweilen hochaufstaunend weiße Härchen auszog), spitzte sich ihr Ohr und lauschte so, wie ihr Nück ärgerlich einst gesagt hatte, „jung-hexenhaft, daß man mutatis mutandis“ – sie verstand ja diese Bedingung – „an die alte Frau Buschbeck denken könnte, wenn diese mit mir oder mit Hammakern vom Anlegen ihrer Kapitalien sprach!“ … Dann freilich konnte sie sich auch wieder aufrichten und sich besinnen auf ihre blühenden zwanziger Jahre …

Lucinde war zu Frau von Sicking empfohlen worden durch Nück und die hochvornehmsten Kreise der Devotion …

Sprach etwas gegen ihre Vergangenheit, so war sie ja eine Convertitin …

58 Auch Frau von Sicking war in gleicher Lage … Eine Nachkommin des tapfern Ritters, der mit dem Schwert, wie Ulrich von Hutten mit der Feder, gegen Rom sein Leben einsetzte, verließ sie den mit soviel Thränen und blutigen Opfern erkauften Glauben ihrer Väter … Sie gehörte jenem Kreise der Gottseligkeit an, der sich jetzt so weit über Europa verbreitet, einem Kreise, in den einzutreten Lucinde das unwiderstehlichste Verlangen trug, seitdem sie wußte, daß auch Bischöfe und Erzbischöfe auf weichen Teppichen dahinschreiten und mit Behaglichkeit die Freuden der Geselligkeit mit andachtsvollen Seelen genießen können … Frau von Sicking war reich … Sie hatte ein Haus bei Witoborn, eine Besitzung im Süden Deutschlands, Absteigequartiere in allen geistlichen Städten Deutschlands und Belgiens … Ihre Correspondenz erstreckte sich nach Rom wie nach den entferntesten Missionen des Sacré Coeur, nach Pondichéry und Guadeloupe … Ihr Reisen, ihr Kommen und Gehen, ihr Correspondiren konnte man Intrigue nennen … Dennoch lag auf allem, was sich an ihren Namen knüpfte, ein diesen Schein mildernder Duft von Andacht, von Beförderung des Menschenwohls, von Veredlung dieser Zeitlichkeit … Jetzt waren die „Exercitien“ ihre Parole … Der Andrang dazu war so groß, daß Frau von Sicking über die Aufnahme wie eine Ordensmeisterin schaltete … Der ostensible Grund, warum Lucinde Schwarz bei ihr erschien, war die flehentlichste Bitte der Frau Commerzienräthin Kattendyk, doch auch sie und ihre Töchter an diesen Exercitien theilnehmen zu lassen … Lucinde war autorisirt, im Namen der Commerzienräthin die größten 59 Opfer, die nur verlangt würden, in Aussicht zu stellen, wenn sie das Glück und die Ehre haben könnte, an dieser vornehmen „Andacht zum Kreuze“ theilzunehmen …

Seit gestern war Lucinde noch zu keiner Fassung gekommen über die Rückkehr in diese Gegenden, auf den Schauplatz, wo Bonaventura weilte, ohne Zweifel, wie sie ahnte, im glückseligsten Bunde mit ihrer frühern Pflegbefohlenen Paula …

Noch sah sie mit dumpfer Starrheit durch das Fenster die vom Abendroth beschienenen weißen Höhen, auf denen Schloß Neuhof lag, wo der Kronsyndikus nicht mehr lebte … Diese Kunde erschütterte sie nicht, lockte ihrem Herzen keine Rührung ab … Sie sah einen gewonnenen Vortheil mehr und wahrhaft tröstlich erklang es ihr zu hören, als Frau von Sicking sprach: Die Frau Präsidentin von Wittekind scheint die Rolle in Vergessenheit bringen zu wollen, die ihr Gatte seither als Beistand der Regierung gespielt! Man ist hier entschlossen, nicht sofort auf ihre Wünsche einzugehen! Nur die Rücksicht auf ihren edeln Sohn, den Domherrn, kann die Gesellschaft bestimmen, ihren Empfindungen nicht schon jetzt einen entschiedenern Ausdruck zu geben! … Selbst der blitzende Punkt dort in der Ferne, ein vergoldetes Kreuz auf der Kirche vom Kloster Himmelpfort, wo Klingsohr verweilte, beschäftigte sie nicht … Diese weiße, mit Abendschatten sich füllende Ebene, auf die sie einst so sehnsuchtsvoll von Schloß Neuhof herniedergeblickt hatte wie in ein Land der Freiheit und des ungebundenern Glückes, als das war, das sie dort in einer 60 nur scheinbar glänzenden Abhängigkeit hielt, bot nichts, was ihr Auge gesucht hätte, als das Schloß Westerhof, das indessen hinter den Wäldern nicht zu sehen war …

Bei Bonaventura’s Abreise hatte Lucinde den Vorsatz gefaßt, nur der Rache zu leben … Ohne daß sie den Oberprocurator, den allmächtigen Dominicus Nück, einweihte in alles, was dieser von ihrem Herzen theilweise selbst schon wußte, theilweise errieth, war sie mit ihm vertraut geworden, denn seine Huldigung gab sich so maßlos, daß sie den Ausbrüchen derselben schon deshalb entgegenkommen mußte, um sein Benehmen der Gesellschaft nicht zu auffallend erscheinen zu lassen … Er kannte ihre Liebe zu Bonaventura und mußte diese schonen … Sie duldete seine von unreinern Wünschen scheinbar plötzlich frei gewordene Leidenschaft unter der Bedingung, daß Nück sie wie eine anderweitig Vermählte betrachtete … Bonaventura wurde ihr bald wieder der alte Gott und nur noch die Tempel schwur sie zu zertrümmern, in denen andere ihm huldigten. Von jener Urkunde, mit der sie ihn sein ganzes Leben lang, wie sie gedroht, in Schach zu halten vermochte, sprach sie nicht zu Nück … Der Schmerz und die Zeit hatten ihre Rachegefühle gegen Bonaventura gemildert …

Nück wurde für sie ein psychologisches Räthsel … Sein Lebensüberdruß war jene Krankheit, die sich bei allen jenen Menschen findet, die etwas anderes thun, als sie denken … Könige haben wir gesehen, die geistesschwach wurden, weil sie eine Welt von schönen Gedanken, Plänen und Entwürfen in sich trugen und keine 61 Menschen fanden oder – suchten, die sie bei ihrer Ausführung unterstützten. Der Muth, der schon zum Brechen mit den Rücksichten, die uns binden, bei ihnen nicht vorhanden war, fehlte vollends für alles Uebrige, was das Leben begehrt; ein geknickter Genius spielt zuletzt mit Puppen, die er an- und auszieht … Und dann – dann wissen: Das ist unwahr! und es dennoch befördern – darum befördern, weil die Lüge einem andern zu Schaden kommt, den man haßt –! das untergräbt vollends die innerste Seele, wenigstens deren Ruhe …

Nück konnte zu Lucinden auf ihrem kleinen Cabinet oder wenn sie ihn selbst, scheinbar in Aufträgen, in dem Zimmer besuchte, das zum Garten der Seminaristen hinausging – wenn sie vor ihm auf seinem unheimlichen Sopha saß, unter dem verhängnißvollen Ringhaken an der Decke – ganz wie der verzweifelnde Serlo sprechen: Es ist nichts mit unserm Hoffen und Glauben! Erde wird Erde! Wir düngen die Zukunft! Apostel oder Mörder – omnes una manet nox! (alle erwartet eine und dieselbe Nacht!) …

Dennoch ging ein Mann mit solchen Ansichten in die Kirchen und Kapellen, bückte sich im Beichtstuhl und kreuzigte sich in der Messe …

Nück konnte spotten über die Priester, konnte in seiner cynischen Art von reichen, wohlgenährten Pfründnern, die Lucinde in seinem Vorzimmer antraf, sagen: „Sehen sie nicht aus wie die rothen Fettäpfel, die die gebratene Gans «Kirche» in ihrem Steiße trägt!“ … Sprang auch Lucinde bei solchen Worten auf, entfernte sich, so nahm sie doch das staunende Gefühl mit: Dennoch 62 kämpfst du wie ein Löwe, offen und heimlich, für die Wiedereinsetzung des Kirchenfürsten? …

Nück konnte so laut lachen über die Verlegenheiten der Regierung, daß es gellend dahinschallte in den Zimmern seiner Schwiegermutter, die er jetzt jeden Abend besuchte … Das wird die Lernäische Schlange! rief er. Einen Kopf hauen sie herunter und zwei wachsen wieder! Ha, ha! Die Zeiten sind vorüber, wo die Schusterjungen, wenn sie in Berlin in einem Winkel am königlichen Opernhaus ihre Bedürfnisse befriedigen wollten, von den Gensdarmen hören konnten: „Wozu ist denn da drüben die katholische Kirche?!“ …

Solche Cynismen milderte die Lokalsprache, deren sich Nück bei seinen Bildern bediente …

Die Frauen protestirten durch Aufstehen und heftigste Vorwürfe … Bald aber setzten sie sich wieder und lachten über den Sonderling, der dann in die süßeste Courtoisie verfallen und den Liebenswürdigen spielen konnte … Das graue Ungeheuer! nannte ihn, mit Wohlgefallen, seine eigene Schwägerin Johanna Kattendyk … Guido Goldfinger, ihr Verlobter, applaudirte ihm, wenn Nück in seinen seltnern politisch-conservativen Anwandelungen polterte: „Aufklärung! Aufklärung! Kaum hat der dumme Bauer gehört, daß die Sternschnuppen nicht von Gottes Lichtputze kommen, wenn der Alte, im Flurhypothekenbuch der Menschheit vertieft, sich nur deshalb die Sternenlichter putzt, um ihre Sünden in desto deutlicherm Lichte zu sehen, so denkt er ja gleich: Nun all’ gut, nun auch gleich Mistforke und Heugabel in die Hand genommen und auf die Zoll- und Rathhäuser gestürmt, 63 wo die unbezahlten Steuerrester und Schuldverschreibungen liegen!“ Bei alledem jubelte er jeder Nachricht von einem Pöbelauflauf, wenn er nur die „Neunmalweisen“ in Verlegenheit setzte …

Ein solcher Zustand der Seele wird zuletzt haltungslos, die Widersprüche heben sich auf, nichts bleibt übrig, als was Nück in seinen geheimsten Stunden war, ein Verzweifelnder, tief Lebensüberdrüssiger. Nächtlich konnte er umherrasen, in seinen grauen, alten Mantel gehüllt. Frau Schummel war dann die Vertraute der Phantasieen seiner entfesselten Sinne; Bedürfnisse hatte er, deren Befriedigung an einem Abend ein Vermögen kostete … Plötzlich aber stieß er wieder alles von sich und predigte Buße und konnte an Selbstmord denken … So überraschte ihn einst Hammaker und brachte ihn auf die uns bekannten Verirrungen des scheinbar sich Erhängenwollens … In vertrautester Stille konnte er um diesen Hammaker klagen: „Was war denn nun das für ein Unglück, daß er den bösen Drachen umgebracht hat? Die natürliche Vergeltung ist das ja hier schon auf Erden! Jene hatte andere auf der Seele, diese hatten wieder andere und den Hammaker hätte dann auch schon Einer gerichtet!“ …

„Mädchen, kannst du lügen?“ „Kannst du falsche Handschriften machen?“ „Kannst du Feuer anlegen?“

So hatte Nück zu Lucinden gesprochen an jenem Piter’schen Festabend. Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Jean Picard wußte sie etwas von einer gewissen That, für die dieser durch Hammaker war gedungen 64 worden. Nück war nie wieder auf diese Zumuthungen, ein Verbrechen zu unterstützen, zurückgekommen. Einiges hatte er von Lucindens Besuch im Profeßhause und von ihrer damaligen Todesangst in Erfahrung gebracht – die Erwähnung der „Spinozistin“ Veilchen Igelsheimer brachte sie darauf … Aber über alles Andere, was von ihm zum Gewinn des großen Processes der Dorstes verbrecherisch unternommen werden konnte, waren seit Benno’s Abreise nach Witoborn die Schleier der Vergessenheit gefallen …

So schien alles still und friedlich … Lucinde wurde die Vertraute des Hauses, die Freundin, die Tochter, wie oft die Commerzienräthin ihr zuflüsterte – vorzugsweise, wenn sie der Mesalliance gedachte, die ihr durch Piter drohte. Denn Piter ließ nicht von Treudchen. Au contraire – seit seinem verunglückten Abend war er entschiedener, denn je, darauf bedacht, sich durch gänzliche Nichtübereinstimmung mit dem, was die gesunde Vernunft von ihm erwartete, allen Menschen so gefährlich wie möglich zu machen … Der uns bekannte Entschluß Ernst Delring’s, aus dem Geschäft auszutreten und die Stadt zu verlassen, wurde auch durch ein Ereigniß erleichtert, dessen betrübender Verlauf von Tieferblickenden geahnt werden konnte … Lucinde war nach Witoborn in Trauerkleidern gekommen … Das Hauptmotiv, mit dem sie das Herz der Frau von Sicking im Interesse der Kattendyk’schen Bitte zu rühren hoffen konnte, war Mutterschmerz und Geschwisterliebe … Hendrika Delring war nicht mehr …

Die sanfte, gute, liebevolle Frau, die Treudchen 65 Ley einst so herablassend zu schmücken verstand; die so tief beklommen dem Gebet zugehört, als Treudchen niederkniete zur zurückgesetzten Madonna; die dann gleichfalls die Hände faltete – über der Hoffnung ihres Gatten, dem sie ihr Kind nach dessen ganzer Zukunft schenken wollte; Hendrika Delring, der von Piter tyrannisirte Flüchtling in den Beichtstuhl Bonaventura’s, hatte die Schmerzen der Geburt nicht überstanden … Ihr schon den Jahren nach auf solche Proben seiner Kraft nicht mehr angewiesener Körper leistete Widerstand; um die Mutter zu retten, mußte das Kind geopfert werden; bald darauf entwich auch ihr die Kraft, ein letzter Hauch des versagenden Athems und sie ging hinüber in ein Land, wo ihr die Taufe ihres Kindes keine Leiden mehr bereitete …

Das Leben ist so! sprach Lucinde zu dem in Thränen verzweifelnden Treudchen, das sich bis zum letzten Augenblick treu bewährt hatte, sich nicht hatte nehmen lassen, die Todte zu entkleiden, zu waschen, sie für die Bahre zu schmücken … Gerade das, worauf die meisten Vorbereitungen getroffen werden, gerade das, dessen Eintritt ins Dasein uns nicht hoch genug beschäftigen kann und an das wir all unsern Muth, all unsern Verstand, unser ganzes Herz setzen, das tritt nicht ein!

Lucinde sprach dies einem Urtheil in Serlo’s Papieren über eine Dichtung nach. „Der Held mußte sterben! Wie kann man denn soviel reden und handeln lassen, um dem Misgeschick vorzubeugen, wenn das Mis-66geschick nicht wirklich ein Ungethüm ist, das Menschenkraft nicht überwindet? Die Götter strafen jede Einmischung in ihre Rechte. Das ist traurig, aber gar nicht so niederdrückend, wie es scheint. Wenn der Vorhang fällt, wenn die Menschen wieder an ihren abendlichen Kartoffelsalat gehen und sie hochvergnügt scheinen, daß nicht Gott, sondern die Birch-Pfeiffer die Welt regiert und die guten Seelen zuletzt doch «sich kriegen», so glauben sie’s im Grunde nicht. «Romeo und Julia» kann kein Schauspiel sein. Der Tod – der ist zuletzt doch etwas Süßes für uns und die einzige Schönheit, die eine That ins Große verklärt. Wäre der Tod nicht, wir unternähmen nichts mehr, was unserm göttlichen Ursprung Ehre macht. Es ist, als forderte uns ein Preis heraus, je höher die damit verbundene Gefahr ist. Was wären wir, wenn das Schöne auf Erden sich halten könnte! Gerade der unterliegende Kampf gegen das Verhängniß zieht uns himmelan!“

Acht Tage nach dem Begräbniß Hendrika’s wurde der Edeln ein Opfer gebracht, das reiner gen Himmel stieg, als alle Seelenmessen für sie, die auf Jahre hinaus von der Mutter gestiftet wurden. Treudchen Ley, die noch nicht ihr Trauerjahr um ihre Mutter vorüber hatte, kehrte in die theilweise schon geminderte volle Trauerkleidung zurück. Tief verhärmt war sie schon lange; ihr schönes blondes Haar verrieth nichts mehr von der alten gefallsamen Pflege. Schon lange nagten die bittersten Schmerzen an ihrer Ruhe. Piter hatte einem geheimen Familienconvent nicht beigewohnt. Als er das Resultat desselben erfuhr, das Beziehen des obern 67 Stocks durch Goldfingers – Johanna sollte sich noch vor Beendigung der „Heiligen Botanik“ verehelichen – erklärte er das ganze obere Stockwerk für sich allein zu bedürfen, für seinen nächstens zu eröffnenden Hausstand, und niemand anders, als „ein einfaches, bescheidenes Mädchen aus dem Volke“, keine „Staatsdame“, würde er heirathen. Ein Widerstand dagegen war deshalb auch schwierig, weil die ganze Familie Treudchen liebte und sie schon lange wie eine Verwandte behandelte. Da verschwand eines Tages Treudchen. Sie hinterließ die Kunde, daß sie bei den Karmeliterinnen war. Man konnte annehmen, daß sie den Schleier nahm. Cajetan Rother, der Beichtvater der Damen vom Römerweg, kam selbst zur Commerzienräthin und erklärte, schon lange trüge das junge Mädchen die schwärmerischste Liebe zur seligsten Jungfrau im Herzen und würde der Majestät ihres göttlichen Sohnes jedenfalls die Huldigung bringen, eine Braut Christi zu werden …

Mitten in dem furchtbaren Revolutionsausbruch, den diese Nachricht im Kattendyk’schen Hause zur Folge hatte – Piter drohte nicht weniger, als die Kathedrale bis auf den letzten Stein zu schleifen – traten die Veranlassungen ein, die Lucinden bestimmten, sich selbst zur Dolmetscherin der Wünsche zu machen, die die Commerzienräthin in Betreff der vielbesprochenen neuen Unternehmung der Frau von Sicking hegte …

Eines Tages kam sie aufgeregt in das Toilettenzimmer ihrer Gebieterin und erklärte mit angstentstell-68tem Antlitz, sie wollte selbst nach Witoborn reisen, um jene Bußfrage zu ordnen …

Wally Kattendyk, hocherstaunt, weinte Thränen der Rührung über diesen edeln Entschluß, küßte Lucindens Stirn und Wange und drückte sie an die eben im Schnüren begriffenen Corsetverschanzungen ihres Herzens …

Noch am selben Abend wollte Lucinde abreisen, unmittelbar nach jenem Besuch des Herrn Cajetanus Rother …

Nück war Rothern auf der Treppe begegnet … Er kam mit einer Anzahl in den Bart gemurmelter Vermuthungen über die seltsam geheimen Zusammenhänge der dieser Flucht Treudchen’s zum Grunde liegenden Ursachen … Piter war noch auf dem Polizeiamt und requirirte eine Hülfe, die ihm nach der Bulle De salute animarum nicht werden konnte, wenn Gertrud Ley auf ihrem Willen bestand und von ihrem Vormund in Kocher am Fall, einem ehrlichen Handwerker, die Zustimmung zum Eintritt ins Kloster brachte …

Da hörte Nück von der Reise, die die nicht anwesende Lucinde beabsichtigte …

Nach Witoborn? fragte er staunend. Das ist ja seltsam! setzte er hinzu und suchte Lucindens Zimmer … Am Vormittag war sie zweimal bei ihm gewesen, ohne ihn zu finden … Er hatte gerade beim Gericht plaidirt …

Als Nück eintrat, fand er Lucinden vollständig zur Reise gerüstet … Erst wollte sie mit einem Wort aufwallen, dann beherrschte sie sich und sank auf einen der mehreren Koffer nieder, die rings um sie her standen …

69 Was ist denn, mein Fräulein? fragte er mit hoch aufgerissenen Augenbrauen …

Ich reise – nach Witoborn! … war die leise verhauchende Antwort …

Hör’ ich ja mit Befremden, erwiderte Nück … Und mit Extrapost noch dazu? … Im Hof unten steht Mutters Reisewagen … Joseph begleitet Sie doch? … Und nicht einmal das? … Nur die Pferde fehlen noch? … Liebste Freundin, welche Eile –? Alles das – der Exercitien wegen –?

Lucinde saß, die Hände aufgestützt … Ihre Hand hielt die Bänder eines Reisehuts, der beinahe auf der Erde schleifte … Allmählich hob sie von unten her den Blick und durchbohrte mit prüfender Schärfe die völlig ruhigen Züge des Oberprocurators …

Sie waren bei mir, um Abschied zu nehmen –? fragte dieser voll erhöhten Erstaunens …

Zweimal … antwortete sie scharf betonend und doch durch seine Ruhe in ihrer Elasticität schon nachlassend …

Gestehen Sie, wandte sich Nück ihr näher, es ist die Eifersucht, die Sie so mächtig ergreift! … Sie haben von den Erfolgen des Domherrn gehört … Tagelang ist er mit Gräfin Paula … Er magnetisirt sie …

Lucinde hielt die Hände über die Augen, als blendeten sie die Lichter, die auf dem Tische standen …

Haben Sie schon vom Tod des Kronsyndikus gehört? fuhr Nück fort. Ich hörte, daß er sterben wird! Fürchten Sie, von seinem Testament ausgeschlossen zu sein?

Lucinde schwieg …

70 Der Präsident von Wittekind ist nach Neuhof gereist … Hätten auch Sie noch so viel Theilnahme für den alten Tyrannen, ihn noch einmal sehen zu wollen?

Lucindens Erinnerungen liefen geisterhaft an ihrer Seele hin … Sie sah den Kronsyndikus in Hamburg aus dem Wagen steigen, als er sie, schon damals leichenblaß, bei den Geschwistern Carstens aufsuchte … Sie sah ihn in jener Nacht in Kiel, wo er gespenstisch mit dem Degen in der Hand von seiner zweiten Frau sprach … Dann aber drängte sich in die Theilnahme für ihn sein Schweigen, als sie mit Serlo’s Familie umherirrte, darbte und vergebens auf seine Hülfe hoffte … Sie zeigte sich zu seinem möglichen Tode ohne jede Theilnahme …

Nun, in Nück’s Benehmen keine Bestätigung ihrer Ahnungen findend, erhob sie sich und ging entschlußlos im kleinen Zimmer auf und nieder …

Wollen Sie Klingsohrn das Mittel mittheilen, das ich Ihnen neulich sagte, um ihn aus dem Kloster zu bringen?

Alle diese Namen berührten Lucinden nur schmerzlich und trugen ihm ein: O schweigen Sie! nach dem andern ein …

Ihr Reisegrund war in der That einer, den sie ihm nicht mitzutheilen wagte …

Am frühen Morgen, als sie in die Messe gehen wollte, hatte sie eine Entdeckung gemacht, die sie mit eisigem Schrecken überlief …

Am Posthof hatte sie vorüber müssen und war eines Briefes wegen in diesen eingetreten …

71 Da stand ein Eilwagen, der soeben bespannt wurde …

In Begriff einzusteigen sah sie in Pelzen, mit Handtaschen, Fußsäcken, sechs bis acht Passagiere harren …

Eine dieser Gestalten fiel ihr auf und noch mehr fiel sie, wie sie sogleich sah, diesem Reisenden selbst auf …

Kaum hatte sie einen prüfenden Blick auf einen Mann in einem wassergrünen Flausrock, mit einem rothen Comfortable um den Hals, geworfen, als sich derselbe auch sofort abwandte und die Hände schnell aus den Rocktaschen zog, in die er ruhig sie gesteckt hielt …

Sie sagte sich: Das ist ja Bickert! … Darüber konnte kein Zweifel sein … Wuchs, Gesichtszüge waren unverkennbar, nur das Haupthaar ein anderes … Sonst roth, war es jetzt dunkelschwarz und lockig …

Sie mußte stehen bleiben und wandte sich, um den Verbrecher näher in Augenschein zu nehmen …

Jetzt, sah sie, entdeckte er, daß auch sie ihn erkannt hatte, und immer mehr vermied er nun, ihr ins Angesicht zu sehen …

Einen Augenblick that sie, als entfernte sie sich; doch nur um wieder zurückkehren zu können und sich vor die auf den Thüren befestigten Tarife zu stellen und scheinbar diese zu lesen …

Jetzt wurde das Gepäck der Reisenden gebracht … Sie hörte: „Nach Witoborn!“ …

Ihre Brust klopfte … Sollte sie den Unglücklichen anreden, der ihr seine Nichtentdeckung, dem aber auch sie kürzlich eine große Hülfe und Rettung ihrer Ehre verdankte, ihn, der sie mit jenen Papieren aus dem Sarg des 72 alten Mevissen, wie sie wenigstens glaubte, zur ewigen Herrin über Bonaventura’s Schicksal gemacht hatte? … Sollte sie ihn fragen, ob er es wäre, der nach Witoborn reiste? …

Da fiel ihr seine Mittheilung über Hammaker’s Anträge, sein Wort vom „rothen Hahn auf ein Schloß“ ein, sein: Sapristi! als sie in dem unterirdischen Gang selbst von Westerhof, selbst von Nück begonnen hatte …

Noch wogte ihre Angst um ein Verbrechen, in das sich nun Nück doch noch einließ, noch wogte die Furcht, hier so länger stehen zu bleiben, als die Namen der Passagiere aufgerufen wurden … Der, der ihr Jean Picard schien, stieg mit der Bezeichnung: „Herr Dionysius Schneid“ in den Wagen … Sie hatte sich’s wohlgemerkt; der Name wurde zweimal gerufen …

Nun blies der Postillon … Der Verbrecher fuhr von dannen … Unter dem Eingang der Post drückte er sich in eine Ecke, um nicht beim Vorüberfahren ganz aus nächster Nähe beobachtet zu werden …

In erster Aufregung flog Lucinde zu Nück, um aus seinem Benehmen zu erkennen, ob sie sich wirklich ihn, ihn selbst im Zusammenhang mit dieser Reise denken mußte – im Postbureau wurde ihr bestätigt, daß Herr Dionysius Schneid aus Strasburg seinen Platz bis Witoborn genommen hatte –

Dann sagte sie sich: Nein, wie kannst du Nück an Dinge erinnern, die von seiner Seite nur ein einziges mal und auch da nur so flüchtig und scherzhaft hingeworfen wurden! … Sie wußte, um was es sich in jenem 73 zu Nück’s tiefstem Verdrusse verlorenen Proceß handelte, jenem Proceß, der Paula’s Lebensschicksal entschied. Sie wußte, daß mit dem Fund der Urkunde Paula zwar ihr Erbe erhielt, aber auch das von einer durch die ganze Verwandtschaft festgehaltenen Etikette gestellte Ansinnen, sich mit dem um seine Hoffnungen betrogenen Grafen Hugo zu vermählen … Ihrer Rache konnte an sich nichts Süßeres geboten werden als dieser schadenfrohe Hinblick auf – Bonaventura’s Schmerz, und dennoch – zu mächtig wirkte entweder noch die Liebe und Sorge für ihn in ihrem für alles Uebrige abgestorbenen Herzen, um nicht zu erschrecken bei dem Gedanken, daß um den grausamen, sie „mit Füßen tretenden“ Mann soviel Wildes sich begeben könnte, oder sie gedachte der Gefahr eines Frevels, der leicht dem Scheitern ausgesetzt sein konnte und sie selbst vielleicht in neue Wirren stürzte … Schon war wiederholt ihr Name bei der Veröffentlichung der Beda Hunnius’schen Briefe genannt worden … Sollte sich der Fluch ihres Daseins immer greller und greller erfüllen? … Sollte sie durch diese wirkliche Ausführung geheimer Thaten auf die Bahn des Verbrechens hinübergeführt, ihrer Bekanntschaft mit Bickert überwiesen, um ihrer Erlebnisse auf dem Profeßhause willen wol gar dem öffentlichen Gerichte preisgegeben werden? … Sie wünschte die Folgen der That mit heißester Begier, zitterte aber vor ihrem Mislingen … Und nun ergriff sie die ihr eigene namenlose Angst, die sie immer hatte vor jeder Katastrophe, ehe sie da war. Flügel hätte sie sich geben mögen, den Verbrecher einzuholen, ihm nicht von der Seite zu weichen, ihn von seinem 74 Vorhaben zurückzuhalten … Noch einmal ging sie zu Nück, fand ihn aber wieder nicht …

Die Ruhe des Nück’schen Hauses, die Ordnung des Geschäfts, der Reichthum, dem sie auf Tritt und Schritt begegnete, sagten ihr wol: Thörin, Thörin, wessen hältst du einen Nück für fähig! Für wahnsinnig würd’ er dich halten, sprächst du davon! … Und bin ich’s vielleicht nicht selbst? … Seh’ ich mich nicht ewig mit Hammaker auf dem Schaffot, seh’ ich mich da nicht mit meinen Brüdern, mit Oskar Binder, mit meiner Hauptmännin – alles so, wie ich’s so oft träume! … Die Stimmung einer wie von Furien Verfolgten und wie der höchsten Gewissensangst kam über die in sich haltlose und so tief ehrgeizige Seele … Und um nur etwas zu thun, was den Augenblick festhielt, betrieb sie ihre Reise, schützte Gründe der Eile vor, ließ alle Anstalten wie zu einer Flucht treffen … Sie glaubte wenigstens darin das Beste zu thun, daß sie, selbst wenn keine Verständigung mit Nück möglich war, doch in die Nähe des Verbrechers zu kommen suchte, um seinen Arm zu ergreifen und ihm zuzurufen: Die ewigen Mächte ziehen mich durch dich noch nicht rettungslos hinunter!

Das „Hessenmädchen“ – die halbe Bäuerin – das war sie geworden! … Geworden durch Schönheit, Ehrgeiz, Geist und – „Unglück!“ … Sie sah Nück in ihrem kleinen Zimmer jetzt an wie eine Verzweifelnde … Ihm aber erschien sie bei alledem eine Zauberin; nur die rothen Kleider, die phantastischen Zeichen fehlten um ihre Schultern, der goldene Stab in ihren Händen; er hätte 75 sie zur Priesterin welcher Religion sie wollte gemacht …

Schon sprach er, mit heißen Seufzern sich ihr nähernd:

Sie sind krank! Lucinde!

Sie fuhr zurück, als vergiftete sie sein Athem …

Sich sammelnd bat er sie, sich zu beruhigen und die Pferde abbestellen zu dürfen … Seine Augenbrauen zuckten hin und her … Er öffnete das Fenster, sprach in den Hof hinunter und bestellte die Pferde ab …

Lucinde ließ nun alles geschehen …

Kommen Sie! Was haben Sie? Sprechen Sie aufrichtig mit mir! Ich kann alles hören! begann er …

Diese gleisnerische Ruhe war so entwaffnend, daß sie, als glücklicherweise die Thür aufging und die Commerzienräthin, Johanna, die Hausfreunde herbeigeeilt kamen und staunend von dem veränderten Reiseplan sprachen, einwilligte zu bleiben, zustimmte nach vorn zu gehen und ihre Furcht und ihr Bangen für den Augenblick beschwichtigte …

Nück folgte mit Ingrimm … Er war gestört worden in einer längst ersehnten Stunde … Doch scherzte er alles hinweg und sagte, daß er es so weit zu bringen nie geglaubt hätte, sich wieder an Thee zu gewöhnen …

Einige Tage vergingen Lucinden auf den Anblick der Harmlosigkeit des schreckhaften Mannes in einem Zustand scheinbarer Beruhigung oder der Abspannung … Monika von Hülleshoven machte Condolenzbesuch und nahm Abschied, um ebenfalls auf Witoborn 76 zu reisen … Lucinde hätte sich der Hand dieser kleinen freundlichen und mit Rührung von Hendrika Delring sprechenden Frau anklammern und rufen mögen: Nimm mich mit! … Doch Monika’s Blick war ihr kalt und streng und es schien, als wollte auch sie schon nach seither öfter erfolgter Begegnung sagen – wie fast alle Frauen –: Wir gehören nicht zusammen!

Ihre Furcht erwachte aufs neue …

Zu schreiben an Nück wagte sie nicht … Täglich hatte Nück das Princip wiederholt, das sie schon bei der ersten Unterhaltung von ihm gehört: Nicht schreiben! …

Schon nach drei Tagen war ihr Zustand völlig rathlos …

Als sie gerade in den obern, schon von Delring verlassenen Zimmern des zweiten Stockes etwas räumte, kam ihr eines Morgens Nück entgegen. Es war wie zufällig. Hier, in den schallenden Zimmern, ohne Tisch und Stuhl, hier wagte er, nicht achtend der Erinnerung an eine Sterbestätte, auf der sie standen, eine Scene herbeizuführen, wie die erste gewesen an jenem Piter’schen Festabend und wie sie neulich ihm gestört worden war …

Lucinde unterbrach ihn aber und sagte:

Wollen Sie mich wieder auffordern, das auszuführen, wofür Hammaker Bickert gedungen hat, der in diesem Augenblick vielleicht im Begriff ist, Ihren Proceß durch Mordbrennerei zu entscheiden?

Nück sah sie mit seinen weit aufgerissenen weißen Augen an …

Schon ertrug sie diese Augen, die ihr früher so entsetzlich gewesen …

77 In – diesem – Augenblick –? Was reden Sie da? sprach er …

Lucinde wiederholte ihre Frage …

Hammaker? Wer ist – Sie kennen – was – wer ist – Bickert?

Diese Frage war eine heuchlerische. Die ersten Reden jedoch, die Nück in unterbrochenen Sätzen ausgestoßen hatte, schienen in der That unverstellt gewesen zu sein …

Bickert, sagte Lucinde, jede Fiber in seinen Bewegungen beobachtend, Bickert ist jener Kirchhofräuber des Dorfes Sanct-Wolfgang … Ich entdeckte ihn hier bei jener Gefahr im Profeßhause, von der ich Ihnen noch nicht alles erzählt habe … Aber Sie, Sie hat er mir genannt als den Mann, der ihm die Mittel geben würde, für immer nach Amerika zu entfliehen, wenn er – staunen Sie nur! – zuvor auf einem Schlosse – Feuer angelegt und bei dieser Gelegenheit eine falsche Urkunde –

Himmel! unterbrach sie Nück … Die Wände haben ja Ohren –! Was sprechen Sie da? …

Sprachen Sie nicht einst selbst so zu mir?

Ich? … Zu Ihnen? … Wann?

Nück stand besinnungslos …

In wessen Auftrag ist Dionysius Schneid nach Witoborn gereist? fuhr Lucinde mit überlegener Ruhe fort …

Dionysius – Schneid –? Wer – ist – das?

Nück zeigte eine unverstellte Befremdung, war aber zugleich in eine Aufregung versetzt, die ihm, dem Kalten, Ruhigen, Allem gleichgültig Zuwartenden den Schweiß auf die Stirne trieb … Kein Stuhl war im 78 Zimmer, auf den er sich hätte niederlassen können … Er taumelte zum Fenster hin, um sich dort zu halten; zufällig ergriff er eine noch zurückgebliebene Vorhangschnur und ließ diese sofort aus den Händen gleiten, stöhnend:

Ich hielt meinen Schutzengel von der Reise zurück! … Ich fange an – zu – ahnen –! Jesus Maria! … Ja, ja! … Sie müssen fort, fort, sogleich! … Wär’ es denn möglich! Ich sah nichts, nichts als Ihre Liebe zum Domherrn … Sogar die todten Schatten Serlo und Klingsohr beneid’ ich noch –! Fort! fort! In diesem Augenblick!

Jetzt noch mehr erbebte Lucinde vor dieser Angst des sonst so muthigen Mannes …

Wenn ich an jenem Abend, fuhr er mit ungewissem Stammeln und grauenhaftem Auf- und Abgehen seiner Kinnladen fort, über – die Urkunde – scherzte; wenn ich – die Urkunde nannte, die zu Ihrer Freude Paula zur Gräfin von Salem-Camphausen – machen könnte, so geschah’s im Taumel der Freude, Sie allein zu sehen, Sie in Ihren Geheimnissen zu überraschen, Sie zu sehen an einem so berauschenden Abend in Ihrem Glanz, in Ihrer Schönheit … Können Sie glauben, daß ich in meinem Haß so, so weit gehen konnte –? Aber ja, Sie haben Recht … Ich Wahnsinniger, ich habe einst zu einem solchen Plane gelacht … Ich habe drei verzweiflungsvolle Monate meines Lebens über dies Lachen hingebracht … Drei Monate, wo Hammaker unter den Verhören der Richter stand … Damals kam kein Schlaf über meine Augen … Ich irrte umher, scherzte und – lachte, aber unterm Damoklesschwert … Hammaker 79 war – muß ich es doch zugestehen! – ein Höllenbrand … Für seine verlorene Ehre, für die Bildung, die er besaß, rächte er sich am Menschengeschlecht … Wie er mich auf dem Gewissen hat, darüber beicht’ ich Ihnen, Lucinde, Ihnen – doch nur – wenn wir beide in Rom sind … Lassen Sie mir dies Bild – in der Wüste meines Lebens! … Hammakern ließ ich – schon seit lange – für sich – gewähren und suchte nur von ihm loszukommen … Merkte er diese Absicht, dann konnt’ ich sicher sein, einen neuen Anschlag von ihm zu gewärtigen … Er war der dunkle Schatten meines Lebens – Und so unzertrennlich blieb er von mir, daß ich ihn sogar vor Gericht noch vertheidigen mußte! … Die unglückselige Dose! … Daß ich sie auch gerade ziehen mußte und ihm in sie den Griff verweigern! … Eine Hölle grinste mich gleich an aus seinem Racheblick … Ich sehe – sie ist jetzt losgelassen …

Nück mußte sich halten … Er war zu erschüttert – Lucinde dachte an Serlo, der einen Abend hatte zubringen können, zu rathen, wen wol Goethe in seinem „Clavigo“ im Sinne gehabt, als er Carlos sagen läßt: „Ich, der ich dabei war, als dem Ersten der Menschen die Angsttropfen auf der Stirn standen“ –? Lucinde hätte unter den vielen Beispielen verzweifelnd Ueberführter oder unerwartet vom Schicksal Geäffter, die Serlo aus seinem Leben nennen konnte, jetzt den Oberprocurator Nück anführen können …

Eines Tages, fuhr Nück in stammelnder Rede und so, als würde schon durch seine Erzählung der Moment des Handelns versäumt, fort – eines Tages, als ich über 80 die fehlende Urkunde in dem großen Processe klagte, sagte Hammaker, der ein Jurist war, seltene Kenntnisse besaß: Nück! Spielen wir doch – ein bischen Pseudo-Isidor! Sie verstehen das nicht …

Doch! sagte Lucinde. Der heilige Isidorus von Sevilla hat die Regeln aufgeschrieben, nach denen sich allmählich euer kirchliches Recht bildete! Ein Geistlicher in Mainz, Benedictus Levita, gab hierauf diese noch einmal heraus, gefälscht aber durch Zusätze, die der Macht der Bischöfe über den Klerus günstig waren. Um nun wieder die Bischöfe sicher zu stellen vor den Folgen jener Verfälschung, ließen diese durch neue Fälschungen dem ersten Bischof in Rom die höchsten Ehren. Ohne diese Lügengewebe des falschen Isidorus von Sevilla gäb’ es keinen Papst in Rom, keine dreifache Krone, die die Welt beherrscht, auch keinen Orden vom goldenen Sporen – –

Nück reichte gezwungen lächelnd mit der zitternden Hand zu Lucindens Stirn hinauf, als wollte er sagen: Werth bist du selbst eine Krone zu tragen! … Mit einem Gemisch von Huldigung, von gemachter Frömmigkeit und Ironie warf er die Worte hin: Bei alledem sind Sie eine große Ketzerin! … Dann fuhr er fort: Ja! Hammaker sprach von diesem Pseudo-Isidor, der allerdings Rom groß gemacht hat und Rom gedeihe doch! Gedeihe durch eine Lüge! sagte der Schurke. Ich lächelte – lächelte ohne Arg … Ich beschwöre Ihnen dies! Ich beschwör’ es – bei – Ihrer – Liebe zum Domherrn – denn an etwas anderes in der Welt glauben Sie doch nicht! Hammaker veranstaltete alles, was ich – zwar nur so obenhin, aber doch schon von 81 Entsetzen ergriffen – plötzlich zu ahnen begann … Immer hatte er etwas, was bald zu meinem Glück, bald zu meinem Verderben ausschlagen konnte … Alle Kenntnisse besaß er, die dazu gehörten, eine falsche Urkunde im Geschmack alter Zeit aufzusetzen, sie aufs zierlichste zu copiren, sie mit chemischen Mitteln wie wurmstichig zu machen, sie mit Kaffeesatz zu bräunen … Nur durch einen Act der List oder Gewalt konnte diese Urkunde in die Archive kommen … Ich ahnte ein Vorhaben dieser Art, das mich ewig zu seinem Sklaven machen mußte … Das wollte er denn auch … Indessen – ich beruhigte mich – ich sah ja sein nahes Ende … Im Gefängniß wär’ ich gern einmal auf meine Furcht zurückgekommen, nur hatt’ ich immer Feuer an den Sohlen, so oft ich mit ihm reden mußte … Noch jetzt – sehen Sie – Nur an ihn zu denken und nicht schon handeln ist gefährlich – Sie müssen reisen, Lucinde … heute, heute noch! …

Lucinde stand mit klopfendem Herzen, ein Bild zwar des Schreckens, aber doch schon gefaßter, da sie die Mitfurcht eines so mächtigen Dritten hatte …

Vielleicht irr’ ich mich in den Voraussetzungen über die Verkleidung jenes Picard … sagte sie …

Nein, nein! Hammaker hat mir diesen Dank fürs Leben hinterlassen wollen! Nun weiß ich es für gewiß! Folge mir auch du! riefen die Teufel in seiner Brust, als er aufs Schaffot mußte … In meinen Gefängnißgesprächen mit ihm deutete ich auf jene frühern Aeußerungen über den falschen Isidorus hin … Da fuhr er auf und sagte höhnisch, daß ich ihm denn doch 82 auch zu viel Devotion für meine Interessen zutraute … Für – meine Interessen? fragte ich forschend, mußte aber schweigen und sehen Sie da, wie ich mit ihm stand – jedesmal daß ich bei ihm war, hatte ich Gift bei mir und wollte es ihm anbieten … Einmal machte ich davon eine Andeutung … Da sprang er auf mich zu und erschlug mich fast mit der Handschelle … Ich entfloh, die Wache kam herein … Ich hörte die nichtswürdigsten Worte hinter mir hergerufen … Er glaubte nicht an seine Hinrichtung – er wollte die Buschbeck nur im Ringen, nur im Vertheidigungsstand gegen eine Wüthende erwürgt haben … Voll Rache, auch gegen mich und meine scheiternde Vertheidigung, bestieg er das Schaffot. Seitdem athmete ich auf und ahnte nicht, daß er mich nach sich zieht … Neulich merkt’ ich etwas davon zum ersten male … Ein Mensch kommt zu mir und stellt sich mir vor als ein von Hammaker Gedungener –

Den – Den mein’ ich! … bestätigte Lucinde …

Als ein Mensch, der von mir tausend Thaler bekommen würde, wenn er auf Schloß Westerhof bei Witoborn im dortigen Archiv Feuer anlegte … Bei dem dann entstehenden Tumult sollte er eine Urkunde, die er wohlverwahrt bei sich zu Hause hätte, in das Archiv bringen … Ich stand erstarrt … Mich endlich ermannend fuhr ich dem wüsten Menschen an die Gurgel und wollte die Wache rufen … Darüber wieder entsank mir der Muth … Ein Verdacht, ein Flecken würde immer geblieben sein … So redete ich dem stumpfsinnigen, der deutschen Sprache kaum mächtigen 83 Menschen zu, bat ihn vernünftig zu sein, solche Nichtswürdigkeiten nicht zum zweiten male gegen mich auszusprechen und gab ihm hundert Thaler zur sofortigen Abreise … Wie bereu’ ich die geringe Summe, die ich gegeben! Auch die Drohungen, die ich ihm nachrief! Ich fahre sofort auf das Polizeiamt! sprach ich ihm die Thür weisend; ich werde Sie anzeigen und beobachten lassen! … Da erst besann ich mich: Hammaker wird ihm gesagt haben: Gelingt es oder nicht, so sind tausend Thaler mehr oder weniger für Nück’s Furcht eine Bagatelle! Ewig kannst du auf die Art von ihm ziehen! Jedenfalls mehr, als wenn du in Westerhof uns, heute oder morgen, beide angäbest und zum Dank – dann doch auch mit ans Eisen müßtest! … Ich höre alles das! … Lucinde, wir erleben eine große Demüthigung …

Nück brach fast zusammen. Er kam zu keiner Besinnung mehr, steckte mit seiner Furcht aufs neue Lucinden an, die an manche Beruhigung sich halten wollte, drängte in sie, abzureisen, Bickert aufzusuchen und durch ihre Beredsamkeit, natürlich auch durch so viel Geld, als sie nur mitnehmen wollte, den Verbrecher von seiner That zurückzuhalten …

So reiste sie noch am selben Abend ab und kam nach Witoborn in der leidenschaftlichsten Erregung …

Nur zu bald erfuhr sie hier, wo sich ein gewisser Dionysius Schneid befand … Schon auf Westerhof! … Schon am Ziel seiner gewinnsüchtigen und frevlerischen Absichten! … Wie aber näherst du dich ihm? Wie rettest du dich vor Schimpf und Schande 84 … Im Geist sah sie sich durch alle diese Vorgänge auf der Bank vor den Assisen …

Willenlos hatte sie sich heute schmücken lassen … Willenlos war sie nach Münnichhof gefahren …

Paula hatte schon eine Vision von einer Feuersbrunst gehabt! … Das hörte sie dann … Sie sah in Püttmeyer’s Bildern immer nur Brand und Brand … Sie mußte sich selbst wie schon aus den Flammen losreißen …

Brütend, wie sie an Dionysius Schneid kommen sollte, saß sie in dem dunkeln Zimmer, zum Tod vernichtet …

Entsetzt fuhr sie zusammen, als ein Bedienter den Kopf durch die Thür steckte und sie nach ihrem Namen fragte … Vor ihren Blicken standen gleich Häscher und Richter …

Der Bediente sagte, ein Mönch, ein Laienbruder hätte bei einigen Dienern, die von Witoborn mit gekommen wären, nach dem Fräulein gefragt und zu seinem Erstaunen gehört, daß sie selbst hier anwesend wäre … Ob er sie sprechen dürfte? …

Wer? fragte sie halb ablehnend, halb nicht begreifend …

Ein Bruder Hubertus! Ein frommer guter Alter … Aus dem Kloster Himmelpfort drüben …

Hubertus? …

Den Namen kannte sie ja …

Aus Serlo’s Erinnerungen sah sie den Pater Fulgentius vor sich, den Hubertus einst gerichtet hatte …

Sie wußte auch, Hubertus war der ehemalige Ver-85lobte ihrer Hauptmännin … Der „Bruder Abtödter“ war’s, der Klingsohr zum Pater Sebastus gemacht hatte …

Naht sich schon wieder die Kette, die dich ewig an das Vergangene schmiedet? rief es verzweifelnd in ihrem Innern …

Sie wollte den Mönch abweisen …

Doch, noch ehe sie erwidert hatte, öffnete sich die Thür und ein dunkler Schatten huschte herein.

86 16.#

Vor der Unschönheit des Anblicks, der sich ihren Augen darbot, ergriff Lucinden ein Schauder …

Das waren keine Züge, die dem Leben angehörten … Jene Chinesenköpfe, die sie einst im verschlossenen Zimmer der Buschbeck gesehen, traten ihr entgegen … So lächeln Mumien …

Was wünschen Sie? fragte sie indessen mit sich sammelnder, ablehnender und hoffärtiger Kälte …

Sie erwartete eine Botschaft von Klingsohr und konnte sich darum noch weniger zur Freundlichkeit stimmen …

Mein geehrtes Fräulein – begann Hubertus mit seinem im wunderlichen Tonfall gesprochenen fremdartigen Dialekt und unterbrach sich dann schon selbst, um sich erst zu versichern, ob seine Rede unbelauscht blieb …

Lucindens Schrecken mehrte sich …

Was wollen Sie? sprang sie voll Furcht und Unwillen auf …

Dunkler und dunkler war es geworden … In 87 einem Kamin, sah Lucinde erst jetzt, leuchteten noch halbglimmende Kohlen …

Mein Fräulein, begann der Mönch aufs neue und mit Milderung seiner auffallenden Hast, Sie wohnen ja wol bei Frau von Sicking –?

Ja! Warum? …

Sie heißen Lucinde –

Schwarz – was fragen Sie danach?

Ich möchte wissen, ob Ihnen der Name – eines gewissen – Jean Picard bekannt ist? …

Lucinde mußte sich am Rand des Kamins halten … Da war das tödliche Wort gefallen … Das Geheimniß ihres Innersten ausgesprochen … Die Welt wußte schon alles! …

Der Alte sah die Vermuthung des Briefes bestätigt …

Allmählich zog er aus der innern Tasche seiner Kutte das Papier … Vor Aufregung lächelte er selbst … Konnte eine so schöne, junge Dame mit Verbrechern bekannt sein? … Bei seinem Lächeln gingen ihm die Winkel seines Mundes fast bis zum Ohr … Es war nicht zu unterscheiden, ob der schreckliche Mönch ihr Vorwurf oder Theilnahme bezeigte …

Lucinde stöhnte mit schwerem Athem:

Jean Picard? … Den Namen hab’ ich – einmal nennen hören … Ja! … Was soll es mit ihm? … Er hat auf einem Kirchhof einen Sarg erbrochen …

Der … Der! Ganz recht! … ergänzte der Mönch, entfaltete den Brief und prüfte Lucindens Benehmen, das sich vergebens zu fassen suchte …

88 Wissen Sie, wo er ist? Sie würden den Behörden – mit der Angabe – einen Gefallen thun! sagte sie kleinlaut …

Hubertus legte die Hand an den Knochen, der sein Kinn war, und betrachtete von unten her, forschend und mistrauisch, die kalte Ruhe, die sich ihm gegenüber so als völlig sorglos zu geben suchte … Ob diese Ruhe gemacht war, unterschied er nicht … Der gute Bruder hatte ein edles Herz, hatte viel erlebt, doch seine Geistesgaben waren nicht die hervorragendsten …

Fräulein, sprach er, als Lucinde so erwartungsvoll fragend stand … Hier ist ein Brief an die Behörden in Witoborn … Der Regierungsrath von Enckefuß wünscht, daß Sie – ja Sie, Fräulein – von seinem Vater, dem Landrath, um Ihre Bekanntschaft mit diesem Jean Picard befragt werden …

Lucinde hatte von Serlo einen Grundsatz angenommen. Dieser hieß: Droht dir eine Gefahr, und du weißt es und sie naht endlich, dann denke dir nur immer gleich die ganze Fülle des Elends! Laß nichts von beschönigenden Mittelstufen, von möglichen bessern Erwartungen aus! Sage gleich: Alles ist verloren! Und bricht dann doch nicht alles so herein, wie du fürchtetest, so hast du ja gleich eine kleine Abschlagzahlung wieder auf das Glück! …

So sah sie sich jetzt, wo schon die Sicherheitsbehörden ihr Geheimniß wußten, geradezu bereits in Ketten und Banden … Sie sagte sich: So wandelst du hin! So wird dein Loos sich erfüllen! Das wird aus einem Weibe, wenn – „es die Liebe nicht findet“ …! So 89 war dir’s, als du auf der Bühne scheitertest! … So war dir’s, als dir in der Dechanei gekündigt wurde! … Nun sieh nur zu, was kommt! …

Der Mönch betrachtete das ihm durch Klingsohr so wohlbekannte Mädchen voll Staunen und Mitleid … Kreidebleich, wie der Rand des Kamins, stand sie und bemerkte nicht, daß ihr der Alte mit seiner knöchernen Hand den Brief selbst zu lesen gab … Die Augen gingen ihr tief innenwärts …

Lesen Sie’s nur selbst, sagte der Greis und sprach dies schon wie strafend …

Zu dunkel ist’s! antwortete sie, wollte lesen und konnte nicht …

Sie wandte sich, weil ihre Hände zitterten und hauchte:

Sagen Sie doch selbst, was darinnen steht!

Hubertus theilte ihr den Inhalt des Briefs im kurzen Zusammenfassen mit …

Lucinde hörte ihr Todesurtheil … Sie sah Flammen um sich her und konnte nicht entfliehen … Sie hörte Sturm läuten von den Thürmen und rannte sinnlos mit den andern … Grützmacher, der Wachtmeister aus Kocher am Fall, stand vor ihr mit seinem Signalementbuch und sprach sein: Na Paschol, Mamsell! … Eine Emissärin hieß sie den Behörden schon lange …

So stand sie wie eine Statue …

Bei alledem sagte sie:

Dummheit! Ich sehe da die ganze – blonde – blauäugige – Weisheit des – Herrn von Enckefuß! … Wie kommen denn Sie – Sie, ein Klosterbruder, 90 dazu, von diesen Menschen – in – Criminalsachen gebraucht zu werden?

Der Landrath kennt diesen Brief noch nicht! sagte Hubertus. Auch soll er seinen Inhalt nicht erfahren – Darauf geb’ ich Ihnen mein Wort – falls Sie mir sagen, Fräulein, wo ich – Jean Picard finde!

Lucinde wandte staunend ihr Antlitz …

Und was geschah? Da lag das Papier schon auf dem halb im Verkohlen begriffenen Feuer des Kamins …

Der Mönch hatte es eben hingeworfen und das plötzliche Wehen des Kleides, das entstanden war, als Lucinde hoffnungsbelebt einen Schritt zurückfuhr, brachte den Zugwind, an dem sich das Papier entzündete und langsam zu verbrennen anfing …

Ich begreife Sie nicht –! flüsterte sie und fühlte bereits jene Serlo’sche „Abschlagzahlung wieder auf das Glück“ – ihre Augen blitzten wie ein Sonnenstrahl aus Wolken …

Mein Fräulein, begann der Mönch, mag dem sein wie ihm wolle, und was Sie auch mit solchem Volk zusammenbringt, ich gebe Ihnen den Schwur beim Patron meines Ordens, daß ich diesen Teufel kneble, binde, geradezu aufhänge, wenn ich ihn finde, um ihn von seinem Lasterleben zurückzuhalten … Sagen Sie mir nur, wo ich ihn entdecke – diesen Jean Picard! …

Waren denn das Worte der Verstellung? … War denn dieser muthige, entschlossene Ton die Sprache eines Feindes oder Bundesgenossen?

Der Greis richtete jene Miene auf sie, die, das erkannte sie jetzt, Lächeln sein sollte … Sie vertraute 91 dem innigen Ton der heftigen Rede des Alten und fragte mit Wonneschauern glücklicher Hoffnungen:

Was haben denn aber Sie für ein Interesse an solchen Verbrechern, die, wie Herr von Enckefuß glaubt, meine Freunde sein können?

Bei Sanct-Franciscus! rief Hubertus … Das ist, denk’ ich, keine Kleinigkeit, wenn man in Liebe an Jemand jahrelang denkt, ihn wiedersehen will und wiedersehen muß und gerade im selben Augenblick von ihm erfährt, ein Dieb, ein Räuber ist’s geworden, wie – die andern waren … Sehen Sie diesen Picard milder an, so weiß ich nicht, warum, Fräulein. Ich habe in jungen Jahren ein paar gute Körner in den Schurken gelegt … sind die so schlecht aufgegangen? So ganz der Apfel beim Stamm geblieben? Zwischen zwei Bäumen mach’ ich im Wald eine Hängematte aus ihm und laß’ ihn nicht eher zur Erde, als bis er vor Gott mir ein besserer Zeuge wird! Das schwör’ ich Ihnen!

Wie kühlender Regen nach wochenlanger trockener Hitze überrieselten diese Worte Lucindens Furcht und Bangen … Sie sah eine Möglichkeit, den Verbrecher von seinem boshaften Plane, Nück zu Geldzahlungen zu zwingen, zurückzubringen … Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Bickert entsann sie sich seiner Scheu vor einem Madonnenbilde, entsann sich seines Ganges in den Beichtstuhl Bonaventura’s … Vielleicht war er nicht nur einer Drohung, sondern selbst einer Mahnung zum Besseren zugänglich … Es lebte in ihm jene Ideenverwirrung, die die moralische Milde des Katholicismus in den Köpfen der Masse anrichtet … Sie sündigt 92 und beichtet und beichtet und sündigt … Der Bravo läßt den Dolch weihen, der gedungen ist, einen andern zu morden … Die gemachte Beute wird mit der Gottesmutter und mit den Heiligen getheilt …

Um ihre Freude nicht zu verrathen, schwieg sie und redete auch da noch nicht, als Hubertus mit immer dringlicherer Eile fortfuhr:

Sie kennen ihn! Sagen Sie mir aufrichtig, ohne Furcht: Wo ist er? Verlieren wir keinen Augenblick! Ich will ein Wort mit ihm reden wie Jüngstes Gericht!

In Lucindens Innern zog es wie eine himmlische Musik auf … Hubertus erschien ihr schön … Sie hätte ihn küssen mögen … Aber auch schon lachen vor innerstem Krampf und namenloser Freude …

Sagen Sie mir es nicht? Mir? Mir nicht? Was sollte auf Westerhof geschehen? …

Lucinde zuckte zusammen …

Reden Sie! Ich bitte!

Ich will Ihnen vertrauen! sprach sie. Auch ich – möchte – den – verirrten – Menschen schonen! Eine elende Vorspiegelung hat ihn bestimmt, hieher zu reisen und ein Verbrechen auszuführen, das ich – Ihnen nicht anzugeben weiß, das aber gute – unschuldige Menschen – ja mich selbst in peinliche Lagen bringen kann! – Versichern Sie sich seiner Person! Haben Sie Einfluß auf ihn, so können Sie mir und manchem, der Ihnen dafür ewig danken wird, keinen größern Dienst erweisen, als wenn Sie ihn, wie Sie nur irgend können, unschädlich machen! Ich wünschte, Sie wären nicht so geldscheu, wie dies Klosterbrüder zu sein pflegen! 93 Geld scheint das einzige Mittel zu sein, diese wüste Seele zum Bösen oder vielleicht ebendeshalb auch noch zum Guten zu lenken – und wenn ich Ihnen aus meinen Mitteln –

Das lassen Sie nur! unterbrach Hubertus. Sehen Sie, wie sich alles treffen mußte – Dem Schurken hielt ich zehntausend Thaler in Bereitschaft –! Sie staunen? … Noch mehr! Das ist Geld, an dem Ihre eigenen Thränen haften, Fräulein! Ja Ihre! Ihre! … Geld, das Sie, Sie mit erwerben halfen durch Hunger und Entbehrung! Jene Erbschaft der ermordeten Frau, die auch Sie auf dem Gewissen hat – fiel ja mir zu …

Lucinde war es nicht gewohnt, etwas von ihren Thränen zu hören … Und wie sich der ewig Unglückliche des Glücks entwöhnen kann und dessen Annäherung gar nicht mehr mit voller Beseligung fühlt, so entwöhnt sich auch das Herz, das man ewig kalt und empfindungslos nennt, der Anerkennung seiner bessern Gefühle … Sie war mehr erstaunt als gerührt über diese Worte … Sie erschrak sogar über sie; sie erinnerten an Klingsohr …

Woher wissen Sie das? fragte sie …

Durch Pater Sebastus! bestätigte Hubertus und musterte Lucinden mit dem ganzen Rückblick auf alles, was er über sie wußte und nach dem Eindruck, den sie ihm machte, jetzt wohl für glaublich halten konnte … O wüßt’ er, fuhr er mit freundlichem Nicken fort, daß Sie in seiner Nähe sind! Darf ich’s nicht dem Armen sagen?

94 Wem? fragte sie ausweichend und befremdet …

Heinrich Klingsohr! …

Wir sprechen von den Gefallenen, nicht von den Erhöhten! sagte Lucinde mit einer der ihr geläufig gewordenen devoten Wendungen … Sie finden den, den Sie suchen, auf dem Schlosse Westerhof! Unter dem Namen „Schneid“ hat er dort eine Stelle gefunden … Sein Aeußeres – Seit wie lange schon sahen Sie ihn nicht?

Ich habe das Merkzeichen meiner Kinder … Und schon in Westerhof! … Was wollt’ er dort? …

Warnen Sie ihn!

Warnen? … Damit halte ich mich nicht auf! … Ich trag’ ihn auf einen Thurm und werf’ ihn hundert Fuß tief, wenn er nicht Ordre hört! Ist aber an ihm noch zu flicken, so schaff’ ich ihn nach Bremen und von da aufs Schiff und mag er dann nach Amerika gehen …

Lucinde sagte sich selbst: Werde nur nicht übermüthig, seit du siehst, daß dich der Himmel noch liebt!

Hubertus begann eine Frage, die er nun auch noch nach Terschka richten wollte, unterbrach sich aber, weil in der Ferne die Jagdhörner ertönten …

Also Westerhof! wiederholte er … Schneid! … Und – Sie – Sie Wilde, Wilde! Warum soll ich nicht den Pater Sebastus grüßen?

Einem Kloster ziemt kein Frauengruß! sprach sie mit Lächeln …

Der Arme sitzt in Haft … Wie hätt’ ich ihm gegönnt, nach Lüttich zu entfliehen …

So vertraut war Hubertus mit Klingsohr …

95 In Haft? fragte sie …

Wenn ihn nicht heute der Domherr von Asselyn frei bekommt … Ja! … Der wollte ein Wort für ihn beim Provinzial einlegen …

Lucinde sah im Geist zwei, drei Räder gehen und sich selbst in ihrer Mitte … Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles rollte rundum – und nichts war fest …

Noch einmal rief sie dem schon Abschiednehmenden und immer vor sich hin: „Schneid!“ „Schneid!“ Murmelnden und richtete lächelnd die Frage an ihn:

Wissen Sie nicht irgendeinen hohlen Baum? Eine vom Blitz erschlagene Eiche?

Im Düsternbrook! Gewiß!

In diesen Baum soll Klingsohr entfliehen! …

In – einen – Baum? …

Ich denke … Wo möchte der Pater am liebsten sein?

Wo Sie sind oder – in Rom!

Nun gut! … Der Weg nach Rom führt durch jenen hohlen Baum – Aber die Jäger kommen … Ein andermal! …

Was Jäger! Auch ich war einer – hier und in den Wildnissen Javas! Was Entbehrung und Anstrengung heißt, das kenn’ ich … Ich bin von Schlangen gebissen worden und Malayen sogen mir das Gift aus den Wunden … Selbst lernt’ ich Gift aus einem frisch gebrochenen Schlangenzahn saugen und keine Schlange mehr hatte seitdem Gewalt über mich … Doch ja! Eine – Eine freilich! … Aber was soll’s mit dem Baum? Ich verstehe – nur – erst – halb und halb …

Lucinde wiederholte Nück’s Rath …

96 Die Regel Ihres Ordens, sprach sie schnell und wie zwischen Thür und Angel, gestattet Ihnen Veränderungen Ihrer Lage, aber nur müssen Sie – vom Strengen zum Strengern übergehen! Flieht der Pater in einen Baumstamm, lebt dort als Einsiedler, erträgt die Härte des Winters, bleibt in Sturm und Regen, hütet sein Crucifix und kümmert sich nicht, wer oder was ihn ernährt, so hat kein Kloster Gewalt über ihn; das Bedürfniß größerer Gottseligkeit ist heilig. Kommt dann aber – der Frühling – kommen die Schwalben –

Ha! So entfliehen wir nach Rom!

Nach Rom? Auch Sie?

Auch ich!

Nun gut! Aber – ohne Sandalen! Ohne Kapuze! Statt des Stricks – mit dem Stachelgürtel! … Nach der Regel des heiligen Petrus von Alcantara, die Sie vorgeben müssen, in Rom annehmen zu wollen … Seinen getreuen Alcantarinern wird Sanct-Franciscus Verzeihung gewähren … Die Prüfung ist groß … Aber wo seh’ ich Sie wieder? … Man kommt! … Morgen in der Frühe im Münster von Witoborn …

Damit drängte sie den staunenden Bruder aus dem Zimmer, zog die Thür sofort wieder an sich und eilte die Reste des Briefs zu zerstören, ihr Haar, ihre Kleider zu ordnen und sich zur Rückkehr in die Gesellschaft zu sammeln …

Ihre Brust athmete auf …

Kann denn für dich, riefen laufend frohlockende Stimmen, noch ein Wunder geschehen? Selbst das Gefühl der Versöhnung mischte sich in ihren Jubel. Wurde das 97 Verbrechen unterdrückt, so zog keine unerbittliche Hand mehr Paula von Bonaventura’s Seite … Auch das glaubte sie jetzt wünschen zu können. Mit erleichtertem Herzen, hoffnungsvoll kehrte sie in den jetzt schon von Kerzenlicht widerstrahlenden Saal zurück …

Das ganze Schloß war inzwischen in Bewegung gekommen …

Hörnerschall, Peitschenknallen, Hundegebell hörte man schon in nächster Nähe … Die Jagd kehrte heim … Jubelndes Halali wurde geblasen schon bis in den Schloßhof herein …

Die Frauen standen im Saale und zum Empfang der Männer geschart … Von Püttmeyer’s Künsten waren sie noch alle wie Traumbefangene; der Glanz der Lichter, der Duft der Speisen rief sie in eine nicht minder behagliche Wirklichkeit zurück …

Der Erfolg der Jagd war zuletzt der lohnendste gewesen. Das erlegte Wild kam in einer langen Wagenreihe an hoch bedeckt mit Tannenzweigen. Sämmtliche Treibleute, die den Tag über und schon gestern meilenweit mitgewirkt hatten, standen im Schloßhof und empfingen ihren Lohn für die gehabte Anstrengung. Man zahlte mit Geld und anerkennenden Worten. Der Graf hatte große Treffer von sich zu rühmen und war in bester Laune, denn der gefürchtete Terschka hatte weniger geleistet, als man erwartet; Terschka trug den Tannenschmuck an der grünen Mütze ohne jede Berechtigung zur Ueberhebung.

Nun auch traten der Dorste’sche Oberförster und 98 seine Gehülfen, der Wildmeister und die Leibschützen mit den bisher zurückgehaltenen Glossen der echten Jägerpraktika hervor und erklärten jeden Schuß, wie er hätte sein müssen, berichtigten jedes Misverständniß, deuteten an, wie man jenen Rehbock, diesen Spießer hätte sogleich da oder dort aufs Blatt nehmen sollen … Alle aber waren darin einverstanden, daß die Freude und das dann zuletzt doch nicht ausgebliebene Glück erst eingezogen waren, als der Landrath entfernt worden …

Laut gesprochen wurde über diesen Zwischenfall nicht mehr viel; der Damen wegen flüsterte man nur; der Landrath mußte ja für „tollgeworden“ gelten. Ueber etwa dabei Versäumtes beruhigte einer den andern, seit man von Hubertus’ glücklich getroffenen Anordnungen und der Abholung des Landraths aus einem Bauernhause durch sein Fuhrwerk und seinen Bedienten wußte …

Der Hinblick auf die Vorgänge im Hof hätte für die Frauen ein abschreckender sein sollen, denn das letzte erlegte Wild wurde hier von den Jägern ausgeweidet. Lunge, Herz, Leber, das Feiste in den Wammen, alles fiel den jagdkundigen Helfern zu nach Jägerrecht. Sorglich wurde weder hievon abgewichen, noch von den Trinkgeldern, die man dem in die Hand steckte, der das Tannenreis an Hut oder Mütze flocht. Der Anblick, an sich schon wild, machte sich malerisch schön durch die angesteckten Fackeln. Rings die alterthümlichen Wände und Galerieen. Schon allein das Getreibe der Hunde, die für die lang zurückgehaltene Gier jetzt durch ihren Antheil belohnt wurden, war eine Auf-99gabe für die Vereinigung der Talente eines Snyders und Rubens.

Dann wurde der Rückblick auf die Geschichte des Zusammensturzes dieser Thiere, die mit ihrem Blut den Boden bedeckten, mit einem Stimmeneifer begleitet, als handelte es sich um die größten Begebenheiten der Welt. Jeder stutzende Seitensprung eines Böckleins wurde noch jetzt belacht, nicht etwa weil die „nobeln Passionen“ Empfindungslosigkeit mit sich bringen, sondern weil der Mensch an der Ausübung seiner Hoheitsrechte über die Natur doch zuletzt eine berechtigte Freude haben darf. Die Spottreden waren nicht mehr so scharf gesalzen, wie im Beginn. Hatten doch auch die jedem einzelnen mitgegebenen Jäger, des Tannenzweigs, d. h. Trinkgelds wegen, dafür gesorgt, daß zuletzt jeder auch noch so lateinische Jäger gleichsam wie von Samiel’s Hand eine sicher treffende Freikugel bekam, und sollte sie auch nur in der diabolisch vermessenen Sicherheit bestanden haben, mit welcher unter fünf auf zwanzig fallenden glücklichen Schüssen einer sicher auf den von ihnen secundirten Herrn gerechnet wurde. Dieser glaubte es dann selbst und je dunkler es wurde, desto weniger Widerspruch auch bei den andern. Onkel Levinus strahlte vor Genugthuung und Zufriedenheit. Auch die Amazonen, selbst Fräulein von „Anflicker“, alle hatten getroffen und zeigten im Hof ihre Opfer … Nur Armgart erklärte mit aller Offenheit, sie hätte nichts erlegt … Sie war die einzige, deren Zähne vor Frost klapperten … Sie suchte fiebernd den Ofen und hockte da wie ein Wurzelmännlein … Terschka 100 und Thiebold machten sich ständig um sie zu schaffen … Benno sah man nicht mehr. Zu Thiebold’s Leidwesen hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht und war mit lässig übergeworfener Flinte auf Witoborn zu hinausgeschritten in die stille Nacht …

Der Graf war der höflichste Wirth … Die Jäger, die jetzt bei der Bewirthung halfen, gingen mit Tellern, Flaschen, Servirbretern an ihm vorüber, als wenn er heute früh keinen einzigen von ihnen bei Seite genommen und wirklich gesagt hätte: Gegen Baron von Stein, gegen Graf Mengdenberg hab’ ich nicht die mindeste Lust großmüthig zu sein! Wie sie mir, so ich ihnen! Laßt sie nur immer in Büsche treten, wo sie nicht mehr ein noch aus wissen! … Aber auch nach dieser Jagdpraktik folgte jetzt Behagen, Genuß, Erholung … Die Gattinnen, Töchter und Schwestern der Nimrods würzten nicht nur das Mahl durch ihre Erzählungen über den allgemein mit Verehrung begrüßten Doctor Püttmeyer, der sich hier wie ein aufgeschreckter Gnom des Waldgebirgs ausnahm, vorher sein Hemd gewechselt und das gute Fräulein Huber sogar ohne Dank für ihr Spiel hatte abreisen lassen (sie blieb nicht beim Mahl, trotz der Bitte der Gräfin), sondern sie hinderten auch den Ausbruch allzu wilder Natürlichkeiten, die Wahl allzu sorgloser Wortbezeichnungen, das Erzählen allzu derber Anekdoten.

An Gesundheiten fehlte es nicht. Der Graf ließ seine Gäste leben, die Gäste ließen Graf und Gräfin leben. Dann kam der Toast, der immer neu ist, wenn auch der gewöhnlichste von allen, auf die Damen …

101 Unter diesen fand sich eine muthige Seele, die Freiin von Böckel-Dollspring-Sandvoß, die in ironischer Weise die Philosophinnen leben ließ …

Diese rächten sich und ließen durch Mengdenberg die Amazonen leben …

Die Amazonen brachten wieder einen Toast auf Doctor Püttmeyer aus; es war Fräulein von „Anflicker“, die ihn sprach. Man nahm diesen Toast mit Jubel auf. Er übertönte das Wohl aller andern um so mehr, als inzwischen die Husarentrompeter heraufgekommen waren und ihre Instrumente lustig in den Saal herein erschallen ließen. Fanfaren folgten auf Fanfaren, ein Jagdstücklein aufs andere; der grüne Heuschreck Stammer fehlte nicht und machte seine landbekannten Possen. Dann erhob sich der Oberförster, der an der Tafel theilnahm, und hielt eine Rede, die sogar theilweise an Thiebold gerichtet war, eine Rede, die sich in die altdeutschen Urwälder verlief, in einigen Sümpfen stecken blieb und endlich nach langen Umwegen, wo man wunder dachte wo er herauskommen würde, unter Thränenanflug bei seiner theuern, liebwerthesten, gnädigsten, jungen Herrschaft anlangte, bei der Comtesse Paula …

Das gab dann einen Sturm von Beifall … Alle Gläser klangen … Auch das Glas Armgart’s, die zwischen dem Onkel und Terschka saß, erklang … Wie ihre Augen sich gefeuchtet hatten, bemerkte Niemand … Gräfin Paula auf Westerhof erschien allen wie in der Glorie einer Schutzheiligen des Landes …

102 Lucinde saß in einem Kreise von Offizieren … Schon fing sie an allgemeines Interesse zu erregen …

Terschka hatte sie sogleich erkannt und wollte Armgart auf sie aufmerksam machen … Diese aber redete, um ihr Seelenleid, den ganzen Jammer ihres wahnbethörten Herzens zu verbergen, mit Püttmeyer, der ihr gegenüber saß, und entschuldigte ihre Nichtanwesenheit bei seinem Vortrag, der, sie sprach das im vollen Glauben, ja „so entzückend schön“ gewesen sein sollte …

Püttmeyer hörte indessen nur halb … er wollte den ihm dargebrachten Toast erwidern und es ist ein eigener Zustand im Menschen, wenn er, so zu sagen, einen Toast im Leibe hat. Oder wie anders soll man die Lage nennen, die nicht unähnlich sein muß der Sehnsucht nach einer glücklichen Niederkunft? Sage man was man will, Steckenbleiben ist bitter und Geistesgegenwart ist nicht Jedermanns Sache, am wenigsten derer, die Geist haben. Da sitzt so ein toastschwangerer Mensch und die Speisen werden ihm servirt und er nimmt mit dem Löffel, was er mit der Gabel greifen soll, tief abwesend ist er und lebt nur in der Repetition der schönen Dinge, die er sagen möchte. Nun begegnet ihm noch das Unglück, daß ihm links ein Nebenmann fortwährend die Flammen der Begeisterung schüren will, mit dem Messer an ein Glas zu schlagen droht, zum Zeichen, daß hier Jemand sprechen wolle. Um Gottes willen noch nicht! ruft der verzweifelnde Demosthenes dazwischen, während er, statt sich in Muße sammeln zu können, wieder zur Rechten von einer unglückseligen Plaudertasche ins Gebet genom-103men wird, die ihn nichts ahnend über alles ausfrägt, über den Kirchenstreit, den Kirchenfürsten, über Roms Allocutionen, Concordate, Exercitien, Barmherzige Schwestern, Hoffnungen auf neue Klöster und Jesuiten … Eine Erklärung: Beste gnädigste Frau Gräfin, schonen Sie mich, ich habe einen Toast im Leibe! kann ein Mensch von Geist unmöglich abgeben, da ein Toast nur immer die Schöpfung eines fast bewußtlosen, genial improvisirenden Mittheilungsdranges sein soll. Ein verzweiflungsvoller Zustand das! Um so mehr, wenn der rechte Moment vorübergehen kann, der, wo die Toaste, die nach vielen andern kommen, ihre Zündkraft verlieren …

Püttmeyer hatte die Gräfin Münnich zur Linken, das Fräulein von „Anflicker“ zur Rechten, Armgart sich gegenüber. Klopfte auch Jene nicht, einen „Zustand“ an ihm bemerkend, vorschnell mit dem Messer an ihr Glas, so glaubte doch die Dame zur Rechten alles aufbieten zu müssen, den hochberühmten Denker so zu unterhalten, wie es einer Dame auch ihres vielseitigen Rufs geziemte; denn Fräulein von Merwig-Anflicker, eine Jungfrau in den Vierzigen, war von einem Unternehmungsgeist, der in allen Gebieten Courage zeigte, in der Musik, in der Plastik, in der Poesie, in der Declamation – nichts fehlte, als der Erfolg …

Püttmeyer! Püttmeyer! Wahre deinen Vortheil! Gleiche dem Maikäfer, den der glückliche Knabe über die Hand laufen läßt! Im besten Bewundern seines schwarzen oder braunen Halsschildes, seiner behaarten 104 Fußschienen, fliegt er dem Beobachter plötzlich auf und davon! Fräulein von Merwig-Anflicker reißt die Debatte an sich und dich mit hinein! Sie muß ja streiten, streiten bis zum Unschönen – sie stritt schon sogar einmal bis zu einem nur mühsam beigelegten Pistolenduell … Die Offiziere necken sie heute über den Tisch hinweg mit ihrer Kunst zu reiten und ein feinerer Kopf unter ihnen spricht in Anspielung auf die ungedruckten Gedichte des Fräuleins – vom Hufbeschlag des Pegasus und vom Riemzeug und vom Geschirr der Sonnenrosse … Nun erwidert sie:

Die Hufeisen des Pegasus sind dem Huf des Götterpferdes verkehrt angeschlagen! Wer seinem Wolkenflug nicht folgen kann, wer ihn nur zu würdigen weiß, wie der Aermste mit geknicktem Flügel auch wol über die Sandflächen der Erde dahinjagen muß, den führt seine Spur immer gerade nur auf die entgegengesetzte Seite hin, als wohin ihm die nichtsnutzige Kritik im Sande nachtrottet!

Das war ein Wort der Kraft und erntete nicht wenig Zustimmung und zerstreute nur leider Püttmeyern, den das sympathische Wort: Nichtsnutzige Kritik vollends aus dem Kreisen seines Toastes brachte …

Aber die Sonnenrosse? – rief Onkel Levinus und hob sein Römerglas und genoß heute die ganze Freiheit seiner – ungeschlossenen Ehe … Wie Sonnenrosse eingeschirrt werden, fuhr er begeistert fort, das kann man nur wissen, wenn man Aurora auf ihrem Gespann von einem Berg der Alpen begrüßt hat oder vom Capitol in Rom oder von einem Vorgebirge Griechenlands! 105 Da hört man die Sonnenrosse, wie sie angeschirrt werden! Da sieht man’s, wenn die ersten gelben Lichter über die dunkelblauen Wellen im Ost wie von einem Wind heraufgetragen erscheinen, das Meer geweckt wird aus nächtlichem Schlummer, dann sich alles purpurn und violett und blau malt! Immer unruhiger jauchzt das Meer der Sonne, wie einem Bräutigam entgegen! Was Correggio, Guido, Raphael gemalt haben, sieht man jetzt! Neptun, Jo und Jupiter und Europa! Tritonen! Alles bläst und spritzt Wasserstrahlen über sich her und auf Delphinen schwimmt ein Brautzug mit Blumen und flatternden Bändern! Nein, meine Herren und Damen, im Süden haben die Sonnenrosse gar keine Eisen an den Hufen. Nur hier, hier bei uns, hier wo sie ihren feurigen Wagen über die traurigen Eisschollen des Philisterthums schleppen müssen, hier, hier muß wol – die alte Westerhofer Schmiede dran!

Hurrah! Das gab eine Erregung …

So konnte Onkel Levinus sprechen, wenn durch sein eigenes Philisterthum der Genius hindurchbrach … Der Adel wußte, was er an dem Manne besaß. Er drückte ihm aus, was zu besitzen ihm Beruhigung gewährte, wenn man Schiller und Goethe ablehnt. Da waren ja Denken und Dichten, Wahrheit und Schönheit auch vertreten; wozu brauchte man die protestantische Welt? Auf Freiherrn Levinus von Hülleshoven war die ganze Provinz stolz; nur mußte er nicht von Rom, Griechenland und Jerusalem gleich auch nach Abyssinien und Cochinchina reisen …

106 Deshalb kamen die Hörner gerade recht, die ein lustiges Jagdlied schmetterten …

Schon war das reiche Mahl fast zu Ende, schon war der heute so auffallend schweigsame Terschka in der Nothwendigkeit, auf Rom sowol, wie auf den Hufbeschlag der Pferde Rede zu stehen – hatte er doch alle Offiziere durch seine Kenntniß des letztern, wie die Damen durch seine Kenntniß des erstern oft genug gefesselt – als Püttmeyer endlich, endlich, an sein Glas klopfte. Beim fortgesetzten Gefülltwerden desselben hatte er bemerkt, daß seine Sinne plötzlich zu schwindeln anfingen und der Augenblick zu kommen drohte, wo der Mensch von Einsicht erkennt, daß er keinen Toast mehr bringen soll …

Allgemeines Bravo und Klopfen an die Gläser …

Püttmeyer steht auf … Es war ein Moment, wo ihm der Boden unter den Füßen wankte. Hinter einem Transparent im Dunkeln hatte er stundenlang sprechen können – jetzt aber mußte er seinen ganzen Menschen aufbieten, um sich zu behaupten. Danken wollte er für das ihm gebrachte Hoch, wollte wiederum, wie sich’s erwarten ließ, seiner Philosophie eine anerkennende Zukunft prophezeien … Armgart sah durch ihre in Thränennebeln flimmernden Augen hindurch die sonnenbeschienene Warte des Geyerfels, von der Angelika Müller einst in einer schönern Stunde gesprochen: Da möchte man predigen! …. Schon war Püttmeyer’s: Hochzuverehrende Damen und Herren! über seine Lippen, die etwas im Tone Schnuphase’s sprachen; schon hatte er wiederum zum Beginn seiner eigenen Ver-107herrlichung gelegenheitsgemäß gesagt: „Wie aus dem Wald, in welchem die edle Waidmannskunst vor wenigen Stunden, bald zum letzten mal ehe die Axt des Holzschlägers die alten Stämme niederlegen wird, ihr fröhliches Jagen erschallen ließ, in kurzer Zeit sich die Grundlagen einer jener Eisenstraßen erheben werden, welche das Gaslicht der Aufklärung auch endlich in unser Land, in das Land der Böotier“; – – und schon war nach dem stürmischen Jubel auf dies ironische Sichselbstverspotten durch ein Stichwort, mit dem die fragliche Provinz nicht selten bezeichnet wurde, und nach dem Wehen der Damentaschentücher, die in diesem Augenblick zu Kriegsfahnen wurden für den neueröffneten Kreuzzug gegen Ketzer- und Beamtenthum – Püttmeyer im Begriff, seinem „einsamen Denkstein“ und seinem: „Heureka!“ auch vor den Männern eine genugthuunggebende Zukunft zu verheißen, als – die Lacerte am Riedbruch auch in diesem Augenblick wieder dahinhuschte, wieder eine Dame aufsprang, wieder wie zur Flucht, und wieder Lucinde, die schon Allbeobachtete, nach der Thür suchte …

Diesmal war aber die Störung nur das Signal eines allgemeinen Aufbruchs …

Im Saal waren die Fenster nicht verhängt gewesen. Durch eine große dreigetheilte Balconthür hindurch hatte man einen erschreckenden Anblick …

Feuer! riefen schon draußen Stimmen zu gleicher Zeit … Feuer! wiederholte man von den Corridoren … Ein Nordlicht ist’s! rief Jemand im Saale, zur Beruhi-108gung auffordernd … Der glührothe Schein konnte nur einem Brande angehören …

Eine Weile Todtenstille … Der Schein war im Süden …

In Witoborn ist’s! riefen die einen …

In Heiligenkreuz! die andern …

Auf Westerhof! schrie Armgart und stürzte wie aus einem Traum erwachend, der den Tag über dumpf auf ihr gelegen, und mit fanatischer Erregung zur Thür hinaus …

Die Rede und der Abend waren zu Ende. Püttmeyer stand an der Tafel, wie ein kalt gewordenes Gericht und konnte sich nicht finden. Es war ihm, als wäre ihm plötzlich auch sein eigener Verstand so davon- und zur Thür hinausgelaufen …

Die Beruhigungen des Wirthes und der Diener konnten Niemanden mehr zurückhalten …

Ein breiter glührother Schein blieb quer über dem schneebedeckten Rücken eines Tannenwaldes liegen …

Am Zittern des Scheins sah man, daß die Flamme vom Winde bewegt wurde. Bald war der Schein stärker, bald schwächer; die Bewegung kam, wie in regelmäßigen Pulsschlägen. So unheimlich sah es sich an, daß die Frauen schon die Erscheinung fühlten, wie wenn die intermittirende Bewegung vom eigenen Herzen kam …

Die Phantasie der einen machte sich durch Aufschrei Luft, die andern gingen wie in der Irre. Jede Natur, mochte sie sich eben auch ganz in der Beherrschung gegeben haben, die Bildung und Ueberbildung mit sich 109 bringen, warf jetzt die Fesseln ab. Die schweigsamste wurde beredt, die lauteste verstummte. Schluchzen hörte man, Trostworte … Alle aber riefen: Die arme Gräfin Paula! Und sie hat es vorausgesehen! … Levinus, Armgart, Terschka und Thiebold waren schon verschwunden …

Noch ehe diejenigen, die auf das obere Stockwerk und das Dach geeilt waren, zurückkehrten und die Nachricht brachten, es schiene in der That entweder das Schloß Westerhof oder die Liborikirche oder das Stift Heiligenkreuz zu brennen, war der Saal entleert …

Im Hof drängte sich ein Gewühl kaum zum Durchkommen … Die Pferde, die Spritzen wurden aus den Ställen und Remisen gezogen …

Viele Herren, selbst Fräulein von Merwig setzten sich auf eine der Spritzen, um nur rasch an Ort und Stelle zu kommen …

Dabei fehlten die Diener, die Jäger, die Mägde. Viele hatte schon der magische Reiz, den jede Feuersbrunst ausübt, angezogen, trotz der ernsten Warnung des Grafen, die Jedem verbot sich ohne Erlaubniß zu entfernen …

Frau von Sicking war unter allen die verlassenste … Doch war ihr Besitzthum glücklicherweise nicht genannt worden … Sie ließ sich von Jedem, der noch nicht im Besitz seiner Pelze, Mäntel, Fußsäcke war, Bericht erstatten von der gestrigen Vision Paula’s und sah sich zuletzt nach ihrer bei alledem doch fast zu auffallend schreckhaften Begleiterin um … Wo ist mein Fräulein? rief sie …

Ein Jäger sagte, das Fräulein wäre wie ein an-110geschossener Vogel gewesen und plötzlich verschwunden … Man suchte sie … Lucinde war nicht zu finden …

Mit Verdruß über „diese doch merkwürdigen Sonderbarkeiten“, aber mit interessanten Thatsachen für ihre weitverzweigte Correspondenz bereichert, fuhr Frau von Sicking allein nach Hause.

111 17.#

Friede! … Linder, sanfter, himmlischer Friede! …

Du, der du Stirnen kühlst, die noch vom Kampf des Lebens erglühen, lindernden Balsam träufelst auf Herzen voll Kummer – deine heiligsten Tempel baut dir Mutter Natur!

Doch du segnest auch jedes bescheidene Dach, wo das Echo des schallenden Marktes verhallt, wo nur der Pendelschlag der Uhr – fernklingendes Schärfen der Sichel Saturn’s! – uns in die grünen Matten versetzt, in die zeit- die raumlosen, die Paula’s geschlossenes Auge erblickt! Segnest dem ermüdeten Wanderer sein Lager mitten auf Landstraßen! Segnest dem zum Tod ermatteten Krieger noch am Abend der verlorenen Schlacht, unbekümmert um des Siegers Ueberfall, mitten auf dem Weg seiner Triumphe, die Schlummerstätte! Zahllos sind die Wohnungen des Friedens auch noch auf dieser streitbewegten Erde …

Traulicher jedoch spinnt sich nicht die Spinne in ihr Netz, als es die Liebe versteht. Glückliche, die erlaubte Liebe, die sieht sich noch zuweilen um und beobachtet die 112 Welt, ob sie auch bei so viel Glück noch steht, beobachtet die Menschen, ob sie auch neidisch sind … Aber die ungestandene, die verschwiegene Liebe hat Ohr und Auge verloren … Sind da Sterne vom Himmel gefallen, sind Thürme eingestürzt, war ein Erdbeben – indessen der Lampe milder Schimmer das Antlitz der Geliebtesten beschien, indessen die Weiße ihrer Hand wetteifernd mit den Spitzen, an denen sie stickte, glänzte? Das Ohr hörte nichts. Schwirrte ein Käfer in ihrer Nähe, fiel eine zierliche Rolle aus ihrem Nähtisch zu Boden – das waren Weltbegebenheiten …

So in traulicher Stille und Verlorenheit der Gedanken saß Bonaventura in diesen Stunden bei Paula …

Nicht allein waren sie heute – Tante Benigna kehrte beiden im grünen Zimmer den Rücken und schrieb und las an einem geöffneten Schreibbureau …

Sollte Armgart wirklich zur Jagd sein? Und: Wenn nur kein Unglück geschieht! …

Das waren die beiden einzigen Worte, die, viertelstündlich wiederholt, die Liebenden störten …

Bonaventura hatte seit vorgestern Abend den Weg zur Erde nicht mehr zurückfinden können. Er schwebte in Lüften. Verpflichtungen gab es nach allen Seiten hin, nach Schloß Neuhof zur Mutter, nach Himmelpfort zu Klingsohr, Briefe und geschäftliche Mahnungen drängten, auch Müllenhoff’s, seines polternden Wirthes Zumuthungen; Sorge drückte ihn um Benno, auf dessen dunkles Leben der Brief des Onkels so seltsam neue Streiflichter hatte fallen lassen, auch ein längst bezweckter längerer Besuch bei Hedemann, alles das drängte auf ihn ein – 113 aber er entschied sich für nichts, er entschloß sich zu nichts, es zog ihn nach Westerhof …

Gestern gegen Mittag hatte Paula die Vision von den Flammen gehabt … Er sah und hörte ihr angstvolles Ringen mit der unheimlichen Anschauung und mußte sie, da sie der Ruhe bedurfte, verlassen, gefoltert von den Bildern, die Paula sah. Es waren Bilder des Brandes und der Zerstörung. Es waren Bilder, die ihn an seine Beichtgeheimnisse, seine stummen schweren Bürden, erinnerten – Bürden, deren er sich nicht entledigen durfte ohne andere anzuklagen … Sprechen durfte er wol: Terschka ist mir verdächtig! Oder: Wenn Nück etwas im Schilde führte! … Aber das war auch alles … mehr zu sagen war ihm nicht erlaubt; denn bei genauerm Hinweis wußte jeder sogleich, er stellte Beichtbekenntnisse bloß …

Der Tag war so öde hingegangen, so einsam … Sein Herz klopfte … Wem sollte er sich vertrauen? Bei wem Beruhigung suchen! … Ziemten seine Empfindungen dem Priesterherzen? … Und hätte er sich vielleicht auch zu Benno, der selber litt, aussprechen dürfen, er räumte dem Stifter des Cölibats, Gregor VII. ein, daß kein Gefühl uns in der That mit größerm Egoismus erfüllt, als die Liebe … Doch, setzte er hinzu, vielleicht nur die ringende, die kämpfende, nicht die glückliche Liebe … Auf seinem Zimmer schloß er sich ein und las in seinen mitgebrachten Büchern erst im Augustinus, dann in seiner geliebten „Trutz-Nachtigall“, schrieb auch selbst in sein „Sünden-Brevier“, wie er ein kleines Büchlein seiner geheimsten Gedanken nannte:

114 Ich kann es nicht sagen – was jeder doch weiß!
Ich kann es nicht tragen – und trag’s doch so heiß!
Ich kann es nicht finden – was überall liegt!
Ich kann es nicht binden – und hab’s doch besiegt!
Ihr Sterne behütet’s? Das dank’ ich euch nicht!
Dich schelt’ ich, o Mond, der sein Schweigen nicht bricht!
O Sonne, o Sonne! Mit strahlender Miene
Sag’ du es der Welt, welcher Königin ich diene!

So im Lied sich tröstend und erhebend, voll Ahnung in den Frühling sich versetzend, in Wonneschauern schon die erste Lerche sehend, die im Felde aufsteigt, wirbelt, immer höher und höher sich schwingt, schrieb er:

Lerche, schwebst im blauen Feld,
Willst gen Himmel dringen?
Ist’s dein Ton, der so dich hält?
Trägt dich so dein Singen?
Vöglein, Vöglein, wüßtest du,
Wie beim stillen Wandern
Durch die grüne Sonntagsruh’
Du voransteigst andern –
Wie in deinen Jubel sich
Andrer Jubel mischen,
Sich in deinem Sangesstrich
Mit im Blau erfrischen –
Folgend deinem Schwebeflug
Hoch und höher steigen –
Droben würdest bald genug
Du als Stern dich zeigen!

Es kamen Briefe aus seinem Kapitel … Es kamen Anfragen, ob er nicht eine Mission nach Wien überneh-115men wollte zur Begrüßung des dort erwarteten Cardinals Ceccone … ob er auch seine Stimme mitgäbe zu diesem Protest und zu jenem Begehren … Es kamen Müllenhoff’s Exercitien und – die lächerlichste Scene von der Welt – denn schon wieder hatte man dem Pfarrer von Sanct-Libori einen Streich gespielt, schon wieder ein Neugeborenes an seiner Thür ausgesetzt, diesmal ein Lebendiges sogar, nur kein Kind, sondern ein frisch geworfenes Kätzchen, das mit einem Häubchen und wie ein Wickelkind eingeschlagen und befestigt bei erster Morgenfrühe in einem Korb vor seiner Hausthür wehwinselte … In dem darob entstandenen Lärmen erst erfuhr Bonaventura, daß diese Verspottung bereits ähnlich neulich vorgekommen. Er suchte den Pfarrer zu trösten, der diesmal kleinsilbig wurde und das Toben und Androhen mit den Gerichten der Kathrein, dem alten Tübbicke und den Hausangehörigen verwies … Dabei versicherte Tübbicke aufs bestimmteste: Es ist nicht die Schmeling! … Bonaventura erfuhr, daß man für diese Streiche eine Hebamme im Verdacht hatte, die Müllenhoff öffentlich des „Teufels Großmutter“ genannt haben sollte …

O brächte doch der Cardinal Ceccone, stöhnte Müllenhoff, seinen Zorn mit einem Stück harten Schinkens beim Frühstück hinunterwürgend, o brächte er doch eine großmächtige Kette von einigen hundert Meilen im Umfang, daß man unsere deutsche Wildniß wieder an Roms Gesetz und Regel binden könnte! Nein! Frau von Sicking sagte mir gestern, und eine junge Dame, die soeben aus der Residenz des Kirchenfürsten bei ihr eingetroffen 116 ist, bestätigt mir’s, daß die Curie Sie entsenden will, Hochgeehrtester, den Cardinal zu begrüßen – nein, Sie werden einer solchen Ehre und Gelegenheit, bald Bischof in partibus, mindestens Weihbischof zu werden, nicht ausweichen! Die ganze germanische Kirchenprovinz bittet für Sie trotz Ihrer Jugend um das Pallium, wenn Sie ihr erwirken: Petri beide Schwerter! Oder wenn nur das eine, doch dies auf beiden Seiten geschliffen! … Daran reihten sich einfach, wie der Pfeffer zum Schinken, in Müllenhoff’s Reform: Bischofsrecht über jedes Amt in Schule und Kirche! Keine Stelle vergeben, wenn nicht durch die Hirten Christi! Kein Amt, keine Pfründe, keine Strafe, keine Belohnung mehr aus weltlicher Hand! Keine Berufung mehr auf weltliches Gesetz! Wer innerhalb der Kirche wagt, weltliches Gesetz gegen Geistliche anzurufen, excommunicirt! Priester sind jetzt schon zu erziehen von Kindesbeinen an, damit hernach kein Mangel ist! Religion auf keiner Schule mehr, als durch uns! Kein Placet, kein Transeat, kein Cabinetspaß für den Willen Roms! Gottesdienst überall, im Tempel und im Freien: Congregationen, Bruder- und Schwesterschaften nach Bedürfniß! Klöster mit ganzer und halber Regel! Selbstbeschauung, wer nur Lust hat, sich, sei’s als Eremit allein, im Spiegel seiner Nacktheit zu erblicken oder im Bund mit andern in den Exercitien! Verkehr zwischen Rom und jeder Hütte von Baumzweigen, „wo nur ein stümpernder Sanct-Antonius oder Sanct-Hieronymus“ beten will! Jeder Heller endlich, der der Kirche gehört, nur von unserer eigenen Regula de Tri verrechnet! …

117 Alles das tobte die Verzweiflung aus, daß er Mutter Schmeling nicht sogleich unter den Hexenhammer einer geheimen, sicher wirkenden Inquisition bringen konnte …

Unter den Zeitungen, Briefen, Visitenkarten, die Renate geschickt hatte, fiel Bonaventura die Traueranzeige über den Tod Hendrika Delring’s auf. Er widmete ihrem Andenken die innigste Theilnahme. Er vergegenwärtigte sich die Wirkungen dieses Schicksalsschlags, der das Kattendyk’sche Haus betraf. Schon so frei, schon so entfesselt von seinen frühern Anschauungen war er, daß er sich sagte: Also ein Zeugniß für die Liebe weniger in der Welt! … Von Lucindens Nähe hatte er keine Ahnung …

In Witoborn fand er um Mittag alles von der Jagd erfüllt und von den Nachrichten, die schon über den Landrath eingelaufen waren … Er selbst mußte sich geistlichen Aufträgen widmen und konnte deshalb auch nicht zum Kloster Himmelpfort, so gern er wollte … Dann mußte er jedenfalls die in Westerhof heute so verlassenen Damen besuchen … Onkel Levinus und Terschka konnten möglicherweise erst spät Abends zurückkehren … Gegen vier Uhr fand er Westerhof einsam und still … Die Dienerschaft war größtentheils zur Jagd … Die Beamten sogar feierten – sie wohnten ringsum zerstreut in den entlegneren Wirthschaftsgebäuden … Zwei Diener waren daheim geblieben und Dionysius Schneid war seines Ungeschicks wegen kaum zu rechnen … Nur an weiblichem Personal war kein Mangel … Er hörte sogleich, daß Paula heute wieder wohler war … 118 Wie immer mußte er sich erst Bahn brechen durch Hülfebegehrende, die sich auch von ihm die geistliche Segnung, die er im Vorübergehen spendete, nicht entgehen ließen …

Jetzt erst – zweimal vierundzwanzig Stunden nach der Frage: Und wenn nun doch noch die Urkunde gefunden würde – und wenn man dann verlangen würde, daß Sie das Opfer brächten, die Hand des Grafen Hugo zu nehmen? … sahen sich die Liebenden wieder …

Paula’s Antwort lag in den stummen Gegenfragen der Begrüßung: Und jetzt erst seh’ ich dich wieder? Ist denn noch alles so, wie an jenem Abend? War es kein Traum? Hältst du Wort, Wort dir selbst und mir? … Deutlich sprachen dies die ersten Grüße; doch mildernd und dämpfend mußte sich Tante Benigna’s Nähe einmischen, ja Bonaventura’s eigner Anblick. Der Gruß, einem Geistlichen, den die Kirche gezeichnet hat, dargebracht, verstand sich so von selbst zur Entsagung … Sofort fiel eine süße Bangigkeit auf Paula’s Herz und auch in Bonaventura’s Zügen schmolz sein erstes frohes Lächeln zum mildesten Ernst … Grade aber auch heute mußte die Tante nichts unterlassen, was den Eindruck der Würde eines Priesters mehrte und seine Erscheinung mit allen Glorien der Heiligkeit umgab …

Sie begann bald die Nähe Monika’s und Ulrich’s von Hülleshoven einzugestehen …

Jene hatte an sie selbst geschrieben und der heute so stille Abend war bestimmt, ihr zu antworten …

Von Ulrich lag ein Brief an seinen Bruder vor … 119 Benigna durfte alles an Onkel Levinus Gerichtete öffnen … es war schon vorgekommen, daß ein vortheilhafter Verkauf – von Schweinen, der Hauptbranche dortiger Viehzucht, versäumt worden war, weil Onkel Levinus einen Brief nicht erbrach, den er für die Abfertigung eines Recensenten hielt, mit dem er über alte römische Helme in Streit gerathen war …

In diesen Briefen wurden an Schwester und Bruder die gleichen Ansprüche auf Armgart gestellt … Tante Benigna las Monika’s Brief –

„Liebe Schwester! Ich schreibe Dir im Vertrauen auf jene Versicherung Eurer Versöhnlichkeit, die Levinus der Gräfin Erdmuthe gegeben! Ist es Euch genehm, so erschein’ ich auf Westerhof. Armgart verläßt auf ein Jahr das Stift, begleitet mich nach Wien, Italien; ich lasse sie zurückkehren, wenn ihr der Aufenthalt im Stifte Vortheile bringt, die sie nicht verscherzen dürfte … Wollt Ihr Ulrich den Vorzug lassen, so kann ich Euch keine Beweise meiner größern Würdigkeit geben. Mein Herz kämpfte, ob ich nicht in einer längern Zuschrift das Urtheil meines Kindes gewinnen sollte; ich entschied dagegen. Darf ich, wie ich war und wie ich bin, in Euerm Kreise erscheinen und hab’ ich Euern Beistand, daß die Erziehung einer Tochter der Mutter gebührt, und stellt sich Armgart gehorsam und ergeben einem Auge dar, dessen bei ihrem Anblick vielleicht ausbrechende Thränen sie für keine Selbstanklage zu halten berechtigt ist, so hab’ ich das Glück meines Lebens erreicht! Entscheidet!“

Paula klagte diese Sprache der Kälte und des Hoch-120muths an … Sie, die sonst so Gütige und Milde, sagte:

Welche Selbstzufriedenheit! Mir ist’s ein Wunder, wie nur immer Herr von Terschka die Tante so rühmen kann …

Bonaventura blickte nieder. Er durfte nichts von einer nähern Bekanntschaft mit Monika aus dem Beichtstuhl verrathen … Doch stand ihm versöhnend das Bild des Abschieds vor Augen, den auch die Frau in silbernen Locken am Portal des Kapitels ihm gewinkt hatte, als Schnuphase seine Rede hielt … Darauf hin sprach er wie bekannt von ihr und sagte:

Verbürgt sich so denn Herr von Terschka für sie –?

Ueberschwenglich spricht er von ihr –

Die Tante schwieg … Sie hatte diese Neigung Terschka’s wohl bemerkt … Und Bonaventura gedachte der Fragen, die Monika über die zweite Liebe einer Geschiedenen an ihn gerichtet, aber auch des Vorzugs, den Armgart dem Fremdling zu geben schien und den er annahm – dieser Zweideutige …

Die ängstliche Stille, die entstand, auch in Bonaventura, der sich sagte: Das Leben eines katholischen Geistlichen ist so ein ewiges Niederblicken! unterbrach Benigna durch die Vorlesung des Briefs von ihrem Schwager …

„Lieber Bruder!“ schrieb der Oberst. „Die Grüße, die Dir im Herbst schon Hedemann brachte, wiederhol’ ich und bald soll, denk’ ich, mein Handschlag folgen! Ich wäre schon bei Euch gewesen, aber ich suchte auf Bergbau mein Heil zu gründen und erwartete etwas von Kocher am Fall … Indessen reichen die Mittel nicht aus für Versuche, die zuletzt ohne Lohn bleiben. So will ich denn nach Witoborn. Meine 121 Pension ist nicht groß, wir hatten keine Wunden zu taxiren; man hat in England noch immer das System, die Wunden zu messen; zwei Zoll tief – 5 Pfund mehr; drei Zoll tief – 10 Pfund; ganz kalt – dann allerdings werden Witwe und Kind gut bedacht. Ich komme leider heil – und gesund und muß mich tummeln. Monika wird mir hoffentlich meinen Frieden nicht stören, den ich für mein Herz längst geschlossen habe. Ich bin in den Jahren, wo uns das Leben zuruft: Laß alles das der Jugend! Was ich noch Rest von dieser Jugend habe, das hätt’ ich gern an Armgart gehängt; aber die glaubt, hör’ ich mit Erstaunen, der Mutter zu nahe zu treten, wenn sie mir den Vorrang gibt! Nun hat sie gar ein Gelübde gethan – – Seltsame Welt, deren Anschauungen ich mich jenseit des Meeres – entwöhnt habe! Als guter Soldat will ich einstweilen den Waffenstillstand ehren, wenn er nach beiden Seiten hin aufrichtig gehalten wird. Empfiehl mich Schwägerin Benigna und dank’ ihr in meinem Namen für alles Gute, was sie Armgart erwiesen. Mein Sinn ist, sagt Ihr, Eigensinn; ich kenne, was von uns Brüdern ich vom Vater, Du von der Mutter hast. Zuletzt ist aber das Leben so, daß wir, beim Zurückblicken auf unser Rechtgehabthaben, doch mit Trauer an unsere Schwächen, beim Zurückblicken auf unsere Irrthümer, immerhin doch an unsere Kraft erinnert werden. In Frieden und guter Hoffnung!“

Benigna las diesen Brief in einem Ton der Angst und Sorge, der seinem so versöhnlichen Inhalt widersprach. Auch sie war mit der Zeit so angesteckt von der Krankhaftigkeit der ganzen Sphäre, in der sie hier 122 lebte, daß sie ihre eigene resolute Weise verloren hatte und sie nur noch zuweilen bei aufloderndem Poltern geltend machte. So sicher und fest, wie in diesen beiden Briefen, war auf Westerhof lange nicht gesprochen worden.

Paula, gedenkend des neulichen Abends, wo Armgart den an Terschka gerichteten Brief ihrer Mutter zurückbehalten hatte, sagte mit derselben Zuversicht wie damals: Sie versöhnen sich beide! Und Armgart hat es zur seligsten Jungfrau gelobt, daß auch sie nicht eher ruhen will! Die Sehnsucht beider nach ihrem Kinde wird das harte Eis der Herzen brechen! Was könnte noch dazwischen liegen? …

Der Vermuthung Armgart’s, auch ihre Mutter liebe Terschka, hatte sie gleich anfangs nicht nachleben mögen; Armgart’s neue Gedankengänge kannte sie nicht …

Sie war befremdet über Bonaventura’s Schweigen … Diesem hatte freilich Monika von Ehescheidung und zweiter Liebe gesprochen …

Inzwischen sagte, Bonaventura’s stillen Schmerzblick nicht beachtend, die Tante:

Ich schreibe beiden: Kommt und versucht Euer Heil! Armgart ist kein Kind, das sich regieren läßt! Ihre Stellung auch im Stift macht sie selbständig …

So und ähnlich schrieb sie fort und ließ dem Flüstergespräch der beiden Liebenden Raum … Freilich blieb Bonaventura – ein Priester und Paula – eine Leidende … Wie die zarte Gestalt, die Künstlerhand aus Alabaster schuf, nur mit äußerster Vorsicht von prüfenden Händen berührt wird, so schonungsvoll mußte sich von selbst jedes Wort, jede Bewegung geben in Paula’s Gegenwart … Der Athem eines so räthsel-123haften Mundes; der feuchte Glanz eines Auges, das so geisterhaft in die Ferne sehen konnte! … Wäre nicht das Gefühl gewesen: Risse ich dich mit mächtigem Arm an meine Brust und bedeckte deine Lippen mit Küssen, du würdest dem Leben angehören, das uns alle bindet, den Sinnen, die die Schranken unserer gemeinsamen Natur sind! – es hätte Bonaventura wohl bange werden dürfen in dieser unheimlichen, spukhaften Umstrickung von Fäden, die Geisterhände um Paula zu spinnen schienen … Oft erschrak er, wenn die sanften schwarzen Wimpern sich über die blauen Augen senkten und das unendlichste Behagen in den edlen Formen des jungen Mädchens ihre Neigung auszudrücken schien, sanft zu entschweben in jenes dunkle Zwischenland zwischen Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod, jenes Land, das hier den Menschen das Jenseits erschien … Die weißen Hände sanken dann nieder in den Schoos … Das ganze Sein der Kranken schien Nahrung einzusaugen, die aus der Luft ihr zuströmte, ja aus Bonaventura’s Athemzügen … Der unwiderstehlichste Reiz des Frauenthums, die hingegebene willenlose Schwäche, benahm ihm die Sinne … Wäre in der wahren Liebe nicht der Vorbau des Herzens immer mächtig, daß es sich sagte: Entweihe Deine Gottheit nicht! Laß sie rein und unberührt von deinen stürmischen Wünschen! Lege deine Schätze für noch seligere Zukunft zurück! – er würde sich nicht haben halten können, mit seinen Armen diese seltsame Welt – an sich zu ziehen und zu zwingen, sich zur Menschheit zu bekennen …

124 So kam schon die siebente Stunde … Tante Benigna schrieb immer noch und störte die Liebenden nicht … Sie wußte – und sie wußte nicht, sie sah – und sie sah nicht; sie war ganz in den ihr unbewußten Fesseln eines Idealanfluges, der, ob sie auch beim „Aufarbeiten ihrer Rester“ am Schreibbureau Gänse, Enten, Schweine und Ochsen addirte, sie doch dabei wie ins Paradies versetzte, wo ja auch wildes und zahmes Gethier so fromm und heilig um den noch unberührten Baum der Erkenntniß wandelte …

Tiefe Stille … Nur die Tante sagt viertelstündlich:

Wo nur Armgart bleibt! … Wenn die Jagd nur kein Unglück bringt! …

Plötzlich fällt ein so seltsam heller Schein ins Zimmer … Die beschlagenen Fensterscheiben klirren leise … Anfangs beachtet niemand den Schein und das Klirren … Jetzt dringt ein Geruch ins Zimmer, der selbst der Tante, die an die Consequenzen der Landwirthschaft gewöhnt ist, zu fremdartig vorkommen sollte … Aber sie nimmt Anstand, dem Besuch zu verrathen, worauf man im Landleben alles gerüstet sein müsse … Sie schweigt und räth auf die Küche und das verbrannte Nachtessen …

Nun aber wird der Schein zu licht …

Alle drei erheben sich zu gleicher Zeit … Da hört man schon das Klirren von zerspringenden Fensterscheiben … Das ist Feuer! ruft die Tante und greift an den Klingelzug …

125 Schon stürzen die Mädchen den todtblassen Damen entgegen – sprachlos … Statt ihrer spricht der in Glührothschimmer getauchte Vorsaal …

Es brennt –?! wollte die Tante ausrufen … Der Ton erstickte in ihrer angstgeschnürten Brust …

Doch schon war sie hinaus …

Bonaventura hielt Paula … Die Mädchen hatten schon inzwischen gesagt, daß die Kapelle brenne …

Menschenstimmen … Rufen, Schreien … Das Laboratorium! hörte man. Das Archiv! … Zusammenkrachendes Gebälk, eingeschlagene Thüren … Bonaventura, halb bewußtlos, übergab Paula den Mädchen, um selbst nach den Ausgängen des Schlosses zu sehen … Die Treppen waren steinern …

Im Hof entdeckte er eine mächtig lodernde Flamme, die aus der schon eingeschlagenen Thür der Kapelle wie eine gierige Zunge nach Nahrung suchte … Noch schien sich das Feuer auf das Innere der Kapelle zu beschränken … Wer aber wußte, was schon drinnen zerstört war! … Dem Archiv suchte man durch andere Zimmer beizukommen … Im Hof arbeitete mächtig eine der Spritzen, die sich im Schlosse befanden … Tante Benigna leitete sie selbst …

Noch aber fehlte es an Menschen … Die Diener sagten dem Domherrn, man spanne bereits an … Tante Benigna rief: Fahren Sie mit der Gräfin zum Stift!

Bonaventura kehrte zurück und sorgte für die Zurüstungen der Flucht …

Paula fand er gefaßter … Man eilte, nach Kleidern zu suchen … Bonaventura verschloß schnell das 126 offen gebliebene Schreibbureau der Tante und steckte den Schlüssel zu sich …

Inzwischen mehrte sich der Zustrom der Nachbarn, die eine Riesenflamme jetzt nach außen hin hatten ausbrechen sehen, eine Flamme, die ihren Weg von dem in Brand befindlichen Altartabernakel in der That zum Archiv suchte, dem sich von außen nicht beikommen ließ, da die Fenster vergittert waren … Der eine Flügel des Schlosses schien verloren; schon machte sich die Flamme durch das erste und zweite Stockwerk Bahn …

Bonaventura verlor seine Geistesgegenwart nicht … Die wichtigsten Schränke ließ er sich bezeichnen, ließ Silbergeräth packen und folgte den Weisungen Paula’s, die gerade jetzt in den seltsamsten Zustand gerieth … Nicht daß sie ihr Bewußtsein verlor, aber wie eine Traumwandelnde schritt sie dahin, wie eine Geisterjungfrau, die zuletzt, falls sie entfloh, auf einem Gespann von geflügelten Drachen entschweben mußte … Sie gab Weisungen, Aufklärungen, wie eine Seherin im Sturm am Ufer des brausenden Meeres … Dort! rief sie … Die Kisten! Die Schlüssel hängen ja hier! Nehmt sie doch! … Hier sind die Bücher der Grundverschreibungen! Da! Der Aufgang ist frei! … Uebereilt nichts! Der Dachstuhl brennt, aber an den Eckthürmen ist alles von Stein! … Leert das Laboratorium von brennbaren Sachen! Der Bau ist feuerfest! … Seht, der Wasserstrahl trifft ja mächtig! … Rettet nur das Archiv in den Keller! … Ha, der Mann! Seht den Mann! Folgt ihm nicht! Nein! Nein! Ein Balken stürzt! …

127 Niemand sah einen Mann, den sie von der Galerie des Hofes aus erblicken wollte … Indessen ertönte ein furchtbares Krachen im Innern … Nach innen mußte das zweite Stockwerk eingestürzt sein … Die Flamme schlug schon oben zum Dach hinaus … Von den beiden Eckthürmen aus bekämpfte man ihr Weiterdringen durch die hinaufgezogenen Schläuche zweier Spritzen, die von unten her nur wenig hatten wirken können …

Dabei tönte die Schloßglocke hülferufend und mit herzzerreißender Eile schon seit einer Viertelstunde von einem dritten der vier Eckthürme …

Paula lehnte jede Entfernung vom Schlosse, jede Schonung ihrer selbst ab … War es der entschlossene Beistand Bonaventura’s, war es die Erregung des Augenblicks oder welche Geister standen ihr zur Seite – sie befehligte wie die Gebieterin des Ganzen … Sie war die Stammherrin der Dorste-Camphausen, die Letzte ihres Geschlechts … Mit leuchtenden Augen, beschienen von Flammen, im erstickenden Qualm des Rauches verlor sie die Besinnung nicht … Die Tante dagegen brach schon zusammen … Wenigstens bedachte sie nur noch die Rettung des Kleinen und Einzelnen, während Paula im Ganzen lebte …

Menschen waren nun endlich genug da, die Befehle gaben und befolgten … Schon fehlten die Spritzen aus Witoborn nicht … Gensdarmen kamen daher gesprengt … Man isolirte das Feuer mit Erfolg … Ueber die Entstehung schwankten die Meinungen … Die einen leiteten das Unglück aus dem Labora-128torium her, die andern aus einem Kohlentopf in der Kapelle, den vielleicht ein Andächtiger hatte stehen lassen … Daß die Gräfin das Feuer schon gestern gesehen, war ein Wunder, wodurch die Anstrengung des Rettens, die Erhöhung der Stimmung gemehrt wurde …

Bonaventura irrte in trüben Ahnungen und barg sich jetzt – vor Müllenhoff, der im Eifer angekommen war, aber seine Zunge nicht ruhen ließ, der Entrüstung Worte zu geben über Fräulein Benigna, die kaum ihn erblickend Besinnung gewann und geradezu ihn beschuldigte, die Ursache des Feuers zu sein … denn ihm und seiner „Toilette“ zu Liebe hätte man die Zahl der Vorhänge am Altar vermehrt, jene Sakristei hinter dem Altar improvisirt, ihm in dem engen Raum den seit Jahrhunderten dort verpönten Gebrauch von Licht gestattet …

Den heftigen, ganz aus der geistlichen Sprache und Rücksicht fallenden Wortwechsel unterbrach die Ankunft eines Pikets Husaren aus Witoborn … Man sperrte den Zudrang der Menschen, die von allen Richtungen herbeiströmten … Nur wer sich ausweisen konnte, wurde jetzt noch über die kleine Brücke gelassen, die zu der Insel führte, auf welcher Westerhof lag … Glücklicherweise war Windstille … Die Funken flogen nicht an die nahen Wirthschaftsgebäude und Kornspeicher …

Unter denen, die über die Brücke wollten, befand sich auch der allen wohlbekannte Bruder Hubertus …

Er machte sich Bahn mit einer Gewalt, die unwiderstehlich war …

Laßt mich, rief er den ansprengenden Reitern entgegen und keines Roßhufs achtend, drängte er zur 129 Brücke hinüber und stürmte in die Gefahr, die inzwischen nachließ …

Vorzugsweise war es jetzt, wie Paula ganz recht gesehen hatte, ein einziger Mann, der mit Anstrengung, ja mit Lebensgefahr dem Umsichgreifen des Brandes Einhalt that … Es war dies jener Dionysius Schneid, dem man anfangs vergebens gerufen hatte, der sogleich die Pferde und den Wagen in den Wirthschaftsgebäuden für Paula bestellen sollte, der sich dort „eine Ewigkeit“, wie die Angst der Tante ein Dutzend mal ausrief, aufhielt, der aber auch jetzt beim Einreißen der Zwischenmauer, beim Absperren der Flamme einen verdoppelten Eifer zeigte … Mit geschwärztem Antlitz, plötzlich rothen Haars, das Niemand seit dem Finkenhof wieder an ihm gesehen, saß er in einer buntgestreiften Stalljacke mitten in der Verwüstung des halb in Trümmern liegenden Flügels zwischen den beiden Thürmen, hob die Axt, zertrümmerte glühende Balken, um deren Zündkraft zu mildern, in kleinere Stücke, und arbeitete fast mit Wildheit allen andern zuvor, die sein Beispiel ermunterte …

Hubertus kam mit dem Namen: Schneid! auf den Lippen. Wie mußte er erstaunen, als man ihm auf diesen Namen den Diener zeigte, der hoch im qualmenden Gebälk saß, die blinkende Axt in der Hand …

Unmöglich! entgegnete er …

Doch! Doch! rief man ihm zu und bezeugte seine Anerkennung über die Entschlossenheit des sonst so trägen Dieners …

130 Im Hof war ein Gedräng und kaum zum Hindurchkommen … Eimer, Spritzen, geborgene Geräthschaften bildeten schon einen hohen Haufen, über den die Menschen hinwegklettern mußten … Den Mönch, den die zuweilen noch aufzuckenden blauen Flammen am wassertriefenden Gebälk in seinen allbekannten Todtenkopfzügen beleuchteten, würde man nicht geduldet haben, hätte man nicht gewußt, daß der riesenstarke Greis es liebte, in solchen Fällen sich nützlich zu machen … Schon hatte er, immer den in der qualmenden Zerstörung sitzenden Schneid im Auge, von den Gensdarmen einen Eimer zugereicht erhalten, um Wasser zu holen aus dem glücklicherweise im Thauen begriffenen Teich, der die Insel bildete … Schon war sein unwillkürliches Erbeben vor der Anrede durch die Beigeordneten des Landraths die Ursache, daß Hubertus mechanisch Folge leisten wollte, als ein noch einmal auf die Stätte der Zerstörung im obern Stock geworfener Blick ihm eine plötzliche Gefahr zeigte, in die der Diener des Hauses gerieth … Sein eigener Zuruf erstickte schon in dem allgemeinen Geschrei: Er stürzt! Eine Leiter! Er ist verloren! …

Der schwarzberußte Mensch, der wie ein Gnom der Unterwelt durch Feuer und Rauch sich den Weg zu bahnen suchte, wollte sich vor einem drohenden Mauersturz vom Dache retten, sprang auf ein verkohltes Sparrenwerk, das unter ihm zusammenbrach, stürzte tiefer und tiefer und schwebte zuletzt mit seinen Füßen, die ohne Halt im Leeren tasteten, über einem Abgrund, in den er unfehlbar hinunterstürzen mußte, da sich seine Hände nur am glühenden Stumpf eines Balkens halten 131 konnten … Eine Leiter war nirgend anzulegen … Eine Minute noch – und unfehlbar fiel Schneid aus dem zweiten Stockwerk auf Steingeröll und Balken mit zerschmettertem Schädel nieder …

Doch nur eine Secunde der Rathlosigkeit, wo man die Leiter anbringen sollte, die an sechszig Stufen zählte und hin- und herschwankte vor der Macht ihres Gewichts, da schon stand Hubertus und rief: Hinauf! Wer steigt hinauf? …

In seinen knöchernen Armen hielt er die Leiter, daß sie frei schwebend stand wie gelehnt an eine Mauer …

Klettert hinauf! rief er wiederholt und immer dringender redete er den Ablehnenden zu … Habt keine Furcht! bedeutete er die, die die Leiter, so nur frei in der Luft gehalten, zu besteigen zögerten …

Endlich wagte es Einer der Feuerleute aus Witoborn … Schon berührten die Füße des in der Luft Hängenden die obere Sprosse der Leiter – er würde sich nicht haben halten können ohne einen Arm, der ihn umfing … So kletterte der Mann an der aus freier Hand gehaltenen Leiter empor … Wie eine Gerte bog sie sich, je höher er kam … Hubertus stemmte sich aber fest wie ein Athlet und balancirte die ungeheuere Wucht … Hülfe, die hinzukam, stieß er zurück mit dem Ruf: Gleichgewicht! – Das – kann nur Einer! – Mit den Zähnen knirschte er zum Zeichen seiner äußersten Anstrengung …

Der Arbeiter war jetzt oben … Er ergriff den schon Sinkenden, dessen Hände verbrannt sein mußten … Jetzt zog er ihn zu sich herüber auf die Leiter … 132 Diese, vom doppelten Gewicht überlastet, bog sich … Ein Schrei des Entsetzens unter allen Umstehenden, von denen einige hinzusprangen, um Hubertus wiederum zu unterstützen … Doch „Zurück“! rief er ihnen allen aufs neue entgegen und klemmte die Leiter zwischen seine beiden Kniee, die Arme in der fünften und sechsten Sprosse eingeschlungen, sodaß er die gewaltige Last nur wie eine vom Sturm bedrohte schwanke Fahnenstange hielt …

Der Arbeiter stieg nieder und brachte den Ohnmächtigen glücklich zu Boden …

Je näher dem Mönche Jean Picard kam, je näher ihm der Anblick des Armes möglich wurde, auf dem er das verhängnißvolle Zeichen der Erkennung suchte, desto schwächer wurde die Kraft des Bruders, dessen Kutte hie und da an den noch brennenden Trümmern schon versengte … Nun ließ er das Hinzukommen anderer geschehen … Als der Arbeiter mit dem Geretteten auf unterster Sprosse stand, sank die Leiter in die Hände der Uebrigen …

Hubertus holte einige Augenblicke Athem, hörte mit lächelndem Kopfnicken die bewundernden Beifallsäußerungen der Umstehenden und folgte dem Arbeiter, der den Bewußtlosen weg von der Brandstätte trug …

Diesem bot man jetzt Hülfe, Erquickung, ein Lager in dem andern Flügel des Schlosses …

Hubertus aber sagte zu dem Träger:

Laßt das alles, Landsmann! … Ich trag’ ihn schon selbst weiter! … Mit Brandwunden weiß ich umzugehen! …

Damit nahm er den Ohnmächtigen und trug ihn 133 aus dem Gewühl und ganz aus dem Schloß hinaus in das inzwischen aufs neue und immer mächtiger vom Menschenstrom belebte Dunkel der Nacht …

Während jetzt schon von allen Thürmen auf Meilen umher die Feuerglocken riefen, kamen auch die Theilnehmer der Jagd an … Terschka voraus auf einem leichten Wagen … Thiebold … der Onkel … Auch von Witoborn kamen Benno und Hedemann …

Armgart machte sich Bahn durch alle … Paula’s hohe Entschlossenheit und muthvolle Haltung hörte erst auf, als sie in die Arme ihrer weinenden Freundin sinken konnte …

Bonaventura stand voll Rührung und sprach, als die Gefahr vorüber schien, mit zitternder – tiefahnungsbanger Stimme ein Dankgebet, in das alle Nahestehenden mit entblößten Häuptern einstimmten …

Die Thurmuhren schlugen zehn … Jedes sagte: Wenigstens noch ein Glück, daß der Unfall so zeitig ausbrach …

Wächter wurden für die Nacht bestellt … Allmählich wurde alles stiller … Die Gruppen lösten sich auf … Man zerstreute sich …

Auch die Schloßbewohner bedurften der Ruhe …

Onkel Levinus fand sich leicht in neue Thatsachen, die er gedruckt las, schwerer in solche, die er selbst erlebte … Er hatte mehr als sonst gewohnt dem Rebensafte zugesprochen, auch auf der Jagd selbst schon manche Herzstärkung genommen … Um sich zu finden und im Nichtzuändernden zu orientiren irrte er mit einem offenen Lichte so lange im Schlosse auf und ab, 134 bis ihn die Wächter aufmerksam machten, er könnte leicht den Brand aufs neue entzünden …

Armgart flüchtete auf ihr Zimmer wie ein verstörter Geist …

Terschka, dem man kaum die Anwesenheit des Mönchs Hubertus und dessen gewaltige That erzählt hatte, als er auch schon in seine unversehrt gebliebene Wohnung entschlüpfte, schien am längsten zu wachen … Das Licht an seinen Fenstern erlosch erst nach Mitternacht …

Bonaventura war mit Benno, Thiebold, Hedemann und Müllenhoff zu Fuß gegangen …

Endlich breitete die stille Nacht über das Gemälde des Schreckens ihre dunkeln Schwingen …

Schauerlich ist es, wenn nach solchen Begebnissen auf einsamem Lager der Schlummerlose das Krähen des Hahnes so laut und hell und wohlgemuth hört, wie zu aller Zeit, und doch sich sagen muß: Der anbrechende Morgen zeigt das Neue in seiner ganzen folgenschweren Größe …

135 18.#

Frau Schmeling, jenes Mütterchen, durch das, wie wir wissen, eine ganze Generation um Witoborn das Licht der Welt erblickt hatte, wußte ihre Nächte zu schätzen … Der himmlische Vater läßt seine Kinder öfter bei Nacht in dies Freuden- und Jammerthal einschlüpfen als bei Tage …

Selbst eine so große Begebenheit, wie der Brand auf Schloß Westerhof, brachte die alte Frau nicht aus ihrem zweistöckigen, stattlichen Häuschen, das nur ein klein, klein wenig abseits vom Wege zwischen Witoborn und Westerhof lag, zugänglich ihrer Stadt- und Landpraxis, umgeben von einer gewissen geheimnißvollen Verschwiegenheit, die das Zutrauen zu ihr seit nahezu vierzig Jahren nicht wenig gemehrt hatte …

Aber im Bett litt es die alte und etwas reizbare Frau denn doch nicht … Schon war sie zur Ruhe gegangen, als ihr einziger Hausbewohner, eine alte Magd, sie weckte und ihr die Schreckenskunde von dem Brand in Westerhof brachte …

Mutter Schmeling war so ergrimmt auf den Pfarrer 136 Müllenhoff zu Sanct-Libori, der ihr auf ihr fünfzigjähriges Jubiläum noch mit dem Kirchenbann hatte drohen und sie des Teufels Großmutter nennen können, daß sie geradezu herausbrummte: Ob’s denn auch wirklich auf dem Schloß wäre? Und doch nicht etwa – in Sanct-Libori? … Ein leises Kichern dabei, das hörte die Magd nicht einmal … hörte nicht die still für sich ins Bettkissen, ja in einen kleinen grauen Bart gebrummten Worte: Kindtaufe! Kindtaufe! Hihi! Er läßt vielleicht schon illuminiren …

Ne, ne! sagte die Magd, dat muot en groot Füer sin! und zeigte durchaus nach Westerhof …

Und nicht minder plattdeutsch entgegnete Mutter Schmeling, so wolle sie denn up stahn und wenigstens Licht maken …

Inzwischen unterhielt sie’s, den großartigen Lärm zu hören, der sich auf der Landstraße entwickelte …

Ihr Häuschen lag in einem Hohlweg, der sich von der Landstraße abwärts senkte den Gärten zu, die zur großen Besitzung der Frau von Sicking gehörten … Im Sommer war das hier alles gar grün ringsum … Lämmlein und – Schweine genug weideten auf den Triften und ein paar einsame alte Bäume, die hinterm Gärtchen des Hauses lagen, hatten sogar Ruf und Anziehungskraft durch die ihnen angehefteten Bildchen und frommen Sprüche und besonders durch eine erquickliche Aussicht und eine Bank, wo mancher Bauerbursch und manche Bauerdirne unter nächtlichem Sternenglanz in ernst bedeutsamem Gespräch mit der Alten verweilen und über Manches seufzen konnten … Hundert Schritte davon lag eine Art 137 Vorwerk von Witoborn, obgleich es nachher noch Strecken von Wiesen und von Kirchhöfen gab, bis man die Mauern der alten souveränen Bischofsstadt erreichte … Jetzt jagten die Spritzen mit Fackeln nach Westerhof … Gensdarmen sprengten dahin, zuletzt ein Piket Husaren … Und die Menschen liefen und – lachten sogar, denn „Feuer ist eine Bürgerfreude!“ sagt ein frankfurter Sprichwort …

Daß aber die junge Gräfin das Feuer nicht beschwören kann! meinte die Magd, die, wenn’s verlangt wurde, an Hexen glaubte …

Dummer Schnack! antwortete Mutter Schmeling, die in diesem Gebiet bewanderter war. Eine weise Frau – sie verstand darunter eine Zauberin, keine sage femme – eine weise Frau kann wol andern Gutes thun, aber sich nicht selbst …

Nach so tiefsinniger Aeußerung überlegte sie, ob wol im Bereich des Schlosses Jemand wäre, den Mutterhoffnungen demnächst auf ihre Hülfe anwiesen. Es kamen Fälle vor, wo gerade solche Schreckensaugenblicke Geburten beschleunigten, andere vereitelten … Sie zählte an den Fingern, wie weit es noch mit der Moorbäuerin und Frau Leyendeckerin hin war … Endlich bog Niemand vom Weg in ihren Hohlweg ab … Sie verbrannte nur unnütz Oel … Die Wand, wo sie schlief, faßte sich noch kalt an … Sie wollte sich wieder zur Ruhe legen …

Eine Stunde mochte sie vergebens den Schlaf gesucht haben – Der Lärm der Glocken, das Blasen und Trommeln in Witoborn, das Rasseln auf der Landstraße för-138derten die Ruhe nicht – als sie heftig an ihre Hausthür pochen hörte …

Die Magd, die sich nicht nehmen ließ oben auf dem Dache nach Westerhof zu die malerische Aussicht zu genießen, kam erschreckt in die Stube zur ebenen Erde mit ihren klappernden Holzpantoffeln herabgelaufen und flüsterte der Alten, die aufhorchte:

Wat soll dat? Der alte Bettelpape bringt uns einen Menschen her – huckepack –

Die Hebamme wußte, wer der alte Bettelpfaff war … So? sagte sie ruhig und erhob sich, trotz des Pochens noch zweifelnd …

Einen Mann trägt er – ich sah ihn über die Lehmgrube kommen und dachte erst: Wer sucht nur da was? Nun kommt er gerade über’n Wall – und das da draußen, das sind sie –

Wieder pochte es stärker und stärker …

Mutter Schmeling wurde aufs neue aus ihrem Bette getrieben …

Ein Rock war bald übergeworfen …

Mach mal auf! sagte sie …

Einer Gefahr glaubte sie in keiner Weise gewärtig zu sein …

Der ihr wohlbekannte Bettelbruder Hubertus trat mit seiner schweren Bürde ein, die er von Schloß Westerhof bis hieher getragen hatte. Er hatte Umwege gemacht, um die Landstraße zu vermeiden. Jetzt verließ ihn allmählich die Kraft. Welche Anstrengungen hatten aber auch die Erlebnisse dieses Tages von Beginn der Jagd an ihm schon zugemuthet! Er ließ den noch im-139mer Bewußtlosen in dem Zimmer, dessen Eingang sogleich zur Rechten lag, auf einen alten Lehnstuhl sinken, rückte sofort zwei Stühle herbei, legte darauf die Füße der über und über geschwärzten abschreckenden Gestalt im gestreiften Kittel und sank selbst, anfangs sogar sprachlos, auf einen Stuhl, den ihm die alte Frau mit Erstaunen hinschob, während die Magd schon nach der Küche lief, um Torf für den kaltgewordenen Ofen zu holen …

Heiliger Lazarus, was ist denn das – für ein Schornsteinfeger –? Der ist wol verunglückt – auf dem Schloß? sagte Mutter Schmeling und billigte das Erwärmen der Stube auch schon in Betracht ihrer selbst …

Hubertus machte sich, allmählich wie zu Kräften kommend, mit der Bequemlichkeit seines in Erschöpfung Liegenden zu schaffen und trat mit dem Verlangen hervor, Mutter Schmeling sollte in ihrem verschwiegenen Hause ihre obern Zimmer für diesen allerdings beim Brande Verunglückten öffnen, den er anfangs nach Witoborn ins Spital hätte tragen wollen, nun aber lieber selbst verpflegen wolle … es wäre ein Mensch übrigens, vollkommen reich genug, sie zu bezahlen … Ein Wagen würde den Kranken jetzt zu sehr erschüttert haben … Deshalb hätt’ er lieber ihn selbst getragen …

Ne, dat geiht nicht! Da oben? Bruder, dat geiht nicht!

Warum nicht …?

Ihr wißt, ich habe Euch immer gern gedient, schon – als Ihr noch weltlich wart! Aber – dat geiht nicht!

140 Der Mann ist brav, seine Wunden schmerzen ihn – und die Kosten –

Das ist’s nicht –

Oben ist’s bewohnt! schaltete jetzt die Magd ein …

Frau Schmeling unterbrach die Magd und sagte:

Bewohnt oder nicht … Wat snakt sie? … Aber … Ja! Ich erwarte –

Wieder so eine – Prinzessin –?

Ja – ja …

Was bringt’s Euch denn ein? Ich selbst habe nichts! Der Mann da aber ist reich –

Mit zweifelhafter Miene blickten beide alte Frauen auf den sich allmählich Erholenden, der die Augen aufschlug, wieder sinken ließ und sich an die von einem spärlichen Lampenlicht erhellte kleine, nicht unfreundliche Stube erst allmählich gewöhnte … Die Nähe eines Mönchs mußte ihn annehmen lassen, er wäre im Spital –

Die weitere Verhandlung über seine im obern Stock zu bewerkstelligende Unterkunft unterbrach das Verlangen einer Erfrischung, die der Gerettete mit Aufhebung einer seiner blutig rothen und an andern Stellen schwarzen Hände zu begehren schien …

Hubertus lehnte noch das Erbieten der Frauen für Wasser oder Thee ab und zog aus seiner Kutte eine Korbflasche, die er dem Verschmachtenden an den Mund setzte …

Dieser starrte die unheimliche Gestalt des Mönches an, trank ein angenehm duftendes gebranntes Wasser und athmete gestärkter auf …

Frau Schmeling! Nehmen Sie den Mann nur auf! 141 begann Hubertus aufs neue. Er ist wohlhabend! Ein Diener vom Schloß zwar nur, aber in guten Verhältnissen! Ich habe sein Geld zu mir gesteckt! Sehen Sie da, zehn Thaler! Ihr Bett und alle Ungelegenheiten, die er Ihnen macht, sollen vergütet werden! Wo kann er auch besser gepflegt werden, als bei Ihnen? Nur einen Tag! Dann sorgen wir ja schon weiter! Er will zu seinen Angehörigen! Das ist drei Meilen von hier und dahin fährt er morgen oder – übermorgen! So lange wird’s doch gehen? …

Frau Schmeling fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger sinnend hinter dem rechten Ohr hin und her, während Schneid den Mönch anstarrte, nicht begreifend, was er da alles zu vernehmen bekam …

Für einen Tag wollte denn Frau Schmeling zuletzt wirklich einwilligen und lehnte die hohe Bezahlung ab …

Ich erwarte nur Besuch – sagte sie …

Ja, ja! Ich weiß schon! scherzte jetzt hocherfreut Hubertus. Dann werden die Gardinen zugezogen! Bei Sanct-Franz! Ich kann ihn ja schon um deswillen nicht zu lange hier liegen lassen, weil hier nächstens der Kirchenbann anklopft …

Darüber lachte zwar erst Frau Schmeling hellauf, zankte dann aber doch über derlei Reden …

Nun, nun! beruhigte Hubertus … Wir Mönche beten dann desto mehr für Sie! …

Schneid sah nur immer den Sprecher und die Frauen an und sprach ein: Diable! nach dem andern vor sich hin und verschluckte seine Gedanken vor jedem Aussprechen …

142 Frau Schmeling wetterte über den Pfarrer Müllenhoff, öffnete die Thür, leuchtete voran und schloß eine zweite Thür auf, die zur Treppe in den ersten Stock führte … Man konnte diesem auch durch eine Hühnersteige und eine geöffnete Fallthür von der Küche aus beikommen …

Hubertus bestellte heißes Wasser, einen Napf mit so viel Speiseöl, als nur im Hause vorräthig wäre und trug den jetzt Widerstrebenden die Stiege hinauf …

Auf den Moment des Erschreckens und des gewaltsamen Sichloswindens, wenn Hubertus bei dieser Procedur heimlich dem von ihm Getragenen ein Wort der Erkennung zuflüstern würde, war er gefaßt …

Soyez tranquille, Jean Picard! flüsterte er ihm mitten auf der Treppe ins Ohr …

Auf das durch dies Wort wie von einem galvanischen Schlage getroffene mächtige Aufzucken, Umsichschlagen und Sichaufrichtenwollen des Halbgelähmten hielt ihn Hubertus, wie man einen Epileptischen bändigt, Glied an Glied …

Oben empfing sie Frau Schmeling …

Starr, mit aufgerissenen Augenlidern, sah Bickert in die festen Augen des Mönchs … Es war ein Bild, wie auf der Guillotine sich ein Opfer niederwerfen mag, um nicht erst mit den Armen festgebunden zu werden …

Doch ein feierliches ruhiges Schweigen lag sogleich wieder auf Hubertus’ Lippen …

Bickert ließ sich jetzt behandeln wie ein Kind …

Wie eine Geistesverwirrung mußte es über ihn kommen, als der Mönch fortfuhr:

143 Waschen Sie ihm doch auch das Gesicht, Frau! Ei, ei, ei! Allerdings! Ihr sauberes, sauberes Bett! Für wen ist’s denn diesmal bestimmt? … Das ist ja gerade wie dazumal bei unserer armen Hedwig! Wissen Sie noch? Ziehen Sie nur gleich die Ueberzüge herunter! … Aber ich will ihn doch erst ein bischen sauberer machen … Seinen Rock hab’ ich nicht mitgebracht, aber all sein Geld … ja all sein Geld … Nur heißes Wasser jetzt und das Oel … Ich mach’s so gut, wie im Spital … Bis dahin war’s mir denn doch für die Last zu weit …

Es war ein geräumiges Schlafzimmer, einfach, aber sauber gehalten, wo Hubertus den aus seinen Schmerzen nicht mehr Aufstöhnenden, nur vor Furcht und Schrecken in einem starren Schweigen Beharrenden auf eine Strohmatratze legte, die er aus dem Bett genommen und auf die Erde gebreitet hatte …

Dann nahm er das inzwischen heraufgebrachte Oel, verlangte Leinzeug, an dem im Hause kein Mangel war, und bestrich damit die verbrannten Hände, die er dann in die leinenen Streifen einschlug, den Einschlag mit Bändern befestigend …

Bickert sah bei alledem bald ihn, bald die Frauen starr an und wagte keine Frage, erwartungsvoll, was in dieser Lage ihm noch werden sollte … Hubertus plauderte immer fort, schilderte das Feuer, lobte die Aufopferung des Geretteten, sprach harmlose Vermuthungen über den Grund des Brandes aus und endete, wie nur so ganz gelegentlich, mit den Worten:

Im Feuer – ja da bin ich auch groß geworden, wenig-144stens in vierzig Grad Hitze – und schon früh hab’ ich meine Haut zum Braten hergeben müssen! Einmal – ei schon als Junge – nein, ich konnte doch schon von den neuen Tabackstengeln rauchen, die die Spanier dazumal unter Napoleon mitbrachten – als ich zwei Stock hoch aus einem Brand hinuntersprang, zwei Schlingel im Arm, Jantje der eine und der andere – Wenzel hieß er …

So elektrisch getroffen fährt im Käfig ein Panther auf, wenn er die Nähe seines Wärters spürt, streckt den Kopf, reckt die Ohren und starrt erwartungsvoll ins Leere, wie jetzt Bickert …

Der Mönch drückte wieder ihn mit nervigem Arme, aber scheinbar ganz harmlos, nieder …

Ruhig, ruhig! sagte er. Jetzt kommen wir ja an die Sonntagswäsche! Brav, Jungfer! brav! Nur her mit dem Schwamm! … Schade wär’s freilich um eure Betten! Und um eure Prinzessin! Eure weiße Unschuld! Richtig – Jantje! Von dem sprach ich … Na, dem wäre schon damals besser gewesen, er hätte das Zeitliche gesegnet! Verstand hatte er ohnehin nur halbwegs! Manchmal – da kam ein bischen guter Wille zum Vorschein! Sonst – Hier her, Frau Schmeling! Gelt, Landsmann, der Schwamm thut gut? … Ja, Mutterchen, könnten wir Pfaffen doch überall so die Sünden und Brandmale wegtilgen – – besonders die an uns selbst! …

Während Frau Schmeling die Bemühungen der Pfaffen um solche Seelenwäsche nach ihren neuesten Erfahrungen als höchst problematisch schilderte und namentlich die neueste hierländische Seife als viel zu beizend ver-145warf, wusch Hubertus die entblößten Arme, auf denen er schon längst beim Herübertragen des Bewußtlosen vom Schlosse die verhängnißvollen Zeichen erblickt hatte …

Seid Ihr denn da so kitzlich? fragte er, als Bickert dem Aufknöpfen der Jacke und dem Aufstreifen der Aermel wehrte … Laßt doch! … Franz Bosbeck, wie ich sonst hieß, ist ja keine zimpferliche Dame! Mir gegenüber – Ei Jantje, Jantje – Seid doch nicht so verschämt! Solche Muttermäler kenn’ ich ja! So! Es macht sich …

Die Frauen hörten diese Reden nicht alle; sie gingen ab und zu, trugen das schwarze Spülicht fort, trugen die Kleider hinaus, brachten ein frisches Hemd, frisches Wasser. Ehe dann zuletzt eine Suppe kam, die Hubertus schon beim Hinaufsteigen bestellt hatte, reichte er noch einmal dem mit geöffneten Lippen ihn Anstarrenden die Korbflasche …

Bickert trank zwar, sprach aber für sich Fluch auf Fluch, wilde Worte, die er sogar – mit der Mutter Gottes bekräftigte …

Welche denn? fragte rasch Hubertus. Doch wol die Mutter Gottes von Neus?

Eine in seinen heimatlichen Niederungen weit und breit verehrte Madonna …

Eine andere! sagte Bickert, drückte seine Augen zu und sank aus seinem Trotz in Erschöpfung zurück …

Mütterchen, flüsterte jetzt Hubertus, nun hilft da nichts! Die Nacht halt’ ich hier oben Wache! Die Matratze liegt schon da; ein Kissen und ich schlafe wie ein Mar-146der! Mein Kloster soll’s hernach schon hören und mich freisprechen, wenn ich auf Reisen war und Heiden bekehrte … Und sie warten ja auch sonst nicht allzu lange mit dem Kartoffelsalat und mit ihrer Grütze auf mich … Morgen, da macht Ihr mein Leibgericht … Speckpfannkuchen mit Kartoffeln …

Während dieser Plaudereien, bei denen er oft an Lucinde, oft an den Landrath denken mußte, trug der Mönch den Verbrecher ins Bett, das aus einem Ueberfluß von Federn aufgehäuft war – dergestalt, daß immer noch davon weggenommen werden konnte und doch genug übrig blieb, den jetzt von dem heftigsten Fieberfrost Ergriffenen zu erwärmen …

Die Wirkung, die der Mönch auf den Verbrecher ausübte, war die des Magnetiseurs … Bickert war in physische Betäubung versunken … Machtlos starrte er ins Leere … Auch von jener Suppe konnten ihm nur einige Löffel eingegeben werden … Sein zerschundener Kopf sank ins Kopfkissen zurück und bald schien es, als wenn er entschlief …

Auch Hubertus übermannte dann die Anstrengung … Er legte sich auf die Strohmatratze, zog ein Kissen unter den unbehaarten Kopf und in einer Viertelstunde war im Häuschen alles so ruhig, wie nur je zur Nacht die es antrafen, die Mutter Schmeling zu der geheimnißvollsten Feierstunde des Lebens abriefen …

Der Morgen brach an …

Es ist ein eigenes Düster, mit dem uns der Tag nach ereigniß- und verhängnißvollen Erlebnissen begrüßt … Bleiern drückt dann die unabänderliche Nothwen-147digkeit; jeder Athemzug, der sonst sich frisch und sorglos von der Brust gerungen hätte, ist gehemmt von Furcht und Erwägung …

Hubertus erwachte am frühesten und doch schlugen die Glocken von Witoborn schon sieben Uhr … Die Tage brachen jetzt schon zeitiger an … Hell genug war es, um sich schon im Hause zurecht zu finden … Bickert schlief noch – wie eine jener Ratten, über die er in den unterirdischen Gängen des Profeßhauses sorgloser gelacht hatte, als er es heute beim Erwachen würde thun können … Hubertus rechnete bestimmt darauf, daß sich zwei Erkundigungen durchkreuzen müßten … Eine nach dem Befinden des Dieners, für den man vom Schloß aus Sorge tragen würde; eine, die von einer wiederholten Anzeige an die Behörden ausgehen und in dem gestrigen Helfer vielleicht schon den Urheber des Brandes suchen würde …

Zunächst hatte er die Sorge um das Befinden des Landraths und die Auskunft, die Lucinde bei der Messe im Münster erwartete …

Der Verbrecher schlief einen Schlaf, aus dem ihn Hubertus nicht wecken mochte … Die Brust hob sich in so regelmäßigen Zügen, daß es ein Stärkungsschlaf schien, den der völlig verthierte und doch wieder furchtsame und feige Mensch deshalb bedurfte, um die Kraft zu gewinnen für Hubertus’ weitere Pläne … Immer noch kämpfte er mit sich, ob er einen Mordbrenner der gerechten Strafe entziehen durfte … Schon während er die Flamme aus der Ferne auflodern sah und ihm der Gedanke kam: Das, das ist die That, zu der sich der Un-148glückliche hat dingen lassen! gab er die Absicht des Schutzes auf und beflügelte nur noch um Lucindens willen seine Eile – nicht fassen konnte er, wie ein ihm durch Klingsohr so anziehend gewordenes Mädchen sich an so verbrecherischen Vorgängen betheiligt wissen konnte … Dann sah er doch wieder den, den er suchte, als den Thätigsten bei der Rettung … Durch diesen unerwarteten Anblick gewann er neue Gunst für den Verlorenen … Selbst wenn er sich sagen mußte: Der Verzagende warf sich nur deshalb unter die Rettenden, um nicht den Schein der Anstiftung zu haben, die Umstände zwangen ihn, seine Rolle zu wechseln – erfüllte ihn das Räthselhafte des ganzen Verbrechens mit dem Verlangen, erst aus Bickert’s Munde selbst darüber aufgeklärt zu werden … Dem Arm des Gesetzes ihn zu entziehen, konnte nicht unter seinen Entschlüssen derjenige sein, der die Oberhand behielt … Vorläufig jedoch wollte er ihn um Lucindens willen in Sicherheit bringen, ihn noch heute gegen Abend weiter befördern und ihm nur für den einen Fall auf den Weg nach Bremen verhelfen, daß er einen Menschen antraf, dem sich solche Hülfe noch mit gutem Gewissen gewähren ließ, und daß ihm keine durch die Brandstiftung verdeckte sonstige schwere Unthat zur Last fiel … Um Aufklärungen über Bickert’s Beginnen konnte er jetzt nicht drängen …

Allmählich ließen sich auch die Frauen hören und sorgten für einen erquickenden Morgentrunk …

Sollte vom Schlosse geschickt werden, sagte Hubertus, sich zum Gehen anschickend, so erzählt nur, daß ich ihn ins Spital tragen wollte, aber mit meinen Kräften 149 nur bis hieher reichte! Was man an Erquickungen bringt, nehmt getrost an! Kann man ihn aber selbst schonen und von Niemanden sprechen lassen, desto besser! Ich ließe an Euerer Statt Niemanden zu ihm …

Die Frauen versprachen zu thun, was in ihren Kräften stand … Nur sagte die Schmeling:

Wenn aber die Gensdarmen kommen –

Die Gensdarmen? …

Ich vermuthe …

Die Gensdarmen? Warum die?

Mutter Schmeling fuhr mit dem gekrümmten Zeigefinger wieder hinter ihrem Ohre hin und her und machte nachdenkliche Mienen, obgleich sie sich dabei entschlossen auf ihre paar noch übrigen Zähne biß …

Was habt Ihr denn nur? – fragte der Mönch …

Mutter Schmeling stand nicht Rede, sondern lästerte über die Ordnungen der Welt. Sie stellte hundert Fragen in Aussicht, die ja bekanntlich ein Narr thun und auf Erden nicht der Weiseste beantworten könnte …

Hubertus sah, daß diese Erwartung eines Besuchs durch die Gensdarmen nicht in Verbindung mit dem neuen Hauseinwohner und der Ursache des Brandes stand, forschte dann auch nicht länger und begnügte sich eingesehen zu haben, daß auf alle Fälle sein Plan, Bickerten weiter zu entführen, von ihm zu beschleunigen war …

Um nach Witoborn zu kommen, nahm er den Feldweg und über die Kirchhöfe hinweg …

Auf das vergoldete Holz und Gestein, auf die welken Kränze, hier und da auf die grünen Hängetannen 150 blickend, sagte er sich: Der Abend deines Lebens ist längst da und wie kommst du noch einmal in deinen letzten Stunden zu solchen Dingen! Längst dem Leben entrückt, kannst du vom Abenteuer nicht lassen! Sonst, unter dem milden Pater Henricus ganz nur den stillen Werken des Klosters hingegeben, regt dich jetzt dieser schroffe und gewaltthätige Pater Maurus auf, läßt dich umirren wie einen verstörten Geist, treibt dich an die Bahre deines bösesten Feindes, des Kronsyndikus, nun gehst du schon mit Nachtunholden, die der Irrsinn und das Verbrechen aufscheucht! Vielleicht fliehst du wirklich noch mit Klingsohr in den hohlen Eichstamm und verbirgst dich vor den Gesetzen der weltlichen Obrigkeit und flüchtest dich in die den Franciscanern erlaubte Alcantariner Regel, die ein Heiliger stiftete, der vierzig Jahre lang nur knieend schlief, der in die Speisen, wenn sie ihm zu gut dünkten, Asche warf, der der Zeitgenosse Karl’s V. im Kloster St.-Just, der heiligen Therese und – des Don Quixote war! … Sonst stand Hubertus bei jedem Kinde, das ihm begegnete, still und konnte mit ihm plaudern, heute hafteten seine Gedanken nur an dem Namen Lucinde, Picard, Terschka – Von diesem letztern glitt noch alle Annäherung ab, wie Stahl vom spiegelglatten Eise … So verloren in seinen Gedanken war er, daß er selbst den freundlichen Mann nicht sofort erkannte, der beim Austritt aus dem Wege zwischen den Kirchhöfen auf die Wallanlagen von Witoborn ihm in einem Einspänner, auf Schloß Westerhof zu vorüberjagend freundlichst nickte … Der kleine Mann in einem blauen, am Kragen mit Pudelpelz be-151setzten Mantel, aus dem die weißesten Vatermörder wie Bram- und Reffsegel lugten, war Löb Seligmann, der vielgeschäftige Gütermakler, der neulich neben dem hochgemuthen Küfer gestanden hatte, als dieser sein Todtengericht hielt … Hubertus wandte sich links den Mühlen zu, die von dem Witobachgrund herüber schon mit Donnerton hörbar wurden … Es that ihm wohl, diese wilde Musik zu hören, die vorzugsweise durch die mittlere Mühle, ein gewaltiges an einem alten Thurm gelegenes Werk, hervorgebracht wurde; unmittelbar war noch ein weitrauschendes Wehr benachbart, das gestellt und dann in andere Abzüge gelenkt werden konnte; selbst im Winter fror hier nicht die Witobach …

Aus diesem Thurm heraus kam in weißen, gleichfalls vom Brande Spuren tragenden Müllerkleidern Hedemann …

Beide begrüßten sich, ohne sich vor dem Lärm des Wassers und der Mühle verständigen zu können …

Hedemann sprach vom Landrath, vom Brande; aber Hubertus mußte den Kopf schütteln. Mindestens dreißig Schritte weit hatten beide über schmale und glatteisende Stege hinwegzuschreiten, um eine Stelle zu gewinnen, wo sie sich verständlich machen konnten …

Der Landrath war noch in dieser Nacht gestorben …

Sein Diener kam vom Schloß, erzählte Hedemann, und holte ihn ab … Dann wurde es immer schlimmer und schlimmer mit ihm … In seiner Erschöpfung blieb er und so hat er denn die ewige Ruhe …

Was an der Ehre nagt, geht langsam, aber es trifft … konnte Hubertus hinzufügen nach den Verhältnissen, die 152 er kannte … Für Bickert und Lucinden schien ihm diese Wendung besorglich … Wie leicht konnte nun der junge Enckefuß selbst erscheinen …

Vom Brand erzählte Hedemann mancherlei, was zwar schon Hubertus wußte, sich aber doch berichten ließ, um alles noch nach anderer Auffassung zu hören … Die Volksmeinung wollte sich noch immer für den in der Kapelle zurückgebliebenen Kohlentopf entscheiden … Im Laboratorium war nichts versehrt … Gerade dorthin hatte man das Archiv geborgen bis auf einige Schränke, die verbrannt sein sollten …

Die Glocken läuteten von allen Seiten … Die kirchen- und altarreiche Stadt wurde zu den vielen stillen Messen gerufen, die täglich vor der einen täglichen großen gelesen werden …

Ins Münster mußte man niederwärts steigen … In eine alte Vorkapelle führten erst mehrere Stufen … Hier standen Grabmäler und Standbilder aus ältester Zeit … Dunkelbraun und schwarz und lichtlos unheimlich war alles; dem Innern des Münsters selbst fehlte nicht das Licht … Die Fenster waren nicht bunt … Pracht und Kunstliebe zeigte sich wenig … Nur der Hochaltar, der fast schon in der Mitte der Kirche begann, trug Embleme Jahrhunderte alter Auszeichnungen … Messen wurden hie und da in Seitenkapellen gelesen …

Hubertus wandelte, an jeder dieser Kapellen sich verneigend, auf dem steinernen Estrich lautlos dahin und forschte in den Betstühlen nach einer Knieenden in schwarzen Kleidern, die er unfehlbar anzutreffen erwar-153ten durfte … Von den Vorgängen auf dem Schlosse des Grafen Münnich konnte er nichts wissen …

Eine der Bänke zum Knieen nach der andern musterte er … Mit dem Schein eines bloß äußern Interesses durfte er nach seinem Stande nicht in dem heiligen Bau umherwandeln … Seinen Rundgang mußte er durch ein Niederknieen da und ein längeres Beten dort an den Kapellen erklärbar finden lassen …

Den Grad seiner aufrichtigen Verehrung vor den Heiligen kennen wir nicht … Wir sehen nur, daß er hinter der Andacht der Uebrigen nicht zurückbleibt … Wer ihn beobachtete, konnte annehmen, daß er durch die ganze Kirche, wie dergleichen oft geschieht, in dieser Form einen Rosenkranz abbetete …

Lucinden entdeckte er nicht …

Schon waren rings in den Kapellen die Wunderaugenblicke der „Wandlung“ vorüber, schon konnten die murmelnden Priester nahe bei ihrem: Ite, missa est! angekommen sein …

Da fiel neben der letzten Kapelle und schon dicht wieder am Eingang sein Blick durchs Fenster auf einen eben vorrollenden Wagen, dessen Kutscher eine Livree trug, die ihm als die gräflich Münnich’sche bekannt war … Sollte er dort vielleicht eine Erkundigung einziehen? …

Wie er im Begriff war, die Kirche zu verlassen und der düstern Vorkapelle sich zuzuwenden, begegnete ihm eine tiefverschleierte schlanke Gestalt, einen schwarzen Mantel von schwerem Pelz übergeworfen – wofür hatte die gute Wally Kattendyk nicht alles gesorgt! – 154 den Sammethut zierte eine niederwärts gehende geschwungene Reiherfeder … Das waren ja die Formen, die er suchte …

Ein kurzes Zucken und Stillstehen der an ihm Vorüberschreitenden bestätigte seine Voraussetzung …

Wohl konnte Lucinde auf den ersten Blick sehen, daß die Messen bald vorüber waren … Aber auch stille Gebete genügten für ein längeres Verweilen in der Kirche … Sie mußte es sein … Hubertus, der sich an den mächtigen Pfeilern des mittlern Schiffs hin nachschlich, bemerkte, wie sie die entlegenste Gegend der Kirche suchte, einen Seitenwinkel mit kleinen runden Fenstern, wo ein alter Taufstein stand … Alles war in diesem kleinen Viereck dunkel und still … Hier kniete die Angekommene nieder und zog ihr Brevier …

Auch Hubertus warf sich drei Schritte von ihr zu Boden …

Das Schreckliche ist geschehen! murmelte die Beterin mit offenbar zitternden Lippen vor sich hin …

Hubertus rückte näher …

Was wird kommen? fuhr sie mit angsterfüllter Stimme fort …

Hubertus, der sich in diese wunderliche Form der Zwiesprache nicht sofort finden konnte, erzählte das in dieser Nacht von ihm Erlebte … Oft mußte er dabei in seinem Bericht innehalten, denn bald ging ein Meßner vorüber, bald ein Geistlicher, bald ein Singknabe, der von hier zum Orgelchor stieg … Die Vorübergehenden mußten denken: Zwei Seelen das, die sich heute dem heiligen Ansgarius gewidmet haben! Denn gerade der 155 Bekehrer der Friesen und erste Bischof von Bremen stand über ihnen …

Bremen war freilich in minder geweihtem Sinn das Endziel der Hubertus’schen Mittheilung …

Lucinde sagte:

Geben Sie doch in diesem Fall jede Rücksicht auf die Gesetze preis! Was ist denn überhaupt Strafe? Was wollen Sie der Obrigkeit ihre Sorgen erleichtern? Wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß diese Brandstiftung aus dem Gehirn eines gewiß einst seiner Strafe nicht entgehenden Bösewichts entsprang, aber ehrliche Leute in Verdruß bringen kann, so glauben Sie mir’s! Entfernen Sie diesen Menschen auf ewige Zeiten aus dieser Gegend, ja aus unserm Welttheil! Welche Macht Sie auch über ihn gewinnen, Sie finden einen mit abergläubischer Schwäche gepaarten verstockten bösen Sinn, den Sie zu heilen und zur Besserung zu führen nur die kostbare Zeit verlieren! Seine That mag Gott richten! Theilweise hat er sie ja schon selbst gebüßt durch seine Beschädigung und gesühnt sogar durch Aufopferung! …

Hubertus hörte in dieser Rede alles wieder, was er von Klingsohr über Lucindens wilde Natur wußte …

Noch machte er gegen die mächtig bestürmende Kraft ihrer Worte die Einrede:

Aber der Schurke legte Feuer an! Was war seine Absicht? Welchen Gewinn konnte er daraus ziehen?

Hinderten ihn nicht vielleicht die Umstände am Stehlen? flüsterte Lucinde. Untersuchten Sie, wo er etwas geborgen hat, was er sich aneignete? Mit diesen 156 Forschungen wird jede Stunde mir und andern verderblich und ich schwöre Ihnen, Sie erhalten einst die Aufklärung – ich würde sie Ihnen schon jetzt geben, wenn – Sie ein Priester wären!

Der Laienbruder mußte in diesem Augenblick ein Gebet murmeln. Denn die rings stehenden Bilder der Heiligen lockten auch andere Beter an … Schon befürchtete er, daß eine daherkommende und jetzt still stehende Dame neben ihnen Platz nehmen würde … Wie war sie zu verscheuchen? Er sah sie mit seinem Todtenkopfantlitz aus der Kapuze, die er über sich gezogen hatte, an; da erschrak sie, daß sie zurückfuhr und sich entfernte … Es war Frau von Sicking selbst gewesen … Sie hatte Lucindens Anwesenheit draußen vom Kutscher erfahren, der das Fräulein in erster Morgenfrühe zu ihr zurückbringen sollte … Sie erkannte den Mantel Lucindens und die Reiherfeder … Anreden durfte sie die Betende nicht … Der schreckhafte Mönch vertrieb sie in der That zu einem Altar, der den Schmerzen Mariä gewidmet war … Sie liebte Gottes Wort in einnehmenderer Erscheinung …

Lucinde hatte ein scharfes Auge … Sie erkannte Frau von Sicking nur etwas von der Seite aufblickend … Mit bebender Stimme sprach sie zum heiligen Ansgarius:

Ich lasse Sie nicht, wenn Sie mir nicht versprechen, die Gefahr noch heute zu entfernen! Diesen Menschen vor allem, so weit Sie können! Unbekümmert um seine ruchlose That sollen Sie ihm die Mittel zur Flucht ge-157währen! Ist Ihnen dieser Mensch noch vor kurzem von Werth gewesen, warum wollen Sie ihn jetzt aufgeben?

Hubertus murmelte ein Gebet, denn Lucinde mäßigte sich nicht …

Warum antworten Sie nicht? unterbrach Sie ihn. Sie wissen doch wol, was weltliche Gerechtigkeit ist! Sie, der Sie Ihre Liebe geopfert bekamen, ohne den lachenden Triumph der Mörder gestraft zu sehen! Erst die göttliche Gerechtigkeit strafte die Buschbeck … Waren Sie nicht der gottberufene Richter des Paters Fulgentius? … Den Kronsyndikus strafte Gott dadurch, daß er den gefürchtetsten Tyrannen zum Kinderspott machte … Hat Klingsohr eine Schuld auf sich, so sehen Sie ja sein tägliches Elend … aus dem ich übrigens Sie und ihn befreien will …

Hubertus betete … Diese Seele riß zu ungestümen Thaten hin …

Sie können Frost und Hitze ertragen … Sie werden dem Pater Sebastus zur Seite stehen müssen, wenn er nach Rom – ohne – Schuhe gehen will …

Kennen Sie – auf dem Schlosse – Wenzel von Terschka? … fragte der Mönch, dieses Mädchens entschlossene Rücksichtslosigkeit zu allem für fähig haltend und zunächst in der That nur um ihrem Drängen auszuweichen …

Unwillig über die unerwartete Querfrage, schwieg sie …

Kennen Sie die Herkunft dieses Mannes, den ich nannte? wiederholte Hubertus …

Was soll das? … Das ist ein Cavalier aus Wien … ein Böhme …

158 War der Mann nie in Rom?

Lucinde schwieg und wiegte ungeduldig den Kopf …

Sie kommen nicht selbst auf Westerhof? …

Doch! … Ich denke … warum? antwortete sie endlich …

Hubertus überlegte, ob er nicht Lucinden zur Vertrauten des Interesses machen sollte, das er, wie an Bickert, so auch an Wenzel von Terschka nahm …

Frau von Sicking’s Andacht mußte eben gestört worden sein … Sie erhob sich und blickte auf die noch immer Betende, deren Geflüster ihr nachgerade auffallen konnte …

Als sie näher kam, hatte wieder Hubertus kein anderes Mittel, sie zu entfernen, als seinen Blick … Frau von Sicking ging an einen andern Altar …

Ich beschwöre Sie, betete Lucinde, verlieren Sie keinen Augenblick! Jeder Moment des Zögerns ist verderblich –

Wollen Sie mir nur eines versprechen? – mußte Hubertus, und jetzt fast, der äußern Umgebungen wegen, nothgedrungen, sagen … Sie haben mächtige Verbündete, große Beschützer … Wollen Sie für uns sorgen, wenn wir in den Orden der Alcantariner treten und unbeschuht nach Rom entfliehen?

Lucindens eigene Wege deuteten schon lange nach Rom … Sie kämpfte einen Augenblick, sagte dann aber doch – so mächtig fühlte sie sich in ihrer Anlehnung an Nück: –

Ich verspreche es Ihnen!

Nun erklärte sich Hubertus bereit, daß er sofort einen Wagen suchen wolle, mit dem er Jean Picard nordwärts den Bergen zu fahren könne … Aufklärun-159gen über die Absicht des Verbrechers würde er nicht früher begehren, als bis er in Sicherheit wäre … Durch den Preis, den er in Aussicht stellen würde, nach und nach die Erbschaft zu gewinnen, hoffe er, sprach er, ein Mittel in der Hand zu haben, ihn in Amerika festzuhalten und zu einem tugendhaftern Leben zu führen … Das Geld befinde sich noch auf dem Gericht in Witoborn und könne ihm vielleicht am besten durch einen Advocaten zukommen … Hubertus nannte den auch hierorts allbekannten Nück …

Nein, nein! lehnte diesen Namen Lucinde ab …

Hubertus hatte kein Arg und erklärte, sich auch sonst wol helfen zu können …

Damit erhob er sich und ließ die Beterin allein, die es auch ihm wie so vielen – „angethan“ hatte …

Allmählich erhob Lucinde ihr Haupt von dem Pult, vor dem sie kniete, schlug erschöpft ihr Brevier zu und trocknete die in der That von Angsttropfen befeuchtete Stirn …

Sie hatte die Nacht nicht eine Stunde geschlafen …

Frau von Sicking riß sich aus ihrer Anbetung los und schloß sich Lucinden an, die wie aus einem Traum erwacht sie begrüßte …

Beim Austreten aus dem Münster erzählte sie, daß sie bei Gewittern und Feuersbrünsten in einen Zustand gerathe, der sie zwänge, sich in den dunkelsten Winkel zu flüchten … Sie wäre in dem gestrigen Tumult aufgesprungen, hätte sich im ersten besten Zimmer eingeschlossen, auf alles Rufen und Klopfen keine Antwort geben können, bis erst im Schlosse alles still geworden und der Feuerschein nachgelassen hätte … Dann hätte sie ihren Versteck verlassen. Die Gräfin Münnich hätte sie ge-160zwungen, die Nacht auf dem Schloß zu bleiben; doch schon in aller Frühe wäre sie wieder aufgebrochen … Sie hätte das Gelübde gethan, sämmtlichen Altären des Münsters nach der Reihe ihre Verehrung zu bezeugen … Darum auch wäre sie zuerst in den Münster gegangen …

An alledem war nichts Unwahres, aber Frau von Sicking hatte gestern doch schon manches über Lucindens Vergangenheit erfahren und war heute von einiger Zurückhaltung. Ihre Erzählung der Vorfallenheiten auf Schloß Westerhof, während beide im eigenen Wagen auf ihre Besitzung zurückfuhren, hatte die geheime Absicht, den frühern Beziehungen Lucindens zu Gräfin Paula näher zu kommen …

Lucinde merkte dies allmählich, merkte auch die der Gräfin Paula nicht eben günstige Gesinnung der Frau von Sicking, die mit großer Schärfe urtheilen konnte … Als sie Lucinden zur Chocolade festhielt, immer wieder von Paula und den zweideutigen und höchst „incorrecten“ Visionen derselben begann, fiel ihr eine seltsame Beleuchtung auf die Pracht und Herrlichkeit dieser Niederlassung, auf die Teppiche, über die sie hinschritten, auf die kleinen verwickelt angelegten Cabinete mit gothischen schwarzen Möbeln, bilderbeladenen Wänden, auf die mit rothem Sammet überzogenen Betschemel … Die Frau ist neidisch auf Paula wegen Bonaventura! sagte sie sich … Wo sieht sie ihn denn? Fährt sie deshalb so oft zu Müllenhoff? …

Frau von Sicking wollte gegen Mittag nach Schloß Westerhof zur Condolenz und forderte ihren Besuch auf, sie dorthin zu begleiten …

161 Die eben auf einem silbernen Plateau überreichte neueste Post für Frau von Sicking gestattete Lucinden ihren Zorn und das Erglühen ihrer Wangen zu verbergen …

Bei alledem aber, durch den ihr vom Himmel geschenkten Beistand des Laienbruders, durch – auch ihre Zähmung des „Bruder Abtödters“ doch ermuthigt und auf ein günstiges Verlaufen aller dieser Gefahren hoffend, warf sie schon voll Uebermuth auf ihrem Zimmer ihr Brevier hin, wie – die Schöne, die vom Ball kommt, ihren Fächer, hinter dem sie eine Eroberung machte …

Zur Wiederbegegnung mit Bonaventura und Paula interessirte sie sogar der mit Cherubimköpfen umrahmte Spiegel …

Sie fand aber ihr Aussehen doch noch zu angegriffen, als daß sie schon heute diese Scene wagen sollte.

162 19.#

Auch diesen beiden aus Witoborn zurückkehrenden Damen war im Vorüberfahren ein Gruß gespendet worden aus dem von Westerhof schon wieder heimkehrenden Wägelchen jenes gewissen Mannes im blauen Mantel mit dem schwarzen Pudelkragen …

Löb Seligmann grüßte in der allerglückseligsten Laune …

Hatte er auch in verschiedenen Spiegeln der Gegend, die er im Lauf dieses Winters und vor dem Frühjahr nicht mehr verließ, beim Rasiren seines Barts, beim Kämmen und Ansingen seines wolligen Haares eine nicht gewöhnliche Anzahl von grauen Löckchen bemerkt; doch kamen sie nur als ein zufälliger Tribut an seine Jahre, nicht als Folge von Kummer und Sorge …

In der von so mannichfachen Aengsten und Bedrängnissen erfüllten Sphäre, die wir schildern, war er die zufriedenste, frohste, vielleicht die einzige „gesunde Natur“, wenn nicht am Körper doch an der Seele …

Das Vertrauen, das ihm zuerst Terschka schenkte, das sich dann dem ganzen Adel der Gegend mittheilte, gab ihm einen Schwung, der nur von jener ihm manchmal eigenen Rührung über sich selbst gemildert wurde …

Aber sogar diese Anwandelungen der Wehmuth wie sonst 163 beim Hinblick auf Kocher am Fall, auf den Korb der Hasen-Jette, auf die schwachen Beine David’s, auf die Blüte des Ghetto, Veilchen, die unter der Geldgier seines so unpoetischen und ihm unähnlichen Bruders Nathan schmachtete, kamen ihm jetzt seltener. Nur der hierortige Mangel an Opernmusik, die sonst seiner Seele ein so nothwendiges Labsal war, war eine Lücke in seinem Dasein. Von der classischen Anmuth der Arie: „Ha, das Gold ist nur Chimäre!“ war er musikalisch tief überzeugt – die Textesworte unterschrieb er bei seinen gegenwärtigen glänzenden Einnahmen weniger – aber er mußte sie sich allein trällern.

Die Eroberung dieses gewissenhaften Kenners der Ackerkrume, der Ertragsfähigkeit der Güter, der einschmeichelnden Ueberredungskünste bald beim Bauer, bald beim Edelmann verdankte Terschka dem Vormittag auf der Villa des Herrn Bernhard Fuld in Drusenheim. Er ließ ihn nach Witoborn kommen und „schlachtete“, wie der Kunstausdruck lautet, bereits im voraus die Güter des Grafen Hugo ein, noch ehe die Uebergabe in allen Formen erfolgt war. In Terschka hafteten aus den Lebenssphären seiner frühesten Kindheit andere Eindrücke vom Judenthum, als er sie durch Löb Seligmann empfing. Heyum Picard und – Löb Seligmann! … Letzterer mit den rührendsten Gleichnissen und Sprüchen aus dem Talmud, die ihm Gewinn auf Kosten der Ehrlichkeit verboten –! Löb citirte sie zuweilen mit einer gewissen jungfräulichen Verschämtheit … „Wir haben ein Sprichwort, Herr Baron –!“ Das die stehende und mit Erröthen gesprochene Phrase, mit der Löb ein solches Citat aus dem Talmud anbrachte – wie einen Traum aus der Menschheit kindlichsten Tagen …

164 Eine wunderbare Kunst besaß Seligmann, alle Verhältnisse, in die das Leben ihm einen Einblick gestattete, bis auf den Grund auszukosten. Selbst einen so entschieden negativen Umstand, wie den, daß Armgart von Hülleshoven damals, als er sich die Rettung der kleinen Pensionärinnen von Lindenwerth vor Wassersfluten so angelegen sein ließ, unter den zur Villa Dahinwatenden nicht anwesend war, benutzte er zur Anknüpfung einer Bekanntschaft, ja zu dem seelenvollsten Genuß, Nachgenuß der Thatsache: Also, Fräulein, Sie waren damals nicht dabei! … Dabei sein Auge! … In seinem Gemüth blieb’s eine Nachbetrachtung mit den schmelzendsten Accorden … Angelika Müller, die kannte er aus der Dechanei und die hatte er damals gesprochen und demzufolge besuchte er Püttmeyern – und Grützmacher hatte einst bei Witoborn als Gensdarm gestanden und demzufolge sah er sich dessen ehemalige Wohnung und Stall an und knüpfte die Bekanntschaften seiner Nachfolger an und – Also das ist ein Vetter von Ihnen? und ein einziges seelenvoll so durchempfundenes Verhältniß, erleichterte es auch sein Geschäft, das eben im Couragemachen zu Veränderungen und Expropriationen gemüthlich werthgewordenen Eigenthums bestand, so war es das doch nicht allein, was er dabei suchte … Benno von Asselyn, mit dem er hier oft zu thun hatte, Benno, der ihn für seine Güterschlachterei als Student aus dem Roland „geschmissen“ hatte, Benno war ihm eine kocherer Bekanntschaft von einem Heimatsgefühl, von einer Seelenerquickung, als sänge, da er ihn zum ersten male hier sah, sein ganzes Sein: „Ich komme aus der Normandie!“ … Ebenso elegisch betrachtete 165 er Thiebold de Jonge … Ebenso Hedemann; auch „unbekannterweise“, aber um seines Sohnes willen, den Landrath von Enckefuß, an dem ihn seine Geldverlegenheit um so mehr rührte, als er, gelegentlich von diesem um Hülfe angesprochen, bedauerte erklären zu müssen, daß er „Geschäfte dieser Art“ nicht mache … Mit Bonaventura vollends trat ihm die ganze alte Kathedrale von Sanct-Zeno in Kocher am Fall wie im Mondlicht entgegen; das Sterbebett der Nachbarin Ley; Treudchen und mit ihr der Blumenstrauß, den er an jenem Morgen für Veilchen gekauft hatte … Alles das hob ihm Seele und Gemüth …

Mit besonderer Andacht besuchte Löb das große Dorf Borkenhagen. Er betrachtete sich von allen Seiten jenes Pfarrhaus, wo „denn also“ Leo Perl, sein leiblicher Vetter, abgefallen vom Glauben seiner Väter, gelebt hatte und gestorben war … Er betrachtete die Fenster, die Walleinfriedigung, den Brunnen und die Scheuer dieser Wohnung mit einem so elegischen Rückblick, daß der jetzige Pfarrer das Fenster seines Studirzimmers öffnete und ihn fragte: Wünschen Sie etwas? … Durch seine Seele zogen sich bei diesem rauhen Anruf alle Töne des Gefühls unverdienter Kränkung, die nur jemals sein angebeteter Bellini componirt hat …

Von Veilchen wußte er über Leo Perl so viel Wunderbares … Perl war ein Freidenker und doch – ein Kabbalist gewesen. In Paris hatte er in alten Pergamenten studirt und trotz Voltaire eine schreckhafte Geisterwelt anerkannt. Nun erschien ihm Leo Perl wie einer jener Rabbis, die durch gewisse Zahlenzusammenstellungen, die sie einer thönernen Figur auf die 166 Stirn schreiben, diese lebendig machen. Eine solche Figur dient dem Zauberer, verrichtet ihm alle Geschäfte, macht das Schwierigste möglich und begehrt keinen andern Lohn dafür, als gut zu essen und zu trinken. Wischt dann ein Zufall die Zahlen von der Stirn des „Golem“ oder der Rabbi vergißt eine gewisse Formel, so wird das Thonbild zum leibhaften Teufel und hat schon manchen Nachts im Bette erdrosselt. Gott – so immer kam ihm die Erinnerung an Leo Perl! … Das war nun da die Kirche, wo dieser, ein Jude, celebrirt hatte! Das war nun da der Friedhof, wo er begraben lag! … Und das waren die Lehmhaufen, aus denen er sich allenfalls so einen Golem hätte bilden können! …

Im Kloster Himmelpfort, hieß es eines Tages im Wirthshause, lebten noch Mönche, die den Pfarrer Perl näher gekannt hätten … Mit diesem Kloster kam Löb durch einen Besuch in Verbindung. Vor noch nicht acht Tagen wurde er in Witoborn „Bei Tangermanns“ durch den Küfer Stephan Lengenich überrascht. Der „Gerechtfertigte“ kam wieder aus dem Gefängnisse, das er jetzt wegen seiner Betheiligung an jener Versammlung im Roland hatte als Strafe für geheime Verbindungen verbüßen müssen. Der vierschrötige, feierliche, exaltirte Mann trat in einem großen kaffeebraunen Mantel bei ihm ein und gab sich in so fragwürdiger Schreckhaftigkeit, daß Löb Seligmann unwillkürlich an eine seiner Lieblingsopern „Zampa“ und das erste Auftreten des furchtbaren Räuberhauptmanns denken mußte … Der Küfer kündigte ihm an, daß er sein Begehren nach dem Stück Tuch vom Jagdrock des Kronsyndikus (der bei 167 seiner Ankunft noch lebte) zwar für einige Zeit durch Veilchen’s Beredsamkeit hätte fallen lassen können, aber nicht für immer und am wenigsten für jetzt, wo er seit einem halben Jahr schon wieder die ganze Schwere des Unrechts dieser Welt und der Nichtrechtfertigung vor Menschen hätte erfahren müssen. Er verfluchte den Verführer Hammaker, der seinen Lohn gefunden. Er bereute den Verkauf des Blutackers in Drusenheim. Er war ganz in jener volksthümlichen Rachestimmung, die bei solchen Gelegenheiten unter welthistorischeren Bedingungen zu Masaniellos, John Hampdens und Andreas Hofers machen kann, in unserm Leben, wie es so kommt und geht, leider nur zu commandirenden Spritzenmeistern. Stephan Lengenich wollte zu näherer Auskunft über den Tuchstreifen ins Kloster zu dem Mönche Sebastus. Zitternd und doch voll hohen Interesses hörte Löb Seligmann die Proposition, ihn dorthin zu begleiten. Die wildesten Racheklangfiguren aus „Fidelio“ und „Lucrezia Borgia“ tanzten vor seinem Ohr und Auge …

Glücklicherweise – so kann man hier wol sagen und da leugnete Veilchen die unmittelbare Vorsehung! – war der Kronsyndikus schon in den nächsten Tagen gestorben und Stephan Lengenich knirschte nur mit den Zähnen. Er kam, um einen Proceß gegen den Kronsyndikus einzuleiten. Eine festliche Einholung in die Keller der Moppes’schen Weinhandlung, wo ihm seine unterirdische Stellung verblieben war, hatte er um diesen Proceß verschoben. Nicht eher wollte er mit Blumen geschmückt wie Bacchus auf einem Fasse in die Keller getragen werden unter Männergesangbegleitung – der junge Mop-168pes hatte selbst eine Cantate dazu componirt – als bis er, endlich im Besitz des Tuchstreifens, zum Landvogt gesagt: „Schließ’ deine Rechnung mit dem Himmel, denn deine Uhr ist abgelaufen!“ Nun war die Uhr abgelaufen … Stephan Lengenich sprach mit Advocaten, die ihm keine Ermuthigung gaben. Seine „Entlastung“ konnte er nur an der Eiche selbst vollziehen …

So besuchte denn Löb Seligmann mit ihm das Kloster Himmelpfort, um auf alle Fälle den Streifen Tuch von Klingsohr zu fordern. Beide trafen den Pater auf dem Krankenbett. Siech und elend blickte er sie an. Vor dem Küfer, gegen den er einst falsches Zeugniß abgelegt hatte, schlug er die Augen nieder. Auch auf Löb Seligmann besann er sich; er hatte ihn einst trotz seiner Verehrung vor dem Judenthum in der Theorie, in der Praxis beim Zinngießer Klingelpeter zur Thür hinausgeworfen. Bekannt war ihm, daß Seligmann die Brieftasche bei Nathan, seinem Bruder, in der Rumpelgasse gefunden und von der Einlage dem Küfer Kunde gegeben hatte …

Seligmann führte das Wort und erzählte, daß nur bisher durch Veilchen’s Beredsamkeit, dann durch eine neue Haft, der Küfer in seinem Verlangen nach jenem Tuche wäre aufgehalten worden, nun aber begehre er dasselbe aufs bestimmteste von ihm. Klingsohr hatte eben die Kunde vom Tod des Kronsyndikus erhalten und gab das Tuch und ließ geschehen was wollte. Er fragte nach Veilchen. Löb erzählte von ihrer Güte und Milde. Klingsohr erwiderte:

Euch Juden steht es besser an, wenn ihr dem Shylock gleicht! … Da Stephan Lengenich! Macht damit was 169 Ihr wollt! Auch aus mir – und – meinem falschen Zeugniß! …

Dumpfe Stille in dem Kämmerlein … Der Mönch wandte dem Besuch den Rücken und streckte sich, lang wie er war, gegen die Mauer auf sein Lager … Stephan Lengenich kannte sein Schicksal. Er sah in Klingsohr einen Gefangenen der Regierung, einen gottesfürchtig gewordenen Mann, den man verhinderte, für die Sache der Kirche zu wirken … Ihn seines falschen Zeugnisses wegen jetzt noch zu verklagen verbot seine ganze Stimmung … Auch würde ihn die Kunde, er hätte bei weltlichen Gerichten einen Mönch des Meineids beschuldigt, daheim um seinen Triumph gebracht haben …

Pater, sprach er, Sie haben mir viel bitteres Leid angethan, durch das Unterschlagen dieses Tuchs vom Rock des Mörders Ihres Vaters, das ist wahr – jahrelang … Aber ich – ich höre, die Regierung hat Sie mit Gewalt hieher geschickt …

Löb Seligmann zitterte vor den Wirkungen, die dies theilnehmende Wort hervorbringen konnte …

Seligmann! …

Herr Lengenich! …

Sie schwören uns –

Gott im Himmel! …

In der That wurde eine Flucht besprochen … Warum sollte der Küfer den Pater nicht nach Lüttich befördern helfen zu den Vätern der Gesellschaft Jesu?

Seligmann gab jede Versicherung, die Großmuth des Küfers zu ehren, aber – er mußte mehr erleben … er war außer sich, als die Verabredung getroffen wurde, daß 170 an zwei einsamen Pappeln, die Sebastus von seinem Lager aus bezeichnete, in der Dämmerung und am Tage des Leichenbegängnisses Lengenich’s Wagen stehen sollte – dieser war mit eigenem Fuhrwerk gekommen … Erst als Klingsohr zu Löb sagte: Sind Sie denn feiger, als ein Mädchen? Meine Flucht war ja von Ihrer – neuen Deborah veranstaltet! gab er nach … Veilchen hatte allerdings, selbst hinterm Ofen noch, etwas vom Geiste der Deborah …

Die Flucht scheiterte, wie wir wissen, an der Akustik der Krankenstube des Klosters … Stephan Lengenich hatte seine Rede an der Eiche im Düsternbrook gehalten, hatte, wie sich an alles Erhabene so leicht der Schnörkelstrich des Lächerlichen knüpft, die Unterbrechung durch die Possen Stammer’s erleben müssen, hatte die Genugthuung sowol der Unterstützung des Mönches Hubertus, wie der ihre Falschheit entlarvenden Ohnmacht jener Lisabeth, die ihn verrathen, verrathen um eine goldene Uhr, zu der sie schon lange mehr als eine Kette trug … Alles Wunderbare war geschehen … Der Zug ging vorüber … Löb Seligmann zog den neuen Wilhelm Tell, der den Ruf des Tyrannen wenigstens noch mit Pfeilen des Wortes erlegt hatte, aus dem Gewirr des gestörten Leichenzuges … Tangermann in Witoborn wurde nicht erst von dem großen Todten- und Weinrichter angeschmeichelt um seine Gelbsiegel, als es galt dem Gelungenen und noch Kommenden zu trinken, er stellte drei Rothsiegel als „die Sorte nicht“ zurück, die ihm genügen konnte, seine Zunge zu befeuchten, während er den umstehenden Neugierigen Aufklärungen gab über sein ganzes großartigverschlungenes Lebensschicksal … Im Sturm und zu allen Unternehmungen fähig, fand er 171 sich dann mit seinem Einspänner an den beiden Pappeln beim Kloster ein. Er wartete, wartete zwei Stunden auf den Flüchtigen … Pater Sebastus kam nicht … Er fuhr dann ab, dem Triumphzug in seine Keller entgegen …

Löb Seligmann aber dankte Adonai, als er von diesen Beziehungen zu einem so eigenthümlichen Staatsdemagogen befreit wurde, Beziehungen, in die er sich nur auf das magische Wort „Veilchen“ und die Hoffnung wieder eingelassen hatte, im Kloster Himmelpfort würde er Bekanntschaften machen, von denen er etwas über Leo Perl erfuhr …

Selbstverständlich war es, daß er sich einige Tage später die Brandstätte in Schloß Westerhof ansah … Er hatte mit so vielen Adeligen in diesen Tagen zu thun, daß er vom Neuesten als Augenzeuge sprechen mußte … Gerade bei einer Bekanntschaft, die er gemacht hatte, der mit dem Präsidenten von Wittekind und dessen geschäftskundiger Gattin, der Mutter des Domherrn von Asselyn, konnte ihm ein solcher authentischer Bericht die Bürgschaft eines angenehmen Eindrucks sein, falls er, wozu er Veranlassung hatte, sich gerade heute noch auf Schloß Neuhof begab …

Mit Rührung hatte er den Arbeitern, die den Schutt aufräumten, im Wege gestanden; mit betrachtendem Schmerz hatte er sich dem Strahl einer noch immer gehenden Spritze ausgesetzt … Er sah, staunte und schüttelte sich die Tropfen ab … Es war ein förmlicher Einschnitt in die eine Seite des Schlosses entstanden. Links und rechts von der Brandlücke konnte man die offenen Zimmer sehen, wie nach Löb’s Phantasie im Theater, wenn „Zu ebner Erde und 172 erster Stock“ gespielt wird … Haufen von Büchern, Kisten und Kasten erinnerten ihn an die Rumpelgasse …

Eben trugen Bediente und Arbeiter Körbe voll Schriften nach einem entlegenen Thurm … Baron von Hülleshoven und Baron von Terschka, beide hatten heute kein Auge für ihn. Sie begleiteten die Körbe und hoben auf, was ihnen entfiel … Es waren Schriften und Documente und gewiß lateinische und französische darunter, die – „für David Lippschütz den Ankauf von Schulbüchern ersetzt“ hätten … Auch sah sich schon Löb darauf einige an; sie wurden ihm mit Verweisen aus der Hand genommen … „Dulden ist das Erbtheil meines Stammes!“ lag in seinen Augen. Hatte er denn diese Bücher heimlich einstecken wollen? … Auch Fräulein Benigna war heute den Umständen entsprechend von mehr abweisendem, als zuvorkommendem Benehmen gegen den Mann der praktischen Ackerwirthschaft … Gräfin Paula schwebte da und dort hinter den Fenstern wie ein verstörter Geist. Er hatte viel von ihren Wundern und Ferngesichten gehört und befand sich darüber, wie seinem Glauben natürlich ist, im Zustande gelinden Zweifels. Ein Gespensterglaube, der sich an das Wunderbare durch Figuren von Lehm gewöhnen soll, die durch ein Zahlengeheimniß die Befähigung erhalten, jeden Freitag mehr als menschlich Schalet zu essen, kann im Gemüth nicht besonders für das Wunderbare stimmen …

Nur Armgart berücksichtigte ihn plötzlich und sogar mit hohem Interesse …

Als sie ihn sah, rief sie ihn voll Schrecken an:

Ha! Haben Sie wol Neues aus Kocher am Fall?

173 Mein gnädiges Fräulein –!

Ist mein Vater abgereist? Vielleicht schon in Witoborn? Reden Sie doch! …

Mein Fräulein –! …

Seligmann fand sich nicht sofort in die determinirte Frage … Er genoß noch erst die Thatsache der Anrede als solche selbst …

Als er sich dann in die Begebenheit gefunden, glich sein Antlitz den Gesetzestafeln, wie sie aussahen, als Moses auf den Sinai hinaufging …

Armgart ließ ihn, da sein Schweigen nur ein umständliches Vorbereiten auf das Verschleiern seines Nichtwissens wurde, ebenso schnell stehen, wie sie ihn angeredet hatte …

Das kostete wieder einige Zeit des Besinnens und wieder einige Spritzengüsse …

Bei alledem aber doch höchst geschmeichelt und befriedigt von einer so ehrenvollen Aufnahme carriolte er auf Witoborn zurück … Er führte sein halbbedecktes Wägelchen selbst … Es gehörte einem witoborner Kutscher, dem er ein ansehnliches Pfand für die richtige Behandlung des Gauls hatte hinterlassen müssen … Löb verstand sich aber auf alles, was zum Leben des Landes gehört … Er war die seltsamste realistische Natur, die sich zum Ideal verklärte … Sein Wissen und sein Thun erfüllt von Thatsachen der Wirklichkeit bis zum Klee und zum Dünger hinunter und doch sein Fühlen ganz Aether … Seligmann war kein Pantheist oder Spinozist – (die Einwendung, die er einst gegen Veilchen’s Pantheismus gemacht hatte, lautete: „Ei Veilchen, der Geist Gottes schwebte doch 174 über den Wassern. Und Sie sagen: Er schwebte in ihnen?“ …) aber sein Gott blies alle Instrumente und in der Luft klang es ihm wie Sphärenmusik.

Bei Witoborn wieder angekommen, mußte Löb etwas langsamer fahren, denn die Wallanlagen sind erhöht … Wieder begegnete ihm jener Mönch, der an der Eiche sich so nützlich gemacht hatte … Wieder grüßte er ihn aufs verbindlichste … Für die abschreckenden Gesichtsformen dieses resoluten Mannes hatte er kein Auge – Er dachte an Aufklärungen über Leo Perl … auch über den armen „Feind“ von ihm – über Sebastus –

Hubertus ging eine Weile neben seinem Wagen einher und redete Löb an … Er ließ sich von der Brandstätte erzählen … Der Verdacht über den Ursprung des Feuers haftete immer noch an dem Kohlentopf …

Im Hören und Gehen verfolgte Hubertus einen Plan … Als Löb Seligmann in die Stadt einbiegen wollte, bat er ihn, einen Augenblick still zu halten …

Wollen Sie einsteigen? sagte der gefällige und seinen Absichten auf diese Art so nahe kommende Mann und rückte schon zur Seite …

Hubertus sagte, er möchte gern einen Kranken, der hier dicht in der Nähe läge – er wäre beim Brande verunglückt – ins Kloster schaffen … er verstünde sich auf das Heilen von Brandwunden besser, als die Aerzte im Spital …

Aber ich muß auf Schloß Neuhof – entgegnete Löb, theils dem, was er schon merkte, ausweichend, theils gelegentlich auch die Orientirung über seine vornehmen Verhältnisse unterstützend …

Das ist nur ein Umweg! – sagte Hubertus. Sie 175 werden nicht viel um eine Stunde später ankommen … Freilich, setzte er hinzu: Mit einem Kranken muß man langsam fahren …

Und diese Worte kamen so vom Herzen, daß Löb schon gewonnen war. Gott soll dich segnen hundert Jahre! hörte er im Geist seine Schwester sagen …

So stieg Hubertus schon ein und der Gaul lenkte dahin, wohin der Mönch mit den knöchernen Fingern deutete …

Die Kirchhöfe gaben gleich den natürlichsten Uebergang des Gesprächs auf die gemeinschaftlichen Erlebnisse am Düsternbrook, auf den Küfer, auf Pater Sebastus, von dem Löb erfuhr, daß er für seine beabsichtigte Flucht in der Strafzelle sitzen mußte, auch auf den Tod des Landraths von Enckefuß … Hubertus erzählte seine Betheiligung an den letzten Lebensstunden desselben und mehrte dadurch nicht wenig den Anschluß Seligmann’s, der sein Selbander zwischen Jud und Christ nicht mit den Empfindungen genoß, die Andere aus Lessing’s „Nathan“ schöpfen, doch jedenfalls mit manchem wohlthuenden Accord aus „Templer und Jüdin“ …

Bald war es Mittagszeit … Löb sprach von einem Wirthshause, wo man in einer Stunde würde füttern müssen … Vor drei, vier Uhr erreichte man beim langsamen Fahren und Einschlagenmüssen von Vicinalstraßen das Kloster nicht …

Hubertus stimmte zu und Löb begann schon von Borkenhagen. Da aber zeigte Hubertus auf das Haus der Mutter Schmeling, vor welchem sie halten wollten …

Sie fuhren einen Seitenweg von der Landstraße ab …

176 Plötzlich stutzte Hubertus. Er entdeckte einen Gensdarmen, der eben ins Haus der Hebamme trat …

Unwillkürlich fuhr sein linker Arm auf die Kapuze, die sein kahles Haupt bedeckte, und drückte sie tief ins Gesicht … Er fürchtete sein Erschrecken zu verrathen …

Der Wagen hielt und Hubertus wußte eine Weile nicht, sollte er aussteigen, sollte er bleiben … Ein Halbdach bedeckte beide, ihn und Seligmann … Er drückte sich sogar an die Hinterwand zurück …

Kommt der Mann von selbst herunter? … fragte Seligmann, den Grund des Zögerns nicht begreifend, und stemmte seine Peitsche erwartungsvoll auf die Schöße seines blauen Mantels …

Hubertus schwieg, ermannte sich und stieg aus …

Mit Empfindungen, gemischt aus Theilnahme und Urtheil über Religionsunterschiede und Neugier über den Gensdarmen und die ihm unbekannte Hanthierung der Frau Schmeling sah Löb dem Mönche nach, der mit nackten Füßen, dürftig durch die Sandalen geschützt, in die Nebelnässe hinaustrat und zu dem sich verengenden Hohlweg erst nieder, dann aufwärts schritt …

An der Hauspforte blieb Hubertus eine Weile stehen und horchte …

Mutter Schmeling hatte in ihm unbekannten Angelegenheiten Gensdarmen bei sich erwartet … Das wußte er … Aber seiner Besorgniß schien es nun doch entschieden, daß der an den Landrath gegangene Brief in officieller Weise wiederholt worden war …

War der Verbrecher erkannt, wie konnte er ihn da 177 noch der gerechten Strafe entziehen! … Schon ergab er sich und dachte: Arme Lucinde! … So handelte und fühlte er schon im Bann ihrer bestrickenden Ueberredung … So in Erregung schon durch ein abenteuerliches Leben als Eremit und die Flucht nach Rom …

Hubertus hörte die Stimme der Schmeling und das Säbelrasseln des Gensdarmen, der eben die Treppe hinaufstieg …

Je mehr sich dieser von der Schmeling zu entfernen schien, desto lauter erscholl deren Stimme. Jetzt unterschied er deutlich, was sie hinter ihm herrief:

Suchen Sie nur oben! Suchen Sie! Sehen Sie nur, ob bei mir Katzen entbunden werden! Aber daß Sie sich dabei nur vorm höllischen Feuer in Acht nehmen! Teufels Großmutter muß böse Katzen haben! Mies, mies, mies! … Komm Mies und nimm dein Wochensüppchen von dem Herrn Gensdarmen! … Herr Müllenhoff schickt dir’s! Komm! – komm! … Unser Kindchen hat zwar die Nothtaufe gekriegt, aber sie ziehen’s mit Milch und Wasser auf! Großmutters Mieschen! …

Hubertus, der kaum etwas von einer Katze gehört hatte, als er annehmen konnte, daß doch wol hier eine andere Fährte, als die des Brandstifters gesucht wurde, hatte die Beruhigung, den Gensdarmen, der, als er dann eintrat, schon wieder die Treppe herabstieg, lachend sprechen zu hören:

Schon gut, schon gut – Frau Schmeling! Wir thun eben, was uns befohlen wird! Ich höre und sehe und, was die Hauptsache ist, ich rieche nichts von Katzen 178 bei Ihnen! Nämlich Katzen, die hier gejungt hätten! Schon gut! Schon gut! Ei, da kriegt Ihr ja Mittagsgäste! Wir haben heute alle Hände voll zu thun! … Nun, er ist richtig hinüber, Väterchen! …

Wer? fragte Hubertus, dessen Gedanken nur an Bickert hafteten …

Der Landrath! … Ja so! Den Menschen vom Schloß oben sucht Ihr? … Wetter, das war gestern Abend Euer Meisterstück! … Ich glaub’s wol, daß Ihr ihn nicht weiter habt bringen können als bis hieher! …

Frau Schmeling hielt schon inzwischen dem Landrath nicht die erbaulichste Nachrede … Und der Gensdarm schilderte Hubertus’ gestrige Rettung des gräflichen Dieners … So ging denn diesem alles gemüthlich und beruhigend …

Inzwischen fiel der immer doch noch nach Katzen spähende Blick des Gensdarmen auf ein junges Mädchen, das in der Küche stand …

Ei Lene! sagte er erstaunt und fuhr mit zweideutigem Tone fort: Sie hier? Na! das dacht’ ich wol, daß es mit Ihr so weit kommen würde! Geb’ Sie nur keinen Unrechten an! …

Frauen, wie Mutter Schmeling, sind immer in der Lage, bei vermöglichen Leuten für Ammen sorgen zu müssen und die Lene war ein blitzäugiges schwarzes Ding, das nächstens dazu empfohlen werden konnte …

Ja, sagte die Hebamme höhnisch, auf dem Finkenhof kommt nun bald keine mehr zu Schaden! Der Finkenhof wird ein Betsaal …

Bruder, Bruder, fuhr inzwischen schon wieder dem 179 Mönche zugewandt der Gensdarm fort … Die Leiter so lange frei zu halten, das hätte keiner fertig gekriegt! … Und schon am Morgen bei der Jagd die Noth mit unserm Alten! … Der ist denn also hin … Guter Kerl ist er gewesen, das ist wahr, aber krank war er im Kopf schon lange; vor lauter Ambition! Wir sagten’s nur keinem … Als der Kronsyndikus begraben wurde, sagte er noch: Gebt Acht, nun weiß ich, was der arme Tropf mir vermacht hat … Hier auf den Deetz zeigte er … Was steht denn da draußen für ein Fuhrwerk? …

So unterbrach schon wieder der Umsichtige sein Deuten auf den Kopf …

Hubertus sprach ohne langes Besinnen, der Mann im Wagen draußen wolle ihm helfen den Kranken ins Spital bringen …

Herr Seligmann? … Das Fuhrwerk gehört Schöninghs …

Mit diesen ruhig controlirend hingesprochenen Worten war der Scharfspähende in verhallender Rede zum Haus hinausgetreten und schon zum Hohlweg hinunter und auf Löb zu, der ihn mit herabgezogenem Hute begrüßte …

Inzwischen hatte das Lachen und Zanken der Schmeling fortgedauert …

Die Hauptrollen dabei spielten Staat, Kirche, Welt, Zeit, Sitte, Vorurtheil, das Gleichniß vom Splitter und Balken, der Pfarrer zu Sanct-Libori und ein junges Kätzchen, dessen Mutter man bei ihr suchte …

Hubertus war zu beschäftigt mit seinem nächsten Vor-180haben, um sich lange bei diesem Zwischenfall aufzuhalten …

Wie geht’s denn oben? fragte er, als die Magd ihm den gestern bestellten Speckkartoffelpfannkuchen brachte, dessen Fett- und Zwiebelgeruch das ganze Haus durchduftete …

Suppe hat er und auch ein Stück Fleisch genommen! hieß es …

Nun, dann wird er’s ja aushalten können! Ich nehm’ ihn jetzt – mit ins Spital oder …

Hubertus murmelte während des Essens und sah sich, scheinbar ruhig, nach der vorerwähnten Lene um, die sich auch vor ihm versteckt hielt …

Jetzt trat sie vor und stand mit kecken, funkelnden Augen vor dem Bruder und setzte dem Kopfschütteln desselben eine leichtfertige Geberde entgegen …

So, so weit also, Lene! sagte Hubertus … Das hätt’ ich wissen sollen, als ich dir deine Briefe an den braven Wachtmeister schrieb, der dich heirathen wollte …

Die Lene zog den Mund und ließ Mutter Schmeling reden …

Die Lene ist heilig! kicherte diese. Ja, heilig, sag’ ich Ihnen! Wer bei einem Pfarrer gedient hat, der kann gar nicht sündigen …

Hubertus ließ sich auf so leichtfertige Anspielungen nicht ein …

Inzwischen klatschte draußen Seligmann ungeduldig mit der Peitsche … Es fing ihn an zu frieren, zu hungern und – die Zwiebeln und der Speck dufteten wol auch anmuthend zu ihm hinüber …

181 Hubertus eilte nach oben und war im Begriff, in das Staatszimmer einzutreten …

Als er die Thür öffnete, bot sich ihm ein erschreckender Anblick …

Der Kranke stand im Hemde, mit den beiden eingewickelten Händen in abwehrender Stellung … Furcht und Schrecken auf seinen Mienen … Unfehlbar hatte ihn in solche Aufregung das Suchen des Gensdarmen gebracht, den er im Hause gehört hatte … Zwar hatte der Gensdarm nur die Thür geöffnet und den gräflichen Diener in seiner gestreiften Jacke scheinbar schlafend gefunden und sich mit leichtem Murmeln ohne weiteres entfernt … Aber Bickert war hinter ihm her aufgesprungen und stand jetzt da, wie auf Tod und Leben gerüstet …

Jantje, Jantje! rief Hubertus, indem er sich schon zu einem Handgemeng rüstete … Ihr erkältet Euch ja! …

Wer ist Jantje? stöhnte Bickert, aber mit gesammelter äußerster Kraft …

Ei sieh, sieh, du kannst reden! … Ich dachte gestern – Bei so großem Schreck hat mancher einen Krampf im Kinnbacken weg – zeitlebens …

Schreck? … Worüber? … Wer seid Ihr? … Bringt mich aufs Schloß! … Zu meiner Herrschaft, sag’ ich …

Hubertus wußte nicht, ob ihn der stumpfsinnige Mensch nicht mehr erkannte und keine Erinnerung hatte an den gestrigen Tag, keine Erinnerung an seine früheste Knabenzeit, die ihm gestern doch nicht ganz verklungen 182 zu sein schien, oder ob er seinen Absichten mistraute und sich so nur verstellte …

Es ist ja ein Kohlentopf gewesen! sagte er mit Schärfe und drängte damit den vor Kälte Zitternden ins Bett zurück. Jetzt aber ruhig da! Euere Stalljacke hält nicht warm … ich habe unten eine tüchtige Roßdecke … Ja, ein Kohlentopf war’s, von dem das Feuer auskam! … Nun, haltet doch nur! … Ich ziehe Euch jetzt an! … So war’s nicht immer dazumal, wenn Hayum Picard an der Waldecke stand und pfiff und von der Windmühle pfiff’s wieder und Abraham kam und – nein, seine Gevattern können wir nicht von Leon Levi und Moses Ocker sagen – die Taufe kam erst in Brest, wo sie einem dann – haha! – gleich so ein hübsches Pathengeschenk mit auf den Arm brannten … Haltet doch nur! … So zart hat uns freilich die Hanne Sterz dazumal Sonntags nicht geputzt! …

Die Macht aller dieser Worte war niederschmetternd … Der Verbrecher vermochte nicht dagegen aufzukommen … Hubertus würde beim Ankleiden ruhig so haben fortfahren können, die Erinnerungen und das Gewissen des verstockt Niederblickenden zu wecken, wenn nicht vor Ungeduld, Neugier, Nächstenliebe, Anziehungskraft des Pfannkuchens Löb Seligmann auf der Treppe erschienen wäre und sich erboten hätte, den Kranken tragen zu helfen – „Gott! Bei deinen Kräften!“ hörte er im Geist die Hasen-Jette sagen … Dem Gaul hatte er die Leine gekürzt und ihn vertrauensvoll stehen lassen …

Auf diese Art konnte Hubertus keine andere Verstän-183digung herbeiführen, als soweit nöthig war, den jetzt Angekleideten zum Folgen zu zwingen … Sich tragen zu lassen widerstand Bickert …

Wohin? murmelte er …

Gott im Himmel! sprach Löb Seligmann, staunend über diese Widersetzlichkeit … Der Mann ist noch im Fieber …

Wohl mußte er über die wilde Miene des Trotzes, über den Widerstand gegen eine Hülfe, die ihm so liebevoll geboten wurde, befremdet sein …

Hubertus führte Bickert und sprach laut:

Daß ich Euch nur da am Arme nicht weh thue! … Da, wo Ihr das Brandmal bekommen habt, Aermster! Ich meine, gestern … Es sieht aus, wie wenn auf dem Arme chinesische Buchstaben stünden … Chinesisch hab’ ich lesen gelernt … Ein Jahr später, als wir alle von Mynheer Kattrepel abgeholt wurden – wißt Ihr Vater Kattrepel unterm Dreibein – ich meine – als ich unter die Soldaten nach Java ging … Ja Lene! Lene! … Wachtmeister war ich auch einmal … Und betrogen – das wurd’ ich auch! … So aber nicht, wie der brave Spikermann von dir! Leichtsinniges Ding! Laß dir’s nur erzählen von Mutter Schmeling! … Frau, rechnet Euch all Euer Gutes vor Gott an – und auch dies Werk der Barmherzigkeit – ich meine, wenn Ihr einmal zur Rede stehen müßt für Euere lästerlichen Reden über den Pfarrer zu Sanct-Libori und uns andere Gottesheilige …

Im Verlassen des Hauses mußte Hubertus den auf dem glatten Boden bergab Ausgleitenden dennoch tra-184gen … Bickert wußte nicht, ging es mit ihm hinter Schloß und Riegel oder zur Freiheit … Wer der Mönch sein konnte, dessen entsann er sich … Dennoch, selbst wenn er ein Gegenstand nur wohlwollender Absichten blieb, erbitterte ihn die Entdeckung seiner Thäterschaft, die er so tief verschleiert geglaubt hatte und von der er auch jetzt annehmen konnte, daß sie hier Niemand außer diesem Mönche wußte … Hammaker, der ihn gedungen und kurz vor seiner Verhaftung mit der Urkunde versehen hatte, war todt – Noch einmal erhob er sich, schlug um sich und rief:

Ich will auf’s Schloß! … Zu meiner Herrschaft!

Löb Seligmann fuhr so jählings zurück, daß er fast noch gefallen wäre zum Dank für all seine Menschenliebe … Nur die Kraft und Geistesgegenwart des Mönchs halfen zuletzt zum Ziel … Hubertus setzte den in eine Pferdedecke Eingeschlagenen entschlossen in den Wagen, wies Seligmann vorn auf den Bock, nahm neben Bickert Platz … So fuhren sie alle drei von dannen … Bickert zusammengekauert in der Wagenecke … Hubertus neben ihm, voll Grübeln über seine weitere Hülfe und hinausstarrend in die winterliche Gegend … Löb vorn mit zurückkehrender Heiterkeit und Redseligkeit, die sich um so mehr in kleinen zuweilen geträllerten Liedchen kund gab, als beim Ort Borkenhagen die Aufklärungen über Leo Perl beginnen sollten …

An dem von Löb bezeichneten Wirthshause wurde halt gemacht und der Gaul gefüttert … Auch Löb nahm hier mit Auswahl, was sich vorfand … Hubertus verschmähte trotz seines Pfannkuchens nichts, was ihm 185 noch hier die Küche schenkte … Bickert aber lehnte alles ab … Ja er fing an sich mit dem Gaul zu befreunden … Hubertus blieb in der Nähe, um jede verdächtige Bewegung zu beobachten …

Kennt Ihr mich also jetzt, Jean Picard? fragte er, indem er zu ihm mit einem Suppentopf herantrat und selbst mit dem hölzernen Löffel aß, den er immer bei sich führte …

Bickert sagte, düster die buschigen Augenbrauen zusammenziehend und ihn voll Verlegenheit angrinsend: …

Ich kenne Euch nicht und heiße auch nicht so …

Das wäre schlimm! entgegnete Hubertus. Denn ich bring’ Euch in mein Kloster, wo ich gerade für den, dem Ihr so ähnlich seht, eine hübsche Summe Geldes liegen habe … Im Bettstroh, Brüderchen, heben wir uns manches auf …

Der Verbrecher drehte sich vor Unruhe hin und her …

Daß Ihr’s brauchen könnt, weiß ich von einem wunderschönen Fräulein … Weiß der Himmel, wie die an Euch gekommen … Ja, es gibt manchmal seltsamen Geschmack … Aber Amerika ist weit und einen guten Platz wollt Ihr doch auch haben, wenn Ihr zu Schiff geht, nicht einen, wo immer drei auf zehn sterben … Särge gibt’s auf dem Wasser nicht, das wißt Ihr … Wer draufgeht, ins Wasser! … Ganz so nackt, ganz so kahl, wie dazumal, wißt Ihr, der Todte war, dem ein Teufel seine letzte Ruhe störte …

Bickert erhob sich starr …

186 Rollt Ihr so die Augen? … Im Mondschein hab’ ich vielerlei gesehen, Löwen und Tiger … Auch Menschen, die sie zerrissen hatten … Aber keinen kalten Todten, dessen Seele schon im Himmel ist und der neben seinem Sarge liegt, in dem ein Mensch noch nach Geld sucht! … War denn kein heiliges Bild in der Nähe, das dazu zu sprechen anfing? … Hayum’s Taufe mag freilich nicht tief gegangen sein … Hanne Sterz aber war leidlich fromm … Wo steckt die wol jetzt? … Auch unter der Erde? …

Bickert sah bei diesen scharf betonten und fast nach den Silben ihm zugezählten Worten empor wie zu einem Richtschwert …

Inzwischen brachte Seligmann ein Glas Wein, das er dem Kranken anbieten wollte … Die Kunde von dem beim Brand Verunglückten, durch Hubertus so aufopfernd Geretteten hatte sich im Wirthshause verbreitet … Der Wagen wurde von Neugierigen umstanden … Bickert verbarg sich in seiner Decke …

Die Fahrt ging weiter, ohne daß Hubertus sich vollkommener mit Bickert verständigen konnte … Bickert sah ihn wie den Boten seiner Richter an …

Tapfer und frisch ermuthigt schwang Seligmann die Peitsche …

Hubertus gerieth ins Erzählen und brachte Dinge zur Sprache, die nach allem, was von ihm erlebt worden war, wunderbar genug sein konnten … Allmählich schien Bickert darüber zur Ueberzeugung zu kommen, daß wol am gerathensten sein würde, den guten Absichten des 187 Alten, auf den sich sein verdüstertes Gedächtniß besann, zu vertrauen …

Schon war es Dämmerung, als die langsam gehende Fahrt bei Borkenhagen am dortigen Pfarrhause ankam …

Auf Löb Seligmann’s Frage nach Leo Perl erwiderte Hubertus in der That:

Ja, den kannt’ ich! Es war ein getaufter Jude! Juden – nehmen Sie’s nicht übel, Herr – Juden sind die curioseste Nation … In Java hab’ ich sie gerad gefunden, wie hier … Brave Seelen darunter, wie Sie, Herr, wahre Samaritaner … Aber – auch schlimme – blutdürstige sogar – – Wo sie unter sich und nach ihren eigenen Gesetzen leben, begreift man, wie sie sonst steinigen konnten, hinter Propheten herliefen, die um Wunder fragten und wenn sie auch noch soviel thaten, sie ans Kreuz nageln ließen … Das ist die alte heiße Sonne Asiens …

Auch Löb fühlte in den Finales und bei den Chören der heroischen Opern immer etwas vom Blut der Makkabäer und gegen Bernhard Fuld hatte er an jenem Drusenheimer Sonntage wirklich im Geist nach dem Schwert gegriffen … Doch lehnte er alle diese Ansichten über das Temperament seines Volks ab und sagte lachend:

Der Jude ist heiß, das ist wahr! Aber wie Gott der Herr ist er – ein Busch voll Feuer! Hat Einer Courage und greift zu, keiner verbrennt sich!

Bei Erwähnung des Namens Leo Perl und des Umstandes, daß Seligmann mit diesem Priester verwandt wäre, horchte Bickert auf … Auch ihm war dieser 188 Name erinnerlich – als Unterschrift unter dem lateinischen Papier, das er im Sarge des alten Mevissen statt Geld gefunden und an Lucinden gegeben hatte zur Uebergabe an Bonaventura …

Ich sagte, fuhr Hubertus fort, daß ich den Pfarrer Perl kannte … Aber eigentlich zum Kennen war der Mann nicht … Er verrichtete sein Amt, war ein großer Redner, celebrirte wie ein Heiliger, stattlich stand er am Tabernakel … Aber in seine Nähe ließ er Niemanden und die Leute fürchteten sich vor ihm …

Warum ist er Christ geworden? …

Aus Erleuchtung – denk’ ich …

Da oben hinterm Berg der Kronsyndikus und der Dechant von Asselyn in Kocher am Fall waren die Ursache seiner Erleuchtung …

Auf den Namen „Asselyn“ zuckten die Augenbrauen des Verbrechers und auch Hubertus kam von Seligmann’s Fragen durch die Erwähnung des Kronsyndikus ab …

Seligmann unterbrach jedoch sein Grübeln:

Sie haben Leo Perl nicht näher gekannt?

Nur einmal in meinem Leben hab’ ich ihn gesprochen …

Was hat er gesprochen? …

Gesprochen hat er, um es recht zu sagen, vorher schon ein Jahr lang mit mir, aber durch Blicke …

Durch Blicke … Wie so Blicke? …

Immer, wenn er mir im Feld begegnete, sah er mich mit seinen großen schwarzen Augen an …

Warum sah er Sie an? …

189 Ich war damals Jäger gewesen und eben erst ins Kloster gegangen … Oft war mir, wenn ich ihn grüßte, als wollt’ er mit mir reden … Dann blieb ich stehen … Aber er ging vorüber … Das dauerte, bis seine schwere Krankheit kam …

Welche? …

Die Zehrung …

Der starke Mann die Zehrung! …

Wenn er hustete, krachte es wie ein Gewölbe …

Gott im Himmel! …

Ich ließ ihm ein Mittel anbieten … Ich dokt’re schon lange ein wenig …

Es half nichts …

Er nahm’s gar nicht …

Nahm’s nicht … Aus Stolz auf die Gelehrsamkeit … auf seine Wissenschaften …

Oder er wollte keine Furcht vorm Tode zeigen … Das sagte er mir einst, als ich das einzige mal mit ihm gesprochen hatte …

Warum sprach er mit Ihnen? …

Er wollte mir für mein Mittel danken …

Wollte Ihnen danken! …

Bruder, sagte er, ich werde sterben … In drei Tagen bin ich todt …

Wußt’ er das? …

Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?

Sprach der Pfarrer zu Ihnen … Und Sie thaten ihn? …

Finster zuckten seine Augen … Er mußte wieder heftig husten … Als sich die Brust beruhigt hatte 190 und er wieder sprechen konnte, schickte er seinen Vicar hinaus …

Seinen Vicar …

Namens Langelütje –

Langelütje …

Nun sah er sich um und sprach mit seiner heisern Stimme: Bruder Hubertus, ich habe von Euch manches Gute gehört! Aber auch Euch ist’s schlecht im Leben ergangen! Auch Euch haben Liebe und Freundschaft betrogen …

Was? Wen hat Liebe und Freundschaft betrogen?

Aber nicht alle sind so versöhnlich wie Ihr! …

Wer sind die Andern? … Wen hat die Liebe betrogen? …

Andere bleiben, was sie sind, andere treibt die Rache –

Wen hat die Rache getrieben? …

Bei diesem Worte erstickte des Pfarrers Stimme und der Husten begann so heftig, daß es wol eine Viertelstunde bedurfte, bis er sich erholt hatte … Nun erhob er sich von seinem Lager und flüsterte mir zu: Da! Wenn ich todt bin, Bruder, seht – da hab’ ich eine Schrift …

Bickert’s furchtentstelltes Antlitz bekam einen Ausdruck schärferer Fassungskraft … Doch Hubertus merkte nichts davon … Nur sorgen mußt’ er, daß Löb nicht vor Ansammlung von Mittheilungsstoff für die Rumpelgasse sein Pferd aus dem Auge verlor … Er fuhr fort:

Wenn ich todt bin, sagte der Pfarrer, da hab’ ich eine Schrift … Schwört mir zu Gott dem Allmäch-191tigen, daß Ihr diese Schrift nie erbrechen wollt! … Seht, sie ist mit meinem Kirchensiegel gesiegelt …

Bickert fühlte handgreiflich in der Erinnerung dies Siegel des lateinischen Briefes …

Tragt diesen Brief, sowie ich begraben bin, hört Ihr, nicht gestorben, sondern erst, wie ich begraben bin, so, wie sich einem Pfarrer geziemt begraben, versteht Ihr, nach Witoborn – hört Ihr, zum Bischof …

Warum zum Bischof? brach Seligmann erstaunend aus, denn er war auf Testamentsgedanken gekommen und deutete im Ton an, ob katholische Pfarrer ein Testament nicht einfach bei den Gerichten niederlegen dürften …

Zum Bischof! bestätigte Hubertus. Es war dies damals der Bischof Konrad … Ein Freund meines guten Guardians, des Provinzials Henricus … Ein sanfter, milder Greis, der den Pfarrer Perl getauft hatte, ihn im Seminar zu Witoborn unterrichtete, zum Priester weihte … Ein guter, hoch in die Jahre gekommener, vergeßlicher Mann … Er steht immer noch lebendig vor mir – mit einer Nase … so lang …

Hätten Sie die Nase gehabt und gemerkt, was in dem Briefe stand! …

Das erfuhr ich nie … Der Brief war an die Curie gerichtet und abzugeben an den Bischof … Dem gab ich ihn … Der Bischof erbrach, sah eine lange Zuschrift in Latein, legte sie zum spätern Lesen zurück und plauderte mit mir … Nun – und das ist alles, was ich mit Leo Perl im Leben zu thun gehabt habe …

Mit einer nur scheinbaren Geringschätzung sagte Seligmann: Was kann er geschrieben haben? … Er 192 wollte damit nur verschleiern, daß man ja hier eine außerordentlich wichtige Entdeckung anzunehmen hätte …

Hubertus zuckte die Achseln …

Warum war der Brief lateinisch? …

Er hatte ohne Zweifel die Bestimmung, nach Rom geschickt zu werden …

Warum nach Rom? …

Weil der Heilige Vater alle unsere Wünsche in dieser Sprache zu hören wünscht …

Warum schickte er seine Wünsche nicht selbst nach Rom? …

Der Weg für einen Pfarrer geht nach Rom nur über seinen Bischof …

Wissen Sie was? sagte Seligmann in immer mehr sich steigerndem Verlangen, hinter diesen letzten Willen seines leiblichen Vetters zu kommen … Ich glaube, der Bischof hat den Brief gar nicht nach Rom geschickt … Ich meine deshalb, weil er so vergeßlich war …

Nicht unmöglich …

Und wenn er ihn doch schickte, dann hat er vorher eine Abschrift genommen …

Was für Rom bestimmt ist, muß für Rom bestimmt bleiben …

Nein, ich sage, der Brief liegt noch drüben im witoborner Archiv und enthält die Anzeige, daß sein Vetter Löb Seligmann oder ein Kind von Henriette Lippschütz, Namens David Lippschütz, alle seine geheimen Ersparnisse erbt, die Bücher ausgenommen, die ein gewisses Fräulein Veilchen Igelsheimer kriegt, deren Liebe und Freundschaft ihn nicht betrogen haben, und die alten Kleider, die 193 sind fürs Geschäft seines Vetters Nathan Seligmann bestimmt …

Fragen Sie die jetzige Frau von Wittekind da oben! … sagte Hubertus, von der nicht ganz im Scherz gemeinten Rede erheitert … Ihr erster Mann war der Regierungsrath von Asselyn, der Vater des Domherrn von Asselyn … Sie kann vielleicht –

Was kann die Frau, die ich ja heute noch sehen werde? … sagte Löb und wandte sich auf Hubertus’ Stocken um …

Hubertus zeigte aber eben nach dem Kloster Himmelpfort, das jetzt erreicht war und nur noch allein seine Gedanken in Anspruch nahm …

Wir sind am Ziel! sagte er, ließ halten und setzte nur noch, schon im schnellen Absteigen begriffen, hinzu:

Der Regierungsrath hat bald nach dem Tod des Bischofs alle Bibliotheken und Archive Witoborns zu ordnen gehabt … Wenn er die Schrift damals noch vorfand, so liegt sie vielleicht in der Bibliothek des Königs; sie war wie in Kupfer gestochen …

Diese Reden verhallten schon in den Zurüstungen des Aussteigens … Die ernsteste und schwierigste Aufgabe war eben jetzt für Hubertus zu lösen, die, Bickert unbemerkt ins Kloster zu schaffen …

Er lehnte ein Vorfahren am Kloster entschieden ab und weckte erst jetzt damit in Seligmann’s Zügen einen Anflug von Staunen und Mistrauen …

Es war dunkel geworden … Das Wetter war ganz in Regen umgeschlagen … Schwer senkten sich schon lange die Nebel über die nahen Höhen … Ein-194sam und still lag das Kloster … Hier und da blitzte in einer Zelle ein Licht auf … Um acht Uhr ging dort schon alles zur Ruhe … Zwischen sechs und sieben fand der Imbiß zur Nacht statt …

Vorzugsweise hatte Hubertus beim Erzählen immer die Kirche im Auge behalten … Am Zifferblatt der Kirchthurmuhr schien er die Minuten zu zählen, die noch übrig waren bis fünf … Um fünf wurde meistens die Kirche geschlossen … Zugänglich war sie überhaupt nur in einem Nebeneingang, der halb schon ins Kloster selbst führte …

An den beiden Pappeln, wo Stephan Lengenich so lange vergebens gewartet hatte, um den Pater Sebastus in seinem Wagen mitzunehmen, hielt nun auch Seligmann und sah, wie Hubertus, den Schlag öffnend, dem jetzt ruhig folgenden, immer stiller gewordenen Kranken den Arm bot, um ihm hinunterzuhelfen …

Schon läutete es drüben zur Vesper … Hubertus wußte, den Strang zur Vesperglocke zog Pater Ivo … Vor dem konnte er ruhig vorübergehen und sogar Bickert im Arme tragen, der Pater würde nicht aufgeblickt, sondern nur gesungen haben: Maria, Maienkönigin!

Hubertus wandte sich an den über das Geheimnißvolle im Benehmen des Mönches jetzt immer mehr betroffenen Seligmann mit den Worten:

Guter Mann! Ich danke Ihnen von Herzen! Aber thun Sie mir jetzt nur noch einen Gefallen! Warten Sie noch ein Viertelstündchen … Ich muß – erst die Bewilligung – des Guardians – einholen … Ein Viertelstündchen! Dann vielleicht – komm’ ich zurück … Wo 195 nicht, nun dann ist alles gut, dann dank’ ich Ihnen herzlich und wollen Sie mir nur noch Eines zu Liebe thun, so sprechen Sie von unsrer Reise mit Niemanden, der nicht darnach frägt oder, besser noch, zu fragen ein Recht hat! Vor Allem von der Unterkunft des Mannes hier im Kloster schon zu Niemand – Sie wissen, es ist wegen der Doctoren! Wir sollen ja im Kloster nur – die Seelen heilen! …

Seligmann, der nicht gern auf ungesetzlichen Wegen wandelte, versprach etwas befangen, warten und schweigen zu wollen …

Hubertus führte den Kranken langsam dem Kloster zu und verschwand mit ihm allmählich hinter Hecken und im Abenddunkel …

Jetzt erst bekam doch der ganze Vorfall mit seinem Samaritanerherzen etwas auffallend Abenteuerliches für Löb … Perl’s lateinischer Brief an den Bischof von Witoborn … Die geheimnißvolle Uebergabe erst nach dem richtigen Begräbniß eines katholischen Pfarrers … Die scharfe Betonung der Rache … Nun dieser Abschied … Er begnügte sich noch, in allem heute zu Erfahrung Gebrachten blos eine reiche Befruchtung der Phantasie, des Verstandes und des Herzens seiner kleinen Weisheit in der Rumpelgasse zu besitzen … Aber das Dunkel der Nacht nahm jetzt zu … Hier die Einsamkeit wurde gespenstisch … Das Davonschleichen des Mönches mit dem Kranken, der, wie er erst jetzt bemerkt hatte, sogar seine Pferdedecke als Angedenken mitgenommen hatte – alles das bekam etwas Beklemmendes …

Bei alledem verging die Viertelstunde …

196 Es verging auch eine halbe … Hubertus kam nicht zurück …

Die bestimmte Weisung des Mönches, daß er weiter fahren konnte, wenn er nicht zurückkehrte, hatte Seligmann allerdings empfangen … Indessen, gab er auch die Pferdedecke preis – er taxirte sie auf die Zinsen, die ihm die kleine Auslage vor Gott wieder einbringen würde – sein gefälliger Sinn bestimmte ihn noch zu bleiben oder wenigstens seinen Gaul nur langsam, und auch nur dem Kloster zu, sich in Bewegung setzen zu lassen …

Er sah sich dabei nach rechts und links um und spähte, ob nicht doch noch der Mönch zurückkam …

Alles blieb aber still und einsam … In der Ferne sah er Häuser im Nebel schwimmen, aber in nächster Nähe befanden sich nur Felder, abgegrenzte Gärten, kleine Baumgruppen, keine Menschen …

So erreichte er eine stattliche Allee, die zum Kloster führte, und hielt auch hier noch eine Weile …

Da er durchaus Niemanden zurückkommen sah, fuhr er die Allee entlang dem Kloster zu und bekam immer mehr Mistrauen über all die sonderbaren Umstände, unter denen Hubertus seinen Pflegling mitgenommen … Warum das alles so heimlich? sagte er sich … Von jener Vorsicht, die man im Kloster wegen der Aerzte zu nehmen hätte, war er anfangs entschiedener überzeugt gewesen, als jetzt …

Inzwischen stand er dicht an der stattlichen Treppe, die zum geschlossenen Portal der Kirche führte …

Als es noch immer still blieb, wollte er endlich weiter fahren …

197 Aber sein wißbegieriger Sinn bestimmte ihn, noch einmal einen Versuch zu machen, ob er nicht etwas von den beiden Verschwundenen in der Kirche selbst entdecken sollte … Die Pferdedecke war an sich verschmerzt, er hätte aber doch gern gewußt, wo sie geblieben …

Dicht an dem Ende der stattlichen Aufgangstreppe zur Kirche begann die Einfriedigungsmauer des Klosters … Einige Schritte entfernt lag eine Thür, von der er durch den Besuch bei Pater Sebastus wußte, daß sie in einen kleinen Vorhof, dann zur Linken ins Kloster, zur Rechten durch einen Gang in die Kirche führte …

An diese Thür ging er und drückte, mit einiger Beklemmung über seinen Antheil an den Ursachen, die den Pater Sebastus in Haft gebracht hatten, auf die Klinke …

Die Thür ging auf …

Alles war still … Vorsichtig trat er einige Schritte weiter bis an den Gang zur Kirche …

Da hörte er plötzlich einen lauten, entsetzlichen Schrei … Gellend, markdurchdringend ertönte es …

Der Schrei kam von der Kirche her und war wie die Stimme eines Erstickenden …

Unmittelbar darauf hörte man noch ein furchtbares Krachen, das weit in der Kirche widerhallte …

So bang ihm jetzt zu Muthe wurde und so fern ihm jede Melodie der Ermuthigung ins Ohr klang – etwa ein „Frischgewagt!“ aus „Maurer und Schlosser“ – er war mit zwei Schritten, die auf dem Steinboden ängstlich knirschend widerhallten, dennoch vollends der Thür der Kirche – noch näher getreten …

Da hörte der Tollkühne eine leise Stimme singen, 198 hörte einen Schlüsselbund drehen, sah Jemand aus der Kirche kommen und huschte erst jetzt zurück auf den kleinen Vorplatz, von dem man in die Halle trat, wo sich die Gänge links und rechts theilten … Bei alledem dachte er: Ei was! Du kannst ja ein Verlangen tragen, dir die Kirche anzusehen … So blieb er stehen … Und was kann denn auch so Entsetzliches geschehen sein, da ja ein so ruhiger Zeuge zugegen war! …

Die Kirchthür wurde zugeschlossen … Ein Mönch ging vorüber und sang für sich ganz ruhig und friedlich … Wie er Löb Seligmann erblickte, rief er allerdings plötzlich: Husch! …

Dies Husch! war eigen …

Husch! husch! wiederholte der Mönch und wehte doch nur durch die Luft, wenn auch schon ganz dicht unter Seligmann’s Nase …

Wie ein Donnerwetter sprang Löb denn nun doch von dannen, ließ die Mauerthür offen, rannte an seinen Wagen, sprang auf diesen hinauf, ergriff die Peitsche und lenkte den Gaul lieber von der Treppe ein wenig abwärts …

Niemand kam ihm nach …

Löb mußte annehmen, daß seine Aufgabe erfüllt war, und fuhr von dannen …

Noch einmal fuhr er die ganze Länge der Kirche vorüber und seltsam! nun war es ihm, als sähe er an einem vergitterten Fenster der untersten Gewölbe einen Lichtstrahl …

Er hielt sich indessen nicht mehr auf …

Der entsetzliche Schrei, das furchtbare Krachen, das 199 so gespenstisch in den Gewölben hin und her irrende Licht brachten ihn um allen Anhalt polizeigemäßer Beruhigungen …

Noch drei Stunden brauchte er, bis er Schloß Neuhof erreicht hatte … Noch einmal mußte er tränken und füttern, bis er die schönen Tannen des freiherrlich Wittekind’schen Parks sah …

Dann ließ ihm allerdings die Präsidentin im Seitenflügel ein freundliches, wohlgeheiztes Mansardenzimmer anweisen, ließ ihm ein Essen vorsetzen und ihn auf morgen bescheiden …

Vom Brand auf Westerhof war, wie er an der Bedienung sah, auch hier alles erfüllt …

Nicht minder von Hubertus und von dem geretteten Diener …

Löb konnte von alledem als Kenner berichten …

Indessen – er hatte den Muth verloren, sich als einen Eingeweihten der Kirche zu bekennen … Schon einmal war ihm die Begegnung mit einem Mönche übel bekommen … Dies stille Husch! Husch! Jener Schrei, das Krachen, das Licht im untern Gewölbe – Es kam ihm eine Vorstellung, als setzte ihn das Schicksal vielleicht einmal selbst in Musik und verwandelte ihm sein jetzt sich so heiter anlassendes Leben in eine Oper mit tragischem Ausgang …

Er riegelte die Thür zu und entschlief mit gespannter Erwartung auf die kommenden Enthüllungen … Er faßte den Vorsatz, durch taktvoll diplomatisches Beherrschen seines Mittheilungsdranges, der Sphäre, in der er hier leben durfte, nach allen Richtungen hin Ehre zu machen.

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Das mußte man aber sagen – mochte auch der Kronsyndikus die letzten Jahre seines Lebens in Geistesschwäche zugebracht haben, überall sah man die von früher her stammenden Spuren seiner rastlosen Natur. Die Güter der Dorste-Camphausens waren dagegen im Verfall.

Rings um Neuhof erhoben sich stattliche Anlagen, die selbst noch aus der winterlichen Decke in ihrer Bedeutung für die Zeit des Wachsens und Blühens vielversprechend hervortraten … Auf den Feldern, obschon sie hoch gelegen waren, bemerkte man selbst noch in den schneebedeckten Furchen die sorgfältige Cultur … Kalköfen, Ziegeleien fanden sich auch hier, doch alles in stattlicherer Erscheinung, als bei den Dorstes. Der Holzschlag in den Waldungen war nach der Regel, mit Schonung und Voraussicht auch für künftige Zeit … Die Buschmühle, wo einst der Deichgraf gehaust, war ein Meyerhof von ganz besonderer Pflege. Daß dem Deichgrafen dafür gleichfalls ein Ruhm gebührte, wurde nicht mehr viel erwähnt. Raschlebend ist unser Geschlecht oder – entschuldigt sich die Gegenwart durch die Sorgen, die auch ihr genug 201 aufgebürdet sind? Traurige Kränze, die auf Friedhöfen Niemand mehr erneuert! Trauriger Herbst, der zwischen verrosteten Gittern Jahre lang hängen bleibt, bis der Wind zu Hülfe kommt und auch mit diesem einst so blühenden Frühling die Erde düngt!

Der Park schien unverfallen … Die Ulmen, unter deren Schatten Lucinde so oft dahingehuscht, standen hoch und auch ohne Blätter stolz und vornehm … Die Tannenbäume gaben dem Ganzen einen Schein des Sommerlebens … Die Pavillons verriethen Bewohner, wie sonst. Nur der Teich war noch nicht aufgethaut; das große Geflügelhaus sah wie ein riesiger Strohmann aus; seine Bewohner mußten gegen die Kälte geschützt werden … Wie stattlich war das Schloß! Wie gewandt waltete schon der Erbherr! Wie sah man auf dem Hof von den Fenstern in der Frühe schon alles in Bewegung! …

Frau von Wittekind schritt trotz der Kälte und der feuchten Luft über den Hof und konnte, resolut wie sie war, Löb von der Verlegenheit befreien, eben die nähere Bekanntschaft mit zwei wilden Neufundländern zu machen …

Gut geschlafen, Herr Seligmann? lächelte sie … Sie bleiben doch den Tag über hier? … Wir haben viel zu plaudern … Aber erst nach Tisch! … Machen Sie sich’s bequem! … Sie sind unser Gast! …

„Sie sind unser Gast!“ – Seit dem: „Speisen Sie bei mir in Drusenheim!“ das ihm im Herbst Bernhard Fuld so vielverheißend und so wenig erfüllend zugerufen, nahm Löb diese Phrase nicht mehr allzu wörtlich … Schon wußte er auch, Frau von Wittekind 202 war genau … Sie liebte das Geld und verhandelte mit ihm mehr darüber, als ihr Gatte … Löb sollte sein Urtheil über noch weitere Verbesserungen der großen Besitzungen geben und Vorschläge zu Verkäufen machen; an baarem Gelde war Mangel … Auch in des Kronsyndikus echtem Testamente standen nicht kleine Legate zu bezahlen …

Frau von Wittekind hob sich durch ihr schwarzes Atlaskleid, in das sie sich schon in aller Frühe geworfen hatte, stattlich von den weißen Wänden des Schlosses ab … Sie schlüpfte behend über den mit Kieselsand bestreuten Hof. Ein eigenthümlicher Kopfputz von schwarzem Draht und Schmelzperlen zierte das noch schöne dunkle Haar der schlanken Frau, die gegen die gedrücktere und durch die Jahre verkümmerte Gestalt ihres Gatten sich wie eine noch jugendliche hervorhob … Löb sollte sich erst, da Besuch erwartet wurde, auf den Nachmittag zu umständlicheren Conferenzen bereit halten …

In den Zimmern, wo einst Lucinde und Klingsohr jene verhängnißvolle Abendstunde zubringen durften, wurde schon eine Tafel hergerichtet … Noch waltete dabei die Lisabeth, die den Makler scheu von der Seite anblickte … Löb wußte, daß sie ihm seine Bekanntschaft mit dem Küfer nachtrug. Sie war fast eine Dame geworden … Nur durch die Angst, die letzte Stunde ihrer hiesigen Wirksamkeit dürfte bald geschlagen haben, mochte sie heute etwas freundlicher gestimmt sein, als schon lange in ihrer Art lag …

Löb suchte Frieden und Freundschaft mit aller Welt 203 und plauderte sich gern aus dem Herzen heraus in die Herzen hinein … Das Schöne und Vornehme übte einen besondern Reiz auf sein ästhetisches Gemüth … Silberne Geräthschaften, die man in die obern Zimmer trug, reizten seine Neugier nach dem Glanz, nach den Farben, dem Marmor, die oben verschwendet sein sollten … Nur umschnoberten ihn noch die fatalen Hunde und hielten die schreckhaften Erinnerungen von gestern wach, auch die dunkeln Sagen von der Vergangenheit dieses Schlosses Neuhof …

Erschreckt umherirrend und doch träumerisch alles bewundernd und taxirend kam Löb auf die große Treppe. Stufe für Stufe zählend, schlich er hinauf …

Eine hohe Flügelthür stand mit beiden Schlägen offen …

In diese trat er behutsam ein, seine Neugier durch Bewunderung maskirend … Ein zuletzt vollkommen natürliches Staunen ergriff ihn über all diese Pracht … Er hatte viele Herrenhöfe besucht; aber diese Schönheit an Stuccaturen und Malereien, an bronzirten Marmortischen, in denen man sich hätte spiegeln und rasiren können, war ihm noch nicht vorgekommen … Reizend war eine links gehende Galerie, an den bemalten Wänden mit seidenen Divans und Glaskronen und Bronzeleuchtern geschmückt … Die Malereien stellten Scenen, wie er sich ganz richtig sagte, aus dem Olymp vor … Wie drang da der Klang des Liedes: „Vom hoh’n Olymp herab ward uns die Freude!“ das manchmal die Studenten im Roland am Hüneneck sangen, in seine Seele! … Das war nun diese „Freude“ aus – „Olim’s Zeiten“. Leider machte er diesen 204 Schnitzer zum Staunen und zum Lachen seines Neffen David Lippschütz, als er später diese Vorfallenheit in einem Briefe nach Kocher meldete – Er verwechselte „Olim’s Zeit“ mit der Zeit des Olymp … Allerdings war auch hier eine Olim’s Zeit! Für so verfängliche olympische Gegenstände, wie an diesen Wänden von Künstlerhand wiedergegeben waren, würde die Gegenwart nicht einmal die raschbereiten Künstlerhände aufgefunden haben … Sie glichen den Fresken über Alexander und Roxane, die sich zu Rom von Rafael’s Hand im Hinterzimmer der Galerie des Fürsten Borghese befinden.

In jetzt unverfänglicher, rein kunstkennerischer Stimmung verlor sich Löb immer weiter im Corridor und kam in einen großen Saal, der seinerseits etwas Schauerliches hatte – durch seine riesigen Dimensionen und seine Unwohnlichkeit und Kälte … Der Saal war rings mit Spiegeln belegt … In ganzer Figur, von seinen etwas zu kurzen schwarzen Beinkleidern an mit den hervorstehenden Knieen bis zum Scheitel seines heute ohne zu laute Musikbegleitung frisirten Haares, sich in Lebensgröße betrachten zu können – reizte Löb … Er mußte im ganzen Saal auf den Fußzehen die Runde machen …

Alles war still … Er griff an den Girandolen die Glastropfen an und ließ sie hin und her baumeln … Er erfreute sich an dem hellen Ton, den sie von sich gaben … Dann taxirte er das Krystall, die Bronze, den Sammet, und war besonnen genug, die Kunst der Decoration höher anzuschlagen, als den massiven Werth … Viele der Bronzirungen zeigten stark den „Zahn der Zeit“, jenen Begriff, den Veilchen in ihrem 205 Humor vorgeschlagen hatte zum Namen des Nathan Seligmann’schen antiquarischen Geschäfts zu wählen … In das Geschäft: „Zum Zahn der Zeit“ gehörte bei näherer Besichtigung fast jeder dieser Plüsch- und Seidenstühle … Und so bekam Löb auch Handelsideen zum besten seines Bruders …

Darüber verging eine geraume Zeit …

Als er sich dann endlich auf den Weg machte, um umzukehren, erschrak er bei einem flüchtigen Blick in den Hof… Er sah aus einem eleganten Wagen einen Mönch aussteigen …

Bruder Hubertus das? sagte er sich und die Erinnerung an die gestrigen Erlebnisse ergriff ihn mit schreckhafter Macht …

Hubertus war es aber nicht … Löb besann sich, es war Pater Maurus, der Provinzial und Guardian selbst … Kam er etwa, um sich nach ihm zu erkundigen …

Die Diener verbeugten sich tief … Löb beruhigte sich … Der Klosterabt schien mit freiherrlich Wittekind’schem Wagen aus seiner Zelle abgeholt worden zu sein …

Vor Neugier und Gewissensbissen gerieth Löb bei dem Gedanken an seinen Rückzug in einen falschen Corridor … Es liefen deren zwei in den großen Ballsaal ab … Einer sah dem andern so ähnlich, daß Löb nicht wußte, war er durch den linken oder durch den rechten gekommen …

Als er seinen Irrthum erkannte, mochte er nicht den weiten Weg umkehren, sondern hoffte, eine der mehreren kleinen Thüren, die er hier sahe, verbände vielleicht beide Corridore … Er drückte eine derselben auf …

206 Siehe da! Das war ja ein ganz seltsames Gemach …

Er trat einen Schritt vor, orientirte sich im Dunkeln … da – o Himmel! – fällt die Thür hinter ihm in ein Schloß, zu dem er keinen Drücker findet …

Im Dunkeln durchtastet der plötzlich zu allen Schrecken nun auch noch selbst Gefangene die ganze Länge der Ritzen an der Thür dahin, reißt sich an der Spitze eines hervorstehenden Nagels die Veranlassung zum schmerzhaftesten Au! ein und steht mit einem blutenden Finger … Was jetzt thun? … Klopfen? … Lärm machen? … Seine Neugier selbst an die Oeffentlichkeit bringen? …

Großen Männern gehen ihre Schatten voraus, sagt Jean Paul, und lebhafte Phantasieen erfassen sofort die äußerste Möglichkeit … Löb Seligmann sah sich vor Discretion, vor Scham und vor jetzt vielleicht erst kaum halb bestrafter Neugier stumm ringsum … Er sah sich hier eines langsamen Hungertodes sterben – ganz wie Florestan in „Fidelio“ …

Das Zimmer war ohne Fenster … Es konnte nur benutzt werden durch Erleuchtung … Höchst prachtvoll, wenn auch gleichfalls schon für das Geschäft „Zum Zahn der Zeit“ brauchbar, war auch hier die Decoration … Hier mußten sicher einst die üppigen Schönen auf schwellenden Divans geruht haben, wenn sie auf Bällen vor der Hitze des Tanzsaals flohen … Das sind Cabinete, dachte er, wie die, in welche Don Juan die Tausend und Eins entführte … Und um ihn her geigte und trompetete alles … aber im Geist rief er mit dem Schrei der Zerline: „Hülfe! Rettung!“

207 Mit der linken Hand, die er der Vorsicht wegen lieber jetzt mit einem glücklicherweise in der Tasche vorgefundenen Pelzhandschuh bewaffnete, rutschte er an den Wänden entlang, immer noch in der Hoffnung, einen Drücker zu einer nicht sofort ersichtlichen andern Thür zu finden, und schon gewöhnte sich sein Auge an die Finsterniß …

Und wirklich – die Hand fuhr jetzt auf eine Klinke – und ein neues Zimmer ging auf …

Aber – auch dies Zimmer war ohne Ausgang … Es war von gleicher Beschaffenheit, wie das vorige … Auch hier war alles auf Beleuchtung berechnet … Gott meiner Väter! seufzte Löb … Er hatte manchen vornehmen Ball, selbst Bälle bei seinen Vettern Fuld, in der Ferne beobachtet; er konnte sich denken, wie prachtvoll das sein mußte, wenn hier alles von Lichtern widerstrahlte, Eis herumgegeben wurde, lachend und reizvoll dahingegossen die Schönen auf den Divans lagen, die Herren um sie her voll Bewunderung und Galanterie … Da und dort sah er Spieltische … Gold und Silber glänzte ihm unter den Karten entgegen – Aber links und rechts waren sämmtliche Drücker abgeschraubt … Nur in der Mitte gingen die Thüren auf … So zu einem dritten Zimmer, das er gleichfalls noch öffnete … Die Luft war dumpf und stickig … Hier war seit Jahren nicht gelüftet worden … Löb wurde immer lebendigbegrabener …

Schon schickte er sich an, seinen Weg durch die drei Verließe zurückzunehmen und sein Heil, mit dem Risico des Verlustes seiner Kundschaft auf diesem Schlosse, in einem durchdringenden Hülferuf zu suchen, als er hinter 208 der Wand, da, wo es noch in ein viertes Zimmer gehen konnte, sprechen hörte …

Jehovah sei Dank! war sein erstes Gefühl … Er wußte, daß schon ein lautes Klopfen nun nicht mehr ohne Beistand bleiben konnte …

Sollte er jetzt gleich an die hier ohne Zweifel wiederum befindliche Tapetenthür pochen oder sich vorläufig in Ruhe verhalten? …

Das Gespräch nebenan schwieg plötzlich …

Leise wagte er auf den in den inneren Verbindungsthüren vorhandenen, aber überall festgeschraubten Drücker den wunden Finger zu legen …

Hier nun war die Thür verschlossen und sicher vermuthete man nebenan nur eine Wand und lehnte sich sorglos an sie an und war keines Lauschers gewärtig …

Wieder begannen die Stimmen …

Jetzt vernahm auch Löb Worte, hörte Namen, die ihm bekannt waren … ja die Namen „Borkenhagen“ – „Himmelpfort“ – „Westerhof“ fielen … Nun schienen sie Anlaß zu Mittheilungen zu werden, die ihn interessirten und die vielleicht mit seinen gestrigen Erlebnissen zusammenhingen …

Deutlich unterschied er die Stimme Terschka’s … Deutlich die des Präsidenten … Zwei andere wußte er noch nicht recht hinzubringen … Eine davon war ihm nicht gänzlich unbekannt …

Kämpfend mit sich, was zu thun sei, ob er rufen oder schweigen sollte, ging er noch einmal leise durch alle Zimmer zurück, suchte überall, wo ein Ausweg sein konnte, seine Befreiung, fand diese aber nicht und beredete sich, 209 entschlossen zu sein, zu rufen, zu klopfen, durch die geheime Tapetenthür mit seiner „fragwürdigen“ Anwesenheit hervorzutreten in die feine Gesellschaft und ganz gehorsamst um Entschuldigung zu bitten … In Wahrheit aber setzte er sich hin, um – zuzuhören …

Jetzt erkannte er auch die dritte Stimme … Den ehemaligen Vicar von Sanct-Zeno, den Neffen des Dechanten, den Domherrn von Asselyn … Der Vierte war ohne Zweifel der Provinzial … Sollte er da seinen hülfeflehenden Septimenaccord einsetzen und ein so schönes Quartett stören? …

Und es kam denn so, daß er auf einem Polstersessel dicht an der Thür verblieb … Es kam denn so, daß er zum Horcher wurde mit und wider Willen … Es kam denn so, daß er Dinge hörte, die ihm vor Frost die Erinnerung an den noch nicht überstandenen Februar weckten … Es kam denn so, daß er eine der schweren Seidendamastdecken von den Tischen zog und, trotz der in ihnen befindlichen Motten, sie um sich schlang und sich einhüllte und daß er sogar noch eine zweite holte und sich wie ein Hoherpriester zu Jerusalem vorkam mit den Urim und den Thumim … Denn die schweren Goldtroddeln hingen ihm quer über die Brust hinweg …

Der Präsident von Wittekind sprach mit einer, wie es schien, höchst erregten und von seiner gewöhnlichen kalten Art ganz abweichenden Stimme fest und bestimmt die deutlich hörbaren Worte:

Ja, Herr von Terschka! Ich war vorbereitet auf 210 einen Bevollmächtigten, den man in dieser betrübenden Angelegenheit mir von Rom aus schicken würde! … Hm! Hm! … Daß es aber Sie sein würden, gesteh’ ich, hätte ich nicht erwartet …

Seligmann brauchte nur von „Rom“ zu hören, um mit gespannterer Aufmerksamkeit zu folgen …

Herr Präsident, antwortete Terschka mit seiner Löb bekannten leutseligen Harmlosigkeit, die nur zuweilen, wie Löb gleichfalls hätte bestätigen können, unter vier Augen nachdrücklich abgelegt werden konnte; Herr Präsident, bei meiner nahen Verbindung mit dem Grafen Hugo ist der Auftrag, den ich vorgestern durch den Herrn Provinzial entgegengenommen habe, nicht so auffallend … Ich kenne ja auch selbst sehr genau das außerordentlich liebenswürdige Mädchen, das halt so zu sagen eine Adoptivtochter des Grafen Hugo ist …

Seligmann rüstete sich auf Vervollständigung seiner genealogischen Kenntnisse, die in diesen hohen Kreisen immer empfehlend sind …

Ich muß Sie, lieber Sohn, sprach der Präsident und redete damit ohne Zweifel den Domherrn von Asselyn an, ich muß Sie mit dem Gegenstand unserer Verhandlung bekannt machen, welcher Sie jetzt nicht nur in Ihrer Eigenschaft als mein Sohn und Freund, sondern auch als geistlicher Rather und zuverlässiger Zeuge beiwohnen … Man hat von Rom aus in einem an den Herrn Provinzial gerichteten Schreiben ausdrücklich …

Diese Worte brachen für Löb nicht ganz verständlich ab …

Eine Pause deutete die stumm bejahende Geberde 211 des Pater Maurus an, der demnach zu den drei Löb jetzt bekannten Personen wirklich die vierte war …

Mein Vater, fuhr der Präsident mit Erregung fort, hat leider aus dem himmlischen Gnadenschatz alle die Spenden nöthig, die er uns Sündern bietet … Ich spreche dies mit Schmerz, aber offen aus … Zu einer ganz besondern Kränkung für mich müssen die lebenden Zeugen seiner Verirrungen dienen … Doch werden diese befriedigt werden und sie sind es zum Theil schon – – Nur Ein Verhältniß bot und bietet noch immer Schwierigkeiten. In Rom befindet sich eine Frau, von der man behauptet, sie hätte Ansprüche, sich die zweite Gemahlin meines Vaters nennen zu dürfen. Sie soll auch in der That von einem frühern Pfarrer – dieser – Gegend – ich glaube – Leo Perl –

Seligmann erbebte bei Nennung dieses Namens. Jetzt verwarf er alle Ermahnungen seines Gewissens, die ihm unausgesetzt zuflüsterten, sich ein Zimmer weiter zu setzen und sich nicht in die Geheimnisse der vornehmen Welt zu drängen …

Nicht wahr? unterbrach sich der Präsident, als suchte er sich der Richtigkeit des Namens zu vergewissern …

Die Herzogin von Amarillas kennt vielleicht den Namen des Geistlichen nicht mehr, der sie traute … sagte Terschka …

Der sie traute – haha! Das ist es! Mit meinem Vater nämlich, lieber Sohn! Es handelt sich um eine Frau, die nichtsdestoweniger, daß sie sich Frau von Wittekind-Neuhof zu nennen berechtigt sein will, doch 1813 von Kassel aus nach Paris flüchtete und dort eine 212 neue Heirath vollzog mit einem spanischen Granden, leider einem Granden ohne Vermögen, dessen langer Titel sie lockte … Von der schweren Sünde der Bigamie, scheint es, will die römische Curie die Herzogin von Amarillas freisprechen und sich jetzt plötzlich für die erste Ehe entscheiden …

Herr Präsident, nein! sagte eine rauhe Stimme … Ohne Zweifel war es die des Mönches …

Bigamie! … Zwei Männer auf einmal! … Löb Seligmann schauderte vor einer Situation, die ihn zum Zeugen solcher Enthüllungen machte …

Der Präsident, sich in seiner Anklage gegen Rom mäßigend, fuhr fort:

Allerdings gestehe ich, Herr Provinzial, nicht völlig klar zu sehen in dem Interesse, für welches Herr von Terschka auftritt, und wieder in dem, für das Sie beauftragt sind. So viel weiß ich und will es nicht leugnen, daß diese Frau von Wittekind-Neuhof zwei Kinder von meinem Vater besitzen soll; als Herzogin von Amarillas war sie gewissenlos genug, sie beide zu opfern … Mein Vater, von dem muß ich es leider ebenso eingestehen, machte sich keine Sorgen um die Folgen seines – Temperaments – Er überließ diese Kinder, denen ich ihr Dasein und eine gewisse Berechtigung auf meine Anerkennung als natürliche Geschwister nicht im mindesten abstreiten will, dem Zufall, der sie dann auch wirklich seinen Augen entrückte … Jetzt soll eines dieser Kinder entdeckt sein. Von wem entdeckt? Entdeckt in einem Augenblick, wo die Herzogin von Amarillas in Wien aufzutreten gedenkt, in Wien, wo, wie überall, Gesetze 213 gegen Bigamie herrschen, falls – die Curie nicht hilft. Doch, wie gesagt, räthselhaft sind mir diese Entdecker einer Schwester – die ich haben soll. Es ist eine gewisse Angiolina – Pötzl, glaub’ ich, ein Mädchen, das, wie Herr von Terschka sagt, zufällig vom Grafen Hugo vor Jahren gefunden worden – es war ja wol mein’ ich bei einer – Kunstreitergesellschaft –?

Auf dies auffallend scharf betonte Wort trat eine Pause ein …

Terschka schien die Frage überhört zu haben …

Graf Hugo, fuhr in immer mehr sich steigernder Schärfe der Präsident fort, hat edel an dem Kinde gehandelt, das von jener sogenannten Frau von Wittekind, meiner Stiefmutter – auf der Landstraße verlassen wurde – bei jener damaligen Flucht der kasselschen Oper – Ich vergaß Ihnen nämlich zu sagen, lieber Sohn, Frau von Wittekind-Neuhof war ursprünglich eine italienische Sängerin …

Hörten für Löb Seligmann die Gewissensscrupel schon lange bei Nennung des Namens Leo Perl auf, so fühlte er nun vollends die behaglichste Wärme, sowol unter seinen bunten Decken und auf dem gepolsterten Sessel, wie vor Antheil an dem Vernommenen selbst … Ein Uebergang der Enthüllungen in die Sphäre der Oper … Eine italienische Sängerin … Er gedachte der Henriette Sontag, die eben damals eine Gräfin Rossi geworden war …

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, hat sein Pflegekind lieb gewonnen, so lieb, daß er nicht abgeneigt sein soll, aus ihm seine Gemahlin zu machen … 214 Vortrefflich ginge das, wenn Angiolina Pötzl eine rechtmäßige Freiin von Wittekind wäre … Herr von Terschka stellt mir das Ansinnen, diese Wendung der Dinge möglich zu machen … Ich weiß nicht, ob dies auch der Antrag des Grafen Hugo selbst ist, und offen gestanden, ich kann es kaum glauben … Würde er seine Schwiegermutter in Wien mit einem Proceß auf Bigamie empfangen wollen? …

Auf diese scharf betonte Hervorhebung aller Dunkelheiten der in Frage stehenden Situation trat eine Pause ein …

Aber mochte sich auch Seligmann diese Pause mit noch so viel stürmischen Passagen füllen, sein musikgeübtes Ohr hörte nimmer die Accorde, die in Bonaventura’s Innern auf und nieder wogten und riefen: So sprichst du, du – von der Bigamie! Du, mit dem sich vielleicht auch – meine eigene Mutter in gleicher Sünde befindet! …

Graf Hugo, fuhr der Präsident fort, wird ja nun jetzt so reich, daß er für sein Pflegekind unmöglich blos eine Ausstattung, unmöglich nur Geld begehren kann … Meine junge Stiefschwester soll schön und geistig gebildet sein … Herr von Terschka verglich sie schon lange mit jener abenteuernden Lucinde, von der Sie vielleicht schon hörten, lieber Sohn, vom Anlaß zum Tod meines armen Bruders Jérôme … Ich meine jene Dame, von der man ja sagt, daß sie plötzlich jetzt in Witoborn wieder aufgetaucht ist …

Wieder trat auf diese gelegentliche Anmerkung eine Pause ein … Seligmann fand schwerlich ein Tonbild 215 der Orkane, die bei diesen Worten tausend Instrumente durch das Herz eines der Hörer stürmten … Lucinde in Witoborn! … Bonaventura schien auf diese Mittheilung eine auffallende Bewegung gemacht zu haben …

Ja, sagte wenigstens Terschka wie zu einem, der daran zweifelte, das genannte Fräulein war vorgestern auf Münnichhof … Aber Sie erwähnen sie nicht zu ihrem Vortheil, Herr Präsident! … Es ist eine Reihe von Jahren her, daß Graf Hugo und ich allerdings Ihrem Vater und diesem Mädchen, seiner damaligen Begleiterin, am Strande der Ostsee begegneten … Wir kauften dort Pferde ein … Mein Freund, der Graf, besprach mancherlei, was zu seinen hiesigen Erbschaftshoffnungen gehörte und worüber der damalige Vormund und Onkel der Gräfin Paula, Ihr Herr Vater, Auskunft geben konnte … Die Rede kam auf jenes schöne Mädchen, das unter seinem Schutze reiste … Ich verglich sie allerdings mit Angiolina … Der Kronsyndikus gerieth über meine Analyse in die größte Verwirrung … Die Nacht soll er eine aufgeregte Scene gehabt und nichts, als von seiner zweiten Gemahlin gesprochen haben und das wie von einem Wesen, dessen Vorhandensein sein Gewissen drückt …

Nur irren Sie sich in einigen Punkten! fiel der Präsident mit seiner frühern Schärfe wieder ein. Sie verglichen jene Lucinde weniger mit Angiolina, als mit jener so bekannt gewordenen Olympia Maldachini in Rom … Und darüber kam der Schrecken meines Vaters; der Name Fulvia Maldachini war der frühere Name der Herzogin von Amarillas …

216 Seligmann sah jetzt große, wirkliche, echte, italienische Oper … Maldachini! … Welch ein Klang – schon – beim Hervorruf …

Der Stand der Dinge ist der! fuhr der Präsident fort, der immer mehr sogar in eine drohende Vortragsweise kam. Mein Vater hat vor einigen Jahren, als er noch bei Geisteskräften war, eine Generalbeichte beim ehrwürdigen Pater Maurus niedergelegt. Diese war so inhaltsreich, daß sie vom Herrn Provinzial nach Rom geschickt werden mußte. Dort scheint sie einflußreichen Personen bekannt geworden, Personen, die an dem Erweis einer Bigamie der Herzogin von Amarillas mehr Interesse zu haben scheinen, als die vielleicht sehr vernünftige Frau selbst, die wenigstens seit Jahren nicht die mindeste Erinnerung an Schloß Neuhof verrathen hat. War ihr Gedächtniß zu schwach für zwei Kinder, die sie in Deutschland zurückließ, wie sollte es jetzt aufleben für das Bekenntniß einer Schuld, die vielleicht die römische Curie, aber nicht die bürgerliche Gesetzgebung verzeiht! Der Herzog von Amarillas war arm. Ein echter Grand von Spanien, besaß er nur seinen Namen, der in seiner ganzen Vollständigkeit acht bis zehn Güter repräsentirte, die im Monde liegen. Mein Vater schickte damals Summen nach Rom. In frühester Zeit wurden sie erbeten, in späterer gefordert; dann plötzlich verhallte alles, was dort für ihn drohend vorhanden lebte … Wer aber nun jetzt es ist, der dort plötzlich wieder Sprache gewonnen hat, wer nun jetzt durch Sie redet, Herr von Terschka –

Angiolina ist so liebenswürdig, unterbrach Terschka 217 aufs eiligste, daß ihr die Auszeichnung, mit Ihnen verwandt zu sein, wol zu gönnen wäre …

Wer ist Ihr Auftraggeber? drängte der Präsident …

Ich – wich, ohne Zweifel lächelnd, Terschka aus – ich kann nur sagen, man wünscht, daß ich in aller Stille die Verhältnisse sondire, namentlich das Factum herstelle, ob die Herzogin von Amarillas wirklich Ihre rechtmäßige Stiefmutter ist, Herr Präsident! Die weitern Folgerungen daraus, gesteh’ ich, liegen mir ja noch gänzlich fern …

Löb erkannte ganz seinen diplomatischen Terschka …

Nun wohl, Herr Provinzial, wandte sich der Präsident an den Mönch, Sie sehen, es geschieht alles, um das Siegel zu brechen von jener Beichte, die Sie empfingen … Ihr Ordensgeneral hat Ihnen nicht erlaubt, den Inhalt dieser Beichte zu erzählen, aber prüfen sollen Sie denselben; so ungefähr, denk’ ich, schrieb man Ihnen … So leg’ ich denn in Ihrer Gegenwart, lieber Sohn, in Ihrer, Herr von Terschka, die Zeugnisse von sechs Cavalieren vor, die leider nicht mehr am Leben sind; sie haben der sogenannten Vermählung meiner Stiefmutter beigewohnt … Dann aber bitt’ ich Sie, Herr Provinzial, lesen Sie sich in die Handschrift des edeln Dechanten von Sanct-Zeno Herrn von Asselyn in Kocher am Fall, meines Schwagers, wie ich ihn nennen darf, hinein und theilen Sie uns hernach diese Zuschrift mit, die ich gestern Abend auf eine Stafette, die ich vor acht Tagen nach Kocher schickte, erhalten habe … Sie wird uns über diese Ehe und über Leo Perl’s dabei gespielte Rolle die genügende Auskunft geben …

218 Löb mußte aufstehen … Es war in der That zu viel, was auf seine Wißbegierde einstürmte … Ja er bedachte: Erfährt man je, daß du Zeuge dieser Familiengeheimnisse warst, so steckt man dich vielleicht ein oder macht dich ebenso unschädlich, wie einen gewissen Lauscher in den „Falschmünzern“ … Er mußte seine Decken lüften, weil er in Transspiration kam …

Nach einer Weile, in der Bonaventura ohne Zweifel voll Staunen oder – voll Besorgniß der Worte seines Onkels gedachte: „Lass’ aber alles das unter Priestern bleiben!“ und von Terschka’s Anwesenheit immer mehr beunruhigt werden mußte, begann die rauhe und strenge Stimme des Pater Maurus:

„Mein insonderst geehrter Herr Präsident und lieber Herr Schwager! Ich habe das alles geahnt, was nach dem Tode Ihres Vaters kommen würde! Auch schon zu meinem Neffen, unserm guten Bonaventura, hab’ ich mich in einer vor kurzem abgegangenen Zuschrift darüber ausgesprochen … Es ist ein seltsamer Vorgang, auf den Sie hindeuten, und wohl versteh’ ich Ihren Schmerz, Ihre tiefe Betrübniß! Beschämung – sagen Sie! Warum dies Wort – zu – Priestern? Wir Priester der römischen Kirche sind – bei solchen Dingen in – – unserm Element –“ …

Der Vorlesende stockte …

Der Präsident sagte, wie es schien, mit Lächeln:

Sie werden hier eine Stelle finden, die Sie überschlagen dürfen! Indessen – –

Bonaventura mochte voll Besorgniß der Intoleranz des Provinzials gedenken … Und auch Seligmann ge-219dachte mit Schrecken des Dechanten, der so freundlich mit der Hasen-Jette verkehren konnte und nur deshalb nicht die untern Viertel am Fall zu Kocher besuchte, weil er zu sagen pflegte, „Reinlichkeit ist mein erstes Religionsdogma“ …

„Denn“, fuhr jedoch der Provinzial und ohne weitern Ausdruck der Befremdung über diese Freimüthigkeiten zu lesen fort, „denn unsere ganze Kirche beruht ja auf dem Natürlichen im Menschen. Wer unsere Kirche schildern will, muß vom Fleisch beginnen und im Fleisch aufhören. Die katholische Kirche erbaute Gott zu einer Hülfe für die Sünder. Sie ist deshalb in allem der Gegenpol der nackten Menschheit und darum eben nur auf diesen Gegenpol errichtet. Bei den Protestanten ist die Sünde eine Unterbrechung ihres vom Geist beginnenden und im Geist endenden Lehrgebäudes; aber bei uns ist sie das alleinige Wesen desselben. Darum liebt der natürliche Mensch den Katholicismus und wieder der Katholicismus“ – –

Der Provinzial stockte und murmelte wieder …

Seligmann dachte an die Rumpelgasse und den Unterschied der Religionen …

Lassen Sie das! Lassen Sie das! … unterbrach der Präsident im Ton seiner andauernden Wallung …

Doch der Mönch fuhr fort:

„Da hatt’ ich beim Abschied vom Obersten von Hülleshoven den Streit über die Frage: «Was ist unser Genius!» Monika, des Obersten Gattin, schrieb mir einst: «Unser Genius ist der Schutzgeist gegen unsere Schwächen!» Der Oberst sagte: «Unser Genius ist der Fahnenträger un-220serer Kraft!» Beide haben Recht und beide Unrecht. Sie hätten sagen müssen, wie der Genius im Menschen entsteht … Was ist der Genius – des Katholicismus – der Genius Napoleon’s – der Genius Goethe’s“? – …

Wieder unterbrach der Präsident … Wieder dachte Seligmann, wenn auch schon etwas schwieriger auffassend, an die Bereicherungen für Veilchen …

„Napoleon war körperleidend“, fuhr Pater Maurus zu lesen fort. „Man kann leidend sein und doch sich ganz beherrschen. Die fallende Sucht aber kann man nicht beherrschen; das ist ein entsetzliches Naturgebot. Napoleon’s Kammerdiener Marchand mußte ihn oft einschließen; des Kaisers Angst war: Jetzt überfällt dich dein Dämon! Napoleon’s Genius war demzufolge der Geist, der ihn trieb, diesem Dämon zu entfliehen. Daher seine Unruhe, daher seine Liebe zum Frieden und doch die Unmöglichkeit, beim Frieden zu verharren, daher sein Vorwärtsdrängen, seine Art zu kämpfen, seine Auffassung über Welt und Zeit, sein Aberglaube, sein Wallensteinglaube an Ahnungen, seine Besuche bei Kartenlegerinnen, seine glühende Neigung zu Frauen und doch seine Kälte im Augenblick der Liebe – Napoleon ist das Leben eines Mannes, der sich unter einem unglücklichen Naturgesetz weiß. Alles, was er that und sprach, war auf dies Naturgesetz: Entfliehe deinem Fluch! bezogen. Goethe ist nicht anders zu verstehen, als aus einem Naturgesetz. Nur bezieht sich bei Goethe sein ganzes Denken und Fühlen auf ein anderes Factum – er hatte einen unehelichen Sohn. Diese Möglichkeit und sittliche Gêne 221 mußte er durch sein ganzes Dasein, seine Dicht- und Weltauffassung vertheidigen. «Legitim» oder «Illegitim» – das wurde sein Grübeln und merkwürdig, sein schlechtestes Werk, die «natürliche Tochter», war gerade aus den geheimsten Falten seines Herzens geschrieben … Warum plaudere ich das alles? Ich könnte bitter sein und es so ausführen: Unsere ganze römische Kirche ist mit der Zeit auch allein über den Einen dunkeln Abgrund der Seele gebaut, daß wir Priester nicht heirathen dürfen …“

Der Provinzial sprach ironisch:

Der Dechant gehört der philosophischen Zeit an …

Er will sie auch nur schildern, sagte der Präsident und beruhigte Bonaventura, der auf die Mittheilung nur der Hauptsachen aus einem Briefe drängte, der ihm in ängstlicher Weise eine krankhafte Aufregung des theuern Onkels verrieth …

„Ich schildere Ihnen die Zeit, in der unsere Sünden jung waren, die Zeit, in der ich mit dem Kronsyndikus bekannt wurde … Es war gerade, als Goethe, unser damaliger Gott, den einzigen gefunden hatte, vor dem auch er zu Staub wurde. Dies eben war Napoleon, unsere zweite Gottheit. Es war in jenem Erfurt, da, wo Goethe schweigsam vor Napoleon stand, der Mann, der ewig die Natur suchte, vor dem Mann, der ewig die Natur floh. Ich befand mich gerade damals bei dem sogenannten «Parterre der Könige» als ein der Diöcese Dalberg’s angehörender Priester. Ihr Vater war in Erfurt erschienen als Syndikus der jungen Krone Westfalen bei den alten deutschen Ständen des Teutoburger Waldes … Herr von Wittekind zog vor, in der Nähe der Pracht 222 und Herrlichkeit des fremden Hoflagers zu leben. Und doch starb in Ihrem Vater trotz seines Leichtsinns ein Mann wie aus der Ritterzeit … Die eiserne Hand, die Götz nur künstlich führte, schlug Ihr Vater natürlich. Ich habe gesehen, wie er von einer Tischplatte die Ecke abbog gleich August dem Starken von Sachsen, dem er leider nur zu sehr glich, wenn ihm auch dessen Sinn für Größe, die stolze Haltung und Bedeutsamkeit der Gesinnung versagt waren. Ein Nimrod war’s, der zuletzt in wilder Baulust den Rest von Muth austobte, der ihm vom Jagdtreiben übrig geblieben. Sein Park, sein Schloß, seine Oekonomie müssen ihm Summen gekostet haben; aber er brachte sie durch Geiz wieder ein. Die Folgen seiner gewaltthätigen Natur, die genug von ihm verdeckt werden mußten, liegen Ihnen jetzt offen vor, die stärkste Prüfung, die der Kindesliebe beschieden sein kann“ –

Pater Maurus besaß den Takt, einen Augenblick innezuhalten …

Seligmann warf einen still beglückenden Rückblick auf seine eigene vorwurfslose Laufbahn als Garçon …

„Der Handel mit der Fulvia Maldachini“, fuhr der Mönch fort, „stammt aus jener Zeit einer wilden Philosophie, aus jener Zeit, wo auch in des sonst so strengen Napoleon Heergefolge der alte französische Leichtsinn sich wieder regen durfte. Seine Marschälle waren früher Perrükenmacher und Kellner. Als sie auf ihren Lorbern ausruhen wollten, konnten sie nur genießen, wie Perrükenmacher und Kellner, die das große Loos gewinnen, genießen. Napoleon hatte Ver-223wandte, die er, um eine neue Legitimität zu begründen, auf Throne erhob, während seine Schwestern erklärte Courtisanen, seine Brüder Champagnerreisende waren. Der Hof des Königs von Westfalen riß in seinen Strudel Männer und Frauen vom deutschesten Ursprung. Ach, wir waren tief gesunken! Und noch jetzt – im Vertrauen – wir sind ein liebedienerisches Volk, geborne Fürstenknechte! Ich habe in Deutschland Bureaumenschen gesehen, die einem Nero und Caligula ebenso zuvorkommend würden gedient haben wie einem Antonin oder Marc Aurel … Ihr Vater, ein junger Witwer – kein Stand ist gefährlicher, als der der jungen Witwen und Witwer – genoß noch einmal seine Jugendjahre. Trotz seines Amtes war er ein Händelsucher, ein Wettrenner, ein Don Juan … Damals also besaß ich am Münster von Witoborn ein Kanonikat, das ich in alter Weise von einem Vicar verwalten ließ … Ich war Priester geworden, wie andere unter die Soldaten gehen. Mein Bruder Friedrich studirte die Rechte, mein Bruder Max war ein Soldat. Als ich Priester geworden war, reiste ich in die Welt hinaus, war lange in Paris und kam nach Kassel, Erfurt und Witoborn – wie ein Abbé zurück. Goethe, Napoleon und – Grécourt waren meine Gottheiten … Ich schloß mich meinem Landsmann, Ihrem Vater, an. Wittekind konnte so ansteckend lachen, daß man ihm gar nicht lange wegen seiner sonstigen Unarten zürnen konnte … Wir waren ein Kreis wilder Gesellen und ich bekenne und darf es bekennen, da ich später mancherlei Unstern bestand, ich, ein Priester, ich entwarf nach Bildern aus Herculanum 224 und Pompeji Zeichnungen, die in Kassel nicht etwa Frauen zweideutigen Rufs als lebende Bilder stellten, sondern die Gattinnen der Minister, die Töchter der Gesandten, Deutschlands ältester Adel!“ …

Eine Pause ließ Löb Zeit, sich die vorhin gesehene Galerie und die Frömmigkeit des jetzigen Adels dieser Gegend in Vergleichung zu bringen …

„Eine der gefeiertsten Tagesschönheiten“, fuhr der Provinzial zu lesen fort, „war die Römerin Fulvia Maldachini. Sie war eine Sängerin in der italienischen Truppe, die König Jérôme neben der deutschen und französischen hielt. Das Repertoire überwachte der Kaiser selbst aus Paris oder aus dem Hauptquartier und verfuhr darin ebenso streng, wie bei Bildung der Ministerien, des Heers und jenes Schattens von Repräsentativverfassung, dem Ihr Vater seinen «Kronsyndikus» verdankte. Ich seh’ Ihren Vater noch, wie er die Syndikatsuniform zum ersten Mal anlegte und den Galanteriedegen umschnallte. Ungeduldig, sich bei Eröffnung der Landstände zu verspäten, war er nahe daran gegen seinen Bedienten die etwaige Schärfe des Spielzeugs zu versuchen. Der Maldachini sagte man nach, sie wäre besserer Abkunft, wäre durch Umstände veranlaßt gewesen, ihre Stimme zu verwerthen, eine Stimme, die uns Deutschen mehr Entsetzen, als Bewunderung einflößte. Sie hatte, so jung und schön sie war, in ihrer Kehle eine Tiefe, die mit Proserpina bis in den Tartarus hinunterstieg. Das Theater erdröhnte zwar von Beifall, wenn sie ein: Perfido! knirschte; aber wie ein Dolch lag es neben jeder Note, die sie 225 sang und besonders – wenn man einmal nicht applaudirte“ – –

Seligmann wußte nichts von Gluck und Piccini … Aber Norma bot Vergleichungen … Er verstand vollkommen dieses Knirschen, namentlich beim Nichtapplaudiren …

„Es galt für unmöglich, die Gunst der Maldachini zu gewinnen …“ las der Mönch. „Das gerade reizte den Kronsyndikus. Die Schönheit der Erscheinung, ihre Gestalt war mächtig, das Geheimniß, mit dem sie sich umgab, bestrickend. Sie nahm die Huldigungen des Freiherrn von Wittekind an, namentlich seine Geschenke; dafür war aber nicht mehr sein Lohn als ein Zunicken im Theater. Sie lehnte sich an den Hof, der sie beschützte, an die große Zahl ihrer Verehrer. Der Kronsyndikus ertappte sich auf einer wirklichen Schwärmerei für sie. Feste bot er ihr, die sie annahm. Er ließ sie zur Fastenzeit, wo die Bühne geschlossen wurde, in den Sommerferien nach Neuhof in sechsspännigen Carrossen kommen … Sie, Herr Präsident, und Ihr Bruder waren damals in Pensionen … Die stolze Sängerin wohnte auf Schloß Neuhof wie eine Fürstin. Nichts aber entlockte ihr eine Zärtlichkeit, nichts eine Erwiderung der Liebesbetheuerungen, die ihr, wie mich Lauscher versicherten, der Freiherr auf den Knieen machte“ – –

Lauscher! … Seligmann bebte … Hier, diese Cabinete waren doch wol die Orte, wo man auf Schloß Neuhof lauschen konnte …

„Fulvia Maldachini verlangte die legitime Gemahlin des Freiherrn zu werden. Sie nannte sich eine ge-226borne Marchesina und in der That, der Freiherr von Wittekind beschloß, sie zu heirathen …“

Löb sah fast den Eindruck dieser Worte … Sah fast Terschka’s Lächeln …

Mit einer Stimme, deren Sicherheit deutlich verrieth, daß für ihn in allen diesen Mittheilungen nichts Neues lag, las der Provinzial weiter:

„Dies Heirathsproject entsprach an sich ganz dem Charakter jener Tage. Man hatte nicht im mindesten das Gefühl, daß diese Napoleonischen Zustände nur eine Episode wären. Ein völliges Aufopfern des Stolzes und Heimatgefühls trat ein. Fast wäre Ihr Vater seiner Leidenschaft erlegen, wenn nicht seine Freunde dazwischengetreten wären. Freiherr von Malstatt, Graf von Dohrn, Baron von Liebetreu, die Andern – alle widersetzten wir uns. Als Fulvia kalt blieb, höhnisch die Lippen aufwarf und sich in ihren rothen Gewändern, mit dem grünen Kranz auf dem kurzgeschnittenen schwarzen Tituskopf, den Dolch im Busen, wie eine junge Medea zeigte und doch bestrickend schön, doch verheißungsvoll lächelnd wie der beginnende Frühling, da wurde zur Rettung Ihres, wie es schien, geradezu verlorenen Vaters ein Entschluß gefaßt. Wir verpflichteten uns, eine Farce aufzuführen. Fulvia konnte kein anderes Wort deutsch, als soviel nöthig war, kräftig zu fluchen. Sie lebte unter uns, wie im Grunde damals alle diese Fremden; sie lebten im eigentlichsten Sinne des Worts wie in der Verwirklichung eines Traums. So war auch ihr Deutschland nichts als Wald und Flur und Flur und Wald; nur vom Geld sah sie, daß es das allbekannte echte Silber 227 und Gold war. Der Freiherr schlug ihr eine Ehe vor, die aus Familienrücksichten einige Jahre lang geheim bleiben müßte. Fulvia, die die große Stellung ihres Verehrers kannte, die von seinen mächtigen Verwandten wußte, die einsah, daß für gewisse Vermögensverhältnisse auch in Rücksicht auf die vorhandenen Söhne erster Ehe Schwierigkeiten entstehen konnten, willigte ein … In dem Dünkel und Siegesübermuth, der sie, wie damals alle diese abenteuernden Fremden, gegen jede Vorsicht blind machte, steigerte sie sich selbst zuletzt zur Ueberzeugung, daß sie ihre allgemeine Anerkennung als Frau von Wittekind erst von spätern Zeiten abhängig machen müßte … Nun ging unser Leichtsinn so weit, daß der eine künstliche Pacten schloß mit Siegeln von Aemtern, die nirgends existirten, der andere Correspondenzen mit der Familie eröffnete, der dritte falsche Dimissorialen des Pfarrers von Schloß Neuhof brachte, die nothwendigen Depense, die dem Freiherrn gestatteten, sich andernorts trauen zu lassen – kurz, wie es nur in einer Zeit möglich war, wo täglich die größten Ereignisse sich drängten, Throne wankten, Völker in Bangen und Zagen lebten. Wir erfanden und setzten dies Abenteuer unserer «noblen Passionen» wie eine Fastnachtsposse in Scene“ …

Löb Seligmann schauderte über den ehrwürdigen Herrn Dechanten, der einst solcher Streiche fähig gewesen …

„In Paris hatte ich einen jungen geistvollen Gelehrten kennen gelernt, eine höchst geniale Natur … Er nannte sich Leo Perl und war ein Jude“ …

Löb’s Athemzüge wurden ihm jetzt selbst fast ver-228nehmbar. Er mußte aufstehen und zwei Schritte weiter gehen … Dann stand er wieder still, um nichts zu versäumen, und horchte zitternd …

„Perl war“, las der Provinzial, „aus der Gegend meines jetzigen Wohnorts gebürtig und seines Zeichens Rabbiner. Sein Aeußeres war ein gar stattliches. Nach Paris kam er, um in den dortigen Bibliotheken talmudische Manuscripte zu lesen. Ich lernte ihn kennen und schätzen. Im Geiste der Zeit, der nicht mehr der Geist des Deismus, sondern ein Bestreben war, irgendwie aus dem Deismus herauszukommen, standen wir uns nahe. Frömmler waren wir natürlich am wenigsten; das Leben nahmen wir leicht – ich wenigstens gab den Lebensanschauungen eines Alcibiades nichts nach“ …

Alcibiades! wiederholte sich Löb und wußte jetzt ein höheres Wort zur Bezeichnung des Leichtsinns …

„Wir hatten aber ein Bedürfniß des Positiven. Freilich – wir suchten es eher in Indien und an den Quellen des Ganges, als in Judäa und an den Quellen des Jordan. Leo Perl war halb aus Scherz halb ernsthaft Kabbalist, was mich als Curiosität anregte. Er sprach die meisten lebenden und mehrere todte Sprachen. Sonst war er aufgewachsen wie ein echter Rabbinerknabe in alten Büchern und mikrologischen Studien; die Welt war ihm auf dem Gebiet des Parquets und der feinern Geselligkeit fremd, jedoch seine zähe Lebenskraft, sein Witz und manche Schalkhaftigkeit halfen ihm auch dort sich zu behaupten …“

Gott im Himmel! sagte sich Seligmann und war nicht einverstanden mit dem Worte: Zähe Lebenskraft …

229 „Zugleich war Perl gefällig und interesselos, wie ein Kind … Ihm verdank’ ich nicht nur den größten Theil meiner Ausbildung, die Läuterung meiner Lebens- und Kunstansichten – sogar meine Existenz“ …

Ein Mensch! rief Seligmann schmerzbewegt …

„Durch Perl wurde ich auf das Stift Sanct-Zeno an seinem Geburtsort aufmerksam gemacht und auf dessen alte Rechte und Urkunden … Er begleitete mich nach Deutschland und gab mir Mittel und Wege, diese einträgliche Stelle mit Hülfe des Kaisers von Oesterreich aus der Säcularisation zu retten und für mich zu gewinnen. Ich habe ihm für alles das ein treues Herz bewahrt und meine Schuld ist es nicht, wenn ich zu den vielen Erinnerungen an ihn nicht auch noch die an äußere Beweise meiner Dankbarkeit fügen kann. Plötzlich zog er sich von uns allen zurück … Trotzdem, daß er infolge unsers Leichtsinns Christ wurde“ …

Löb saß wieder zusammengekauert wie ein Jäger auf dem Schnepfenfang …

„Leo Perl hatte in seinem Wesen zwei unvermittelte Gegensätze. Der gewaltige Mann lebte höchst mäßig, entbehrte wie ein Stoiker und dachte doch wie Epikur. Er vermied die Frauen und duldete jede Ausgelassenheit“ …

Wie Veilchen! sagte Löb …

„Er aß trocken Brot und sprach anerkennend über die, denen nur Trüffeln mundeten“ …

Wie Veilchen! …

„Er erklärte sich für unfähig, einen vernünftigen 230 Satz zum Druck zu stilisiren und seine zierliche Hand schrieb doch Briefe voll Geist“ …

Wie Veilchen! …

„Perl war der strengste Kritiker, der jemals beizende Lauge im Urtheil über ein Ganzes mit der Fähigkeit verband, doch im Einzelnen die Tiefe der Absicht und die Schönheiten des Details zu erkennen“ …

Das wurde Löb zu hoch und – „beizende Lauge“ führte ihn sogar zerstreuend auf Veilchen’s Spitzenhandel …

„Er tadelte in kleinen Aufsätzen ein Buch so, daß man dennoch den Verfasser lieb gewann. Alles das geschah mit so viel Bonhommie, daß man vor Lachen gesund wurde, wenn man seine Scherze las“ …

Seligmann hauchte wieder für sich hin: Wie Veilchen! …

„Ich nannte ihn den zwölften Apostel, den Christus zum Ersatz für Judas Ischarioth hätte nehmen müssen. Auch versicherte er mich, sein Vorgänger Judas Ischarioth wäre der unglücklichste aller Menschen auf Erden gewesen: er wisse bestimmt, er hätte Christus geliebt: er hätte ihn mehr geliebt, als Johannes; er hätte Jesus nur verrathen, um ihn zur Entschiedenheit zu bewegen; er hätte sich erhängt aus Verzweiflung, weil ihm ein Werk der Freundschaft mislungen. Würde ihn Jesus, sagte Perl, drei Jahre lang um sich geduldet haben, wenn er nicht Eigenschaften an ihm erkannt hätte, die wenigstens denen der andern Apostel gleichkamen? … So zwischen Ernst und Scherz, bald durch seine Behauptungen erschreckend, bald wieder wohlthuend, konnte 231 Leo Perl plaudern. Wir gewissenlosen Cavaliere – immer ist es mir, als hätten wir nicht Ursache gehabt, uns der spätern Wendung seines Schicksals so zu rühmen, wie wir’s zu unserer Beruhigung oft im Stillen thaten“ …

Leo Perl starb als christlicher Pfarrer in Borkenhagen … sagte eine dumpfe Stimme, die wol Terschka’s sein konnte … Dies Wort schien auf die bindende Kraft eines geweihten Priesters berechnet zu sein …

Vielleicht war er schon heimlich in Paris ein Christ! erwiderte der Präsident mit parodirender Ironie …

„Leo Perl“, fuhr der Provinzial fort, „wurde von uns überredet, in den Betrug der Maldachini miteinzutreten. Ganz in der Laune, die wir an ihm kannten, griff er zum Champagnerglase und sagte lachend zu. Wir verlangten von ihm nichts Geringeres, als sich in ein Priestergewand zu hüllen und in einer entlegenen Kapelle, auf den Gütern eines der Mitverbündeten, bei nächtlicher Weile den Freiherrn von Wittekind mit Fulvia Maldachini zu trauen. Aufrichtig gesagt, ich erstaune noch jetzt über seine Zustimmung … Ich kannte sonst die Gewissenhaftigkeit, die ihn beseelte, bei aller Leichtigkeit in der Beurtheilung anderer“ …

Auch für Löb verlor sich sein: Wie Veilchen! und der Spinozismus jetzt in drei bis fünf Jahre Gefängniß …

„Perl war des Ritus so kundig, wie oft kein – Domdechant“ –

Der Provinzial mußte wol im Lesen lächeln … Seine Stimme klang heller …

„Die vermessene, wahnwitzige Scene ging vor sich 232 bei Lichterglanz und unter Assistenz eines Meßners, den eine Person spielte, die ich Ihnen nicht nennen will“ …

Eines Priesters also! sagte Terschka bedeutungsvoll, ohne den Dechanten selbst zu nennen …

Wie es scheint! bemerkte der Präsident und setzte mit Bitterkeit hinzu: Sie suchen für Ihre Casuistik irgendeine geheime Schraube! Was das bürgerliche Recht mit dem Zuchthaus bestraft, wird bei uns das kanonische nicht zum Sakrament erheben! – Doch lesen Sie! Ich bitte! …

„Eine katholische Trauung muß in dem Ort stattfinden, wo man lebt; dafür hatten wir die Demissorialien. Sie findet in der Regel des Morgens statt; dafür hatten wir wiederum einen Erlaßschein. Das in der Waldkapelle bei Nacht verbundene Paar bestieg eine Kutsche und reiste auf Schloß Neuhof. Dort lebte es dann so, wie es der Freiherr gewünscht hatte. Einstweilen noch kehrte die Maldachini in ihre Stellung zur Bühne zurück. Sie genas später eines Knaben, der auf den Namen der Mutter getauft und von einer Dame erzogen worden ist, die ich – gleichfalls nicht nennen kann“ …

Frau von Gülpen! blitzte es in Löb auf … Doch nahm er diesen Gedanken zurück, da er nur die große Anzahl „Nichten“ kannte, denen Frau von Gülpen eine so liebende Tante war …

Länger dauerte freilich der Nachklang desselben Namens – bei Bonaventura …

„Die Kämpfe der Maldachini, sich anerkannt zu wissen, gingen mit der Zeit aufs Aeußerste. Sie wurden um so gefährlicher, als sie Verdacht schöpfte und mit Entdeckung drohte. Nur weil ihr Perl öfters in wirklicher Prie-233stertracht entgegentreten konnte, wurde sie beruhigt. Der Kronsyndikus hatte in seinen Neigungen keinen Bestand; bald wurde er gegen sie wie gegen alle; sein Leben auf Neuhof steigerte sich ja bis ins Sinnlose“ – …

Löb füllte die Pause, die entstand, mit der Empfindung: Muß ein Sohn das von seinem Vater hören! …

„Bald erfuhr auch diese seine vermeintliche Gattin die gewöhnliche Tücke seines Sinnes. Sie kam zum zweiten mal in die Hoffnung und bestand mitten in dem Gewühl der Flucht des westfälischen Hofes von Kassel 1813 ihre Entbindung. Der Kronsyndikus, sich an den Zusammenbruch des Königreichs Westfalen haltend, verstieß sie … Hülflos wurde sie von den Mitgliedern ihrer Gesellschaft in den allgemeinen Strudel des Schreckens und der Flucht mit fortgerissen … Wir verloren sie aus den Augen und das für immer. Eines Tags erzählte mir Ihr Vater lachend, sie wäre in Paris eine Herzogin geworden … Damals aber brach die Zeit an, wo über uns alle ernstere Stimmungen kamen. Unsere mannichfach neubedingten Lebensstellungen riethen uns, unsere Aufführung zu regeln und so entstand das Bedürfniß, auch über diesen Jugendstreich den Mantel der Vergessenheit zu breiten – zumal, da ich später von Leo Perl zu meinem Schrecken erfuhr, daß er diese Ehe –“

An dieser Stelle war es plötzlich dem Horcher, als hörte er eine Bewegung, die nicht von den Männern im Nebenzimmer kommen konnte, obgleich auch drinnen die durcheinander gehenden Stimmen ein Staunen auszudrücken schienen …

234 Aengstlich sprang Löb zur Seite und hielt die Decken, die ihm entgleiten wollten …

Alles war wieder still. Glücklicherweise … Denn gerade die ihm werthesten Stellen der Bekenntnisse des Dechanten konnten ihm verloren gehen …

Der Provinzial hatte inzwischen nicht weiter lesen können, denn Terschka sprach … Terschka sprach von der Ehe und forderte Bonaventura auf, zu sagen, worin die katholische Ehe ein Sakrament wäre, ob durch den Priester oder durch die Verbundenen? …

Die Lehre der Kirche läßt es kaum zweifelhaft! lautete die leise und mit tiefster Erschütterung gegebene Antwort des Domherrn …

Der Präsident bat um genauere Erklärung … Doch an dieser so hochwichtigen Stelle mußte Löb Seligmann den Schrecken erleben, daß sich jenes Geräusch wiederholte … Es schien sogar aus dem dritten der dunkeln Zimmer zu kommen … Bebend sprang er zur Seite und fiel fast über die Franzen seines improvisirten Hohenpriestermantels … Dann aber war wieder alles still …

Dafür aber waren die Männer nebenan im lebhaftesten Streit über die Ehe und das Sakrament … Der katholische Glaube in allen Subtilitäten, deren Kenntniß plötzlich von Terschka mehr im Scherz als im Ernst angedeutet wurde, regte den Präsidenten so auf und veranlaßte seinerseits für die Rückhaltsgedanken der Kanonisten so heftige Wortbezeichnungen, daß der Provinzial mit entschiedener Stimme einfiel und rief:

Lesen wir wenigstens den Brief! …

235 Dann fuhr er fort:

„Die Trauung selbst war allerdings eine Scene, die uns alle mit Schrecken überrieselte … Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde … Die Klänge der Orgel“ …

Löb Seligmann konnte nicht nachfolgen …

Der Himmel strafte ihn für die Schuld seiner Väter …

Das Geräusch nahm zu, er hörte einen leise auftretenden Fußtritt – er bekam Gesellschaft …

Unwillkürlich mußte er sich zur Erde ducken hinter einem der größern Sessel …

Es kam Jemand, der gleichfalls die Vortheile der spanischen Wände des Schlosses genießen wollte … Schon war seine Gesellschaft im zweiten Zimmer …

Sie kam leise auftretend jetzt ins dritte …

Es war eine Dame … die Herrin des Schlosses selbst … die Präsidentin …

Löb sah seine Ehre und seine Zukunft auf dem Spiel, wenn die hohe Gönnerin ihn hier ertappte …

Die Decken waren ihm schon entglitten …

Fast fiel die vornehme Frau über sie; sie legte sie murmelnd auf die Tische … Sie schien hier schon orientirt zu sein … Es war die Mutter des Domherrn – und doch so völlig eine andere …

Löb kniete hinter dem Lehnstuhl und berechnete schaudernd, wie die Frau sich wundern würde, wenn sie seinen Hut – Gott sei Dank! – Sein Hut war in einem Schlosse, wo er sich so heimisch fühlen durfte, auf seinem Zimmer geblieben …

236 Die Präsidentin nahm wie er an der Wand Platz und schien so vertieft in die Worte, die der Provinzial las, daß er es wagte, zwischen zwei Uebeln das geringere zu wählen: Entdeckt zu werden oder über Leo Perl nicht völlig ins Reine zu kommen …

Er mußte letzteres vorziehen …

So kroch er auf allen Vieren in das nächste Zimmer, richtete sich dort behutsam auf, schlich in das erste Zimmer zurück und fand jetzt, wie er erwartet hatte, einen Drücker an der Thür, die auf den Corridor führte. Ein Griff war eben erst aufgesetzt worden …

Sanft folgte jetzt die Thür dem Druck seiner Hand und nun sah er wohl, nun fehlte der praktikable Handgriff draußen …

Leise zog er die Thür wieder an sich und verschwand und war befreit …

Die hellste Mittagssonne schien …

Sie schien so frühlingsahnungsreich, so erlösend von allen Banden des Winters und des Todes, daß er von einem Traum erwacht zu sein glaubte …

Zu dem, was ihm noch an Vervollständigung der merkwürdigsten Geheimnisse seines Lebens fehlte, legte er das Gefühl hinzu, doch lieber im Sichern zu sein, lieber unentdeckt auf Fährten, die ihn leicht aus seiner gegenwärtigen glänzenden Laufbahn entfernen konnten …

Schloß Neuhof wurde ihm zum „Schloß Avenel“.

237 21.#

Benno – Benno – mein brauner Zigeunerknabe!

Du, du also der Sohn des Kronsyndikus und dieser armen, betrogenen, bemitleidenswerthen Frau –! …

Du, der Bruder einer Angiolina, die das Schicksal in die wildesten Strudel warf und die die Gräfin von Salem-Camphausen werden kann, wenn ein ruchloses Gaukelspiel – – doch, doch nicht ganz misglückte …

„Was du auch in diesen Tagen von mir hören dürftest, ich war schwach“ – „um der Liebe willen“ – hatte der Onkel geschrieben –

Nein, Onkel! Das war die Liebe nicht, deren heiligste Forderungen du nicht verstandest! Das war ein Hohn, gesprochen den Gesetzen der Natur! Die Natur willst du preisen? Nur in den Sinnen findest du sie! … Onkel, Onkel, Theurer, dessen weiße Hand ich so gern küssen mochte, warum hast du uns das gethan! …

So tiefschmerzlich und zugleich hochaufjauchzend freudig rief es in Bonaventura’s Innern, während auch nicht einer der Hörer die Menschlichkeit besaß, zu fragen: 238 Und was wurde denn nur aus jenem Bruder Angiolinens, der doch jetzt vielleicht siebenundzwanzig Jahre zählen müßte? … Sind euch die Sünden des Mannes, dessen Leben so grauenvoll da aufgedeckt liegt, so schon geläufig, daß nicht Terschka, nicht der Präsident, nicht der Provinzial frägt: Wo ist das zweite Kind? Der Sohn? Was wurde aus dem? … Hatte also Benno Recht, so oft er sprach: Alles das muß in den Beichtstühlen verborgen bleiben! …

Terschka, der glatte, jedem ausweichende, immer lächelnde Sendbote, der jetzt vielleicht sogar das Herz einer Armgart bestrickte – wie hält er so seltsam geheimnißvoll die Fäden aller dieser Wirren in der Hand … Er nennt vielleicht doch plötzlich Benno bei dem Namen, der ihm gebührt – Benno, dessen Ehrgefühl so krankhaft ist, wie Verdacht in der Liebe … Nimmermehr dürfen diese Schleier gehoben werden, ohne daß Benno es will … Nie, nie darf ihn dieser gräßliche Fluch seines Daseins überraschen auf dem Boden, auf dem er lebt … Erführ’ er davon, er stürmte fort von diesem Schauplatz der Lüge, die selbst deine spätere liebende Sorgfalt, Onkel, nicht veredelte … Furcht war es, was dich bestimmte, Benno’s Ursprung zu verbergen … Die Zeiten hatten sich geändert, der Onkel wollte das Stift Sanct-Zeno erhalten, wollte, mußte die Pflichten eines Dechanten üben, erinnerte sich, daß er jetzt den unbescholtensten Priester zu spielen hatte … Ohne Zweifel bat er den Bruder, der aus Spanien zurückkehrte, das Kind als sein eigenes mitzubringen – ohne Zweifel wurde deshalb selbst dem Kronsyndikus 239 jede Spur des Knaben entzogen – Ja man gab ihn für jünger aus, als er war … Benno ist älter, älter als du … Daher die größere Reife seines Verstandes … Alles, alles bot man auf, die Nachforschungen nach seinem Ursprung unmöglich zu machen … Immer wieder mußten sie auf jene Scene zurückführen, bei der ein jetzt in Amtswürden stehender Priester als Meßner einen leichtsinnigen Juden in der ehelichen Segnung unterstützte, einen Juden – der – dann ihn selbst getauft hatte … und in einer Segnung –

Hier verwirrten sich in Bonaventura die Vorstellungen … Kaum hörte er noch der weitern Vorlesung zu … Brachen doch alle diese Thatsachen auf ihn wie Blitze herein … Und dazu dann noch die Nachricht: Lucinde ist dir gefolgt! … Eine Kunde, die ringsum alles in Nacht verdunkelte …

Diese Conferenz fand statt in jenem Zimmer, in dem einst Lucinde und Klingsohr sich hatten finden und vereinigen sollen, um den Kronsyndikus zu schützen … Behagliche Wärme entströmte einem weißen Ofen … Die Sonne schien hell und mild durch die Fenster … Still war alles ringsum … Auf dem Tisch, um den die vier Männer saßen, stand Schreibzeug, lagen Federn und Papierstreifen … Terschka zerdrückte in seiner Ungeduld eine Federspalte nach der andern und kämpfte mit sich – seine Erinnerungen an das kanonische Recht nicht allzu sehr zu verrathen … Scheu blickte er zu Bonaventura auf, als wollte er sagen: Das weißt du doch, daß das Concilium von Trident zu einer Trauung zwar den Ortspfarrer oder dessen zugestandene Stellvertretung 240 und zwei Zeugen verlangt, daß es aber zum Stellvertreter sogar gestattet, einen noch nicht geweihten Priester zu nehmen? Das weißt du doch, daß das, was an einer Ehe das Sakrament ist, sich durch die Verbundenen selbst vollzieht und nicht im mindesten durch den bei allen andern Sakramenten als die Hauptsache vorwaltenden Priester? Das weißt du doch, daß sogar der Segen und alle Ceremonien bei einer Trauung an sich ganz überflüssig sind, wenn ein sich selbst einander die Ehe gelobendes und vollziehendes Paar nur einer Messe beiwohnt; ja daß auch eine Messe zwar gelästert und verunreinigt werden kann durch Misbrauch, aber dennoch ein Opfer bleibt, das, richtig ausgeführt, sich durch seine eigene Kraft vollzieht? Die von einem Priester im Stande der Todsünde gelesene Messe ist wirksam – wie sollte die von einem Juden in Priesterkleidern gesprochene einfache Segnung nicht wirksam gewesen sein bei einem Act, wo die heilige Mystik des Priesterthums wegfällt? … Hier fand eine Trauung ohne Messe statt, in einer Abendstunde, die sonst nicht Sitte, aber wiederum nicht hindernd ist … Endlich – schließt denn der Betrug, den man mit dem Pfarrer spielte, das gläubige und von Zeugen vernommene Ja! der Braut und des Bräutigams aus? Das Mysterium der Ehe liegt in denen, die aus sich selbst wie in Adam und Eva durch die Liebe ein Abbild der Menschheit wiedergeben wollen, nicht im ersten Priester des Paradieses, nicht in Gott, der sie zusammenthat; die Liebenden opfern durch sich, durch die Ehe Gott … In der Ehe empfängt Gott oder der Priester; beide geben nichts …

241 Das alles sprach Terschka nicht ganz … So heimisch war er nicht mehr in den Prüfungen, die einst „Pater Stanislaus“ zu bestehen hatte … Aber Bonaventura las es wie Ahnungen aus seinen Augen, er, der seinerseits allerdings so heimisch in diesen Anschauungen war, wie der Onkel Dechant – in den Wandgemälden Pompejis …

Der im Antlitz wie mit Purpur übergossene Präsident ersuchte den Provinzial weiter zu lesen …

Dieser that es – und in der That lächelnd:

„Eine Scene war es, die uns sogar selbst mit Schrecken überrieselte … Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde … Die Klänge der Orgel … Wir kamen von einem Mahl, das Graf Altenkirchen gegeben hatte … Die Diener blieben zurück … Wir erklärten gegen Mitternacht, vom Kapellenthurm aus im Walde über die Baumkronen hinweg das Spiel der Mondstrahlen beobachten und eine Windharfe hören zu wollen, die über einen Durchhau der Tannen gespannt war … Bereits war ich selbst voraus und fand Leo Perl im Ornat, einsam in der Kirche auf- und abgehend und mit sich selbst redend … Wahrhaft schön sah er aus in seinem langen Kleide; die Stola, reichgestickt, hing über seiner Schulter … Graf Altenkirchen spielte die Orgel … Fulvia Maldachini wurde vom Kronsyndikus geführt … Baron von Liebetreu trug die Schleppe ihres Kleides … Sie schwebte dahin, wie Juno, als sie Zeus vor allen Olympiern zu seiner Gemahlin erhob … Bei ihrem Stolz und Glück hatte sie von allem kein Arg … Die Worte, die der Priester deutlich sprach: «Willst 242 du diese gegenwärtige Signora Maldachini, Marchesina von Santalto, zu deiner Gattin nach Vorschrift der heiligen Mutter Kirche annehmen?» verstand sie nicht, aber den Gebräuchen paßte sie scharf auf … Der Wechsel der Ringe, alles erfolgte nach Vorschrift … Perl war so heimisch in dem, was er zu thun hatte, daß wir darüber erstaunten … Auch nicht eine Eigenheit des Ritus ging verloren … Wir gingen dann zum Schloß zurück … Scheu und in der That schon erschreckt von unserm Frevel … Die Windharfe, von goldenen Mondstrahlen beschienen, klagte geheimnißvoll über die Tannen herüber. Noch klang die Orgel hinter uns her; Graf Altenkirchen blieb bis zuletzt, um die Kapelle zu schließen … Wir hörten das Rascheln unserer Schritte auf dem grünen Wiesenplan, wo uns die Leuchtkäfer umglühten … Der Weg war nicht zu nah bis zum Schlosse … Glücklicherweise war die Italienerin in einer so überspannten Aufregung, daß sie uns alle zu sprechen zwang … Es ging französisch, italienisch, deutsch durcheinander; aber wir fanden erst allmählich den Ton des Scherzes wieder … Einer dann aber niemals mehr – Leo Perl“ …

Der Provinzial hielt inne – um das Gericht Gottes zu bezeichnen …

„Der Freund“, fuhr er nach einer Weile fort, „hatte den Gedanken unsers Betruges, mein’ ich, ganz ebenso leichtsinnig ergriffen, wie wir … Zusammengesetzt in seinen Principien aus Voltaire und dem Zufall, den die Kabbala lehrt, scherzte er über alles, was Plan und Absicht im Leben … In Alles müsse man sich blind werfen … Auch in die Ehe … Und lächerlich war ihm die Anmaßung 243 dieser Italienerin, die «soviel Werth auf sich legte» … Er war eitel darauf, sich unsers Vertrauens zu erfreuen. Seine Lust an der Sache ging so weit, mit Befriedigung zu zeigen, wie vollständig ihm, einem Rabbiner, der Ritus unserer Kirche bekannt war … Was konnte ihm geschehen bei einer Mitschuld so bedeutender Namen! … Man setzte voraus, daß in Paris der Kaiser selbst lachen würde, erführe er den Betrug … Geld, glaubte man, würde ausreichen, den Handel, wenn er bekannt würde, niederzuschlagen … Da mußte uns denn freilich überraschen, daß wir plötzlich unsers fröhlichen Doctor Leo Perl’s Spur verloren … Gleich nach der Trauung war er verschwunden … Mit sich mehrender Verlegenheit suchten wir ihn … Wir erschraken nicht wenig, als wir in Erfahrung brachten, daß er Christ geworden und noch mehr, daß er sich zu Witoborn im Seminar befand … Sofort eilte ich ihn aufzusuchen und hörte zu meinem Erstaunen, daß Leo Perl katholischer Priester werden wollte … Als ich mit ihm sprach, erkannte ich ihn nicht wieder. Scheu blickte er zur Erde und wich allem aus, was ihn an die Vergangenheit erinnerte … Sind Sie aus einem Saulus ein Paulus geworden? fragte ich … Es gibt viel Wege nach Damascus! war seine Antwort. Er deutete an, daß für ihn der Weg zur Erleuchtung über die Mondscheinnacht in Altenkirchen gegangen … Hat Sie der Frevel so erschreckt? fragte ich. Haben die Meßgewänder Sie zu unserm Ritus herübergezogen? … Er verrieth vollkommen, daß er sich hatte taufen lassen im Schauer über seine That, 244 im Schmerz um seinen Leichtsinn und wie von Christus selbst darum angeredet und ermahnt … Er sprach ganz wie Augustinus in seinen Bekenntnissen. Wie diesen sein künstlich sophistisches Redneramt mit Gewalt zum Ernste gezwungen, so geschah es ihm auch mit seiner falschen Rolle … Die Windharfe hätte ihm, sagte er, gerufen, was dem Redner Augustinus, als er unterm Feigenbaum in Mailand über sein stetes Lügen und rednerisches Prahlen weinte, die Kinderstimmen aus dem Nachbarhause: Nimm und lies! Nimm und lies! … Als ich seinen Entschluß lobte und ging, wollten Andere sagen, der Kronsyndikus, der die Entdeckung zu fürchten anfing, hätte ihn mit Geld bestimmt … So viel ist gewiß, daß er später seine erste Messe im Münster von Witoborn lesen mußte, nur damit die gerade anwesende Maldachini ihn sah … Mir gegenüber wollte Perl behaupten, die Ehe derselben wäre gültig … In unserm lebhaften Streit darüber unterbrach uns der Besuch seiner Verwandten … Eine Jugendgeliebte hatte Perl gehabt, an die er Briefe schrieb, wie Plato an Diotima … Er gestand zu, daß sie ein ganz einfaches Judenkind wäre, doch malte er sie sich wie ein hohes Phantasiegebilde aus, das er dann freilich desto leichter aufgeben konnte … Nun fingen die Verwandten an, ihn aufs heftigste zu bestürmen … Seine Schwärmerei war keine nachhaltige … Verstand und Phantasie wechselten von jeher bei ihm … Endlich erschien ihm eines Tages aus einem, seinem Zimmer im Convict gegenüberliegenden Hause am Fenster seine ehemalige Geliebte, geschmückt wie Esther, das Haar voll weißer Perlen und vom bräutlichen Schleier umwunden … War es Traum 245 oder Wirklichkeit, der Eindruck auf ihn wurde so mächtig, daß er zum Rector, dem spätern Bischof Konrad, eilte und sich ihm zu Füßen warf mit der Bitte, ihn wieder freizulassen; er könne nicht Priester werden … Der gute Rector war gern bereit dazu … Da aber soll der Kronsyndikus, Ihr Vater, dazwischengetreten sein, soll Leo Perl auf Neuhof entboten und ihn so in die Enge getrieben, ihn so eingeschüchtert haben, daß Perl ins Convict zurückfloh und wirklich Priester wurde … Gleich nach der Messe im Münster erhielt er durch Ihren Vater eine vortreffliche Pfarre … Seitdem sah ich ihn nicht wieder … Er verfiel in Hypochondrie, blieb ein einfacher Landpfarrer und zeitlebens von einem verschlossenen Sinn … Auch mich überschleicht Trauer und Wehmuth, gedenk’ ich jener Tage … Um den Sohn der Fulvia, um Ihren natürlichen Bruder, tragen Sie keine Sorge! Er lebt in Verhältnissen, die zur Grausamkeit machen würden, ihn über seine Herkunft aufzuklären. Ohne Zweifel erhielt Pater Maurus Anweisungen aus Rom. Diese werden, denk’ ich, nicht weiter gehen, als daß er die Wahrheit erforschen soll. Er hat Ihnen einen Bevollmächtigten der Ansprüche Angiolina’s in Aussicht gestellt. Theilen Sie diesem von allen meinen Geständnissen, die ich vor Gott und meiner Ehre vertrete, so viel mit, als zu seiner Aufklärung nothwendig ist. Ich wünschte, es wäre ein Priester; denn scheue ich mich auch nicht, vor meinen Mitleviten zu bekennen, was wir täglich ausrufen sollen: Mea culpa, maxima culpa! so wünscht’ ich doch, die Gräber blieben unaufgedeckt. Was auf ihnen blüht, blüht gesund und schön und ist es auch 246 Irrthum und Sünde – es ist! So unser ganzes Leben. Würde man Wahrheit pflanzen wollen, gedeiht sie – –?“ … Noch kamen einige Worte des Grußes an Bonaventura und – an die Lauscherin … Das Bekenntniß war zu Ende …

Die Blicke aller Anwesenden waren auf Terschka gerichtet …

Terschka, zu Bonaventura’s Schmerz kein Priester, sondern ein Laie, sollte jetzt sagen, wie weit seine Aufträge gingen …

Der Provinzial schien eine völlig neutrale Rolle zu spielen …

Terschka drückte eine der Federspalten, die er auseinander getrieben hatte, nach der andern wieder zusammen …

Während der ganzen Sitzung, die er durch seine Geistesgegenwart zu beherrschen schien, hatte sein Inneres keine Ruhe gefunden …

Wie – stand es mit ihm? …

Am Morgen der Jagd war er im Kloster Himmelpfort gewesen … Er fuhr dorthin voll äußerster Entschlossenheit … Er wollte sich von seinem Orden losreißen, wollte sich der Gräfin Erdmuthe anvertrauen, wollte sich in ihren Schutz begeben und die Rolle eingestehen, die er auf Roms Betrieb hatte spielen sollen und die durch seine Freundschaft für ihren Sohn gehindert wurde – er wollte die Confession wechseln – wenn anders der trunkene Taumel, der ihm zu allen diesen Entschlüssen den Muth gab, andauerte und andauern durfte, – das Entzücken über Armgart’s Hingebung – Armgart’s, die schnell, schnell erobert werden mußte vor – den Enthül-247lungen, über die ihr Schaudern, hatte er einmal ihr Ja errungen – bei seinem Charakter zu spät kam … Den Widerspruch ihrer katholischen Gesinnung glaubte er, einmal im Besitz dieser Eroberung und mit Hülfe der Mutter, nicht ernstlich fürchten zu brauchen …

Vor drei Tagen hatte er Armgart nach dem Stifte Heiligenkreuz zurückbegleitet … Er mäßigte seine Leidenschaft und unterließ doch nichts, was den Wahn des bethörten Mädchens verstärken, ihren Entschluß, ihn durch sich selbst von ihrer Mutter abzuziehen, befestigen konnte …

Zitternd war sie an seiner Seite hingeschritten … Im Waldesdunkel, vom Reiz der Einsamkeit verführt, wagte er, zärtlicher ihren Arm zu ergreifen … Da erschreckte ihn der Mönch, der ihnen gefolgt war, Bruder Hubertus … Dieser gesellte sich zu ihnen, ließ sie nicht wieder allein, ja Armgart hielt ihn absichtlich, nur um nicht von einem Thurm, auf dem sie sich zu befinden glaubte, himmelhoch niederzustürzen … Armgart versprach zur Jagd zu kommen …

Sie wollte, verfolgt von ihrem Gelübde, sich besinnungslos in den Strudel des Lebens stürzen … Sie irrte dahin, nur um alles vergessen zu können, was sie ihrem Opfer zu Liebe that und thun zu müssen glaubte … Ein nicht erfülltes Gelübde! … Einst hatte sie aus Dank über eine Krankheit, die Paula bestanden hatte, Gott gelobt, funfzigmal an einem Tage die Antiphon Salve regina in deutscher Uebersetzung und einen Monat lang zu sprechen. Als sie diese Pflicht nachlässig betrieb, wurde sie sogar von Müllenhoff’s mildem Vor-248gänger als im Stande der Todsünde befindlich erklärt …

Terschka blieb die Nacht beim Verwalter des Stiftes … Die Furcht, der Mönch mit seinen Erinnerungen würde sich ihm aufs neue anschließen, bestimmte ihn, nicht sogleich wieder den Weg zurückzunehmen …

Am Morgen darauf mußte er zum Provinzial Maurus, dann zur Jagd … Er fuhr sich selbst mit einem Jagdwagen und jagte querfeldein wie ein von Furien Verfolgter … Wieder redete ihn auch im Kloster Franz Bosbeck an; wieder fragte er nach seinen Verwandten … Und wenn ihm der Lästige das Dreifache in Aussicht gestellt hätte von dem, was er für seine Erben in Bereitschaft zu halten erklärte, er würde ihn wild angeschnaubt haben: Gehen Sie nach Böhmen! Meinen Namen tragen dort Hunderte! …

Beim Pater Provinzial bebte er erwarten zu dürfen, daß er als Priester begrüßt, für etwaige Renitenz von den Vätern vielleicht selbst mit Enthüllung seines zweideutigen Ursprunges bedroht werden würde … Gefesselt an Leib und Seele folgte er in die Bibliothek …

Pater Maurus theilte ihm ein über Wien aus Rom gekommenes Schreiben mit, demzufolge er sich mit ihm verständigen sollte zur Beantwortung der Frage, die da lautete: Ist Angiolina Pötzl, wie sie von einer Theaterfamilie genannt wurde, die rechtmäßige Tochter der in zweiter Ehe sich Herzogin von Amarillas nennenden Fulvia Maldachini? Welche Umstände haben bei der Trauung derselben mit dem Kronsyndikus Wittekind obgewaltet? …

249 Höchstes Erstaunen ergriff ihn beim Lesen der genaueren Motivirungen … Angiolina eine Tochter des reichen, vor wenig Tagen bestatteten Kronsyndikus! Eine Tochter seiner Gönnerin in Rom! … Hatte man das Interesse des Grafen Hugo für sein Pflegekind wahrgenommen und dem nachgeforscht? Warum das? … Graf Hugo war es nicht, der ihm die Frage stellte: Ist Angiolina eine mir ebenbürtig Geborene? … Rom fragte es, sein General!

Terschka hätte in der Stimmung, in die ihn die Furcht vor dem endlichen „Ablaufen seiner Stunde“, jetzt die Leidenschaft für Armgart versetzte, nichts gethan, den Vätern der Gesellschaft Jesu zu dienen, wenn ihn nicht die ganze Umgebung des Klosters und der lauernde Hubertus mit Furcht und Schrecken erfüllt hätte … Und Pater Maurus, als Inhaber der Beichte des Kronsyndikus, die er der darin vorgekommenen Reservatfälle wegen seinem General in Rom, dem General der Franciscaner, hatte zuschicken müssen, schwieg zu allem und schon mußte er Terschka mindestens für einen Affiliirten der Jesuiten halten …

So entschloß sich dieser, an einem der nächsten Tage auf Schloß Neuhof ganz im Interesse seines Freundes des Grafen Hugo und der schönen Angiolina zu sprechen …

Er machte die Jagd mit, umschwärmte Armgart mit seinen Huldigungen, begrüßte mit Vertraulichkeit und allen Beweisen seiner gewohnten Galanterie Lucinden, zeigte beim Brande, über den er kein Arg hatte, seinen Thateifer und kam auf Schloß Neuhof mit dem Schein einer völligen Unbefangenheit an … Er stellte sich, wie wenn der empfangene Auftrag ihm höchst lästig wäre und 250 er nur opponirte, um seinen Auftraggebern die unerläßliche Schuldigkeit zu thun …

Den Präsidenten brachten aber seine Aeußerungen über die Legitimität der zweiten Ehe seines Vaters in die leidenschaftlichste Erregung … Ueberhaupt hatte dieser die Relicten seines Vaters verwickelter gefunden, als er erwartete … Sein Ehrgefühl litt unter dem Ruf seines Namens schon lange und vollends gereizt war er über die Sprödigkeit, mit der man ihm und seiner Gattin hier entgegenkam … Bonaventura fand heute an seinem Stiefvater Gefallen … Fast betroffen war er von dem innigen Händedruck, mit dem ihn dieser begrüßt hatte … Die Anrede: Mein Sohn und Freund! war so aufrichtig betont, daß Bonaventura aufs lebendigste für ihn Partei ergriffen hätte, wäre ihm nicht – der Gedanke an Benno, der nun in wirkliche und nach seiner Ueberzeugung legitime Verwandtschaft mit ihm trat, zu bestimmend gewesen …

Terschka sagte auf die ganze Eröffnung des Onkels Dechanten mit einer spitzen und ironischen Betonung:

Ich bewundere den Muth dieser Geständnisse! Aber – die Ehe gilt …

Herr von Terschka! rief der Präsident voll äußersten Unwillens …

Gewöhnen Sie sich doch an diese Vorstellung! lächelte Terschka, Sie sollten Angiolina kennen lernen! Olympia in Rom –? Nein, da ist zu viel Kälte! Lucinde Schwarz hier –? Nein, da ist der Verstand zu zergliedernd … Ei, und ich versichere Sie, ich gönne es Angiolinen, zu erfahren, daß sie an Jahren älter ist, als wofür sie gilt …

251 Das Fräulein von Wittekind bezaubert ganz Wien durch ihre Reitkunst! Ich weiß es …

Es war nur die Schuld Ihres Vaters, daß das kaum geborene Kind, dessen Alter, wie man in solchen Lagen gewohnt ist, falsch angegeben wurde – unter –

Die Gaukler gerieth! ergänzte der Präsident. Ich werde Sorge tragen, daß an Angiolina Pötzl nachgeholt wird, was versäumt wurde! …

Thun Sie das nicht, Herr Präsident! erwiderte Terschka … Fräulein von Wittekind entbehrt nichts, als ihren legitimen Namen … Sonst ist ausreichend für sie gesorgt …

Am wenigsten gönnen Sie ihr doch wol eine solche Mutter, die man bei ihrem Erscheinen in Wien mit einem Proceß auf Bigamie begrüßen würde! …

Sie kennen die Herzogin von Amarillas? fragte jetzt Bonaventura, um den Eifer der Streitenden zu mildern …

Als ich in der römischen Armee diente, sah ich sie oft und ich gestehe Ihnen gern, die Gründe nicht zu begreifen, die man haben kann, eine hochgestellte Dame mit diesen Nachforschungen zu beunruhigen – …

Diese Gründe sollten Ihnen unbekannt sein? …

Vollkommen! sagte Terschka und stutzte über einen wie Hülfe suchenden Blick, den der Präsident auf den Provinzial warf …

Bonaventura ahnte von Seiten seines Stiefvaters einen noch heftigern Ausbruch der mühsam unterdrückten Stimmung und warf ihm einen bittenden Blick zu … Die Hauptangelegenheit, das Austauschen der vor Jahren 252 stattgehabten Vorgänge war ja beendet; das Aussprechen der Legitimität der zweiten Ehe hing von einer Entscheidung der römischen Gewissensräthe ab … Ihn zog es nun nach Westerhof zu Paula, die nach dem schreckhaften Erlebniß dieser Tage seines Zuspruchs bedurfte … Und Benno, Benno war auf dem Schloß … Benno hatte die mit Terschka verabredete nochmalige Revision des Archivs, die jetzt einer neuen Anordnung gleichkam, auf heute Nachmittag anberaumt … Wie bebte er dem ersten Gruße des Freundes – nun Bruders entgegen …

Da wir unter uns sind, lieber Sohn, begann aufs neue der Präsident, dem Bitteblick erwidernd und das „unter uns“ seltsam betonend, so will ich eine Vermuthung aussprechen. Ich gelte schon lange für keinen guten Katholiken …

Als hätte der Präsident das Erschrecken seiner lauschenden Gattin gesehen, verbesserte er:

Ich kenne wenigstens meinen Ruf … Die Regierung schenkte mir Vertrauen und ich habe als Patriot diesem Vertrauen zu entsprechen gesucht … Das Zeugniß kann ich mir geben, daß ich darum meine Religion ebenso liebe wie andere. Nur die Anmaßungen der römischen Curie zu beseitigen, lag in meiner amtlichen Stellung und auch hier verfuhr ich mit Ueberzeugung. Zum Kirchenfürsten ging ich, weil es meine Gattin wünschte. Ich habe ihm offen ins Auge sehen können. Wenn ich es nicht gethan haben sollte, war es, um einen Gebeugten nicht zu kränken. Wir gehören einem gemeinsamen Staate an, der die gegebenen Zustände schont, ohne sich den Verbesserungen zu verschließen. Wollte der Himmel, die 253 Nothwendigkeit der letztern würde nicht zu dringend! Verurtheilen Sie mich nicht, Herr Provinzial! Ich frage Sie – welch eine Institution ist allein schon unsere Beichte, die die geheimsten Athemzüge bis nach Rom vernehmen läßt! …

Ein Rauschen an der Wand verrieth den Schrecken der Gattin …

Erkennen Sie darin keinen Segen? erwiderte der Provinzial mit düster zusammengezogenen Augenbrauen …

Der Präsident beherrschte sich und fuhr fort:

Es ziemt mir nicht, Behauptungen auszusprechen, die ich nicht beweisen kann! So weit aber hat doch mein Amt mich in das innere Leben der Hierarchie einblicken lassen, daß ich vollkommen zu verstehen glaube, welche Zusammenhänge diesen Belästigungen meiner Ruhe und Ehre zum Grunde liegen. Sie glauben, ich würde nicht die Berechtigung der Herzogin von Amarillas, sich meine zweite Mutter zu nennen, anerkennen? Ich würde nicht meine Geschwister an mein Herz ziehen? Sie irren sich! Ich bin bereit dazu, wenn die Ehe wirklich nach bürgerlichen, allgemein gültigen, deutschen Gesetzen als richtig geschlossen gelten könnte. Sie kann dies aber nicht – und ich glaube nicht daran, daß auch irgend Jemand von den Betheiligten in Wahrheit interessirt ist, daß dies geschieht …

Nicht Angiolina, nicht Benno –? rief es in Bonaventura’s Innern …

Oder glauben Sie, Herr von Terschka, daß Sie Instructionen erhalten werden, noch eine gerichtliche Untersuchung über den Vorgang, den uns in so edler Offenheit der Dechant erzählt hat, in Angriff zu neh-254men? Grell aufgedeckt, aller Welt bekannt soll dieser Vorfall werden? Was schrieben Ihnen darüber – die Jesuiten? …

Terschka bot alle seine Verstellungskunst auf, um auf dies leicht hingeworfene, doch alle erschreckende Wort lächelnd wiederholen zu können:

Die Jesuiten! …

Die Jesuiten! bestätigte der Präsident. Sie sind kürzlich wiederhergestellt worden. Sie sind schon mächtig genug. Aber die Macht des Ordens ist ihm noch nicht die alte. Die übrigen Orden wuchsen inzwischen in zu großer Autorität für ihn empor. Von den frommen Vätern des heiligen Franciscus droht allerdings seinem Ehrgeiz wenig Gefahr. Ihr General, Herr Provinzial, wird den Einblick in die Beichte meines Vaters verweigert haben; aber doch sind Sie angewiesen, die Bemühungen des Herrn von Terschka zu unterstützen. Ich weiß das! Bestreiten Sie es nicht! Die Dominicaner hätten es nicht gethan. Sie würden Ihnen, Herr Provinzial, geschrieben haben: Lehnen Sie jeden Beistand zu Untersuchungen ab, die den Jesuiten gegenüber eine bei uns niedergelegte Beichte compromittiren könnten …

Herr Präsident! wallte der Provinzial auf und blickte auf Bonaventura, der ihm beistehen sollte …

Ich klage Sie ja nicht an, Herr Provinzial! fuhr der Präsident fort und strich sich seine dünnen grauen Haare, als hätte er das Gefühl, wie sie sich unter seiner zunehmenden Erregung aufsträubten … Ich sage nicht, daß Sie heute überhaupt schon zu Herrn von 255 Terschka’s Beginnen ein Ja oder ein Nein verriethen. Sie ließen ihn einfach gewähren. Ich will Ihnen aber nur Eines sagen, was Sie überraschen soll … In tiefstem Frieden über alles, was uns hier beunruhigt, lebt in Rom die Herzogin von Amarillas … Ohne Sorge rüstet die hochgestellte Frau sich zu einer Reise nach Wien … Cardinal Ceccone hat sich seit Jahren an sie und ihren Umgang gewöhnt – Olympia, seine – Nichte – Sie kennen ja die Sage über Olympia – beherrscht die römische Welt und beherrscht ihn und die Herzogin – Ceccone, wie uns Männern vom Regiment wol auf unsere alten Tage geschieht, ist der Inquisitionen und Dolche müde. Er hat das Seinige für die dreifache Krone gethan. Aus Furcht ist er sogar – Affiliirter der Jesuiten geworden – Und doch, doch thut er dem Orden nicht genug … Ceccone schließt Concordate, bekämpft die Revolution, bereichert den Index der verbotenen Bücher, verdammt Philosophieen und Glaubenssysteme, selbst die, die der Mutter Kirche ergeben sind, Ceccone läßt Donner und Blitz vom Vatican selbst über die neuen Eisenbahnen rollen – dem General der Jesuiten ist alles das noch nicht genug. Man erwartet, daß Ceccone nach Wien geht. Die Diplomatie und Staatskunst wollen den Frieden der Kirche mit unserm Lande vermitteln. Aber die Jesuiten nehmen diesen Augenblick wahr. Ihnen scheint er für Deutschland, für Europa entscheidend. Jetzt oder erst in einem Jahrhundert! So wollen sie den letzten Rest von Selbständigkeit, den sich der Heilige Vater noch durch seine nächsten Organe erhält, vernichten … Nur den Befehlen 256 des Al Gesù soll er folgen … Nur eine Politik, eine Diplomatie nach kirchlicher Autorität vertreten … Erst sollen Priester, Mönche, Bischöfe sprechen, dann Staatskanzler … So stechen sie jetzt dem Cardinal, einem alten Richter und Advocaten allerdings voller Weltlichkeit, in die Ferse durch die Drohung: Die Frau, ohne die du nicht sein kannst, die Frau, die der Deckmantel deiner zärtlichsten Fürsorge für Olympia ist, verfällt einem Schicksal, das sie und Olympia und dich selbst an den Pranger stellt; sie war die Gattin zweier zu gleicher Zeit lebender Männer! Wozu würde sich nicht Ceccone entschließen, wenn er solche Gefahren von seiner Ehre, von der Ehre der Frauen, die er schätzt und liebt, abwenden muß! Welche Dispense sind da nicht nöthig, um solche Verbrechen zu sühnen! Welche Schwierigkeiten vor demjenigen Theil des geistlichen Ministeriums in Rom, der sich mit den Herzens- und Heirathssachen von hundertunddreißig Millionen Kindern der Kirche beschäftigt! Erkennen Sie nun die Möglichkeit, wie zuletzt dem Staat über solche Intriguen die Geduld reißt! … Ich nehme von dem nichts zurück, was ich für die Freiheit der gemischten Ehen gethan habe …

Das Rücken des Stuhls, auf dem der Provinzial saß, übertönte ein fortgesetztes Rascheln, das an der Wand hörbar wurde und immer noch Niemanden auffiel … selbst nicht dem Präsidenten, der es ausdrücklich hören sollte …

Wie ergriff jedes dieser Worte Bonaventura im Hinblick auf die Empfindungen, die – darüber eben auch – seine Mutter hätte hegen müssen …

Terschka wagte nicht zu widersprechen … Vollkom-257men von der Wahrheit dieser Enthüllungen überzeugt, sah er im Geist wieder seinen löwenmuthigen General, hörte die vor Jahren in Rom erhaltenen Anreden, sah den Feldherrnblick, der im Al Gesù das Nächste und Entfernteste vom kleinsten Menschen- bis zum größten Staatenschicksal zu benutzen versteht …

Wohlan, fuhr der Präsident fort, ich bin beruhigt, wenn mir Herr von Terschka sein Ehrenwort gibt, vorläufig nichts weiter in dieser Sache zu thun, nicht in Witoborn oder sonst auf den Archiven verdächtigende Nachforschungen anzustellen, sondern vorläufig nach Wien oder – Rom hin zu berichten, daß dieser Handel von unsern Auffassungen und Gesetzen abgemacht und die Herzogin von Amarillas nicht die Frau von Wittekind ist …

Was nur lähmte Terschka die ihm sonst so geläufige Zunge und ließ ihn über die scharfe Betonung des Wortes: „Sein Ehrenwort“ erschrecken? …

Der Präsident sagte noch einmal: Geben Sie Ihr Ehrenwort! …

Terschka schwieg …

Ihr Ehrenwort! Als Cavalier! …

Als Terschka auch jetzt noch sinnend niederblickte und schwieg, sprach der Präsident mit ergrimmter leiser Stimme:

Ich vergesse – – Herrn von Terschka bindet an die Obern das Gelübde des Gehorsams! …

Die Wirkung dieser Worte war mächtig …

Der Präsident erhob sich; alle andern blieben sitzen wie gelähmt … Terschka bleich mit halbgeöffne-258tem Munde … Der Provinzial mit hoch aufgezogenen Augenbrauen … Bonaventura mit einer Ahnung, die im Hinblick auf – den ketzerischen Grafen Hugo im Nu – die volle Wahrheit erkannte …

Nehmen wir ein Frühstück, meine Herren! sprach im Gefühl seines wenigstens jetzt unwiderlegbaren Triumphes der Präsident und wollte, scheinbar unbefangen, vorangehen, um die Thür zu öffnen …

Die drei Priester waren zwar auch aufgestanden, blieben aber noch immer wie erstarrt stehen … Kein Wort kam von ihren Lippen … Das Wort des Präsidenten konnte für einen Scherz gelten – aber man erkannte zu deutlich – der Falsche, Abtrünnige, der „Segestes“, wie ihn sein Vater genannt hatte, war zu diesem Kampf wohlgerüstet erschienen …

Um die Vernichtung Terschka’s, der, mit tausend Dolchen durchbohrt, sich am Stuhl zu halten suchte, zu mehren, ging der Präsident in leichtem, scherzendem Ton zu den Worten über:

Will Graf Hugo seine Güter hier selbst antreten, so würde er allerdings gut thun, sich erst in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zu begeben und Sie – Herr Pater Stanislaus, werden schon dafür sorgen …

Ein Einspruch gegen diese Worte, die nur wie ein ironischer Scherz fielen, war nicht möglich; denn schon hatte der Präsident geklingelt, schon traten Diener ein. Nicht lange, so erschien Frau von Wittekind. Man setzte sich zu Tisch. Der Präsident entwickelte eine Heiterkeit, eine Fülle von Kenntnissen, die ihn scheinbar zum Sieger über seine Gegner machte, trotzdem, daß er ahnte, wie 259 ohne Zweifel mit der Zeit zwei legitime Geschwister sich ihm zur Seite stellen würden …

Bonaventura brach früher als die andern auf …

Wie hätte er mit Terschka noch länger allein sein können …! Wie noch länger den Blick ertragen mögen, der in Terschka’s Augen der der tiefsten Vernichtung war! …

Welche Enthüllungen! … Terschka ein Jesuit! … Abgesandt zur Convertirung des Grafen Hugo! … Und mit welchen Mitteln sollte er ihn bekehren … Mit welcher Kunst der Verstellung! … Bonaventura’s Erschaudern über Rom konnte bei der einen Thatsache nicht verweilen, denn schon die andere verdrängte sie … Sah er auch im katholischen Sakrament der Ehe, das abweichend von den sechs andern, sich ohne den Priester, rein nur durch die Liebe vollzog, wieder seine vollen schönen großen Rosen in den Münstern glühen, was sollte er – mit Benno beginnen? … Sollte er ihn lind und sanft auf seine Jugendtage zurückführen? Auf einen Kronsyndikus als Vater! Auf eine in Rom unter Verhältnissen, die sich aller klaren Beurtheilung entzogen, lebende Mutter! Auf eine Schwester in zweideutiger Lebensstellung … Benno war, jetzt begriff er es ganz, älter, als man geglaubt … Wie auch anders konnte Benno in seinen Erinnerungen das Bild einer schönen Frau haben, die aus einer prächtigen Kutsche stieg und ihn so oft voll Schmerz und Liebe betrachtete! … Wer konnte dies anders gewesen sein, als die Frau, die eine rechtmäßige Geburt verbergen mußte und sicher den erlebten Betrug erst spät ahnte … Als sie in die allgemeine Flucht des westfälischen 260 Hofes gerissen wurde, blieb ihr kaum darüber ein Zweifel … Da sie die tiefere Kenntniß der ihr beistehenden Kirchenlehre nicht besaß, ergriff sie Furcht, Haß, Scham, sodaß sie nichts mehr vom Vergangenen besitzen mochte und in ein neues Lebensverhältniß trat, leichtsinnig genug vielleicht … Erst hatte Max von Asselyn, der aus Spanien zurückkam, Benno als seinen Sohn mitgebracht, dann erzogen ihn die Hedemanns, dann kam er in die Dechanei … Alles das war verabredet um des Dechanten willen, dessen Existenz von einer plötzlich streng gewordenen Censur abhing. Ein Zug der Natur war es, daß sich Benno so eifrig die Sprache seiner Mutter aneignete und oft Bonaventura selbst anfeuerte, sich in ihr zu vervollkommnen … Und neben Angiolina – neben einer zweiten Lucinde, neben einer in gewissem Sinne zweiten Rivalin Paula’s – Graf Hugo liebte sie – dann noch Lucinde selbst … Zuletzt hafteten alle seine Gedanken nur noch allein an dieser … Gefolgt war sie ihm aufs neue … Ewig sie sein Schatten! … Auf Schloß Münnichhof, unter dem Schutze einer Frau von Sicking, wagte sie zu erscheinen … Nichts fürchtete sie von Klingsohr, nichts von allem, was Bonaventura über ihr Leben aus ihrer unvergeßlichen Beichte wußte … Es durchbebte ihn, gedachte er dieser Fessel seines ganzen Lebens … Das war sie und das blieb sie und – zum Hasse, zum glühenden Hasse Lucindens konnte er sich nicht einmal erheben … Nur fliehen mußte er sie … Wer weiß, ob sie nicht rücksichtslos auf Schloß Westerhof erschien, Paula sich vorstellte und die Schmerzen, die sonst die Leidende in ihrer 261 Nähe fühlte, erneuerte … Wie er im verschlossenen Wagen seines Stiefvaters dahinfuhr zur Ebene nieder, da war es ihm doch, als müßte Lucinde ihm nachfliegen, umschwärmt von Raben, mit einem Zauberstab auf die Brandstätte deutend als den Anfang all des Unheils, das sie ihm vorausgesagt hatte …

Indessen – auf den Feldern lag ein so milder Sonnenschein … Der Frühling fing an sich so mächtig zu regen … Die Wälder in der Ferne hatten in einer Nacht einen Schein bekommen, als trieben die Bäume schon ihre verjüngenden Säfte … Heller, hoher Mittag war es … In der Ebene mußte er den Schlag öffnen, um ganz die Sonne hereinzulassen …

Und wenn es ihm allmählich wurde, als müßte schon die Lerche seines Frühlingsliedes steigen, so war es, weil sich zuletzt doch siegreich nur noch allein Paula’s Bild in milder Anmuth auf sein inneres Auge senkte … Das Gewitter in ihm verrollte … Nur noch einzelne Schläge, nur noch das Zucken seines Auges vor einem letzten Leuchten des Blitzes – dann zogen die drohenden Geister der Luft immer ferner dahin … Auch der innere Himmel blaute wieder und all sein Leben ruhte im Blick hinüber auf Westerhof …

Dennoch, dennoch klagten die innern Melodieen:

Muß ich es ewig sehn! In deine Locken
Flicht doch dereinst den Kranz die fremde Hand!
Der Myrte silberweiße Blütenflocken –
Doch schimmern sie dir einst aus fernem Land!
Unsterblich Loos, an Sterbliche gegeben,
Dich zu umfangen für ein ganzes Leben!
262 O lächle nicht zu hold! Du kannst nicht wissen,
Wie Lächeln wird zu Hoffnungsdämmerschein!
Wie sich das Licht entringt den Finsternissen
Und hüllt die Welt in Rosenwolken ein!
Du ahnst es nicht, wie deinem Zauberworte
Zu sel’gen Träumen sich erschließt die Pforte!
Es kann nicht sein! Es soll nur still verhallen!
Wie Zephyrhauch am holden Frühlingstag!
Wie in dem Strom die stillen Tropfen wallen!
Nur wie die Knospe bricht im Rosenhag! …
Und rief’s die Welt im Chor – Dennoch entsage!
Spräch’ immer nur des Echos leise Klage – –

In Witoborn wurde Bonaventura von dem alten Meßner Tübbicke angehalten … Dieser bat ihn aufs dringendste, erst nach Sanct-Libori zu fahren, wo Norbert Müllenhoff plötzlich erkrankt war und das Bett hütete … Eben entbot er ihm einen Vicar und vielleicht, bat er, hätte der Domherr auch die Freundlichkeit, den Pfarrherrn in seinen Functionen zu unterstützen … Beichten, Messen, alles würde in Stocken gerathen, wenn die Krankheit andauerte …

Bonaventura mußte den Umweg über Sanct-Libori nehmen … Sonntag war vor der Thür, aber nichts erschreckte ihn mehr, als die Aussicht auf Beichthören … Er billigte als Aushülfe einen Vicar aus dem Seminar – aus demselben, aus dem einst Leo Perl gekommen …

An der Besitzung der Frau von Sicking brauchte er jetzt nicht, wie er gefürchtet, vorüberzufahren …

Den Pfarrer fand er in der That im Fieber … Müllenhoff behauptete, sich beim Brand erkältet und 263 über das Fräulein Benigna von Ubbelohde geärgert zu haben … In Wahrheit aber waren nur die beiden Wiegen, die vor seiner Thür gestanden hatten, der Anlaß seiner Krankheit … Wie der Gensdarm von der Schmeling zurückgekommen war und den ganzen Hausstand derselben geschildert hatte, auch die Anwesenheit des verunglückten Dieners auf Westerhof, auch die der Finkenhofer Lene und ihrer Umstände, da legte er sich ins Bett …

Der Geschäfte gab es für den Eiferer so viele … Gerade war der Kirchenconvent gekommen … Er kam, um Strafen zu verhängen, um die neue Tanzordnung für den Finkenhof zu ordnen, um den Jünglings- und Jungfrauenbund für die Ostern einzuleiten … Bonaventura mußte alle diese Neuerungen auf einen andern Tag verschieben … Müllenhoff, wie sich bei einer so markigen und kernhaften Natur erwarten ließ, wand sich in ungeberdiger Ungeduld auf dem Lager. Vor Aufregung und Erhitzung durch den Thee, den ihm die Kathrein zu trinken gab, sah er wie zum Schlag treffen aus …

Bonaventura sprach ihm zur Beruhigung … Besaß doch auch nur er diesen sanften Ton, der Herder’s Behauptung widerlegen müßte, daß die Sprache von den Menschen erfunden ist … Diesen Ton, der tröstend zu den Leidenden spricht, der wie ein Balsamhauch über brennende Wunden fährt; den nicht die Zunge, den das Herz selbst einsetzt und gerade so einsetzt, wie der Schmerz seine Klage … Diesen allein tröstenden Ton, den ein Arzt hat, wenn er, ein weiser 264 Heilkünstler, in das Zimmer eines Kranken tritt … den ein Vater hat, wenn er ein Kind an sein Herz zieht und es ermuntert nur ihm, ihm allein seine jungen Leiden anzuvertrauen, ihm allein die Erstlinge seiner Schmerzen zu opfern … Müllenhoff meinte zaghaft: Ich möchte Ihnen wol beichten! …

Bonaventura hielt dies Wort für ein Zeichen der Todeserwartung, für ein Begehren, schon die Sterbesakramente zu empfangen … Er bat den excentrischen Mann, sich nicht aufzuregen … So unterblieb das Abschütteln einer, wie es schien, drückenden Last …

Ein normirtes Vespergebet mußte Bonaventura im Stift Heiligenkreuz halten … Das war unerläßlich; — wer zählt die religiösen Pflichten, die sich an die Altäre der alleinseligmachenden Kirche auf Stunde und Minute knüpfen! … Kein Gotteshaus, und wär’ es noch so klein, es hat seine Ordnung und seine bestimmten Tage, die nur ihm allein angehören … Geburtstage im Kalender der Heiligen (die Geburt eines Heiligen ist sein Tod) gibt es mehr, als Tage im Jahre … So reicht die Zeit kaum aus für die Reihe der Zeugen und Bekenner, deren Gedächtniß die Kirche feiert … Jede Diöcese besitzt ein Programm seines Kirchenjahrs, so festgeordnet auf Ort und Minute, wie die Astronomie die Constellation der Gestirne bestimmt …

Der Wittekind’sche Wagen blieb zu Bonaventura’s Verfügung … Er fuhr damit nach Heiligenkreuz und hielt das Vespergebet zu nicht geringer Ueberraschung der Stiftsdamen … Gib Acht, du kommst nach Wester-265hof und triffst schon Lucinden! … Dieser Gedanke verfolgte ihn … Lange aber hatte ihm eine einfache kirchliche Function nicht so wohlgethan, wie heute nach allen Aufregungen dies stille Murmelgebet in der kleinen dunkeln Kapelle des Stifts …

Und das hätte dann allerdings den Damen behagt, wenn Bonaventura ihnen Beicht abgenommen … Sie hätten sämmtlich ihren gewöhnlichen Arzt, Müllenhoff, sofort aufgegeben und dem neuen von sich weit, weit mehr, als nur Fastengebotverstöße eingestanden … Wie „bedeutend“ hätte sich jede in ihren Zweifeln und Beunruhigungen hingestellt! … Fräulein von Merwig, die „Anflickerin“, hätte ihren starken Geist gedemüthigt und ein Mittel gegen den Ehrgeiz begehrt, nur um zu verrathen, daß es Dinge gab, worauf sie ehrgeizig sein konnte … Fräulein von Absam hätte „Neid“ in der Brust gehabt und damit verrathen, worauf ihre geheimen Sehnsuchten gingen … Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, eines der jüngern Mitglieder, erst im Anfang der vierziger, hätte vielleicht eine Indiscretion gebeichtet, die beinahe wie eine Rache herauskam. Sie war eine Verwandte der Schwester Scholastika, Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien. Aber die Tüngel-Heides und die Tüngel-Appelhülsens wichen voneinander ab wie Tag und Nacht. Unbekannt mit diesem Unterschied ging Monika jene Portiuncula unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, ob sie nicht bei ihr mit fremdem Namen absteigen und in Armgart’s Nähe einige Tage leben und sich ihrer Nachbarschaft einwohnen könnte, ohne daß sie es wisse. Und auf diesen Brief hatte das Fräulein geant-266wortet, ganz so steif, ganz so beschränkt, wie ihrem Charakter entsprach. Monika hatte diesen Brief nicht vertrauenerweckend gefunden und nur noch kurzweg um Entschuldigung gebeten und ihre Hülfe abgelehnt. Aber – dumme Menschen sind immer gefährlich und gerade die klugen Leute machen dann auch noch gerade die dummsten Streiche. Portiuncula hatte sich, aus Rache für diese Ablehnung, gestern Abend in ihrer ganzen Glorie gezeigt … Zu Armgart, die seit dem Brand in Westerhof blieb, hatte sie unter Kichern und zweideutigen Anspielungen, ganz im Geist des Stiftes, gesagt: „Na ja, Fräulein von Hülleshoven, jetzt kann ich Ihnen doch sagen, Ihre Frau Mama ist schon in Eschede! Sie wohnt bei Schönians. Die Müllern, die Angelika steckt sogar von Paris aus dahinter! Ja, und von da geht sie noch heute zur Frau von Sicking, und denken Sie! wer wird sie da eingeführt haben? Niemand anders, glaub’ ich doch, als die Person, die mir mein ganzes Lebensglück ruinirt hat, Sie wissen ja – die Schwarzin! O, ich könnte in Neuhof die Erbin so gut sein wie andere! Aber, wenn Sie morgen Abend beim Thee in Westerhof sitzen, da passen Sie mal auf, dann ist die Mutter da und hält Ihnen die Augen zu! Sie hat sich mit Benigna hinter Ihrem Rücken ausgesöhnt! Und wollen Sie von Ihrem Vater hören, so müssen Sie – aber verrathen Sie mich nicht – zu Hedemann nach Witoborn! Lassen Sie doch Ihren Herrn von Terschka da anfragen – Freilich – bei Hedemann wohnen Herr von Asselyn und Herr de Jonge … Ei – Sie Kleine, Sie fangen ja schon früh an! – – “ Und nun kam alles so heraus, wie 267 es ist in der Welt, wenn der Mensch sich einbildet, sein Leben und sein Handeln wäre nur für ihn allein da; alle wissen davon und oft mehr, als wir …

Diese Beichten blieben jedoch aus …

Es war schon Abend, als Bonaventura in Westerhof eintraf …

Er fand das Schloß in eigenthümlicher Bewegung … Im Vorhause hörte er aufs lebhafteste sprechen … Die Diener standen in Gruppen … Fast übersah man das Anfahren seines Wagens …

Er achtete wenig darauf, da er sich schon erleichtert fühlte, nur kein Anzeichen zu sehen, das auf eine etwaige Anwesenheit von Besuch und wol gar Lucindens schließen ließ …

Herr Domherr! hieß es. Bisjetzt haben Herr von Asselyn auf Sie gewartet und Herr de Jonge … Beide empfahlen sich zur Rückreise und hätten Sie gern noch einmal gesprochen …

Benno schon zurück? …

Bonaventura hoffte, daß er ihn und Thiebold morgen noch in der Stadt fand …

Ueber Terschka erfuhr er, daß in der That dieser und Benno, Thiebold und der Onkel, wie sie gewollt, am Nachmittag das Archiv geordnet hatten …

Vom Hof aus leuchteten die Laternen, die, um Unglücksfällen vorzubeugen, die düstere Brandstätte erhellten …

Klingeln erschallten von da und dort …

Ist Paula – doch nicht – krank? dachte er bangend 268 und wagte nicht zu fragen, ob dies Klingeln und Laufen der Gräfin gälte –

Die Herrschaften sind alle oben! hieß es ungefragt … Und Herr von Terschka kleidet sich um … Und auch Herr von Hülleshoven …

Wozu umkleiden? dachte er …

Eine Kammerjungfer des Hauses eilte an ihm vorüber, blieb stehen und sagte:

Herr Domherr – Sie wissen doch schon? –

Sein Blick deutete das Gegentheil an …

Das Document – die langgesuchte Urkunde –

Eine Klingel zwang die Sprecherin, in Eile abzubrechen …

Bonaventura blieb wie mit einem Riß durch sein Herz … Indem stand ihm plötzlich Onkel Levinus zur Seite …

Da sind Sie! Nun, Domherr, sprachen Sie schon Ihren Vetter Benno? …

Was ist? …

Sie hörten doch? Die Urkunde ist gefunden! Beim Räumen des Archivs! Sehen Sie, so hab’ ich mich umkleiden müssen! Vor Ruß und Brandgeruch! Auch Herr von Terschka! Ein Wunder ist’s! Staunen Sie nur! Unbegreiflich! Aber Sie wissen doch, die Urkunde, der zufolge Graf Hugo nicht erben soll, wenn nicht die Religion stimmt! Paula bleibt die Erbin! Darüber ist jetzt kein Zweifel …

Bei allen Heiligen –

Wunderbar! Aber kommen Sie! Sehen Sie das 269 Document! Wir fanden es mitten unter den geretteten Papieren …

Schon stand Bonaventura in der geöffneten Thür des großen Vorsaals … am Weihwasserbecken … Besinnung hatte er nicht, sich zu benetzen … Die Gruppe, die sich seinen Augen bot, ließ auch nichts anderes aufkommen, als zunächst den Gedanken: Paula stirbt! …

Beleuchtet von Kerzen, die Diener und einige Mädchen in die Höhe hielten, stand Paula mit einer Pergamentrolle in den Händen, leichenblaß, wachsfarben, wie ein Cherub des Himmels und wie schwebend im Chor der Seligen … Armgart, zu ihr aufsehend, hielt sie in Andacht und Schrecken … Die Tante Benigna hielt sie ebenso mit ihrer Rechten … Paula las zwar, aber ihr Auge stand starr und wie gebrochen … Die Worte: „Vorbehaltlich daß die jüngere Linie meinem Beispiel folgt und bis dahin in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt ist“ standen wie mit Geisterhand auf ihrer Stirn zu lesen … Onkel Levinus sprach diese Worte … Und nun trat Bonaventura ein … Da erlosch Paula’s Auge ganz … Ihre Kniee wankten … Mit einem Hauch des Schreckens verging ihr die Kraft, sich zu halten … Ohne Bewußtsein lag sie in den Armen der Hinzuspringenden, die sie nebenan auf ein Sopha trugen …

Wie mit Donnerton wollte Bonaventura rufen: Aber die Urkunde ist ja falsch! … Doch auch ihn entwaffnete der Anblick derselben. Er kannte so viele solcher alten Urkunden. Diese trug die Spuren ihrer 270 Echtheit unverkennbar … Das Pergament war zermürbt, mannichfach zerbrochen, altersbraun … Die Buchstaben der Handschrift im steifen Kanzleigeschmack der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege … Während Paula nebenan ins grüne Zimmer getragen wurde, erzählte der Onkel die Art des Fundes, die Ueberraschung Benno’s, die Zweifel Thiebold’s, seine eigenen Untersuchungen …

Aber Terschka? fragte Bonaventura außer sich …

Betroffen – natürlich – erschüttert – Es ändert sich vieles – wenn nicht – …

Alles! rief Bonaventura …

Der Onkel bestätigte dies … Sonst hörte er nichts und sah nichts, als die wahrscheinliche Geschichte der Urkunde … Er bewies an den Brüchen des Documents, wie dasselbe zwei Jahrhunderte lang an der hintern Wand eines Schubfachs hätte müssen eingeklemmt gewesen sein … Er hatte das Siegel der Dorstes nie in so richtiger Prägung gesehen … Drei Sterne fand er wieder, die gerade Maximilian von Dorste zuerst in das Wappen des Hauses einführte … Er bewunderte die damalige Schreibart einiger Dorfschaften, die zu den gräflichen Gütern gehörten … Längst von ihm geahnte Ursprünge derselben sah er jetzt bewiesen …

Paula blieb inzwischen auf dem Sopha; Armgart kniete vor ihr und barg thränenvoll ihr Haupt …

Tante Benigna sagte halb bangend, halb von ihrem Standpunkt schon freudestrahlend:

Eine große Wendung! Paula – die Herrin des Ganzen! Das steht nun fest und bleibt unwiderruflich …

271 Und auf ein Wort, das sie eben von den Rücksichten der Etikette beginnen wollte, trat Terschka ein, in schwarzen Kleidern, in völlig veränderter Haltung gegen sonst, bleich wie der Tod …

Die Augen Bonaventura’s wagte er nicht auszuhalten …

Er verbeugte sich und blinzelte auf alle Umstehenden von der Seite, während er aufs neue die Urkunde ergriff …

Wie oft hatte man sich aus Wien bereit erklärt, sich ihr unterwerfen zu wollen, falls sie gefunden werden könnte und überhaupt je ausgestellt wäre … Es handelte sich um eine veränderte Stellung aller der Fragen, die bisher Nück vertreten hatte. Es handelte sich um die weitere Erbfolge, die eine völlig verschiedene wurde, wenn sie von Paula als Herrin ausging, als wenn von der jüngern Linie. Blieb Paula die Besitzerin, so hatte auch die weibliche Linie der Dorstes Erbrechte und da ergab sich auf diese Art nicht nur der berechtigtste Antheil drüben in der Person des Präsidenten auf Neuhof, durch diesen in Bonaventura selbst, sondern auch für viele entfernter wohnende Angehörende … Gerade von dieser Seite aus war schon lange und besonders durch den Kronsyndikus wie eine felsenfeste Nothwendigkeit die Convenienzregel hingestellt worden, daß, wenn Graf Hugo nicht mit dem Erwerb dieser großen Güter, weil er nicht katholisch wäre, durchdränge, doch Gräfin Paula dann seine Hand annehmen müßte, um ihn und die jüngere Linie von ihrem tiefen Verfall emporzubringen … Ein solcher Receß, wie er nun jetzt eintrat, 272 gestattete Paula nicht die freie Disposition über ihr Eigenthum; Vettern und Muhmen und Kirche und Landschaft nahmen an den Pacten einer Ehe theil und legten die mannichfachsten Beschränkungen der vollen Besitzergreifung auch für Paula auf … Paula, die darum aber doch die reiche Erbin blieb und höchstens aus freiem Willen, aus Hinopferung ihrer Hand etwas für die jüngere Linie thun konnte – für den Grafen Hugo, den Lutheraner, den Freund Angiolina’s – den Freund des Freifräuleins von Wittekind, der Schwester Benno’s! – Paula erhielt an die Freiheit ihres Willens Berufungen, denen wenigstens jetzt ihre Kraft nicht gewachsen war … Alles das übersah Bonaventura voll Schrecken und Wehmuth …

Terschka erklärte mit scheinbarer Ruhe und mit einer den Onkel und die Tante wohlthuend berührenden Mäßigung nur seine Ueberraschung zu diesem Schicksalsschlage … Seinen unbedingten Glauben an die Urkunde verweigerte er nicht …

Er erwähnte die Anstalten, die er getroffen hätte, sofort durch einen Courier nach Wien die neue Wendung wissen zu lassen, die man jedenfalls – er verbeugte sich gegen Paula – hoch in Ehren zu halten hätte …

In seinem Innern kämpften die Entschließungen, die er fassen sollte … Seine irrenden Augen suchten Armgart, die die ihrigen verbarg …

Die Beichtworte, die Bonaventura von Hammaker und Bickert gehört hatte, lauteten auf „Feuersbrunst“ und „falsche Urkunde“ … Ein Wie? ein Wo? und Wann? hatte er von keinem von beiden erfahren können 273 … Vielleicht hatte er in der That diese beiden Geständnisse in eine zu rasche Verbindung gebracht mit den Scherzreden Benno’s bei jenem Abendspaziergang am Ufer des Stroms, die gelautet hatten: „Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt heimisch“ … Konnte er auch eine Wendung, die zunächst eine scheinbare Glückswendung für Paula war, so ohne weiteres auf diesen seinen Verdacht hin als ein Werk des Betrugs erklären? … Wie er Terschka lesen und lesen sah, kam ihm sogar der Gedanke: Hat wol gar, in falscher Freundschaft für den Grafen Hugo, ein Jesuit dies Verbrechen gefördert – fördern müssen – in majorem Dei gloriam? … Reißt man Paula mit Gewalt zu dem Mann hinüber, den sie in den Schoos der Kirche führen soll und – führen wird! … Sicherte man sich in Rom zwei Magnete zur Bekehrung: Paula – und Angiolina? …

Paula erholte sich und ihr Auge suchte Bonaventura. Sie wollte den Rath der geliebten Stimme hören …

Den Rath – des entmannten Abälard – an Heloisen …

Die Aufregungen des Onkels, der Tante dauerten fort …

Benno, der bisjetzt kaum von der Tante genannt wurde, erhielt plötzlich von ihr die höchste Anerkennung und Thiebold de Jonge verschwand. Eine Neigung zum Skepticismus, die Thiebold beim Anblick des wunderbaren Fundes und beim dadurch bedingten Rückgängigwerden seines Waldankaufs verrathen hatte, verdächtigte ihr Thiebold’s Gemüth, sogar seine Grundsätze … 274 Die Tante sprach kein Bedauern aus, daß der junge sonst so liebenswürdige Herr von Jonge heute und nun für immer fehlte …

Bonaventura verließ endlich das Schloß, dessen Bewohner sich nicht sammeln konnten …

Terschka schien zögernd mit ihm sprechen zu wollen … Er entriß sich ihm voll Grauen …

Wie die Nebel um ihn her aufstiegen, wie rings alles in ein undurchdringliches Dunkel sich hüllte, so umnachtet in seiner Seele schritt er dahin und fast den Weg verfehlend …

Erst die Glocken von Sanct-Libori wiesen ihm die rechte Straße … Sie läuteten schon seit einigen Tagen auf die kommende Fasten-, Leidens- und Osterzeit …

Aber in seinem immer tiefer und schwerer belasteten Innern griff das Kirchenjahr schon weiter hinaus – schon zum Tag der Verklärung und der Himmelfahrt:

Ostern! Ostern! Dein Erwachen
Führt nur himmelwärts den Nachen
Aufwärts aus der Erde Noth! –
Ach, zu tödlich ist der Tod! – –
Wer entronnen seiner Truhe,
Sucht auf Erden nicht mehr Ruhe.

275 22.#

Von der Etikette hatte die Tante zu Terschka gesprochen … Etikette – das ist so ein Wort, das uns in Armgart’s Welt zurückführt …

Etikette war ihr von allen Erb- und Erbsketten schon von frühster Kindheitserinnerung an eine der härtesten und grausamsten – Auch im Stift wurde noch jetzt der Vorwurf des Mangels an Etikette nie anders ausgesprochen als mit jener Geringschätzung etwa, die den Mangel an sechszehn Ahnen begleitete …

Wer das Geheimniß der Liebe in einer reinen, eben vom Kind zur Jungfrau erblühten Natur beobachtet hat, weiß es, daß sich die älteste aller Weltbegebenheiten im Mädchenherzen immer wie das Allerneueste wiederholt. Jede liebende Seele glaubt die Liebe zuerst erfunden zu haben …

Die Tradition ist dann allerdings mächtig. Es gibt sechszehnjährige Oberflächlichkeiten genug, die die angeborne Nichtsbedeutung durch das schnellste Annehmen aller über Welt, Leben, auch die Liebe überlieferten Begriffe kund geben und ebenso basenhaft von der Liebe fühlen und sprechen, wie jede ihrer Tanten …

276 Doch fehlen auch Erscheinungen nicht, die, wie die Schnecke ihr eigenes Haus, so sich ihre eigene Welt aus ihrem Innersten erbauen … Erscheinungen, die erst lange, oft nach den gefahrvollsten, ja das eigene Leben bedrohenden Umwegen auf euere gemeinplätzlichen Entweder-Oders, euere „Liebe oder Haß“, euer „Wille oder Zwang“, euere „Natur oder Unnatur“ ankommen, Gegensätze, die nun einmal die geltenden sind. Sie kommen dahin oft an erst mit gebrochenem Herzen, geknicktem Genius, für immer verbrauchter Lebenskraft …

Weiß denn wol Armgart, was die Liebe ist? …

Sie sollte es doch wol empfunden haben, wie es thut, im Arm eines Mannes zu ruhen, der von glühender Neigung ergriffen ist … Sie sollte es doch wol wissen von damals, als sie vom Hüneneck herabstürmte und in Benno’s Arme sank, der sie auffing und so lange hielt, bis sie wieder den verlorenen Athem gefunden … Sie sollte Thiebold’s „Schmachten“ verstanden haben und aus der Pension vollkommen wissen, wonach sich schon so früh Tausende von jungen Mädchenherzen sehnen …

Aber sie hatte nun eben nicht den Trieb, immer allein in sich selbst zu verharren … Schon als Kind lebte sie nur für andere – sie lebte für Paula, die sie bediente, der sie half, die sie vertheidigte, so klein sie war. Der Freundin war sie ein Bannerträger, wenn auch nur gegen Sonnenstrahl und Regen … Und die Tante ließ das Gefühl, daß sie auch selbst etwas war, niemals bei ihr aufkommen … Sie wuchs auf unter Anklagen, daß sie, wie sie’s nannte, überhaupt nur in der Welt wäre … Bettina liebte als Kind den 277 schon bejahrten Goethe deshalb, weil sie in Frankfurt nur von ihm hören konnte: Der kalte, herzlose, unpatriotische, fürstendienerische Egoist! … Armgart hörte ebenso nichts, als daß sie einen herzlosen Vater, eine herzlose Mutter hätte … Sie hörte, daß sie eigentlich ein Leben führte, das eine Beschämung der Verwandtschaft wäre … Sie wäre ein Wildling … Sie sollte nur sorgen, daß man sich nicht auch noch ihrer schämen müsse … Dem alten Grafen Joseph war sie in der That selten bequem … Geduldet wurde sie in Westerhof nur durch ein stetes Gemeistert- und Gestraftwerden … Paula schützte sie, soweit Paula Kraft und Willen hatte … Aber mit träumerischem Herzen ging Armgart doch im Schloß wie in der Fremde und mistraute jeder Huldigung, jedem Schmeichelworte, das ihr wurde … Bettina fand einen einzigen Freund des verketzerten Goethe, die alte Mutter des Dichters … Mit der „schwärmte“ sie für ihn … Mit der erfand sie sich eine Idealgestalt und hielt die fest … Auch Armgart saß so auf einem Fußschemel und legte den Kopf in den Schoos einer einzigen theilnehmenden Seele und malte sich den Vater und die Mutter entgegengesetzt alledem aus, was ihr täglich von ihnen gesagt wurde … Nur konnte Paula nicht, wie die Frau Rath, kleine Züge des Herzens von ihren so hart Angefeindeten erzählen, Erinnerungen der Kindheit, die ein Mutterherz bewahrt … Aber Paula war doch die einzige, die zuhörte, wenn Armgart von alten Dienern und Beamten des Schlosses Erinnerungen an ihre Aeltern und besonders an die Zeit, wo sie ihnen so gewaltsam vorent-278halten wurde, aufgetrieben hatte … Der alte Tübbicke hatte ihr den Versteck im Laboratorium, die Krankheit der Mutter, das Ergrauen ihrer Haare erzählt … Der alte Oberförster lobte jeden Soldaten, der sich im Frieden nicht gefalle und es mache wie Herr Ulrich von Hülleshoven und Hedemann, die in fremde Dienste und Länder gegangen wären … Was nur unterhaltend, abenteuerlich, bedeutsam im Leben war, knüpfte sich für Armgart an die Aeltern … Ihre Liebe zu ihnen wurde ihr wie ein angewöhntes Sprichwort, das man aus Laune und gerade zum Trotz in Gegenwart von Menschen, die sich aus Gründen, die uns nicht überzeugen können, darüber ärgern, nicht ablegt …

Wie dann die Religion auf Armgart wirkte, wissen wir … Die Religion war ihr wie dem Volk und wie im Mittelalter der ganzen Bildung der Anhalt alles Heroischen und Großen … Man führte im Mittelalter die Vorgänge des Evangeliums auf öffentlicher Bühne auf, um zu zeigen, daß Tyrannen, wie Herodes, vor Gott nicht bestünden … Was wollten denn nun diese bösen Philipps und Ludwigs von Frankreich gegen die vom Christenthum berechtigten Augenspiegel beginnen? … „Hauspapen“, Französinnen aus klösterlicher Region legten den Grund der Bildung Armgart’s … Das Pensionat in Lindenwerth hatte nur auszubessern, ohne daß man dabei an besonders Neues ging … Armgart lernte etwas zeichnen aus sich selbst … Nie, daß sie dafür zur Ermunterung kam; nie, daß sie angefeuert wurde, einen Werth auf sich zu legen … Sie war so anmuthig, so hold und lieblich – aber das war ja ihre 279 Schuldigkeit – Himmel! Wie würde sie „gestanden“ haben bei ihrer ohnehin so „schiefen Stellung“, wenn sie nun gar noch häßlich gewesen wäre! … So warm und innig, wie Benno mit ihr sprach, so schwärmerisch wie Thiebold, das war alles nicht die Fortsetzung dessen, worauf sie im Leben früh angewiesen war … Euere Liebe, ihr jungen Mädchen, ist nur das stündliche Eintreffen einer sechszehnjährigen Prophezeiung, die Folge des stündlichen Erwartens einer verheißenen Huldigung! … Seht nur die blasse Klavierspielerin, wie sie ermattet am Fenster sitzt und hinter den Blumen die Vorübergehenden mustert und berechnet: Der da mit dem goldnen Knopf am Spazierstock und dem Bärtchen geht heute schon zum dritten Mal vorüber – gilt das dir? Und galt es ihr, so läßt sie auch gleich das Leben für ihn. Sie sagt das wenigstens den Aeltern. Werden die Annäherungen des jungen Manns von diesen nicht gewünscht, so verfällt sie in einen Zustand „unglücklicher Liebe“, der ein halbes Jahr dauert und mit dem ersten Winterball endet.

In Lindenwerth machte es Armgart, wie sonst in Westerhof; sie nestelte und bändelte und strickelte den ganzen Tag – für andere … Sonst schnitzte sie den kleinen Kindern – sogar den Kindern der Bedienten Schiffchen von Borke und machte ihnen Püppchen aus Schneiderlappen, die der alte Tübbicke aus Witoborn von seinem Sohn mitbrachte … In Lindenwerth hatte sie erst da, als sie die Ankunft der Aeltern in jener Gegend in Erfahrung brachte, das Bedürfniß, allein zu sein oder doch nur mit Angelika … Benno’s Liebe war ihr nur das Erwerben eines besten und einzigsten Freundes und 280 Thiebold – das war dann nur der dritte im Bund dieser großen Verschwörung gegen die schlechten Menschen und Dinge in der Welt … Da so sagen: In diesen treuen Seelen hab’ ich zwei Menschen gefunden, die ich für mich festhalten will und von denen ich den liebsten mir zum Glücklichsein wähle … Das empfand sie nicht – Und was gab es nicht alles Wichtigeres in der Welt! … „Sie ist kalt“! „entdeckte“ eines Tages Thiebold und in der That, ein Kuß war ihr ein Ausdruck der Seele – Benno hätte sie beim Abschied getrost küssen dürfen …

Ein Gelübde ist dann in der katholischen Kirche etwas Hochheiliges. Die Kirche will in diesem Auslöschen der Freiheit zunächst eine Huldigung für Gott, dann eine für sich selbst. Jede Entäußerung der freien Verfügung über späteres Ja! und Nein! des Willens soll sich treu bleiben; selbst die Erkenntniß der Uebereilung, selbst die bitterste Reue soll die Erfüllung nicht hindern; denn so nur erhalte sich die Würde des Altars, dem ja die meisten Gelübde gewidmet werden, und vorzugsweise jene Regel und Ordnung im Beten und Fasten und in alledem, was dann zuletzt seine heiligste Gestalt im Klostergelübde findet …

So blieb auch Armgart bei ihrem Wort: Die Stunde ist da, wo meine Aeltern auf mich Ansprüche machen! Jeder will den Vorzug meiner Liebe! Warum soll ich ihnen beiden die Hand nicht festhalten und ihr Priester werden zum neugeschlossenen Bunde! … Terschka stört diesen Bund? Nun wohl! Terschka ist – furchtbar. Er ist der Freund des Grafen Hugo und die Mutter des Grafen ist die Freundin meiner Mutter – Sie liebt ihn viel-281leicht nur noch in ihren geheimsten Gedanken – ich will Paula glauben, die das Gegentheil versichert – aber Terschka ist voll List. Wohin mich auch mein Gelübde führt, Terschka soll meine Mutter nie beirren – nie – nie! … Ich ahne meinen Untergang, aber ich opfere lieber mich selbst an Terschka und nehm’ ihn, wenn er mich will … Gott wird mein Beginnen „crönen“! …

Und so kam es, daß Armgart zu Terschka sagen konnte: Begleiten Sie mich doch heute Abend nach Hause! … So kam es, daß sie sprach: Soll ich morgen mit auf die Jagd? … So kam es, daß sie gestern sagte: Wie lange bleiben Sie auf Schloß Neuhof? … So – daß sie ihm sogar nachrief: Kommen Sie doch nicht zu spät! …

Daß Terschka dann auch noch einen bestrickenden Zug des Unvermeidlichen hatte, that das Uebrige zu einem Entschluß, mit dem sie vielleicht unter Tausenden allein steht … „Ich nehme nur Den, den ich liebe!“ sagte einst eine Stiftsdame und that mit dem Wort unendlich groß. Armgart erwiderte: „Trivial!“ …

Bonaventura war gegangen … Paula hatte sich zurückgezogen … Man fand sich immer mehr und mehr in den Fund der Urkunde, wie man sich schon gestern in den Brand gefunden hatte …

Armgart flatterte in der tiefen Verschüchterung ihres ganzen Seins dahin … Einmal hörte sie das Wort „Etikette“ zu Terschka sprechen, der mit Augen dasaß, die zwei Kratern eines Vulkans glichen … Glaubt nur nicht, rief sie, daß Paula nun diesen Grafen Hugo nimmt! Sie geht in ein Kloster! … Die Tante rief zornig: Und du gehst zu Bett! …

282 Armgart ging, aber sie erschrak vor jedem Fußtritt, der gehört wurde, vor jedem Geräusch im Schlosse … Fräulein von Tüngel-Appelhülsen hatte den Stachel in ihre Brust gesenkt, daß schon die Mutter bei Frau von Sicking wäre … Bei Hedemann würde sie vom Vater hören … Das nun klang in alles, was sie that und sprach, wie ein stürmisches Läuten hinein und wohnten nur Benno und Thiebold nicht bei Hedemann, sie wäre schon in aller Frühe zu ihm gerannt …

Der Onkel entließ sie zur Ruhe mit einem herzinnigen Kuß auf die Stirn. Die Aufregung des Schlosses machte, daß nicht sogleich die Diener zur Hand waren; sie sagte in ihrer Weise darüber: Es geht wahrhaftig bei uns jetzt alles Hott und Tule! … Terschka kannte diesen Ausdruck nicht … Armgart, darum befragt und ohnehin immer mit schwarzen Seelen beschäftigt, leitete ihn von den Hottentotten her; für „Tule“ fragte sie den Onkel … Von den Hottentotten? wiederholte der Onkel … Hott und Tule? … Angeregt wie er war durch seine archivalischen Studien, hörte er diese Deutung mit Erstaunen, begann von Ultima Thule, als dem äußersten Norden der Alten, ließ „Hott“ in der That als äußersten Süden gelten und hatte nun noch für die Nacht eines jener Objecte, mit denen er selbst in der Sterbestunde seinen bevorstehenden Tod vergessen konnte …

Armgart ging in ihren Thurm, vor dem Fall ihres eigenen Schattens erschreckend …

Spähend suchten die Augen, ob sie auch vor jeder Ueberraschung sicher war … Sie riegelte heute zu, wie auf der Flucht …

283 Eine Viertelstunde später, als sie fast entkleidet war, klopfte es …

Wer sollte wol anders so vorsichtig klopfen als Terschka? … Sie erbebte und meldete sich nicht …

Terschka war es in der That und flüsterte:

Fräulein Armgart! Ihre Mutter kommt morgen …

Sie hörte nur …

Ich bin morgen früh in Witoborn zum Begräbniß des Landraths …

Sie schwieg und zitterte …

Haben Sie keinen Auftrag? … Möglich, daß ich erst zurückkomme, wenn Ihre Mutter schon da ist … Mein Gott! Ich bin so unglücklich, die Mutter nicht begrüßen zu können … Aber ich werd’s halt schriftlich thun … Küssen Sie ihr doch in meinem Namen die Hand! …

Teufel! sprach Armgart mit knirschenden Zähnen und sprang vom Bett herab, auf dem sie schon halb entkleidet saß … „Küssen Sie ihr die Hand“! … Eine jener Galanterieen, die in diesem tugendhaften Land mehr etwas Frivoles, als Artiges ausdrückten …

Hören Sie denn aber? fuhr Terschka fort …

Ja! sagte sie mit erstickter Stimme, doch laut genug, um vernehmbar zu werden …

Sie wird oben am Cavaliersaal wohnen! fuhr Terschka fort. Die beiden Zimmer rechts; alles ist vorbereitet, ohne daß Sie davon ein Wort wissen sollen! Verrathen Sie mich aber nicht! … Meine Blumen müssen einstweilen als Selam für mich sprechen! Von den Gerichten und Justizräthen rundum komm’ ich morgen vor Abend 284 nicht frei und einen Courier muß ich auch von Witoborn in erster Frühe noch nach England expediren … Haben Sie doch ja ein wenig Mitleid mit mir! …

Nach England, wo die Menschen protestantisch werden und fünfmal hintereinander heirathen dürfen! … So fühlte Armgart …

Terschka mochte nicht ganz das teuflische Raffinement besitzen, Armgart’s Eifersucht erregen zu wollen, dennoch that er es mit seinen, der südländischen Galanterie angehörenden Worten wider Willen …

Armgart blieb im Zustand der Verzweiflung zurück … Nicht nur daß die Mutter schon wieder vor dem Vater den Vorsprung hatte – wie sprach Terschka von ihr! Mit welchem Interesse! War alles, was er ihr in diesen Tagen an Huldigungen bewiesen, an Freundlichkeiten ihr abgerungen hatte, vergessen bei dem Gedanken: So nahe ist die „seltene Frau“, wie er sie nannte? … Wie konnte dabei das Recht ihres Vaters bestehen? … Sie hätte das Schloß wach rufen mögen … Doch wagte sie nicht das Zimmer zu verlassen, da sie vor Terschka immer mehr ein Grauen befiel und sie düstere Ahnungen bekam … Die finsterste und abgelegenste Gegend des Schlosses hatte er genannt …

Der Entschluß stand fest, daß Armgart morgen nicht im Schlosse blieb. Sie wollte auf irgendeine Art nach Witoborn zu entkommen suchen. Erst bei Hedemann wollte sie forschen und dann bis auf weiteres zu den Frauen im Witoborner Clarissenkloster flüchten …

So schlief sie spät ein … Im Traum erschienen ihr Engel und Teufel im bunten Gemisch … Auch Hedemann 285 war unter den Teufeln … Er war ihr bei jeder Begegnung strenger und strenger geworden … Er verwarf ihre Grundsätze und ihr ganzes Leben auf dem Schlosse … Er nannte die Art, wie man ihn dort empfangen und wie man noch jetzt die bevorstehende Rückkehr des Obersten entgegengenommen hätte, eine für diesen ehrverletzende … Auf ein Urtheil, das sie, um diese Art zu entschuldigen, gegen den Vater auszusprechen wagte, unterbrach er sie mit dem Apostel (l Kor.): „Ihr Kinder seid gehorsam den Aeltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig –!“

Am Morgen erfuhr sie, daß sie nicht allein es war, die eine unruhige Nacht durchlebt hatte …

Im Gegentheil, ihre erschöpfte Natur bedurfte der Stärkung und hatte diese nach Mitternacht in einem tiefen, wenn auch kurzen Schlaf gefunden. So hatte sie nichts von dem Klingeln vernommen, das indessen alle Schloßbewohner erschreckte … Paula, erfuhr sie am Morgen, war so unwohl gewesen, daß man zum Arzt hätte schicken wollen … Sie war aufgestanden und durch die Zimmer gegangen wie eine Nachtwandelnde, hatte mit sich gesprochen und Dinge thun wollen, deren Zusammenhang Niemand verstand … Ihre Dienerinnen hatten die Tante rufen müssen … Diese rief dem Onkel … Paula weinte, riß die Thüren auf und hörte keine der liebevollsten Beschwichtigungen … Der Onkel faßte ihren Zustand als die natürliche Folge des neuen Erlebnisses, als die jetzt freiwerdende langjährige Spannung des Herzens und der Furcht auf … So wäre es immer im Menschen, sagte er; die Gefühle hätten ihre 286 Gesetze, wie die Mechanik … Das sprach er höchst feierlich im gewirkten großblumigen grünseidenen Schlafrock und sein komischer Anblick störte dabei für Niemanden den erschütternden Eindruck, den Paula machte, die bis zum Morgen mit sich auflockernden Haaren hochaufgerichtet und geisterhaft dahinschritt und alle gerade durch ihr Schweigen und das eigene Nichtdeutenkönnen ihrer Thränen erschreckte … Gegen Morgen schlief sie ein und konnte dann den Vormittag über nicht gestört werden …

Mit den Zimmern am Cavaliersaal hatte es seine Richtigkeit … Einer der Diener gestand es Armgart … Man erwartete die Mutter …

Mit den Blumen Terschka’s sah es ebenso aus … Sie standen in zierlichen Vasen oben auf dem Tische …

Auch den Brief an die Mutter hatte Terschka zurückgelassen … Diesen aber nahm Armgart mit Gewalt an sich, um – sagte sie, ihn selbst abzugeben …

Der Tante klopfte sie noch vor dem Frühstück an ihre Thür mit den Worten: Also die Mutter kommt? …

Ja, Armgart! hieß es hinter dieser Thür. Aber ich sage dir, daß ich Schonung verlange! Wir gehen Tagen entgegen wie zum Jüngsten Gericht! …

Dies starke Wort schnitt alles ab und trotzdem rauchte der Onkel den Corridor entlang kommend seine Pfeife und trug große schweinslederne Chroniken unterm Arm, in die die Urkunde eingelegt war …

Richtig, Armgart! Ja, auch das erreicht jetzt sein natürliches Ziel! sagte er. Ordne getrost deine kleine Welt einer höhern unter; deine Mutter trifft heute Abend ein und sei ihr ein gehorsames Kind! Ich 287 bin entzückt von ihren Briefen. Daß sie mit meinem Bruder nicht zusammentreffen will, verdenk’ ich ihr nicht – Solche aus dem Verstand geschlossene Aussöhnungen erhalten sich nicht …

Wie der Onkel das sagte, erscholl in weiter Ferne eine gewaltige Erschütterung der Luft …

Sieh, sieh! sprach Levinus und horchte auf. Das ist die Salve, die die Husaren dem Landrath ins Grab mitgeben! …

Noch eine zweite folgte …

Still! So ehrt man einen ehemaligen Krieger! …

Eine dritte …

Ruhe seiner Asche! …

Der Onkel klopfte die Asche seiner Pfeife aus und ging …

Armgart blieb bei ihrem Entschluß zur Flucht … Nur deshalb schwieg sie zu allem und entfernte sich ruhig …

Im Lauf des Vormittags entwickelte sich die wunderbare Begebenheit der entdeckten Urkunde immer mehr in ihren Folgen und in den Echos, die dergleichen in den Gemüthern hervorruft … Die einen fanden hier einen Triumph der alleinseligmachenden Kirche; die andern beklagten im stillen die gestörte Aussicht auf merkwürdige und unterhaltende Veränderungen … Mancher hätte aber auch wieder fürchten müssen, in seinem bisherigen Verhältniß wenn nicht zu Westerhof, doch zu den übrigen Besitzungen der Dorstes gestört zu werden. Diese jubelten … Bei wieder andern zeigte sich jener Zug der menschlichen Natur, daß man sich selbst an Unangenehmes zuletzt nicht gern umsonst gewöhnt haben will. Die Tante merkte hie 288 und da dergleichen und sagte einigen der so sonderbar erstaunenden Besucher: Es ist Ihnen wol gar nicht einmal recht, daß wir hier im Besitze bleiben? …

Mit dem geraubten Briefe auf dem Herzen, im Herzen zunächst mit dem Gedanken an eine Anfrage um den Vater bei Hedemann, irrte Armgart im Schloß und ließ sich ruhig die Reden gefallen, die die Tante an sie hielt und die ihr zuletzt freundlich zusprachen, ja ihr schmeichelten …

Armgart, sagte sie fast mit Herzlichkeit, liebes Kind, ich wüßte doch gar nicht, was mir Freudigeres begegnen könnte, als gerade in diesen aufgeregten Stimmungen solch eine Beruhigung! Morgen muß ein Hochamt in Sanct-Libori stattfinden – Müllenhoff wird sich schon herausreißen und der Domherr ist ja da – ein Hochamt für diese längst ersehnte Stunde! Ich hatte ja nur diese eine Schwester! Liebte sie immer! … Eine trostreiche Versöhnung! … Auch Angelika Müller hat mir einen rührenden Brief aus Paris über ihre Begegnung mit Monika geschrieben! … Monika war immer ein seltenes Wesen! Zu jeder Zeit! Ich glaube, ich kann sie nicht mehr von meinem Herzen lassen! Ja und wie freu’ ich mich auch dieses Besuchs um Terschka’s willen … Der Arme muß in der That vernichtet sein! … Er verehrt deine Mutter … Das wird ihn emporrichten! …

Die Tante lachte wie schadenfroh und war ganz ironisch gegen Terschka gestimmt …

Ein Tag war es dann, an sich so hold, an sich so freundlich, so hellsonnig, so ganz gemacht zum Empfang 289 von Glückwünschen, die von allen Seiten kamen … Sogar die Leidenden wurden heute von der Treppe entfernt, um all die vornehmen Besuche durchzulassen … Durch das Begräbniß des Landraths ließ sich in dieser Sphäre natürlich Niemand stören …

Um elf erschien Paula in den Vorderzimmern, nachdem sie ihr tägliches Amt verrichtet, beim Frühgebet die Kissen zu segnen, mit denen sie heilte … Aber sie sagte:

Meine Kraft ist hin! Diese Mittel helfen nicht mehr! …

Man sprach ihr Muth und Fassung ein …

Nein, erwiderte sie, ich bete auch nicht mehr so, wie sonst! Ich habe die Andacht verloren …

Schon kamen die Advocaten aus Witoborn … Sowol der, der gegen Nück processirt hatte, wie der, der Nück’s bisheriger Bevollmächtigter war … Andere, die an den Angelegenheiten des Hauses betheiligt waren … Ein für den Grafen Hugo stehender Justizrath war der Frommsten einer und beugte sich tief der Urkunde, die ein Gebot der Kirche enthielt … „Der Brand ist hochverdächtig! Die Zerstörung des Archivs hat die Veranlassung gegeben, das falsche Document an einen Platz zu legen, wo man ja hundertmal es schon hätte finden müssen!“ Diese Worte sprach – allein Benno und doch auch nur bei sorgfältig beobachteten Thüren in Gegenwart Bonaventura’s, der ihn in aller Frühe in Hedemann’s Häuschen besucht hatte …

Benno erfuhr jetzt von seinem in Rührung vor ihm stehenden, mit seltsamer Prüfung ihn betrachtenden Freunde mehr und mehr …

290 Bonaventura gestand ihm, was er dachte; gestand ihm, er wisse aus einer Beichte, daß irgendwo, den Ort kenne er nicht, ein Verbrechen dieser Art, wie nun vielleicht in Westerhof stattgefunden, im Werke gewesen … Bickert, der noch lebte, durfte nicht genannt werden; Hammakern nannte Bonaventura …

Benno ging im Zimmer auf und nieder und rief:

Ich sage mich von Nück los! Noch heute reis’ ich zurück! Ein Schurke ist’s! Ich kündige ihm meine Stellung und – ich sag’ es ihm warum! …

Nimmermehr! entgegnete Bonaventura. Wie wäre das möglich! Wie kann man gegen die Ehre und Würde des Hauses der Dorstes auftreten! …

Terschka wird es doch thun müssen! …

Terschka! … sprach Bonaventura zögernd …

Die Advocaten des Grafen Hugo in Wien – …

Was werden sie beweisen können! Und ändert sich denn auch so viel? Man wird in Paula drängen, bald – bald zu vollziehen, was schon lange für diesen Fall – die Convenienz anräth …

Thiebold, der vom Begräbniß des Landraths kam und mit den Rüstungen zur Abreise drängte, störte den vollen Erguß der wehmüthigen und gegenseitig auch gar wohlverstandenen Empfindungen …

Und wenn auch alles sich ausgeklagt hätte, was doch vergebens nach Worten rang, welcher Rest blieb nicht noch im Herzen Bonaventura’s – beim Hinblick auf den trauernden Freund selbst! ……

Als von Armgart die Rede kam, von Terschka’s 291 Werbung um sie, erwiderte Bonaventura festen Tones und mit sicherer Bestimmtheit:

Darüber geb’ ich Beruhigung … Hier seh’ ich bisjetzt nur das Unmögliche …

Beide staunten des so entschiedenen Worts … Nach Terschka’s durch die Entdeckung der Urkunde veränderter Stellung aber konnten beide diese dunkle Antwort zuletzt in der Ordnung finden …

Auch die Erwähnung Lucindens war nicht ausgeblieben und Benno betonte ihre Bekanntschaft mit Nück, ihre auffallende Hierherkunft, ihre, wie Benno und Thiebold versicherten, nun auch so schnell wieder bevorstehende Abreise …

Gegen zwölf Uhr fuhr Bonaventura auf Westerhof und fand die ganze Lebhaftigkeit, die er erwarten durfte …

Besuche kamen und gingen … Auch von Armgart’s Mutter und ihrer Nähe wurde gesprochen … Die Stiftsdamen konnten eben nichts für sich behalten …

Gerade als mitten im lebhaftesten Gespräch auch eine Mittheilung zündete von dem, wie es schien, in Ausführung gekommenen Plan, den hohlen Eichstamm vom Düsternbrook zum Aufenthalt zweier Eremiten zu machen, trat Paula ein …

Ihr Blick schien sagen zu wollen: Die Mauern eines Klosters nehmen mich auf! In deiner Nähe! Da, wo Therese von Seefelden den Schleier trägt, da werde auch ich anpochen! …

Man sprach von den Klöstern … Man rühmte den sich mehrenden Zustrom zum beschaulichen Leben … Eine der Besucherinnen wußte etwas von Treudchen Ley …

292 Bonaventura hörte gerade nach einer andern Gruppe hin, wo Neuangekommene erzählten: Zwei Mönche hätten in letzter Nacht Kloster Himmelpfort verlassen und wären Eremiten im winterlichen Walde geworden … Die Namen der Mönche und den Wald konnte man nicht bezeichnen …

Bonaventura schwieg zu Allem … Er kannte das Märchen von der versunkenen Kirche … Ihre Glocke klang und klang und Niemand wußte, wo die Kirche gestanden … Am Meer sagen die Schiffer, sie läge im Wellenschoos, wie ein mahnender Zeigefinger gen oben rage ihr Thurm zuweilen über dem Spiegel auf … Die Jäger kennen die verlorene Kirche im Walde … auch da läutet sie unsichtbar … So tönte für Bonaventura durch alles, was Paula that und sprach und die Welt um sie her that und sprach, nur der eine Glockenton: Dein bin ich – im Walde – im Meere – im Tode –

Zu Aller Interesse wurde plötzlich Frau von Sicking gemeldet …

Bonaventura hörte auch das nicht …

Im Walde – im Meere – im Tode –

Paula hatte den gemeldeten Besuch, der zu gleicher Zeit eine Begrüßung von Seiten Lucindens sein konnte, erwarten dürfen … Sie wollte ruhig bleiben, ruhig sich ergeben und doch richtete sie sich auf … Nicht wie in bebender Erwartung vor Lucinden … Schon im physischen Schmerz … Noch ehe Lucinde im Vorsaal sein konnte, fühlte sie wie mit einem elektrischen Schlag schon die Annäherung ihres Gegenpols … Armgart, die umirrend, wie sie war, Lucinden unten gesehen hatte, war 293 heraufgeeilt, sah schon die Wirkung, die sie kannte, umschlang die Freundin, wollte sie hinwegführen; doch diese blieb und lächelte wie immer zu ihrem Schmerz …

Die Anwesenden alle – Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß, Frau von Stein, Gräfin Münnich, Gräfin Styrum-Schorum, Fräulein von Merwig, Fräulein von Absam, die alle nun schon über Lucinden unterrichteter waren und die Verhältnisse annähernd übersahen – nahmen Paula’s Lächeln für Takt und große Güte. Sie verwiesen mit strafendem Blick dem Fräulein von Tüngel-Appelhülsen ihren laut ausbrechenden Hohn über die „Person, welche“ – Lucinde erschien in Begleitung der Frau von Sicking und war eine Büßerin geworden …

Frau von Sicking, die zu jener Gattung der weiblichen Tartüffes gehörte, bei denen man ihrer Unergründlichkeit wegen besser thut, ihre Gottseligkeit einfach anzuerkennen und sie wirklich für das zu nehmen, wofür sie erscheinen wollen, ließ Lucinden in den Vordergrund treten und fand es vollkommen in der Ordnung, daß Gräfin Paula sogleich von ihr auf die Ueberraschung durch ihre ehemalige Gesellschafterin im orthopädischen Institut überging … Sie selbst beobachtete die Mienen Bonaventura’s …

Sie sind es, Lucinde! sprach Paula, Lucinden die Hand reichend … Erst so wenig Jahre getrennt und eine Ewigkeit ist’s … Meine Tante Benigna von Ubbelohde das! … Meine Freundin Armgart von Hülleshoven …

So stellte Paula mit der mildesten Miene die Näch-294sten vor und erst, wie sie an Bonaventura kam, stockte die Rede …

Bonaventura erwachte aus seinen Träumen … Er verfärbte sich über den plötzlichen, unerwarteten Anblick, wurde dunkelroth und verneigte sein Haupt – der ihn anredenden Frau von Sicking …

Er sprach und sprach zu dieser und doch rief es nur in seinem Innern: Paula und Lucinde! … War es wie Tag und Nacht, die da zusammenstanden, dann drückte nicht die bräunliche schwarzäugige Lucinde mit ihren Augenbrauen und aufgeworfenen Lippen die Nacht und Paula mit ihrem blonden Haar und rosig lichten Wangen den Tag aus – umgekehrt war’s … Paula war die träumerische Nacht, die Nordlandsmaid, die Mondpriesterin; Lucinde der Tag, die Tochter tropischer Zonen, die Sonnenjungfrau … Dort Gefühl und Ahnung in jedem Blick, gestaltungsloses Sehnen, krankhafte Gebundenheit der Sinne; hier Verstand, Wachsamkeit, Willenskraft und Beherrschung der Leidenschaften bis zur schneidenden Kälte … Beide in Trauertracht … Paula’s Kleid ein glänzender, rauschender Atlasstoff; Lucindens ein hochgehendes, den braunen Hals verdeckendes geflammtes Moirée … Paula’s Haar niedergleitend über die Schläfe in langen Locken, im Nacken die Flechten in schwarzen Kreppbändern verloren … Lucinde trug ihren Hut mit der Reiherfeder … Sie gab sich so, daß die adeligen Herrschaften Mühe hatten, aus ihrer „Tournüre“ heraus die „Schulmeisterstochter“ zu erkennen, als die sie ihnen nun bekannt war …

Frau von Sicking’s vor einigen Tagen schon beab-295sichtigter Besuch hatte erst heute zur Ausführung kommen können und Lucinde kam in der That zu Gruß und Abschied zugleich … Ihre nächste Mission war erfüllt … Wohin Hubertus den Brandstifter geborgen, erfuhr sie nicht, aber gestern Nacht noch beim Abendgebet im Münster kniete er hinter ihr und sprach: Alles ist geschehen! Seien Sie ruhig, ziehen Sie in Frieden und sorgen Sie jetzt nur für die beiden Eremiten, die in der Residenz des Kirchenfürsten und wenn sie mit den ersten Lerchen nach Rom ziehen sollten, einen Anwalt bedürfen werden! … Schon im Hof hatte sich Lucinde von ihrem Entsetzen über die Brandstätte gesammelt, ihre Empfindungen über „den falschen Isidor“, der auf so fragwürdige und in ihren Folgen entscheidende Weise die junge Gräfin zur reichsten Erbin des Landes machte, geordnet, ebenso wie über den Anblick einer Ekstatischen, die zur heiligen Hildegard erhoben werden sollte und vielleicht im Traumschlaf sah – wo Dionysius Schneid verborgen war und wie Nück auf Lucindens Rückkehr harrte …

Frau von Sicking war im vollen Strom der Erörterungen … Beileidbezeugend über den schreckhaften Brand, glückverheißend zum folgenreichen Fund der Urkunde … Ihre Sprechweise war leise … Alle räumten ihr den Vorrang ein, daß man schwieg, um sie besser hören zu können …

Man saß jetzt … Nur Bonaventura stand noch rückgelehnt am Fenster … Auch Armgart an der Stuhllehne Paula’s, die Hand der Freundin haltend, um ihr Zittern zu mildern … Bis zu einem so weit gehenden Ueberblick aller Beziehungen, daß Armgart auch Bona-296ventura am Widerstreit dieser beiden Naturen aufs mächtigste betheiligt sah, reichte ihr Auge nicht … Paula’s und Lucindens Liebe zu Bonaventura war ihr nur ein „Schwärmen“ – jene Empfindung, die ein Mädchenherz in alle Himmel versetzen kann, nicht aber die Entsagung zum größten Schmerz der Erde macht …

Lucindens Feierlichkeit war von Frau von Sicking’s Begleitung ebenso bedingt, wie von der ersichtlichen Neugier der Anwesenden, die sie musterten … Sie sprach anscheinend harmlos mit Armgart von der Begegnung im letzten Sommer an der Maximinuskapelle und von Benno von Asselyn … Sie erzählte der jungen Gräfin vom orthopädischen Institut, von dessen Vorstand, von einigen jungen Mädchen, jenem guten Curatus Niggl, der die armen Verwachsenen, Blinden und Lahmen bei sich zum Kaffee lud … Sogar Bonaventura wurde von ihr ins Gespräch gezogen … Mit Niggl und Hunnius war er als Priester ausgeweiht worden … Auch ein Wort über den Tod Hendrika Delring’s konnte nicht ausbleiben, ebenso wenig wie die Kunde über Treudchen, die ins Kloster gegangen war … Bonaventura blieb so erregt, daß er nun selbst zu fragen anfing … Wie hat nicht jener große Staatsintriguant so Recht gehabt, als er sagte: Die Sprache ist erfunden, um unsere Gedanken zu verbergen! …

Das allgemeine Gespräch kam wieder zurück auf die beiden Flüchtlinge in den Eichstamm und jetzt erst hörte Bonaventura die ihn doppelt erschreckende Kunde … Denn er hatte nichts für Sebastus’ Befreiung 297 gethan und machte – seiner „priesterlichen Lässigkeit“ Vorwürfe … Streit mit dem Provinzial gab man als Ursache dieser Flucht an …

Der Name Hubertus weckte im Gespräch die Erinnerung an die Rettung des Dieners, den man im Spital von Witoborn glaubte …

Lucinde konnte sich sammeln und Kraft gewinnen, den Namen Klingsohr und das fortgesetzte Anblicken der Damen zu ertragen. Sie behielt dasselbe bleiche Incarnat, wie immer … Sie zuckte nicht einmal mit den Augenwimpern … Nur Bonaventura’s Auge suchte sie zuweilen und dieser schlug dann das seine nieder …

Frau von Sicking sagte dem Domherrn die schmeichelhaftesten Dinge – jetzt auch, als ob sie ihre geheimsten Abneigungen errathen glaubte, recht aufgetragen Lobendes über seine Mutter … Gräfin von Styrum-Schorum kam heute schon von Schloß Neuhof herüber, wo die Kunde von den beiden Mönchen eine nicht geringe Sensation erregt hatte … Der gesetzliche Sinn des Herrn von Wittekind, der sich solcher Nutznießung seines Waldes durch die Gensdarmen erwehren wollte, war überstimmt worden durch seine Gemahlin, die aufs dringendste gebeten hatte, dem frommen Verlangen dieser beiden Brüder nichts in den Weg zu legen …

Da man dem Bericht Beifall murmelte, mußte Bonaventura für die Mutter danken … Er dankte und bemerkte Lucindens Lächeln … Triumphirend schien diese sagen zu wollen: Das alles, was ich hier sehe und höre, sind die Opfer, die mir der Gott der Rache bringt! … 298 Sie ließ sich Klingsohr und Klingsohr ins Ohr rufen; sie lächelte nicht einmal … Ihre Blicke spannen nur lange Fäden und bald war ihr alles wie in einem großen Netze … Mit leiser Stimme flüsterte sie mitten in die Schilderung des Lagers, das sich von Moos und Baumlaub die beiden Flüchtlinge in der Eiche und um diese her gemacht hätten, der Tante Benigna zu von dem Brand, von dem Eindruck, den ihr der Anblick der Flamme schon vom Schloß Münnichhof aus gemacht hätte … Die Tante sah nichts von dem Blick, der diese liebevollen Worte begleitete, als wenn sie gelautet hätten: Die Welt soll noch in Feuer aufgehen und wie ihr hier alle sitzt und lächelt, weg habt ihr’s doch! … Sie bedauerte, morgen nicht der Dankmette beiwohnen zu können, die in der Liborikirche gehalten werden sollte … Diesen alten Bau würde sie erst sehen, wenn die Exercitien begännen … Ueber den Baustyl der Liborikirche und von byzantinischen Rundbogen sprach sie so unterrichtet, daß die Tante dem ihr zu „geistreich“ werdenden Gespräch entschlüpfte und Lucinden mit dem Onkel Levinus in Verbindung brachte, der jetzt erst zur Gesellschaft hinzutrat …

Auch der Onkel kam mit Nachrichten von den entflohenen Mönchen und von der Requisition derselben durch den Provinzial – und mit – Gensdarmen …

Gensdarmen! rief man fast einstimmig …

Das duldet Herr von Wittekind nimmermehr! rief Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß …

In seinem Walde kann er geschehen lassen, was er will! … hieß es …

299 Der Onkel erzählte, was er unten von den Jägern vernommen … Man fände beide in der berüchtigten Eiche, wo der alte Klingsohr gefallen … Sein Sohn, der ehemalige Doctor, läge im Innern derselben auf einem Lager und läse sein Brevier … Hubertus hämmere mit der Axt eine Hütte und einen Altar und einen Kochherd … Die Nacht noch wäre eine Kälte von drei Grad gewesen … Jetzt thaue es … Die Bauern liefen scharenweise in den Wald und hülfen den Eremiten bauen und brächten so viel Nahrungsmittel, daß Hubertus den Scherz gemacht hätte, ob sie hier etwa einen Verkauf halten sollten? Dennoch nahm er den Ueberschuß und schickte ihn ins Kloster, wo sich „nun wol zwei Parteien bilden würden“ sagte der Onkel lächelnd … Zurück wollen sie nicht, fuhr er fort, sich mäßigend, da Niemand in seine Ironie einstimmte; Sebastus erbietet sich, für Jeden, dem seine Fürbitte von Werth sein könnte, täglich so viel Rosenkranzgebete zu sprechen, als man bestellt …

So hatte man denn wieder ein Wahrzeichen der Zeit mehr, ein hocherfreuliches*) und die kluge Mutter Bonaventura’s debütirte durch die Duldung der beiden Eremiten mit glänzendem Erfolg … Bonaventura sah ihre Macht über den Präsidenten …

Wenn ihr alle wüßtet, an welchen Fäden diese beiden Mönche geführt werden! …

Diese Empfindung sprach Lucinde nicht aus … Jede Erregung ihrer Gefühle niederkämpfend, hob sie 300 sogar den Kopf langsam in die Höhe, als sich die Tüngel-Appelhülsen nicht nehmen ließ, zu sagen:

Sie kannten ja früher den ehemaligen Doctor Klingsohr? …

Nur Ein Blick der Misbilligung folgte bei allen, die die Schärfe dieser Frage verstanden …

Lucinde aber erwiderte ruhig und ganz in dem einfachen Ton, der hier üblich:

Der Pater ist ein Heiliger geworden … Ich mühe mich, ihm gleichzukommen … Es gelingt mir nicht …

So blieb sie siegreich …

Als man Beifall murmelte, konnte Bonaventura nicht anders als sich sagen:

Da strengt nur euern Witz an! Da muß alles zu Schanden werden! …

Der Onkel war vom Bewohnen der Baumstämme, wie immer, auf die Urwelt und die Troglodyten gekommen und von diesen auf die Katakomben in Rom …

Frau von Sicking kannte die Katakomben so genau, wie die Boudoirs ihrer Wohnungen in Deutschland und Belgien … Sie erzählte von mehrern wieder neu eröffneten Grabstätten der alten Christen und Lucinde wußte sogar die Jahreszahl einzuschalten von der Verfolgung des Diocletian … Levinus rückte ihr überrascht näher und näher …

Da aber erhob sich schon Frau von Sicking … Auch Lucinde mußte es thun … Wie gab sie so sicher Paula die Hand und lächelte ihr und sprach vom Wiedersehen, vom Frühling, von Gesundheit und, leiser und demüthig, von ihrer Wunderkraft! Wie ver-301sicherte sie, daß sie für Paula bete, und bat, daß Paula dies auch für sie thun möchte …

Der Onkel unterbrach diesen Abschied und hörte voll Leidwesen, daß das gelehrte Fräulein schon wieder abreise und erst zu den Exercitien zurückkäme – Die Commerzienräthin Kattendyk hatte in der That ihren Wunsch erreicht, hatte eine große Summe für die geheime Thätigkeit der Frau von Sicking versprochen, hatte auch der „Mutter Gottes von Telgte“, einem wunderthätigen Gnadenbild der Gegend, ein kostbares neues durch und durch mit Silber gesticktes Kleid angelobt, eine Prachtschöpfung aus den Ateliers der Damen Eva und Apollonia Schnuphase …

Ein unendliches Weh lag auf den Zügen Bonaventura’s, Paula’s und Armgart’s … In dem: „Segne Sie Gott, Gräfin!“ Lucindens lag etwas, als wenn ihr die Leiden aller Märtyrer für die Zukunft vorausgesagt würden …

Bonaventura fühlte die Absicht dieses ihm nur allein kalt und wie ein Fluch erklingenden Tones … Die Hand hätte er zurückreißen mögen, die erstarrt Paula in die schwarzen Handschuhe Lucindens legte … Beide Frauen, die Geliebte und die Verschmähte, waren an Wuchs sich gleich; Paula schön an sich und noch mehr durch den Reiz der Jungfräulichkeit ätherisch wie ein Hauch; Lucinde wie eine Brunhild – durch ihre geheimnißvolle Kälte bestrickend … Paula hätte Lucinden festhalten mögen, trotzdem daß sie fühlte: Das ist sie immer noch mit ihrem Haß gegen dich und mit ihrer Eifersucht! Sie ist es immer noch, die sich berufen glaubt, die Einzige 302 zu sein, die über Bonaventura wachen dürfe! Sie, die sonst schon nicht ruhte und rastete in Annäherungen und Verhinderungen der Ruhe und des Glücks eines Mannes, der, wenn er lieben dürfte, seine Wahl doch so nicht treffen würde … Aber Lucinde war das einzige Wesen, das sie vom Traumschlaf heilen konnte … Seit der ersten Vision beim Eintritt Lucindens in das Institut, seit der ersten Einmischung der Eifersucht schon damals, als Paula, träumend, den geliebten Priester vom Bekennen der ewigen Gelübde abzuhalten suchte und Lucinde in diesem Priester Den in Erfahrung brachte, der ihr selbst eben der wiedererstandene Serlo erschienen – war in Lucindens unmittelbarer Nähe jenes Traumleben nie wieder eingetreten und sie sehnte sich ja, frei zu werden von diesen unheimlichen magischen Gewalten …

Endlich war das ein Ausbruch von Urtheilen, als Lucinde und Frau von Sicking gegangen waren! Alle Schleusen waren aufgezogen …

Paula und Bonaventura konnten sich eine Weile allein angehören … Die Blumen, die am Fenster blühten, die im Wasserglase gezogenen Hyacinthen, die behenden Goldfischchen in krystallener Schale, all der lieblich trauliche Vorfrühling, den beide in der Nähe des Fensters genießen konnten, hätte sie fortreißen sollen, das warme blühende Leben auch Athem an Athem zu empfinden und sich leise zu sagen: Wir, wir gehören uns doch! … Das lauschte aber und plauderte und klatschte und lauschte … Es stand glücklicherweise nichts still, alles schritt vorwärts … Selig wogen durfte wenig-303stens die Brust und auf die Lippen treten selbst ein lauteres Wort der Vertraulichkeit …

Inzwischen fehlte Armgart, ohne daß man es sofort bemerkte …

Armgart war Lucinden und Frau von Sicking gefolgt, hatte Hut und Mantel und eine große Tasche ergriffen, die schon im Vorsaal zu ihrer Flucht bereit lagen, hatte den Brief Terschka’s in ihrem Busen verborgen und schlich den sich Entfernenden an das Hauptportal nach …

Als sie einstiegen, sagte sie rasch:

Lassen Sie mich mit, meine Damen! Ich habe in Witoborn zu thun! Vergeben Sie! Ich störe nicht! Ich sitze hier rückwärts! …

Schon saß sie … Frau von Sicking lächelte zerstreut und meinte, sie wollten einen Umweg machen, um sich nach dem Befinden des Herrn Pfarrers Müllenhoff zu erkundigen …

Das thut nichts! antwortete Armgart in Hast. Wenn Sie mir nur versprechen, mich dann von Ihrer Wohnung aus nach Witoborn fahren zu lassen! …

Sehr gern! sprach Frau von Sicking, mächtig ergriffen, wie es schien, noch immer von Bonaventura … Demoiselle Schwarz kann dann auch nach Witoborn mit Ihnen fahren! setzte sie wohlwollend hinzu …

Lucinde saß tiefbrütend und hatte Mühe, ihre Nerven zu bekämpfen … Jetzt war sie jenem Weinkrampf nahe, der sie nach langer Spannung zu überfallen pflegte …

Armgart stellte Frau von Sicking über die Ankunft der Mutter zur Rede …

304 Diese, sich in die Frage langsam findend, sagte:

Sie irren sich, kleiner Engel! … Sie war gar nicht bei mir! Ich werde die Bekanntschaft erst später machen! … Aber Sie haben recht! Fräulein von Tüngel und Demoiselle Schwarz sprachen von ihr … Ich bot ihr schon lange meine Wohnung an und ich besinne mich – ich hörte ja – eine Grille von Ihnen … Wie ist es doch damit? …

Ein Gelübde, gnädige Frau! verbesserte Armgart …

Frau von Sicking verzog die Miene zum Ernst und besann sich jetzt:

Nun wohl, jetzt weiß ich – Aber – Himmel – ich entführe Sie doch nicht? … Wie war das Verhältniß? Richtig! Richtig! … Ich lasse halten …

Der Wagen flog aber pfeilgeschwind dahin … So duldete die Tante nicht, daß die alten Pferde der Dorstes anzogen …

Armgart bat, keine Besorgniß zu hegen; sie hätte dringend in Witoborn zu thun …

Frau von Sicking beruhigte sich und verfiel wieder in ihre eigene Gedankenwelt …

Auch Lucinde blieb lange tiefverloren im Nachklang des Ebenerlebten … Alle andern Gefahren traten ihr gegen einen einzigen mit Bonaventura zusammen verlebten Augenblick zurück …

Allmählich aber schien sie geneigt, von Armgart Notiz zu nehmen … Sie erzählte einiges von ihrer Mutter, rühmte sie, gestand einen Brief der Commerzienräthin in Angelegenheiten ihrer Mutter zu, wandte sich dann in ihr Brüten zurück und nur noch einmal nannte sie Terschka …

305 Armgart hätte sie für ein Lächeln dabei erdolchen mögen …

Lucinde erzählte das ganze erste Begegnen mit Terschka in Piter Kattendyk’s Gesellschaft …

Armgart’s beide Zähne blinkten …

Frau von Sicking rügte mit großer Strenge die Absicht des „Herrn Obersten“, ihres Vaters, in Witoborn eine Fabrik zu gründen … Und paßte das auch für seinen Stand, wie kann er gerade einen Zweig der Industrie wählen, der für Witoborn – ich kann es nicht anders nennen, sagte sie – eine Blasphemie ist … Sie werden ihn jetzt wol bald selbst sehen … Sagen Sie ihm das, mein Kind! Die Gesellschaft ist darüber außer sich … Ein Hülleshoven legt eine Fabrikation von Papier an – in Witoborn! … Denn sage man, was man will, das Papier ist eine Erfindung des Teufels … die Buchdruckerpresse gewiß …

Armgart hörte diese Ansichten nicht zum ersten mal und dachte ebenso und hielt in schmerzlicher Ergebung den Vater für angesteckt von englischen Einflüssen … Sie verfiel darüber in große Trauer …

Lucinde bezeigte für Armgart noch immer nur ein vornehmes und geringschätzendes Mitleid … Solche kleine Welt, die „auch schon mitreden will“, war ihr ein Gegenstand der Abneigung …

Dennoch fing sie an etwas zu scherzen, als Frau von Sicking am Pfarrhause abgestiegen war, um sich selbst nach dem Befinden des Pfarrers zu erkundigen und ihn womöglich zu sprechen … Sie neckte jetzt Armgart mit Benno und Thiebold … Dann auch mit Terschka, 306 den sie am Jagdabend trotz ihrer Aufregung bei Tafel scharf beobachtet hatte …

Ihr kluger Blick sah sogleich, wie die Augen Armgart’s aufleuchteten, als sie, in dem jungen Herzen wie mit einem spitzen Messer bohrend, sprach:

Aber was red’ ich denn! Terschka schwärmt ja für Ihre Mutter! Und jeder wird das müssen! Sie hat graue Locken, das ist wahr! Aber sehen Sie, dort liegt noch der Schnee auf dem kleinen Dachwinkel der Liborikirche und alles rings ist wie belebt von Frühlingsahnung … So auch – bei Ihrer Mutter …

Dich kenn’ ich jetzt ganz! hätte Armgart rufen und sich auf sie werfen mögen …

Frau von Sicking kam zurück, becomplimentirt von Müllenhoff, der zwar noch ziemlich angegriffen aussah, aber doch die Berathung mit den Gemeindevorständen in Sachen seines Dorfconcordates heute nicht ausgesetzt hatte …

Müllenhoff war die Verlegenheit und das Hochentzücken selbst … Er ließ den Bedienten nicht an den Schlag, nur um Frau von Sicking selbst hineinheben und die beiden andern Damen begrüßen zu können … Esbouquet und Sammet und Seide thaten es ihm an … Ohne Zweifel drückte er die zarten Glacéhandschuhe der Dame, die er in den Wagen hob … Wol fünf Minuten lang sah er dem Wagen nach und würde sich unfehlbar aufs neue erkältet haben, hätte ihn nicht die Kathrein ins Haus zurückgezwungen …

Die weitere Fahrt wurde noch schweigsamer, als die frühere … Lucinde mußte über den Einfluß des Priesterthums auf die Ueberzeugungen der Frau von Sicking 307 ihre Satyre unterdrücken … Armgart verfiel, je mehr sie sich Witoborn näherte, in Angst und Wehmuth …

Sie hatte von Lucindens Wesen auf die Länge nicht ganz die Wirkung, wie Paula … Sie sah sie prüfend und prüfend an, verglich den Eindruck, den sie ihr im vorigen Jahre machte, mit dem jetzigen … Sie fühlte sich eher schon durch sie angezogen, als abgestoßen … Sie erzählte bereits am Pfarrhause Lucinden, warum Paula nach ihr so oft ein aufrichtiges Verlangen trüge …

Paula’s letzte Vision mußte sie erzählen …

Wieder tadelte Frau von Sicking, daß die Comtesse nicht die reinen Anschauungen vom Kreuze hätte. Sie bestritt ein Vorhandensein des eigentlichen Hochschlafs, mit dem ganz andere Erscheinungen verbunden zu sein pflegten, nicht selten ein Abdruck aller Nägelmale des Herrn auf dem Körper einer solchen Himmelsbraut …

Armgart war so tief unglücklich, daß sie auf diesen Angriff schwieg … Sie preßte nur den Brief Terschka’s an ihre Brust und sah und hörte im Geist schon die Mühlen Hedemann’s und die Klingel an der Klosterpforte …

Endlich war man auch beim stattlichen Gitter vor dem Landhause der Frau von Sicking angekommen …

Diese stieg aus und bat Lucinden, das Fräulein nach Witoborn zu begleiten … Die Angelegenheiten des jungen Herzens interessirten sie nicht …

Lucinde hatte in Witoborn für ihre Abreise Vorkehrungen zu treffen und hoffte auch noch etwas im Münster von Hubertus zu erfahren, falls sich dieser aus dem Walde herauswagte … Sie wollte fort, ehe der Rath von Enckefuß eintraf …

308 Inzwischen hatte sie angefangen, dem jungen Kinde immer mehr Theilnahme zu schenken … Hing doch Armgart mit dem Leben so vieler Personen zusammen, die ihr werth waren … Offenbar befand sich die Kleine wieder auf der Flucht vor ihren Aeltern; die Gründe dafür waren landbekannt … Allmählich verglich sie Armgart mit Treudchen Ley … Wer ihr unbedingt gehorchte, dem konnte sie auch schmeicheln … Sie zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit den Fingern über Armgart’s Stirn …

Sie haben auch schon Sorgen? sagte sie …

In Armgart’s Antwortsblick lag:

Was gehen dich meine Sorgen an oder bist du – vielleicht doch nicht so schlimm, wie sie alle sagen? …

Lucinde verstand diesen Blick …

Man lästert mich wol recht auf Westerhof? Nicht wahr? … sprach sie seufzend …

Auf Westerhof? Da lästert man nicht! Aber in Heiligenkreuz, ja da stehen Sie schlecht genug angeschrieben … Das kann ich Ihnen sagen …

Lucinde warf verächtlich die Lippen auf … Dann streckte sie die Hand aus und zog Armgart zu sich hinüber – Armgart hatte durchaus auf dem Rücksitz bleiben wollen – Ja sie hielt sogar Armgart’s Hand fest, die den Brief zu bedecken suchte … Der Brief wurde sichtbar, doch beachtete ihn Lucinde nicht … So schlecht also hat man mich gemacht! … wiederholte sie. Und gewiß ist es die Unbescholtenste von allen, Fräulein von Tüngel, die mich am meisten lästert! … Hassen Sie denn nicht auch so die Dummheit? … Diese Dame 309 speculirte auf einen armen Phantasten, der sie allerdings um meinetwillen nicht mochte …

Jérôme von Wittekind! Ich weiß alles … Und – Ihr – Ihr Doctor Klingsohr … Den trägt man Ihnen bitter und mit Recht nach …

Lucinde zuckte die Schultern und sagte:

Den hab’ ich nie geliebt … Sieh, sieh, weißt du schon, was die Liebe ist? …

Dies „Du“ flocht sie, indem sie mit dem schwarzen Handschuh fingerdrohte, so gewandt und listig ins Gespräch, daß Armgart vor dem traulichen Ton zwar erschrak und von ihr abrückte, ohne ihr jedoch zürnen zu können; ihr kam das Du dann noch natürlicher, als sie sprach:

Lucinde! Dich sollte eigentlich jeder meiden! …

So! entgegnete diese mit zuckenden Lippen und fiel in ihre kältere Art zurück. Das spricht Armgart! Ihre Mutter kommt heute und Sie fliehen wieder vor ihr – wieder mit zwei jungen Männern vielleicht – Sie müßten doch wol schon gelernt haben, wie Frauen leicht und unschuldig in einen falschen Ruf kommen können …

Armgart wurde über die beiden jungen Männer roth …

Alle Welt weiß ja schon von Ihrem Vorsatz! … Ich lasse den Wagen halten und verhindere Ihre neuen Thorheiten –

Lucinde! …

Freilich! Sagen Sie gleich, wo wollen Sie hin? …

Zu Hedemann –

Dort finden Sie Ihren Vater –

310 Armgart sprang auf und sank durch die Bewegung des Wagens auf Lucindens Schoos …

Diese hielt sie fest …

Dann flieh’ ich zu den Clarissinnen ins Kloster … Oder in den Wald zu den Eremiten – oder in die weite Welt hinaus! …

Lucinde mußte Armgart, die sich loswand, von ihrem Schoose freigeben … Sie betrachtete das aufgeregte junge Mädchen halb mit Lachen, halb mit Rührung und ließ sich von Armgart’s Gelübde erzählen … Auch an Serlo’s Töchter dachte sie bei ihrer Vergleichung … Sie wandte sich Armgart zu, die wieder neben ihr saß … Lucindens Augen hätten dabei vor List glänzen können und glänzten doch nur vor Theilnahme … Ihr Mund öffnete sich … Ihre ganze Erregung machte sie jung und schön, wie in den Tagen ihrer ersten Blüte … Armgart athmete kaum, so bangte ihr vor der Begleiterin und dies Bangen wurde ihr ein wohliges …

Lucinde, sagte sie tonlos, du kannst Latein, Italienisch, hast unsern Glauben angenommen … aber ich fürchte mich doch vor dir …

Weil ich so schlecht bin! … erwiderte Lucinde vor sich hin und ihre schwarzen Augen verschlangen mit einer ungewissen Sehnsucht die braunen Armgart’s …

Du bist eine Schlange, eine Hexe, sagen sie …

Dann bin ich es auch wol! Darauf verstehen sich ja die Menschen und besonders die Frauen …

Armgart kämpfte immer mehr gegen die Bestrickung durch diese auch ihrer Lebensauffassung so verwandte Ironie …

311 Seit ich lesen kann, seit Paula in die Anstalt kam, fuhr sie fort, hab’ ich dich, Lucinde, fürchten gelernt … Paula schrieb zwar immer von dir, ich sage dir das offen, mit Bewunderung … Sie ist so gut, sie verehrt dich … Wahrhaftig! … Und ich weiß doch, daß sie eigentlich nur immer Angst vor dir haben sollte …

Auch noch jetzt? sagte Lucinde mit dem Ton der Resignation und in Anspielung auf Bonaventura …

In ihren Visionen sieht sie dich fortwährend …

Und wie dann? …

Nie gut …

Diese Visionen lügen … Kluge Armgart! … Diese Visionen sind nur Widerspiegelungen aus Paula’s eigenem Innern. Glaube mir’s! … Was würden wir nicht alles sagen und verrathen können, wenn wir so plötzlich den Willen und die Selbstbeherrschung verlören! … Paula sieht nichts, was außer ihr ist. Sie sieht nur Bilder der Erinnerung, ihres Wissens und sonstigen Ahnens und Fühlens. Sie spricht nur die Gedanken aus, die sich im Menschen unbewußt sammeln und ihm in den Mund kommen, er weiß selbst nicht wie. Wenn du träumst, Armgart, ist es dir nicht gerade ebenso? … Daß sie dann freilich, ohne es zu wissen, alles herausspricht, das ist eine fatale Krankheit …

Armgart dachte allen diesen Worten nach, sagte dann aber doch:

Du irrst, Lucinde! Sah sie nicht kürzlich den Vater des Domherrn? …

Von Asselyn? … Warum nicht? Sie beschrieb ihn, wie man vom Lande der Seligen träumt …

312 Nein, nein! Das wirkliche Italien war’s, wo sie ihn sah … Terschka – bestätigte alles …

Unsere Vorstellung vom Paradiese ist – so etwas wie Italien … sagte Lucinde, schwieg dann aber und ließ Armgart Recht behalten …

Dadurch wurde diese noch sicherer …

Dein armer Klingsohr! fuhr Armgart fort. Der liebt dich wol noch jetzt! Wie weit hin war der berühmt! Noch im letzten Herbst wurden seine Aufsätze jeden Abend bei uns vorgelesen. Alle sagten dann: Das ist der Sohn des Deichgrafen! Das ist der, der um – deine Lucinde, Paula, ins Kloster gegangen ist! Die Tante wollte nicht, daß ich erführe, was Liebe ist, und sagte: Ach was! Aus Schmerz um seinen Vater, aus Reue über sein Einverständniß mit dem Kronsyndikus ist er in’s Kloster gegangen! …

Ein Kloster ist für vieles gut – das siehst du an deiner Mutter und an dir … sagte Lucinde ausweichend … Also die Liebe solltest du nicht kennen lernen und nun kennst du sie? … Herr von Terschka liebt jetzt statt deiner Mutter – glaub’ ich – dich …

Armgart ergriff Lucindens Hand und sagte mit erstickter Stimme:

Was sprichst du da …

Ich sah es ja neulich bei dem Jagdbanket – den Augen der Männer sieht man das an! Terschka’s Augen verschlangen dich …

Lucinde! rief Armgart ablehnend – und ihr Auge verschlang doch auch die Augen Lucindens …

313 Cest la vogue! … Auch Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge lieben dich …

Armgart nannte französisch die Sprache, die Gott geschaffen hätte, Dinge zu sagen, die andere Nationen zu sagen sich schämten … Sie sagte das eben …

Als Lucinde darüber lachte, fiel sie sich ihr abwendend ein:

Wähle du dir einen davon! …

Lucinde ging auf den Scherz ein:

Hm, Thiebold de Jonge? sagte sie … Ei, der ist sehr reich und das ist viel werth … Aber … Was hilft mir ein Mann, für den ich den Verstand haben muß! Dein Vater hat ihn aus dem Wasser gezogen, hör’ ich. Mir würde er – ewig im Sanct-Moritz liegen … Immer müßte ich ihn an den Haaren halten … Seine Haare sind freilich hübsch … Nun ja, mir recht! Um die Wahrheit zu sagen, ein rechter Mann muß ein bischen dumm oder lieber noch wild sein, dann ist’s eine Lust, ihn ziehen und zähmen zu können … Wahrhaftig, ich nähme den Thiebold noch lieber als den Benno …

Armgart horchte einer Sprache, die sie – für frivol hätte erklären müssen und die sie doch fesselnd fand …

Benno – der ist schön, interessant, aber – eingebildet! fuhr Lucinde fort. Der ließe keine Frau aufkommen … Immer würde er ihren Verstand mit Ironie behandeln … Nein, nein, diese Männer, die sich so klug dünken –

Armgart hielt Lucinden den Mund zu …

Terschka freilich – fuhr diese fort …

Das Kapitel verstehst du nicht …

Lucinde machte sich frei und fuhr fort:

314 Terschka – das denk’ ich mir so! Graf Hugo ist Terschka’s Freund … Geht Paula, deine Freundin, nach Wien, so wirst du, Närrchen, natürlich folgen wollen und da – macht sich denn alles ganz natürlich –

Nach Wien? unterbrach Armgart. Nach Wien? Wer geht nach Wien? …

Ich höre doch …

Sie geht in ein Kloster … Wie ich … Nur – daß ich schon heute gehe …

Pah! Ihre Aufgabe, die Aeltern zu versöhnen, sagte Lucinde, ist nicht so schwer … Es ist wahr, Ihre Aeltern hassen sich; aber es gibt einen Haß, der der unmittelbarste Gegenpol der Liebe ist und bei günstiger Gelegenheit sogleich in Liebe umschlägt. Man haßt dann nur, weil man eben nicht liebt, das ist ein großer Unterschied vom gewöhnlichen Haß. Der gewöhnliche Haß verachtet und will gar nicht lieben. Wenn man aber weiß: Einer ist nur außer uns im Leben, der uns ganz und gar aufhebt und vernichtet … Nun ringst du gerade mit dem und mit keinem andern … Weicht er oder weicht er nicht … An ihm allein missest du deine Kraft … An ihm deinen Werth … O, das ist ein ganz anderer Haß … Ja schüttle dein liebes Köpfchen nur … Du verstehst das alles noch nicht … Tage und Wochen lang nur immer auf Einen denken, immer nur für dessen Widerlegung, wenn er uns misverstand, leben, dem zum Widerspruch, aber auch nur um Den allein das Höchste und Kühnste beginnen, malen, dichten, philosophiren, entbehren; – alles das hat, ich weiß es vom Oberprocurator Nück – auch deine Mutter gethan und keiner 315 ist ihr dabei doch bei all ihrem Zorn und ihrem Schmerz gegenwärtiger gewesen, als immer der Mann, der sie früher bändigen wollte, ehe sie die Lust der Freiheit gekostet, oder, wie man richtiger sagt – gebüßt hat … Und wenn ich mir den Obersten vergegenwärtige, den ich kenne, den ich gesehen und gesprochen habe –

Armgart hing an Lucindens Lippen mit bebender Erwartung und hielt krampfhaft ihre Hand … Daß diese ihr eigenes Verhältniß zu Bonaventura beschrieb, wußte sie nicht; so leidenschaftlich konnte sie sich die Liebe zu einem Priester nicht denken …

Dein Vater, fuhr Lucinde fort, erschien mir bei einem kurzen Begegnen in Kocher am Fall eine Natur wie aus Granit. Lieben könnt’ ich ihn nicht. Aber – nun kam Lucinde unbewußt in die Anrede mit „Sie“ zurück – Ihre Mutter schon, die sieht nicht, glaub’ ich, die Bibliothek, die in seinem Innern aufgebaut ist, von zehntausend Bänden Weisheit. Sein Bruder, Ihr Onkel Levinus, hat auch diese Bibliothek im Kopf, ich hörte das ja heute; aber der plaudert sie aus oder sie liegt krummbucklig in ihm durcheinander, bald orientalisch, bald spanisch, bald kocht er Gold, bald blos Seife … Der ist nicht einmal das Conversationslexikon, wo es doch nach den Buchstaben geht … Aber bei Ihrem Vater – da sieht man keinen einzigen Titel, keinen Einband, kein Schubfach, keine Rolltreppe – in alten Klosterbibliotheken ist’s himmlisch, Armgart! – das ist alles von ihm verdaut und wirklich Fleisch und Blut geworden. Denke dir, Armgart – Lucinde ging aus ihrer Zerstreuung wieder in diese Anrede über – denke dir 316 diesen Magen! Diese Gesundheit! … Deine Mutter ist dann gerade ebenso … Sie liebt deinen Vater, sowie sie ihn sieht – falls freilich nicht bereits dein schlimmer, höchst leichtsinniger – Terschka –

Armgart hielt gerade krampfhaft Terschka’s Brief in der Hand und legte diese und den Brief auf Lucindens Mund …

Nein! Nein! sagte Lucinde beruhigend und wiederholte halb spottend das allbekannte Gelübde Armgart’s: In der Rechten die Mutter, in der Linken den Vater und so beide fürs Leben verbunden! …

In Witoborn, wo es des Tags nicht blos zu jeder Stunde, sondern im Grunde immer läutet, hämmerte bereits der unruhige Hinkbote, der in der Glocke jedes Jesuitenthurms sitzt. Das ging wie beim Sägemann auf dem Weihnachtstisch …

Armgart bat Lucinden, noch eine Weile auf den Wällen langsam hinfahren zu lassen …. Das Wetter wäre so schön … Sie wollte zu Hedemann, wollte nach der Ankunft des Vaters fragen und dann ins Kloster zu den Clarissinnen …

Lucinde that alles, wie gewünscht und beugte sich zum Schlag hinaus, um mit dem Kutscher zu sprechen … Dabei entglitt ihrer Brust das Kreuz …

Du bist katholisch geworden! sagte Armgart, es ihr zurücksteckend. Weißt du auch, was katholisch ist? …

Katholisch sein heißt einen geheiligten Willen haben …

Das ist recht! wallte Armgart auf. Wenn ich Hedemann gesprochen habe und ehe ich ins Kloster gehe, beten wir im Dom zusammen? …

317 Ich reise heute … entgegnete Lucinde ausweichend … Sie – ins – Kloster! setzte sie nach einer Weile hinzu und gedachte Treudchen’s, die gleichfalls nur einen vorübergehenden Schutz im Kloster suchte und dort vielleicht für immer blieb …

Wann reisen Sie denn? … unterbrach Armgart ihre Abmahnungen …

In wenig Stunden …

Und kommen nicht wieder? …

Gegen Ostern …

Armgart’s Miene war so wehmuthvoll, als wollte sie sagen: Wer weiß, wo ich dann bin! …

Lucinde sah diesen Schmerz, der sich durch ein Blinken der weißen Zähne ausdrückte …

Sie nahm jetzt den Brief, den Armgart aus Zerstreuung wieder in der Hand hielt … Sie wollte vom Gespräch über ihre eigenen Pläne und Absichten abkommen und sagte:

Das ist ja ein Brief an Ihre Mutter? …

Armgart erschrak und bestätigte es kleinlaut …

Wollen Sie ihr den Brief aus dem Kloster schicken? …

Armgart blieb die Antwort schuldig …

Haben Sie diese wunderliche kleine Handschrift? …

Nein – Herr – von Terschka …

Lucinde nahm den Brief, verglich den Umstand, daß Armgart diesen Brief nach Witoborn mitnahm, mit allem, was sie aus Armgart’s Mienen zu lesen glaubte, und sagte:

Der Brief sollte in Westerhof Ihre Mutter begrüßen 318 – nicht wahr? … Nun sind Sie neugierig, was wol Terschka Ihrer Mutter schreibt, während er Ihnen zu gleicher Zeit – Machen Sie doch den Brief des leichtsinnigen Mannes auf! …

Lucinde! rief Armgart und wie wenn einer Mutter ihr Kind ins Wasser stürzen will, griff sie nach dem Brief –

Lucinde gab ihn zurück …

Was aber hatte sie schon gethan? …

Mit einer einzigen Bewegung des Fingers hatte sie unter die Klappe des Couverts gegriffen und sie aufgerissen. So gab sie den Brief an Armgart zurück … Es war eine Regung ihrer alten Natur …

Für Armgart war das freilich zu viel … Geschah ein Verbrechen, das so weit ging, ein fremdes Geheimniß nicht zu schonen, so mußte es feierlich, wenigstens erst mit einem Gebet zu Gott geschehen … Diese rasche That lähmte ihr die Sprache …

Lucinde lachte darüber …

Abscheuliche! Jetzt erkenn’ ich dich! rief endlich Armgart, nur zu einigen Worten sich sammelnd …

Lucinde konnte nicht aus dem Lachen kommen …

Schändliche! Schändliche! …

So lesen Sie doch, Kind –

Ich verbitte mir –

Lucinde lachte …

Sie verdienen –

Was? Armgart! Einen Kuß! …

Nicht Ihre Armgart bin ich … Demoiselle Schwarz! – Halt! Halt! …

319 Sie rief dem Kutscher …

Der Wagen hielt … Es war am Eingang in den Witobachgrund … Die Mühlen schienen eben zu rasten … Es war still ringsum …

Der Bediente sprang hinunter und öffnete den Schlag …

Warum haben Sie mir das gethan! lenkte Armgart wieder zum alten gütigen Tone ein und hielt den Schlag zu …

Lucinde, verletzt durch das plötzliche Herauskehren der Fräuleinswürde Armgart’s, wandte sich ab und that, als verlöre sie mit solchen Possen nur die Zeit …

Ich sehe es zu gut, sagte Armgart weinend, daß Ihr Uebertritt zu unserm Glauben nur eine Heuchelei war! Ja, Sie sind eine Schlange, die sich erst warm an unserm Herzen einnistet und dann das Blut aussaugt! Darum flieht auch alles vor Ihnen! Und ich, ich lasse mich bethören! Gerade wie die armen jungen Mädchen auf den Streckbetten damals! Nun fühl’ ich wieder den fürchterlichen Stich im Herzen, wie damals, als ich Sie zum ersten male sah! …

Lucinde wandte sich ab und beachtete sie nicht mehr …

Da der Schlag Armgart’s Händen entglitten war und das längere Offenstehen des Wagens Lucinden veranlaßte, ihren Mantel, wie gegen Frost, fester zu ziehen, stieg Armgart aus …

Beide trennten sich, als wäre mitten in ihrem schönsten Flusse eine Melodie durch das Reißen einer Saite unterbrochen worden.

320 23.#

Mit ihrem Bündelchen und dem erbrochenen Briefe schritt Armgart wie die verstoßene Hagar dahin …

Sie betrat die Gegend Witoborns, wo sonst das Wasser rauscht, die Räder brausen, die Sägemühlen kreischen, die Mittagszeit alles still gemacht hatte … Die Witobach machte hier eine Biegung, die einen alten Gefängnißthurm, jetzt das Hauptwerk des ganzen Mühlenbetriebs, wie auf einer Insel liegen ließ …

Hier und da wurde der Weg durchkreuzt von alten durchbrochenen Mauern und großen Schuppen …

Hier also wollte der Vater seinen künftigen Wirkungskreis eröffnen, hier eine Erfindung des Satans befördern helfen und Papier machen … Daß doch auch die Gebetbücher und Breviere des Papiers benöthigt waren, gab Armgart schon eine Erkräftigung gegen die strengen Vorwürfe der Frau von Sicking … Aber – welch ein räthselhaftes Wesen allerdings im Papier liegt, sie fühlte es an dem Briefe, der ihr enthüllen konnte, was und wie Terschka ihrer Mutter zu schreiben wagte …

321 Fernab, schon in der ersten Häuserreihe der Straßen, lag das freundliche Häuschen, wo Hedemann wohnte … Und seit einigen Wochen hatten dort Benno und Thiebold gewohnt, sie, die sie aus ihrem Leben ausgelöscht zu haben glaubte und es doch so wenig konnte wie wieder die heutige Erinnerung zeigte … Es war Mittagszeit … Sie konnten, wenn sie beide noch nicht abgereist waren, eben beim bescheidenen Mahl ihres gastlichen Freundes sein … Wie bewußtlos schritt sie dahin …

Auf einem der schmalen Stege und geländerlosen Brückchen, die hier zu überschreiten waren, begegneten ihr zwei Bekannte …

Der bucklige Stammer und Frau Schmeling, die Hebamme …

Unwillkürlich erschauderte sie trotz des demüthigen Grußes, der von beiden ihr zu Theil wurde … Stammer war im Kirchenbann, auch die Schmeling sollte hineinkommen … Auch von Hedemann hörte man, daß sich zu Ostern, beim allgemeinen Communiongang, sein wahrer Kern enthüllen würde … Die Aeltern Hedemann’s waren gleichfalls im Kirchenbann … Ja ihr eigener Vater galt für einen Freigeist, wie die Mutter … Sie irrte wie am Scheidewege zwischen Himmel und Hölle …

Wie lag das Gespräch mit Lucinden auf ihrem Herzen … Was hatte sie an Anschauungen und wilden Lebensmaximen vernommen! … Und sie fühlte ja auch schon lange, daß eine seltsame Musik durch ihre eigene Seele zog, fühlte, daß sie im Vergleich mit ihrer lichtreinen Paula längst in immer unheimlichere Schatten trat … Sie konnte nichts nennen von dem, 322 was sie so bedrückte … Aber ihr erstes Gefühl war, zu sagen: Das ist die Sünde! … Und gerade darin lag ihre Angst, daß in ihr tausend muthige Stimmen riefen: Was Sünde! Gib dich, wie du mußt! … Dies Müssen war ihr dann wie ein Gezogenwerden schon von der Hand des Teufels …

Grinsend sprang der berüchtigte Musikant zur Seite… Auch die Hebamme schien betroffen, sich von dem Stiftsfräulein hier mit Stammer gesehen zu finden … Sie knixte und erbot sich mit schneller Zunge zu einer Auskunft, da Armgart nicht wußte, wie sie aus diesem Labyrinth der kleinen Kanäle der Witobach herauskommen sollte …

Ich wollte zu Hedemann … sagte sie …

Der ist eben im Thurm, mein gnädiges Fräulein! Eben ging er die Treppe hinauf … Da! … Sehen Sie … dort die Thür! …

Stammer deutete zu diesen Worten der Schmeling den kürzern Weg an, auf dem Armgart zu diesem Thurm gelangen konnte …

Alles ringsum blieb still … So viel Worte hätte man hier sonst ohne die lebhafteste Erhebung der Stimme nicht wechseln können …

Der Thurm mußte bewohnt sein … Eine alte Frau stieg von der Außentreppe nieder, in der Hand hielt sie einige Töpfe … Aus einem Verschlage, an dem Armgart still stand, sah eine Ziege hervor und bohrte mit den Hörnern an der Oeffnung … Selbst darüber wurde ihr ängstlich zu Muthe … Vollends aber, als sie die Frau nach Hedemann fragte und an der Antwort sah, daß die Alte taub war …

323 Armgart stieg nun von selbst einige Stufen höher in die offene Thür …

Von hier wieder abwärts gehend, hatte das alte Mauerwerk im Erdgeschoß eine Küche, in die man hinunterblicken konnte … Auf dem Herd unten lagen verglimmende Kohlen … Eine enge steinerne, abgetretene Treppe führte nach oben hinauf … Sollte sie sie besteigen? … Sie sah sich erst nach einer Klingel um; die Alte folgte ihr schon dicht auf der Ferse und sprach nichts und betrachtete sie nur neugierig …

Da wurde Armgart von oben angerufen und begrüßt …

Es war Hedemann’s Stimme; aber sie sah ihn noch nicht … Nur die Füße bemerkte sie … Sie mußte erst durch eine Fallthür den Kopf stecken, bis sie Hedemann von Angesicht sehen konnte …

Fräulein Armgart, Sie sind es –? rief er ihr entgegen und reichte ihr die Hand, sie emporzuziehen …

Hier sind Sie ja wie in einem Gefängniß … sagte sie …

Das war hier auch ehedem so etwas! sagte Hedemann … Der Thurm gehörte zur Vogtei …

Hedemann schien hocherfreut von diesem Besuch und setzte hinzu:

Aber darum ist es hier doch ganz angenehm! Kommen Sie nur näher! …

Hedemann öffnete ein Gemach, das in der That warm und behaglich war. Zwar waren die Fenster kaum größer, als Schießscharten, aber da es ihrer vier waren und sie ganz hoch lagen, erhellten sie den Raum, der mit 324 einem in einem Alkoven befindlichen Bett, einem alten Lehnstuhl, einem Tisch und einigen Stühlen besetzt war … Tassen, Gläser standen auf einer Kommode … Es war das Bild einer kleinbürgerlichen Wohnung …

Um den Fußboden dieses Zimmers selbst zu betreten, mußten dann beide innenwärts noch einige Stufen hinuntersteigen …

Armgart war glücklich, Hedemann hier oben allein sprechen zu können … Sie warf ihren Muff ab, band den Hut auf, lüftete den Mantel und rückte sich dem behaglichen halb eisernen, halb Kachel-Ofen näher, um die Füße zu wärmen …

Hedemann begleitete alle diese Bewegungen mit den Worten:

Nun, das ist gut! Das ist gut! …

Was ist gut, Hedemann? …

Daß Sie nicht in Westerhof bleiben! Heute kommt Ihre Mutter! …

Sie wissen –? … Und der Vater? …

Das ist recht, Sie halten am Vater …

An Vater und Mutter! Wie Sie’s immer ja selbst sagten …

Aergert dich aber dein Auge, so reiß es aus! … Mit der Mutter können Sie nicht gehen, ohne den Vater zu kränken …

Ich weiß es … Und wann kommt der Vater? …

Ich denke, jede Stunde … Sie sind ein gutes Kind – In Ihren Jahren gehören Sie dem Vater! …

Ich will zu den Clarissinnen gehen, Hedemann, und dort so lange warten, bis mich beide abholen …

325 Da würden Sie den Schleier nehmen müssen! Daß beide zusammen kommen, würde lange dauern …

Nun, dann – dann thäte es ja auch so – vor Gott nichts …

Hedemann wallte über dies Wort auf und schien von plötzlichen Gedanken ergriffen …

Haben Sie schon gegessen? fragte er …

Essen und Trinken lehnte Armgart ab …

Kommen Sie hinüber in mein Häuschen … Benno und Herr de Jonge speisen heute nicht bei Tangermanns, sondern gönnen mir die letzte Ehre … Vielleicht überrascht uns zum Nachtisch – der Oberst …

Hedemann! … Ich darf nicht …

Sie bleiben dann auch gleich drüben … Bei Ihrem Vater! … Ja, dessen Schild und Ehrengarde müssen Sie nun werden! …

Sie wissen ja schon von Lindenwerth, wie ich über alles das denke …

Der Vater will keine Versöhnung …

Ich aber will sie …

Läßt sich ein Mann vorschreiben? …

Aber die Mutter …

Umstrickt Sie! Auf Westerhof ist gestern das große Loos gezogen! Die Urkunde hat sich gefunden … Da mag es hoch hergehen … Bleiben Sie getrost bei Ihrem armen gekränkten Vater…

Hedemann –

Sie sind jetzt alt? – Sechszehn Jahre – denk’ ich … Warten Sie, ich kann es bis auf die Minute sagen –

326 Hedemann nahm ein Buch, das unter den Tassen und Gläsern lag und an seinem Einband schon als die Bibel zu erkennen war …

Hier stehen sie alle, die zu meiner Familie gehören! … Auch Sie gehören dazu …

Guter Hedemann! … Aber hier kann ich nicht länger bleiben …

Sie – bleiben hier …

Ich gehe nicht nach Westerhof zurück … Das versprech’ ich … Aber ich will ins Kloster …

Ins Kloster! Was da! Sie bleiben bei Ihrem Vater! Da steht auch Buch Sirach: „Bleibe treu dem Freunde in seiner Armuth!“ …

Armuth? …

Arm und reich macht Liebe, Ehre, Anerkennung, Gerechtigkeit … Armgart, Sie müssen jetzt zum Vater halten! Sie müssen die Netze der Mutter fliehen! Westerhof sogar, die Tante, den Onkel, alle, die den Obersten lästern … Die Rede Ihrer Mutter wird süß sein, gewiß … Erst aber müssen Sie dem Vater in die Arme fliegen – wie die Tochter Jephtha’s, da er die Feinde geschlagen! Sela! … Sechszehn Jahre, drei Monate und sieben Tage sind Sie alt! Da steht’s! …

Das kann ich nicht, Hedemann! sprang Armgart jetzt auf … Denn sie erschrak vor der seltsamen Entschiedenheit des Mannes … Wie könnt Ihr mir rathen, so meiner Mutter weh zu thun? …

„Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen!“ spricht Paulus – sondern – doch wohl umgekehrt …

327 Hedemann, adieu! Schickt den Vater zu den Clarissinnen! Ich folge ihm nur, wenn er mit der Mutter kommt! …

Der Rath des Herrn bleibt ewiglich! Sela! …

Mit diesen Worten machte Hedemann einen gewaltigen Schritt auf die vier oder fünf Stufen hinauf, die von der Thür in das kleine Gemach hinunterführten …

Was habt Ihr vor? rief Armgart entsetzt und sprang ihm nach …

Und wie Hedemann noch eine Stufe weiter zurückgegangen war, kam ihr die Ahnung, daß er gegen sie etwas im Schilde führte …

Jesus Marie! rief sie … Ich werde – doch – wieder – gehen können –? …

Das hat der Herr gefügt! sprach Hedemann und hielt schon die Thür in der Hand …

Hedemann, was? … Armgart stand schreckgelähmt …

Nicht wie in Lindenwerth sind wir hier … Nicht wieder wie damals in Nacht und Nebel vor Vater und Mutter entflohen …

Hedemann! …

Armgart, die diese Wendung ihres Vertrauens nicht für möglich gedacht hatte, schrie den Namen so laut, daß man sie auf hundert Schritte weit über die Insel hinaus hätte hören müssen …

Aber auch im selben Augenblick griff Hedemann an eine links hängende Klingel und wie der Zusammensturz eines Hauses so brausend begannen sofort die Räder der Mühlen ihre kreisenden Bewegungen, die schrillen Töne der Sägen durchschnitten die Luft, das Wehr, 328 das gestaut gewesen, entsandte seine Donnertöne … Seine eigenen Gedanken begriff man nicht, viel weniger hörte man ein eigenes Wort oder das eines andern …

Wie von einem Taumel überfallen schwankte Armgart zurück und ehe sie sich noch in den schrecklichen Augenblick gefunden und sich mit beiden Händen wie zum Angriff auf Hedemann gerüstet hatte, war dieser verschwunden …

Nun stürzte sie die Stufen hinauf und rüttelte an der Thür … Sie schlug wider sie mit beiden geballten Fäusten … Die Thür war eisenbeschlagen und eisenfest … Sie suchte einen Griff, einen Riegel, um zu rütteln – selbst diese fehlten, die Thür war von innen nur durch einen Schlüssel zu öffnen und dieser war abgezogen … Mit der Behendigkeit eines flüchtigen Wilds sprang sie die Stufen wieder hinunter, riß einen der Stühle an die hoch gelegenen kleinen, kaum einen Fuß breiten Fenster, griff hinauf, um eines, das nach außen vergittert war, zu öffnen – vergebens, von den Fenstern war gerade dies nicht zu öffnen – Sie sprang hinunter, rückte den Tisch an die Wand, kletterte hinauf, suchte ein anderes Fenster zu öffnen … Dies gelang … Sie schrie hinunter ins Freie: Hülfe! Hülfe … Der Ruf verhallte in dem Lärm des Mühlenwerks und des Wehrs ohnmächtig wie das Summen eines Käfers … Kein Haus lag gegenüber, kein Weg führte daher … Sie konnte rufen und rufen und erschöpfte nur die Kraft ihrer Stimme und den letzten Rest des Muthes, den sie dem so rasch ausgeführten Entschluß entgegensetzen konnte …

329 Schon dachte sie: Es ist ein Scherz von ihm … Er wird wiederkommen …

Aber wenn er mit dem Vater käme? Wenn mein Gelübde – vereitelt wäre! …

Als sie das Fenster der hereinströmenden Kälte wegen zugeworfen hatte, wieder niedergestiegen war, immer von dem betäubenden Geräusch begleitet, sank sie auf den Lehnstuhl nieder und ließ verzweifelnd die Hände zusammengefalten auf ihrem Schoose liegen … Blasser und matter neigte sich ihr Haupt … Der Hut entfiel ihr … Sie lag in Betäubung … Von dem dumpfsten Schmerze der Seele ebenso gefoltert, wie von dem grauenhaften, ihrer Stimmung hohnsprechenden Getöse um sie her …

Das hatte sie nicht für möglich gehalten! Hedemann’s Gefangene war sie … Aus seinen Bitten, die ihr noch von den letzten Augenblicken an der Maximinuskapelle im Ohr klangen, waren Befehle geworden … Sie konnte erwarten, daß nur ihr Vater sie hier befreien würde … Jetzt hätte sie aus dem Fenster nach Benno und Thiebold rufen mögen … Was half es … Nichts war von ihrem Ruf zu hören … Ihre Thränen brachen hervor … Sie, die sich selbst gefangen setzen konnte, tagelang, sie konnte es nicht von andern sein … Sie wollte aufspringen, wider die Wände rennen … Ihre Muskeln hatten keine Kraft mehr, ihren Willen auszuführen … Und was sie dann auch that, nichts ging ja helfend an gegen die Gleichmäßigkeit des Rauschens und Rollens und Donnerns um sie her …

330 Dazu dann endlich noch der Brief, der geöffnete, der vor ihr auf dem Tische lag! …

Sie sah ihn lange mit der innern Ermuthigung an, wenigstens den zu lesen und dadurch in eine vorherrschende, wenn auch schmerzlich zerstreuende Stimmung zu kommen … Jetzt aber überfiel sie plötzlich wieder ein Rettungsgedanke; sie sprang auf und lief an die Klingel, um diese zu ziehen und vielleicht auf einen Augenblick so die Räder zum Stehen zu bringen …

Sie zog so gewaltsam, daß Sie den Draht in der Hand behielt …

Die Räder gingen fort und fort und die stürzenden Wellen des Wehrs rauschten und rauschten nach wie vor …

Nun saß sie wie vernichtet und wie ausgelöscht aus dem Leben …

Allmählich entquollen ihr Thränen …

Sie sah sich gestraft für eine Menge Sünden, die wie in langen trauervollen Bildern an ihrem Innern vorüberzogen … Sie sah sich gestraft von Gott selbst … Die Bibel lag vor ihr, ein Buch, das sie wenig kannte, ein Buch, das ihre geliebte Kirche nicht empfiehlt … Hedemann hatte zwischen manche Seite Papierstreifen gelegt, manche Stelle unterstrichen. Epheser 6, l: „Gehorsam seid, ihr Kinder, euern Aeltern!“ … Und wie, wenn sie eine Antwort gesucht hätte auf die Frage der Verzweiflung: Aber hab’ ich denn nicht ein Gelübde gethan? so fand sie an einer andern Stelle, 1 Samuelis 15, 22, die Worte unterstrichen: „Gehorsam ist besser, denn Opfer.“ …

331 Aus ihren Träumen weckte sie – nur das rauschende Rad und die Woge …

Ganz allein und vergessen war sie darum nicht … Sie bemerkte eine halbe Stunde später ein näher kommendes Geräusch … Es kam aus dem Ofen, der von außen geheizt wurde …

Legte man noch Holz an? …

Bald bemerkte sie einen vom Ofen herkommenden Speisegeruch …

Sie ging hin und sah in der warmen Röhre ein starkes Brett mit einer Schüssel Suppe, mit Brot, Rindfleisch, Erdäpfeln und Braten … Das war wie hingezaubert … Die Speisen kamen von außen herein … Sie übersah den Ofen, der nur zur Hälfte im Zimmer stand und von der andern Hälfte aus eine Klappe hatte, durch die man einen hier Eingeschlossenen verköstigen konnte, ohne daß man eintrat … Sie sah von ihrem Alkoven aus noch einen kleinen Raum, wo sich sogar Geräthschaften zur Reinlichkeit befanden; selbst einen Verschlag, den sie rasch wieder schloß … Der Thurm war für einen längern Aufenthalt eines hier oben völlig Isolirten eingerichtet …

Gefangen! seufzte sie wieder und stellte die einfachen Geschirre auf den Tisch und untersuchte die Klappe im Ofen, die von ihrer Seite aus sich nicht in Bewegung setzen ließ …

Das wird dir wol vom Abschiedsmahl Benno’s und Thiebold’s geschickt! … Wenn sie wüßten, für wen diese Reste bestimmt waren! … Hedemann, mein Kerkermeister, wird ihnen kein Wort davon sagen …

332 Beim Umblick in dem kleinen Raum bemerkte sie immer mehr Dinge, die sowol einem längern Aufenthalt wie zur Befriedigung nächster Bedürfnisse dienen konnten … Auch Wasser stand da, trinkbares … Das Zimmer gehörte ohne Zweifel dann und wann einem der ersten Beistände Hedemann’s bei seinem Geschäft; jetzt fanden sich nirgends Spuren eines eben darauf angewiesenen Bewohners …

Sie aß nun einige Löffel von der Suppe und stellte den Rest der Speisen zurück … Später nahm sie ihn doch. Die Natur machte ihre Rechte geltend …

Sie hätte sich schon zu fügen angefangen, wäre sie nur nicht so gefoltert worden von dem Rauschen der Räder … Das war doch, als rollte so ihr eigenes Leben um … Nun, dachte sie, geht Terschka aufs Schloß, die Mutter ist vielleicht schon da, die Geheimnisse dieses Briefes enthüllen sich, dein Liebesopfer verwirft das Schicksal, der Traum der Legenden ist im Leben unmöglich …

Wieder weinte sie … und bald vor Zorn … Sie schwur, das Aeußerste daranzusetzen, ins Freie zu kommen …

Sie untersuchte wieder Thür, Wände, Fenster, den Ofen … Die verbindende Platte war von Eisen … Dann hoffte sie auf den Abend, auf den Stillstand der Räder, auf die Kraft ihrer jugendlichen Stimme …

Nein, die Nacht läßt er dich nicht hier! sagte sie …

In ihrem wilderregten Innern jagte sich Bild auf Bild. Bei allem verweilte sie, bei Lucinde, bei Bonaventura, bei Paula … Zum Bilde Paula’s vor ihrer 333 Seele erhob sie die Hände in die Höhe und betete: Schließt sich dein Auge, Freundin, so frage deine Engel, wo ich weile! Man wird mich doch vermissen, man wird mich doch suchen; du wirst sagen, wo sie mich gefangen halten! …

Nun weinte sie um die Verzweiflung derer, die nicht wissen würden, wo sie geblieben …

Wieder blätterte sie in der Bibel … Sie bedurfte dieser Zerstreuung auch deshalb, um des Briefs nicht zu gedenken, der sie magisch anzog … Sie hatte ihn in ihren Hut und auf das Bett gelegt … Noch konnte sie sich nicht entschließen, sich für ihre Sachen der Riegelhaken zu bedienen, die sich rings an den Wänden befanden …

In der Bibel fand sie alle die Geschichten am Urquell wieder, die ihr aus ihrem Jugendunterricht so lieb waren, die Erzählungen des Alten und Neuen Bundes … Und sie forschte nach Aehnlichkeiten ihrer Lage … Sie verweilte bei Joseph’s Liebe zu seinem Vater, bei Absalon’s wildem Trotz, bei den Söhnen Eli’s und deren strafendem Ende …

Glocken hörte sie vor dem Lärm nicht schlagen … Schon kam aber der Abend …

Wenn nun ihr Vater hereintrat, was würde sie ihm sagen! … Die Kraft, ihn zu begrüßen mit dem Wort: Du Grausamer, du hast mich um die Wonne des Heiligsten gebracht! hatte sie nicht mehr und stiller und immer stiller wurd’ es in ihr bei dem Gedanken: Hättest du wol das Aeußerste gewagt und Terschka’s Arm ergriffen und dich vor den Augen der Mutter für ihn bekannt? … 334 Sie hatte sich ausgemalt, das im entscheidenden Augenblick thun zu wollen, die Angehörigen zu Zeugen seiner Werbung zu machen und die Aeltern so zu überraschen; die Mutter, wenn sie Terschka liebte; den Vater, wenn er davon eine Ahnung hätte …

Ein Licht stand auf der Kommode und ein Feuerzeug …

Es war nur Ein Licht … Es konnte nicht zu lange brennen und sie rechnete darauf, nicht zu schlafen und die Nacht an ihre Befreiung zu gehen und, wenn die Mühlen endlich innehalten würden, ihren Hülferuf zu erneuern …

So verging die Zeit … Sie zündete endlich das Licht an … Es wurde ihr zu gespenstisch einsam, zu schauerlich ringsum … Sie hörte und sah im Geist, wie man auf Westerhof sie suchte, wie man nach dem Stift schickte und wie die Mutter sich in gleicher Lage befinden würde, wie damals, als man sie ebenso in Lindenwerth nicht fand … Sie gedachte der Geistertheorie des Onkels … Sie hätte auf irgendeine Weise, um an sich zu erinnern, auf Westerhof spuken mögen, durch Anklingen an eine Tasse oder ein Aufklinken der Thüre … Sie wußte, man brauchte nur ganz fest und bestimmt an jemand zu denken und davon erschiene man ihm … Sie dachte sich, Paula versinkt in Schlummer, Bonaventura’s Berührung bringt sie in den Hochschlaf und sie sagt: Armgart sitzt hinter Schloß und Riegel im witoborner Mühlenthurm! …

In solchen Zuständen läuft es im Menschen hin, wie uns plötzlich eine Maus erschrecken kann im wohnlichsten 335 Zimmer – wie uns eine Katze begegnet im lachendsten Blumenfelde. Sachen fielen ihr ein, lächerliche, als sollte sie wahnsinnig werden; zwei Groschen Schulden, die sie noch an eine Mitpensionärin in Lindenwerth zu bezahlen vergessen hatte; eine wundervolle purpurrothe Schleife, die sie an einem Morgenhäubchen der Frau Fuld auf der Veranda in Drusenheim bewundert hatte; ein Bändchen, das neulich dem Pfarrer Müllenhoff während der Messe am Halse hervorguckte; hundert kleine verworrene Thatsachen blitzten auf wie todt bisher in ihr aufgespeichert und machten Lucindens Theorie wahr, derzufolge im Menschen der Stoff zu tausend Propheten stäke, wenn nur eine Hand da wäre, die die Thore des in ihm versenkten Wissens ohne seinen Willen aufschlösse … Und als sie Benno’s und Thiebold’s gedachte, stieß sie dumpf die Worte aus: Gott! Gott! Laß mir die Sinne! …

Dann sprach sie ihr Gelübde noch einmal und bat die Gottesmutter, ihr zur Erfüllung desselben beizustehen. Sie wandte sich an die vierzehn Nothhelfer, jedem derselben nach seiner besondern Kraft ihre Bitte um Beistand vortragend. Die Angerufenen standen vor ihr, jeder mit dem Marterwerkzeuge, das ihm die Ehre der Heiligkeit gegeben. So gewohnt war sie die Litanei: O du gnadenreiche Mutter, du heiliger Joseph, du heiliger Michael und ihr andern lieben Engelein und Erzengelein! daß ihr die Bibel, nach der sie griff, wie ein fremdartiges Buch erschien. Sie gab ihr gleichsam nur das einfache Brot, ihr gewohntes Brevier eine viel süßere Kost …

336 Aus dieser Betrachtung weckte sie wieder ein Gepolter des immer gleich warm bleibenden Ofens …

Jetzt sprang sie rascher hinzu; aber schon war die Bescheerung da … Ein Nachtessen, reicher, als die Tante Abends der Gesundheit für zuträglich hielt … Schon war die Klappe unerbittlich wieder zugezogen …

Wer mag der Rabe sein, der mich nährt? sagte sie, an den Propheten Elias denkend … Die taube Alte? …

Indessen sie aß und nicht ohne Appetit und nicht ohne Besorgniß vor dem Geschirr, das jetzt in der Küche fehlen würde, da sie das vom Mittag noch zurückbehalten hatte, und nicht ohne guten Willen, es selbst zu waschen und in den Ofen zu stellen und dabei rufen zu wollen: Nehmt’s lieber mit, ehe ich’s zum Fenster hinauswerfe! …

Nach zu reichlichem Nachtessen pflegte sie einzuschlummern und schon manche der schauerlichen Geschichten des Onkels waren ihr auf Schloß Westerhof dann verloren gegangen. Nur weil die Mühlen noch immer rauschten, dachte sie: Es ist noch früh! Es ist noch nicht einmal Feierabend! …

Aber ihr Licht! Eine Talgkerze, gegen deren Duft sie an sich nichts hatte, da sie wenigstens in Lindenwerth keine andern gebrannt hatte und auch der Onkel oft genug Lichter goß, die aus allerhand Surrogaten neuentdeckt waren und noch viel schlechteren Geruch verbreiteten, als Talg – Ihr Licht war schon zum letzten Drittel niedergebrannt und sie hatte doch noch die lange, lange Nacht vor sich und ihren Plan mit dem lautesten Hülferuf …

337 Schlafen sollte sie? Schlafen in diesem Bett? … Das wollte ihr nicht einkommen …

Sie deckte doch aber das Bett auf … Dabei mußte sie den Hut wegnehmen, die Kleider – Der Brief fiel auf die Erde und die Einlage glitt aus dem Couvert …

Wie sie sie aufhob, war’s wie eine glühende Kohle … Sie sah das Wort: „Freundin“ …

Das vollends war ein Stich ins Auge … Und doch wagte sie nicht zu lesen …

Sie ordnete die Schüsseln und Teller und stellte sie in den Ofen, der, wie es schien, ihre einzige Verbindung mit der Welt blieb …

Das Bett war sauber und weiß … mindestens so gut, wie ihr Lager in Heiligenkreuz …

Sie versuchte es, sich zu legen … Bald aber stand sie wieder auf … Das Zimmer war zu heiß …

Jetzt gedachte sie den Tisch an einen der Fensterspalte zu rücken. Aber schon ermüdete sie und ahnte, daß sie doch nur zu vergeblichen Versuchen zurückkehrte … Schon ergab sie sich … Die Mühlenräder gingen und gingen … Keine Hand stellte sie … Wen konnte sie rufen? Oft sogar dachte sie, Hedemann käme – in Kettenstrafe, wenn man seine ruchlose That erführe, und da wollte sie denn lieber dulden, schweigen und weinen …

„Freundin!“ … Das Wort verließ sie nicht mehr … Sich alle Beziehungen desselben ausmalend, versank sie, unentkleidet auf ihrem Bett ausgestreckt, in Träume und entschlummerte allmählich … Schon hatte sie sich an das Rauschen des Wehrs und der Mühle, an das Sägen, das hirnzerschneidende, gewöhnt … Ihr Ein-338schlummern kam ihr wie ein Ertrinken, aber nicht mehr schmerzhaft vor … Sie träumte von einem großen dunkelblauen Bande, das sie umringelte … War es ein Thier? Eine Schlange? Immer enger und enger wurde das Band, endlich sah sie nichts mehr, als aus blauer Verstrickung hervor einen rosigen jugendlichen Kopf mit lachenden Mienen, mit langen, feuchten, schwarzen Haaren – Das war dann Lucinde, die, wieder freundlich geworden, ihr zunickte wie die Wasserfee …

Sie mußte lange nach Mitternacht zur Ruhe gegangen sein; denn als sie erwachte, war es heller Morgen …

Die Sonne fiel schon ins Zimmer, ihr Lichtglanz rief sie aus ihrem dunkeln Alkoven …

Die Besinnung auf ihre Lage kam ihr schnell genug … Und das Donnergeräusch um sie her hatte wol nur während ihres Schlafes aufgehört … Schon war wieder die Luft von demselben verwirrenden Geräusch erfüllt, wie gestern …

Schwankend schritt sie aus dem Alkoven hinaus und sah sich in ihrem Gefängnisse um …

Es war ihr, als hätte es gestern Abend anders ausgesehen … Und bald auch bemerkte sie ein neues Licht … Auch frisches Wasser stand auf dem Tisch … Eine ordnende Hand mußte hier schon gewaltet haben, während sie schlief … Nur der Klingeldraht hing zerrissen wie bisher …

Im Ofen fand sie ihr Frühstück …

Sie ergab sich jetzt … Ihre Augen, noch geröthet von den gestrigen Thränen, füllten sich aufs neue 339 mit dem Ausbruch ihres Schmerzes … Sie klagte Hedemann’s Grausamkeit nicht mehr an … Sie wollte jetzt dulden … Blinzelnd sah sie auf den zur Seite liegenden Brief, der jedoch keine Spur trug, daß er gelesen war …

Sie machte sich zu schaffen, so gut es ging … Das Zimmer war warm … Die Bibel lud zur Erbauung, zur Zerstreuung ein. Sie las einige Seiten … Dann ging sie an ihre Kleidung, die sie ordnete … Zerknittert und zerdrückt war alles. Sie öffnete ihre Tasche, nahm ihr Nacht-, ihr Nähzeug heraus und sagte:

Diese Nacht wirst du, wenn man dich nicht befreit, dem Bett vertrauen und dich getrost legen! …

Sie gedachte der Märtyrer in Indien, die ja so ein ganzes Leben lang im Kerker schmachteten … Das Brausen der Luft um sie her nahm sie wie bestimmt, ihr das Gehör zu rauben… Auch darüber lächelte sie seufzend … Ein Geist der Ergebung war über sie gekommen …

Den Brief Terschka’s wollte sie lesen, wenn sie die Hoffnung baldiger Freiheit gewann … Sie ahnte, daß er ihre Bereitwilligkeit zum Dulden aufregen, ihr ergebenes Martyrium stören würde …

Stundenlang saß sie, das Haupt aufstützend und in grübelndes Sinnen verloren … Sprang sie auch zuweilen auf und rief mit Wildheit: Nein! Nein! Ich will nicht länger! so brach sie sofort wieder zusammen, schlich an die Thür, an der sie still mit den Nägeln kratzte, plötzlich mit den Füßen stieß, allmählich aber schlich sie wieder auf das Sopha zurück und ergab sich … Die Bibel fing an ihr vertraulicher zu werden … Sie vermißte 340 zwar die Gottesmutter in ihr und die Heiligen … Aber sie konnte sich auch an Abraham und die Patriarchen halten …

Kein lebendes Wesen um sie her bemerkte sie, als – einige Fliegen, mit denen sie schon Bekanntschaft machte …

Wie sie gegen Mittag wieder im Ofen rumoren hörte, sprang sie auf und rief Drohungen und Zornausbrüche in die Oeffnung, deren Wand sich wieder geschlossen hatte …

Niemand hatte geantwortet …

Eine halbe Stunde raste sie umher und konnte sich nicht fassen … Auch die gestrige Mittagsrast der Mühlen fand heute nicht statt …

Ihre Kost war noch besser als gestern … Ihr Wasservorrath reichte bis über die Nacht hinaus … Sie beschloß diese Nacht früher zu Bett zu gehen, damit sie den heimlichen Besucher am Morgen nicht verschliefe, sondern aus dem Bett springend ihn überraschen könnte …

Wenn Shakespeare seinen Menenius sagen läßt, nach Tisch wäre der Mensch dem Mitleid zugänglicher als mit leerem Magen, so stumpfen sich in der That mit zunehmendem Behagen des Körpers die heroischen Entschlüsse ab … Nach ihrer Mahlzeit konnte Armgart dem Verlangen nicht widerstehen … Endlich las sie den Brief Terschka’s …

Sie las mit jener Scheu, die bei Oeffnung eines Briefs sich zuvor auf das Gegentheil dessen, was man zu lesen hofft, mit dem ganzen Aufgebot des Entschlusses wappnet, sich dem Schicksal nicht gefangen zu geben …

341 „Verehrte Freundin!“ war das erste Wort …

Doch nicht: „Geliebte Freundin!“ sagte sie sich und hielt einen Augenblick inne, um neuen Muth zu schöpfen …

Aber nicht zu lange währte die Hoffnung auf einen Ton, der ihr hätte beweisen können, wie voreilig sie urtheilte, wie überflüssig das Opfer war, das sie bringen wollte …

Zu ihrem Entsetzen las sie:

„Ich begrüße Sie in einem Augenblick wieder, wo ich den Rath der weisesten Männer der Erde, die Hülfe der mächtigsten Gewalthaber anflehen möchte und wo ich nichts, nichts habe, dem ich vertrauen kann, als Ihr edles, starkes Herz! Sie, Sie sind die letzte Rettung meines Lebens! – – Wenn ich mich erinnere, wie mir die gütige Freundschaft der Gräfin Erdmuthe stets so nachsichtig war, wenn ich mich mit Dankbarkeit erinnere, wie oft für mich die Gräfin bei Ihnen und Sie bei der Gräfin gesprochen haben, so schöpf’ ich Muth und denke mir, der Zusammenbruch meines Lebens läßt sich noch aufhalten! Ich habe in diesen Tagen Schmerzliches gelitten und furchtbar gekämpft. Bedenken Sie zu den innern Erfahrungen, die ich für meine Person allein machte, noch die Schreckenserlebnisse auf dem Schlosse! Der Brand, der Fund jener Urkunde, die unsern Freund, den Grafen, vollends zum Schattenbilde seines Namens und seiner gesellschaftlichen Würde macht! Ich weiß es, diese Bekenntnisse meiner Verzweiflung werden Ihnen räthselhaft erscheinen. Sie werden sie auf die Veränderung meiner Stellung zu Hugo und zur Gräfin, zu Ihrer mütterlichen 342 Freundin, beziehen – – Aber das, was in mir vorgeht, liegt tiefer, tiefer – Ich muß ein Ende machen mit dem Elend meines Lebens. Der Wechsel der Religion ist ein leichter Schritt für eine starke Seele, die sich ihre eigene Philosophie gebildet hat; aber bei mir würde dieser Schritt mit Folgen verbunden sein, die meine Freiheit, nicht unmöglich mein Leben, wenigstens die Fortdauer meiner gegenwärtigen Lebensstellung bedrohen. Gern will ich untergehen, wenn ich wenigstens eine Hand finde, die mir den Tod versüßt. O nur das eine, eine Glück, einen letzten Preis für den Rest meines Lebens errungen zu haben, wenn es sonst auch in Nacht und Grauen dahinfährt. Ach, ich bin schwach! Ich möchte nicht den Kampf mit dem Geschick zu herbe kämpfen und das vermag ich nur durch Sie! Nur Sie blicken tief in das Menschenherz! Nur Sie können mit Engelzungen reden – reden, wo die irdische Sprache nichts Ueberzeugendes mehr hat. Ein Entschluß muß gefaßt werden … In vierundzwanzig Stunden schon kann für mich alles verloren sein … Deshalb schreib’ ich Ihnen! Deshalb fleh’ ich fußfällig, gewähren Sie mir heute Abend, wenn ich von Witoborn zurückgekommen bin und Sie den Umständen angemessen auf Westerhof begrüßt habe, eine Stunde der Verständigung. Ich weiß nicht, wo es anders sein kann, als auf Ihren Zimmern. Um zehn Uhr ruht alles im Schlosse. Nehmen Sie mich an! Hören Sie mich! Vielleicht schon am Morgen darauf will ich nach England entfliehen, zu unserer theuern Gräfin, die das Richtige in meiner Sache nur durch Sie allein finden kann! Denken Sie rein von mir, so rein, wie die Blumen sind, die 343 Sie in meinem Namen begrüßen! Ich ahne, daß Ihre holdselige, wunderliebliche Tochter sich wiederum der Umarmung der edelsten Mutter entzieht: aber auch sie wird jetzt Frieden stiften helfen für Ihre Brust und für die meine. Ihre Hand, edelste Frau, wird eine segnende sein. Nur muß ich Sie heute Abend sprechen – muß – muß es! Ihr Urtheil hör’ ich über Leben oder Tod – – Terschka.“

Pater Stanislaus hatte diesen Brief zum Theil in jenem seraphischen Ton geschrieben, der der Rhetorik der Jesuiten entspricht. Dennoch lag Wahrheit in ihm. Er wollte mit seinem Stand brechen und unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe, dieser heroischen Bekennerin ihres lutherischen Glaubens, sich vor den Folgen seiner Entlarvung sicher stellen … Monika’s Zeugniß wollte er bei der Gräfin für sich haben, wollte sich in den Folgen seiner für den Grafen empfangenen Mission enthüllen, wollte Monika das Räthsel zur Entscheidung vorlegen, wie er im Gegentheil ein Freund des Grafen wurde und seine römischen Aufträge vergaß. Wer konnte wie sie so tief und nach den obwaltenden Umständen alles überblickend ergründen, was zur Entschuldigung seiner Lage und – Lüge dienen konnte? Zuletzt wollte er in der That und Wahrheit seine Liebe für Armgart bekennen … Diese Leidenschaft war so mächtig in ihm, daß sie alle seine Schritte bestimmte … Gerade deshalb, weil diese Leidenschaft ihm Kraft gab, den muthigsten Entschluß seines Lebens auszuführen, hielt er sie fest und während er diese ebenso verzweiflungs- wie hoffnungsvollen Zeilen schrieb, stand nur Armgart vor seinen leuchtenden Augen … Die Liebe, 344 die den Mann auf der Höhe seines Lebens ergreift, die Liebe, von der er ahnt, daß sie die letzte sein wird, die noch erhört werden dürfte, hat eine unwiderstehliche Kraft.

Armgart aber las aus allen diesen Hülferufen nur im Gegentheil – die Liebe zu ihrer Mutter … Jedes Wort dieser glühenden Rede war ihr ein Ausdruck der Zärtlichkeit nur für sie … Für diese Liebe wollte Terschka seinen Glauben ändern und nach England entfliehen … Die Mutter mußte ja dann ein Gleiches thun … Von alledem hatten sich schon dunkle Sagen verbreitet … Schon als man hörte, Monika reiste mit der Gräfin Erdmuthe nach England, war man auf einen solchen Schritt gefaßt … Diese Voraussetzungen des Briefes, wie sicher waren sie … Ein Angenommenwerden auf den Zimmern der Mutter in nächtlicher Stille konnte ihr nur beansprucht erscheinen nach längst vorausgegangener Vertraulichkeit … Der letzte Hinweis des Briefs auf sie selbst war ihr nur der Ausdruck einer matten Rücksicht; in nichts, nichts entsprach er den seit acht Tagen ihr gewidmeten Zärtlichkeiten und Huldigungen – dieses treulosen Verräthers … Das der Dank für das Opfer eines – Lebens! … Hatte sie ihm nicht deutlich genug zu erkennen gegeben – daß sie ihn erhören würde, wenn auch mit blutendem Herzen, wenn er wollte – –? …

Eine purpurne Glut des Zorns und der Scham färbte ihr Angesicht … Sie rannte dahin … Sie starrte den Brief unausgesetzt an und floh wieder wie Nattern seine Buchstaben … Das also ist die aufgedeckte Seele eines Menschen! … Das ist der Abgrund der Wahr-345heit, den das Lächeln der Lüge, die Blumen des Scherzes verhüllen! … Namenloses Elend aller betrogenen Menschen! … Und du, du Schimpf meines geliebten Vaters! … Ich kann nicht, ich kann nicht erfüllen, was ich wollte! Die Mutter ist für mich verloren! Vergib mir, o Himmel! Vergebt mir alle! Vergib mir auch du, Hedemann! Ich will dulden! Will hier bleiben als deine Gefangene! Schwände das Licht des Tages doch ganz und säh’ ich nichts mehr, als Nacht und Dunkel, so wie das Kind im Mutterleibe –! …

Ein solches Bild zu wählen, war ihr nicht anstößig … Natürlichkeit und ihre Wahrheit gingen ihr über alles …

So beugte sie das Haupt auf ihre weißen Händchen, die sie aufstützte. Sie dankte, niederblickend, dem Himmel für die Lage, in der sie sich befand, dankte für das Brausen, das in ihr betäubtes Ohr drang … So war es ja schön! … So auch hätte sie jetzt untergehen mögen! … O, diese Welt ist zu schlecht! – Ihrem Vater hätte sie auf dem Schoose sitzen mögen, den allein liebkosen mit allen verborgenen Zärtlichkeiten ihres Herzens und diese Zärtlichkeiten selbst dann wieder beweinen …

Nichts aber geschah zur Veränderung ihrer Lage … Sie blieb verurtheilt, auch diesen Tag, auch die Nacht so hinzuleben … Sie konnte ihren ersten Entschluß nicht ausführen, konnte nicht zeitiger zur Ruhe gehen … Immer nur saß sie und dachte: So wandelt euere Wege hin! So seid Lügner! So leugnet nur Gott und die Treue! So brecht euere Eide, enthüllt euere Sünden und schmückt euch noch sogar mit ihnen! 346 Herr, laß mich nicht sitzen, da die Spötter sitzen! … Wie erquickten sie die Psalmen! … Die Bibel wurde ihr ein Trost … Jedes ihrer Worte paßte nun auch auf sie …

Spät ging sie zur Ruhe … Da ihr ganzes Sein Schmerz und Ergebung geworden war, schlief sie jetzt still und fest und träumte nichts Erschreckendes …

Am Morgen hatte sie doch richtig wieder den Besuch verschlafen …

Gewiß war es die taube Alte, die indessen im Zimmer gewesen und aufgeräumt hatte …

Armgart sah sich um und fand es so friedlich und wohnlich um sie her – ganz so, wie sie sich einen Aufenthalt im Kloster gedacht … Das Zimmer war warm, ihr Frühstück fehlte nicht im Ofen, auf dem Tisch stand das frische Wasser, auch ein neues und ein besseres Licht – Zeichen einer noch vorauszusehenden längern Gefangenschaft … Sie sah sich um, setzte sich dann und malte sich aus, was alles in ihrer nun schon dreitägigen Abwesenheit von Westerhof geschehen sein könnte … Terschka sah sie mit ihrer Mutter doch auch ohne den Brief – heimlich und zärtlich verbunden …

Da konnte sie eines nicht fassen, was ihr heute Morgen besonders neu und wohlthuend war … Sie blickte um sich … Es war etwas vorhanden, was gestern fehlte. Was nur mochte es sein? … Blumen? Die dufteten nicht … Musik? … Jetzt erst bemerkte sie, daß es ja ganz still um sie her war … So in sich verloren, so an ihre Lage gewöhnt war sie schon … Die Mühlen standen ja, die Wasser rauschten ja nicht, 347 die Sägen schwiegen … Was ist das? erhob sie sich von ihrem Frühstück … Das ist der Himmel! Die Musik liegt in der ewigen Stille nach dem Geräusch des Lebens! … Unwillkürlich mußte sie die Hände falten …

Vorgestern und noch gestern hätte sie dies plötzliche Schweigen um sie her benutzt zu ihrer Befreiung … Heute, wo sie endlich wieder auch die Glocken hörte, riß sie nichts ans Fenster, drängte sie nichts dazu, um Hülfe zu rufen … Ja selbst das Läuten des Münsters und der Jesuitenthurmglocke und der Dominicanerkirche – all diese Glocken konnte sie seit frühster Kindheit unterscheiden – alle diese Zungen der Luft redeten die Sprache ihres Innern nicht … Sie sah in die Bibel und fand, daß dort die Psalmen und die Propheten andre Worte sprachen, als die sie jetzt sogar im Münster hätte hören können …

Zum Fenster stieg sie hinauf, nur um doch etwas von der Außenwelt zu sehen … Es war ein bedeckter Frühlingsmorgen, Nebel verhüllten die schon hoch stehende Sonne, Schnee und Eis waren geschmolzen … Sie öffnete, um die frische verheißungsreiche Luft einzuathmen … Sie sah Menschen vorübergehen … Niemand blickte zu den kleinen Schießscharten des Thurms empor … Auch waren die Wände so dick, daß ein hinter den kleinen Scheiben befindliches Antlitz nicht gesehen werden konnte … Und rufen, Hülferufen war Armgart’s Bedürfniß nicht mehr …

Ruhig stieg sie von Tisch und Stuhl hinunter und ordnete ihre Kleidung, flocht ihr Haar, schmückte sich so einfach, wie sie seit Jahren gewohnt war …

348 Die Mühlen standen immer noch still und schon berechnete sie, ob heute ein Feiertag war … Die Fastnachtszeit war da … In wenig Tagen war Aschermittwoch … Heute begann zu Sanct-Libori die vierzigstündige Anbetung des allerheiligsten Sakraments … Die Bilder aller Altäre der katholischen Christenheit sah sie jetzt, wie immer zur Fastenzeit, verhüllt werden, nur das Kreuz des Erlösers offen bleiben, um wenigstens für die Passionszeit allein auf diesen die Aufmerksamkeit zu lenken … Alledem suchte sie in ihrer Bibel nachzuleben, soweit es noch zutraf …

Gegen elf Uhr hörte sie ein näher kommendes Geräusch … Nicht vom Ofen kam es, sondern von der Thür her …

Sie hob ihr Dulderhaupt und sah ruhig auf die Thür, durch die ohne Zweifel Hedemann eintrat … Sie wollte ihm nichts Zorniges sagen, obgleich sie im ersten Augenblick eine auflodernde Wallung nicht unterdrücken konnte … Hülfebringende müssen doch wol eiliger kommen! berechnete sie …

Draußen ging ein Schlüssel … Die Thür öffnete sich …

Armgart hatte sich nicht erhoben … Ruhig den Kopf auf die Hand stützend und nur von ihrem Buch aufsehend saß sie da …

Aber unwillkürlich mußte sie sich jetzt erheben …

Hedemann kam nicht allein … Er ließ einen Herrn und eine Dame vor sich eintreten …

Die Besuchenden waren ein Paar … Sie kamen Arm in Arm … Die Dame war nicht groß, das 349 Antlitz von einem schwarzen Schleier bedeckt … Der Herr erschien stattlich, frischen und gebräunten Antlitzes, den Kopf mit einer dunkeln Tuchmütze bedeckt, die ein rund gehender goldener Streifen zierte …

Hedemann sprach nichts … Die Besuchenden blieben oben an der Thür stehen und blickten auf Armgart und die Stufen hinunter …

Armgart überfiel eine seltsame Regung … Ihr Herz schien eine Weile zu stocken … Ein Zittern ergriff sie, als sie einen Schritt weiter wollte und den so lange auf sie Niederblickenden entgegengehen …

Die beiden Fremden blieben oben und sahen nur stumm ins Zimmer hinunter …

Der Herr mit der Mütze hatte einen schwarzen Ueberwurf um, ein buntes Tuch noch fast jugendlich um den Hals geschlungen – einen weißen aufrecht stehenden Halskragen – Fast hatte er etwas vom Onkel Levinus –

Da schlug die Dame den Schleier zurück … Lange silbergraue Locken quollen unter dem dunkeln Sammethute hervor … In den Augen der stummen, jugendlich schönen Frau, in den Augen des stummen Mannes blinkte ein feuchter Glanz wie Thränen …

Armgart bebte … ermannte sich … glaubte … zweifelte … Endlich stürzte sie mit einem ausbrechenden Schrei auf beide schon die Stufen Herabkommenden und lag zunächst doch nur – in den Armen der Mutter …

Während aber auch Ulrich von Hülleshoven sein Kind an sich zog und in Armgart’s Auge zu blicken suchte, lag Armgart’s Hand in der linken Hand Monika’s und 350 Monika’s Rechte – hielt die edle, würdige Gestalt des Gatten umschlungen …

Die Rührung dieser drei Herzen war unaussprechlich und auch Hedemann, der den Empfindungen als Dolmetscher dienen mußte, konnte nicht damit vorwärts kommen …

Jetzt riß Monika ihr Kind fast wie eifersüchtig und wie gekränkt ganz an ihr Herz … Armgart – noch tief mistrauend, und doch wie von himmlischem Lichtglanz geblendet, wagte nicht zu ihr aufzuschauen und wandte sich mehr und mehr zum Vater, aus dessen hellen blauen Augen eine so selige Welt der höchsten Himmelsreinheit sie anschien … Ulrich drängte sie der Mutter zu und sprach in einem vor Rührung leisen, sonst männlich festen, wohllautenden Tone:

Das ist ein Sieg nach langem Kampf! O Gott, o Gott! Was sind deine Menschenherzen verkehrt! …

Armgart, ihre Aeltern sprechen hörend, sank in die Kniee. Sie umschlang die Kniee des Vaters und reichte der Mutter mit krampfhaftem Zittern die Hand … Dann blickte sie wieder zu ihnen beiden empor und sog ihre Bilder auf mit ihren braunen, schwärmerisch irrenden Augen … Und wieder den Aeltern mußte es sein, als sähen sie hinunter in einen See, über dem Rosen und Lilien schimmerten – in die tiefsten Tiefen dessen, was auf Erden und im Himmel schön und gut ist – und wie in ihre eigene Jugend …

„Selig, selig“, sprach Hedemann und faltete über seiner – grauen Müllermütze die Hände, „bist du, 351 die du geglaubet hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn!“ …

„Und Maria sprach:“ fuhr Armgart fast tonlos in den Worten des englischen Grußes fort, „Meine Seele erhebet den Herrn!“ …

Noch einmal traten Pausen ein, deren die vom höchsten Glück erschütterten Herzen bedurften …

Dann folgten Verständigungen und diesen die Entschuldigungen Hedemann’s … Monika sah in der alten von Hedemann ihr dargereichten Bibel die Stunde der Geburt Armgart’s verzeichnet und gab dann dem Gatten dies Blatt … Dieser warf darauf einen mild überrascht und schmerzlich lächelnden Blick und zog voll vergebender Inbrunst Monika an sein Herz … Der Oberst schien ein Mann, der mit dem Sturm der Jugend nicht die sanfte zärtliche Empfindung schon verloren hatte; alles, was er sprach, war eigenthümlich gemessen und bedacht, aber jugendlich innig und wohlthuend … Monika staunte nur und strich wie in unbewußtem Träumen ihre grauen Locken …

Wo wir uns wiedergefunden haben? sprach der Oberst … Bei unserm Kinde! Bei deiner Liebe! Deiner – nun wandte er sich doch zu seinem Weibe – deiner vergebenden Liebe, Monika! …

Beim Geist und bei der Wahrheit! sprach Monika mit leuchtenden Augen, zeigte auf die Bibel und stand neben der aufhorchenden, immer noch scheu vor ihr niederblickenden, immer noch zweifelnden Armgart wie eine ältere Schwester, so jung, so schön noch und keinesweges nur durch ihre leuchtende Verklärung …

352 Hedemann sprach vom Kampf der Gerechten und Armgart begriff noch immer nicht, was die Aeltern so plötzlich verbunden hätte? … Sie fragte dies auch leise …

Monika sprach:

Dein Opfer hat uns verbunden, Kind! … Kind – meiner Schmerzen! … Deine Gefangenschaft! Hier dieser Thurm! Ist es nicht so? Hedemann! Wie dank’ ich Ihnen! …

Auch Ulrich wollte Hedemann danken, umschlang aber nur die Sprecherin und umschlang sie mit jener männlichen Würde, die den Ausbruch der noch jugendlich regsamen Leidenschaft milderte …

Sie soll noch alles hören! sprach er. Nun aber kommt! Laßt uns im Triumph nach Westerhof fahren und zeigen, was wir mitbringen können! Nun, nun zieh’ ich ein! … Anders wär’ ich dorthin nicht gegangen …

Nicht blos Armgart, sagte Hedemann; sondern sich selbst bringen Sie beide mit …

Monika’s Ja! war so einfach, aber sie konnte nichts besseres sagen, als Ja! und reichte dem Gatten die Hand …

Noch schien die Aussöhnung das Werk einer vor wenigen Minuten erst gekommenen Verständigung zu sein … Monika schwankte noch dahin wie ein vom Wind bewegtes Rohr … Kind und Gatten hatte sie in Einem Moment gefunden …

Wen nur nehmen wir noch mit? rief der Oberst. Benno ist fort; mein „Geretteter“, Thiebold de Jonge, mit ihm – Selbst die schwarze Hexe, mit der du von Westerhof entflohst, Schwarmkind, ist nicht mehr da … Der Domherr ist im Amte … Ja, gestern 353 noch suchte mich ein Herr von Terschka auf, der heute wiederkommen wollte … Er wohnt auf dem Schlosse … Wer begleitet uns im Triumph? Ganz Witoborn? …

Armgart zuckte auf den Namen Terschka’s zusammen und blickte zur Mutter hinüber, die sorglos und nur voll Wehmuth stand … Offenbar gab das Herz des Kindes dem Vater den Vorzug … Das sah Monika … Sie sah es jetzt wieder an dem sonderbar scheuen und prüfenden Blick Armgart’s …

Terschka suchte dich wie einen verlorenen Edelstein! fuhr der Vater harmlos fort … Und das bist du ja auch … Ihm verdanken wir eigentlich Alles – Nicht wahr, Monika? …

Armgart hörte und hörte … Durch Hedemann reisefertig gemacht ging sie schon wie eine Führerin voraus … Eros, der Griechengott, wie mit der Fackel voranleuchtend …

Monika rühmte im Nachfolgen Terschka’s Gefälligkeit … Der Vater war ganz erfüllt von dem böhmischen Rittmeister … Fast schien es, als hätte bei ihm Terschka um Armgart geworben … Klar blickte sie über nichts und sah sich nur immer nach einem störenden Schatten zwischen ihnen allen um, zerpreßte den Brief, den sie auf der Brust verborgen trug, und deutete und deutete noch dies und das nach dem Lügengeist, den sie gestern als den Beherrscher des Lebens erkannt haben wollte … Wie ist das nur? sprach sie vor sich hin und zog Vater und Mutter sich nach in die freie Gotteswelt …

Jetzt begannen auch wieder die Mühlen, die Was-354ser rauschten … Man stieg über die Schwelle des Thurms … Die taube Alte sah ihnen verwundert und schelmisch lachend nach … Unten standen Gesellen und Bursche und zogen die Mützen und weiter und weiter ging’s … Durch die Bächlein, über die Brücken … Zu sprechen war hier nichts, nur zu sehen, nur der Druck der Hand zu fühlen …

Der Thurm da hat euch verbunden? hauchte Armgart, als sie an den Wällen ankamen, wo unter der Allee ein Wagen auf sie wartete, ein Kutscher von Westerhof in den Dorste’schen Farben … Sie schüttelte den Kopf und ihre lieblichen beiden Zähne blinkten …

Die Seele des Thurms! sprach der Vater …

Die Mühlen! Die Mühlen! lachte Hedemann und bat Armgart um Vergebung …

Er selbst konnte nicht weiter dann folgen …

So stiegen die Aeltern und Armgart allein ein …

Im Wagen sah Armgart, daß das Band ihrer Aeltern in der That jetzt eben erst neugeschlossen war … Das Auge des Vaters ruhte mit gleicher Wonne auf der Mutter, wie auf ihr … Das Auge der Mutter war umflorter, als das seinige … So dachte sie sich Braut- und Bräutigamswonne beim Heimfahren von der Kirche …

Du begreifst es noch nicht recht? sprach der Vater … Und so ganz licht und hell ist auch die Zukunft noch nicht, mein Kind! … Die Zeit der Kämpfe – beginnt erst … Da aber, als ich mich nach einem Beistand dafür umsah, da gerade fand ich die besten Bundsgenossen … Weib und Kind …

355 Monika blinkte ihm zu auf Armgart’s Staunen:

Sie lebt und schwärmt wie Paula! …

Das war so ein erster Zug von dem, was Armgart als das Wesen ihrer Mutter kannte … Armgart verstand nicht ganz, was die Mutter meinte, ahnte aber die Gedankenwelt, die Vater und Mutter hegten und die sie verband. Da es die nicht war, die sie theilte, so verließ sie ein Zagen nicht … Aber sie verurtheilte Niemanden … Sie grübelte, was die Aeltern so recht, recht einen mochte und – wie die Mutter – mit Terschka stand …

Da sie fürchtete, durch ihr Schweigen kalt zu erscheinen, sagte sie zum Vater:

Du warst noch nicht – auf – Westerhof? …

Der Oberst schüttelte sein jetzt ernster werdendes Haupt …

Nein! sprach er. Nur so konnt’ ich ja dort ankommen! Wenn die Mutter dort war – – konnt’ ich nur kommen mit unserm Kinde …

So seinen Worten gleich die mildere Deutung gebend, blickte er träumerisch und sich auf die Vergangenheit besinnend in die Ferne … Das da ist Sanct-Libori? sagte er …

Die Mutter war bereits heimischer … Es war der dritte Tag schon, den sie in Westerhof zubrachte … In bangen Aengsten … Das glaubte Armgart wohl … Aber räthselhaft, wie sorglos sie von Terschka sprach … Noch räthselhafter für Armgart, wie ihn der Vater so rühmen konnte …

Herr von Terschka mußte gestern plötzlich zum Bi-356schof! sagte der Vater. Er wollte doch heute in der Frühe wiederkommen … Ja, wir glaubten erst, du wärst bei den Clarissinnen! Terschka wollte es behaupten und sagte, sie verbärgen dich dort … Hedemann gestand noch nichts …

Erst heute früh gestand er’s, Kind …

Als du kamst? … fragte sie …

Ja, Armgart, als ich – Ich kam zuerst … Zum Vater … Sieh mir ins Auge, Seelenkind! …

Armgart hielt die Hände beider Aeltern und sah dabei noch immer nach rechts und nach links …

Wann sagte es denn Hedemann? – stammelte sie, ungewiß noch über alles und mit liebenden Augen die Kälte ihres Fragens mildernd …

Wo du warst? fiel der Vater ein. Da sagte er es, als er sah, daß du in unsern Herzen wohnst! Liebes Kind! Deine Mutter brachte mir durch ihr Anklopfen an meine Thür Lebensmuth, Stolz, Erhebung … Sie hörte, daß sie mich so heftig in Westerhof anklagten … Sie hörte von meinen Absichten auf Witoborn … Sie war überrascht davon und vertheidigte meine Auffassungen der Zeit und des Berufs und meine Denkweise … Sie hatte sich meiner Person entwöhnt und machte plötzlich einen ganz andern Menschen aus mir, als ich bin … ja sie hatte sich – sollte man’s glauben – in meinen schlimmen Ruf verliebt …

Ulrich! fiel die Mutter ein … Sie ist zu jung, um zu verstehen was über alles, alles im Leben geht und warum es heißt: „Im Anfang war das Wort!“

Armgart widersprach nicht … In ihrer Seele 357 klangen die Evangelien und die Stimmen aus der Bibel nach …

Sie begriff – wenn auch mit tiefem Bangen – daß die Aeltern sich durch die Verwandtschaft ihres Denkens, durch die gleiche Richtung des Willens, durch den Muth ihrer Ueberzeugungen wiedergefunden hatten …

Doch ließen beide ihr den Ruhm, daß sie, sie allein die letzte Entscheidung gegeben … Monika war ja in der That zum Obersten mit den Worten eingetreten: Suchen wir doch zusammen unser verlornes Kind! …

Da Armgart so oft schwieg, so tief versunken blieb in ihre stille Welt des Glücks und des noch immer nicht recht befestigten Glaubens an dies Glück, so hielten sie allmählich die Aeltern für weniger geistesreif, als sie ihnen geschildert worden. Sie beruhigten sich leicht darüber und sprachen mit ihr von der Gegend, vom Brand, von Paula, von der Erbschaft, von den Bewohnern des Schlosses Westerhof, von Bonaventura von Asselyn, der, wie Monika sagte, für den aufs Neue erkrankten Pfarrer die kirchlichen Handlungen verrichten helfe und schon für die nächsten Tage nach der Residenz des Kirchenfürsten zurückgerufen wäre … Armgart gab klug und verständig ihre Erläuterungen und schon erfreute sie die Aeltern durch kleine Anflüge ihres Humors … Harmlos ergingen sich die Aeltern in ihren Urtheilen über die Zeit und die Welt … Was die Mutter von Paula berichtete, waren Zweifel an ihrer Seherkraft. Doch sie wurden milde vorgetragen und verriethen vor Armgart’s Freundin Achtung. Die Mutter hatte nicht, wie Lucinde, Freude an ihren Verneinungen …

358 Das Erstaunen, die Ueberraschung, der Triumph, der die drei Ankömmlinge dann auf dem Schlosse empfing, waren unverstellt und bei Allen schon um Armgart’s, des wiedergefundenen Flüchtlings willen, der allerfreudigste …

Benigna, die um Armgart’s Schicksal, um Monika’s plötzliche Parteinahme für ihren Gatten in heftigster Erregung zurückgeblieben war, vergoß Thränen, unaufhaltsam … Onkel Levinus setzte sich die englische Militärmütze mit den goldenen Tressen auf und vergaß alle Anklagen über Standesetikette und Standesrücksichten, die Monika schon beinahe gestern von dannen getrieben hatten … Auch wol jetzt noch spottete er über den Papiermüller, maß sich aber doch mit ihm an der Thür, wo sie einst vor dreißig Jahren sich in ihrem Wuchse gemessen hatten und richtig den Strich noch fanden – nur daß Levinus damals der größere, jetzt der kleinere war und Ulrich rief: Gewachsen bin ich doch wahrhaftig nicht! … Nun dann bin Ich – zusammengekrochen! gestand Levinus und lachte nun Paula entgegen, die die wiederentdeckte Armgart an ihr Herz zog und vor Ulrich, Armgart’s vielbesprochenem Vater, in Verlegenheit stand wie mit Rosen überhaucht …

Terschka fehlte noch, wurde jedoch erwartet … Auch Bonaventura, der noch in Sanct-Libori oder im Stift war …

Verständigungen, Aufklärungen folgten … Die Tante ging sogar auf einige Ketzergrundsätze ein … Sie verwies als einen sträflichen Aberglauben die Abhängigkeit, in die man sich von unüberlegt ausgesprochenen „Gelübden“ setzte … Ja sie erzählte sogar, als Terschka 359 und Bonaventura immer noch nicht kamen, mit leisem Kichern eine Geschichte von Müllenhoff’s neuer Krankheit … Sie wurde nur halblaut vorgetragen, drang aber doch zu Armgart’s Ohr … Nachdem hintereinander erst ein Püppchen, dann ein Kätzchen an des Pfarrers Hausthür wäre ausgesetzt gewesen, hätte man gestern in der Frühe ein wirkliches – lebendiges – neugebornes Kind, einen pausbacknen Jungen, hellschreiend in einem Korb gefunden … Was von Urtheilen daran angeknüpft wurde, entging Armgart … Sie war in der Stimmung eines Kinds am Weihnachtsabend, wenn die Bescherung längst da ist und der glücklich trunkene Blick noch immer irrt und irrt und erst noch das Oeffnen der lichterhellten Zimmer zu erwarten scheint … Sie machte sich Vorwürfe über ihre der Mutter bewiesene Kälte …

Wie beherrschte aber auch Monika schon alles durch ihren Geist, durch ihre Ruhe, ihre – Aehnlichkeit mit der Tante und doch so ganz ihr Anderssein! …

Terschka blieb aus … Und wenn er kam, was dann – was dann? – dachte Armgart … Ja, ihr Opfer schien ihr in der That nicht vollzogen, das Band, das die Aeltern einigte, nicht fest genug – Nach solchem Briefe! Solcher Sprache! … Kam Terschka, sie fühlte, daß sie dann noch, Gott zu Ehren, von einem Felsen springen mußte … Sie hätte ihn begrüßt – als den Erwählten ihres Herzens … Monika stand mit Rührung über Armgart’s stetes Zurückgezogensein von ihr … Oft auch mit dem Gedanken: Sie ist noch Kind; sie bleibt, so schön und hold sie ist, hinter der Erwartung zurück, die man mir von ihr gemacht hatte 360 … Ein trunkenes, blindes Verlorensein des Muttergefühls in dem wiedergefundenen Schatz ihrer Sehnsucht lag nicht in ihrer Natur, die auch eben deshalb von Paula prüfend genug beobachtet wurde …

Immer hieß es dabei: Wo bleibt der Domherr? Wo Terschka? …

Wurde Terschka’s Name genannt, so richtete sich Armgart auf, um ihm sogleich mit geschlossenen Augen und wie mit zum Todesstoß dargereichter Brust entgegenzugehen …

Monika blieb ruhig, befriedigt, glücklich … Der Domherr hatte sie gestern und vorgestern vollkommen so harmlos begrüßt, als kannte er sie nicht … Er hatte so viel natürliche Sorge um das Auffinden Armgart’s und die Aussöhnung mit dem Obersten verrathen … Ihre Philosophie, die die Reue bestritt, kannte kein Reuegefühl über ihr „maßloses Sichgehenlassen“ im Beichtstuhl damals, als sie von einer „zweiten Liebe“ gesprochen, nur um die Ehegesetze der katholischen Kirche anzugreifen …

Paula bildete auch jetzt noch, wie immer, unter den Anwesenden den Mittelpunkt, so wenig sie diese Ehre suchte … Monika fragte forschend ihre Schwester:

Warum ist sie – nur so unruhig? …

Monika hätte eine Offenbarung ihres geheimnißvollen Traumlebens wünschen mögen …

Benigna misverstand die Frage. Sie glaubte, Monika meinte Armgart … Diese stand am Fenster und wartete auf Terschka und wie auf ihr Todesurtheil … Sie wollte ihn so empfangen, daß alle sagen mußten: Das ist ein Paar …

361 Benigna aber hatte, um schon wieder zanken zu können, mit dem Essen zu thun, zu dem schon gerufen wurde …

Man ging zu Tische …

Schon saßen alle, da rollte ein Wagen vor …

Wol Terschka? rief der das Hundertste ins Tausendste redende und nun auch schon Papier machende Onkel …

Armgart griff an ihr Herz … Ihr Vater beobachtete sie … Auch die Mutter …

Ein Diener wollte eben sagen: Herr von Terschka hat hinterlassen – da meldete man den Domherrn …

Paula erglühte …

Und Monika bekam Ahnungen von Bonaventura als dem „Bruder Gottfried“ der neuen Hildegard … Paula’s Sehergabe hatte in diesen drei Tagen, wo der Domherr wenig auf dem Schlosse war, geschwiegen …

Endlich erschien Bonaventura … Ernst und milde, wie immer … Er grüßte die Neuverbundenen. Er wußte schon alles von Hedemann … Von Witoborn kam er, wo er Armgart hatte suchen helfen und den Obersten begrüßen wollen … Er beglückwünschte, mehr mit dem Auge, als mit den Lippen, forschte den Obersten nach dem Dechanten aus, verrieth der Frau in Silberlocken nichts, daß er all ihr Herzensleben aus dem Beichtstuhl kannte … Mit Armgart sprach er sogar scherzhaft und drohend … Aber bei alledem blickte er voll Trauer …

Reisen Sie wirklich schon morgen? fragte der Oberst bedauernd …

Bonaventura bestätigte seine Abreise, sprach von einem Auftrag nach Wien – von einer Erhebung sogar zum Domkapitular …

362 Man beglückwünschte voll Ueberraschung …

Paula senkte die Augen …

Monika’s Art war kein kleinliches Forschen; doch bemerkte sie die Gleichzeitigkeit des trauernden Ja und jener gesenkten Augen …

Wie viel Gründe hatte nicht Bonaventura für seine Trauer … Wie liebevoll und beziehungsreich sprach er von Benno und vom Dechanten …

Als man wiederholt nach Terschka spähte, überraschte er alle mit dem plötzlichen Worte:

Terschka? … Sie wissen – also – noch nicht? …

Die fragenden Blicke aller richteten sich zugleich auf ihn zum Zeichen, daß man ohne jede Ahnung war …

Armgart hielt krampfhaft die Hand der Mutter und die des Vaters … Sie saß zwischen beiden … Beide verstanden allmählich ihre Aufregung und sahen die „Liebe“ des jugendlichen Herzens … Monika mit Schrecken …

Herr von Terschka ist abgereist! fuhr Bonaventura fort … Wußten Sie das nicht? …

Abgereist? So plötzlich? fragten der Onkel und die Tante und sahen sich nach den Dienern um, die davon wissen mußten …

Armgart beobachtete jeden Zug im Antlitz der Mutter und diese wieder in ihrem und beide saßen zum Tod erstarrt …

Ich wiederhole Ihnen nur, was ich soeben in Witoborn aus Jedermanns Munde hörte … Herr von Terschka war gestern Abend beim Bischof, heute in aller Frühe schon im Kloster Himmelpfort; dann will man ihn noch im Düsternbrook bei den beiden Eremiten gesehen haben … Ein Pferd soll er in Witoborn in 363 den Stall bei „Tangermanns“ gestellt haben, das über und über mit Schweiß bedeckt war … Dann nahm er Extrapost und ist abgereist …

Die Tante klingelte den Dienern, die auch eben kamen und die Speisen hereintrugen …

Monika blickte nieder – für sich fühlte sie wie erlöst. Terschka hatte sie auf dem Schloß gestern und vorgestern mit unbesonnener Vertraulichkeit verfolgt, ja in Erwartung, sie hätte seinen Brief erhalten, sogar gewagt, Abends an ihre Thür zu pochen, wo sie sich nur durch die Glocke helfen konnte … Seitdem hatte sie ihm nicht mehr Rede gestanden und wies einen zweiten Brief zurück … Aber – Armgart …?

Von den Dienern erfuhr man, daß Terschka in aller Frühe mit einem großen Koffer nach Witoborn gefahren war; der Wagen war eben jetzt allein zurückgekehrt …

Der Onkel, hocherstaunt, fragte:

Aber die Schlüssel seiner Zimmer? …

Man übergab die Schlüssel …

Daß nach dem Fund der Urkunde Terschka nicht lange hier verweilen würde, hatte man vorausgesehen. Dennoch war diese jähe, abschiedslose Entfernung aus seiner ihm, man sah es gestern und vorgestern, unbehaglich gewordenen Lage zu auffallend …

Inzwischen blickten Alle auf Armgart … Sie verschlang die Worte aus Bonaventura’s Munde …

Die Diener waren wieder abwesend …

Ohne zu grelle Hervorhebung ließ Bonaventura, wenn auch mit Beben, die Worte fallen:

Sie werden bald vernehmen … was ich in Wito-364born schon aus Jedermanns Munde erfuhr … Terschka ist ja seltsamerweise … nicht in der Lage, jemals – zurückkehren zu können …

Alle horchten auf …

Terschka – war das nicht, was er uns allen erschien …

Armgart hatte sich erhoben … Jeder erwartete, sie würde ausrufen: Er ist vermählt! …

Bonaventura sprach leise:

Terschka ist – ein Priester …

Das Wort des Erstaunens erstarb auf aller Lippen …

Noch mehr, fuhr Bonaventura fort und dämpfte die Stimme – man sagt es in der Stadt allgemein, er gehört dem Orden – der Gesellschaft Jesu an und hat in Rom das vierte Gelübde abgelegt … Mein Stiefvater – scheint – die Gesetze gegen ihn geltend gemacht zu haben, die keinen Jesuiten im Lande dulden … Oder – – man vermuthet, daß seine Mission zu Ende ist und man ihn schleunigst nach Rom zurückberief … Nur zurückhaltend spricht man von diesem seltsamen Vorfall; doch scheint die Nachricht – unwiderleglich zu sein …

Es gibt eine magische Lichtwirkung, die plötzlich die blühendsten, lebensfrischesten Physiognomieen in Larven verwandelt …

So die Wirkung dieser Mittheilung …

Was mußte man von Terschka’s Metamorphose, was von seiner Verbindung mit den Camphausens in Wien, was von seinem Leben hier auf dem Schlosse denken? …

Monika, die den Beziehungen Terschka’s zur Familie des Grafen Hugo so nahe stand, konnte sich kaum 365 im Sitzen erhalten … Ihre Lippen bebten; ihr Auge rollte; ihre Brust hob sich; sie hatte einen – Fluch auf der Zunge … Das sahen alle …

Ihr Gatte betrachtete sie mit gleicher Empfindung und maß den Antheil, den er aus ihren Beziehungen zur Mutter des Grafen Hugo vollkommen zu würdigen wußte … Er verstand die Entrüstung aus gleicher Gesinnung …

Dennoch stammelte Monika:

Fast glaub’ ich, man muß dem Manne nicht zu sehr zürnen! … Er war vielleicht mehr ein Opfer, als ein Werkzeug! …

Mehr konnte sie nicht sagen … Denn alles war erschreckt durch Armgart …

Diese stand wie wenn sie eine Geisterwelt um sich sähe … Nicht daß sich ihr sofort das Räthsel des Briefs enthüllte, nicht daß sie sofort verstand, wie Terschka nur gerade diese Last der Seele hatte abschütteln, deshalb convertiren wollen … sie sah nichts, als daß Terschka für die Mutter aufhörte ein Mann zu sein, aufhörte, verwirrend und bestrickend in Frauenseelen einzugreifen … Ein Priester! … Erlöst von einer Last, die von ihrem Herzen fiel, stieß sie einen lauten Ton der Freude aus. Sie stürzte auf die Mutter zu … Jetzt erst, jetzt sie wiedergewinnend, jetzt ganz an sie glaubend, nachholend, was sie an ihr versäumt hatte, lichtumflossen nach so langer dunkler Irrung, umarmte sie die Befremdete stürmisch, küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Hände, umfaßte ihren Leib und entfloh aus dem Zimmer …

366 Was ist dem Mädchen? riefen alle – außer Bonaventura und Paula …

Monika verstand allmählich auch das beharrliche und auffallende Schweigen beider und sagte, sich in ihren Vorstellungen Licht suchend:

Welch ein Wahn? …

Sie sah purpurroth vor Bonaventura nieder und gedachte nun beschämt ihrer Beichte …

Die Tante kannte Terschka’s Neigung für ihre Schwester. Aber ihrer Verlegenheit half die Nachwirkung des Schreckens über Terschka. Von allem Unangenehmen gleich zur Abwehr gestimmt, hatte sie das Bedürfniß des Polterns …

Sie ist eine Närrin! … rief sie Armgart nach …

Bald aber stockte auch ihre Rede – voll Grauen über die Verstellungskunst, deren Zeuge sie hier einen Winter über gewesen waren …

Der Onkel gab sich offener. Er verweilte mit unausgesetztem Erstaunen bei der Mittheilung des Domherrn und fand sie für die Enthüllung römischer Zustände außerordentlich …

Armgart’s Platz blieb leer … Man aß und suchte in zerstreuendem Gespräch Fassung zu gewinnen … Was stören und die eben gewonnene Einheit trüben konnte, wurde vermieden … Levinus rügte nichts am Bruder, die Tante nichts an ihrer Schwester … Dafür behielten Ulrich und Monika für sich, was beide tiefschmerzlich von Rom, seinem Bau, seinem Bann über die Welt empfanden …

Bonaventura und Paula empfanden alles das nicht minder …

367 Dennoch erhielt Onkel Levinus scheinbar Recht, als er das Glas erhob und sprach:

Der Mensch ist so glücklich, wenn er die erste Summe seiner Ersparnisse zurücklegen und sagen kann: Das haben wir denn nun – und das Uebrige findet sich! … Halten wir uns an das Glück, das wir sehen und – mit Händen schütteln! … Hoffen wir, daß im Schoos der Zukunft mehr, mehr, viel mehr zu unserer Freude verborgen liegen wird, als wir ahnen! …

Darauf klangen auch alle an …

Die Tante lachte über das Levinus’sche Bild von „zurückgelegten Ersparnissen“ …

Plötzlich aber fiel allen Paula’s Blick auf …

Paula hatte von den Speisen wenig nehmen mögen …

Ihre Erregung mehrte sich durch die Erwartung der Wiederkehr Armgart’s …

Sie fragte nach ihr … Schon seltsam leise erklang ihre Stimme …

Die Tante kannte diesen Ton und erhob sich …

Paula blickte starr auf die großen silbernen Gefäße, die beim Mahle benutzt wurden …

Die Tante rückte eine glänzende Vase zurück, in der sich Paula schon wie unbewußt spiegelte …

Das glänzende Metall übte seine Wirkung …

Paula begann mit Armgart zu sprechen, ohne daß diese im Zimmer war.

Ende des fünften Buchs.

Apparat#

Der Apparat für alle Bände des Zauberers von Rom ist unter dem ersten Band einzusehen.

Stellenerläuterungen#