Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Novellen. Erster Band#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Gert Vonhoff
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
25.03.2019

Text#

Novellen von Karl Gutzkow.#

Erster Band.#

V Vorrede.#

Der junge Autor debütirt in Deutschland schlecht; denn wie unserm Leben fehlt es auch unserer Literatur an Concentration. Wir besitzen keine öffentlichen Plätze, auf welchen sich die literarische Jugend, von Allen gesehen und von Allen belobt oder belacht, tummeln könnte; wir besitzen keine Palästra, welche ringsherum so viel Sitze zählte, daß die ganze Nation auf ihnen unterkommen könnte; wir besitzen keine olympischen und pythischen Spiele, keine Lorbeer-, Rauten- oder Petersilienkränze, welche sich von dem Ersten Nächsten, der den Beruf zum Wett-VIkampfe fühlt, verdienen ließen, wir besitzen Nichts, gar Nichts, was vor den Augen Aller geschähe. Das ist ein Mißstand, der sich nicht sogleich verbessern läßt, und bei dem es schon genug ist, wenn man ihn mit einiger Ruhe zu ertragen versteht.

Es giebt in Deutschland eine kleine Zahl kleiner Winkelstädte: Wien, Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main. Es giebt so viel unbedeutende Marktflecken: Dresden, Leipzig, Stuttgard, München. Es giebt eine Legion kleiner unansehnlicher Weiler und Dörfer: Nürnberg, Augsburg, Darmstadt, Karlsruhe; zu geschweigen jener Meierhöfe und Vorwerke, welche sich Gotha, Coburg, Weimar nennen, und zu denen alle Provinzialstädte der preußischen Mo­narchie: Breslau, Königsberg, Magdeburg gehören. Nun, alle diese rauchigen, schlecht gepflasterten, kothigen Commünen, alle diese Krähwinkel haben ihre Bürgermeister und Rathsherrn, haben ihre Pedanten, ihre Perrücken auf der Dorfkanzel, ihre Zöpfe in der Schulmeisterei, haben ihre Kegelbahnen, ihre Sonn-VIItagsnachmittage, haben einen Marionettenspieler, der sie lachen oder weinen macht, haben zuletzt eine Maulbeerallee, welche von der letzten Feueresse des Dorfes in die Gärten der Gutsherrschaft führt. Das ist ziemlich Alles auf einen Schnitt, aber nichts destoweniger sehr mannigfaltig. Ueberall Freud’ und Leid, aber auch überall ein andrer Ausdruck derselben.

Es ist sieben Uhr Abends, die Honoratioren des Dorfs sitzen mit dampfender Pfeife im Casino hinter einem Denkstein, den sich ein Jeder mit einem Kruge Bier oder einer halben Maaß Krätzer selbst setzt. Ein witziger Kopf liest ihnen die spaßhaften Erfindungen vor, die er noch Zeit hatte nach seinen täglichen Actenvermehrungen, worin sein Amt als Beamter besteht, schnell schriftlich aufzusetzen, die alten Herrn lachen, daß ihnen die Augen thränen. Sie flehen den Bruder Actuar, nachdem sie unter dem Tisch, wohin sie durch seine Späße gebracht wurden, wieder hervorgekrochen sind, sie flehen ihn demüthigst, seine köstlichen Poesieen VIII herauszugeben. Sie sammeln Subscriptionen und wenden sich dann an Gevatter Brockhaus oder Campe, mit ihrer Hülfe dem Werke beizuspringen. So entsteht ein deutsches Buch, und ist ursprünglich nur für sechs Collegen geschrieben, welche mit dem Verfasser auf einem Bureau arbeiten.

Der junge Poet dichtet einige Jahre hindurch nur für seine Geliebte oder für einen Nelkenstock, den seine Mutter besitzt; er besingt bis in sein dreißigstes Jahr die kleine Wiese, auf welcher vor seinem Dörfchen die Wäsche getrocknet wird, oder den Bach, der durch den Hof seiner Eltern floß. Wem das Blut schon dreister durch die Adern rollt, der wagt sich eine Meile weit von seinem Kirchthurme, erweitert sein Publicum durch die Aufnahme eines alten Pastors, seiner sentimentalen Tochter, der verblühten Schwester des Gutsherrn, und eines Schafzüchters, der Alles schön findet, was sich recht reimt und klappt.

Gesteht es nur Alle, die Ihr je eine deutsche Gansfeder angesetzt habt, Ihr Göthe, IX Schiller, Klopstock, Wieland, Ihr Clauren, Hell, Borromäus von Miltitz und Ihr unzähligen Andern, daß Ihr drei, vier Jahre hindurch bei Euern unsterblichen Schöpfungen nur daran dachtet, was der Herr Vater, oder der Herr Onkel, was der Herr Pastor oder der Herr Rector, was Euer Freund, Eure Geliebte, was Euer Pudel dazu sagen wird?

Der Fürst Pückler schreibt nur für die Cirkel in Berlin, die er durch seinen Geist ärgern will, Heine denkt nur an seinen Oheim, den reichsten Banquier an der Mündung der Elbe, und an einige Bewohner Hamburgs, wenn er seine Zustände und Salons entwirft, Börne an einige alte Senatoren Frankfurts, Spindler an seine kleine runde Frau, die er zärtlich liebt, Theodor Hell an Agnes Franz, der er die Ehe versprach und das Versprechen nicht halten wollte, Theodor Mundt an den Professor Lachmann, der ihn durch das Examen fallen ließ, Wolfgang Menzel schreibt keine Zeile, ohne zu denken, was wohl Paulus X in Heidelberg dazu sagen werde, Heinrich Laube hat nur den schlesischen Cavalier im Auge, Herr von Rumohr seinen Koch, Clauren die Nähterin, welche wöchentlich dreimal seine Hemden flickt, Wilibald Alexis seine Schwester, mit der er einsam und idyllisch auf der Zimmerstraße in Berlin zusammenwohnt.

Das sind Thatsachen, welche die Nichtexistenz eines deutschen Publicums außer Zweifel setzen. Es ist ganz in der Ordnung, daß der junge Autor zuerst für sich, dann für seine Umgebungen schreibt, und erst die ernste Warnung des Buchhändlers wird ihn veranlassen, das Auge besser aufzurichten und sich umzuschauen, wo der heilige Antonius und wo die Fische sind, denen er predigt. Was beginnt er dann? Er gesteht zuvörderst, daß sich jeder deutsche Schriftsteller erst selbst ein Publicum schaffen müsse. Lassen sich aber die Menschen aus der Erde stampfen? Nein, wir müssen sie durch List vereinigen, wie ein Werber, XI der die jungen Bauern betrunken macht, und sie dann in die Uniform steckt.

Es müsse Leser geben, speculiren wir. Wo sind sie? Wer beschäftigt sie? Spindler hat sein Publicum, Heine hat sein Publicum, Herr von Wachsmann hat sein Publicum. Wir machen einen Besuch bei Spindler, wir borgen uns einige Raritäten aus seinem Mittelalter, wir versprechen, an den Ringelhauben, den Hellebarden, den Judengassen, an diesen Domanialgütern seiner Phantasie keinen Schaden zu thun und alles wieder zu gehöriger Zeit und im alten Stande abzuliefern. Wir essen mit Heine im Rocher de Cancale zu Paris ein Dutzend Austern, wir schlürfen die Ungethüme lebendig ein und mit ihnen seinen Spott, seine Ironie, die Wohlgerüche, welche sein schwarzer Frack bei jedem Athemzuge aushaucht. Wir leihen uns von diesem Krokodill in seidnen Strümpfen und Manschetten seine Thränen, sein unverwundbares Fell, das nur auf dem Bauche noch kitzlich ist, seine XII scharfen Zähne und seine Amphibiennatur, im Wasser und auf dem Lande, zwischen Ja und Nein zu leben. Oder wir gehen zu Herrn von Wachsmann, der auf irgend einem Gute in der Niederlausitz lebt, und Tag und Nacht die Thore offen hält, wenn die Musen und Grazien sich einmal in die Gegend zwischen Guben und Bunzlau verirren sollten. Mag von diesem ein Jeder die Schwingen leihen, auf welchen man sich zu einer Provinzialunsterblichkeit erheben kann. Wir haben deutlich genug gezeigt, wie sich ein Publicum erobern läßt.

Wehe dem Armen, der geharnischt, mit eigner Devise, vor das Vaterland tritt! Es sieht ihn nicht, das Neue ist ihm ungewohnt, es dehnt sich gern im bequemen Sorgenstuhl. Nein, schleicht im Gewande des Bettlers in die Halle der sorglosen, schwelgenden Freier, spielt mit ihnen Hund und Knochen, singt ihnen Lieder nach den Melodien, die ihnen gegenwärtig sind, und erst wenn sie Euch einen Bogen zum Spannen geben, dann legt Eure eignen Pfeile darauf!

XIII Es ist sehr dunkel und unanständig auf den Gassen Deutschlands. Alles macht sich durch die Göttin der Gelegenheit. Diese trat einst zu einem jungen blonden Manne und sprach zu ihm also:

„Du gabst Narrenbriefe heraus, welche selbst für Kluge zu gescheut waren. Du schriebst eine Göttergeschichte, und die Welt ist zu ab- und gegengöttisch, als daß Du Dich damit bei ihr empfehlen könntest. Du brütest schon über neuen Plänen, welche an Unpopularität die frühern noch überbieten dürften. Sieh Dich vor! Verscherze Dein Talent nicht! Zu den Bedürfnissen steige herab, laß Deine Götter Menschen werden, gleich uns! Gieb Dir um keinen Preis den Anstrich der Neuheit, sondern wirf Dich in die abgetragenen Kleider Deiner Vorgänger! Erfinde Dir allerhand kleine Anekdoten, lüge Dir Zeit, Ort, Stunde, Menschen zusammen, schreibe Novellen! Laß Deinen kalmückischen Namen immer mit gothischen Lettern drucken, sprich im Lapidarstyl von Dir XIV selbst, und laß Dich an allen Orten und Ecken erblicken. Dann wird man sich nicht mehr vergessen über die Stirn fahren, wenn man Deinen Namen nennt. Sondern mit unauslöschlichen Zügen wirst Du dann in dem Gedächtniß einiger tausend Menschen leben, welche über die Unsterblichkeit zu Gericht sitzen.“

Mich schauderte vor der gemeinen alten Kupplerin, aber die Waare, welche sie verhandelte, war dennoch schön, liebreizend, herausfordernd. Das blühende frische Kind verrückte mir den Kopf, ich ließ es nicht, und hätt’ es mir eine halbe Zukunft gekostet. Mein Entschluß war gefaßt: ich setzte meine halbe Seele aufs Spiel, um die andre Hälfte zu gewinnen. Ich gab dem Teufel ein Haar, und sah mich vor, daß ich ihm desto weniger anheim fiel. Ich fing an Novellen zu schreiben.

Vielleicht gefallen sie, speculirt’ ich weiter. Deine Charaktere sind vielleicht nicht alltäglich, Deine Verwickelungen sind spannend, Deine Staffagen neu. Du wühlst XV Dich wie eine Maus in einen großen Käse hinein, und wirst ein Schooskind des Publicums. Die Empfindsamkeit beweint Deine weiblichen Ideale, Du läßt der Tugend immer Gerechtigkeit werden und kein Laster ungestraft bleiben, Du bleibst auf der Stufe der ordinären Wirklichkeit, welche man nur treu zu schildern braucht, um für genial, unübertrefflich, und in seiner Art einzig gehalten zu werden. Man vergleicht Dich mit Zschokke, findet Verwandtschaft mit Georg Döring, giebt zu, daß ich sogar schon um einen Schritt weiter bin, als Eduard Gehe, und gesteht, daß ich selbst nicht mehr zu weit entfernt bin, um einen Wilibald Alexis zu erreichen. Ich kann mich recht lebhaft in die Lage hinein denken, in welche mich die nächsten fünf Jahre versetzen werden. In keinem Almanache wird mein Name fehlen, meine Novellen werden in Goldschnitt gebunden und Ramberg zeichnet Scenen, welche er ihnen entnimmt, um seinen berühmten Hund darauf anzubringen. In den Prospecten neuer Morgen- und XVI Abendblätter werden sich die Herausgeber damit brüsten, daß sie außer dem Herrn von Rumohr, der Frau Amalie Schoppe, der Frau Henriette Henke, der Freifrau Wilhelmine von Gersdorf auch den beliebten Novellisten Karl Gutzkow gewonnen hätten. Die Köchinnen, welche für ihre Herrschaften Bücher aus der Leihbibliothek holen, werden immer nach mir fragen, wenn von Herrn von Lüdemann nichts zu Hause ist! Auf den Toiletten bin ich heimisch, die schönsten Kinder Evens gehen mit mir zu Bett und vergessen darüber das Licht auszumachen; ich werde verstohlen aus den Nähpulten geholt, wenn die Mutter in’s Theater geht, und die hoffnungsvollen Söhne des Hauses, statt den Tacitus und Plutarch zu lesen, studiren die Phantasiegemälde, welche noch alle bei Kollmann und Wienbrack von mir erscheinen werden. Ich bin auf dem besten Wege, ein tägliches Bedürfniß zu werden und Tausende werden mir nachlaufen, wie dem Meister Furibund.

Dann soll aber auch der Augenblick ge-XVIIkommen sein, wo ich meine zweite Rolle zu spielen beginne. Man liebt mich, man bewundert mich, man ist von meinem sittlichen Gefühl durchdrungen, man ist bereit, mir über Berg und Thal zu folgen. Ich habe dann das Publicum in meiner Gewalt, besinne mich nicht, und steck’ es in einen Sack. Ich trag’ es dann, wohin ich will, heraus aus dieser trügerischen Welt, deren falsche Bilder ich so lange aufgefangen und wiedergegeben hatte, in die Nähe des Firmaments, in ätherische Regionen, in andere Sphären, Ideen, in Träume, welche bis auf ein Haar an die Wahrheit streifen, ich überspringe dieses Haar, das Publicum im Sacke immer mit, es gewöhnt sich an die Bewegung, es hat den Rückweg und die Alltäglichkeit verloren, es wird mir überall hin folgen. Dann öffne ich den Sack und Eure Augen werden geblendet sein. Ihr werdet auf den Alpenhöhen stehen, und nicht wissen, welche Wunder Euch umgeben! Die Sterne tanzen ihren poetischen Reigen über Eurem Haupte, die Sonnen rauschen mit XVIII donnernden Klängen an einander vorüber, die Ewigkeit mit ihren Zaubern kennt die Ideale nicht mehr; Ihr werdet staunen, daß Eure Ahnungen und Träume die Momente des wahren Lebens waren, daß Euer irdisches Dasein nur Rückfall in die Materie, das Elend des Vergessens, die Dunkelheit der Nacht und die Kälte des Todes war. Alle Sterne werden die Thaten und Revolutionen erzählen, welche sich auf ihnen zutrugen. Ihr werdet staunen, daß das Unvollendete unsers mikroskopischen Welt-theils in der Milchstraße in Erfüllung ging; daß im großen Bär die Widersprüche gelöst werden, welche im kleinen Bär nicht vereinbar schienen; daß alles harmonisch ineinander greift und alle Dinge einen höhern Zweck haben, als die Beglückung zweier Liebenden, die Entdeckung eines Kassendefects, die Anerkennung eines tugendhaften Justizraths.

Was ich mich sehne nach dem Ablauf dieser fünf Jahre! Zuweilen ergreift mich die Zukunft mit titanischer Gewalt, und ich fühl’ es dann schmerzlich, daß sie erst erlebt XIX sein will; daß ich noch fünf Jahre auf die Galeere geschmiedet bin; daß ich noch fünf Jahre um die hohe Braut freien muß; daß ich noch fünf Jahre mit einer gewissen Geringschätzung von mir selbst sprechen werde, wenn ich die Novellen bevorworte, welche den beiden vorliegenden Bändchen folgen sollen.

Folgendes möge als Laufpaß dieser ersten Sammlung genügen!

Die beiden Verbindungsglieder der hier mitgetheilten vier Erzählungen sind aus einem Genre, für welches man eine Begeisterung von acht Tagen haben kann. Die Franzosen gaben mit ihrem Livre de Cent et Un den Ton an, das Leben der Zeitgenossen mit möglichst grellen Farben zu portraitiren. Die Engländer und Russen folgten ihnen; wir Deutsche bedurften erst einiger einheimischen Beispiele, ehe wir Charakteristiken dieser Art zu entwerfen wagten. Die Beispiele kamen aber nicht, weil wir kein Paris, keine großen Städte, keine Nüancen in unsern Sitten, viel Spott über unsre wechselseitigen Ge-XXwohnheiten und bei den Schriftstellern wenig Beobachtungsgabe besitzen. Die hundert Sittenmahler der Franzosen versetzten uns in Schrecken; denn wir konnten unter den routinirten Schreibfedern wohl keine zehn aufweisen, welche in jenem Genre hätten etwas leisten können. Ich versuchte mich in zwei Porträts dieser Art, welche ich aus dem Morgenblatte in diese Sammlung übertragen habe.

Sie schildern einige Beziehungen des Lebens und Treibens in Berlin, und das deutsche Publicum ist so kalt gegen diese Stadt, daß es immer einer Entschuldigung bedarf, wenn man ihrer Erwähnung thut. Ich könnte über die Gründe, welche mich schützen, weitläuftig sein, aber die Sache, der es gilt, ist dieser Untugend nicht werth. In Deutschland werden alle dergleichen Skizzen verfehlt sein, welchen nicht ein großes Maaß von Satyre zugemessen ist. Daran dacht’ ich aber nicht, und ertrage gern den Tadel, der mich deshalb treffen dürfte.

Nur über die Piece: „Geständnisse einer XXI Perrücke“ erlaub’ ich mir noch zu bemerken, daß sie aus einem kritischen Degout entstanden sind. Herrn von Rumohrs deutsche Denkwürdigkeiten, ein Buch, das wirklich aus seiner Feder herrührt, wovon man erst nach der Lectüre der spätern Sachen dieses Autors überzeugt sein kann, enthält unter Andern den Aufenthalt eines jungen deutschen Grafen in Paris, welcher nach der Illusion des Buchs in die siebziger Jahre des philosophischen Jahrhunderts gefallen sein muß. Die Schilderung desselben schien mir vor Allen verfehlt. Sie ermangelte alles Reizes, den ihr die Zeit, die damalige Sitte, die merkwürdige Bewegung von Paris in jenen vorrevolutionären Tagen hätte verleihen können. Ich adoptirte das, was sich Herr von Rumohr entgehen ließ. Ich brachte meinen Helden in Situationen, welche nur dem Charakter jener Zeit angemessen sind. Dabei wollt’ ich auch gleicher Maaßen den bei Herrn von Rumohr verfehlten Ton treffen; kurz, diese Geständnisse sind nur ein Gegenstück, das durch ein ein-XXIIseitiges Interesse hervorgerufen ist, und ich muß meine Leser besonders bitten, gleich von vorn herein den leisen Anhauch von Ironie, der über das Ganze waltet, nicht zu verwischen, sondern den Erzähler sich immer in dem Lichte vorgestellt zu denken, daß er fortwährend der Düpe seiner eignen Berichte ist. Ich glaubte, daß dieser Zug für einen deutschen Cavalier der siebziger Jahre, welcher in Paris lebt, unerläßlich ist.

Berlin den 6. Januar 1834.

Karl Gutzkow.

XXIII Inhalt.#

Der Kaperbrief. Novelle.

Die Sterbecassirer. Bambocciade.

Geständnisse einer Perrücke.

1 Der Kaperbrief.#

Eine Novelle.#

3 Während Napoleons siegreiche Waffen den Continent in Erschütterung versetzten, boten die Gewässer und Meere nur den Anblick einer traurigen Verödung dar. Mit dem allgemeinen Abschließungssysteme gegen England und mit den Blokaden, die von Seiten dieses Landes, als Repressalien für jenes, über die Küsten von ganz Europa verhängt wurden, war aus allen Häfen jeder rege Verkehr, das bunte, lebendige Treiben und die Geschäftigkeit so vieler tausend Hände verschwunden, die in Zeiten des Friedens der Unternehmungsgeist in Bewegung setzt. Der Spiegel des Meeres war trügerischer als je. War es früher nur die Macht der Stürme und Fluthen, das Verderben der Strudel und Klippen, oder der Angriff eines berberischen 4 Corsaren gewesen, gegen die der Kaufmann beim Auslaufen aus dem Hafen seine Waarenladung versicherte, so hatte sich zu diesen Gefahren die neue gesellt, von einem Blokadeschiff oder einem bevollmächtigten Kaper aufgetrieben zu werden, und ihm bis auf den letzten Schiffsnagel heimzufallen. Die Gunst eines Augenblicks, eine rabenschwarze Nacht, die den Kauffahrer ungesehen machte, oder ein Vorsprung, den er vor seinem Verfolger voraus hatte, entschied über das Wohl oder Wehe eines ganzen Lebens. Diese ungleichmäßige Begünstigung des Zufalls erhielt die Preise der Waaren in einem unaufhörlichen Schwanken. Sie sprangen oft plötzlich so hoch, daß sie die Lust und das Vermögen jedes Käufers überstiegen. Hatte man wohl im Innern eines Landes Lust, an einem Pfunde Zucker alle die Verluste zu bezahlen, die der Kaufmann schon früher an vielen Zentnern erlitten hatte? Die Aussichten für den Handelsstand konnten nicht trauriger sein.

Diese Klagen ungefähr mochten in den abgerissenen Seufzern enthalten sein, die des Kaufmanns Herrn Jean Pierre Bernards beklommener Brust entfuhren, und die wir auf der freundlichen Ter-5rasse seines vom Meere bespülten Gartenhauses in Havre de Grace zu belauschen wagten.

Herr Bernard war ein zweiter Polykrates; denn noch hatte ihn keiner der Unfälle betroffen, die täglich den Ruin seiner Rivale herbeiführten. Was bis jetzt noch immer aus Guadeloupe und Martinique mit einer Adresse an ihn, den reichsten Baratto-Händler aus Havre, abging, daran war der Zufall mit unbegreiflicher Blindheit vorübergegangen, und seine Schiffe liefen noch immer ein, als Boten der Freude für Herrn Bernard, der Trauer für seine Nachbarn. War es die Bescheidenheit unseres Mannes, war es sein patriotischer Eifer, waren es die häuslichen Tugenden, das thränenreiche Andenken an seine frühgestorbene Marguerite und seine innige Anhänglichkeit an Helene, das einzige Pfand der Liebe, das sie ihm hinterlassen, waren es alle diese rührenden Vorzüge, die ihm die Götter anrechnen und belohnen wollten? Wenn es wahr ist, daß das Glück an der Hand der Gerechtigkeit geht, so war er vor Allen würdig, seine Gaben zu empfangen.

Herr Bernard saß auf seiner Terrasse unter einem weiten, vor der Sonne schützenden Segel-6tuche, das, eines Patrioten würdig, rings mit dreifarbigen Franzen besetzt war. Sein gutmüthiger wenig sagender Blick fiel bald auf die Spiegelfläche des Meeres, das unter ihm mit weißen Schaumwellen an das Ufer schlug, bald spiegelte er sein volles, gesundheitstrotzendes Antlitz in einem goldenen Theelöffel, mit dem er dann wieder den regenbogenfarbigen Schaum der Morgenchokolade, die ihm Helene in buntgemaltem Porcellan kredenzt hatte, in seinen nachdenklichen Mund schlürfte. Aus dieser Tasse hatte die selige Marguerite zum letzten Male getrunken, und seitdem war sie für ihn eine Art Rosenkranz geworden, an dem er seine Morgenandacht verrichtete. Er hatte sich vorgenommen, aus dieser Tasse nur unter Gefühlen zu trinken, die ihn nach dem Jenseits und dem Wiedersehen zogen; doch wie kann ich ihm einen Vorwurf daraus machen, wenn ihn seine Schiffe, die Conjuncturen des Handels, der unwiderrufliche Moniteur und die Zuckerpreise heute davon abzogen! Er war Kaufmann und Patriot, er war der Beschützer vieler Hunderte, denen er in diesen kläglichen Zeiten Unterhalt verschaffte; ja er war noch mehr, Helenens Vater und Verwalter eines großen Vermögens, das 7 er ihr um jeden Preis unverkürzt hinterlassen wollte. So schweiften seine Gedanken bald die Seine hinauf nach St. Cloud, bald nach den Nebeln Albions, das Napoleon aus den geographischen Lehrbüchern hatte streichen lassen, bald über die Meridiane des atlantischen Meeres. Er greift nach dem Kalender, um die Tage und die Minuten und die Stellungen der Gestirne zu vergleichen, wo eine Ladung mit Cochenille, Färbeholz, Kakao und andern Colonialwaaren aus dem Hafen von St. Pierre absegelte; er sucht auf der Karte dem Lauf des verhängnißvollen Schiffes zu folgen, und zählt an den Fingern die Stunde ab, wo es an dieser Sandbank, an jener englischen Wachtstation vorübersegeln müsse. Der Schweiß steht ihm vor der Stirn, und er versinkt auf einige Augenblicke in eine völlig apathische Erschöpfung.

„Guten Morgen, Meister Bernard!“

Es war eine rauhe accentlose Stimme, die dem Träumenden diesen Gruß zurief.

Bernard, erschrocken über den plötzlichen Willkomm, wandte sich um, nicht wenig erstaunend, den Meister Malpart schon zu so früher Stunde bei sich zu sehen.

8 „Da haben wir’s, Kapitain! Ihr müßt es auch gehört haben, in der Nacht haben die englischen Wasserratten wieder Lärm gemacht? Ach, Gevatter! diese in der Nacht so plötzlich aufschreckenden Schüsse sind noch einmal mein Tod.“

Der Exkapitain Malpart liebte die unzeitigen Scherze, und sagte lachend zu dem ängstlichen Manne: „Warum Furcht? Ist doch Euer Heldenmuth größer, als die Gefahr. Auf dieser Terrasse, unter dem würzigen Dufte dieser Blumen und Chokolade trotzt Ihr jedem Wagestück, selbst wenn es den Rothröcken einfiele, den reichsten aller Barattiers von hier abzuholen, Euch in eine Schaluppe zu setzen und im Triumph nach Plymouth zu entführen.“

Doch so leicht ließ sich Herr Bernard nicht schrecken. „Kapitain,“ sagte er spaßhaft, „wo bleiben Eure militairischen Kenntnisse? Diese Terrasse ist nicht vom Ungefähr, sondern nach einem durchdachten, sehr berechneten Plane gebaut worden. Noch ist im Fort dort drüben kein Pulvermangel eingetreten, noch giebt es hinter der Lunette Marengo sehr scharfe Augen, und ich habe es mathematisch ausmessen lassen, daß die Paßkugeln von 9 daher meinen District von jedem verdächtigen Gaste rein erhalten können.“ –

„Gevatter,“ entgegnete Malpart mit verstelltem Ernste, „das sind ja Wunderdinge, die ich von Euch höre! Sprecht Ihr nicht wie ein Lieutenantmajor, der zwei Batterien zu kommandiren hat! Ohne Scherz, Ihr verrathet taktische Kenntnisse, die Ihr benutzen solltet.“

Der gute Bernard fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, nickte aber ungläubig; denn wie sollte er sich in den Vorzügen auszeichnen, die ihm hier angedichtet wurden?

Malpart nahm einen Stuhl und rückte Bernard, wie zu einer vertraulichen Mittheilung, näher. „Nehmt mir’s nicht übel,“ sagte er, „aber wir leben in Zeiten, die uns an die Umwandlungen gewöhnen. Der Landmann läßt seinen Pflug stehen und vertauscht ihn mit der Muskete. Die Gelehrten und Künstler werfen sich in die glänzendere Karriere, die ihnen der Krieg eröffnet. Die kleinen Kaufleute folgen den Heeren als Commissaire und machen Gewinnste, deren Ungerechtigkeit auf des Kaisers Rechnung, deren Ertrag aber in ihre Taschen kommt.“ –

10 „Leider!“ bemerkte Bernard, der sein Volk liebte.

„Was sage ich von Großhändlern,“ fuhr Malpart fort, „von Weltkaufleuten, wie Ihr Einer seid? Ich bitte Euch, klagt nicht! Man kennt den Inhalt Eurer Geldtruhen, ohne sie gesehen zu haben. Ihr cursirt im Munde Aller als ein Mann, dem es bald an Tonnen fehlen wird, sein Gold zu fassen. Das ist eine Hyperbel, aber schon die Hälfte Eures Rufes kann genügen, Euch als ein so solides Haus zu bezeichnen, als Ihr in der That seid. Aber, Freund – ohne Euch etwas –” –

„Ich beschwöre Euch, Malpart!“ rief der ängstliche Kaufmann, dem diese weitläuftige Anrede unheimlich wurde, und sprang erschrocken von seinem Sitze auf, „warum hüllt Ihr Eure Nachrichten in diese fürchterlich dunkeln Redensarten, die mich peinigen? Sprecht, es sind Nachrichten angekommen, und Ihr wißt nur zu gut, daß sie die Botschaft meines Verderbens bringen!“

„Wolle mich Gott behüten,“ sagte der Kapitain, „daß ich Euch Trauriges sagen müßte. Nein, Eure Sachen stehen gut, sehr gut, und werden immer so stehen. Doch Ihr kennt die Launen des 11 Schicksals. Gegen seine eigenen Kinder ist das Glück oft am treulosesten. Für diesen Fall will Euch ein Freund mit seinem Rathe dienen.“ –

„Habt Ihr ein Mittel,“ erwiederte der Kaufmann, „den englischen Schiffsjungen in den Mastkörben die Augen zu blenden, daß sie meine Schiffe nicht sehen? Wißt Ihr ein Mittel, die Kugeln, die in diesem Augenblick die Artemise, oder meinen herrlichen Neptun, oder den nur dem Namen nach feuerfesten Salamander treffen können, unschädlich zu machen? O, was seid Ihr für ein Mann, meiner Lage zu spotten!“ –

„Ihr versteht mich nicht,“ sagte jetzt Malpart sehr bestimmt. „Ich will offen mit meinem Plane hervortreten. Meine Kapitains­tressen sind verrostet, ich habe Nichts zu verlieren, Ihr Alles. Es darf uns also Beiden nur erwünscht sein, so viel zu gewinnen, als wir können. Ihr besitzt Vermögen, kauft einen Marquebrief, rüstet einen Kaper aus, spickt ihn tüchtig mit Kanonen, werdet Corsar und überlaßt mir das Kommando eines solchen Drachen, der Euch goldene Schätze nicht nur hüten, sondern auch erwerben kann.“

Das war zu viel für den Kaufmann von Havre. 12 Herr Bernard liebte den Frieden, er war ein Enthusiast für die Tugend und die Moral, er achtete die Gebote der Religion, und hatte seinem Koche verboten, in seinem Hause Geflügel zu schlachten, weil er es nicht zur Mördergrube machen wollte. Jetzt sollte er sich an die Spitze einer räuberischen Unternehmung stellen, sollte zur Vernichtung seiner Mitmenschen einen Mann aussenden, dessen Herz nie einem sanften Gefühle zugänglich gewesen war, sollte ihm die Vollmacht geben, auf so viele Väter, deren Kinder und Frauen er dadurch zu Waisen und Wittwen machen würde, auf so viele Söhne, die vielleicht die Stütze ihrer Eltern sind, glühende, mordende Kanonenkugeln abzuschießen! Herr Bernard legte beide Hände auf die Augen, die Sinne schwindelten ihm, und er schwankte erschüttert auf seinen Sessel zurück.

Aber er besann sich; es fiel ihm ein, daß er unter Andern auch Patriot sei; er berechnete den Vortheil, den er der Nation und seinem Kaiser bringen könnte, wenn er die Rathschläge des Exkapitains befolgte. Und Malpart unterließ nicht, ihn in dieser Ideenverbindung zu erhalten. Er schilderte ihm die Verdienste, die er sich um das 13 Wohl seines Volks und besonders um die Beschleunigung des Friedens erwerben könne, und vermied sorgfältig jede unzarte Hindeutung auf die lukrative Seite des Unternehmens; Bernard schwankte, er hatte nichts mehr zu erwiedern, und gab endlich zu allen Vorschlägen seinen ungetheilten Beifall. Der Handel wurde geschlossen, die Summe für den Ankauf des Kaperprivilegiums angewiesen, der Lohn des Kapitains und der Mannschaft, die zusammenzutreiben dieser auf sich genommen hatte, bedungen, und bald sah man Beide nach dem Hafen gehn, um ein taugliches Schiff anzukaufen. Malpart, eine hagere, finstere Gestalt, mit schlechtempfehlenden Zügen und in mehr als unordentlichem Aufzuge; Bernard, eine umfangreiche kleine Figur, in sorgfältig abgestäubtem, weitschößigem Frack, weißen Manschetten, Puderkopfe und einen goldknöpfigen Bambusstock in der beringten feinen Hand tragend. Der Mann trat sehr behutsam auf, als ob er fürchtete, die empfindungslosen Steine könnten ihm seine Grausamkeit vorwerfen.

Havre de Grace, jetzt so bekannt als Einschiffungsort der deutschen Auswanderer, war von jeher der wichtigste Seehafen des nördlichen Frankreichs. 14 Am Ausfluß der Seine gelegen, kann man es den Hafen von Paris nennen, dessen zahllose Bedürfnisse zum großen Theil durch die weitverzweigten Handelsverbindungen dieses Platzes befriedigt werden. Es lag aber in den nothwendigen Folgen, die das System der Continentalsperre nach sich zog, daß auch hier ein großer Theil der frühern Lebhaftigkeit verschwunden war, ja daß der Verkehr kaum in etwas Anderem bestand, als dem Einbringen englischer Schiffe, oder solcher Fahrzeuge, die unter englischer Flagge sich geschützt glaubten, und den französischen weniger zahlreichen Kreuzern unglücklicherweise in die Hände gefallen waren. Diese Schiffe wurden dann von einem Prisengericht für gute Prisen erklärt, nach ihrem Inhalt und ihrem materiellen Werth taxirt, und im Betrag der ermittelten Summe zu gesetzlich bestimmten Portionen dem Kaper und der Krone zugeschlagen. Die Waaren und das Schiff wurden an die Meistbietenden verkauft.

Das Schiffswerft, dicht an dem geräumigen, aber schwach besetzten Hafen gelegen, war in einen Auctionsplatz umgewandelt worden. Wo man sonst nur die Axt und die Säge des Zimmermanns hörte, 15 da vernahm man jetzt nur zuweilen den Zuruf der Arbeiter, welche ein erbeutetes Schiff auf Walzen an das Ufer zogen, oder die Gebote der Kauflustigen, die an dem Schiffe nicht mehr seine Form und Bestimmung sahen, sondern nur ein mannigfaches Material von Eisen, Holz, Stricken, das sich zu andern Zwecken benutzen ließ.

Es war ein weitplankiger Kutter, um den sich heute die Holz- und Eisenhändler versammelt hatten. In der Ferne standen müssige Kaufleute, die in bessern Zeiten diesen Kiel nicht Andern würden überlassen haben. Man konnte diesen stolzen Segler noch keinesweges ein Wrack nennen, so vollständig war er noch in seinem Zeuge; er mußte sich ohne langen Kampf der Uebermacht ergeben haben. Aber was kümmerte das die Holzhändler? Der Auctionator, ein Mitglied des Prisengerichts, hatte schon das erste Gebot erhalten, und der Ausrufer rief den Versammelten zu: fünfhundert Franken zum Ersten!

Das war nicht viel; man konnte mehr bieten. Achthundert!

Das Schiff war unter Brüdern tausend Franken werth, wenn man die Arbeit und den Zweck 16 seiner ersten Bestimmung, die den Werth wohl mehr als zwanzigfach steigerten, abrechnete. Tausend einhundert Franken!

Nun das war schnell gegangen! Es trat eine Pause ein. Man war auf einige Zeit aus allen seinen Berechnungen gekommen, man mußte sich wieder auf alle Ansätze besinnen, die man in Gedanken gemacht hatte: was verdienst du? wie viel Procent gehen dir verloren, wenn du hundert Franken mehr bietest? Ei nun, mit zweihundert funfzig Procent läßt sich auch verkaufen, selbst in Kriegszeiten: tausend zweihundert Franken!

Fünfhundert! rief ein Anderer, der vielleicht bessere Absatzwege hatte, oder reich genug war, sich mit zweihundert zwanzig Procent Gewinn zu begnügen.

Aber das schien das Höchste zu bleiben, die andern Herrn wandten sich Alle kopfschüttelnd um, sie zuckten über das Wrack verächtlich die Achsel, bemitleideten den Mann mit seinen anderthalbtausend Franks, rechneten jedoch dabei noch immer an ihren krampfhaft bewegten Fingern, weil in der That das Schiff besser war, als wofür sie sich das Ansehen gaben, es zu halten. In demselben Mo-17ment wandten sich Alle wieder um, und es folgten blitzschnell die Gebote: Sechshundert! Sieben-, Acht-, Neunhundert, Zweitausend!

Das war ein Donnerschlag: zweitausend Franken! Man lachte den Wagehals aus, um seinen Aerger zu verbergen, und dieser stand bleich und zitternd da, denn leicht konnte es einem einfallen, daß das Schiff noch einen größern Werth habe. Einzelne, die dies zu ahnen schienen, gingen prüfend um dasselbe herum, sie stiegen auf einer kleinen Leiter in den innern Raum, klopften, ob das Holz noch jung, nicht faul und morsch sei, taxirten die Eisen- und Blechbeschläge, zogen an den armdicken Tauen, als wenn sie sich zerreißen ließen, und nun flogen noch hintereinander ein-, zwei-, dreihundert Franken durch die Schießscharten, aus der Kajüte, vom Verdeck herunter.

Zweitausend dreihundert blieb der höchste Satz, der Ausrufer hatte längst zum dritten Male gerufen, und der Auctionator war eben im Begriff zuzuschlagen, als eine furchtbare Stimme: Dreitausend! rief. Man wandte sich entsetzt um, es war Malpart, der im ganzen Hafen berüchtigte Exkapitain Malpart. Bernard stand ihm ängstlich zur Seite; 18 er bestätigte das Gebot seines Begleiters, erhielt den Kutter, und zahlte die Summe aus, die selbst für diesen reichen Kaufmann allgemein zu hoch schien.

Die folgenden Tage brachten ein ungewöhnliches Leben in die Schiffswerfte. Weil die Reparatur des von Bernard erstandenen Schiffes schleunigst von Statten gehen sollte, so galt es verdoppelte Kräfte in Bewegung zu setzen. Die Fugen und Löcher wurden trefflich verschlossen, das in seinem alten Zustande sehr zersplitterte Bogspriet durch ein neues ersetzt, auch das Segelwerk und die Takelage von dem frischesten Tuch und Hanfe hergerichtet. Lange hatte man keinen so köstlichen Theergeruch im Hafen verspürt, als jetzt wieder, da der restaurirte Kutter mit diesem bindenden Harze von allen Seiten bestrichen wurde. Aber wie erstaunte man, als Herr Bernard auch Kanonen und Waffen aus dem Arsenal ankaufte und die Planken seines Schiffs mit zwölf mörderischen Röhren bespickte. Endlich mußten sich diese Maaßregeln aufklären, als von dem Eigen­thümer bekannt wurde, er habe sich von der Regierung ein Kaperpatent gelöst und dieses wohlarmirte Schiff unter Malpart 19 gestellt, um gegen die Engländer und die verkappten Neutralen zu kreuzen.

Es ist nothwendig, über den Urheber aller dieser Dinge einige Erörterungen zu geben.

Malparts Vater war Pilot und einst beim Bugsiren eines Schiffes im fürchterlichen Sturme vor dem Hafen ertrunken. Dieser Unfall machte seinen noch unmündigen Sohn zu dem Kinde Aller, die in dem Hafen ihre Heimath hatten. Unter den rohen Eindrücken, die er hier erhielt, und für welche sein wilder, ungestümer Sinn nur zu empfänglich war, wuchs er auf, vertraut mit dem Leben und Treiben des Hafens, vertraut mit dem Meere auf einige Meilen in der Runde, das er bald sicher und unerschrocken zu befahren lernte. Seine Bestimmung für das See­leben war entschieden. Er unternahm zuerst in den niedrigsten Rangstufen größere Fahrten, zeichnete sich auf ihnen durch seine Kühnheit und Unerschrockenheit, die seine ihm zur Natur gewordene Brutalität vergessen ließen, aus und erreichte bald die höhern Stellen, die ihm bei den zwischen England und Frankreich ausbrechenden Seekriegen endlich in der Marine die Stelle eines Kapitains verschafften. Die Anforderungen, die die 20 Disciplin der Flotte an seinen aller Subordination unfähigen Sinn machte, zogen ihm eine Reihe von Mißhelligkeiten zu, aus denen ihn nur seine besondern Fähigkeiten zu reißen im Stande waren. So lange Malparts Unternehmungen glückten, verzieh man es ihm, daß er sie nach seinem eigenen Kopf anfing; als ihm aber die Umstände ungünstiger wurden, rechnete man ihm Alles zum Verbrechen an, was man früher nicht bemerkt hatte. Das Strafgericht, das über mehrere Anführer der bei Abukir so unglücklichen Franzosen verhängt wurde, traf auch ihn. Es ist bekannt, daß Nelson mehr durch die Unvorsichtigkeit seiner Gegner, als durch seine eigene Ueberlegenheit siegte, daß sich die französischen Schiffe von ihren Kanonen entblößt hatten, und daß diese, trotz der unglaublichsten Anstrengungen beim Beginn des Treffens, nicht vom Land wieder auf sie zurückgebracht werden konnten; man schob einen nicht geringen Theil der Verantwortlichkeit für dieses Versehen auf Malparts breiten Rücken, und die Folge war seine Kassirung. Der Exkapitain kehrte nach Hause zurück. Er konnte in Privatdienste treten, aber sein Unglücksstern verhinderte eine Beschäftigung, die ihn mit dem Leben 21 hätte wieder versöhnen, und es ihm und Andern erträglich machen können. Das Continentalsystem sistirte alle Unternehmungen, und weil man es versäumte, Malpart gleich nach seiner Rückkehr Anerbietungen zu machen, so verschmähte er es, sich selbst darum zu bewerben. Er ließ seinem dissoluten, rohen Sinne jetzt jeden Zügel schießen, und wenn er auch der Hafenkönig blieb, so machte ihm sein Volk doch wenig Ehre. Man sah ihn nur im Kreise von Menschen, die von den Zeitumständen gleichfalls in Unthätigkeit versetzt, sich an ihrem Schicksal zu rächen meineten, wenn sie sich den rohesten Sitten, und einer für jedes Laster den Weg bahnenden Trägheit hingaben. Es war nur der Rest früherer Bekanntschaft, und das imponirende Auftreten Malparts, das ihn bei solchen Umgebungen noch in einer Verbindung mit dem moralischen Bernard erhielt.

Malpart war zu dem eingeleiteten Unternehmen unstreitig der geschickteste Mann. Er war auch allein im Stande, die für die Bemannung des Schiffes tauglichen Subjecte herbeizuschaffen.

Die Häfen sind zwar noch immer der Aufenthalt der Abentheurer, Glücksritter und des schlechte-22sten Gesindels gewesen, das sich an Jeden verkauft; aber nachdem die kaiser­liche Marine Alles an sich gezogen hatte, was nur irgend in der Jacke eines Seesoldaten oder Matrosen figuriren konnte, mußten die in Havre zurückgebliebenen Reste nur der unbrauchbarste Ausschuß sein. Mit diesen Menschen wollte sich Herr Bernard den Ruf eines Patrioten erwerben. Aber was kümmerte das zuletzt ihn? Es waren die Erfolge, auf die er spekulirte, nicht die Menschen, von denen sie herbeigeführt werden mußten. Es handelte sich hier nicht um moralische Fähigkeiten, sondern um seemännische Kenntnisse, Muth und Verwegenheit, und er überließ es seinem Autorisirten, dem Exkapitain, Menschen herbeizuschaffen, die sich durch diese Vorzüge auszeichneten.

„Malpart,“ sagte er, „unsere Interessen sind dieselben. Ihr wißt, ich liebe die Ordnung und die Gesetzmäßigkeit, weil sie die Bedürfnisse meines Herzens sind, und ich weiß, daß die­selben Tugenden in Euch einen Beschützer finden müssen, weil Ihr anders nicht eine Maschine regieren könnt, die, obschon unzählige Augen und Ohren, doch nur Einen Mund, der die Befehle giebt, haben 23 darf. Ich beschwöre Euch, setzt einige Strafen für das übermäßige Fluchen fest; ordnet wenigstens des Abends ein gemeinschaftliches Gebet an, und enthaltet Euch aller Zoten und unsaubern Geschichten, die die Ohren der Meerdämonen nur beleidigen. Ich mache Euch dafür verantwortlich, daß mich niemals der Vorwurf treffe, einen Verein von Menschen konstituirt zu haben, der die Langmuth des Himmels herausfordert.“

Malpart nickte, ohne etwas zu sagen und nahm den schweren Beutel, den ihm Bernard einhändigte, um damit die erste Löhnung seiner Mannschaft zu bestreiten.

Die erste Klippe, die des neuen Kapers Unternehmung zu umschiffen hatte, war seine eigene Tochter. Helene war von ihrem Vater in alle die Rechte eingesetzt worden, die ihre Mutter mit unerbittlicher Strenge während ihres Lebens geübt hatte. Es war dem Kaufmann zur Gewohnheit geworden, seine Gedanken und Absichten in einer fremden Brust zu verschließen, vielleicht, weil ihn eine natürliche Schwäche verhinderte, die Verantwortlichkeit derselben allein zu tragen. Helene war so lange Rathgeber in den schwierigsten Fällen, und 24 ihr Vater sah es ein, daß er sich auch diesmal ihr vertrauen müsse, um wenigstens Jemanden zu haben, der beim Scheitern seines Plans einen großen Theil des Schmerzes auf sich nehmen könnte. Es giebt Menschen, die sich niemals für sich allein freuen, und noch weniger leiden können.

Helene war in der That dieses Vertrauens würdig. Ihre frühe Selbstständigkeit hatte ihr einen Grad von Charakterstärke ge­geben, der an den Mädchen immer selten ist, die sich auch zugleich durch die Reize ihrer natürlichen Schönheit auszeichnen.

Helene war geschaffen, den Mann zu bezaubern. Die frische Seeluft, der ewige Anblick des stolzen, die Herzen erhebenden Meeres, die laute Thätigkeit, in deren Geräusch sie aufgezogen war, benahmen ihrem Wesen jede nachtheilige Richtung, die im Gefolge der sanften und weichen Naturen nur irgend eintreten kann, und Bernard war nicht der Letzte, der für diese Vorzüge ein Auge hatte. Er wußte, um welch hohen Preis er mit dem reichen Matthieu, Kaufmann in St. Pierre, seinem vieljährigen Commanditär und Geschäftsfreunde, in eine nähere Verwandtschaft treten wollte. Er schrieb 25 diesem Vierziger oft: „Unser Kleinod nimmt täglich einen strahlendern Glanz an: Helene ist die Wonne von Havre und der Stolz ihres Vaters. Man will sie mir vergleichen, aber ich finde in ihr nur die Vorzüge ihrer Mutter wieder. Sie haben sie als Kind gesehen und sind von den Bewohnern St. Pierre’s beneidet worden, Sie werden sie als Gattin in ihre Arme schließen, und die Eifersucht von ganz Havre wird Ihnen übers Meer folgen. An dieser Mißgunst werde ich mich dann einst noch einige Wochen erfreuen, und endlich die Furchen suchen, die meine Lieben dann schon durch den Ocean gezogen haben. Es ist noch ein steiler Gipfel, den ich zu besteigen habe, aber er wird mich in den Hafen der Ruhe führen.“

Man erkennt aus diesem Bruchstücke seiner langjährigen Correspondenz mit Meister Matthieu die Absichten, die Bernard mit seiner Tochter hatte. Er wollte nur den durch sie beglücken, dessen Eifer und Treue er die Vermehrung seiner Reichthümer verdankte; er wollte sogar nach der Verheirathung Helenens die Besitzungen in Havre aufgeben und seinen Kindern über das Meer folgen, ein Wagniß, das ihm jedoch zuweilen das lachende Bild der 26 Zukunft mit einem grauen Nebelflor überzog. Aber Bernard blieb standhaft bei diesem Beschlusse, gegen den selbst die Weigerung Helenens, einem Manne fremder Wahl ihre Hand zu geben, nichts vermochte.

Ja, daß ich’s nur sage, diese einzige Mißhelligkeit war es, die zuweilen an dem freundlichen Lebenshorizonte Bernards mit finstern Wolken heraufzog und auch Helenens Freude trübte. In ihren wachenden und geträumten Wünschen lebte nur Eines Mannes Name, der das ganze geheimnißvolle Spiel, wie sie einer Rose gleich knospete und sich allmählig zur reizendsten Jungfrau entfaltete, belauscht hatte, der ihr als Dolmetscher eines wilden, unverständlichen Lebens mit zärtlicher Hingebung zur Seite gestanden, und den sie jetzt, vielleicht nicht mit Unrecht, als hinübergegangen in das Reich der Schatten, beweinte.

Alfred Dumallet war sehr früh zu einer glänzenden Unabhängigkeit gekommen, obschon der Preis derselben ein schmerzlicher, der Tod seiner Eltern, gewesen war. Er war unter die Vormundschaft Bernards gekommen, und hatte den größten Theil seiner Jugendeindrücke mit Helenen gemeinsam er-27halten. Mehrere Jahre, die er auf der Rechtsschule in Paris zubrachte, entfernten ihn von Havre, wohin er als Advocat bei dem dortigen Handelsgericht zurückkehrte. Beim Wiedersehen fand das Entzücken Worte, die bald in die freie Sprache der Liebe übersetzt waren: wie vernichtend mußte der Schlag sein, der die Liebenden jetzt traf! Alfreds Alter, seine Jugendkraft, seine Verhältnisse, waren lauter Merkmale, die man damals bedurfte, um von Napoleons grausamer Conscription requirirt zu werden. Ein Abschied, und Alfred war auf dem Wege zum Rhein, um unter den siegreichen Fahnen seines Kaisers die deutschen Völker zu unterjochen. Welche Kugel konnte nicht längst seinem Leben ein Ende gemacht haben!

* *

*

Endlich brach der ersehnte Tag an, da der vortrefflich ausgerüstete Kutter vom Stapel gelassen werden sollte.

Es war noch früher Morgen; nur einzelne Strahlen der aufgehenden Sonne gleiteten zuweilen über die majestätische Meeresfläche hin, ohne sie zu berühren, und Helene, jetzt von Allem unter-28richtet, stand auf der Terrasse, die rings mit den duftendsten Blumen besetzt war.

Der Vater war schon vor Tagesanbruch in den Hafen gegangen, um seine letzten Befehle, und dem Schiffe einen Namen zu geben, auf den er sich während der schlaflosen Nacht besonnen hatte. Es mußte ihm unter der Mannschaft und den Leuten, die gaffend im Hafen standen, nicht behagt haben, denn er kehrte schon wieder zurück und trat in der ungewöhnlichsten Aufregung, alle Morgenbegrüßungsceremonien heute abweisend, auf die Terrasse.

„Liebes Kind,“ sagte er, „Du wirst Dich erkälten, es ist noch kühl. Aber mir ist sehr heiß, Helene; ich strenge mich zu viel an; wer wird mir es danken?“

Helene wischte ihm den Schweiß von der Stirne und wollte einiges bemerken; aber Bernard hörte auf nichts und fuhr fort: „Die verdammten Taufceremonien! Es ist eine Lästerung auf Gott und alle Heiligen, daß man mit den Schiffen Wiegenfeste feiert. Helene, heißt es nicht das Schicksal herausfordern, wenn man diesen Fahrzeugen bestimmte Namen giebt, und sie sogar aus dem Ka-29lender nimmt? Was hat es mich für Mühe gekostet, diesem Kutter einen Namen zu geben! Ich wollte ihn erst nach Deiner Mutter la Marguerite nennen, aber ich erschrak darüber, denn die Selige würde diese Ausrüstung nie gelitten haben. Ich wollte ihn Helene nennen, aber ich schämte mich, Deinen Namen, liebes Kind, mit so abscheulichen Leuten, wie Malpart um sich versammelt hat, in Verbindung zu bringen. Dieser Spitzbube selbst sagte, ich solle das Fahrzeug Argus nennen; aber würde mir nicht Jeder diesen hundertäugigen Namen als die Frucht meiner Habsucht und meines Eigennutzes auslegen? Nein, ich will nur dem Vaterlande dienen, ich will für die Nation wachsam sein, und habe deshalb endlich ein zweifach passendes Symbol gewählt. Liebe Tochter, sprich nur selten von diesem Schiff, aber wenn Du es erwähnst, so beliebe es mit dem Namen: der Hahn, zu bezeichnen.“

Bernard lachte doch im Stillen über diesen Namen; er war recht artig gewählt, patriotisch und symbolisch.

Es klopfte an der Thüre, die auf die Terrasse führte. Die alte Marthe war es, die ihren Schwe-30stersohn Jaques an der Hand, hereintrat. Sie war die älteste Dienerin des Hauses, und je weniger sie dennoch mit Bernard sprach, desto auffallender war es, daß sie heute im gewähltesten Anzug vor ihren Herrn trat, und mit vielen Verbeugungen andeutete, daß sie ein dringendes Anliegen habe. „Ach Gott,“ sagte sie, mit der Thür ins Haus fallend, und auf Jaques, einen jungen Burschen, der verlegen an seinem Hute drehte, zeigend, „er läßt mir gar keine Ruhe!“

„Was willst Du, Jaques?“ fragte Helene, die Marthens Schwestersohn wohl kannte, „sprich nur frei heraus!“

Marthe hatte aber das Wort und Jaques war zu schüchtern. „Und sein seliger Vater ist es ja auch so viele Jahre gewesen,“ fuhr die Alte fort, „und wenn auch meine Schwester nicht immer die besten Tage bei ihm gehabt hat, so sagte sie doch oft zu mir –“ –

„Marthe!“ rief jetzt der unwillige Bernard, der kein Auge von seinem Hahn verwandte, „wir sind mit ernsten Angelegenheiten beschäftigt, wir haben wichtige Dinge zu besorgen, ja, Marthe, wir müssen keine Umschweife machen. Was giebt’s?“

31 Es half aber Nichts, Helene mußte sich ins Mittel werfen und das Anliegen der beiden Leute erst in vernünftige Worte bringen. Da kam denn heraus, daß Jaques auf das prächtige Kriegsschiff seines alten Gönners habe gehen wollen, daß Mar­the zwar die Hände gerungen, und ihre selige Schwester und deren Mann angerufen, dem Jungen andere Gedanken einzuflößen, daß er aber an den Strand gelaufen sei, um sich von Malpart mitnehmen zu lassen. Er habe sich zwar auf die Bekanntschaft des Kaufmanns berufen, aber der Kapitain habe ihn mit Drohungen zurückgeschickt und nicht aufnehmen wollen. Jetzt komme er nun zu dem Herrn des Schiffes, der allein darüber zu gebieten habe, und bitte um die Erlaubniß, die Malpart verweigert.

„Das ist vernünftig, Marthe,“ sagte der über diesen Vorfall erstaunte Kaufmann, und wiederholte die Worte: „der allein darüber zu gebieten hat.“ „Ich bin des Schiffes Eigner und ich kann es mit Menschen bevölkern, die mir angenehm sind. Jaques, Du bist ein braver Junge, Du wirst auf das Schiff kommen, so wahr ich fünftausend Franken für das Privilegium bezahlt habe.“

32 Damit riß er ein Zettelchen aus seinem Portefeuille und schrieb mit Bleistift einige Worte darauf. Helene nahm das Papier und gab es Jaques, der sich mit linkischer Freude bedankte.

„Du solltest mir lieber im Hause bleiben,“ sagte sie, „und uns die Hühner füttern und die Tauben rupfen helfen. Vergiß nicht, fleißig zu beten, und sage, wenn man Dich prügeln will, ich hätte es verboten.“

Sie gab ihm den Inhalt ihrer Börse, Marthe nahm ihren Schwestersohn bei der Hand und entfernte sich mit ihm unter unaufhörlichen Verbeugungen. Die alte Frau wußte nicht, ob sie sich über den Erfolg ihrer Bitte mehr freuen oder mehr betrüben sollte.

Die Hafenglocke rückte jetzt auf sieben Uhr an. Der Hahn stand ungeduldig auf Walzen, die zurückgenommen werden mußten, sollte er seinen Fuß in das blaue Naß tauchen. Jetzt donnerte die eine Seite von sechs Kanonenschlägen, jetzt die andere von eben so vielen, eine Rakete stieg in die Luft, im Nu waren die Seile abgehauen, die Walzen weggezogen, und der stolze Segler fuhr mit blähendem Krummschweif auf die überraschte Fläche.

33 Im Hafen erscholl ein lauter Jubel, und doch hörte man bis auf die Terrasse den pfeifenden Ton, wie das Schiff durch die Wellen flog.

Bernard verfolgte es bis auf den letzten, unscheinbaren Punct, eine Thräne trat ihm ins Auge, er ergriff Helenens Hand und sagte: „Man setzt Alles aufs Spiel, wenn man die Bewachung seiner Ehre einem fremden Eifer anvertraut. Ich bitte Dich, mir heute nur leichte, verdauliche Speisen auf den Tisch zu bringen.“

Helene wußte ihres Vaters Empfindungen durch Schweigen zu ehren, sie begleitete ihn in sein Comtoir und übertrug Mar­then, die leiblichen Wünsche ihres Vaters zu befriedigen. Dieser schrillende Ton des davonsegelnden Schiffes hatte ihr wie höhnisches Gelächter geklungen; sie liebte ihren Vater, und ahnte, daß man ihm einen Streich spielen wollte.

* *

*

Beflügeltes Schiff, deinem pfeilschnellen Fluge folgt jetzt in bescheidener Ferne die Muse! Noch gewöhnt an deines Herrn blanke und sorgfältig geordnete Umgebung, an seine gemäßigten, auf der 34 Wagschale einer steten Ueberlegung gewogenen Worte, und noch ergriffen von den Wünschen, mit denen er dich in die Arme Amphitrite’s legte, erschrecken wir vor der schnellen Veränderung, die deine reine Jungfräulichkeit in noch höherem Maße bedrohen zu wollen scheint. Alle die Oerter, die noch kurz zuvor von Herrn Bernard mit dem Weihwasser seiner bescheidenen und frommen Wünsche gesegnet waren, wiederhallten jetzt von unsaubern Liedern, heillosen Flüchen und von den Verwünschungen der Müssigen, die, noch ehe der Hahn um das Cap de la Hêve gesegelt war, sich zum Spiele gesetzt und eine Parthie verloren hatten. Die schmutzigen Scenen aus den Hafenboutiken waren hierher versetzt, diese Menschen waren alle dieselben geblieben, und hatten nur eine neue Eigenschaft angenommen, die Hoffnung, bald eine ansehnliche Beute zu machen.

Malpart hatte für diese Unordnung noch kein Auge. Theils sah er ein, daß die Bemannung seines Schiffes mehr als vollzählig war, und daß man ihr Freiheit gewähren müsse, um sich ihres Muthes zu versichern, theils knüpften sich bei ihm an diese nach manchen Jahren zum ersten Male 35 wieder begonnene Fahrt so viel Erinnerungen, daß er sich diesem Genuß erst hingeben mußte, ehe er an die Strenge der Disciplin dachte.

Er stand auf dem Verdeck in einem blauen, weiten Hemde, um die Hüften einen ledernen Gurt tragend, der mit Pistolen und einem scharfen Beile besteckt war. Ein breitkrämpiger Strohhut beschattete sein gebräuntes Antlitz, in dem sich die Freude, jetzt wieder in seinem Elemente zu sein, unverkennbar abspiegelte. Er schlug einem untersetzten, gegen seine lange Gestalt abstechenden Manne, der ihm auf dem Verdeck entgegentrat, auf die Schulter, und sagte mit besonders freundlicher Miene, die eine Reihe der trefflichst erhaltenen Zähne sehen ließ: „Freund, die hohe See hat doch einen andern Geruch, als das seichte, verunreinigte Hafenwasser, in dem die Weiber ihre Hemden waschen.“

Der Lieutenant Catineau nickte holdselig und schlug sich Feuer zu einer Pfeife an, die zu Malparts Bedürfnissen nicht gehörte. Stahl und Schwamm einsteckend und den trockenen Tabak anrauchend, entgegnete der dicke Bretagner: „Das Ding mit dem Meere ist, bei Gott! sehr wunderbar. Da hab’ ich mir bei der alten Susanne in 36 dem vermoderten Loche, wo ich gern für das Maaß deshalb einen Sous mehr gab, zu meinem Vergnügen täglich die Zeitungen vorlesen lassen. Rechne ich diesen zufolge all den Thee, den Rum, den Zucker zusammen, den der Kaiser hatte ins Meer schütten lassen, so müßte es längst zu Punsch geworden sein, und zähle ich all die Pulverfässer und die Tausende von englischen Seekälbern, die unsere Zeitungen in den Grund gebohrt haben, so sollte das ein Geruch sein, der sich verspüren ließe. Gevatter, empfindet Ihr etwas?“

Catineau lachte selbst über seinen Witz, so daß es Malpart nicht zu thun brauchte.

Malpart entgegnete: „Ihr habt ein vortreffliches Gedächtniß, Lieutenant! Jetzt fällt es mir auch ein, daß ich Eurem achten oder zehnten Buben meinen Vornamen gegeben habe. Aber wie kommt Ihr heute auf den Gevatter, den Ihr vier Jahre lang vergessen habt?“

„Was soll ich sagen, Kapitain!“ antwortete Catineau, „Ihr kennt meine Schwächen noch nicht. Ich kann, Gott verdamme mich! niemals die See befahren, ohne Herzweh zu bekommen. Ich habe verteufelten Muth, ich packe einen englischen See-37drachen mit den Zähnen an, aber beim heiligen Sebastian, der auf dem Meere immer mein Schutzpatron ist, das Schiff ist mir zuweilen zu klein, ich muß heraus, es prickelt mich, es –“

„Ja, nun, was?“

„Ich vergesse es auf dem Wasser nie, daß ich von meiner Frau noch nicht geschieden bin, daß ich mit einem schwarzen Teufel in meinen jungen Jahren Kinder gezeugt, von denen sich ein’s auf Euch, Kapitain, als Pathen berufen kann, und daß mich die Hexe schon tausendmal in die Hölle gewünscht haben mag. Aber Ihr wißt, Gevatter, ob ich in Havre Zeit habe, an Martinique und meine Mulatten zu denken.“

Der abergläubische Bretagner hörte noch nicht auf, sein Gewissen wegen seiner in einem andern Welttheile verlassenen Familie zu beschwichtigen. Er wünschte die Meinung des Kapitains zu hören, ob ihm die Verwünschungen seines schwarzen Weibes, die ihn auf dem festen Lande in keine Furcht setzten, auf der offnen See schaden könnten, wenn er ihn wieder Gevatter nenne und zuweilen an sie denke? Doch war Malpart jetzt schon mit einer andern Scene beschäftigt.

38 Im untern Schiffsraume hatte der Lärm immer zugenommen. Das Spiel führte zu Uneinigkeiten. Die Streitenden zogen die Andern in ihre Sache hinein, und es war jetzt zu Thätlichkeiten gekommen. Man stürmte auf das Verdeck hinauf, sich mit Waffen und Verwünschungen verfolgend.

Malpart trat wüthend den Andrängenden entgegen, gebot mit fürchterlicher Stimme Ruhe und zog die Urheber dieser Störungen des Schiffsfriedens hervor. „Habe ich Euch,“ schrie er, „aus Euern schmutzigen Spelunken getrieben, damit Ihr mit Euern giftigen Kehlen diese Räume verpestet? Mußtet Ihr nicht den Koth von Euern Händen waschen, als ich Euch der Ehre würdigte, unter mein Regiment zu treten? Sprecht, was war die Absicht Eurer unfläthigen Worte, oder Ihr könnt im Nu zu der Abwechslung kommen, von den Fischen benagt zu werden!“ –

Von den beiden Unruhestiftern war der eine den Matrosen, der andre den Kanonieren beigeordnet. Sie hatten eine Rangstreitigkeit veranlaßt, die immer heftiger wurde, als sie anfingen an die Vertheilung der Beute verschiedene Ansprüche zu machen. Hier sollte den Kanonieren, dort den Ma-39trosen ein größerer Antheil gebühren. Die Uebrigen hatten Parthei genommen, weil es ihrer eigenen Sache galt, und Malpart sah ein, daß er ein scharfes Beispiel aufstellen müsse, wenn er ähnlichen Excessen vorbeugen wollte.

„Ich werde Euch zeigen,“ sagte er nach einer Pause mit bitterm Lachen, „wornach sich Eure Portionen richten sollen. Wer von Euch Beiden ein kleines Kunststück, das Ihr jetzt produciren sollt, am längsten auszuhalten vermag, kann auf einen besondern Vorzug rechnen. Die Winde in Bereitschaft, Stricke her und ein paar Vierundzwanzigpfünder!“

Die armen Schelme! Es war die grausamste Procedur, die mit ihnen vorgenommen werden sollte; aber die Uebrigen lachten und beklatschten die witzigen Einfälle ihres Kapitains. Es fielen ihnen alle die peinlichen Strafen der Criminalordnung des Seelebens bei, deren schmerzhafte Erfahrung sie in früheren Tagen vielleicht selbst gemacht hatten, und deren Erinnerung nun zwei Andern, die sie selbst nicht waren, auf eine Zeit Höllenpein verursachen sollte. Man setzte die Unglücklichen auf die beiden Enden des Holzes an der Schiffswinde, 40 band sie fest, hing ihnen die schweren Kugeln an die Füße, gab der Winde eine kreisende Bewegung, und ließ die beiden Hadersüchtigen einen Spazierritt machen, der um einen halben Fuß ihre Beine ausreckte. Als man sie abnahm, konnten sie nicht aufrecht stehen und mußten in den innern Schiffsraum getragen werden.

„Junge, wirst Du auch Deine Hoffnungen auf die Beute so hoch spannen?“ fragte Malpart nach dieser Execution der alten Marthe Schwestersohn, der mit Schrecken diesem Schauspiele beigewohnt hatte. Dieser antwortete nichts, lief in die Küche, wo er angestellt war, und dachte bei sich, daß er sich ja auf Helenen berufen könne, wenn man einmal Lust hätte, seiner Länge auf diesem Wege eine halbe Elle zuzusetzen, oder ihn sonst grausam zu bestrafen.

Der gute Jaques! Er hatte sich noch nicht auf Herrn Bernard berufen; hätte er es aber gethan, wie würde man ihn ausgelacht haben!

Bei einbrechender Nacht gab Malpart den Befehl, das Schiff links zu wenden und nach der Richtung von Ostsüdost zu steuern. Er mußte sich nicht zu weit in den Kanal wagen wollen, son-41dern schien das Ufer des Calvados zu suchen, obschon dies eine wegen der berüchtigten Klippen in dieser Gegend schwierige Fahrt war.

Mitternacht kam heran. Es war auf dem Schiffe ruhiger geworden; nur die ausgestellten Posten bewiesen, daß der Kutter seinen wachsamen Namen nicht mit Unrecht führte.

Allmählig aber scholl ein Flüstern durch diese Stille hin, und man hörte, daß sich der im Mastkorbe wachende Matrose mit den unten Befindlichen in Correspondenz setzte.

„Ein ferner weißer Punct.“ –

„Das Leuchten des Meeres.“ –

„Versteht sich, es ist nichts; und doch – es bewegt sich.“ –

„Dummheit! wir bewegen uns, und was Du siehst, kann also nicht stille stehen.“ –

„Das ist wahr, als ich einmal in einem verschlossenen Wagen von Havre nach Harfleur fuhr –. Aber, straf mich Gott! es wird größer.“ –

„Ja, ja, ich seh’s nun auch.“ –

„Es ist ein Segel und etwas Blaues.“ –

„Das ist die Lunte über den Kanonen.“ –

42 Ein Blitz, ein Schuß, ein Gepolter im Takelwerk, wie von einer durchfahrenden Kugel.

Jetzt wurde es auf dem Hahn lebendig, man griff zu den Waffen, Malpart sprang aus der Kajüte, kommandirte und sah zu gleicher Zeit durch ein Nachtteleskop.

Es war nicht mehr nöthig, eine Goelette stand auf einige tausend Schritte in der Nähe.

„Wer seid Ihr?“ tönte es jetzt durch ein Sprachrohr vom andern Schiffe; „steckt Eure Flagge auf, setzt ein Boot aus und schickt Eure Pässe!“

Malpart fluchte, daß es ein Franzose war, der durch das Rohr sprach; es war ein französisches Kriegsschiff, hier zur Bewachung der Küste postirt. „Die Jolle heraus, Catineau!“ rief er, „wo steckt der meineidige Wanst, der seine Frau und zehn Kinder betrogen hat?“

Catineau kam eben aus der Hängematte, er rieb sich die Augen und sagte gähnend: „Heilige Jungfrau, ich habe von ihr geträumt, das heißt nicht von der Jungfrau, sondern –“

– „Ersticke in Deinem Geschwätz!“ rief Malpart, denn das Sprachrohr tönte von Neuem und 43 die blauen Flammen zuckten auf der Goelette, um die erste Begrüßung zu wiederholen. Aber schon stand Catineau mit einigen Leuten in der hinuntergelassenen Jolle.

Nach einer Viertelstunde kam er zurück. Man hatte ihn scharf examinirt, seinen Kaperbrief sehr genau durchsucht, und der Kommandant der Goelette sollte gesagt haben: „Bernard ein Kaper? Wie kommt der gute Mann, den ich gar wohl kenne, auf ein solches Handwerk?“ –

„Das Verwundern steht ihm frei,“ sagte Malpart lachend, strich dem jetzt erst wieder munter gewordenen Catineau die Backen und ließ die Jolle heraufziehen.

Der Hahn drückte noch eine Stunde lang die Augen zu und überließ sich ungehindert den schaukelnden Wellen.

___________

„Kapitain, was fällt Euch ein? Hat je in den Gewässern des Kanals die französische Flagge stolzer geweht, als auf jenem Segler, der nur in Dieppe oder Boulogne gebaut sein kann?“

Malpart hatte dafür kein Auge. Mit Tages-44anbruch hatte sich der Hahn wieder vom Ufer abgewandt und gegen Mittag ein Fahrzeug bemerkt, das jetzt in einer geringen Entfernung als französischer Kauffahrer ansichtig wurde. Wenn es der Delphin des Herrn Bernard selbst gewesen wäre, so hätte ihn sein treuloser Kapitain angegriffen.

Alles war zu einem hartnäckigen Kampfe in Bereitschaft gesetzt; die Mannschaft war theils unter Gewehr, theils an die Geschütze vertheilt, die Enterhaken waren bereit, alle Hindernisse in dem Raume aus dem Wege geräumt und die Munition an sichere Stellen untergebracht, ja ein weites Gewebe von Stricken, die ihnen besser um den Hals gehört hätten, wurde über die Kampfbereiten ausgespannt, um sie vor den Flintenkugeln zu sichern.

Der Kauffahrer drückte durch das Sprachrohr seine Verwunderung aus, daß eine Flagge die andere angreife, er sei von Dieppe und segle mit Fabrikaten nach der Bai von Biscaya.

„Feuer!“ war Malparts einzige Antwort, und die lange Kanone spie eine Kugel aus, die jedoch das angegriffene Schiff nicht zu erreichen schien.

Dieses zeigte keine Lust, sich mit dem im vollsten kriegerischen Zeuge befindlichen Kutter in einen 45 Kampf einzulassen. Es setzte alle Segel auf, und suchte sein Heil in der Flucht.

Aber auch der Hahn entfaltete jetzt die Federn seines Krummschweifes, und kam dem Kauffahrer bald wieder so nahe, daß dieser wider Willen zum Kampfe gezwungen war. Noch einmal suchte er durch einige Manövers sich ihm zu entziehen; er strich das Steuerruder nach dem Backbord, in der Absicht, über den Spiegel des Hahns wegzugehen. Er hätte dann eine volle Ladung (und man sah, daß er so viele Kanonen führte, als der Hahn), auf die ganze Länge seines Angreifers gegeben, die Verwirrung vielleicht benutzt, und sich der unangenehmen Möglichkeit, zuletzt dennoch in den Grund gebohrt zu werden, entzogen.

Aber Malpart besaß Augen, und vortreffliche, und Kenntnisse, die ihm in besserer Lage Ehre gemacht hätten. Er kommandirte kaltblütig: „Aufluven!“ und als dies dicht am Winde geschehen war und die eine Batterieseite eine volle Ladung gegeben hatte, daß an dem Kauffahrer die Splitter krachten, von Neuem: „Jetzt quer vorbei an seinem Spiegel!“ und dies Manöver gelang so vortrefflich, daß der Hahn nur von den Kanonen in 46 der Konstablerkammer bestrichen, und einem schwach unterhaltenen Gewehrfeuer ausgesetzt wurde. Die Flagge des fremden Schiffes war abgeschossen, die Taue, die das Vormarssegel hielten, waren untauglich gemacht, und jeder Versuch, sie wieder zusammen zu flechten, mißlang. Jetzt rief der siegestrunkene Malpart: „Die Steuerruder beigestrichen! Bord an Bord! Hieher mit den Enterhaken!“ Er selbst war der Erste auf dem bedrängten Schiffe, Catineau der zweite, und seine raubgierige, aber tapfere Mannschaft folgte ihm, in wildem Anlauf.

Auf dem Halbverdeck kam es zu einem mörderischen Gefechte mit der kleinen Besatzung des Kauffahrers, die sich auf das Aeußerste vertheidigen wollte. Die Räuber waren auch der Zahl nach im Vortheil, die Angegriffenen bestanden kaum aus vierzehn Köpfen, von denen viele schon durch den ersten Kampf untüchtig gemacht waren. Malpart wirft sich mit wahnsinniger Mordbegier unter dies kleine Häuflein, im Nu hat er dem fremden Kapitain den Kopf gespalten, sein blutiger Säbel metzelt unter den Bedrängten, deren tapfere Gegenwehr der Uebermacht weichen mußte. Ein kleiner Rest zog sich die Schiffstreppe hinunter, und unterhielt von un-47ten ein wirksames Pistolenfeuer; aber Malpart achtete den Verlust einiger von seinen Leuten wenig, die Treppe wurde genommen, die jetzt ohne allen Ausweg Gelassenen theils niedergemacht, theils ergriffen, und das Schiff war in der Gewalt des triumphirenden Kapitains.

Diese Scene klärt uns über die Bestimmung auf, die Bernards jungfräulichem Kutter von dem eigenmächtigen, grausamen Malpart gegeben war. Wie konnte auch der gute Kaufmann von Havre glauben, daß sich der Kapitain unter seine Befehle stellen würde? daß er einen Lohn annehmen sollte für gemachte Beute, die er auf kürzerem Wege unter seine Gewalt brachte? daß er sich von armseligen Advocaten und heruntergekommenen Kaufleuten über die Rechtmäßigkeit seiner Prisen Zeugnisse ausstellen lassen würde? Sein Plan war gefaßt, als er Bernard zum ersten Male auf der Terrasse besuchte: es mochte ihm Ueber­windung gekostet haben, durch einen Betrug in den Besitz dieses Schiffes zu kommen, aber seine Lage versetzte ihn in die Noth­wendigkeit, seine Gewaltthätigkeit mit der List zu paaren.

„Und warum soll ich mich auf die Engländer 48 beschränken?“ fragte er sich selbst, „das Hemd ist mir näher als der Rock. Ich habe keiner Nation den Krieg erklärt, sie sind alle meine Freunde, und sie werden sich bemühen, mich mit ihren Geschenken zu erfreuen. Ich habe die ganze Küste entlang meine Vedetten ausgestellt, ich habe eigene Handelswege entdeckt, und will ein Continentalsystem auf die Beine bringen, das viel zu bescheiden ist, um öffentlich hervorzutreten. Im Stillen und Verborgenen will ich wirken und die französische Industrie dadurch auf eine Höhe bringen, für die sie mir vielleicht danken wird. Meine Handelsfreunde speculiren aber auf Alles. Sie wollen nicht blos englische und ostindische Seidenzeuge, sondern auch französische, die sie patriotischer Weise für besser halten. Sie finden, daß zwar der Zucker aus den englischen Kolonien besonders fest und rein ist, daß er aber mit dem aus den französischen Pflanzungen nicht die entfernteste Vergleichung aushält. Es ist Menschenpflicht und empfiehlt außerdem im Geschäfte, seinen Freunden nicht nur das Gute, sondern auch das Bessere zuzuführen.“

Man sieht, daß Bernards Kaperbrief zum Schutz 49 eines abscheulichen Seeraubes und eines gesetzwidrigen Schleichhandels dienen mußte.

Nachdem die von der Besatzung des eroberten Schiffes übrig gebliebenen sechs Gefangenen, in strengen Gewahrsam gebracht, und die Gefallenen oder unheilbar Verwundeten ins Meer geworfen waren, nahm Malpart den Inhalt des Schiffes in Augenschein.

Es war sehr schwer geladen mit französischen Fabrikaten, die für Spanien bestimmt waren, um den durch Napoleons Usurpa­tion für jenes Land geöffneten Handelsweg zu benutzen. Der Gewinn entsprach jedoch nicht den Erwartungen Malparts, da ein großer Theil dieser Ladung aus Militaireffecten bestand, deren seine sanscülottische Mannschaft nicht bedurfte, und für welche der Absatz mit großen Schwierigkeiten verknüpft war.

Doch gab er sich zufrieden, als der Rapport über seinen eigenen Verlust sehr günstig ausfiel. Es hatte mehr Todte als Verwundete gegeben, was ihm nur willkommen war, da den Letztern in Ermangelung eines Wundarztes nichts übrig blieb, als 50 entweder aus eigner Haut wieder zu genesen, oder zu sterben.

Die Krallen des Hahns, die Enterhaken, saßen so fest in dem eroberten Schiffe, daß beide Fahrzeuge dicht und ohne Zwischenraum an einander hingen. Das Takel- und Segelwerk des Kauffahrers wurde in der Eile wieder hergerichtet, das geronnene Blut auf dem Verdeck und der Treppe zur Noth abgewischt und mit feuchtem Sand bestreut, und der Hahn endlich von seinem überwundenen Gegner gelöst. Malpart gab Befehl, dem Ufer zuzusteuern, und ein günstiger Nordostwind blies in die schwellenden Segel.

Bald sah man aber, daß die Beute dem raschen Fluge ihres Besitzers nicht folgen konnte, man mußte die Segel des Hahns zum Theil einreffen, und erst jetzt hielt dieser mit dem Kauffahrer einen gleichen Schritt.

Je näher man der Küste kam, desto vorsichtiger die Fahrt. Malpart verwandte nur dann ein Auge von seinem Fernrohr, wenn er die Bewegungen des Steuers beobachten wollte. Es galt hier eine doppelte Gefahr zu vermeiden, denn entweder drohte die Inspection eines französischen Wachtschif-51fes, oder gefahrvolle Stellen, die in der Nähe der Calvadosfelsen immer häufiger wurden.

Als die Nacht hereingebrochen und man dicht an diesen Klippen war, stellte sich Malpart selbst an das Steuerruder und lenkte es mit bewundernswürdiger Gewandtheit, die von seiner Erfahrung und Kenntniß des Terrains zeugte. Es mußte der Mannschaft des eroberten Schiffes überlassen bleiben, alle Bewegungen seines Vorgängers nachzumachen, was durch die eingetretene Dunkelheit sehr erschwert wurde. Endlich hatte man den letzten dieser gefährlichen Felsen umschifft, und die Fahrzeuge wandten sich jetzt im ungehinderten Zuge der steilen unbewohnten Küste des Calvados zu.

Es war schon weit über Mitternacht, als sie endlich einen kleinen, geräumigen, von der Natur gebildeten Hafen erreichten, vor Anker gingen und ihre Mannschaft bis auf die nothwendigen Posten einigen Barken übergaben, die sie durch eine weniger reißende Brandung, als die Wellen an andern Stellen zeigten, ans Ufer setzten.

Noch schienen die Gefährten Malparts nicht alle mit dieser wilden, vom Sternenschimmer nur schwach 52 erleuchteten Gegend vertraut zu sein. Nur Einige gingen mit ihm voran, unter ihnen Catineau.

„Kapitain,“ sagte der Bretagner, „das Treten auf festem Boden macht den Menschen wieder zu einer ganz andern Creatur. Ich würde auch meine Gedanken an St. Pierre und die schwarzen Früchte meiner schwachen Stunden unfehlbar auf dem Schiffe gelassen haben, wenn wir nur ein wenig Beleuchtung für diese mulattenfarbige Finsterniß hätten. Um Licht zu erhalten, Kapitain, ist, glaub’ ich, das beste Mittel, welches anzumachen.“

Malpart sagte kurz: „Noch nicht!“ und pfiff auf einem Rohre, als hätte er einen Vogel locken wollen.

Alles still.

„Verdammt!“ rief der Kapitain, nachdem er den Ton wiederholt, und Nichts geantwortet hatte; „will man mich äffen! Eine Fackel angezündet!“

Catineau war schnell bei der Hand, und ein Kienspan loderte hell auf.

Malpart sah sich nach allen Seiten um und stieg weiter; die Uebrigen folgten ihm; er schien den Weg sehr gut zu kennen. Jetzt stand man vor zwei Felsen, die die Natur zu einer Pforte geformt hatte. 53 Malpart pfiff noch einmal in diesen Eingang: keine Antwort. Er trat fluchend hinein, und man sah einen geräumigen Thalkessel, der mit Hütten, Zelten und Waarenschuppen bebaut war.

„Sie müssen hier sein,“ brummte Malpart; „wo sollten diese Zurüstungen herkommen? Hat man die getroffene Verabredung nur halb erfüllt?“

Als die ganze Mannschaft in diesen Raum getreten war, fielen plötzlich am jenseitigen Ende der Thalhöhlung einige schwache Lichtstreifen in das Dunkel, sie wurden heller, man hörte Stimmen, einen Anruf, und mehrere bewaffnete Männer traten den Kommenden entgegen. Man wechselte Erkennungszeichen, sie trafen zusammen und Malpart erlaubte jetzt seinen Leuten, hier eine kurze Zeit zu rasten.

Diese Begegnung mit den Schleichhändlern war längst verabredet. Hier war der Ort, wohin Malpart seine Prisen bringen wollte. Von hier aus ließen sich die erbeuteten Waaren vortrefflich auf die Landstraßen schaffen, auf denen ihm der Gewinn wieder zurückfloß, den er mit den Gefährten seiner Siege theilen wollte.

Malparts Glück war so groß als seine Kühn-54heit. Er machte sich an die verzweifeltsten Unternehmungen und sie schlugen ihm nicht fehl. Seine Ueberlegenheit nahm mit der Gewandtheit zu, die sich seine Mannschaft in zahlreichen Angriffen erwarb, und ebenso mit dem Selbstvertrauen, das die sie krönenden Erfolge ihr einflößten. Die gute Ausrüstung beflügelte die Schnelligkeit des Hahns, wenn er vor einem englischen Kriegsschiffe floh, Bernards Kaperbrief schützte ihn vor den Visitationen französischer Seits, und der abgelegene unzugängliche Hafen entzog ihn vollends jedem Verfolger, der die Kenntniß der Gegend nicht voraus hatte.

Jaques nahm gezwungen an allen diesen Verletzungen des Rechts, des Eigenthums und der gegebenen Vollmacht Theil. Seine Jugend schützte ihn noch vor dem Tragen der Waffen, und seiner Unerfahrenheit ließ sich bei der Bedienung des Schiffes nichts Wichtiges anvertrauen. Er hatte vielfach den Versuch gemacht, aus dieser ehrlosen Gemeinschaft zu entfliehen; aber theils die Unkenntniß der Umgebungen des Landungsplatzes, theils die Menge der ringsherum ausgestellten Posten, und die Erinnerung an mehrere mißglückte und scharf 55 geahndete Versuche des Entkommens schreckten ihn ab, dieses einzige Mittel seiner Befreiung aus einem so abscheulichen Verhältnisse von Neuem zu versuchen. Es blieb ihm nichts übrig, als in seinem bescheidenen und unblutigen Wirkungskreise, in der Schiffsküche, zu verharren, und sein Heil von der Zukunft zu erwarten, die ihm entweder Befreiung und Anerkenntniß seiner Unschuld, oder einen unverdienten Strick brachte.

Der Schiffskoch, Meister Tidetail, ließ sich ertragen, wenn er einigen Hühnern oder Tauben die Hälse umgedreht hatte. Dann sprach er mit seinem Attaché in besonders freundlichem Tone, und nannte ihn, den er sonst nur Schelm, Spitzbube, Hungerleider, Landratte hieß, auch wohl einmal: mein lieber Junge!

Ein solcher Augenblick war jetzt erschienen. Die beiden Hülfsquellen für den immer hungrigen Magen des Hahns, saßen in der Küche beisammen und ließen sich in ihren Geschäften durch nichts stören, nicht einmal dadurch, daß der Hahn so eben in ein Gefecht gerathen war, und man über und neben ihnen, Kanonen und Flinten abfeuerte.

„Nicht säumig, mein Sohn,“ sagte Meister 56 Tidetail zu Jaques, der sich damit beschäftigte, einem Huhn die Federn auszurupfen, „das Diner richten wir doch nicht umsonst an. Hackt der Hahn, unser Freund und Ernährer, jenem Seedrachen, der, wie ich höre, keine schlechten Kanonen im Raum hat, die Augen und die Seele aus, so werden wir vielleicht einige Verdauungswerkzeuge weniger zu befriedigen haben, weil es uns an Abgang nicht fehlen wird, aber die glorreichen Helden werden dafür desto mehr bedürfen. Behalten die Rothröcke oder gar die Blauröcke, unsre guten Freunde und Landsleute, die Oberhand, so werden sie mein Essen auch nicht stehen lassen. Dafür habe ich die Kochkunst nach Grundsätzen studirt.“

Ein donnernder Schlag fiel zu Häupten des Speisemeisters nieder, eine Kanonenkugel mußte bis in das zweite Verdeck gefahren sein.

„Man will unsern Heerd mit Feuer versehen,“ fuhr der Gastronom fort, „als fürchtete man, nur kalte Speisen auf dem Hahn zu finden. Nein, meine Herrn Engländer oder Franzosen, gleichviel, wir werden auch heute unsere vier Gänge zu Stande bringen. Aber wie ist’s? es ist heute Dienstag, 57 Seekrebs; soll ich Dich daran erinnern, daß auf Morgen die Linsen verlesen sein müssen?“

Während eines Treffens pflegte Meister Tidetail seine Vorwürfe nicht mit Thätlichkeiten zu begleiten; denn er machte den richtigen Schluß, daß ihm in einem solchen Moment eine Kugel die aufgehobene Hand wegreißen könnte, und er sich dann den Vorwurf machen müßte, sie nicht hübsch am Leib gehalten zu haben.

Jaques war schon auf und in eine an die Küche stoßende Kammer gesprungen, wo die Vorräthe der Lebensmittel aufgespeichert lagen, um den Linsenbedarf in die Küche zu holen.

Inzwischen nahm der Lärm des Gefechts immer mehr zu, das fremde Schiff unterhielt ein schnelles, und wie man aus den einschlagenden Kugeln sah, wirksames Feuer. Meister Tidetail war nicht so kühn, als er sich in seiner Küche das Ansehn gab. „Wenn sie doch enterten!“ rief er einmal über das andere; aber der Geschützdonner war so stark, daß er diesen Ruf selbst nicht vernahm. Er machte Jaques ein Zeichen, er solle sich nach dem Kampfe umsehen, doch weil er wußte, daß sich vor dem 58 Entern Niemand auf dem Verdeck ohne Waffen blicken lassen durfte, rieth er ihm, durch eine bei der Konstabelkammer befindliche Oeffnung zu lauschen.

Jaques besaß für sein Alter viel Unerschrockenheit, und er zögerte keinen Augenblick, den Befehl zu erfüllen. Als er an die bezeichnete Stelle kam, unterschied er deutlich, daß das angegriffene Schiff ebenso aufgelegt zum Entern war, als das angreifende. Die Flagge war an jenem abgeschossen, er wußte also nicht, mit wem es Malpart zu thun hatte; doch sah er, daß er nur mit einem Kauffahrer angebunden. Jetzt lösten die Fremden ihre Haken von den Spieren, auch die Krallen des Hahns streckten sich aus, und die beiden Schiffe fuhren heftig aneinander. Dadurch war Jaques verhindert, mehr zu sehen; er eilte zu Meister Tidetail zurück, den aber das schreckliche Getöse des Handgemenges aus der Küche vertrieben hatte. Er suchte ihn vergebens; denn der alte Gastronom hatte sich in den abgelegensten Schlupfwinkel versteckt.

Jaques horchte, ob sich das Gefecht nähere oder entferne: es entfernte sich. Er wagte sich halb auf das Verdeck, die Gegner waren auf ihr Schiff zu-59rückgedrängt und offenbar im Nachtheil. Aus einzelnen Fetzen der Flagge, die er, weil der Pulverdampf sich verzogen, unterscheiden konnte, entnahm er, daß der Angriff einem hanseatischen Kauffahrer, der unter französischer Flagge segelte, galt.

Jaques trat auf das Verdeck, das er mit Leichen und Verwundeten bedeckt fand. Er sah die geringe Anzahl, bis auf welche die fremde Mannschaft geschmolzen war, sich immer weiter zurückziehen, sah, wie sie sich immer mehr zusammendrängte und von allen Seiten umringt wurde. Nur im Vorgrunde leistete noch ein Verzweifelter den lebhaftesten Widerstand. Er hieb mit beispielloser Gewandtheit um sich, seinen Rücken an dem noch unversehrten Fockmast schützend.

Jaques wurde von diesem Schauspiel mächtig angezogen, es regte sich in ihm der Wunsch, dem Tapfern in dem ungleichen Kampfe beizustehen; doch er hätte ihm damit wenig geholfen.

Aber Himmel! dieser junge Mann war ihm nicht unbekannt! Er strengte sein Auge an, er verwünschte die Säbelklingen, die ihn verhinderten, die Züge des Fremden sicher zu fassen; aber es gelang: es war kein Zweifel mehr! Es konnte Nie-60mand anders sein, als Alfred Dumallet, sein Wohlthäter, der Mündel Bernards, der Freund Helenens. – In diesem Augenblick zuckte ein Säbelhieb und der Unglückliche sank zusammen.

In Entsetzen und Schmerz wurzelte der treue Jaques fest am Boden: er hatte Alfred beispringen wollen, in dem Augenblicke, als er ihn sinken sah. Die Sinne schwindelten ihm, und er mußte sich an einem Pfosten aufrecht halten. Als seine Besinnung wieder zurückkehrte, hatte sich der Kampf auf eine andere Seite gezogen; er sah den Erschlagenen in seinem Blute liegen, und es durchzuckte ihn der Gedanke, ob eine Hülfe nicht noch möglich sei.

Ohne Zögern sprang er über Bord auf das eroberte Schiff, stürzte auf den noch lebenden, aber stark verwundeten Alfred zu, und trug ihn mit aller Anstrengung, deren sein junger Körper fähig war, auf das Schiff seines Vormunds, unbemerkt von den in der Hitze des Kampfes Begriffenen. Er vermied sorgfältig, eine Blutspur zu zeichnen, und ohne noch zu wissen, was er mit ihr beginnen sollte, trug er seine Beute in das Innere des Schiffes.

61 In diesem Momente trat eine plötzliche Veränderung der Scene ein. „Ein Segel! Ein Segel!“ rief man von allen Seiten, und in der That ließ sich in der Ferne ein weißer Punkt sehen, der sich dem Schauplatz merklich zu nähern und gerade auf ihn loszusteuern schien.

Malpart, der wie Achill aus allen Kämpfen unverwundet hervorging, gebot augenblicklich den Rückzug, der in größter Ordnung vollführt wurde.

Einige Kommandos und der Hahn war segelfertig.

„Die Küste leewärts!“

Unter tausend Verwünschungen des gestörten Kapitains suchte das Fahrzeug das Weite zu erhalten. Die Fahrt konnte aber durchaus nicht mit jener vogelschnellen Eile von Statten gehen; denn die Federn des Hahns, seine Segel, waren von der heftigen Gegenwehr des Hanseaten nicht wenig gerupft worden. Man unterschied deutlich, wie das herbeieilende Schiff sich der im Stiche gelassenen Beute nahte und sich dann mit ihr zur gemeinschaftlichen Jagd vereinigte. „Ein schlechter Bundesgenoß!“ sagte Malpart, der den Zustand des Hanseaten 62 kannte, und er hatte Recht, der Kauffahrer mußte bald zurückbleiben.

Als die Nacht herankam, sagte der Kapitain: „Wir haben uns angestrengt, sind müde, und wollen uns dem Schlaf nicht entziehn. Wer nicht Posten zu stehen hat, mag in seine Hängematte kriechen!“

Man sieht, wie wenig er befürchete. Er sah noch einmal durch das Nachtrohr, war sehr beruhigt und ging in seine Kajüte.

Es gab auf dem Schiffe eine Stelle, die nur Jaques betrat, nicht einmal Meister Tidetail, der es unter seiner Würde gehalten hätte, dahin zu gehen, wohin er nur seinen Gehülfen zu schicken brauchte; dieß war die Speisekammer, und hieher hatte er seine theure Last getragen, jetzt beklagend, daß er sie nicht auf dem nun geretteten Schiffe gelassen. Alfred lebte, aber er war dem Tode geweiht; alles ließ das Aeußerste befürchten. Seine Wunden konnten gefährlicher sein, als sie jetzt schienen, er konnte Jaques unter den Händen sterben. Wurde er entdeckt, so traf ihn das Loos, das Malpart allen seinen Gefangenen zu­theilte. Er wurde ausgesetzt, dem Hunger, dem Winde, den Wellen 63 preisgegeben. Erkannte Malpart in ihm wohl gar einen Bekannten aus Havre, so würdigte er ihn des frischesten Stricks und der höchsten Segelstange.

Armer Jaques! Du hast Dein feinstes Hemd, das Dir die Tante gegeben, zerrissen, um die Wunden Deines geliebten Gönners zu verbinden. Er hat Dich erkannt, Dein lieber Herr Alfred, als er die Augen zum ersten Male aufschlug und gelächelt, als er sie wieder vor Schwäche schließen mußte. Du hältst ihn im Arm, und bist doch von ihm nicht gesehen, sondern nur geträumt worden; denn Alfred hält sich für todt, und freut sich der Zusammenkunft, die er an der Pforte des Paradieses mit seinen Lieben hat.

Treuer Jaques, Du hast in seinem seligen Traume einen Ehrenplatz neben Helenen, der jungen Rose, die in diesem Momente zu Hause neben ihrem Papa vielleicht Strümpfe für den Winter strickt, zuweilen eine Thräne um den Geliebten perlend, den sie jetzt in das Paradies versetzt glaubt.

Und diesen schönen Traum schläft Alfred auf den Reis- und Linsensäcken der Speisekammer, in den Armen Jaques, der ihn rettete und nicht wußte, 64 daß er ihn aus der Hand des Lebens in die des Todes gab.

Es war still auf dem Schiffe, nur Tidetail schnarchte in der Küche, als wollte er die Zwischenwand durchsägen, und zwei Wachtposten unterhielten sich draußen von der heutigen Affaire.

„Werden sie doch wenigstens zu thun haben, daß sie ihren Wallfisch von dem rothschwarzen Ausschlag wieder rein scheuern,“ sagte der Eine.

„Nimm mir’s nicht übel,“ fiel der Andre ein, „es müssen doch abgedankte Soldaten darunter gewesen sein; sie fochten etwa um die Hälfte so gut als wir; will das nicht viel sagen?“ –

„Wenigstens,“ gestand der Erste zu, „führte der junge Narr am Fockmaste eine solide Klinge. Aber was ich da sage! Wo ist der Mensch geblieben? Ich sah, daß ihn unser Linsenverleser Jaques auf die Schultern lud und ins Schiff trug. Wäre er nicht halb nackt gewesen, ich glaubte, der Hallunke habe ihn geplündert.“

„Still!“ bedeutete der Andere, „was ist das hier hinter der Wand? Wer schläft da? Ich habe hier noch Niemand schlafen hören.“

Jaques sprang erschrocken auf, bedeckte Alfred 65 so gut er konnte, und machte sich scheinbar etwas zu schaffen; denn die beiden Posten schienen eine Untersuchung anstellen zu wollen.

„Was treibst Du noch so spät, Jaques?“ rief die eine der auf ihn zutretenden Wachen.

Der Gefragte, eben das Schloß vor die Kammer legend, faßte sich bald und fuhr heraus: „Nun, wollt Ihr morgen die Lieb-kosungen des Meister Tidetail auf Euch nehmen, wenn ich die Erbsen zu wässern vergessen habe? Wäre es doch über dem heutigen Lärm bald geschehen, wenn ich es nicht eben nachgeholt hätte.“ –

„Schon gut, Jaques,“ hieß es, „aber Du hast heute von dem vermaledeieten Seelöwen, der uns entwischt ist, einen Gefangenen weggetragen. Was ist das?“

Jaques antwortete herzhaft: „Was ficht Euch an? Freilich habe ich ihn weggetragen; aber es ist meine Schuld nicht, wenn Ihr ihn nicht habt ins Meer fallen hören. Soll der Kapitain unnütze Gefangene ernähren? daß ich’s Euch nur im Vertrauen sage, wir verspüren an Reis und Gerste einen empfindlichen Mangel.“ –

„Du bist ein artiger Bursche,“ sagte befriedigt 66 der Eine der Examinatoren. „Das läßt sich hören,“ meinte der Andere, und sie wandten sich um.

Jaques kehrte behutsam an seinen Ort zurück, legte Alfred auf den weichen Säcken so, daß sein Schlaf nicht bemerkbar wurde, und ging nun auf seine Ruhestelle, wo man ihn am Morgen unfehlbar finden mußte, wenn er keinen Verdacht erregen wollte. Er empfahl seinen Schützling der Obhut der Heiligen, und wiegte sich, noch ehe er Amen gesagt hatte, entschlafen in seiner Hängematte.

Noch lange schwebte das Bewußtsein über Alfreds geschlossenem Auge, ohne in seinen Sitz, die Seele, wieder zurückzukehren. Das gleichmäßige Schaukeln des Schiffes erhielt diese in dem dämmernden Zustande, dem sie nach heftigen Katastrophen und unter physischen Eindrücken sich immer gefangen giebt. Jaques benutzte jeden freien oder unbewachten Augenblick, um in die Kammer zu seinem schlummernden Gefangenen zu treten. Er täuschte sich nicht, wenn er nach und nach eine Besserung des belauschten, und von ihm für sehr gefährlich gehaltenen Zustandes bemerken wollte.

Die Mittagszeit war vorüber; Meister Tidetail pflegte dann auf den Lorbeeren seiner heut bewiese-67nen kochkünstlerischen Talente (die bei dem ehemaligen Koch einer reichen Benediktinerabtei in der That nicht mittelmäßig sein durften), in einem erquickenden Schlaf auszuruhen, und Jaques blieb dann seinem eigenen Willen überlassen.

Durch Alfreds Bewußtsein fuhren jetzt allmählig einige Licht­blitze der Erinnerung, er hob sein Auge, und richtete es auf den eintretenden Jaques, der sich schon seit gestern von ihm erkannt geglaubt hatte.

Alfred gehörte zu jenen kräftigen Naturen, die stets ihren Willen oder ihr Gefühl zum Beherrscher ihrer Schwäche machen können. Er richete sich verwundert auf, erstaunte über seine Umgebung und das seltsame Lager, auf dem er sich befand, und fragte Jaques ohne Weiteres, welche Zufälle ihn in diese Lage gebracht hätten.

„Um des Himmels willen, theurer Herr!“ flüsterte dieser, die Hand an den Mund legend, „sprechen Sie leiser! Von einer zu lauten Silbe hängt unser Leben ab. Erkennen Sie mich denn nicht?“

Der gute Jaques mit seinem starken Gedächtnisse! Alfred wußte sich seiner, der er als Kind 68 zurückgelassen hatte, nicht eher zu erinnern, als bis sich ihm Jaques durch einige abgebrochene Winke, z. B. „die St. Thomasstraße! lieber Herr Alfred, die alte Marthe! – mein Gott, ihr Schwestersohn, für den Sie immer altes Zeug ablegten! – Der Meister Bernard und Helene, der Engel, der verboten hat, mich auf dem Schiffe zu prügeln!“ verständlich gemacht hatte.

Der Name Helenens mußte ihm Alles zurückrufen, was nur je mit ihr in Verbindung gestanden. Wäre Jaques des Mädchens Katze oder ihr Papagei gewesen, jetzt hätte er Alles erkannt und für jedes den rechten Namen gehabt.

Jaques hatte sich den ganzen Morgen auf eine recht kurze, und doch Alles umfassende Auseinandersetzung der Zufälle, die Alfred getroffen hatten, besonnen, und jetzt schien er dies umsonst gethan zu haben; denn Alfred konnte des Fragens nach Havre, Herrn Bernard und der schönen Perle, die diese beiden besaßen, kein Ende finden.

Der Arme war auf der Folter; denn er kannte die Kostbarkeit des Augenblicks; er nickte und deutete mit der Hand und blinzelte mit den Augen; 69 aber Alfred wollte über Alles sichere handfeste, deutliche Worte haben.

Da rief es draußen: „Jaques, soll ich Dir die Ohren abschneiden, daß Du künftig besser hörst!“

Es war Tidetail, der etwas vergessen hatte, und deshalb nicht einschlafen konnte.

Alfred war allein. Die fernen Erinnerungen, die die Erscheinung eines alten Bekannten in ihm erweckt hatten, schwanden vor den nahen, die in voller, kaum verlebter Wirklichkeit vor seine Seele traten. Sie reichten bis zu dem Augenblicke, da er im Kampfe mit Korsaren ermattet, und von einem tödtlichen Streiche getroffen, an dem Mast, wie Cäsar an der Säule des Pompejus, niedergesunken war. Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen? Wo befand er sich? Was stand ihm in dieser Lage bevor?

Die Aussicht in die Zukunft konnte nicht so trübe sein, weil er sie nicht kannte. Er gewöhnte sich wieder an die, welche ihm seine Sehnsucht noch vor einem Tage vorgespiegelt hatte, an die Wonne, mit jedem Windstoße seinem Ziele näher zu rücken, an das selige Wiedersehen Helenens, deren Bild 70 ihm in den unzähligen Stürmen einer kaum geendigten Laufbahn nicht verloren gegangen war. Mit welchen Erfahrungen, mit welchen Berichten über seine Schicksale wollte er ihre Neugier, ihre liebende Theilnahme befriedigen! Wie ihn der Ruf des Kaisers über den Rhein geführt, wie er in seinen Legionen die Preise der Tapferkeit erworben, wie ihm die in Spanien aufgesteckte Kriegsfackel, plötzlich von den Ufern der Elbe über die Pyrenäen geleuchtet, wie er die Mühseligkeit dieses Weges, die Anstrengung des mörderischen Kampfes auf der iberischen Halbinsel ertragen, zuletzt aber einer Wunde unterlegen sei, die ihm die Entlassung bewirkt, und wie er es jetzt dem schnellen Fluge des Apollo, eines hanseatischen, von ihm in Bordeaux bestiegenen Schiffes verdanke, daß er die Geliebte in seine Arme schließen könne – das Alles hatte ungeduldig auf seinen Lippen geschwebt, um von Helenen gehört zu werden, und er vergaß wieder seine räthselhafte Lage, und träumte sich in die Hoffnungen hinein, die er sich einmal gewöhnt hatte, als die nächste, süßeste Gewißheit zu denken.

Da erschien, leise auftretend der besorgte Jaques wieder mit seinen ängstlichen Blicken und Berichten, 71 mit seinen Warnungen und Bedenklichkeiten, und all den Thatsachen und Aufklärungen, die Alfreds Träume zerstören mußten.

Alfred sah ein, daß seines jungen Freundes Schultern noch zu schwach waren, um die ganze Last seiner Rettung und der Verantwortlichkeit derselben auf sich zu laden. Er hätte gewünscht, diese schwierige Angelegenheit, deren glücklicher Erfolg nur sein eigener Nutzen war, auch auf seine eigene Rechnung zu nehmen.

Aber wie konnte er das thun? Es mußte genug sein, daß Alfred das Geheimniß seiner Verborgenheit selbst nicht zu verrathen versprach, daß er durch kein unüberlegtes Wagniß sein eignes und Jaques Verderben herbeiführen, sondern in Geduld abwarten wollte, was der Zufall oder wie sein junger Freund sagte, die gnädige Fügung der Heiligen, ein Wunder, zu ihrer Rettung thun würde. Der Versteck war vor jeder Nachsuchung sicher; dies blieb für den Augenblick ein Anker, fest genug für so schwache Hoffnungen.

Malpart ließ sich durch die jüngste, eine seiner besten Eroberungen störende Dazwischenkunft der Gerechtigkeit, nicht sogleich bewegen, seinen schützen-72den Hafen wieder aufzusuchen, den er nur betrat, wenn er sich vor Stürmen bergen, oder seiner Beute entladen wollte.

Doch waren ihm die folgenden Tage nicht günstig, weil das gute Geschick die begegnenden Schiffe aus den Kreisen zog, die Malpart zum Schauplatz seiner Gewaltthätigkeiten gemacht hatte, oder weil ihm die Nähe der Wachtschiffe zu viel Mißtrauen in den Erfolg seiner Angriffe einflößte. Als daher nach einiger Zeit die See von widrigen Winden bestrichen wurde, die er meiden mußte, wenn er Herr seiner Fahrt bleiben wollte, so wandte er sein Schiff, die Vorzeichen eines nahen Sturmes sehr klug berechnend, der Küste zu, wo er bald die Hafenbucht erreichte, welche er heute zum ersten Male ohne Beute begrüßte.

Alfred hatte zu seiner Rettung einen Plan gefaßt, der unter den vielen, die zu überlegen ihm seine Einsamkeit Muße gab, sich zuletzt zwar als der kühnste, aber auch der sicherste herausstellte.

Es war der sicherste, weil der einzig mögliche.

Wie, wenn er, die Stille der Nacht benutzend, seinen Aufenthalt verlassen, die Wachen des Schiffes vermieden, sich ins Meer gestürzt und das Ufer 73 zu erreichen gesucht hätte? War er nach so heftiger Verwundung stark genug, schwimmend die schäumende Brandung zu besiegen? Würden die Wachen ihre Ohren verstopft haben, daß sie seinen Fall nicht gehört, oder die am Ufer ausgestellten Posten ihre Augen verschlossen haben, daß sie ihn nicht landen gesehen hätten? Dies Unternehmen mußte mißlingen.

Nur der Plan, den Alfred wirklich in Ausführung brachte, schien die Möglichkeit des Entkommens zu einer schwachen Wahrscheinlichkeit zu erheben.

Es war schon später Abend, als vom Hahn aus das in der Bucht unterhaltene Wachtfeuer erblickt wurde. Diese Dunkelheit war die einzige Hülle, unter der Alfreds Wagniß gelingen konnte. Das Schiff hatte seinen gewöhnlichen Ankerplatz erreicht, die mächtigen Eisenhaken wurden in die Tiefe hinabgerollt und das Fahrzeug stand unbeweglich. Ein großes Boot wurde hinabgelassen und die Mannschaft in ihrem zerlumpten Aufzuge, mit gebräunten Gesichtern, und fluchend über die schlechten Erfolge des diesmaligen Ausflugs, versammelte sich an dem Seile, an welchem man in die unten 74 wartende Jolle hinabstieg. Einige Leute blieben zurück, und die übrigen ließen sich nacheinander an diesem Seile hinunter. Das Boot stieß ab, Alfred befand sich auf demselben neben dem zitternden Jaques.

Die Dunkelheit verhinderte jede Erkennung. Das Boot arbeitete sich geschickt durch die Brandung, es legte an einer seichten Stelle an und die Männer sprangen ohne Ordnung, wie ein jeder die Entfernung des Bords vom Ufer maß, heraus.

„Was seid Ihr lange ausgeblieben!“ sagte ein kleiner, in Reisekleidern befindlicher Mann, von ansehnlichem Embonpoint, der den Ankommenden mit mehreren Fackelträgern entgegentrat. „Wenn man nach der Zeit schließen darf, so müßt Ihr eine Ladung von dreihundert Tonnen haben.“ –

„Seht, seht, Meister Guinand! wie kommen wir zu dieser Ehre?“ sagte Malpart, überrascht, den Angeredeten hier zu treffen.

„Was soll ich warten?“ entgegnete Guinand, ein angesehener Kaufmann aus Caen. „Mir gehen die Farbenstoffe aus, Eure Gewürzsendungen werden selten, und mit den spanischen Weinen, die 75 Ihr mir schon vor einem Monat versprochen, habt Ihr noch nicht Euer Wort gelöst.“

„Bedaure, Meister, daß Ihr da so beschwerliche Reisen unternehmt.“ –

„Was liegt daran, Kapitain! Man opfert sich auf, man giebt für seine Kunden Alles hin. Ich gestehe Euch, daß ich Euch jedes Procent allein zuwenden würde, wenn ich die Nachfrage befriedigen könnte, die mich seit acht Tagen in Indigo, Cochenille und Aehnlichem in Verlegenheit setzt.“

Malpart war viel zu vorsichtig, als daß er zu seinem sichersten Abnehmer von mißlungenen Unternehmungen hätte sprechen sollen. „Nun, es wird uns ja Nichts fehlen, wenn es einmal da sein muß,“ sagte er ausweichend und lud dann seinen Gast ein, ihm in seinem Zelte die Ehre zu geben und sich nach so schwieriger Reise bei einem erwärmenden Glase Arrak zu erholen.

Alfred und Jaques hatten dies Gespräch schon längst benutzt. Sie waren unbemerkt dem Lichtschimmer ausgewichen, hatten die Männer vorbeigehen lassen und sich unverzüglich auf den Weg gemacht. Jaques hatte von seinen frühern Entwei-76chungs­versuchen her noch einige Kenntnisse der Oertlichkeit, er wußte, wo in der nächsten Umgebung die Schleichhändler ihre Posten auszustellen pflegten, und gab ziemlich sicher die Wege an, die sie einschlagen mußten. Aber in diesen verworrenen Schluchten war der Kundigste der Gefahr des Verirrens ausgesetzt; die zunehmende Dunkelheit entzog dem Auge jede Berechnung der verschlungenen Pfade, und Jaques Terrainkenntniß war bald zu Ende. Die beiden Flüchtlinge standen vor einem Felsen, der von keiner Seite zugänglich schien; er versperrte ihnen den Weg, sie mußten wieder zurück, aber einige Schritte und sie waren auch vom Pfade abgeschnitten, der sie hieher geführt hatte. Ein einziger unvorsichtiger Tritt hätte sie in die Tiefe hinabstürzen können.

Was ließ sich in dieser Lage thun? Sie mußten den Anbruch des Morgens abwarten, und die Gefahr, in der sie jetzt schwebten, mit der andern, von Spähern und Verfolgern entdeckt zu werden, vertauschen.

Nach vielen peinlichen Stunden und nach einigen mißlungenen Versuchen, wieder auf einen betretenen Pfad zu kommen, lichtete sich allmählig die Gegend.

77 Es ließ sich jetzt die Lage unterscheiden, in der sie sich befanden. Sie standen dicht am Abhange eines tiefen Bergkessels, rings von schwarzen Felsen umgeben, die an manchen Stellen so morsch waren, daß sie bei der leisesten Berührung sich abschieferten. Endlich entdeckte Jaques den Weg, den sie in der Nacht verloren hatten; sie waren schon weit über die Gegend hinaus, die ihm noch bekannt war, doch setzten sie ihre Flucht bald kriechend, bald sich bückend, und nur selten auf einem freien Wege fort.

Aber die Gaben des Geschicks sind treulos. Die kleine Strecke eines gebahnten Pfades, welche die Flüchtlinge mit der Hoffnung, aus dem Bereich ihrer Feinde zu sein, betreten hatten, gab sie am Ende in die Hände derer, denen sie sich entronnen glaubten. Die Drohungen Alfreds, sein Widerstand, Jaques Bitten – nichts fruchtete. Umringt von mehreren Bewaffneten, mußten sie sich rettungslos in ihre Gewalt geben.

Herr Guinand von Caen, der sich bald von Malparts leeren Händen überzeugt hatte, war schon am folgnden Morgen wieder aufgebrochen, begleitet von Entschuldigungen und Vertröstungen auf 78 die nächsten acht Tage. Daß er seine Reise ohne Nutzen unternommen habe, suchte ihm Malpart auf alle Weise auszureden. Er überschüttete ihn mit Komplimenten und Grüßen für seine Familie, und versprach in wenigen Tagen die Göttin des Glücks durch die der Kühnheit zu besiegen, und ihm die versprochenen spanischen Weine innerhalb eines Monats beizutreiben, und sollte er deshalb selbst nach dem Cap Finisterre segeln.

Diese Versprechungen hielten den Kaufmann von seinem Entschlusse, ehrlich zu werden, ab.

Malpart liebte die Unthätigkeit nicht; er beschloß, den frischen, vom Lande wehenden Morgenwind zu benutzen, und noch in der Frühe die Anker zu lichten. Als er sich, um seine Befehle zu geben, dem Ufer näherte, trat mit verlegener Miene Tidetail auf ihn zu.

„Habt Ihr eine Suppe versalzen, Meister Koch, oder warum schneidet Ihr so erbärmliche Gesichter?“ fragte Malpart.

Allmählig löste sich von Tidetails bebenden Lippen die Thatsache, daß ihm sein Chargé d‘affaires, seine rechte Hand, der Galgenstrick Jaques schon wieder entlaufen sei, und es ging ihm dabei kalt 79 über die Haut, weil ihn der Kapitain für diesen Fall in Zukunft verantwortlich gemacht hatte.

Malpart fühlte das Bedürfniß, seiner ärgerlichen Stimmung an Jemandem Luft zu machen, er fuhr daher auf den Koch los und überschüttete ihn mit seinen Verwünschungen. „Du Bratenwender! sollte man Dir nicht die Haut abziehen, Dich an den Spieß stecken und von einem Schöpfe über’m Feuer drehen und mit Deinem eigenen Fett begießen lassen? Wäre es nicht gerathen, Dich an einen Felsen anzubinden, daß die Vögel kämen, deren Schwestern und Muhmen Du in Deinem Leben die Lebern zerhackt hast, und Dir die Deinige jetzt ausfräßen? Wo hast Du die Augen? Was macht der alte Geck für Streiche!“

Tidetail athmete auf; denn die unbestimmten Redensarten des Kapitains: sollte man nicht? wärst Du nicht werth? hatten etwas Beruhigendes; auch pochte er im Stillen auf seine Kochkunst, der selbst Malpart, obschon kein Feinschmecker, wie der Abt im Benediktinerkloster, Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse, weshalb es diesem leid thun würde, einen feinen Kopf, so methodisch im Braten und Sieden, so voller Recepte für tausend Arten von Ra-80gouts und Pasteten, den Fischen vorzuwerfen; ja, Tidetail konnte diesen künstlerischen Kopf in demselben Augenblicke wieder frei erheben; denn unter den Gefangenen, die jetzt vor Malpart gebracht wurden, befand sich Jaques, sein entlaufener Bratenwender.

Während der zuweilen menschenfreundliche Kapitain noch darüber nachdachte, wie er die dem Ausreißer für den wiederholten Fall des Entlaufens gedrohte Todesstrafe noch für das nächste Mal aussetzen sollte, ohne sich vor seinen Leuten inconsequent zu zeigen, trat Alfred unerschrocken auf ihn zu und überhäufte ihn mit Vorwürfen, die ihm seine gerechte Entrüstung eingab.

„Elender,“ rief er, „daß Du nie jene Würden und Abzeichen getragen hättest, die den Ehrenmann und Krieger zieren! Wie lange hoffst Du Dein abscheuliches Handwerk noch treiben zu können, das die Räubereien der Ungläubigen noch überbietet, die wenigstens das Eigenthum und das Leben ihrer Landsleute schonen? Dreifache Schmach treffe Dich, daß Du den ehrlichen Namen des Mannes, der Deine Blöße bekleidete, mit dem Schmutze Deiner Handlungen besudelst, und seinen guten Ruf an 81 den Pranger stellst, wohin nur Du und der Auswurf, der Dich umgiebt, gehören!“

Die ersten Worte dieser Anrede waren schon hinreichend, Malpart in die höchste Wuth zu versetzen. „Man wird Dir die Zunge ausschneiden,“ fuhr er auf ihn ein, „und sie Dir zu verzehren geben, damit Du die Süßigkeit Deiner Rede kosten kannst! Ha, wir kennen uns! Ein artiges Wiederfinden! Junger Mann, Sie haben eine Carriére gemacht, sind vielleicht Lieute­nant-Major bei den Douaniers geworden. Oder schickt Sie Ihr achtbarer Herr Vormund, um mir eine Fastenpredigt zu halten? Sind Sie vielleicht beim Prisengericht in Havre angestellt, und unwillig, daß ich Ihnen keine Advocatensporteln zu verdienen gebe? O es soll Ihnen nichts entgehen, was Ihnen gebührt. Machen Sie es sich in meiner Wohnung bequem, die nächste Prise wird unfehlbar von Ihnen zu Protocoll genommen werden."

Malpart hatte den jungen Dumallet erkannt, ahnte aber nicht, wie er in diese Gegend gekommen.

Alfred erwiederte seine höhnische Begrüßung mit Stillschweigen, und wurde auf den Befehl des Ka-82pitains, der sich während des jetzigen Ausflugs auf eine möglichst grausame Bestrafung besinnen zu wollen schien, in strengen Gewahrsam gebracht.

Der unglückliche Jaques, den jetzt außer der Strafe des Entlaufens auch die der Verrätherei traf, mußte auf das Schiff zurück, um der Mannschaft, wie der Kapitain sagte, eine Unterhaltung für den Morgen zu verschaffen.

Der enge Raum einer Felsennische, deren Eingang mit einem großen Stein versperrt wurde, war das Gefängniß, das den ungefesselt gebliebenen Alfred einschloß. Welche Wechselschläge trafen diesen jungen Mann, ehe ihn das Geschick erreichte, dem er unabwendlich geweiht schien! Die heimathlichen Gegenden, die in seiner Erinnerung in lachendem Sonnenschein glänzten, sah er jetzt mit grauem Flor umzogen und von Gewittern bedeckt, die auch für ihn einen tödtenden Blitz entladen sollten.

Die Oeffnung, die der vor seinen Gewahrsam gelegte Stein ließ, war groß genug, daß seine Blicke den Meeresspiegel bestreifen konnten. Diese Wellen waren trügerisch, ein besorgter Schiffer würde sie heute nicht befahren haben, die grauen Wolken hingen nur schwach am Himmel und schienen sich 83 mit jedem Augenblick in Regen auflösen zu wollen. Doch der Hahn hatte die trotzige Natur seines Besitzers angenommen, und verließ das Ufer, nur von einem schwachen Winde getrieben. Alfred glaubte bestimmt, den armen Jaques an einer Segelstange hängen gesehen zu haben.

Die Aussicht in die Zukunft wurde immer enger und dunkler, und er legte sich erschöpft auf den Boden seines Behälters nieder. Die weiten Arme des Meers hatten oft in diese Wölbung hineingelangt. Sie hatten Muscheln, vermoderte Fische, bunte Steinchen zurückgelassen: auf diesem harten Lager streckte sich Alfred aus, sich in die Möglichkeiten der Rettung wiegend, unter denen das herankommende Unwetter, das Malpart vernichten konnte, nicht die geringste war. Sein halbwacher, dämmernder Traum fuhr über seine brennenden Augen. Doch hatte er sie kaum geschlossen, als ihn ein lauter und naher Lärm aufweckte.

Er bemerkte bald, daß seine Wächter Malparts Abwesenheit benutzten, um sich den zügellosesten Erhohlungen von den gehabten Anstrengungen zu ergeben. Seine Liebe zum Leben zeigte ihm auch hierin wieder einen Hoffnungsschimmer der Ret-84tung. Er berechnete nicht mit Unrecht, daß sich die Wirkung der starken Getränke aus den Kolonien zuletzt in einem festen Schlafe äußern mußte, und er beschloß, diese Umstände nicht unbenutzt zu lassen.

Allmählig nahm der Lärm der zechenden Gesellen ab, die Stimmen wurden heiserer, die Worte lallender, und zuletzt trat eine Stille ein, die nur von dem monotonen und correspondirenden Schnarchen der Schlafenden unterbrochen wurde. Alfred stemmte sich jetzt mit aller ihm nur möglichen Kraft an den Stein, der sein Gefängniß verschlossen hielt. Nach vielfachen, vergeblichen Versuchen wich er so weit, daß er sich mit Mühe durch die so entstandene Spalte drängen konnte.

Er trat in den offenen Raum, wo sich nichts seiner Flucht entgegenstellte. Welche Verwüstung umgab ihn! Zertrümmerte Kisten, eingeschlagene Tonnen, Bretter, von denen das Eisen gebrochen war, lagen rings umher. Ein unvorsichtiger Funke hätte bei der Menge des aufgehäuften Strohes, in dem die geraubten Waaren verpackt gewesen sein mußten, das ganze Güterlager in Brand stecken können. Aschenhaufen und ausgebrannte Erdstellen 85 waren die Spuren der jüngsten Rast, welche die Mannschaft des Hahns hier gehalten hatte.

Alfred hatte den richtigen Schluß gezogen, daß die Abwesenheit Malparts die Wachsamkeit der Posten sehr herabgesetzt haben würde. Der allmählig herabträufelnde Regen begünstigte seine Flucht ebensosehr, als der dichte Nebel, der auf den Felsen lag, und machte, daß er aus der Ferne nicht gesehen werden konnte. Er hatte die ihm am heutigen Morgen so ungünstige Stelle glücklich umgangen, und der gute Erfolg seiner Wanderung beflügelte immer mehr seine Schritte. Er mußte sich ebensoweit vom Meere, als von dem Orte, dem er entronnen war, entfernt haben; denn der Nebel wurde immer schwächer und erlaubte ihm, die Umgebungen zu unterscheiden. Das Gebirge verlor die bizarre Zerrissenheit, die sich in der Perspective so schön ausnimmt, aber von dem Wanderer, der mit ihr zu kämpfen hat, verwünscht wird.

Alfred stand einen Augenblick still, vielleicht nur um Athem zu schöpfen. Warum mußte er ängstlich blicken? Warum mehrere aus der Ferne blinkende Flintenläufe durch einen schnellen Seitensprung 86 zu vermeiden suchen? Seine Schüchternheit hatte ihn verrathen; denn eine kräftige Faust packte ihn am Kragen und warf ihn mit einigen derben Flüchen zu Boden.

Diesmal war es aber nur ein Mißverständniß. Alfred ist in den besten Händen und gesicherter als je. Freilich sind die Douaniers Leute von etwas schwierigem Glauben; sie machten Umstände und setzten in Alfreds Aussagen all das Mißtrauen, das von seinem spionenartigen Aufzug und seiner abentheuer­lichen Erzählung unzertrennlich war. Als aber der Corporal auf der nächsten Wachtstation erklärt hatte, Herr Alfred Dumallet sei unstreitig der, der er sei, sie haben das Glück gehabt, dem Kaiser einen seiner ausgezeichnetsten Offiziere zu erhalten, so beglückwünschten die Jäger den jungen Mann und sich selbst; denn er hatte sie seine Befreier genannt, und versprochen, ihrer eingedenk zu sein. Der Corporal warf sich in die Brust, weil er von einem Offizier das Ehrenwort erhalten hatte, und begleitete seinen Mann bis auf die Landstraße, die ihn in kurzer Zeit nach Honfleur brachte.

Alfred war gerettet, und nun wieder auf dem Punct, auf dem er in dem Augenblick stand, als 87 der räuberische Hahn die erste Ladung auf den hanseatischen Apollo gab. Dieselbe Sehnsucht, dieselbe Ungeduld. Ein Schiffer band so eben seinen Kahn los, um noch vor Nacht das jenseitige Ufer der Seine zu erreichen. Alfred rief ihn an, der Handel war geschlossen und die schleunigste Fahrt zur Bedingung gemacht.

Die Gespräche, die der Schiffer anknüpfen wollte, kamen ihm zur Unzeit; er antwortete kurz und beklagte, daß kein zweites Ruder vorhanden sei, um jenem beizustehen.

Es ging eine kalte Nachtluft; der Schiffer gab seinen Mantel her und Alfred schlug ihn nicht aus; denn ein Frost rieselte durch seinen ganzen Körper. „Was ist Ihnen?“ rief der erschrockene Alte; „junger Mann, Sie zittern! Sie sehen so bleich, Sie sind krank!“

Alfred konnte nicht antworten; denn der Fieberfrost schüttel-te ihn, daß er die Zähne nicht mehr in seiner Macht hatte. Die feuchte Luft über dem Strome brachte das heftige Fieber, zu dem die Anstrengung der letzten Tage, seine schlechtgeheilten Wunden, die Abwechslung der Gemüthsstimmung, den Grund gelegt, zum Ausbruch. Der Schiffer 88 dankte den Heiligen, als er seinen Kahn ans Ufer legen konnte, und nahm Alfred in seine niedrige Hütte, wo er ihm mit thätiger Hand beisprang.

Unser junger Freund hatte die traurige Aussicht, sich noch mehrere Tage auf seine Ankunft in Havre vorbereiten zu müssen.

* *

*

Nichts ist peinlicher, als den Verlauf einer Begebenheit abwarten, der man selbst den ersten Anstoß gegeben hat. Wie ärgerlich ist es schon, einen Brief entbehren zu müssen, der uns Antwort auf eine wichtige Anfrage bringen soll! Man zählt die Stunden und Meilen, welche unser Brief bedurfte, um an den Ort seiner Bestimmung zu kommen, man denkt sich den Augenblick, da ihn der Empfänger liest und zusammenlegt. Die Angelegenheit ist wichtig, er sollte sich sogleich hinsetzen, und die Antwort aufzeichnen; aber um in seiner Berechnung keine zu kurzen Ansätze zu machen, so fingirt man irgend ein Hinderniß, ein noch wichtigeres Geschäft, ein Familienfest, eine Unpäßlichkeit, die den Empfänger vom Antworten abhalten konnte. Jetzt endlich denkt man sich den Brief versiegelt, man 89 vergleicht den Postcours, rechnet wieder sorgfältig die Meilen aus, die er zurückzulegen hat, um endlich einzutreffen. Der Posttag ist da, und der Brief ist ausgeblieben. Wie ärgerlich! Man muß wieder einen ganzen Tag zulegen, und noch einen, und wieder einen, man lauscht auf die Hausthür, um diese Stunde kommt der Postbote: ist er’s? ist er’s nicht? Nein, es ist ein Mann von der Obrigkeit, eine Obstverkäuferin; was kann man nicht alles sein, wenn man kein Briefträger ist!

So geht es Bernard mit seinem auf immer verschwundenen Schiffe.

Der unglückliche Mann! er ist Großhändler, er weiß, welchen Zufällen die Fracht ausgesetzt ist, daß eine Achse brechen, oder auf dem Meere ein Segel zerreißen kann; er kennt die tausend Hindernisse, die die schnelle Fahrt zu Wasser und zu Lande aufhalten. Das erhielt ihn in den ersten Wochen, da er die Rückkehr des Hahns erwartete, noch in jeder Hoffnung aufrecht. Er legte die Scham seines Schiffes, ohne Beute wieder heimzukehren, in die Wagschaale seiner Erwartung, und beschied sich mit dem Troste, daß der Hahn zu viel auf die Ehre halte. Aber zuletzt schwanden alle Vermuthungen, 90 und mit ihnen jede Beruhigung. Seine andern Schiffe hatten während dieser Zeit zweimal die Reise nach Westindien gemacht; das Betragen Malparts schien im jetzt unverantwortlich.

Die Möglichkeit, daß er von den Engländern angegriffen und genommen sei, wagte er sich früher kaum zu gestehen; aber jetzt zogen die Umstände jeden Schleier von derselben; denn welcher Ausweg war übrig? Bernard suchte sich an diese für ihn jetzt gewisse Annahme zu gewöhnen, er zerdrückte einige Thränen, und strich die verlornen Summen aus seinem Buche.

„Was thu’ ich noch in meinen alten Tagen!“ sagte er heimlich zu sich selbst, „ich betrüge mein Kind um seinen Reichthum. Gott und Matthieu verzeihe es mir!“

Aber auch dieser Trost, und das Aeußerste war hier Trost geworden, wurde dem Armen entrissen; denn ein Seeoffizier, der in der Citadelle eine Mission hatte, und von dem Kaufmann zu einem Gabelfrühstück eingeladen war, betheuerte ihm, der Hahn sei gesund und wohlbehalten, er kreuze zwischen Havre und Cherbourg, werde von den französischen Schiffen zuweilen visitirt und in vollkom-91men befriedigendem Zustande befunden. Dem Kaufmann wurde es bei dieser Nachricht schwarz vor den Augen; aber er besaß die Eigenschaft zärtlicher Väter, die ihre entlaufenen, längst in den Zeitungen als enterbt und borgensunfähig erklärten Söhne gegen Fremde nicht verläugnen können. Bernard sprach mit Wärme von seinem Kinde, da er hörte, daß es noch am Leben sei. Er umarmte den Offizier und bat ihn, bei der nächsten Visitation Malpart doch zu grüßen und ihn flehentlich zu ersuchen, er möchte einmal in die Arme seines Freundes zurückkehren.

Und von diesem Augenblicke an konnte man ihn wieder stundenlang auf der Terrasse sehen, wohin er sich alle möglichen optischen Instrumente hatte bringen lassen. Er bewaffnete sein schwaches Auge dreifach und vierfach, und schaute hinaus in die leere Weite, an jedes Pünctchen seine Seele, seine Hoffnung, sein Alles hängend.

Helene hatte unter diesen Verhältnissen einen schwierigen Stand. Sie mußte den Vater behandeln, als sei ihm ein Sohn gestorben und kein Trost mehr für ihn zu finden. Für sie waren diese Umstände um so lästiger, je mehr sie Bernard an 92 seine Verbindung mit Matthieu erinnerten. Dieser hatte ihn einige Male um seine Kaperunternehmung gefragt, und nur schlechte Antwort deshalb von ihm erhalten können. Der schwache Kaufmann glaubte seinen Freund und gehofften Eidam zu erzürnen, weil er mit dem Vermögen, das Helenens Besitz werden mußte, noch in seinem Alter ein so gefährliches Spiel wage; er drang daher immer in Helenen, ihm seine liebsten Wünsche zu erfüllen.

Welche Tage für sie! Sie konnte ihre Hoffnungen nur von Alfred erfüllt sehen, den sie sich nicht als todt zu denken vermochte. Wir wissen, wie wenig sie sich täuschte. Die Liebe erhebt die Seele über den engen Raum der sinnlichen Anschauungen, sie giebt dem Auge eine Schärfe, die in die weiteste Ferne dringt, und hebt die Gränze zwischen dem Gewünschten und Geahneten und der Wirklichkeit dessen auf, was für Fremde nur die Wahrheit des Traumes hat.

Ein schöner Tag begrüßte den dämmernden Morgen, und die Wälder, die Berge, die Wiesen und die Fläche des Meeres stiegen aus den nächtlichen Schatten dem kommenden Lichte entgegen. Ueber 93 Bernards Augen kam schon lange kein regelmäßiger Schlaf mehr, der ihm nur im Zustande der Erschöpfung nahte. Da stand er schon am thauigen Morgen auf der Terrasse, den Blick durch einen langen Tubus in die Ferne gerichtet und Betrachtungen anstellend über das Nichts, das Leere, das Unsichtbare. Und doch! sein Blick scheint sich wieder an einen Punct angeklammert zu haben, er hört nichts von den freundlichen Morgengrüßen, die ihm Helene mit der dampfenden Chocolade bringt.

„Vater ich habe heute von Litt. B. genommen, die weniger Vanille enthält.“

– „Etwas ist es, das laß ich mir nicht nehmen.“

– „Der Comtoirdiener hat nur einen Brief von der Post gebracht.“ –

„Es müssen zwei sein, darauf leg’ ich einen Eid ab.“ –

„Ich habe flüchtig in die Zeitung gesehen; in Paris sollen sich alle Wahnsinnigen aus der Salpetrière losgerissen haben.“ –

„Sie kommen hieher, daran ist gar kein Zweifel!“

94 – „Gott, das wäre entsetzlich! Vater, wo denken Sie hin?“

Jetzt hatte Bernard außer dem Gehör auch die Sprache verloren; er war nur noch Auge, alle seine Nerven spitzten sich, sein Rücken wurde immer gebogener, er schien in das Fernrohr hineinschlüpfen zu wollen.

Nach einigen peinlichstillen Minuten unterschied auch Helene in der Ferne zwei Puncte, von denen der eine jedoch weißer schien, als der andere. Jetzt sah sie deutlich, daß es ein Segel war, dem etwas Zweites folgte, das doch unstreitig auch nur ein Schiff sein konnte.

Bernard sah dies Alles deutlicher, er sprang zurück, voller Entzücken; nichts konnte ihm erwünschter sein, als die Anwesenheit seiner Tochter, er umarmte sie, tanzte, jubelte, und rief einmal über das andere. „Er ists! Ich Thor, wie konnte ich glauben, daß man alle Tage ein Schiff kapert! Sieh, Kind, er schleppt einen erlegten Seedrachen hinter sich, er wird wie der heilige Georg in den Hafen ziehen, sieggekrönt, die Menge wird jubeln, die Schadenfreude verstummen; o, ich muß eilen! meine 95 Pantalons! die geblümte Weste! wo? wo? ich habe keine Zeit zu verlieren.“ –

„Aber, Vater, sehen Sie doch noch einmal hin! Ich meine etwas ganz Anderes zu bemerken, als Sie.“ –

„Kind, was Du mich ärgerst durch Deine Kälte, Deine Zweifel! ich kenne mein Eigenthum: Malpart bringt uns eine Prise, weißt Du, was eine Prise ist?“ –

„Wie aber, wenn wir diese Prise wären? das voransegelnde Schiff ist zu groß für den Hahn.“ –

„Pah, das verstehst Du nicht!“

Aber Bernard war vernünftig genug, sich noch einmal an sein Rohr zu stellen. Er rückte es wieder in die rechte Lage und sah. „Mein Kind,“ sprach er jetzt mit abgebrochenen Sätzen, „das Ganze läuft auf eine Proportion hinaus. Die natürliche Größe verhält sich zur scheinbaren, wie die Entfernung zu –. Das erste Schiff hat etwas Fremdes für mich, das muß ich zugeben; aber wie lange haben wir uns auch nicht gesehen, mein liebes Thierchen! – Dieses Teleskop hat mich tausend Franken gekostet, man wird mich doch nicht betrogen 96 haben! – Hm, das Wrack – ja das gefällt mir gar nicht – diese apfelrunden Seitenwände habe ich irgendwo schon einmal gesehen; aber ich kenne sehr viele Schiffe –. Und dennoch – o das ist ja lächerlich – nein, im Gegentheil, ich sehe darin keinen Spaß – so, so – wenn das mein Hahn ist, so läßt er gewaltig die Federn hängen. Mein Gott, ich bin ein unglücklicher Mann!“

Bernard fiel zurück; er war einer Ohnmacht nahe; denn die Thatsache ließ sich nicht mehr leugnen.

Ein französisches Kriegsschiff brachte den schlotternden Hahn in den Hafen von Havre de Grace zurück.

Bernard erholte sich; denn die eigentliche Bewandniß, die es mit dem Hahn hatte, konnte er noch nicht ahnen. Er nahm es gern an, daß sich Helene nach dieser erkundigen wollte, ihm selbst wäre es unmöglich gewesen, in den Hafen zu gehen und sich dem Spotte seiner Neider preiszugeben. Aber der nächste Augenblick schon sollte Alles aufklären. Helene stürzte zurück, weil sie einem Beamten der Polizei begegnet war, und dieser folgte ihr auf dem Fuße.

97 Der Commissär war so verlegen, wie der Kaufmann. Jener zuckte die Achseln, dieser die Lippen; jener wußte keine Anrede, dieser keine Begrüßung zu finden. Endlich hieß es mit halber Stimme: „Was bringen Sie uns?“

Der Commissär fertigte seine Hiobspost ab. Bernard war einer gerichtlichen Untersuchung verfallen. Der Hahn, ein mit kaiserlicher Erlaubniß von dem Kaufmann Bernard auf die Kaperei gegen englische und nicht französische Flagge führende Schiffe ausgerüsteter Kutter, hatte seine Vollmacht gesetzwidrig überschritten, Seeraub und Schleichhandel getrieben, war endlich von einem französischen Kriegsschiffe verfolgt und erlegt worden. Der Eigenthümer war als Seeräuber und Schleichhändler den Gesetzen verfallen. Der Commissär hatte das Haus zu versiegeln und den Angeklagten gegen eine Caution zu verpflichten, dasselbe nicht zu verlassen; es stehe ihm frei, sich vor dem Handelsgerichte durch einen Advocaten vertheidigen zu lassen.

Der Commissär empfahl sich, Bernard war vernichtet, und Helene war zu sehr Weib und zu sehr Kind, als daß sie nicht hätte unterliegen sollen.

98 Die Abwechselungen folgten rasch auf einander; sie brachten Neues, das das Alte zum Theil bestätigte, zum Theil erträglicher machte.

Jaques fand sich wieder ein, so sehr den Leser überraschend, der ihn längst vom Schauplatz verschwunden glaubte, als den Kaufmann, der sich seine Stellung zu Malpart nicht erklären konnte. Jaques gab seine Erfahrungen mit einer grenzenlosen Weitschweifigkeit wieder, weil er das Wichtigste vielleicht zuletzt lassen wollte.

Das Wiederfinden Alfreds machte auf Helenen einen elektrischen Eindruck. Sie vergaß die Lage ihres Vaters über diesen Nachrichten und überließ sich einer Freude, die bei Liebenden immer ein Triumph ist, den der gute Engel des Menschen in ihm feiert. Welche Hast! wie hing sie an den Lippen des Knaben! Sie schnitt seine weitschweifige Rede, die kein Ende finden konnte, endlich ab, weil sie nur von Alfreds Schicksal interessirt wurde.

Jaques hatte ihn verlassen, als er wie Prometheus an einen Felsen geschmiedet wurde. War er gerettet? lassen sich seine Wächter nicht ergreifen? oder ist er dem Verhängniß schon verfallen?

99 Diese Fragen konnte nur der beantworten, der sie selbst erlebt hatte.

Gnädiger Genius der Liebe, du spendest deine Gaben, wenn die feindlichen Mächte dich losgelassen, niemals mit karger Hand! – Alfred lag in Helenens Armen, noch ehe die eisige Hülle einer neuen Ungewißheit sich um die Frühlingsfreude der Ueberraschung, die Jaques Erzählung in ihrem Herzen keimen ließ, legen konnte.

Die Ereignisse waren jetzt alle auf diesen kleinen Punct zusammengedrängt, daß selbst Bernard das ferne St. Pierre und den künftigen Eidam vergessen hatte, und, wenn auch sein Herz vor eigenem Kummer der Freude des Wiedersehens seines ehemaligen Mündels nicht offen stand, doch zu den Umarmungen schwieg, die in seiner Nähe zwei Wesen beglückten. Als Seeräuber den Strick schon um den Hals spürend, ließ er Alles geschehen.

Der genesene, heimgekehrte Alfred war bald von der Lage der Dinge unterrichtet, und Jaques hatte ihm mitgetheilt, wie ihn erst auf dem Schiffe 100 ein Sturm gerettet, während dessen er im untersten Raum gebunden habe liegen müssen, wie dann seine Execution von Neuem ein Angriff verhindert habe, den Malpart auf einen Kauffahrer gemacht, wie endlich ein französisches Schiff blitzschnell herbeigeeilt sei, den Hahn überrascht, und ihn erlegt habe, wie der größte Theil der Mannschaft und auch Malpart, nach hartnäckigem Kampfe gefallen, ein andrer Theil gefangen, und er selbst im Vertrauen auf seine Jugend und seine Aussagen, die seine Fesseln bestätigt, entlassen worden sei, und sich freue, jetzt hier Alles fröhlich und zufrieden zu sehen. Jaques war ein schlechter Menschenkenner, denn in Bernards Mienen gab es Nichts, was eine Zufriedenheit hätte andeuten können. Aber wollte er vielleicht prophezeien, so hatte er allerdings Recht. Bernards Besorgnisse schwanden allmählig vor dem Zuspruche Alfreds.

Dieser, als Jurist, zeigte ihm, daß Thatsachen erst dann unwiderleglich würden, wenn ihre Verbindung erwiesen wäre; daß die Gerechtigkeit in der Kette der Ereignisse und Handlungen nicht nur 101 den Anfang und das Ende sehe, sondern auch die Mittelglieder, und daß das Wahrscheinliche oft eben so weit von der Wahrheit entfernt sei, als das erweislich Unwahre.

Diese Casuistik hatte etwas Beruhigendes für Bernard. Er hörte mit sichtlicher Erheiterung, daß Alfred ihn vor Gericht vertheidigen wolle, er erinnerte sich des vielen Geldes, das es gekostet, ehe sein Mündel ein tüchtiger Jurist wurde, und der Zeugnisse, die dafür auch dem Fleiße und dem Scharfsinne des jungen Mannes ausgestellt waren. Jetzt fiel es ihm auch ein, daß vor ihm Jemand stand, den das Grab wieder herausgegeben hatte, er thaute auf, und bewillkommnete den jungen Mann zu Helenens unnennbarer Freude erst mit dem einfachen Gruße: „Ei, mein lieber Herr Alfred, wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen!“ dann aber immer herzlicher und hingebender, denn Alfred war so klug, von Nichts, als von seinem neuen Advocatendebüt zu sprechen, von den Beweismitteln, den zureichenden Gründen, den Einreden, den Repliken und Dupliken. Jetzt über-102zeugte sich Bernard auch selbst, daß er im Grunde unschuldig sei, und daß man ihn dafür auch anerkennen müsse.

Der Tag rückte heran, da der Angeklagte vor die Schranken des Gerichts treten und sich von den geschwornen Schwarzmänteln richten lassen sollte. Seine eigene Vertheidigung hatte Bernard ganz in die Hände Alfreds gegeben, der nach Verlesung der Anklageacte und Vorlage der einschlagenden Documente anfing, jeden einzelnen Punct zu verfolgen und ihn so darzustellen, wie er zur Rechtfertigung des Kaufmanns dienen mußte. Er zeigte, daß Bernard nicht der Theilnehmer an der in Frage stehenden Schuld sei, sondern vielmehr der durch sie Verrathene, Preisgegebene, wie ihn auch nicht einmal der Vorwurf treffen könne, das vorliegende Verbrechen veranlaßt zu haben, da die Ausrüstung des Kaperschiffes eine patriotische Handlung war und den wärmsten Dank der Nation verdiente.

Hier machte der Redner den Uebergang auf den Charakter, die Tugenden, die Verdienste seines 103 Schützlings. Er nannte das ganze Leben desselben eine Kette von Aufopferungen, um nicht nur den Gesetzen, sondern auch den Bedürfnissen des Gemeinwesens zu dienen. Bernards Name habe in den vaterländischen Kolonien denselben guten Klang, wie in den Mauern seiner Vaterstadt, und man würde ihn niemals nennen können, ohne sich an die Opfer, die er seinen Mitbürgern gebracht, an die Wohlthätigkeit, die ihm den Segen so vieler Armen erworben, zu erinnern.

Das Ganze endete mit einer Aufforderung an die Richter, den Schein der Wahrheit, der in der Anklage liege, durch die unleugbaren Anzeichen der Unschuld zu vernichten, die vorliegende Thatsache mit Einsicht zu prüfen und seinem Clienten durch ihre Entscheidung die verdiente Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Einer solchen Auseinandersetzung, unterstützt von so glänzenden Rednertalenten, konnte Niemand widerstehen. Bernard wurde einstimmig für nicht schuldig erkannt und von glückwünschenden 104 Freunden und einer jubelnden Menge vor das Gerichtshaus an seinen Wagen begleitet.

Bernard war weniger von seiner Freisprechung, als von der begeisterten Schilderung seines Charakters und seines Lebens, wie Alfred sie entworfen hatte, gerührt. Er erschien sich in einem neuen, verklärten Lichte, und empfand zum ersten Male in einem in unaufhörlicher Hast verflossenen Leben das Glück eines zufriedenen Rückblicks auf die Vergangenheit. Er wagte, ihr ohne Erröthen entgegenzutreten; denn die öffentliche Stimme hatte ihn ermuthigt, und ihm die Dreistigkeit gegeben, einen gewissen edlen Stolz auf sich selbst zu fühlen.

Wie konnte er aber den, der ihm diese Seligkeit verschafft hatte, der ein so aufmerksamer Beobachter und billiger Richter seiner Handlungen gewesen war, durch einen andern Preis ehren, als der diesem selbst der höchste war? Er legte die Hände der Liebenden in einander, und hatte in der That für St. Pierre, und seinen langjährigen Commanditär das Gedächtniß verloren. Als aber dieser wie-105der vor seine Seele trat, wies er ihn ohne Weiteres in den Hintergrund, setzte sich zu einem Briefe nieder und schrieb ihm die Umstände, die eine Aenderung seines Entschlusses herbeigeführt hätten, bestellte einige Zentner Fernambuchölzer und empfahl sich zu geneigtem Andenken.

So endete diese durch einen Kaperbrief herbeigeführte Katastrophe.

Die Tragödien der alten Griechen haben die Verirrungen und Wechsel, die einer über das Maaß hinausschreitenden Handlung auf den Fersen folgen, in unzähligen Beispielen dargestellt. Ihre erhabenen Chöre bewegen sich in diesem Grundsatze der antiken Lebensphilosophie, daß das Hinausgreifen über seine eigene Grenze nicht nur die schlummernden feindlichen Gewalten weckt, sondern auch die Rächer der Handlungen, deren Früchte wir nicht einmal zu eigenem Genuß erhalten haben.

Sehen wir hier die Folgen eines Kaperbriefs, den eine Regierung immerhin ertheilen mag, der aber 106 nicht von Jedem angenommen werden soll, dann möchte man glauben, das alte Fatum sei von den christlichen Göttern zwar um seine Altäre und Opfer gebracht, aber mediatisirt und mit Sitz und Stimme in der Regierung der Welt gelassen worden.

107 Die Sterbecassirer.#

Bambocciade.#

109 Drei, vier, fünf!

Fünf Uhr, und der spindeldünne, schwarze, gespenstige Küster zur St. Bethlehemskirche im Ostsüdostende von Berlin tritt mit einem klirrenden Schlüsselbunde aus dem kleinen Sacristeipförtchen an die großen Kirchenthüren, um sie aufzuschließen, und die Orgel beginnt ein schwellendes Recitativ, und der Tempel des Herrn speit allmählig die Kinder der Gerechtigkeit aus.

Da wanken sie her, diese begnadigten Gestalten, mit ihren verzückten Augen, ihren wiedergebornen Leibern, ihren gerechtfertigten Kleidern der Unschuld, und blicken schmerzhaft in die Straßen dieser sündvollen Welt, der sie auf den Flügeln der gotttrunkenen Rede ihres Seelenhirten kaum ent-110rückt waren, und sie drücken einander die Hände und geben sich den Kuß der Bruderliebe und fangen an, noch vor den Kirchenthüren die verklungenen Reden zu kritisiren.

„Das waren heute Worte des ewigen Lebens!“ sagt hier eine Schwester zu einem geistlichen Bruder, der ihr seine bescheidene Tabatiere von Nußholz offerirt, und Jener erwiedert: „Ach! es war wie das liebliche Rauschen der Weiden am Bache Kidron!“ und ein Anderer sieht in die blaue Luft und spricht: „So stieg ich empor, wie die girrende Taube von Naphthali!“ und ein Letzter sieht auf die Pflastersteine und seufzt mit einem kolossalen Gleichnisse: „So wankte mein Gebein, daß ich niedersinken mochte, wie ein Opferstier, dem der Priester den Hirnschäd­el einschlägt!“

Doch noch stecken die jubelnden Seelen in ihren irdischen Leibern und Leibröcken, noch ruft des Tags geschäftiger Lärm einen Jeden zu den Kreisen seiner Thätigkeit, oder, da es heute Sonntag ist, seiner mäßigen Erholung.

Allmählig lösen sich die einzelnen Gruppen, die leibliche oder himmlische Verwandschaft zusammengeführt hatte, auf, man drückt sich noch einmal die 111 Hände, fragt nach der Uhr, bittet um eine Abschiedsprise, und bald ist man alleine mit seinen Wünschen, seinen Rührungen, seinen Pflichten.

Die vornehmen Kinder Gottes, die mystischen Generale und Kammerpräsidenten, sind schon längst nach Hause geeilt, ängstlich sich umblickend, ob wo ein höherer Chef, oder ein Sub­altern, oder ein witziger Bekannter diesen seltsamen Gang bemerkt habe; sie treffen daheim vielleicht schon die älteste Tochter im Ballstaate und den Wagen vor der Thür, um sie in Robert den Teufel abzuholen; sie werfen einen erbärmlichen Blick auf die weltliche Mutter, und schleichen in ihr Kämmerlein, um sich in der Langmuth und Duldung zu stärken.

Andere sind auf dem Wege, ihre weitläuftigen Verwandten zu besuchen, oder einen einsamen Spaziergang zu entdecken, oder einen wasserleeren Graben, wo sie, von den sinkenden Sonnenstrahlen und den Mücken gestochen, ihr anspruchloses Abendmahl verzehren.

Einigen aber, die sich zur großen Friedrichsstraße wenden, dann in die Kochstraße links, in die Charlottenstraße, den Foyer der Conventikel, rechts und endlich halbrechts in die anmuthige, 112 schattige Lindenstraße lenken, folgt die Muse, sie belauscht ihre Gespräche und giebt uns Rechenschaft über ihre Absichten.

Es sind schlichte, einfache Bürger in blauen Oberröcken oder schwarzen Fräcken, von denen jene immer das zu lang, was diese zu kurz sind; es ist ein bescheidenes Juste milieu der geistlichen Kindschaft, das ihnen aus den Augen sieht; sie unterhalten ihre Frauen, von denen sie nach der sonderbaren Galanterie dieser Leute immer zwei Schritte voraus sind, zu­weilen noch von zeitlichen Dingen, von dem bankerotten Besitzer dieses Hauses, der neuen Anstellung jenes Miethers im dritten Stock, von dem großen Loose, von der neuen Fontaine, von der unglücklichen Niederkunft einer Prinzessin, kurz, sie scheinen allmählig aufzuwachen aus ihren mystischen Träumen und die Sprache, in der die Dinge dieser Welt reden, wieder zu verstehen.

Doch jetzt nahen sich die zärtlichen Ehepaare dem Kammergericht, sie werden schweigsamer, indem sie um die Ecke biegen, ihre Blicke hören auf, unbewacht umherzuschweifen, die Gatten halten fester zusammen, sie mäßigen ihre Schritte, und versinken aufs Neue in einen dämmernden Zustand.

113 Wovor erschrecken sie? warum diese Leichenbittermiene? sehen sie Gespenster?

Allerdings; es ist ein Grabesfrösteln, das sie plötzlich überkommt. Sie fühlen ihre Lippen bleicher werden, sie hören das grausame Oktoedron, Sarg genannt, mit hohlen Schlägen zimmern, sie erblicken sich im weißen Sterbemusselin, eine Zitrone in der Hand und ein Leichentuch vor dem Mund, die Stricke rasseln an dem sinkenden schwarzen Holze und die Erdschollen fallen polternd in die frostige Grube.

Leise fragt der Gatte sein zitterndes Weib: „Sophie, Du hast das Quartalbuch nicht vergessen?“ – „Nein, Gottlieb!“ Und nach einer ängstlichen Pause fährt Gottlieb fort: „Sophie, Du hast die sechszehn Groschen im Beutel?“ – „Ja, Gottlieb,“ sagt die arme Sophie, „ich habe sie in Papier und dann in mein Taschentuch gewickelt.“ Und Gottlieb nickt beifällig und wischt sich eine Thräne aus dem Auge.

Im Schattenreich kann man auf den Nachen des Charon nicht so ängstlich warten, als die liebevollen Ehepaare, deren Gespräche und Mienen wir so dreist belauscht haben, vor einem kleinen Häus-114chen harren, an dessen Eingange zwei breitlaubige Linden ihren süßen, würzigen Duft verbreiten.

Wie schneidend sind die Contraste im Leben! Während hier die Hinfälligkeit sich die Hände drückt und zwei Wesen, die sich in manchem Jahre den sauern Lebensschweiß von der Stirn getrocknet haben, in Todesgedanken versunken stehen, rauscht nur hundert Schritte weiter das tolle Gewühl der lebensfrohen Spaziergänger zum Thore hinaus, um sich in den Strudel der Vergnügungen zu stürzen. Ein Wagen sucht dem andern den Vorrang abzugewinnen, Stutzer, auf den besten englischen Rennern, lorgnettiren die Schönen, die in den herrlichen Equipagen vorüberfliegen und vergebens ihre Reize unter dem verführerischen Gazeschleier verbergen. Wird heute im Tivoli ein Eskamoteur das Becherspiel des genialen Bosko produciren? werden die Alpensänger vielleicht die berühmten Variationen auf den Schweizerbuben trällern? wird eine Ventriloquistin aus dem Bauche Komödien aufführen, oder soll gegen Nacht eine Citadelle erstürmt, und mit bengalischem Feuer in die Luft gesprengt werden? Welche Erwartungswonne, welche Lebenslust auf allen Gesichtern! und welch sonderbare Contraste 115 auf einem Raum von hundert oder, wenn man sie länger nimmt, von achtzig Schritten!

Was sind aber nun Sterbekassirer? was hat die Mystik mit ihnen und die Lindenstraße mit beiden zu schaffen? wozu dienen die sechszehn Groschen, die Sophie in ein Papier und in ihr Taschentuch gewickelt hat, wozu das Quartalbuch, wornach Gottlieb so ängstlich fragte? Der Erfahrne wird es längst errathen haben, den Uneingeweihten aber sollen die nachfolgenden Erläuterungen aufklären.

Saturn verschlingt seine eigenen Kinder. Der Zauberkreis der Heiligkeit und Ehrfurcht, der um die Schöpfungen grauer Jahrhunderte gezogen war, hat sich aufgelöst. Die Achtung vor diesen alten Institutionen ist mit dem Glauben an sie untergegangen. Wenn feindliche Lehren sich damit begnügten, die morschen, verfallenen Seiten dieser ehrwürdigen Gebäude aufzudecken, so glaubte der Uebermuth und die Keckheit den Beruf zu haben, sie ihrer Stützen zu berauben und sie bis auf den Grund zu zerstören. Das ist das Schicksal unzähliger Sitten und Einrichtungen gewesen, in denen Völker und Zeiten ihre Lust und ihr Glück gefunden haben, das ist die Aussicht, die noch vielen 116 Resten unsrer alten Zustände droht. Haben sie dazu gedient, irgend eine Mühe der menschlichen Existenz zu erleichtern, so sind zwar die Bedürfnisse dieselben geblieben, aber die Art ihrer Befriedigung hat sich mannigfach geändert. An die Stelle der alten Ueberlieferungen sind neue Einrichtungen getreten, die zwar selten das Zeugniß der Erfahrung, immer aber das Vorurtheil der Neuheit für sich haben.

Alle Kreise des menschlichen Daseins mußten diese Krisis überstehen. Den großartigen Veränderungen, die die Wissen­schaft, die Kunst, das gesellschaftliche Leben, ja selbst der Glaube an die Gottheit erlitten, entsprachen die neuen Begriffe über die Stellung der bürgerlichen Stände, ihrer Vorrechte, ihrer Ansprüche, ihrer wechselseitigen Beziehungen. Der Staat, die Regierung, die Verfassung des Gelehrtenstandes sind nach neuen Lehren gemodelt worden, und selbst die Zunfteinrichtung der Handwerke ist auf dem Puncte, als ein hülfloses Gebäude zusammenzustürzen.

Tausend Dinge haben sich vereinigt, um hier die entschiedensten Folgen nach sich zu ziehen. Die Zünfte, schon lange nicht mehr mit einem nach Außen gerichteten, einflußreichen Ansehen bekleidet, vermö-117gen nur noch einige unwesent­liche Vorschriften ihrer innern Verfassung aufrecht zu erhalten. Wie könnte auch am Tage ihrer gänzlichen Vernichtung den Zerstörern die Freude entzogen werden dürfen, daß sie wohl gar nichts mehr zu zertrümmern vorfänden? und doch wird man auch hierin täglich lässiger. Das Wandern der Zunftgenossen ist nichts mehr, als entweder bei den Armen ein ehrbarer Schein für die Bettelnden, oder bei den Vermögenden das Studium neuer Vorrichtungen, die mit Dampf- und Maschinenwerk ihr eigenes Metier zu Grunde richten. Ueber all die erbaulichen Sprüchlein, die sich sonst die Innungsverwandten zum Gruß in fremden Oertern zurufen mußten, über diese ehrwürdige Tabulatur der handwerksmäßigen Conversationssprache lachen jetzt die aufgeklärten Glaser, die mit dem Zeitalter der Revolution und den zertrümmerten Julilaternen Alles gewonnen haben, lachen die Kleiderkünstler, die schon längst an der Spitze der Civilisation stehen, lachen selbst die ergrimmten Weber, die mit den Maschinen, mit der Aufklärung Alles verloren.

Und so sind der Bindemittel immer weniger geworden, der Dilettantismus hat die Autoritäten ge-118stürzt, und nur für einen Zweck ist die Verfassung der Altmeister und Altgesellen noch in Ehren geblieben, für die Sterbecassen. Man resignirte auf die gemeinsamen Güter, die das Leben hätte bieten können, und begnügte sich, nach seinem Tode eine Hand zu wissen, die sich aus dem Geschäft des christlichen Begräbnisses eine heilige Pflicht machte.

Zur Zeit der französischen Revolution, als man mit dem Menschenleben ein so lustiges, leichtfertiges Spiel trieb, begann man namentlich in Deutschland an eine Sicherstellung seines Leichnams und derer, die an ihm weinten, zu denken. Von diesem Augenblicke und diesen Besorgnissen an wurde eine unglaubliche Sorgfalt auf Wittwen- und Sterbecassen verwandt. Man pries sich glücklich, sein geliebtes Weib mit funfzig Thalern in die Königl. Preußische Offizierswittwencasse, auch ohne Offizier zu sein, einschmuggeln zu können, und ehe man noch auf den Gedanken kam, größere Privatgesellschaften zu einem solchen, Tod und Leben garantirenden Zwecke zu vereinigen, warf man sich den Gewerken in die Arme, die zwar nur für ihre eigenen siechen oder verstorbenen Körper ein bestimmtes Vermögen verwalteten, dennoch aber die Un-119eigennützigkeit besaßen, dies Kapital auch von fremden Personen vermehren und sie an den Zinsen desselben Theil nehmen zu lassen.

Auf diese Weise war in der norddeutschen Hauptstadt vor Napoleons Invasion eines jeden Familienvaters Begräbniß durch vierteljährige Beiträge gesichert, und die hinterlassene Wittwe war gewiß, von den Schornsteinfegern, oder den Klempnern, oder den Töpfern das zu dem wehmüthigen Geschäft des Einscharrens nöthige Geld zu erhalten, ohne daß sie je mit diesen Leuten anders in Berührung gekommen, als durch die monat­liche Reinigung ihres Rauchfanges, durch eine löcherige Kasserole, oder einen schlecht verkitteten Ofen.

Doch die Leiden der Invasion und der spätern Kriegsjahre brachten den meisten dieser menschenfreundlichen Institute den Untergang. Die Tyrannei griff ihre Capitalien an, die ansteckenden Fieber und die feindlichen Kanonenkugeln verwirrten ihre Rechnungen, man brauchte mehr, als man einnahm, kurz, man schloß die Cassen zu, zeigte die leeren Hände, und erklärte sich für bankerott. Nur einige wenige Gewerke konnten noch einige Thaler aufweisen.

120 Da hielten die Cassirer zusammen einen Rath, zählten die Mitglieder und den Rest des Vermögens, schlugen Alles auf gleiche Theile, zogen sich schwarze Kleider an, und trugen einem Jeden seine wenigen Groschen ins Haus, die Hände faltend und sich alle Beileidsbezeugungen und Vorwürfe verbittend.

Die lustigern Gewerke setzten noch einen bessern Vorschlag durch. Sie mietheten einen Saal, ließen ihn anständig decoriren, bestellten einige Trompeter von der Garde, luden sämmtliche Sterbecassenmitglieder mit ihren Weibern und Töchtern ein und vertanzten und verjubelten das Geld, womit sie gewollt hatten, daß man einst ihre Leiber begrabe.

Jetzt sind wir in die Lindenstraße zurückgekommen. In diesem niedrigen Häuschen mit den zwei breitlaubigen Linden, war seit Jahren die Sterbecasse des löblichen Webergewerks, und welches Wunder! sie war die einzige, die die Stürme der Zeit überstand.

Welcher Zufall rettete sie?

Ich schweige von einer Sage, die schon lange unter den mystischen Webern canonisches Ansehen erhalten hat, als habe ein Engel jede Nacht die 121 Summen wieder ersetzt, die am Tage von den Contributionscommissären geholt worden, und erwähne nur, daß einige Rationalisten das unleugbare Factum der Zahlungsfähigkeit auf einem menschlichern Wege erklären wollen.

Man weiß wie Rothschild zu seinen Reichthümern gekommen ist. Man weiß, daß er als Hofjude Sr. Hoheit des Höchst­seligen Kurfürsten von Hessen, die ihm während der Usurpation anvertrauten Gelder seines hohen Gönners an heimlichen und sichern Orten versteckt hielt und dafür einen ewigen, klingenden Dank einerndtete.

Denselben Kunstgriff soll der Hauptcassirer aus der Lindenstraße befolgt haben. Er dachte an die Heiligkeit des fremden Eigenthums, an die Thränen derer, die es gesammelt und nun so schmählich vermissen würden, wenn der Todesengel am Kopfkissen ihres Hausvaters die Fackel senkte; er kannte einige gefahrlose Schlupfwinkel, und barg dorthin die Summen, die sich freilich auf diesem Wege nicht verinteressiren konnten. Doch der größte und für die nächsten Zwecke hinreichende Theil wurde erhal-122ten, und seither sind die Chatullen reichlich gesegnet, und trösten viele Hunderte in bangen und verzweifelten Stunden.

Schweigend, wie die Todtenrichter der Unterwelt, sitzen drei geisterhafte Gestalten an dem obern Ende eines langen Tisches, in einem niedern, von Lampenruß schwarz gefärbten Zimmer. Drei mächtige Folianten liegen vor ihnen aufgeschlagen, und sinnend und forschend schwebt eine leicht beschwingte Feder über dem weißen, nur hier und da von rothen Rubricatlinien durchzogenen Raum des steifen Notenpapiers. Der erste dieser männlichen Parzen hat vor sich das Buch des Lebens, der Zweite das des Todes, und der Letzte das des Begräbnisses. Und nun rechnen sie still und combiniren die Möglichkeiten der Erkrankten, oder Genesenen, oder Dahingegangenen, der Zahl, dem Alter und der Zeitdauer nach, und sie setzen von Hunderten, die so eben ausrufen mögen: zwanzig Jahre denk’ ich es noch mit anzusehen! und von aber Hunderten, die in diesem Augenblicke sich lebensfroh an die Brust schlagen, und auf ihre Gesundheit an die Zeit 123 trotzige Wechsel ausstellen, den grausamen, aber gewissen Fall, daß im Nu die Kette ihrer Lebensuhr gesprengt sein könnte. Die Phan­tasie dieses Triumvirats erschöpft sich in den Annahmen plötzlicher, cassengefährlicher Zufälle, imaginirt sich die schrecklichsten Plagen aus Pandorens Büchse, Pestilenz, hitzige Fieber, Cholera, und doch erschrecken die Sichern nicht; denn Alles stimmt in den Rechnungen, die Hülfsmittel sind für tausend unvorhergesehene Fälle berechnet, und man wird es diesen Repräsentanten der Gewissenhaftigkeit und Zahlungsfähigkeit nicht verargen, wenn sie zuweilen stolz ihr Haupt emporrichten, und den schwarzen Sammtdeckel darauf lüften, als wollten sie vor sich selbst salutiren.

Es klopft. Herein!

Welche Complimente! welche Artigkeit! man sollte das diesen Altmeistern des löblichen Mousselin- und Leinwebergewerks nicht zutrauen. „Sie wollen Ihr Vierteljährliches berichtigen? dürfen wir Sie gefälligst um das Quartalbuch ersuchen? wie befindet sich dero werthe Gesundheit?“

124 Verteufelte Frage! Im Munde dieser Todtenmänner wird jede Artigkeit zur Ironie. „Was geht sie meine Gesundheit an? Ich denke noch zehn Jahre zu leben, ich will noch für meine jüngste Tochter ein Heirathsgut erwerben, ich hoffe in Jahren noch nicht pensionirt zu werden. Das ist ja unverschämt, mich nach meiner Gesundheit zu fragen.“

Natürlich werden diese Ausrufungen nicht laut; es sind nur werdende, nur Duodezgedanken, die vor Beklommenheit sehr schwach im Bewußtsein auftauchen. Man zahlt seinen Beitrag, versichert mit einigem Nachdruck, daß man, Gott sei Dank! noch recht munter sei, nimmt die Schmeicheleien der Rhadamanthe wegen seines vollen, runden, blühenden Aussehens mit lächelndem Triumphe an, wirft noch einige Groschen in die Armenbüchse des Gewerks und empfiehlt sich unter vielen Verbeugungen zu geneigter Vergessenheit.

Diese Scene wiederholt sich an den Quartalsonntagen zu unzähligen Malen; aber man glaube nicht, daß in diesem einfachen, nur auf Höflichkei-125ten und Geldannahme beschränkten Geschäftsgange die ganze Thätigkeit der Vorsteher enthalten sei.

Die auswärtigen Angelegenheiten sind weit schwieriger. Da sind in einer Woche drei Gichtbrüchige, eine Schwindsüchtige, kurz eine reiche Anzahl Preßhafter zu besuchen, die das Recht haben, von der Casse eine Unterstützung zu verlangen, gleichsam schon auf Abschlag für die Ewigkeit.

Dies ist ein wehmüthiges Geschäft. Man muß der trauernden Gattin, den weinenden Kindern Trost zusprechen, man muß zuweilen behaupten, der Kranke habe ein weit beruhigenderes Aussehen, als in der vergangenen Woche, und muß zuletzt dennoch der Frau heimlich zuraunen, sie möchte sogleich in der Lindenstraße Anzeige machen, falls das selige Ende wirklich kommen sollte.

Unter diesen Umständen tritt nämlich vor der Beerdigung die Todtenschau ein, gleichwie die egyptischen Priester um die Leichen Gericht hielten; nur mit dem Unterschied, daß diese die Beerdigung nur zuließen um der anerkannten Tugend des Verblichenen willen, die Kassirer aber das Geld nur in 126 dem Fall herausgeben, wenn der wirkliche, reelle, leibhaftige Tod constatirt ist.

In den Vorstädten hat man sich in dieser Hinsicht schon arge Späße erlaubt. Karls V. Pseudoexsequien finden hier zuweilen Nachahmer, doch mit dem Unterschiede, daß jener Kaiser diese Komödie aus Ueberdruß am Leben aufführte, unsere Vorstädter jedoch aus Lust, im Gegentheil noch länger zu leben. Dem Verhungern nah, griffen sie zu dieser letzten Auskunft, die ihnen nicht selten geglückt ist. Bei aller Armuth dennoch der Sterbecasse einverleibt, glaubten sie dem Schicksal zuvorkommen zu können, wenn sie versuchten, sich die Vortheile des Todes schon für das Leben anzueignen. Blaß, hager, gelb vor Hunger und Elend, hatten sie nicht nöthig, die Farbe eines Todten erst zu affectiren. Sie hüllten sich in ein weißes Sterbehemd, streckten ihre Glieder, so lang sie gewachsen, auf hartem Stroh von sich und schickten schleunigst zu den Todtenschauern, um sie mit ihrem klingenden Beutel zu citiren. Wie oft gelang die List! Vier Treppen steigen, ist für einen steifen Weber sehr beschwerlich, daher machten die Deputirten sehr 127 gern ihr Geschäft schon unten in der Hausthür mit der weinenden Gattin ab; oder man behauptete, es dufte bereits in der Kammer, und hielt sich die Nase zu, und der Thalermann begnügte sich, durch die kaum geöffnete Thüre zu lauschen, und sie, schauernd vor der Kälte und dem blassen Angesichte, rasch wieder anzulehnen. Ach! dann freuten sich die armen Spitzbuben, bezahlten ihre Schulden, fristeten noch ein paar Monate ihr Leben, und starben endlich wirklich, aller Aussicht beraubt, auf eine erträgliche Weise unter die Erde zu kommen.

Dir aber, unscheinbares Häuschen mit deinen zwei breitlaubigen Linden, lächle eine ewige Frühlingssonne! Möchten dir nie deine Capitalien aufgekündigt werden, nie die Häuser, auf die du die erste Hypothek hast, ohne Miether stehen! Möge die Pest und die Cholera nie mehr zwischen deinen Dividenden wüthen! Deine Solidität wird dir ewigen Nutzen bringen; denn fern von dem Wucher der Speculation, fern von den jüdischen Wirren der Börse und des Papiermarktes, ist nur die allgemeine Wohlfahrt dein Glück, und wo Thränen fließen, schickst du die Männer, die sie trocknen. 128 O ihr schwarzen Leute! steckt noch Tausenden, die am Sarge eines Geliebten leidtragend und beflort stehen, heimlich eure silbernen Thaler in die Tasche und seid versichert, daß ihr damit feurige Kohlen auf euer Haupt sammelt!

129 Geständnisse einer Perrücke.#

Aus vergilbten Papieren.#

131 I.

Man muß es mir ansehen, daß ich in der nächsten Woche meinen sechszigsten Geburtstag feiern werde.

Ich vermag die flüchtige Zeit nicht mehr anzuhalten. Die Stunden, die Tage, die Monden gleiten an mir so unbemerkt vorüber, daß ich mich nach Mitteln umsehen muß, den Augenblick zu fesseln. Wenn ich diesen leeren Raum der Zeit, in dem das Alter unbewußt und empfindungslos untertaucht mit einer kleine Mühe, einer geistigen und körperlichen Anstrengung ausfüllen darf, so werd’ ich sie nach dem Stunden- und Minutenzeiger der Uhr wieder abmessen, das Heute in dem Morgen und Gestern gewinnen lernen. – Wird die Erinnerung an meine Jugend den Frieden des Alters stören? 132 Werd’ ich es bereuen, wenn ich lauschend an die leis angelehnte Thür meines Gedächtnisses klopfe, hinuntersteige in die stillen Gemächer und vor den Bildern der Vergangenheit betrachtend weile? Muß ich fürchten, auf Vorhänge zu treffen, hinter denen das Geheimniß der Schuld auf seinen Entdecker wartet?

Meine Sehnsucht trügt mich nicht. Unsere Leiden nisten länger dem Gedächtnisse ein, als unsere Freuden; denn jene stehen dem Herzen näher. Die Thränen, die das Vergangene in mir wecken könnte, hab’ ich in die stille Kammer des Alters mit hin­über genommen, meine Leiden hab’ ich nicht vergessen. Was mich einst glücklich machte? – o, sollte mir die Seligkeit der Erinnerung nicht vergönnt sein! Ich zögere nicht den Blick zurückzuwenden und noch einmal den weißen Scheitel des Greisen mit den Kränzen der Jugend zu schmücken.

Ich habe das Verhältniß meiner Eltern nie recht durchschauen können. Unsere Zeit ist zwar leichtfertiger im Urtheilen über Dinge geworden, von denen meine Zeitgenossen nur mit scheuer Ehrerbietung sprachen; doch ist sie wahrhafter und treuer 133 in jenen Verbindungen, auf die der Stempel der Liebe oder des Blutes gedrückt ist.

Mein Vater besaß die ansehnlichsten Güter am Rhein, wo sie die Grenze zweier fürstlichen Territorien bildeten und somit unter zwei Hoheiten gestellt waren. Ich erinnre mich nur selten, daß meine Eltern sich in einer und derselben Residenz aufhielten. Mein Vater lebte an dem einen, die Mutter an dem andern Hofe, von wo sie nur wenig ihre Besitzungen und ihre Kinder zu besuchen kamen.

Mein ältrer Bruder hielt sich in Paris auf, wo er eine ansehnliche Stelle in der königlichen Leibgarde bekleidete; ich selbst, ein Spätgeborner, war der Obhut einer liebevollen Tante und dem Regimente eines pedantischen Erziehers anvertraut.

Wie sehr sind doch selbst unsere Gefühle dem Gesetze der Gewöhnung unterworfen! Eine gewisse träumerische Stimmung, die nur zu sehr den Hintergrund meines Charakters bildete, war dennoch nie von dem Grundzuge kindlicher Empfindungen, der Sehnsucht nach den Eltern, abhängig. Ich kannte den Besitz der Eltern als kein Gut; wie hätt’ ich sie mit Leidenschaft vermissen können!

Alle jene kleinen Bedürfnisse, deren Abhülfe das 134 lallende Kind von der Mutter, der muntere Knabe vom Vater erwartet, hatte die Tante zu befriedigen gewußt, und dafür die Gaben, die Kinder ihren Eltern schenken, Vertrauen, Liebe, Ehrfurcht, in reichlichem Maße empfangen. Ja, selbst wenn die Furcht nun einmal ihren Sitz in der jugendlichen Seele einnehmen soll, so hab’ ich solche vor meinem mürrischen Erzieher ebenso empfunden, als hätt’ ich den Vater immer mit dem Bakel in der Hand vor mir gesehen.

Die Einsamkeit ist kein Spielraum für die heitere Seele eines Knaben. Die schimmernden Silberstreifen des Rheins, von dessen reizenden Ufern der alterthümliche Schauplatz meiner Erziehung nicht entfernt lag, konnte nur eine ungewisse Sehnsucht in die Weite in mir wecken; die Enge der Thäler und des Horizontes mußte sie nähren; ich würde mir sonst nicht erklären können, wie mein hingebender Charakter mit der Unruhe der Reiselust sich schon so früh hätte vermählen können. Ich vernahm mit Freuden den Befehl meines Vaters, der nur zuweilen dictatorisch meine Schicksale lenkte, in Begleitung des Magisters die Universität zu beziehen.

135 Ich konnte den Tag der Abreise nicht erwarten, dessen Ankunft sich um so peinlicher verzögerte, je früher ich schon die Begleitung nach dem Sitze der Musen, aus vielen Habseligkeiten, vorzüglich aber aus Büchern bestehend, angeordnet hatte. Schon vierzehn Tage vor dem ersehnten sagte der Magister:

„Sie werden in eine Welt treten, in der sich Ihnen die Seligkeit der höhern Doctrinen offenbaren wird. Sie haben an den Brüsten des classischen Alterthums gelegen, und sind an der Milch einer wahren Weisheit erstarkt. Sie können ihre Gedanken mit sichtbar werdender Farbe des römischen Ausdrucks wiedergeben, den Tacitus ohne Vorbereitung übersetzen, und den Homer verstehen, ohne auf die Hagersche Version hinüberzusehen. Sie wissen mit den Grundsätzen der elementarischen Logik umzuspringen, und mit Gewandheit aus zwei Voraussetzungen den Schluß zu ziehen. Sie haben sich auf der Landkarte orientirt, und sind an meinem Faden glücklich aus dem Labyrinth der Geschichte entkommen. Ich darf also für mein Gewissen keine Reue fürchten, wenn ich Ihnen das Zeugniß gebe, Sie werden die Hörsäle der Philosophen nicht ohne 136 Nutzen besuchen, Sie werden der Eule der Minerva die Weisheit aus den Augen lesen und die geflügelten Reden verstehen, die durch die Hallen der Akademie tönen.“

Die Tante sagte:

„Johann, der Neid muß mir das Zeugniß lassen, daß ich für die moralische Güte Deines Herzens ebenso gesorgt habe, wie für Deine feine Wäsche. Ich weiß nichts, was daran noch auszubessern wäre; denn wüßt’ ich’s, so hätt’ ich’s gethan. Vergiß nie, was ich Dir von den Lockungen böser Buben erzählte, zu befolgen, sei fleißig im Wechseln Deiner Kleider, und unterlass’ es nicht, Dir ein Tagebuch über Deine Begegnisse, ein Verzeichniß der an die Wäscherei abgelieferten Gegenstände und sorgfältige Notizen über die Bücher, die Du aus Gefälligkeit verleihst, anzulegen. Bezahle sogleich, was Du schuldig bist, hüte Dich vor den Ueberschlagsrechnungen, und wechsle zuweilen mit den Orten, wo Du wohnst oder issest. Gewöhne Dich überhaupt nicht an das, was man Dir bietet, sondern an das, was Du wählst; so lernst Du das Gute vom Bösen, gute Kost von magerer, reelle Bedienung von träger unterscheiden. Vergiß nie, 137 die Stubenthüre auf die Nacht zuzuschließen, den Schlüssel so hineinzustecken, daß man ihn von außen nicht herausstoßen kann, und keine Wohnung zu beziehen, die sich nicht auch verriegeln läßt. Auf der Reise mußt Du Dir kleine Münze halten. Für Tropfen oder Zucker werd’ ich sorgen, und ich weiß es, Dein treues Herz wird Dich jeden Sonnabend an das Schreibepult treiben, so daß ich in zwei Tagen, also an jedem Montage, die Züge Deiner lieben, kleinen Hand an meine Lippen bringen kann.“

Die Tante war so gut. Wir weinten Beide ungeschminkte Thränen. In vierzehn Tagen reiste ich ab.

II.

Eine Stimmung, wie die meinige, kann auf deutschen Universitäten nur sehr unangenehm berührt werden.

Sei es durch Leutseligkeit getrieben, oder einem andern Zuge folgend, hatt’ ich ein ewiges Bedürfniß mich anzuschließen, und dennoch war es mir unmöglich, eine irgend mir wohlthuende Bekanntschaft zu machen.

138 Die Studenten besaßen oder affectirten eine solche Schroffheit des Charakters, daß ich zwei Jahre lang mich vergeblich bemühte, irgend Einem näher zu treten. Wenn sie wie die Könige der Welt auf den Straßen einherschritten, beide Arme in zwei recht zum Anstoßen geschaffene Triangel stellten, deren eine Seite von der Spitze des Ellenbogens sich keck in die Weichen stemmte, und so jedem Vorübergehenden die Grenzen ihres personellen Weichbildes zu demonstriren schienen, wie konnte es mir da möglich werden, Eingang in das fürchterliche Bannat zu gewinnen!

Ich hätte meine natürliche Herzensgüte auf einen Augenblick verläugnen, ich hätte dreist einmal Jemanden umarmen, ihn statt von oben, von unten ansehen, oder an ihm vorbeigehend mit den Augen blinzeln müssen; dann wär’ ich unstreitig mit so vielen Bekanntschaften beehrt worden, als ich nur verlangen mochte. Aber wäre diese erste Begegnung nicht eine sehr gemessene, diese erste Begrüßung nicht eine sehr empfindliche gewesen?

Ich schweige von diesen trübseligen Tagen, in denen sich einzig der Fonds meiner Kenntnisse consolidirte, und von einer andern Seite nur ein klei-139ner Beitrag zu meiner zunehmenden Charakterstärke sich ergab.

Die Veranlassung des Letztern war mein Magister.

Man weiß, wie nahe verwandt die Pedanterie dem Cynismus ist. Es giebt von der Affectation zur Gemeinheit nur einen Schritt, weil diese selbst durch jene nur verschleiert wird. Ich erschrak, als ich den Eindruck bemerkte, den die nächtlichen Gesänge der Musensöhne, die hölzernen Rebenkränze an den Weinschenken auf meinen Begleiter machten. Er sagte mir oft, es stiegen alte Erinnerungen in ihm auf. Die Eitelkeit, mit der er sich auf seine gereifte Erfahrung in diesen lauten Freuden des akademischen Lebens berief, war sehr verzeihlich, aber unerträglich die Art, wie er wirklich die Stellung behauptete, die ihm die ehrerbietigen Schüler als einem Erfahrnen übertrugen. Wie oft mußte ich eine Rolle übernehmen, die sich für ihn selbst mehr geeignet hätte! Wie unangenehm für mich, daß ich ihn gerade durch die Erinnerung an jene Schwäche, die ich an ihm mehr bemitleidete, als verachtete, an seine scheinheilige, gediegene Würde, zur Einsicht bringen mußte.

140 Ich glaube alle Ursache zu haben, ihn als Verräther zu bezeichnen. Seine Rache zettelte unstreitig ein Complott gegen mich an, dessen Symptome zu bedenklich waren, als daß ich mich seinem Ausbruche hätte aussetzen sollen.

An einer öffentlichen Tafel nämlich kam unter Leuten, mit denen ich ihn im Umgange wußte, das Gespräch eines Tages auf jene Verachteten, die sich auf der Akademie, ihre Bestimmung erkennend, den Wissenschaften widmen. Ein bärtiges Ungeheuer behauptete, indem es mich dabei keck ansah, die Bezeichnung: Philister, leite sich allein von dem griechischen Worte Polyhistor her. Das Entsetzen trieb mir das Blut aus den Wangen; denn ich war auf Anordnung meines Mentors in allen vier Facultäten eingeschrieben.

Noch am selbigen Tage ordnete ich die Abreise an und verließ einen Ort, an dem ich zwei Jahre in einer ängstlichen Verlegenheit zugebracht hatte.

Der selten einige Wille meiner Eltern bestimmte mich für das diplomatische Fach.

Die wenigen Kenntnisse, die man gegenwärtig zu dieser Laufbahn bedarf, entschuldigen die geringe Achtung, die man heute vor ihr hat. Die Staa-141ten haben durch die Politik des Gleichgewichts eine Stellung gewonnen, die nur Erhaltung des Bestehenden will; die Diplomatie ist nur noch die Repräsentation des auswärtigen Glanzes, nicht mehr der auswärtigen Macht. Früher wurden die Bevollmächtigten geehrt, weil man sie fürchtete, jetzt zieht man sie zu den Festen, um ihnen keine Langeweile zu verursachen.

Wie verschieden die Tage meiner Jugend! – Man konnte in dem ersten Drittel unsers Jahrhunderts zweifelhaft sein, ob die Diplomatie eher ein Zweig der Theologie, als der Politik genannt werden müßte. Sie beruhte auf den ersten Principien des Völkerrechts, auf göttlichen Voraussetzungen, die mir in der That passender scheinen, als die heutigen Lehren unsrer starken Geister.

Ich war von der Wichtigkeit meines Berufs aufs Lebhafteste durchdrungen; ich sah dem Augenblicke, da mir der Vater den ersten Schritt vorschreiben würde, mit peinlicher Erwartung entgegen; dennoch hätt’ ich vielleicht in der öden Einsamkeit des wiederbezogenen Schlosses noch länger ausharren müssen, wenn nicht ein Zufall meine Erlösung beschleunigte.

142 Ich schlief seit meiner Rückkunft von der Akademie nicht mehr an dem aus früherer Zeit gewohnten Orte. Mein neues Schlafcabinet lag einsam am äußersten Ende eines Flügels. Ich mußte jeden Abend mit einem Lichte in der Hand durch die hallenden Gänge, durch einsame Säle und Gallerien zu diesem Zimmer gehen, in dem ich oft von dichter Finsterniß umgeben ankam, weil mir die Zugluft längst die Flamme ausgelöscht hatte. So geschah es, daß ich mich fast jeden Abend in einer gespannten Stimmung der Nerven ins Bett legte, mit der schreckhaften Aussicht, in die unruhigsten Träume zu gerathen.

Die Wände des Zimmers waren unstreitig an dem ganzen Spuk Schuld, der später zum Gerede wurde, und den ich im Grunde selbst unvorsichtigerweise unter die Leute gebracht hatte.

Jene Wände waren mit Malereien überfüllt; es waren Gegenstände aus der heidnischen Götterlehre, bildliche Darstellungen ovidischer Fabeln, die sich in grellen Zügen an ihnen entlang zogen. Während Furcht und Ermüdung mich in einem halbwachen Zustande erhielten, fixirte mein Auge 143 die Riesen und Götter, die greisen Könige und Jungfrauen, die Opferstiere und die blanken Messer, die mich rings umgaben. Die Gegenstände schienen mir von der Tapete sich zu lösen, lebendig zu werden und meinem Lager bedenklich näher zu rücken. Bald war ich von tanzenden, neckenden Gestalten umgaukelt, ich fühlte mich von den eiskalten Händen der jammernden Niobe umfangen, Apollo schoß einen seiner fernhintreffenden Todespfeile auf mich ab, nur ein entsetzlicher Schrei konnte mich von meiner Angst erlösen.

Diese oft wiederkehrende Scene, deren Zusammenhang ich wohl ahnte, den aufgeschreckten, zusammengelaufenen Hausbewohnern aber nicht so mittheilen wollte, brachte den unschuldigen Flügel des Schlosses in den Verdacht des Spukes, mich selbst aber in Berührung mit vielen Sagen und Geschichten, die sich die Neugier und Geheimnißkrämerei zutrugen.

Unser Hausarzt war ein vernünftiger Mann. Er trat eines Morgens zu mir hin, fühlte meinen Puls, sah mir ins glühende Gesicht und sagte mit jener Gelassenheit, die immer eine so schöne 144 Zierde seiner Collegen ist: „Graf Johann, Sie müssen reisen; die Zerstreuung Ihres Geistes muß Ihr Blut verdünnen.“

Ich weinte vor Freuden. Der Magister, dessen ich mich ohne Befehl des Vaters nicht entledigen durfte, rieb sich verklärt die Hände; die Tante packte. In wenigen Stunden war ich auf dem Wege nach Paris.

Mein Herr Vater wollte es so; wenigstens hatte er dem Arzte in diesem Sinne eine Vollmacht gegeben.

III.

Mein Bruder hatte die Verbindung mit der Familie schon längst abgebrochen. Ich erinnerte mich seiner nur sehr dunkel und wußte nicht viel mehr von ihm, als daß er stundenlang stehen konnte, um einen Stoßvogel vom Kirchthurme wegzupfeifen, einen zerbrochenen Wagen wieder herstellen oder den Tornister, den ein heimkehrender, zur Erfrischung eintretender Invalide drau­ßen vor der Schenke abschnallte, – liegen zu sehen. Seine Neigung entschied sich früh für den Soldatenstand, in den er 145 auch beim Ausbruche der Feindseligkeiten zwischen dem Kaiser und der französischen Nation eintrat.

Die zwecklosen Hin- und Herzüge des siebenzigjährigen Prinzen Eugen, der geringe Ernst, mit dem man die Unternehmungen ausführte, waren nicht gemacht, seinen ehrgeizigen Absichten zu entsprechen. Noch vor dem Abschlusse des Wiener Definitivfriedens trat er in französischen Sold, wo er bei dem damaligen friedliebenden Regime des Kardinals Fleury zwar wenig Aussicht auf kriegerische Thätigkeit haben konnte, dennoch aber selbst im Frieden einen großartigen Spielraum gewann. Es war auch bald eine Folge, sowohl seiner wirklichen Verdienste, als seiner achtungswerthen Herkunft, daß er in die nächste Umgebung der französischen Majestät mit einer ansehnlichen Charge versetzt wurde.

Obschon ich seit dieser Zeit in der Heimath seinen Namen nur selten hatte nennen hören, so durfte ich dem brüderlichen Herzen doch einen Empfang zutrauen, der mir wohlthun würde, selbst wenn ich vom Vater keinen Empfehlungsbrief hätte überreichen können.

Ich täuschte mich nicht. Er empfing mich mit 146 ungeheuchelter Freude, sorgte für einen festen Punct in diesem Strudel und Gewoge, das mich in einem hülfloseren Zustande hätte fortreißen müssen, und bot sich mir selbst als nächste Umgebung an, so oft es ihm die Erfüllung seiner Dienstpflichten erlauben würde.

Ich war entzückt. Paris, dieser Brennpunct aller Civilisation der europäischen Welt, Zusammenfluß aller Bestrebungen, die ihren Lohn in dem Beifalle und der Theilnahme der Menge suchen, dieser Schauplatz des ewigen Spiels der Mode, des Vergnügens, der Verschmitztheit, des Lasters, wäre mir anders als ein Räthsel erschienen, dessen Lösung ich mit tausendmaliger Gefahr, betrogen oder verführt zu werden, kaum in einem Jahre zu Stande gebracht hätte. Jetzt hatt’ ich einen Standpunct gewonnen, auf dem ich eben so mit Vergnügen das Getriebe beobachten, als mit Sicherheit an ihm Theil nehmen konnte. Ich schritt mit Wohlbehagen durch meine anmuthig in der Straße de la Bavillerie gelegene Wohnung, musterte die kostbare Verzierung der Zimmer und bedeckte den Bruder mit meinen Küssen.

Die tausend Belästigungen, denen Fremde bei 147 ihrer Ankunft in der Hauptstadt des guten Geschmacks ausgesetzt sind, hatt’ ich glücklich vermieden. Ich war hier, um mich zu unterrichten, nicht um im Genusse unterzugehen. Die wenigen Formalitäten, die ich beim Eintritt in die höhere Gesellschaft zu beobachten hatte, lehrte mich entweder ein gewisser natürlicher Instinct des Schicklichen, oder der gefällige Unterricht meines Bruders, der mich vor der Windbeutelei geschäftiger Dienstanträger warnte.

Wozu sollte ich mir Vorlesungen halten lassen über die Kunst, meine Halsbinde zu legen oder das Haar zu pudern, da mir jenes die Modekupfer am Fenster jedes Galanterieladens, oder in der Mittagsstunde die Elyseischen Felder; dies die Manipulationen meines Perrüquiers zeigen konnten? Wozu bedurfte es der Unterweisung eines Lehrers der Conversation, da ich mir die Kunst, über Nichts sehr viel zu reden, nicht schwer denken konnte? Mußte es mich nicht ein unmittelbares Gefühl lehren, daß es unschicklich sei, wenigstens eine sehr große Indelicatesse verrathe, z. E. eine junge Dame beim Morgenbesuch nach Mr. le mari zu fragen?

Für so viele solcher kleinen Schicklichkeiten ist 148 die gegenwärtige Jugend so unempfänglich geworden, eine Erfahrung, die ich selbst in meinen nächsten Umgebungen mache. Es giebt Verhältnisse, die zwar an sich nicht anstößig sind, weil sie wahr sind, die es aber werden, wenn man sie in ihrer Nacktheit aufdeckt. Würde aber dieser Verrath an der Sitte je eingetreten sein, wenn man mehr auf die Empfänglichkeit, weniger auf die Routine gearbeitet hätte? Der Verfall des gesellschaftlichen Anstandes beginnt, wenn man auf der einen Seite die Differenz der Stände in den vagen Begriff der Gesellschaft auflöst, eine Operation, die dem Staate eben so gefährlich ist, wie den guten Sitten, auf der andern Seite, wenn aus einem Geschenke der Natur eine Aufgabe der Erziehung gemacht wird.

IV.

Der erste Tag meines Aufenthalts in Paris ist zu entscheidend für die spätern Begegnisse desselben, daß ich mich einer umständlichern Schilderung nicht entziehen darf.

Mein Bruder, der gefälligste Cicerone, machte mich auf einem weitläuftigen Spaziergange mit den 149 vorzüglichsten Umrissen des Terrains bekannt. Die rege Geschäftigkeit im Palais Royal, die Gruppen auf den öffentlichen Plätzen, die glänzenden Carossen, die über die Boulevards sprengten, die prachtvollen Gebäude in den Hauptstraßen waren Gegenstände, mit denen ich bald vertraut wurde, und in deren Kenntniß ich um so tiefer eingeweiht ward, je reichhaltigere Memoiren mein Bruder an jede Erscheinung knüpfen konnte.

Ich erfuhr bald, wen man aus der Hinterthür jenes Pallastes schleichen sehe, wenn diese prächtige Equipage vorgefahren wäre. Ich lernte die Geschichte dieses ausgezeichneten Zuges von sechs milchweißen Rossen kennen, und konnte sie bald mit dem gefühlvollen Herzen ihrer Besitzerin in Einklang bringen. Ich wußte, aus wessen Händen jene Papiere kamen, die so eben in das Hotel des Kriegsministers getragen wurden, und konnte die Ungeduld begreifen, mit der die Lakeien verschiedener hoher Häuser draußen warteten. Jene kleine Frau dort, mit dem eiligen Gange, ist meinem Bruder wohl bekannt, sie nickt ihm einen freundlichen Gruß zu und zeigt auf ein Papier, dessen Inhalt mir der Gefällige bald enträthselte.

150 Himmel! welch ein Drängen vor diesem Buchhändlergewölbe!

„Es wird der erste Bogen einer neuen Schrift von Voltaire die Presse verlassen haben,“ sagte mein Bruder, „oder ein Roman von Brebeuf ist erschienen, oder die Anfänge der längstversprochenen Encyclopädie sind angekommen, oder ein Pamphlet auf Madame *) wird ausgeboten. Ich vermuthe das Letztere,“ fügte er lachend hinzu, „denn dort kommt athemlos die Polizei; sie wird der Freude bald ein Ende machen.“

Ein Reisewagen, mit vorzüglichen Pferden bespannt, fuhr in langsamem Zuge vorüber.

„Die Pferde sind königlich,“ erklärte der Bruder.

Er sah in den offenen Schlag hinein. „Aha!“ rief er aus, „dies Fahrzeug ist nach Versailles bestimmt. Jene Alte, mit dem weißen Kissen ist eine Kindermutter aus der Vorstadt St. Martin; sie soll dort einem Kinde, dessen Vater sich aus Bescheidenheit nicht genannt hat, zum Tageslicht behülflich sein; der kleine Herr im Eckwinkel ist der Vertraute 151 des Geschäfts, und wird vermuthlich Pathenstelle vertreten, und jene reizende Kammerzofe ist die Abgesandte der menschenfreundlichen Marquise, die eben so uneigennützig in der Liebe, als verschwenderisch in ihren Wohlthaten ist.“

Inzwischen waren wir in den Tuilerien angekommen.

Mein Bruder hatte die Nacht über die Wache in den innern Gemächern des Schlosses zu beziehen; doch entzog er mir seine gemessene Zeit nicht, sondern nahm mich mit hinauf in den Versammlungssaal der Garden. Erst gegen Mitternacht hatt’ er seinen Posten zu beziehen, der ihm heute gerade bei dem Vorzimmer des Königs zufiel. Die Güte des Bruders und die Zuvorkommenheit seiner Kameraden bestimmten mich, bis zur Stunde der Ablösung bei ihm zu bleiben.

Diesen Entschluß hab’ ich den nächsten Morgen bereut, den Abend des nächsten Tages war ich zweifelhaft, zwei Tage später dacht’ ich mit Entzücken daran.

Die Unterhaltung der versammelten Gardisten war ganz dazu geeignet, mein Selbstgefühl in hohem Grade zu steigern. Ich hatte junge, gebildete 152 Männer vor mir, aus Frankreichs ersten Familien stammend, in alle Verhältnisse der höhern Welt nicht nur eingeweiht, sondern an ihnen betheiligt; dennoch verursachte es mir wenig Mühe, des Gegenstandes ihrer Gespräche mächtig zu werden. Dazu gesellte sich die liebenswürdigste Gefälligkeit, mich über Dinge, die außer dem Bereiche meiner Kenntnisse liegen mußten, sogleich aufzuklären, und eine gewisse Achtung, die man meinen bescheidenen Aeußerungen zollte.

Man sprach von Ereignissen des Tages. „Vor allen Dingen, Herr Graf,“ begann ein junger Mann, dessen gefälliges Benehmen mich besonders ansprach, „müssen Sie wissen, daß die Conversation der Hauptstadt einem Calender gleicht, in dem für jeden Tag ein Heiliger angesetzt ist. Es geht bei uns soviel vor, daß man nie in Verlegenheit geräth, für jeden Tag einen neuen Stoff der Unterhaltung zu finden. Heute ist es die Aufführung einer Oper, morgen die Geschichte einer Tänzerin, die durch ihr Spiel das Publikum, durch ihre Anmuth irgend einen Großen bezaubert, dann die Ernennung eines Ministers, einer Hofdame, die Aeußerung eines Parlamentsmitgliedes, alles Er-153eignisse, die mit ihren Anfängen und Folgen für die Beliebtheit der Salons, die Gespräche in den Boudoirs, ja selbst für den Wachtsaal der Gardisten reichen Unterhaltungsstoff abwerfen. So spricht man seit einigen Stunden von der Tugend und Großmuth der kleinen Marschallin von Mirepoix, die man morgen wird vergessen haben.“ –

„Welches interessante Ereigniß erwähnen Sie da?“ rief ich voller Begierde, mich zu unterrichten, „o, ich habe nie gezweifelt, daß in der nähern Umgebung der Majestät die großen Eigenschaften des Geistes nicht müde sein werden, mit den Vorzügen eines edlen Herzens zu wetteifern!“ –

„Vielleicht erwarten Sie in dieser Geschichte etwas Anderes, als sie in der That enthält,“ entgegnete der Vicomte Monsigny mit einem mehr naiven als ironischen Lächeln; „es ist keine Bettlerhistorie, die sich in der Vorstadt zugetragen hat, keine Pension an einen verhungerten Dichter, keine unverdiente Gnade, die man etwa einer habsüchtigen Stiefmutter erweist, sondern die liebenswürdige Galanterie des Königs, auf dessen unbewachtes Herz die Marschallin einen heftigen Eindruck gemacht hat. Die Kleine hatt’ es in der Hand, Madame das Heft 154 ihres Einflusses zu entreißen; doch zog sie es vor, auf Kosten des Gehorsams, vielleicht auch der Leidenschaft, der Freundschaft ein Opfer zu bringen. Sie zeigte der Marquise die zugesteckten Briefe, und der König hat die Ueberraschung gehabt, die Freundinnen in einer zärtlichen Umarmung anzutreffen.“

Ich bedauerte sehr, daß solche und ähnliche Mittheilungen nur zu oft durch den Schlag der großen, im Saale befindlichen Uhr unterbrochen wurden. Die mir so lieb gewordenen Wortführer mußten dann zum Gewehr eilen und ihre Posten beziehen. Doch fand sich in den Zurückkehrenden immer neuer Ersatz, so daß ich wenigstens den Reiz der Abwechslung im hohen Grade genießen konnte.

Es waren fünf Minuten vor zwölf Uhr, als ich von meinem Bruder Abschied nahm. Er hatte mir den Weg zu meiner Wohnung so genau vorgezeichnet, daß ich durchaus nicht fehlen konnte.

Ich erschrak, daß ich die Straßen schon so leer und ausgestorben fand. Hatten die Pariser heute größere Ausflüge gemacht, als bis zum Bois de Boulogne? hatten die Fontainen in Versailles gesprungen? oder hatte man sich darum früh zur Ruhe 155 gelegt, weil man morgen die Sonne vom Montmartre wollte aufgehen sehen, oder nach Neuilly wandern, wo vielleicht schon die Veilchen blühten?

Ich kam in die Nähe des Palais Royal. Alles still und unbelebt an einem Orte, auf dem man vor wenigen Viertelstunden noch Gefahr lief, sein Gehör zu verlieren. Hier vor dieser kläglichen Bretter­bude lärmte eine Trommel, vor der dort drüben der heisere Ton einer Trompete: zwei Lustigmacher bemühten sich, die quacksalbernden Fertigkeiten ihrer Prinzipale anzupreisen, von denen der Eine eine Universaltinctur zu haben, der Andere Blödsichtige, Harthörige, Kröpfige im Nu zu heilen vorgab. Dort schrie man den Anfang einer Hundekomödie aus, weiter oben waren Affen, hier links hölzerne Puppen des Acteurs. Auch die Wachsfiguren hatten sich schon zur Ruhe begeben. Nichts war mehr zu sehen. Ich mußte einen Theil meines Weges durch die Straße Quincampoix nehmen. Ich zitterte, als ich diese aus den Zeiten der Regentschaft so berüchtigte Gegend betrat. Ich war auf dem Schauplatz jedes Verbrechens, das nur im Gefolge der Spielsucht und der Verzweiflung über Verlust 156 auftreten kann, gerathen. Mein Haar sträubte sich bei dem Gedanken, an einem Orte zu sein, der oft vom Blut des Meuchelmordes getränkt worden ist.

Nicht lange, so war mein Entsetzen gerechtfertigt. Ich bemerkte, wie mir zwei verhüllte Gestalten in einer sehr gemessenen Nähe nachschlichen. Sie verdreifachten ihre Schritte, als ich die meinen verdoppelte. So eben hatte ich die Achtung vor der Nähe des Herzoglich Orleansschen Hauses so sehr aufgegeben, daß ich keinen Anstand nahm, einen fürchterlichen Schrei auszustoßen, als ich mich von den Bösewichtern angegriffen fühlte. Ich mochte einige Secunden mit ihnen gerungen haben, als sie mich zu Boden warfen und davon liefen; die Scharwache kam herbeigeeilt. Glücklicherweise haschte sie das eine der Ungeheuer, bat sich meinen Namen und Wohnort, die ich mehr stammelnd als redend angeben konnte, aus und überließ mich meinem Schrecken und meinem Heile, das ich in einer eiligen Flucht suchte.

Ich warf mich fiebernd auf mein sicheres Lager.

157 V.

Es ist Schade um meinen Magister, daß sein Scharfsinn nicht zu einer edlern Seele gesellt ist. Ich erzählt’ ihm am nächsten Morgen mein nächtliches Abentheuer, und erstaunte über den Weg, den er zur Aufklärung desselben einschlug.

„Wie?“ sagte er listig, „Sie zweifeln noch, daß es sich hier um keine Straßengaunerei, sondern um eine schurkische Intrigue handelt? Sagen Sie nicht selbst, die Banditen seien unbewaffnet gewesen? Hätten sie eine Pistole gehabt, und wäre sie auch ungeladen gewesen, so würd’ ich auf den beabsichtigten Inhalt Ihrer Börse schließen; hätten sie ein Stilet gezeigt, so würde ich –“

„Mein Gott!“ fiel ich ein, „Herr Magister, warum malen Sie eine Scene aus, die durch Gottes gnädige Fügung vereitelt worden ist!“ –

„Ich setze ja nur die möglichen Fälle,“ sagte Jener heuchlerisch, „und danke dem Herrn, daß er Sie unter seinem Flügel so wunderbar geschirmt hat. Ich lebe jedoch der Ueberzeugung, daß Sie ohne Ihr Verschulden in ein abentheuerliches Verhältniß 158 verwickelt sind, dessen Anfang wenigstens auf keine erfreulichen Folgen schließen läßt.“

Fast mechanisch kleidete ich mich an.

Während sich meine Combinationen in tausend Möglichkeiten erschöpften, erzählte mir mein Mentor die ersten Gefühle, die der Aufenthalt in Paris in ihm erweckt hatte, ohne daß ich viel darauf hinhörte. Dies begriff ich wohl, daß seine Pedanterie wieder in einen Kampf mit seiner angebornen Neigung gerathen war. In der Heimath hatte er zwar die neuern Erscheinungen der französischen Literatur mit Eifer studirt, dennoch stets ihre Frivolität verdammt, und eine Achtung vor der Sitte, der Religion, den bestehenden Formen der Gesellschaft affectirt, die mir angeboren war. Jetzt mitten in den Brütofen jener gefährlichen Weisheit versetzt, war er in Verlegenheit, ob er dem unreinen Zuge seines Herzens, oder dem Zwange seiner falschen Verstellung folgen sollte. Es interessirte mich zuletzt, wie er in diesem Schaukelsystem eben so mich, als sich selbst zu täuschen suchte, und wie tief ich es doch durchschaut hatte.

Endlich störte ihn in seinen Monologen, denen er beständig die Form einer mir gewidmeten Unter-159weisung gab, ein starkes Geräusch vor der Thür. Wir vernahmen, daß Jemand die Treppe heraufstürmte, nicht lange zwischen den vielen Thüren wählte, sondern eilend an die unsrige trat. Sie wurde rasch geöffnet und ein junger Mann von militärischer Haltung, schöner noch, als ich sie im Wachtsaale gesehen hatte, fiel mir um den Hals und nannte mich seinen Freund und Wohlthäter.

„Wie soll ich Ihnen die Fülle meiner Dankbarkeit zu erkennen geben!“ rief er begeistert aus. „Sie sind dem Unangenehmsten ausgesetzt gewesen, um mich aus einer Verlegenheit zu reißen, die sich empfindlich an mir hätte rächen können.“

Ich erstaunte nicht wenig, als ich die Veranlassung dieser stürmischen Bewillkommung erfuhr. Der nächtliche Ueberfall hatte nicht mir, sondern dem jungen Herrn von Vieuxpiat, den ich vor mir hatte, gegolten.

Herr von Vieuxpiat war Capitain in einem Regimente, das dreißig Stunden von Paris in Beauvais stand. Seine Liebe zu dem reizenden Fräulein d’Aubigny zog ihn öfter nach Paris, als er vom Befehlshaber seines Regiments Urlaub erwarten konnte. Obschon glücklich in seinen Bewer-160bungen, hatte er dennoch die Intriguen eines Nebenbuhlers zu fürchten, von dessen Liebenswürdigkeit zwar wenig, von seiner Macht aber Alles zu erwarten stand.

„Ich unterlasse es,“ sagte der junge Herr von Vieuxpiat, den ich bei jedem Worte seiner hastigen Erzählung mehr liebgewann, „Ihnen den Namen meines Gegners zu nennen. Sein Stand, seine Hülfsmittel sind für mich unerreichbar, so daß ich weder eine Genugthuung von ihm erhalten kann, noch seine Maßregeln immer unschädlich machen. Er weiß mich seit gestern in Paris. Weil er meine Gegenwart am meisten fürchtet, so sucht er jedes Mittel, sich ihrer zu entledigen. Ich verließ meine Compagnie ohne Urlaub, und wenn ich gleich die leichte Strafe der Entdeckung nicht fürchte, so würd’ ich doch dann längere Zeit die Hauptstadt meiden müssen, eine Combination, die mein gefährlicher Feind zu seinem Besten benutzen will. Der Ueberfall, dem Sie gestern durch einen Mißgriff ausgesetzt waren, sollte nur dazu dienen, mich mit der Polizei in Berührung zu bringen, meinen Aufenthalt zu verrathen und mir eine militairische Strafe zuzuziehen. Ich kam so eben aus dem Hause mei-161ner Braut, als ich Ihren Hülferuf hörte. Sie waren schon befreit, als die verworrene Aussage eines der Gefangenen meine Vermuthung bestätigte. Ich hatte nichts Eiligeres zu thun, als Sie meiner Theilnahme, meines Danks und meiner dauernden Freundschaft zu versichern. Fräulein d’Aubigny erwartet Sie mit Sehnsucht, um hinter meinen Versicherungen nicht zurückzubleiben. Jetzt werfe ich mich auf mein schnellstes Roß, das mich in zehn Stunden nach Beauvais trägt. Einer meiner ersten Briefe ist an Sie gerichtet.“

Damit umarmte er mich noch einmal mit solcher Heftigkeit, daß mir die Thränen in die Augen stiegen. Bald sah ich ihn über die Straßen eilen; in einem Augenblick war er verschwun-den.

Es war wohl zweierlei, was mir für die unangenehme Nachricht, die Wege eines unstreitig sehr einflußreichen Großen gestört zu haben, Ersatz gewährte, der Besitz eines Freundes, an dessen aufrichtigen Gesinnungen ich nicht zweifeln durfte, da ich nie die Erfahrung eines so tief gefühlten Dankes gemacht hatte; außerdem aber auch eine gewisse Genugthuung vor meinem arroganten Magister, in 162 dessen Gegenwart ich zum ersten Male als eine vollkommen unabhängige Person erschienen war. Sein Lächeln war unstreitig nur verbissener Aerger.

Ich muß gestehen, daß ich mich recht zufrieden fühlte.

VI.

Es währte nicht lange, so hatt’ ich eine Einladung zum Herrn d’Aubigny erhalten.

Mein Bruder wünschte mir Glück zu einer so glänzenden Bekanntschaft, denn ich hatte die Erlaubniß, ein Haus zu betreten, in welchem sich die Liebe zum Glanz mit dem Vermögen, sie auf das Lebhafteste zu nähren, vereinigte.

Herr d’Aubigny, großmüthiger Verächter von Ehrenstellen und leeren Titeln, verstand den Werth seines weitläuftigen Länderbesitzes zu benutzen und seine Reichthümer durch einen uneigennützigen und glänzenden Aufwand zu schätzen. Sein Haus stand Jedem offen, der entweder den Werth einer feinern gesellschaftlichen Unterhaltung zu würdigen, oder diese selbst durch seinen Geist, seine Kenntnisse, seine Erfahrungen zu beleben wußte.

Ich hatte kaum die ersten Zimmer dieses ge-163schmack­vollen Hotels betreten, als mir der Besitzer entgegenkam, mich mit natürlicher Herzlichkeit in seine Arme schloß und eine Reihe von Danksagungen eröffnete, die von seiner reizenden Tochter mit derselben Wahrheit geschlossen wurde.

In dem Salon traf ich eine ausgewählte Gesellschaft, die in einer sehr lebhaften Unterhaltung begriffen schien.

„Sie wissen vielleicht noch nicht, Herr Graf,“ begann Fräulein d’Aubigny, „daß jene fatalen Nebel, die heute der Sonne den Durchgang streitig machen, einen Trauerflor bedeuten, in den sich Paris in seinem Schmerze gehüllt hat?“ –

„Die Geschichte des gestrigen Abends,“ ergänzte der Vater, „bezeichnet außer Ihrem Unfalle noch ein anderer Act der Unmenschlichkeit. Der liebenswürdige Prinz Eduard *) ist gestern in der Oper überfallen worden und von seinen Feinden nach Vincennes geschleppt.“ –

„Darf ich meinen Ohren trauen!“ rief ich ent-164rüstet, „jener unglückliche Fürst, der von dem Schlachtfelde bei Culloden nach Frankreich eilte, um hier ein Asyl zu finden?“

„Nichts anders,“ antwortete eine große, hagere Figur, in der man mir den Dichter Desforges vorstellte; „dieser Prinz, dessen unglücklichen Vorfahren Louis der Große einen dauernden Schutz gewährt hat, wird vor den Augen desselben Volkes, das ihn früher mit seinen Liebkosungen erdrückte, von den Garden des Königs ergriffen und aus Frankreich verwiesen.“

Ich erschrak über eine in der französischen Geschichte unerhörte Behandlung, und konnte die Fragen nicht unterdrücken: „Wer ist es, der hier gesiegt hat? die Intrigue? die Autorität der englischen Nation? die Unmenschlichkeit?“

Mir selbst kamen diese übereilten Fragen unüberlegt vor. Ich war so unvorsichtig gewesen, die Veranlassung zu einer Menge Beschuldigungen zu geben, die im Saale wieder­hallten. Ein ältlicher Herr, dessen Ernst und Würde mir die tiefste Verehrung einflößte, obschon mich seine kecke Zunge in Verlegenheit setzte, rief aus: „Es ist erklärlich, daß Besiegte 165 die Anmaßung haben, ihren Siegern Gesetze vor­zuschreiben, aber empörend, wenn diese bereit sind, sie zu erfüllen. Der Sieger von Fontenay, ein König, den die Nation mit dem Namen des Vielgeliebten begrüßte, beordert seine glorreichen Garden, diesen Befehl zu vollstrecken, der uns zu Sclaven des gedemüthigten Cabinets von St. James macht! Kann, ich will nicht sagen der Beleidigte an Frankreichs Macht keinen Rächer, wenigstens der Verfolgte an seiner Großmuth keinen Schützer mehr finden? Während die stolzen Erklärungen, mit denen Jacob II., der König Stanislaus und selbst dieser jüngste Flüchtling von uns empfangen wurden, noch aus keines Franzosen Gedächtnisse verwischt sind, spricht der Meineid der ruhmvollen Erinnerung, die Schwäche dem stolzen Bewußtsein eines Siegers Hohn.“

Während ich noch schwankte, ob ich an dieser rücksichtslosen Apostrophe die Redekunst eines alten Römers, oder die Hartnäckigkeit eines Parlamentsgliedes, oder gar die Irrthümer eines Jansenisten erkennen sollte, wurden die Flügelthüren stürmisch geöffnet, und ein kleiner Mann von jenem zwei-166deutigen Aussehen, daß man nicht weiß, ob man es jung oder alt nennen soll, trat mit hastigem Schritte ein.

Es war der Abbé du Pin, die personificirte Fama von Paris, ein Katalog aller Neuigkeiten, ein Register aller Namen, die nur in das Interesse des Tages verwickelt sein konnten.

„Sie wissen Alle,“ rief er mit vielen Verbeugungen, „daß ich über Für und Wider erhaben bin, daß ich an jedem Dinge nur das Interesse habe, es zu wissen und die vollkommenste Genugthuung in meiner Neutralität finde. Die öffentliche Meinung gährt in diesem Augenblicke, wie ein aufgeregtes Meer – die Ursache erfuhren Sie längst – und die aufspritzenden Schäume sind mehrere beißende Spottgedichte, die ich im Fluge glücklich erhascht habe. Ueberzeugen Sie sich: die Reime sind vorzüglich rein, die Silben sind nirgends verzählt, die Anspielungen sind passend und geistreich. Wie ich schon sagte und wie ganz Paris weiß, für den Inhalt steh’ ich nicht. Ich fürchte, die Polizei folgt mir schon auf dem Fuße; sie hat nicht Unrecht. Warum? ich bin ein wandernder Buchladen.“

Bei diesen Worten sah man ihn schon nicht 167 mehr. Er hatte, während er sprach, mehrere kleine Blätter an die Gesellschaft ausgetheilt, nahm ihren freundlichsten Dank und entfernte sich so schnell, als er gekommen war.

Es war nicht zu läugnen, ich hatte ein Pamphlet in meiner Hand. Obschon ich von der Polizei, deren Erwähnung mit furchtlosem Lachen aufgenommen wurde, nichts besorgte, so war mir dieser Besitz doch so peinlich, als hätte man mir falsche Banknoten zugesteckt. Zum Glück war in diesem Augenblicke Alles mit Lesen beschäftigt, so daß man meine Verlegenheit nicht bemerkte. Wie unerträglich für mich, wenn hier oder dort Einer in lautes Lachen ausbrach, mit den Händen klatschte, und von den Uebrigen gefragt wurde, was es gäbe? worin der Witz, die Anspielung, die Bosheit stäke? Ja, um meine Leiden voll zu machen, kam man überein, Jeder solle sein Blatt vorlesen, wo denn auch mich die Reihe treffen mußte. Welche dreiste Wendungen in diesen Ergüssen der Leidenschaft! Wie herb, wie grausam war Alles auf die Spitze gestellt! Wie bitter ergoß sich die Quelle des Unmuths selbst auf Dinge, die gar nicht mit dem vorliegenden Falle in Berührung standen!

168 Eine der gelindesten Invectiven war noch die, welche Fräulein d’Aubigny vorzutragen hatte. Sie hielt sich, wie billig, an das Unglück des Fürsten, an die Theilnahme des Pariser Publikums und schloß mit dem schönen Troste:

Du tems braveras les fureurs,
Si tu n’as pas une couronne,
L’univers entier te la donne:
Ton empire est dans tous les coeurs.

Eben so wahr, wenigstens in einer eben so friedliebenden Phrase, hieß es in einem andern Gedichte, daß die Achtung der Welt wohl Ersatz sein könne für das Scepter von England; denn jener könne er nie beraubt werden, weil er sie sich selbst erworben habe.

Furchtbar aber waren die Aeußerungen, die in den heroischen Versen, welche der Herr des Hauses selbst las, vorkamen. „Darf man das Blut Heinrichs IV. einem Braunschweig opfern?“ schrie der Pasquillant. „Ludwig, du nennst dich Schirmherr der Könige; bist du es, wenn du sie verräthst? Wenn du dich einst für des Unglücklichen Stütze ausgabst, so mußtest du ihn auf den Thron 169 erheben, oder mit ihm fallen.“ Der Verwegene machte dann einen Uebergang von der Schwäche des Königs zu dem Einflusse der Marquise, und rief mit entsetzlicher Dreistigkeit aus: „Schöne Agnes Sorel, du bist nicht mehr! Du hättest einen König verachtet, der in dem Schoß der Schande schläft. Und du, feiger Minister, (der verdienstvolle Herr d’Argenson war gemeint), verkauftest die Ehre deines Vaterlandes und einen Prinzen, den wir anbeten, dem Hause Braunschweig!“

Den Schluß dieses Libells, an dem die schöne Kunst des Verses zu der Schande einer solchen Anwendung gekommen war, hört’ ich nicht, weil mich jetzt das Loos des Vorlesens treffen mußte.

Ich habe von Natur eine kräftige Stimme, weil ich immer laut studirte und mit meiner Tante viel Declamirübungen trieb. So mag es gekommen sein, daß sich, während mein Inneres vor Zaghaftigkeit bebte, der Ton meiner Stimme so kühn anhörte, als sei er der Ausdruck desselben Unwillens, der in meinen Alexandrinern kochte.

Ich hatte kaum die Vorlesung mit der nichtswürdigen Anrede beendet: „Chèr prince, wenn du auf dem Throne sitzest, so erinnere dich, daß ein 170 stolzes Volk nie einen trägen Fant mit dem Namen eines großen Mannes geehrt hat, mag man nun in Rom oder in Frankreich sein!“ als sich die unangenehmen Folgen jener Verwechselung deutlich zu erkennen gaben. Denn war diese nicht der Grund, warum sich mehrere der Herren an mich anschlossen, und mir deutlich zu verstehen gaben, wo sie die Uebel Frankreichs versteckt glaubten?

Konnte es anders als im Irrthume geschehen, daß der Dichter Desforges an der Tafel zu meiner Linken placirt wurde, recht, um mich über die Lage der öffentlichen Verhältnisse aufzuklären? Man sprach über Tisch nur von mißlungenen Finanzoperationen, von den Zurücksetzungen des Parlaments, von den Zwistigkeiten, die den Clerus und die Regierung trennten, beschuldigte die Minister des Königs der Gewaltthätigkeit, bezeichnete den König selbst, namentlich in den geistlichen Sachen, als unschlüssig und versteckt.

Nach endlich aufgehobener Tafel verließ mich der lange Dichter noch nicht. Er begleitete mich zu meiner Hausthüre, weil er behauptete, sie läge dicht an der seinigen. Ich versuchte es, den unendlichen Faden des Gesprächs abzuschneiden, ihn auf ange-171nehmere Gegenstände zu bringen; es gelang mir nur zum Theil. Während er zwar meinen Fragen bereitwillig Rede stand, unterließ er doch nie, an Allem seine mehr dichterische, als philosophische Ungeduld auszulassen. „Diese Tem­pel,“ sagte er, „diese Paläste sieht das getäuschte Auge mit Rosenkränzen behangen; doch sind es klirrende Sclavenketten.“

Herr Desforges hatte kaum das ominöse letzte Wort ausgesprochen, als ein junger Mann athemlos auf uns zueilte, den Dichter bewegt bei der Hand faßte und ausrief:

„O, meine Ahnung hat mich nicht getäuscht! Deine Verse haben Dich verrathen: Du bist als der Verfasser der Epistel an den König der Gallier erkannt; lies diesen Brief, es ist nichts als ein Verhaftsbefehl.“

Die Vermuthung war nicht übereilt. Herr Desforges hatte eine lettre de cachet in der Hand. Eines der fürchterlichsten Gefängnisse, die kleinen Stuben auf dem Mont Saint-Michel, in denen man weder der Länge nach liegen, noch der Höhe nach aufrecht stehen konnte (und Herr Desforges war so groß!) hatte ihm die hart strafende Gerechtigkeit angewiesen.

172 Der Unglückliche umarmte mich mit einem schmerzvollen Blicke und überließ mich meinem sprachlosen Entsetzen; denn ich war es gewesen, der seine Epistel im Saale des Herrn d’Aubigny vorgelesen und in den Ausdruck des Vortrages so viel Wärme und Ueberzeugung gelegt hatte.

VII.

Nach einigen Tagen blieb mir über den Magister kein Zweifel mehr: er war unter die Freigeister gegangen.

Während ich betrübt durch die Straßen von Paris lief, oder die Reise um die Barrieren machte, mein Geschick anklagend, das mich in meiner ersten Bekanntschaft so viel widrige Elemente antreffen ließ; während ich ungeduldig auf eine Gelegenheit harrte, jene Cirkel zu betreten, in denen nur die feinere, den Triumph der Sitte, der Mode, der Tagsgeschichte verherrlichende Unterhaltung zugelassen wurde, hatte der Abtrünnige schon sein Ziel erreicht.

Bei jeder Morgentoilette sah ich ihn zunehmen an äußerm Anstande, an Liebe zur Reinlichkeit, 173 einer Tugend, die ihm früher unbekannt war. Wer hätte in dieser gefälligen Haltung den schmutzigen Cyniker erkannt, der auf unsern Gütern in der Heimath nichts wußte als Tabakrauchen, die Pfarrer der Umgegend besuchen, ihren Frauen Unlast machen und gegen seinen Zögling Gelehrsamkeit und Frömmigkeit affectiren! Die heuchlerische Listigkeit seines grauen Auges hatte sich in den interessanten Ausdruck eines geistreichen Wesens verwandelt. Je weniger er mit mir sprach, desto mehr mußte ich annehmen, bewege sich seine Zunge in der Gesellschaft.

Wie erstaunte ich, als ich eines Abends auf meinem Schreibpulte einen Brief entdeckte, den er an mich zurückgelassen hatte. Er schrieb mir ohne Rückhalt, daß ihn die Sorge für seine Zukunft bestimme, eine freie, unabhängige Stellung zu gewinnen. Es sei ihm gelungen, die Aufmerksamkeit einiger gelehrten Männer auf sich zu ziehen, denen er Protectionen verdanke, die für die Richtung seines Lebens entscheidend sein dürften. Er könne zwar den Gedanken noch nicht fassen, sich von Verhältnissen loszureißen, die ewig in ihm eben so dankbare als wehmüthige Erinnerungen wecken wür-174den; es schmerze ihn tief, aus der Nähe eines geliebten –

Hier mußte ich innehalten, meine Augen verdunkelten sich, die heißen Thränen rollten auf die Züge dieser Hand, die ich einst fürchtete, und die ich jetzt, wie gerne! noch einmal geküßt hätte.

Es war nicht blos das Gefühl des Verlassenseins, was mich übermannte, sondern in der That die gestörte Gewöhnung an einen Begleiter, der, so lästig er mir zuweilen war, dennoch das einzige Vermächtniß aus den einsamen Tagen meiner Kindheit blieb. Mein Bruder war überhäuft mit den Pflichten seines Dienstes, er konnte mir nur wenige Stunden weihen. So anziehend für mich die Freundschaft des Herrn d’Aubigny war, so wagte ich doch sein gefährliches Haus nicht sobald wieder zu betreten. Den Capitain von Vieuxpiat trennte ein weiter Raum von mir – wo war nun jenes unerschütterliche Fundament meines Pariser Aufenthalts geblieben? Dazu gesellte sich die Sehnsucht nach einem Orte, wo ich den Schauplatz der freien Spiele des Geistes und der streng höfischen Sitten antreffen würde. Mit einem Worte, ich mußte gestehen, daß ich jede Hoffnung nur auf die Ci-175vilisation meines Magisters setzen durfte. Er hatte mir am Schlusse des Briefs seine Wohnung angezeigt; ich beschloß, ihn am nächsten Morgen zu besuchen.

In der Straße St. Thomas angelangt, forschte ich erwartungsvoll nach der angegebenen Hausnummer. Ich mochte meinen Augen nicht trauen, als ich sie auf einem Hause fand, unter dessen Bewohnern ich eher einen Generalpächter der Steuern, oder einen Intendanten des Hofes, als meinen Plebejer gesucht hätte. Ein Thürsteher wies mich in den zweiten Stock. Dort um meinen Namen gebeten, flog mir rauschend die Thür auf. Ich durchschritt einen anmuthig decorirten Salon und stand endlich verwundert vor meinem Erzieher.

In seiner glanzvollen Umgebung, in seinem geschmackvollen Negligé, ja selbst in der gefälligen Würde seines Benehmens hätt’ ich ihn kaum wieder erkannt. „Sie sind überrascht von dieser plötzlichen Metamorphose, Herr Graf,“ sagte er lachend; „doch soll Ihnen nichts unerklärt bleiben. Bei Gott, ich bin nicht so eitel, etwa sagen zu wollen: aufgemerkt, das sind die Erfolge, die die Bemühungen des Talents krönen! Umgekehrt, ich verdanke diesen 176 Wechsel nur meiner angebornen Unerschrockenheit und Geschicklichkeit, die mich zum Herrn des Augenblicks machte. Sie trafen mich so eben am Schreibpult; es ist die Feder, mit der ich meine neue Lebensbahn verfolge. Sie wissen, wie vertraut ich mit dem Gange der französischen Literatur schon in Deutschland war. Die Grundsätze, die sie aufstellte, schienen mir damals verwerflich; wie war es anders möglich, wenn man ein Excerpt aus den sechs Quartanten der mosheimschen Moral herausgegeben hat! Noch mehr der kleine beschränkte Kreis der äußern Anschauungen, in dem ich von meiner Jugend an lebte, die Stille, die uns Beide wie ein Räthsel überspann, die Entfernung vom lebendigen Verkehr der Geister, das Alles konnte nur beitragen, jene düstern Bilder des Lebens, wie sie ein leicht reizbares Gemüth schon von Natur hat, vollends ins Graue zu malen. Wie konnt’ ich gewisse Vorurtheile angreifen, ohne den schädlichen Einfluß zu kennen, den sie auf das menschliche Gemüth haben? Wie konnt’ ich von den Grenzen der menschlichen Erkenntnisse sprechen, ohne ihre Anfänge untersucht zu haben? Ihnen, Herr Graf, verdanke ich den Aufenthalt in der Hauptstadt der Welt. Paris 177 ist das große Herz, an dessen pulsirenden Schlägen sich die Bedürfnisse, die Hoffnungen der Menschheit erkennen lassen. Hier sieht man die Forschungen der Gelehrten im Einklange mit den Erscheinungen des Lebens. Was ich in den Schriften eines Voltaire, Rousseau, Condorcet, in jenen vorzüglichen Piecen, deren Verfasser sich zur Zeit noch nicht genannt haben, weil sie den Sturz des Despotismus und der Priesterschaft mit dem des Aberglaubens abwarten, für die lächerliche Ungeduld eines gelangweilten Eremiten gehalten habe, was mir nur als Sucht nach Originalität, als die Caprice eines forcirten Genies erschienen war, das bezeugte mir jede Minute, die ich in Paris verlebe, als den Willen eines souveränen Volks, als das Decret der entfesselten, allgemeinen Vernunft.“

Mich schauderte; denn der Atheismus hatte auf dem Sopha neben mir Platz genommen. Unstreitig hielt der Magister den Menschen für eine Maschine; was bürgte mir, daß er noch an die Fortdauer der Seele glaubte?

Um jedoch etwas zu sagen, fragt’ ich ihn, auf den milchweißen Briefbogen auf dem Schreibtische 178 und die eingetauchte Feder zeigend, in welcher Arbeit ich ihn gestört habe?

„Warum soll ich geheimnißvoll thun?“ sagt’ er scherzend. „Sie trafen mich in einer Correspondenz an eine deutsche Fürstin, deren Namen ich freilich verschweigen muß. Es geschehen hier tausend Dinge, deren Echo noch die eintönigen, stillen Höfe der deutschen Fürsten beleben kann. Ich bin überall, wo es das Ansehn hat, als könne etwas Gewichtiges oder auch nur etwas Schönes gesagt, etwas Merkwürdiges gethan werden. Mein Portefeuille ist unerschöpflich in Neuigkeiten, denen ich in solchen Berichtschreiben eine Form, einen Zusammenhang gebe. Ja, es fehlt mir nicht an Verbindungen, durch die ich zur Kenntniß von Angelegenheiten komme, die entweder nie, oder doch erst nach Verlauf mehrerer Tage öffentlich werden dürfen: Empfehlung genug für eine Fürstin, die sich nach einer Unterbrechung ihrer trägen Unterhaltung sehnt. Was ich in diesem Augenblicke dem harrenden Papiere anvertraue, damit entzückt die Gnädige nach fünf Tagen ihre lauschende Umgebung.“

Mir schwindelten die Sinne. Welche Mischung 179 von anziehenden und abstoßenden Elementen in diesem Menschen! Ich mochte nicht begreifen, wie man nicht mehr an Vorsehung und Unsterblichkeit glauben, und dennoch in so achtungswerthen Beziehungen stehen konnte.

Mit einer recht artigen Wendung sagt’ ich zu ihm: „Bei allem Glück, wie unglücklich sind Sie doch! Eine Last, die Ihnen Ihre Vergangenheit so verbittert hat, ist Ihnen noch nicht ganz abgenommen. Sie sehen in mir noch immer den unkundigen Telemach, der seines Mentors nicht entbehren kann. Darf ich auf Ihre Empfehlung hoffen, um in jene Cirkel treten zu dürfen, die sich Ihren Talenten geöffnet haben?“

„Welche Frage!“ erwiederte er gefällig. „Sie begleiten mich den Abend in die geistreiche Gesellschaft, die sich um Lady Aber­krombie versammelt. Sie ist eine begeisterte Freundin des Pariser Lebens, sie wird angebetet vom Herzoge von Richelieu, daher ihre Anhänglichkeit an die Seinestadt. Gegen Nacht führe ich Sie an einen andern Ort. – Nein, um Ihre Neugier zu spannen, Ihre Ueberraschung zu vermehren, sollen Sie an der Stelle selbst erst erfahren, wo Sie sind.“

180 Er sagte dies so unbefangen, daß ich keinem Verdachte Raum geben konnte. Gegen acht Uhr versprach er, mich abzuholen.

VIII.

Der Entpuppte hielt Wort.

Noch auf der Treppe im Hause der Lady sagte er: „An eine persönliche Vorstellung ist nicht zu denken. Eine leichte Begrüßung der Wirthin genügt.“ Daran erkannt’ ich den Ton eines feinen Cirkels, einen Sprößling des Samens, den das goldene Zeitalter Ludwigs XIV. mit seinen edlen Rücksichten in die Sitten der Gesellschaft gelegt hat.

Als uns die blendenden Kerzen des Salons entgegenstrahlten, erstaunt’ ich, die zahlreiche Versammlung stumm und gebannt sitzen zu sehen.

„Eine Vorlesung,“ flüsterte mein Führer.

Wir ließen uns auf ein seidenes Canape nieder und strengten unsere Combinationsgabe an, aus dem Folgenden den Inhalt des versäumten Anfangs zu entnehmen. „Himmel!“ raunte mir der Unterrichtete zu, „wen halten Sie für den Vorleser? Es sind Se. Königliche Hoheit der Herzog von 181 Orleans. Also ist es doch begründet! Seit einigen Tagen schon geht das Gerücht –“

Ein schallendes Gelächter tönte durch den Saal; man beklatschte eine witzige Stelle. „Sie sehen,“ fuhr mein Interpret fort, „es ist eine Komödie; der Herzog hat sie selbst verfaßt und keinen Cirkel für ein würdigeres Auditorium gehalten, als den der Lady, von der man übrigens behauptet –“ –

„Still!“ sagt’ ich, indem ich dem Vorlauten den Mund zuhielt; „keine Verläumdung! Hören Sie lieber diese ergreifende Abschiedsscene!“

Es war nicht blos das Interesse an dem Stück, dessen Fabel ich schon früher irgendwo gelesen hatte, was mir eine weitere Störung unerträglich machte: mich bestürmten in diesem Augenblick andere Gedanken, deren Andrang ich nicht zurückhalten konnte.

„Wie? dacht’ ich, Paris ist so groß, und dennoch hält es so schwer, sich auszuweichen! Warum bist du seit jenem gefahrvollen Abende nie mehr im Palais Royal gewesen? Warum hast du einen Umweg von vier Straßen gemacht, um an den Pont-Neuf, von sechs, um in die Tuilerien zu gelangen? Mein Bruder hatte mir nicht verschwiegen, der Nebenbuhler des Herrn von Vieuxpiat sei stadt-182bekannt der Herzog. Es ließ sich nicht läugnen, daß ich dem Fürsten unangenehm war; mein Name mußte ihm bekannt geworden sein. Was stellte mich vor seiner Rache sicher?

Plötzlich sah ich wieder alle Hände in Bewegung. Die Spiegelgläser, das leichte Fußgetäfel, die Vorhänge zitterten bei dem Sturme der Lobeserhebungen. „Man sucht bei Molière eine solche Scene vergeblich!“ rief eine Dame, in der ich die Herrin des Hauses kennen lernte.

Das Stück war noch nicht zu Ende, ich hatte also noch Zeit, mich zu sammeln. Sollte Herr von Vieuxpiat sich geirrt haben? träumte ich weiter. Gott! Warum schreibt er mir nicht? Es ist nicht möglich, daß ein geistreicher Fürst in diesem Grade seine Macht mißbrauchen sollte! Was kann gefühlvoller sein, als dieser Monolog, den er so eben einem entsagenden Mädchen in den Mund legt! Wie großmüthig diese Schlußscene, in der die nicht geliebte Heldin des Stücks ihre Rechte der so wahr geschilderten Ninon abtritt!

Jetzt war die Vorlesung beendet. Man erschöpfte sich in Lobpreisungen, in die ich schüchtern einstimmte. Die Anlage, die Ausführung, die Be-183nutzung des bekannten Stoffes, wurden einstimmig gelobt. Eine gewiß seltene Erscheinung, daß die Schöngeister nicht verschieden urtheilten und die Frauen keinen Widerspruch wußten.

„Ich war so unglücklich, nur die zwei letzten Acte zu hören,“ rief mein Führer; „dennoch ist die Ordnung des Stückes, die Intrigue so fein gehalten, daß man von den Resultaten der Handlung ihre Voraussetzungen unmittelbar abstrahirt.“ –

„Und hätten Sie nichts davon gehört,“ flüsterte dem Enthusiasten eine Stimme zu, daß ich es deutlich vernahm, „Sie hätten den Inhalt doch gewußt, weil es sich um ein trauriges Nichts handelt.“

Wer konnte dieser gemüthlose Kritiker anders sein, als der Abbé Bernis, der witzige Freund der Marquise? Lachend drückte mein Magister dem kleinen Satyr die Hand, wie einem alten Bekannten.

„Sehen Sie nur,“ sagte, zu diesen Beiden gewandt, der junge Herr Cazotte, aus dessen liebenswürdigen naiven Novellen man auf keinen so sarkastischen Charakter, noch weniger auf seine spätern cabbalistischen Träumereien hätte schließen sollen. „Sehen Sie nur, wie verlegen den guten Orleans die Fülle von Geist macht, die man ihm zutraut!“

184 Das Factum war richtig. Es schien mir von dem Herzoge Bescheidenheit, daß er nur einsilbige Antworten gab, zerstreut mit den Damen sprach und an seinen Kleidern zupfte. Er bewegte zuweilen die Lippen, richtete den Kopf hoch und wollte offenbar der Gesellschaft etwas sagen. Dank für den Beifall konnte es nicht sein; denn jener wäre diesem zu spät gefolgt. War es ihm zuwider, daß jeder antichambrirende Belletrist über seine Erzeugnisse sich zum Richter aufwarf? Unmöglich; warum las er sie an einem Orte, wo der dritte Mann etwas hatte drucken lassen?

Die Unruhe des Herzogs zog bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, bis er endlich das Wort nahm und zum Erstaunen Aller sagte: „Ich will aufrichtig sein. Ich habe Sie mystificirt. Die Theilnahme, die Sie dem geistreichen Stück, an dem nur das mein Verdienst ist, es vorgelesen zu haben, mit Recht schenkten, bitt’ ich auf den wahren Verfasser überzutragen, Frau von Montesson.“

Die Genannte war zugegen; wer konnte anders über diese Erklärung in Ohnmacht fallen als sie? Die Verwirrung wurde allgemein. Während sich der Herzog an die Spitze des kleinen Häufleins 185 stellte, das der erschrockenen Dame zu Hülfe eilte, theilte sich die Mehrzahl ihre Verwunderung mit. Die Komödie, die Frau von Montesson gemacht hatte, schien Jedem fad und alltäglich, die der Herzog gespielt, sonderbar.

„Kommen Sie,“ sagte der Abbé Bernis, „es ist unpassend, sich an den Geburtswehen einer schriftstellernden Dame zu weiden.“ Damit schob er mich und den verstimmten Magister zur Thüre hinaus.

IX.

Als wir an dem goldstarrenden Portier vorüber waren, begann der Abbé mit nicht mehr verhaltener Ungeduld:

„Geht wohl etwas über die verliebte Thorheit einer ehrgeizigen Frau! Frau von Montesson hat nicht nur gegen den Ton der Gesellschaft gesündigt, indem sie Scenen, die sich in ihrem Boudoir recht artig ausnehmen mögen, in die Salons versetzt, sondern sich unser Aller als Netze bedient, mit denen sie den Herzog umstrickt.“

Ich fragte den Abbé, ob ihm der Zusammenhang des Vorfalls deutlich sei?

186 „Ohne Zweifel,“ war die Antwort; „der Herzog ist ein Anbeter der Dame, doch indolent, wie seine Natur ist, oder aus übergroßer Zerstreuung durch ähnliche Affairen, betreibt er seine Bewerbungen nur nachlässig. Warum auch nicht? Ist er des Erfolgs doch gewiß. Frau von Montesson dünkt sich aber klug und ist ehrgeizig. Sie will dem Herzog mehr sein, als eine bloße Liebschaft, sie will ihn fesseln und zu einem hohen Rang erhoben sein. Wie erreicht sie diesen Zweck? O, wie schlau sind diese Pläne ausgedacht! Erstens giebt sie vor, ihre Neigung zum Herzoge sei ein Opfer, das sie einer Andern bringe. Der Name dieser zweiten Neigung ist mir entfallen und hat auch nichts mit der heutigen Geschichte gemein. Fürs andere will sie dem Herzoge unentbehrlich werden; endlich, obschon sie, bis auf ihre schlechten Zähne, schön ist, will sie auch durch ihre Talente glänzen. Aus einer bekannten Erzählung zieht sie die Gespräche aus, setzt sie ohne Geschick und Regel zu Acten und Scenen zurecht und beredet den Herzog, sich für den Vater des Kindes ihrer Phantasie auszugeben. Ist dieser bereitwillig, es immer zu bleiben, so schließt sie, daß ein Geheimniß ihn an den einzigen Schlüssel 187 desselben desto fester ketten müsse. Deckt er es selbst auf – nun, Sie sehen ja, was dann erfolgt! Erst schlägt das Publicum die Brücke, diese Eselsbrücke, auf der nun Frau von Montesson zu den Sternen steigt, so hoch auf wie einen Regenbogen, weil man einem Herzoge jede Schmeichelei in starken Portionen geben muß. Den Verblendeten rührt die Bescheidenheit der Schlange, das Lob besticht ihn, und zuletzt, wenn er nun der Frau das giebt, was sie verlangt, kann er nicht ausrufen: ach! es sind nicht ihre sinnlichen Reize, die mich bezaubern, sondern die Genüsse ihres bekanntlich so seltenen Geistes haben mich zu ihr hingezogen!“

Wir mußten lachen; der Abbé verstand die Persiflage auch gar zu gut.

Inzwischen fing ich an, mich in dem Wege zu orientiren, den die beiden Herren einschlugen. Wir hielten uns fortwährend an das linke Seineufer. Ein interessanter Anblick, wenn die Nebel der Nacht aus dem dunkeln Flusse steigen und von den Strahlen der tausend Leuchten in der Umgebung erhellt werden, in denen sie zu schwimmen scheinen.

Diesen Lichtstrom nahmen wir zum Führer, bis wir endlich vor einem Hause standen, das nach der 188 Seine hin heller erleuchtet schien, als es vorne war. Durch ein Defilé von zwei Wagenreihen traten wir auf die steinernen Stufen, die uns in eine geschmackvolle, rings mit Nischen, Vasen, Statuen gezierte Hausflur führten.

Kaum fand ich Zeit, meine beiden von der ganzen Dienerschaft gekannten Führer nach unserer Absicht zu fragen. Wir ließen die Treppen des Vorderhauses unbeachtet, tappten durch den finstern Hof und stiegen am letzten Ende des rechten Seitenflügels eine kleine, spärlich erleuchtete Treppe hinauf. Hatte man mir auf die Frage: wohin führen Sie mich? vorher nur lachend geantwortet, so erhielt ich jetzt die Weisung, nur leise zu flüstern und bedachtsam mit den Zehen aufzutreten.

Endlich öffnete der Abbé eine Thür, und ein blendender Schein von unzählichen, senkrecht aufgestellten Lampenreihen fiel in mein überraschtes Auge. Ich hatte mich kaum gesammelt, als ich eine laut declamirende Stimme, ganz im Hintergrunde ein schallendes Gelächter vernahm. Jetzt blieb mir kein Zweifel mehr, ich befand mich hinter den Coulissen eines Theaters.

„Sie haben gewiß,“ flüsterte mir der Abbé zu, 189 „von den kleinen Erholungen gehört, in denen der Vielgeliebte Zeit findet, sich den sauern Schweiß des Regierens von der Stirn zu wischen. Frankreich ist der Marquise zu unendlichem Danke verpflichtet, da sie seinem und ihrem Idole, dem Könige, diese Wohlthat zu verschaffen pflegt. Wir sind im Hotel der königlichen Freundin.“

„Und Se. Majestät?“ fragte ich hastig.

„Treten Sie zu dieser Coulisse, die ein Stück Wald und ein Stück Hütte vorstellen soll. Sie brauchen Ihr Auge nicht anzustrengen, um Ludwig XV. zu erblicken.“

Ich trat hin, fuhr aber erschrocken zurück, als mir ein kleiner geschminkter bucklicher Kerl auf den Leib trat.

„Ah, gehorsamer Diener, Herr Carlin,“ sagte der Abbé zu dem furchtbaren Ungeheuer, „sind Sie heute den Boulevards untreu geworden?“

Jetzt besann ich mich: es war der bekannte Schauspieler Carlin, der das Pariser Publicum mit seinen Späßen zu belustigen pflegt und heute auf dem Privattheater des Königs eine Rolle übernommen hatte. Unstreitig sollte er den Fabeldichter Aesop vorstellen.

190 „Es ist nur zuweilen, meine Herren,“ versetzte Carlin-Aesop, „daß wir ordinairen Schauspieler in den Kothurn oder Soccus schlüpfen, aus dem die hohen Herrschaften so eben getreten sind.“

„Ich weiß es,“ sagte der Magister, der Herrn Carlin kannte, „die Marquise versteht sehr artig zu spielen. Die empfindungsreichen Rollen sollen ihr vorzüglich gelingen.“ –

„Eben daran liegt’s,“ sagte der Schauspieler, indem er uns bat, ihm den Buckel etwas höher zu schieben; „zu den komischen Rollen taugen die Dilettanten nicht. Der Hof ist ein Ort, wo man weder Scherz versteht, noch welchen zu machen weiß.“

Damit trat er eilig in die Scene zurück.

Man spielte auf dem Privattheater ein Lieblingsstück des Königs: „Aesop am Hofe.“ Der Abbé war im Stande, ordentlich die Annalen dieser moralischen Piece zu erzählen. Er führte uns an einen Ort, wo wir ohne gesehen zu werden, die freieste Aussicht auf das Theater sowohl, als auf das Publicum hatten. Nachdem er mich kurz über die ausgezeichnetsten Persönlichkeiten aufgeklärt hatte, begann er; „Es beweist wenig Geschmack, 191 aber viel Regententugend, daß der König diesem langweiligen Stück vor vielen andern, die besser sind, den Vorzug giebt. Aesop ist darin nichts mehr, als ein pedantischer Schulmeister, der den Königen naseweis gute Lehren giebt. Die Freimüthigkeit des phrygischen Sclaven besteht allein darin, daß er zu den Fürsten spricht, als redete er mit den Thieren seiner Fabel. Mit viehischer Offenherzigkeit werden einem Monarchen seine Fehler vorgeworfen, selbst das Laster des Trunks nicht ausgenommen. Vor mehreren Jahren hätte dieser Mißgriff bald eine ärgerliche Spaltung am Hofe hervorbringen können. Die erste Freundin des Königs, Madame Mailly, dieselbe, die jetzt aus einem Beichtstuhle in den andern läuft, kurz, die Magdalena des Hofes, unterhielt zwar ihren Geliebten mit denselben Vorstellungen, die ihm die Marquise giebt, aber sie leitete sie nicht selbst, wie diese. Sehen Sie nur, wie die Zärtliche am Auge des Königs hängt! Genug, Madame Mailly fesselte Ludwig XV. weniger, als sie ihm imponirte. Ihre kolossalen Züge, dies compacte Wesen, das ihr die Natur geschenkt hatte, forderte den König heraus, wie der Uebermuth einer unbezwinglichen Festung. Es ist nur 192 zu bekannt, daß sie dem Könige eine sehr unartige Liebe einflößte, in der sie selbst Ausgezeichnetes leistete: ich meine die Neigung zu den heißen spanischen und Capweinen. Welchen Eindruck mußte nun jenes Aesopische: der König besitze alle Tugenden, nur trinke er zuviel! auf Madame machen! In wilder Entrüstung, die recht den Vandalismus ihrer Bildung verrieth, spie sie Feuer und Flammen; sie sah sich rings von den Netzen der Cabale umsponnen und verlangte augenblicklich die Entlassung der Theaterdirection. Der König hatte Mühe, sie zu besänftigen. Endlich sagte er: „Madame, Sie werden auch mich entlassen müssen; denn ich gab den Befehl zu dieser Vorstellung.“

Inzwischen war der Vorhang gefallen. Unter Begleitung einer sanften Musik traten vorne die Zuschauer aus den Logen, während man hinten die Lampen löschte.

„Es ist Schade,“ sagte der Abbé beim Weggehen, „daß wir die Marquise selbst nicht haben spielen sehen. In den Rollen der Atalante, der Phädra, ist sie unübertrefflich. Hätte das Schicksal nicht einen König bestimmt, ihren Triumphwagen zu ziehen, so würde Madame d’Etioles die Bühne 193 betreten haben, um von einem trunkenen Publicum vergöttert zu werden.“

Dennoch war ich vollkommen befriedigt. Es schmeichelte mir, den König in diesen angenehmen Stunden, deren Genuß ihm die öffentliche Meinung so sehr zum Vorwurf machte, belauscht zu haben, in Gegenden gedrungen zu sein, die sich nur den Vertrautesten öffnen, endlich einen so geistreichen Mann, wie der Abbé war, anhören zu dürfen.

X.

Wir waren kaum aus dem Hause getreten, als Herr Carlin behend hinter uns hersprang.

„Seien Sie Beschützer der Kunst,“ rief er, „oder erbarmen Sie Sich wenigstens ihres getreuesten Jüngers! Schon sieben Jahre weile ich in unserer guten Stadt Paris und kenne nicht mehr von ihr, als meine Wohnung, die Aussicht, die ich im fünften Stock haben kann, den Weg, der von ihr zur Porte St. Martin führt und die Bretter der Bühne. In Italien, meinem geliebten Heimathlande, habe ich hinter jedem Zaune einen Häscher fürchten müssen und kenne dort jeden Fuß- und Fahrweg, alle Sack- und Quergassen, die in den 194 Städten nur denkbar sind; in Paris dagegen laufe ich jede Minute Gefahr, mich zu verirren, obschon mir hier Jedermann gern die Huldigung brächte, mich zurechtzuweisen. Ach! ihr neun Musen und ihr unzähligen Heiligen, was juckt dem armen Carlo sein vogelfreier Hals! Sie wissen vielleicht nicht, daß ich in meiner Jugend das Unglück hatte, zufällig aus einem Kloster zu entfliehen, daß ich in Venedig unter die Soldaten trat, leider aber einen verlornen Posten abgab und nach Mailand desertirte; und dennoch, obschon ich der geistlichen und weltlichen Gerechtigkeit verfallen bin, lebt meine Sehnsucht nach Italien. Ich weiß nicht, meine Herren, wo Sie jetzt in dieser zwölften Stunde hingehen, vermuthe aber, in die sanfte Umarmung des Schlafes. Daran darf ich in zwei Stunden noch nicht denken. Was ich noch so spät für Pflichten habe? O, lassen Sie Sich ein Register meiner Thätigkeit geben. Vier, fünf Stunden bearbeite ich die Zwerchfelle des Publicums, ertrage Regen und Sonnenschein, kümmere mich um keine Pfeife, kein Klatschen der Hand. Dann eil’ ich nach Haus, was ich jetzt thue, um meine Geschäftsträger zu expediren. Lachen Sie nur! Ich unterhalte drei Spione, 195 die den ganzen Tag herumlauschen, um in ihr Ohr alle Neuigkeiten fließen zu lassen. Für eine Lumpengeschichte aus der Vorstadt zahl’ ich fünf Sous, für jeden derben Witz, der aus dem appetitlichen Munde einer Dame der Halle kam, ein halbmal so viel, eine Scene aus den Vorzimmern wird mit zwanzig Sous, eine aus den Salons mit einem Livre bezahlt. Zwei Livres stehen auf einer Hofgeschichte; aber am theuersten ist in meinem Tarif jede Dummheit angesetzt, die sich die Polizei hat zu Schulden kommen lassen. Diese remunerir’ ich mit drei Livres. Es kostet mich ein erstaunliches Geld, aber mein Renommée hängt von diesen Notizen ab. Nach einigen Stunden Schlaf ist mein erstes Geschäft, die neuen Rollen zu lernen, dann rüste ich mich zur Probe, dann eile ich aufs Theater zur Probe selbst. Es ist Mittag, ich befriedige meinen Körper, pausire ein wenig und mache mich nun an die Späße, die ich als hors d’oeuvre meinem vorgeschriebenen Texte anfüge. Dazu bearbeit’ ich die in der Nacht erhaltenen Notizen, die mir zu Wortspielen, Seitenhieben, Anspielungen dienen müssen. Mein Lohn ist –. Mein Himmel! es schleicht Jemand hinter uns her!“

196 Wir wandten uns erschrocken um; eine Gestalt floh in das schützende Dunkel.

„Jacques!“ rief unser Lustigmacher ihr nach, „Du Teufelskerl, fürchte Dich nicht! Das ist einer der genannten Spione. Er schlich uns vermuthlich in der Absicht nach, unser Gespräch zu belauschen, ob es darin Etwas für ihn zu verdienen gäbe.“

Jacques hatte des Komödianten Stimme erkannt, und kam schüchtern heran.

„Wie viel wirst Du heute von mir verlangen?“ fragte der Meister.

„Ungefähr vier Livres zehn Sous,“ war die Antwort. „Erstens, in der Vorstadt St. Antoine sind zwei verhungerte Kinder gefunden worden.“ –

„O, die Pariser sind grausam!“ sagte Carlin, sich eine Thräne aus den Augen wischend, „sie lachen über Alles: macht fünf Sous.“ –

„Zweitens, Herr Rousseau hat eine Pension von der Marquise ausgeschlagen und ihr gesagt, noch könne er sich vom Notenschreiben ernähren.“ –

„Für die Schicksale und Bonmots der Gelehrten steht zwar in meinem Tarif nichts; doch es ist Jean Jacques – ein Livre.“ –

„Drittens, der König ist, als Frauenzimmer ver-197kleidet, zur Prophetin le Bonnet gegangen. Die dumme Hexe hat ihn nicht erkannt, aber picant genug aus dem Kaffeesatz geweissagt: Seine Majestät werden einen hohen Offizier heirathen, ihm in allen Schlachten hinten in der Reserve nachfolgen und ohne Unglücksfälle wieder heimkehren.“

Die Herren lachten abscheulich und Carlin sagte: „Zwei Liv­res werth!“

Jacques fuhr fort:

„Viertens hat die Polizei den Spitzbuben Mandrin schon zum achten Male entlaufen lassen.“

„Das ist sehr dumm,“ bemerkte Carlin, „obschon keine drei Livres werth; doch sollst Du sie haben, weil Du nicht Schuld bist.“ –

„Fünftens, ein deutscher Graf soll eine Komödie, die der Herzog von Orleans verfaßt haben will, in seiner Gegenwart sehr albern genannt haben.“ –

„Schurke, das lügst Du!“ schrie ich; die Andern verschwanden lachend in der Finsterniß.

Ich blieb zitternd vor Wuth auf meinem Platze und weiß nicht, wie ich in meine Wohnung gekommen bin.

198 XI.

Noch immer saß ich nach einer schlaflosen Nacht, den Kopf in die Hand gelegt, auf meinem Sopha, gedankenlos bald auf die seidenen, meinem Schlafrock eingewirkten Blumen sehend, bald auf die leeren Koffer, die ausgezogenen Schubladen, die ich in die Mitte des Zimmers gestellt hatte, um meine Abreise vorzubereiten.

Der gottlose Abbé war zwar schon ganz früh, am thauigen Morgen, bei mir gewesen, hatte mich tausendmal um Verzeihung gebeten, weil Niemand anders den unzeitigen Spaß, bei dem mir am gestrigen Abend die Sinne schwanden, veranlaßt hatte, als er. Ich glaubt’ es wohl, daß er dem spionirenden Burschen, durch die Dunkelheit geschützt, jene verrätherische Sottise zugeraunt hatte. Selbst bei aller Verschlagenheit des Mannes war ich es zufrieden, daß ich darin nur einen leichtfertigen Scherz, gemacht, den Abschied zu würzen, finden sollte.

Aber was half mir diese Gewißheit? Hatte man mich nicht frevelhaft an einer Stelle meines Herzens verletzt, wo ich schlechterdings nur Achtung 199 und Ehrfurcht, nie den Kitzel der Laune empfinde? Mir gereicht es zur Beruhigung, daß mein Schrei der Entrüstung nicht eine mir, sondern dem Herzoge gewordene Verläumdung strafen sollte; war ich aber nicht gewiß, daß jene, mit dem Heiligsten ihr Spiel treibenden Menschen gerade hiedurch belustigt waren? Welche Genugthuung für sie, daß ich meine Achtung vor dem königlichen Hause selbst von einer Creatur, die einem Spitzbuben sehr ähnlich sah, anerkannt wissen wollte!

Ich nahm meine Schreibtafel. Mein eigener Vorsatz verurtheilte mich, die Leiden des gestrigen Tages in ihr zu verzeichnen. Ich blätterte zurück und fand überall nur Klagen über getäuschte Erwartungen, unangenehme Berührungen, trostlose Einsamkeit. Mein Schmerz überwältigte mich.

Es scheint, als haben sich meine Schicksale immer wie in der epischen Form entwickelt. Es giebt Lagen, die sich durchkreuzen und den, den sie treffen, in einem beständigen Kampfe erhalten. Wohl jenem Umsichtigen, der in ihnen die Besinnung nicht verliert! wie bald wird er Herr seines Schicksals sein! Mich trifft ein anderes Loos. Jede Erfahrung schließt sich mir mit vollkommenem Ende ab, 200 jede neue entwickelt sich mit sichtbaren Anfängen. Die Zwischenräume – sind meinem Herzen überlassen: ach! daß es in ihnen immer nur klagen, so selten sich freuen konnte!

Ich war nahe daran, meine Rechnung mit Paris und meiner Wirthin abzuschließen, als mit einem Briefe des Herrn von Vieuxpiat aus meinen welken Hoffnungen wieder neue, frische Keime sproßten. Es war die Sprache des Freundes zum Freunde, die ich vernahm; sie war so wohlthuend für mein verwundetes Herz. Er kündigte mir sein Erscheinen in Paris an, das in wenigen Stunden erfolgen könnte. Fräulein d’Aubigny habe bei seinen Verwandten in der Champagne einen Besuch abgestattet, es sei der heißeste Wunsch seines Vaters, auch ihn in seiner Nähe zu wissen, einen längeren Urlaub habe er glücklich ausgewirkt und schon sei er auf dem Wege, seinen Freund in einen Kreis zu führen, dessen ländliche, unschuldige Freuden er ohne mich nicht genießen könne.

Wie kam es nur, daß eine unfreiwillige Gefälligkeit durch eine solche Dankbarkeit erwiedert wurde? Ich meine, in einem unverdorbenen Gemüthe ist jede Empfindung ein Schlag, der das 201 ganze Herz berührt. Eine edle Seele wird in ihren reinen Leidenschaften keine Grenze kennen; die Achtung wird ihr zur Liebe, die Dankbarkeit zur Freundschaft. Noch mehr! ich mußte die zarte Rücksicht meines neuen Freundes bewundern! Hätte nicht eine weniger enge Annäherung an mich ihn in den Verdacht bringen können, er nehme an, die zufällig unwillkührliche Dienstleistung hätte nicht auch ein Werk meines Entschlusses sein können? In der That war der Liebenswürdige immer so zart, von diesem Zufalle wie von einer Aufopferung zu sprechen.

Es wollte eben sechs Uhr schlagen, als ich in Herrn von Vieuxpiats Armen lag.

„Treff’ ich Sie bereit, Herr Graf,“ sagte er, „morgen in der frühesten Dämmerung Paris zu verlassen, um mit mir in die reizenden Thäler der Champagne zu reisen? Sie werden noch Zeit genug finden, in dem großen apokalyptischen Buche der Hauptstadt zu lesen; lernen Sie auch den Einband kennen, und befriedigen Sie die Sehnsucht meiner Verwandten, denen ich Ihre Ankunft auf das Bestimmteste habe zusagen müssen.“ –

„Sie spannen zwiefach meine Erwartung, Herr 202 Hauptmann,“ entgegnete ich; „ich freue mich eben so auf die anmuthige Gegend, als auf die Gütigsten ihrer Bewohner.“

Ich weiß, daß man einen zärtlichen Liebhaber mit nichts so sehr unterhält, als dem Beifalle, den man den Reizen seines Idols schenkt. Ich lenkte daher das Gespräch auf diesen Gegenstand, den der Glückliche mit der ganzen Lebhaftigkeit, die ihm so eigen war, ergriff.

„Die Bemühungen meines Nebenbuhlers,“ sagte er lachend, „haben ein klägliches Ende genommen. Es ist vortrefflich, wenn man in einem solchen Falle sich auf den Witz der Gefährdeten verlassen kann. Wo kein Ausweichen, keine Geringschätzung, am wenigsten Drohungen etwas vermögen, da werden sich die kleinen Repliken, die naiven Anführungen, kurz, jene boshaften Künste, die man unter der Maske der Unterhaltung in einer zahlreichen Gesellschaft kann spielen lassen, immer siegend bewähren. Die Unverschämtheit vermag es zwar nicht, zu erröthen, doch muß sie es ertragen, sich zu ärgern.“

An diese geheimnißvolle, aber für mich nicht räthselhafte Mittheilung, knüpfte sich bis tief in den 203 Abend hinein eine Unterhaltung, die mir Genuß und Belehrung in gleichem Maße verschaffte. Mein Freund war über die öffentlichen Verhältnisse, über ihre geheimen Triebfedern vortrefflich unterrichtet, und eben so kannte er die Mittel, ihnen mit Sicherheit zu begegnen, oder mit Klugheit aus dem Wege zu gehen.

XII.

Es war noch tiefe Dämmerung, als ich an der Seite des Herrn von Vieuxpiat in einem leichten Reisewagen an der Bastille vorbei durch die Vorstadt St. Antoine fuhr.

Bald hatten wir die Riesenthore der Barriere du Trone, den Zusammenfluß der Seine und Marne hinter uns, bis wir zuletzt an die herrliche Kuppel der Kirche zur heiligen Genoveva die ersten vergoldenden Strahlen der Morgensonne anspringen sahen.

In zwei Monaten wollt’ ich wieder in das jetzt verlassene Labyrinth zurückkehren, wie ich meinem Bruder hatte versprechen müssen.

So trat ich denn aus meinem kurzen Aufenthalte wie aus der Vorrede heraus, und einem 204 flüchtigen Leser vergleichbar, warf ich das eigentliche Buch auf eine Weile weg; zwischen der Erwartung und Erfüllung muß immer ein ansehnlicher Zeitraum verstreichen, um jene mehr zu spannen, diese desto besser vorzubereiten.

„Es ist erstaunlich,“ sagte mein Begleiter, „welch sonderbare Ansichten ich bei Fremden über Frankreich und die Lage von Paris, seinem Herzen, angetroffen habe. Von Calais, von Straßburg, von Genf eilt man mit Flügeln des Sturmwinds unter den weiten Baldachin, der sich über alle Schätze des civilisirten Europa’s ausbreitet, und wird jeden Augenblick auf der Reise staunen, sich durch die reizenden Naturschönheiten des platten Landes so überrascht zu finden. Welcher Fremde hätte sich nicht eingebildet, als ihm der letzte Schlagbaum des Nachbarlandes im Rücken lag, jetzt kämen immerfort nur flache, öde Steppen, bis endlich Paris aus der Wüste wie ein paradiesischer Garten steige! Ja, viele, welche sich doch auf der Reise vom Gegentheil überzeugen konnten, kommen selbst in Paris, im Bureau der Diligencen, mit diesem Wahne an. So viel vermag die Eile des 205 Postwagens, die Ungeduld der Sehnsucht, die Erwartung auf Paris, für welches man alle Blicke seines Auges aufspart. Die Tradition spricht von den Umgebungen der Hauptstadt, wie von einem öden Landstriche; kann man sich aber reizendere Landschaften denken, als welche sich jetzt vor unsern Augen ausbreiten!“

Durch eine ewige Abwechslung von Dörfern, Landhäusern, Abteien, durch die hier so gefälligen Krümmungen der Seine kamen wir fortwährend zu neuen Anblicken, zu neuen anmuthigen Ueberraschungen.

Wir fuhren durch Fontainebleau, diesen alten Sitz der Könige und der Galanterie, und hielten uns dann an die romantischen Ufer der Yonne, deren Reize uns bald in der Dunkelheit des herannahenden Abends verschwanden.

Sens war die letzte bedeutende Stadt, die wir passirten. Ihr alterthümliches Ansehen machte in der Dämmerung einen tiefen Eindruck auf mich.

Der Familiensitz meines Freundes lag hart am Ufer der Yonne und bestand aus einem neu angelegten herrschaftlichen Wohnhause, vielen Wirth-206schaftsgebäuden, Gärten, Feldern und einem weiten Kranze von werthvollen Waldungen, der sich um jene herumzog.

Es war schon zu tief in der Nacht, als daß wir im Wohnhause die Schläfer mit einer solchen Ueberraschung, wie unsere Ankunft, hätten überfallen dürfen. Herr von Vieuxpiat zog es vor, die Nacht bei einem Verwalter zuzubringen und am nächsten Morgen erst bei seinen Lieben zu erscheinen. Er klopfte an einen verschlossenen Fensterladen nicht ohne Gefahr, von einem wachsamen, glücklicherweise durch eine Kette unschädlich gemachten Hunde zerrissen zu werden.

Nach vielem Pochen öffnete sich endlich ein kleines Fenster, das zur Seite der Hausthür angebracht war. Herr von Vieuxpiat ward sehr bald erkannt, das Innere des Hauses belebte sich allmählig, die Thür öffnete sich, und unter aufrichtigen Zeichen der Freude wies uns der Verwalter einen Ort an, wo wir behaglich der Ruhe pflegen konnten.

Die Morgensonne schien durch das volle Fenster auf mein Lager, als ich erwachte. Mein Gefährte war schon ausgeflogen, ich sprang eilig auf 207 und ging hastig an die Ordnung der Toilette. Es währte nicht lang, so war der Freund zurück, voll von der Wonne eines Empfanges, der ihm, so wie den Herzen der Andern, gleich wohl hatte thun müssen. Er sagte zuvorkommend: „Jetzt können auch Sie Ihren Einzug drüben halten. In jedem Herzen meiner Lieben hab’ ich Relais gelegt, und Sie werden dabei gewiß besser fahren, als in meinem den Antiquaren bald verfallenen Reisewagen.“

Wir traten aus dem Hause und den es umgebenden Gärten und Anlagen hinaus, schlugen einen Wiesenpfad ein, auf dessen beiden Seitenflächen Tausende funkelnder Thautropfen aufleuchteten, und lehnten eine Thür zurück, welche in den innern Raum der herrschaftlichen Gärten führte. Kaum hatten wir hier einige Schritte gethan, so eilte hinter einer Rosenhecke Fräulein d’Aubigny hervor, und empfing mich, als einen alten Bekannten, mit ihrer liebenswürdigen, natürlichen Munterkeit. Sie bildete den Vorposten des eigentlichen Treffens, welches von Seiten der Familie meines Freundes aus den zuvorkommendsten, artigsten Begrüßungen bestand. So sehr mich dieser Empfang erhob, so vernichtete er mich zu gleicher Zeit; denn er war mit 208 dem Anblick eines Wesens gepaart, das in dem ersten Augenblick, da meine Augen von ihm geblendet wurden, auch alle meine übrigen Sinne unwiderstehlich fesselte.

Adèle, noch nach vierzig Jahren übermannt mich die Erinnerung jener seligen Stunden, da mein trunkenes Auge, mein lauschendes Ohr, mein zitterndes Herz in der Wonne deiner Erscheinung schwelgte!

Ich träumte Jacobs seligen Traum von einer Himmelsleiter, wo ihm auf jeder Sprosse ein Engel lächelte. Wenn dein sanftes Auge an den Blicken des geliebten Bruders hing, wenn dein blendend weißer Arm zärtlich den Leib der Freundin umschlang, und du lächelnd dann die Hände des liebenden Paars in einander legtest, wenn du die Hand des Vaters mit deinen Küssen bedecktest und die Wünsche der Mutter aus ihren Augen lasest: Adele, wenn dann der liebliche Ton deiner Stimme unbestimmt schwankte, wo du die Straße finden solltest, die der Schwester des Freundes die Annäherung zum Freunde ebnete – o, diese heißen Thränen, die jetzt aus meinem trüben Auge auf die 209 kalten Wangen gleiten, sind die süßesten Freuden meines Alters! Wehmüthige Erinnerung!

XIII.

Auf dem Schlosse bezog ich eine sehr anmuthig gelegene Wohnung. Die innere Anordnung war nicht nur sehr geschmackvoll, sondern selbst kostbar zu nennen. Grüne Teppiche, mit Blumen, Arabesken und Landschaften durchwebt, bedeckten den Boden und die Seitenwände, die Meubles waren aus dem feinsten Holze gezimmert und nach den Moden, die mir aus Paris als die neuesten bekannt waren, geformt. Vorzüglich aber zogen mich die Büchersammlungen an, die aus den Glasschränken mit ihren netten Einbänden so gefällig hervorsahen, wie die damalige Literatur selbst. Trat ich an die Brüstung des Fensters, so sah ich unter mir den stillen freundlichen Yonnestrom; weit hinaus dehnten sich üppige Wiesen und Felder, und in blauer Ferne ließen sich deutlich die Thürme von Joigny über die sanfte Aufdachung der Rebenhügel hin unterscheiden.

Die Abwechslung der Unterhaltung war mannigfaltiger, als ich glaubte erwarten zu dürfen. Ich war zwar ein schlechter Reiter und ein noch schlech-210terer Jäger, doch wohnte ich allen Jagden bei, die fast täglich zu meinem Vergnügen veranstaltet waren. Die jungen Damen nahmen keinen Anstand, uns auf frommen Kleppern zu begleiten, ja zuweilen mich auszulachen, wenn mir Reiten und Schießen nicht recht gelingen wollte.

Aus der Umgegend fehlte es nie an Besuch. Alle Edelleute, denen es auf ihren Sitzen unter Tauben, Hunden und Frohnen zu einsam wurde, suchten den muntern Ton auf, den sie in Vieuxpiat immer antrafen. Ihre Töchter, schüchterner oder dreister, je nachdem sie mehr oder weniger Verbindungen mit Paris unterhielten, oder selbst schon dort gewesen waren, vermehrten den Reiz der geselligen Unterhaltung. Vorüberreisende Verwandte oder Verbindungen des alten Herrn von Vieuxpiat gaben Besuche von mehreren Tagen ab, so daß keine Sonne unterging, die wir nicht mit neuen Freuden sollten wieder aufgehen sehen.

Fräulein d’Aubigny stellte sich mehr in die Mitte dieser Cirkel, in denen sie ihre angeborne Munterkeit verbreitete. Adele war besorgter um die Anordnung derselben; um das Ganze besser zu über-211sehen, machte sie weit weniger einen Theil desselben aus.

Zuletzt hatten wir vorzüglich einen Gegenstand ausersehen, der zwar eine sehr enge Verbindung mit vielen, sonst nur vorübergehenden Besuchen verlangte, dafür aber eine nie versiegende Quelle des Vergnügens wurde. Die Sitte der Privattheater griff damals in Frankreich mit erstaunlichen Erfolgen um sich. Keine drei Familien in Paris, die sich nicht zu theatralischen Vorstellungen verbanden. Eben so verfehlte man auf dem Lande sechs Meilen in der Runde nie einen Ort, wo die gebildeten Bewohner der Umgegend sich nicht zum Dienste Thaliens vereinigt hätten. Den Focus dieser Sitte lernte ich ja selbst kennen: es waren die kleinen Abendgesellschaften, die die Marquise durch die ungestörten Soupers dem König eben so unentbehrlich machte, als durch die Privatbühne, die jetzt für Frankreich normal wurde.

Wir betrieben unsere Unternehmung mit anhaltendem Eifer. Ein Courier folgte dem andern nach Paris, der Anzüge, der Decorationen, der Stücke wegen. Die Gärten, die Haine hallten wieder von 212 den pathetischen Declamationen der neuen Komödianten. Ein Schreiber aus der Wirthschaft, der sich für ein Genie hielt, lief schon vor Sonnenaufgang in die Einsamkeit des Dickichts, nur die wenigen Worte, die er als Bedienter oder Küchenjunge zu sagen hatte, dem Gedächtnisse einzuprägen. Auf halbem Wege unter einer Eiche erwartete ihn dann schon ein Anderer unserer zahlreichen Dilettanten, um mit ihm eine vorläufige Probe zu halten. Die Wälder waren von recitirenden Schauspielern belebt.

Wir Helden blieben mit unserm Enthusiasmus nicht zurück. Es wurden täglich Sitzungen gehalten, wo wir theils unsere Register der gelenkigen, musengerechten Personen der Umgegend vervollständigten, theils die Berichte über die eingelaufenen Effecten anhörten, theils endlich über die schwierigen Zweige der Mimik, in denen nicht blos das Gedächtniß aushelfen konnte, unsere Meinungen austauschten.

Ich denke mit Entzücken an diese unschuldigen Vergnügungen, die mich der Schwester meines Freundes nur näher bringen konnten. Denn warum sollt’ ich die auflodernde Flamme der zartesten 213 Empfindung ersticken? warum den Eindruck nicht festhalten, den Adele bei ihrem ersten Erscheinen auf mich machte? Noch mehr, es lag in dieser Begegnung in einer so abgelegenen Gegend etwas so Bedeutungsvolles, daß ich selbst von dieser Seite zu Geständnissen, die ich mir zuvor kaum zu machen wagte, getrieben wurde.

Es ist so gewöhnlich, daß das Nachdenken, welches gemeiniglich dem ersten Rausche der Liebe folgt, zuerst in die weite, dann so öde Ferne zurückblickt, wo sich die treuen Herzen noch nicht gefunden hatten. Dann fragt man sich, wie mußte es geschehen, daß wir es gerade sind, die sich jetzt umfangen halten? wer führte den Ort, die Stunde so zusammen, daß Eins auf das Andere treffen mußte? und man wird zuletzt immer nur des geliebten Gegenstandes Hand drücken und vor der höhern Fügung der Schicksale staunend, in stiller Bewunderung stehen.

Wenn ich Adelen sah, so schienen mir alle Wege meines Schicksals hieher geeilt zu sein. Alles konnte nur begonnen haben, um hier vollendet zu werden. Dieser Gedanke spiegelte mir immer die Sicherheit meiner Hoffnungen vor. Ich sah in Fräulein von 214 Vieuxpiat meinen Schutzengel, den schon mein frommer, reiner Wille in meiner Nähe fesseln mußte. Sie sprach zu mir in einem Tone, der mich in meinem Glauben an ihre wohlwollende Gesinnung nicht irre werden ließ. Ihr gefälliges Benehmen war weit entfernt, nur der Ausdruck der Zuvorkommenheit gegen einen fremden Gast zu sein, sondern es hielt vielmehr zwischen dieser und der Hinneigung zum Freunde des Bruders eine so eigenthümliche Mitte, daß ich annehmen mußte, sie habe meinen Werth erkannt und dieser sei das Maaß ihrer Schätzung.

Unsere theatralischen Vorstellungen erreichten bald eine gewisse Celebrität, die sie theils unserm Eifer, theils aber auch der kundigen Protection eines der ausgezeichnetsten Männer der damaligen Zeit zu verdanken hatten.

Den vortrefflichsten Intendanten und Kritiker fanden wir nämlich an dem Herrn von Maurepas, diesem geistreichen, thätigen, leider mit Undank belohnten Staatsmanne. Gleiche Ansichten und ein gleiches Schicksal hatten diese beiden Männer, den ehemaligen Minister und den Vater meines Freundes, in eine nahe Verbindung gebracht.

215 Herr von Vieuxpiat war eines der unglücklichen Opfer des Despotismus, der die stolzen Nacken der Franzosen während der Regentschaft beugte. Parlamentsglied, durch seine unerschrockene Freimüthigkeit dem Herzoge verhaßt, durch seine Begünstigung der jansenistischen Grundsätze blosgegeben, hatte er für beides eine geraume Zeit in der Bastille büßen müssen.

Den Minister Maurepas stürzte eine seiner vortrefflichsten Gaben, sein scharfer, zerstörender Witz. Er hatte das Unglück, daß man diesem so viel Ehre erwies, jede Aeußerung, wenn sie für geistreich und wahr galt, ihm zuzuschreiben. Es ist nicht erwiesen, wer jene Verse auf die Marquise gemacht hat, deren Beziehung ich nie habe verstehen können, die aber vernichtend sein müssen; noch weniger ist bekannt, wer dies berühmte Couplet unter den Teller der Angegriffenen gelegt hat; aber es genügt, daß man das Erste nur dem Witze des Herrn von Maurepas, das Zweite nur seinem Muthe zutraute. So mußte die Zierde des Hofes, ein Minister, durch dessen regsame Anstrengungen der beste Anfang gemacht war, den kläglichen Zustand der fran-216zösischen Marine zu heben, sein Portefeuille einem Schwächern überlassen und Paris mit dem Exil vertauschen.

Des Herrn von Maurepas Besitzungen lagen dicht an den unsrigen, die von seinem Unfalle den meisten Nutzen zogen. Wie belehrend war für mich seine Gegenwart! wie achtungswerth der Gleichmuth, mit dem er sein Schicksal ertrug! Zwar hatte die Quelle seines Witzes noch nicht aufgehört zu sprudeln; aber er hielt es für unwürdig, selbst im vertrauten Gespräch, seinen siegreichen Feinden anders als mit Großmuth zu begegnen.

Ich habe mich sonst nie überwinden können, gegen die sogenannten Opfer der Cabale eine andere Seite meines Herzens zu kehren, als die Theilnahme, die man den Ueberwundenen schuldig ist; hier mußte ich meiner Regel untreu werden. Hier sah ich nicht den nackten Witz eines Schöngeistes, dessen einziges Geschäft in der Welt nur in der Uebung dieser unheilvollen Gabe besteht, sondern gekränkte Thätigkeit, zurückgesetzte Talente. Es waren an diesen beiden Männern reelle Verdienste, die man den persönlichen Rücksichten geopfert hatte. Wird ein Schriftsteller für seine Keckheit gestraft, 217 nun so ist das ein Ereigniß, immerhin beklagenswerth, das sich aber voraussehen ließ. Warum betrat er eine Laufbahn, zu der er nichts Besseres brauchte als Dinte, Feder und Papier!

XIV.

Der Gipfel des Glücks ist der Ort, wo man die beste Aussicht in den kommenden Wechsel desselben hat. Es war schon hoch gegen Mittag, als die Gesellschaft eines Tages von einem Spazierritte heimkehrte, den die Damen, nach den immer herrschender werdenden englischen Sitten, stets mitzumachen pflegten. Während die Uebrigen noch um eine ansehnliche Strecke hinter uns zurückgeblieben waren, hatten Adele und ich um eben so viel einen Vorsprung gewonnen.

Es giebt Augenblicke, wo der Strom der Rede so zu fließen beginnt, die innere Aufregung des Gemüths sich ihr so mitzu­theilen pflegt, daß man mit einem lauten Schrei seinem Entzücken Worte geben möchte. Allerdings kann man nur mit Personen, die uns werth und theuer sind, so sprechen. Dann ist es der kleinste unbedeutendste Gegenstand, über den man sich ausbreitet, die Wärme des Ge-218sprächs wird siedender und zwar mehr, als es für den Gegenstand paßt; man ist im Stande, noch in diesem Augenblick vom Aufgang der Sonne, von dem schlechten Jahre, von einer schwer verdauten Pastete zu sprechen, und schon im andern dem Freunde um den Hals zu fallen, ihn mit Thränen und Küssen zu bedecken. Ich weiß es, daß solche leidenschaftliche Empfindungen wenig Lebenstact verrathen, daß sie oft die Begleiter der unglücklichsten Schicksale sind; aber soll man darum diesen göttlichen Funken ersticken? soll ihm nicht einmal die Freundschaft zündbare Nahrung sein? ja, soll man ihn zu dem unschuldigen Zwecke nicht benutzen, Verräther einer geheimen Neigung zu sein?

Ich sprach mit Adelen über Moden, als wär’ es über einen Roman gewesen. Offen erklärt’ ich, daß ich früher an ihrer Toilette Anstoß genommen habe, daß ich auch noch jetzt bei andern Frauen eine leichte Modifikation des Geschmacks aus den Tagen Ludwigs XIV. für das Angemessenste halte. Ich behauptete, die Moden seien nicht blos auf die Gesetze des Geschmacks zu begründen, sondern mehr noch auf eine gewisse Vorsicht, in ihnen keine Grundsätze und Meinungen zu verrathen.

219 „Ihre leichte, zwanglose Tracht,“ sagte ich, „hat zum Schneider eigentlich den Neuerer Rousseau, so wie das Kleid, das Sie gegenwärtig tragen, ein Abzeichen der Opposition ist. Der englische Geschmack, das Reiten der Damen, die Wettrennen, die Ueberröcke der Männer, der verkürzte Kleiderschnitt erinnern auffallend an den verdächtigen Besitzer des Palais Royal.“

Adele bemerkte wohl, daß das Bisherige alles nur Prämissen waren, und wartete lächelnd auf den Schluß, den ich ziehen würde.

Und welcher konnte es sein? ein anderer, als das offene Geständniß, ihre Anmuth habe dieser Tracht das Gepräge der Vollkommenheit gegeben? Meine Begeisterung rang mit dem Ausdruck, der mich im Französischen hier zum ersten Male im Stiche ließ. Ich verstummte und schwelgte in dem lieblichen Lächeln, das durch ihre engelgleichen Züge rieselte.

Jetzt erfolgte eine Begebenheit, die, so schnell sie sich ereignete, so auch meine seligsten Hoffnungen zerstörte. Ich bin nicht mehr im Stande, den Vorfall in seiner ganzen Folge zu entwickeln, weil mich der Schrecken aller meiner Sinne beraubte. 220 Nur weiß ich, daß Adelens Pferd plötzlich sich bäumte, dann mit Blitzesschnelle sich auf die Seite warf und mit wilder Wuth die Landstraße hinunterflog. Ich sah das Pferd am Abhange des erhöhten Weges, sah seine theure Last ihm entgleiten, hörte den Entsetzensschrei der heransprengenden Zurückgebliebenen und war nicht sobald zur Besinnung zurückgekehrt, als sich meinem Auge ein Schauspiel darbot, das mich erbleichen machte.

Die gerettete Adele lag in den Armen eines jungen Mannes, in dem die schnell von ihrem Schrecken in die angenehmste Ueberraschung versetzte Gesellschaft den Chevalier la Motte, den Neffen des Herrn von Maurepas, der Hauptmann seinen todtgeglaubten Jugendfreund, Adele den beweinten Gegenstand ihrer mir verborgen gebliebenen Liebe erkannten. Das unscheinbare, sogar ärmliche Aeußere seines Aufzuges bezeichnete ihn als einen Reisenden. Die endliche Nähe der geliebten Freunde hatte seine Schritte beflügelt; er eilte auf dem schattigen Pfade, der unter der Landstraße lag, der Wohnung seines Oheims zu; der Zufall führte ihn in die Nähe der so eben vorgefallenen Katastrophe; er sah die Freundin seines Herzens wieder, indem er sie vom Tode 221 rettete. Er war behend auf den Plafond der Straße gesprungen, hatte mit der rechten Hand die Zügel des scheuen Pferdes ergriffen und mit dem linken Arm die eben herabstürzende Geliebte aufgefangen.

Der Chevalier la Motte war von seinem Oheim erzogen worden. Die ehemalige Stellung des Letztern zum französischen Seewesen bestimmte Jenen, die beschwerliche, seinem Muthe und seinem abentheuerlichen Sinne aber sehr zusagende Carriere als Seeoffizier zu betreten. In Brest während kurzer Zeit zum Dienste vorbereitet, war er damals in die Gegend zurückgekehrt, an die sich die liebsten Erinnerungen seiner Jugend knüpften. Um diese Zeit zogen sich die Bande, die ihn und Adelen als Gespielen gekettet hatten, fester zusammen, und der Schmerz über die neue Trennung verrieth, was man vielleicht noch nicht zu sagen wagte. Herr von la Motte kehrte nach seiner Garnison zurück, mußte sich einschiffen, und in einem der vielen Unglücksfälle der französischen Marine, die der englischen Flotte zu eben so vielen Triumphen verhalf, das allgemeine Loos theilen. Es gab damals wenig französische Seeoffiziere, die nicht eine Zeit lang in englischer Gefangenschaft gewesen waren. Ich weiß 222 nicht, ob durch falsches Ehrgefühl, oder Sehnsucht nach der Heimath, oder durch die Bekanntschaft eines spanischen Schiffsherrn verleitet, bestieg der Chevalier, die Freiheit der Gefangenen in den englischen Häfen benutzend, ein Kauffahrteischiff, das ihn an die französische Küste bringen sollte. Widrige Winde vereitelten dies Vorhaben; er war gezwungen, die Fahrt bis nach Cadix, das sich mit vieler Noth erreichen ließ, mitzumachen, um von dort aus nach der Heimath zurückzukehren. All seine Habe mußte er auf die Reise von dort nach Toulon verwenden. Während seine gefangenen Kameraden schon in den Armen ihrer Verwandten lagen, schwankte er noch auf dem Meere in beständiger Gefahr, den Corsaren sein Leben verkaufen zu müssen. Wenn ihn auch ein gütiges Schicksal vor diesem Loose bewahrte, so traf ihn doch ein nur wenig erträglicheres. Sein Schiff zerschellte an einer Klippe in der Gegend der balearischen Inseln. Kaum gelang es ihm, sich mit einer Schiffsplanke an ein wüstes Eiland zu retten. Erst nach mehreren Wochen zogen seine Feuer die Aufmerksamkeit eines vorüberfahrenden Seglers auf ihn. Jetzt erst erreichte er glücklich seine Heimath, und kam nach einer be-223schwerlichen Reise, dem drückendsten Mangel ausgesetzt, in den Kreis seiner Lieben zurück, um diese zu beglücken, mich zu vernichten.

Es war mir nicht gegeben, den Chevalier zu hassen. Es war ein so anziehender Mann, daß ich mir zu seiner Bekanntschaft Glück wünschte. Gediegen in seinen Ansichten, lebhaft in seinen Aeußerungen, wie er war, lauschte man mit Vergnügen den Mittheilungen, die er aus seiner reinen Erfahrungsquelle geben konnte. Er sprach nie in gewählten Ausdrücken und verläugnete seine seemännische Bildung durchaus nicht. Dennoch stand ihm diese Art so gefällig, sie harmonirte mit seinem natürlichen schönen Aeußern so natürlich, daß ich mir die Eindrücke, die eine solche Erscheinung in Adelens Seele zurücklassen mußte, leicht erklären konnte. Sollte ich darum aber den verzehrenden Brand, den Adele in mir angefacht hatte, mit Gewalt aus meinem Herzen reißen? Warum um sie nicht noch jetzt wie um eine Geliebte weinen? ist’s thöricht, daß ich noch heute alle meine Zimmer mit ihrer Lieblingsfarbe drapirt habe? daß ich meinem Garten die Form gegeben, wie sie mir aus den Erinnerungen von Vieuxpiat noch gegenwärtig? 224 daß ich einen einsamen Ort mit Thränenweiden habe umpflanzen, einen Rasenhügel aufwerfen und ihn mit Blumen bedecken lassen, und ihn das Grab meiner Liebe und die Wiege der Erinnerung nenne? – –

Die Zeit des Urlaubs war für den Hauptmann abgelaufen, der Chevalier hatte Eile, sich dem gegenwärtigen Kriegsminister vorzustellen, ich selbst – durft’ ich denn mehr besitzen, als Adelens Bild? Ihre liebreizenden Züge begleiteten mich überall hin; warum durch längere Nähe mein Unglück steigern! Den Tag vor der Abreise spielten wir noch einmal zusammen. Sie gab Ariadne, ich selbst den Bacchus, den jugendlichen Gott mit Thyrsusstab und Pardelfell. Mich durchzuckte der grausame Wunsch: warum mußte Theseus wiederkehren!

Nach einer schlaflosen Nacht saßen die drei Reisenden mit den verschiedensten Empfindungen im Wagen.

XV.

Schon mehre Meilen vor Paris scheint alles Vorstadt zu sein. Ich empfand den magischen Eindruck, den das Gewühl des menschlichen Trei-225bens auf ein krankes Gemüth macht. Ich sah ein, wie sehr wir das Vergessen in unsrer Hand haben, um wie Vieles der Wille stärker ist, als das Gedächtniß, daß endlich nichts stärker als die Zerstreuung ist. Dennoch erröthe ich, wenn ich an jene wenigen Augenblicke denke, wo ich die Möglichkeit einer Tilgung meiner Leiden auf diesem Wege zu ahnen wagte.

Als ich in Paris selbst einfuhr, unter den schimmernden Laternen das tolle Gewühl auf den Boulevards, im Palais Royal unterscheiden konnte, als ich überall die wilde Lust, die gedankenlose Vergnügungssucht ihre Triumphe feiern sah, da seufzte ich zu den Sternen auf, diesen stillen Wächtern am Horizonte, und befand mich in den beflorten Gränzen meines Trauergebiets nicht mehr gestört. Theilnahmlos sah ich die Wände meiner Wohnung wieder, kalt zeigt’ ich den Bekannten meine Rückkunft an, versöhnt reicht’ ich meinem Magister, der inzwischen den Titel eines Barons angenommen hatte, die Hand. Die höhern Cirkel vermied ich, weil ich erfahren hatte, daß man in ihnen nur Klagen und Verwünschungen hörte.

Die gebildete Welt war nämlich untröstlich über 226 den Ton, der seit einigen Wochen am Hofe täglich unwürdiger wurde. Der König hatte sich nicht entblödet, seine Töchter in Gegenwart der achtungswerthesten Personen mit gewissen Liebkosungen anzureden, die in den Tagen seines königlichen Vorgängers ihn unfehlbar vom Hofe verbannt hätten. Man erstaunte, wie Se. Majestät zu Ausdrücken kam, die selbst im Munde des Mittelstandes unerhört waren. War das der familiäre Ton, der in den kleinen Abendgesellschaften der Marquise als gebräuchlich galt? Wann hat ein König von Frankreich zu seiner ältesten Tochter gesagt: mon cher torchon! und zu seiner jüngsten; ma petite saloppe! Ja, noch mehr, Sr. Majestät renommirten mit diesen sonderbaren Benennungen und hielten es für sehr belustigend, die Feinheiten der Halle belauscht zu haben. Jetzt mußte ich verzweifeln, ihn noch vertheidigen zu können, unangesehn, daß schon längst, ihn entschuldigen gegen den Ton, der die Opposition einmal zur Mode machte, verstoßen hieß.

Eines Morgens weckte mich ein fürchterlicher Lärm aus dem Schlafe. Während ich schnell aufsprang, das Fenster aufriß, die Laden zurücklehnte und alle Ausgänge der Straße mit einer wogenden 227 Menschenmasse bedeckt sah, pochte mein Bedienter mit Ungestüm an die Thür, um mich zu wecken. Bleich vor Schrecken öffnet’ ich und hörte die entsetzliche Botschaft, daß ganz Paris in einer aufrührerischen Bewegung sei. Ich gab dem nicht weniger erschrockenen Menschen den Auftrag, auf das schleunigste meine Sachen zu packen, lief zu den Hausbewohnern, die mir aber nicht mehr erklären konnten, als was ich, mit den wüthendsten Flüchen begleitet unter meinen Fenstern hören konnte: „Nieder mit den Blutsaugern! Tod den Kindesmördern!“ Durch die Straßen zog ein handfestes Gesindel, mit Stöcken, Eisengabeln, ja einige mit verrosteten Schießgewehren und alterthümlichen Schlachtschwertern bewaffnet. Ich war nahe daran, die Besinnung zu verlieren.

Welches konnte die Ursache dieses Aufstandes sein? Hatten die Großen zu viel Schulden gemacht und zu wenig darauf abgetragen? waren die Brode um drei Quentchen leichter geworden? hatten die Vorstädter zu weit zu gehen, um in die Theater zu kommen? oder war die Liebe dieser wüthenden Menschen, mit der sie ihren König vergötterten, so weit gegangen, daß sie ihm die Achtung der vornehmen 228 Welt wieder verschaffen wollten? Auf jeden Fall hielt ich es für gerathen, aufs schnellste meine Abreise zu bewerkstelligen.

Ich vermochte meinen zitternden Diener, das nächste Fuhrwerk auf mehre Meilen zu dingen. Ich hoffte durch Umwege die wüthende Menge vermeiden und eins der entlegenen Thore gewinnen zu können. Zum Glück wälzte sich der Schwarm mit seinem unaufhörlichen Geschrei, das immer auf den verrückten Ruf hinaus kam: man will sich im Blut unsrer Kinder baden! dem Centrum der Stadt zu. Schon hatte ich einzelne Schüsse fallen hören, Kavaleriepikete kamen durch die Straßen gesprengt, als ich meinen Wagen heranrollen sah. Die Angst beflügelte unsere Eile, im Nu waren wir mit dem Verpacken meiner Effecten fertig.

Ich nahm von meiner todesbleichen Wirthin Abschied und eilte der Gegend um die Boulevards zu, die wir wegen der unabsehlichen Menschenmenge selbst vermeiden mußten. Unzähliche Male ward ich aufgehalten. Weiber, ganz in dem natürlichen Zustande, wie sie eben aus ihren schmutzigen Betten gekrochen waren, brachen truppweise aus der Straße Poissonnière hervor. Verwegene Ungeheuer stellten 229 sich an die Spitze dieser mörderisch bewaffneten Banden und liefen mit dem Rufe: „wir thun’s um unsere Kinder!“ an uns vorüber.

Hatte denn der Dämon der Tollheit die Pariser gepackt? hatten die englischen Sitten vielleicht so sehr um sich gegriffen, daß die Mutter ihre Kinder nicht mehr gegen die Engländer schicken wollte? Waren also jene enthusiastischen Ausrufungen verhallt, mit denen man einst den König als Sieger von Fontenay begrüßt hatte?

Ein kleiner Mann, von ganz verrücktem Ansehn, stand hoch auf einem Tische und haranguirte seine Zuhörer, die ihn öfters mit den fürchterlichsten Drohungen unterbrachen. Bei meinem pfeilschnellen Vorüberfahren hört’ ich nur die räthselhaften Worte: „Franzosen, Ihr wollt es dulden, daß in dem Blute Eurer unschuldigen Kinder die Tyrannen die Strafen ihrer Sünden abwaschen?“

Davon verstand ich nichts. Was sollte die orthodoxe Lehre vom Opfertode in dem gottlosen Paris? Das Feuer des Militairs nahm immer zu. Einzelne, durch das Bajonnet gesprengte Haufen kamen blutend aus den Straßen gestürzt, von Kanonen und brennenden Lunten verfolgt.

230 Ich dankte dem Himmel, als ich die Vorstadt St. Martin erreicht hatte. Dort gewann ich den Muth, meinen Kutscher um Aufklärung zu fragen, der mir mit einem gewissen Phlegma die tolle Antwort gab: „Mein Herr, heutiges Tages muß man jedem ausgewachsenen Menschen, der kein Kind mehr ist, und jedem Junggesellen, der keins hat, Glück wünschen. Früher machten die Könige in Paris Bluthochzeiten, jetzt wollen sie auch die Kinder aus der Bluttaufe heben. Die Tage des Herodes und der bethlehemitischen Gräuel sind wiedergekehrt, daß bald jede Mutter in Paris einer Rahel gleichen wird, die im Gebirge um ihre Kinder schreit.“

Ich schüttelte den Kopf und zweifelte am Verstande dieses Kutschers.

Mein Entschluß war jetzt unwiderruflich: ich hatte Paris mein Lebewohl gesagt. Ich schickte den gemietheten Wagen zurück, setzte mich auf die Post und eilte der Heimath und der Einsamkeit zu.

In Chalons klärten mich früher angekommene Pariser Blätter über die dortigen Ereignisse auf.

Eine Frau aus der Vorstadt St. Antoine hatte ihr Kind vermißt. Klagend und weinend lief sie 231 noch tief in der Nacht in den Straßen umher, ohne es finden zu können. Bald gesellten sich ihr andere zu, die dieselben Güter vermissen wollten, und es währte nicht lange, so war der fürchterlichste Verdacht durch die immer zunehmende, unruhige Menge verbreitet. Man schrie, die Kinder würden ermordet, damit der Hof seine Krankheiten mit dem unschuldigen Blute heilen könne. Die Bewegung habe sich ganz Paris mitgetheilt, es sei zu den abscheulichsten Excessen gekommen, denen man beim Abgange der Blätter mit militairischer Gewalt zu steuern suchte.

In Metz erfuhr ich das traurige Ende dieser Katastrophe, in der viele Hunderte als Opfer ihres Wahnsinns gefallen waren.

Als ich meine geliebte Tante umarmt, als sie sich der Freude, mich aus den Pariser Neuigkeiten mit Glück entkommen zu sehen, überlassen hatte, griff ich nach der neuesten Nummer des Journal des Paris, worin ich die verdiente Strafe las, die der König den Parisern zugedacht hatte. Er war nach Rambouillet gegangen, und hatte somit ganz Paris aus seiner Gegenwart exilirt.

Dann aber habe ich mich hingesetzt, meine Au-232gen nach den Ufern der Yonne gewandt und den hervorquellenden Thränen ihren wehmüthigen Lauf gelassen.

* *

*

Jetzt liegt der Schnee des Alters auf dem Haupte, das einst so frei in die bewegten Räume der Welt blickte. Zu den alten Leiden haben sich neue gesellt, die beide die Gewohnheit leichter tragen lehrte. Im wechselnden Spiele sind die Schicksale, Wünsche und Thaten der Menschen an mir vorübergegangen, begleitet von den Dämonen, die an der Thür der Welt ihre tausendjährige Wache halten.

Nicht immer hab’ ich den Strom des Lebens unter meinen Füßen gleiten sehen, sondern oft wurd’ ich in seine Strudel hineingerissen, um dann durch eigene Hand, oder die hülfreiche eines Dritten, den mir der Zufall oder die Freundschaft zuführte, gerettet zu werden. Der Neid des Glücks fordert wohl nur die Jugend heraus, darum kann ich jetzt sorgloser meinen Blick in die Vergangenheit lenken. Nie aber wird mir im Gedächtniß ein Platz grünen, an dem ich lieber weilte, als bei jenen Tagen, deren Leiden und Freuden ich diesem Papiere anvertraut habe.

233 Weniges nur trug mir spätere Kunde von den Schicksalen meiner Bekannten zu. Den Bruder riß eine königlich preußische Kanonenkugel aus seiner ehrenvollen Laufbahn, nachdem er den Oberbefehl eines Regiments erhalten hatte.

Ueber meinen Magister, der jetzt bekannt genug ist, wird eine gerechtere Nachwelt nur mit verdienter Vergessenheit ur­theilen.

Die beiden Offiziere, meine Freunde, sollen als höhere Befehlshaber im nordamerikanischen Kriege jetzt vielleicht ihre letzten Lorbeeren suchen, in diesem seltsamen Kampfe, von dem ich fürchten muß, weniger sein Resultat, als sein Prinzip werde das Signal der verworrensten Bewegungen werden. Ninon und Adele sitzen wohl jetzt in einem blühenden Kranze von Söhnen und Töchtern und harren auf die Heimkehr der geliebten Gatten, oder auf eine Botschaft aus dem fernen, wilden Lande. Kann in diesem Augenblicke nicht ein versteckter Barbar sie meuchlings niederstrecken? oder ein grausamer Sieger das mordende Skalpirmesser an die kahlen Schädel der alten Helden setzen?

Wenn ich die Zeichen der Zukunft deuten könnte! Es ist ein weiter geheimnißvoller Vorhang, den die 234 Zeit vor uns aufgerollt hat. Sollte der Sturm, dem der Leichtsinn nun schon seit funfzig Jahren den Zug erleichtert, jetzt wirklich losbrechen? werden es die Philosophen in der That nicht verabscheuen, ihre Irrthümer und Träume von jenen Harpyen verwirklichen zu lassen, die nur auf das Signal warten, um ihre giftigen verbrecherischen Hände nach allem Hohen und Erhabenen auszustrecken?

Ach! daß ich mich in die Vergangenheit hüllen könnte, wie in ein weites Gewand, mein Haupt verbergend und in der Einsamkeit meiner Thränen den freundlichen Engel des ewigen Friedens abwartend!

Man spricht nur immer vom Schmerz der Niobe; warum nicht auch von ihrer Freude, als sie den steinernen Tod in ihren erstarrten Gliedern fühlte!

Apparat#

Bearbeitung: Gert Vonhoff, Exeter#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Die folgenden Angaben beziehen sich auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow (1829-1880). Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 1998. Bd. 1.

J [Anon.:] Geständnisse eines Portraits. Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 291, 5. Dezember 1832, S. 1161-1162; Nr. 292, 6. Dezember 1832, S. 1166-1167; Nr. 293, 7. Dezember 1832, S. 1170-1172; Nr. 294, 8. Dezember 1832, S. 1173-1174; Nr. 295, 10. Dezember 1832, S. 1178-1179; Nr. 296, 11. Dezember 1832, S. 1182-1184; Nr. 297, 12. Dezember 1832, S. 1185-1186; Nr. 298, 13. Dezember 1832, S. 1191; Nr. 299, 14. Dezember 1832, S. 1193-1194; Nr. 300, 15. Dezember 1832, S. 1198-1199; Nr. 301, 17. Dezember 1832, S. 1202-1203; Nr. 302, 18. Dezember 1832, S. 1205-1206; Nr. 303, 19. Dezember 1832, S. 1210-1211; Nr. 304, 20. Dezember 1832, S. 1213-1214; Nr. 305, 21. Dezember 1832, S. 1218-1219; Nr. 306, 22. Dezember 1832, S. 1221-1223; Nr. 307, 24. Dezember 1832, S. 1226-1227; Nr. 308, 25. Dezember 1832, S. 1229-1230. (Rasch 3.32.12.05.2)
J [Anon.:] Die Sterbekassierer. Bambocciade. Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 16, 18. Januar 1833, S. 61-62; Nr. 17, 19. Januar 1833, S. 66-67; Nr. 18, 21. Januar 1833, S. 69-70. (Rasch 3.33.01.18.1)
J [Anon.:] Die Singekränzchen. Bambocciade. Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 87, 11. April 1833, S. 345-346; Nr. 88, 12. April 1833, S. 350-351; Nr. 89, 13. April 1833, S. 354-355; Nr. 90, 15. April 1833, S. 358-359; Nr. 91, 16. April 1833, S. 361-362. (Rasch 3.33.04.11)
J [Anon.:] Der Kaperbrief. Eine Novelle. Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 104, 1. Mai 1833, S. 413-414; Nr. 105, 2. Mai 1833, S. 418-419; Nr. 106, 3. Mai 1833, S. 421-422; Nr. 107, 4. Mai 1833, S. 426-427; Nr. 108, 6. Mai 1833, S. 430-432; Nr. 109, 7. Mai 1833, S. 433-434; Nr. 110, 8. Mai 1833, S. 439-440; Nr. 111, 9. Mai 1833, S. 442-443; Nr. 112, 10. Mai 1833, S. 446-447; Nr. 113, 11. Mai 1833, S. 449-450; Nr. 114, 13. Mai 1833, S. 454-455; Nr. 115, 14. Mai 1833, S. 457-459; Nr. 116, 15. Mai 1833, S. 462-463; Nr. 117, 16. Mai 1833, S. 467; Nr. 118, 17. Mai 1833, S. 470-471; Nr. 119, 18. Mai 1833, S. 473-474; Nr. 120, 20. Mai 1833, S. 478-480; Nr. 121, 21. Mai 1833, S. 481-482. (Rasch 3.33.05.01)
J Chevalier Clement. Novelle. Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 199, 20. August 1833, S. 793-794; Nr. 200, 21. August 1833, S. 798-800; Nr. 201, 22. August 1833, S. 802-804; Nr. 202, 23. August 1833, S. 806-807; Nr. 203, 24. August 1833, S. 809-810; Nr. 204, 26. August 1833, S. 814-815; Nr. 205, 27. August 1833, S. 818-819; Nr. 206, 28. August 1833, S. 821-822; Nr. 207, 29. August 1833, S. 825-826; Nr. 208, 30. August 1833, S. 829-830; Nr. 209, 31. August 1833, S. 834-835. (Rasch 3.33.08.20)
E Novellen. 2 Bde. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1834. (Rasch 2.4) Bd. 1: Vorrede. Berlin den 6. Januar 1834. S. V-XXII; Der Kaperbrief. Eine Novelle. S. 1-106; Die Sterbecassirer. Bambocciade. S. 107-128; Geständnisse einer Perrücke. Aus vergilbten Papieren. S. 129-234. Bd. 2: Chevalier Clement. Novelle. S. 1-60; Die Singekränzchen. Bambocciade. S. 61-88; Der Prinz von Madagaskar. S. 89-256.
A1 Der Prinz von Madagaskar. In: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. 13 Bde. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1845-1852. Bd. 11 (1846): Novellenbuch. S. 1-98. (Rasch 1.2.11.1)
A2 Der Prinz von Madagaskar. In: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. 12 Bde. Jena: Costenoble, [1873-1876]. Bd. 4 [1874]: Kleine Romane und Erzählungen. Dritter Theil. S. 165-228. (Rasch 1.5.4.6)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch einfache Bindestriche wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit eckigen Klammern an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Erweiterte Abstände zwischen Absätzen sind in der Regel satztechnisch bedingt und werden in diesen Fällen für die Textkonstitution ignoriert. Die Liste der Texteingriffe nennt die vom Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Werkes: Novellen. Hg. von Gert Vonhoff. Münster: Oktober Verlag, 2017. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I: Erzählerische Werke, Bd. 3.)

2.1.1. Texteingriffe#

Der Kaperbrief

16,2 Meere Meerr

18,13 entgegnete entgegente

22,5 unter uuter

30,9 „er läßt er läßt

31,25 Fläche. Fläche ausgefallenes Satzzeichen am Zeilenende

38,6 das jetzt daß jetzt

39,31 un-[47]ten un-[47]unten

69,9 konnte, konnte

Geständnisse einer Perrücke

92,25 Bestehenden Bestestenden

103,32 dem Sie dem sie

108,28 Den Schluß Der Schluß

111,24 lästig lässig korrigiert nach J

124,22 „Ungefähr Ungefähr

132,1 XIII. Die Kapitelziffer, die Leerzeilen über und unterhalb der Kapitelziffer fehlen in E; ergänzt nach J

141,14-15 Horizonte, und Horizonte,und

Chevalier Clement

154,13 Solosänger Solofänger

166,6 daß das

181,7 Throne Thron

Der Prinz von Madagaskar

211,30 rückgängig machen können rückgängig können

214,29 von seinem von seinen

222,21 in diesem in diesen

260,21 kindischen kindischem

261,11 liebenswürdig liebenswür- Silbenausfall nach Trennung

267,3 „wenn wenn

272,19 Dégout, Dégout

281,20 den eilenden dem eilenden

282,16 füllten füll- Silbenausfall nach Trennung

283,17 sah sahen

290,4 daß sie daß Sie

290,6 habe sie habe Sie

290,33 Hovas Hoyas

291,31 France france

2.1.2 Presskorrektur#

Geständnisse einer Perrücke

115,18 Seit einigen Seit einige Exemplar der Staatsbibliothek München

Kommentar#

Der weitere wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Stellenerläuterungen#