Ueber deutsche Publicistik.#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Christine Haug
  2. Ute Schneider
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
08.2020

Text#

98 Ueber deutsche Publicistik.#

I.#

Veranlassung zu den nachfolgenden Bemerkungen gaben dem Verfasser die bekannten Skizzen des Lord Brougham über die Staatsmänner aus der Regierungsepoche Georgs III und Georgs IV, eines vielangefeindeten, aber nach allen Seiten hin geistreich anregenden Werkes.

Der populäre Schmelz, der früher auf dem Namen Henry Brougham lag, ist erblindet. Welcher Name war in den Zeiten der Reform gefeierter! Seither ist alles geschehen, um den großen schottischen Advocaten und ehemaligen Lordkanzler auf den Isolirschemel der Unpopularität zu setzen. Keine Anlehnung, kein Schweif mehr. Die Satire der Times hat ihn, um uns eines französischen Ausdrucks zu bedienen, „unmöglich“ gemacht. Die Caricatur war, abweichend von ihrer gewöhnlichen Wirkung, hier so verwundend daß sie etwas muß vom Porträt gehabt haben. Brougham als Charlatan, im rothen Tressenkleide, mit einem Policinell zur Seite, Brougham als Nußknacker, mit rothem, die Kinder erschreckendem Wulstgesicht, Brougham als Trunkenbold, lallend, mit kleinen Aeuglein, hervorquellend aus dicken bacchischen Pausbacken – diese Bilder, diese Metaphern und Vergleichungen haben vernichtend gewirkt. Lord Brougham hat sich in die frühere Popularität, die er immer vor dem Barreau und lange Zeit vor dem Wollsack genoß, nicht wieder einsetzen können.

Der Verfasser ist weit entfernt den heftigen, gereizten und gewiß oft höchst einseitigen Ton des obengenannten Werkes aus der Feder des edlen Lord in Abrede zu stellen, ohne jedoch darum in der Verdammniß desselben so weit gehen zu können wie Schlosser, der über das genannte Werk ein nicht minder heftiges, gereiztes und einseitiges Urtheil fällt. Schlosser (Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts III. Bd.) hat das nur getheilte Lob nicht ertragen mögen welches Brougham den von ihm vergötterten Juniusbriefen ertheilt, und eben so reizbar wirkte auf ihn alles was Brougham zur Vertheidigung oder, richtiger gesagt, unparteiischeren Würdigung Burke’s anbringt. In beiden Punkten geht Schlossers an sich redlicher Eifer zu weit. Wäre der Verfasser der Juniusbriefe wirklich jenes erhabene Muster von Grundsatzfestigkeit und einer von aller Parteisophistik entfernten selbständigen Ehrlichkeit gewesen, so würde nicht, wie es scheint, auf ewige Zeiten dieß Dunkel über seine Persönlichkeit sich erhalten haben. Für Broughams Auffassung scheint die nie gelüftete Anonymität zu sprechen. Es muß hier jemand die Feder geführt haben, der sich deßhalb nicht nennen durfte weil er sonst über die Widersprüche seiner politischen Stellung zu diesen Briefen hätte erröthen müssen. Burke dagegen anlangend, so wird man sich gerade bei Brougham überzeugen können daß ihm Burke’s Meinungsumkehr und seine Opposition gegen die französische Revolution eben so widerwärtig ist, wie ihm doch der innere Kern des berühmten Stylisten ein reiner, die Naivetät seiner Natur eine liebenswürdige, und die spätere Ideenanarchie im Kopfe dieses Mannes eine mehr bemitleidenswerthe als verächtliche erscheint. Schlosser sieht mit Recht in Burke den Vater der deutschen politischen Doctrinärs, den Vorgänger einer poetisch-idealisirenden politischen Sophistik, an deren Theorien wir in der That genug zu leiden haben, aber Brougham räumt alle gefährlichen Anwendungen des Burkismus ein, ohne darum aufzuhören Burke selbst als eine interessante poetische und psychologische Merkwürdigkeit anzuerkennen. Es ist eine der bedenklicheren Seiten der so wissensreichen und gesinnungsfrischen Schlosser’schen Geschichtswerke, daß in ihnen ein etwas dictatorischer Machthaber zu Gericht sitzt und frischweg zu Recht oder Unrecht erkennt, ohne den tiefern Sinn zu besitzen für psychologische Analyse der Charaktere sowohl wie für Auffassungen der Menschen vom höheren Standpunkte der Poesie und des Gemüthes.

Aber immerhin! Es soll wahr seyn daß das Werk des „edlen Lord“ dem Vorwurfe der Einseitigkeit und gereizten Heftigkeit nicht entgehen dürfe; wie viel bleibt doch noch übrig, das an ihm des ungetheiltesten Lobes würdig ist! Der Styl eben so warm wie lichtvoll. Die Fülle des Wissens nicht trocken aufgespeichert, sondern in das Raisonnement lebendig verarbeitet, so daß das Werk, obgleich es vereinzelt erschien, doch nicht musivisch gearbeitet, sondern aus dem Vollen und Ganzen geschöpft ist. Der Verfasser Redner, Politiker, Geschäftsmann, und doch steht seine Empfänglichkeit nur den Eindrücken einer höhern Humanität offen, deren Grundsätze zu besitzen er sich wenigstens selbst überredet. Die Politik ist bei ihm keine Frage des Faches, nicht einmal der Partei; er strebt wenigstens darnach sie auf die Höhe der Moral, auf die Höhe des allgemein menschlichen Interesses zu stellen. Mehr aber als diese Lichtseiten, zu welchen allerdings die trotzdem befangene Persönlichkeit des Verfassers starke Schattenseiten fügen mochte, mehr als die objectiv und historisch brauchbaren oder unbrauchbaren Resultate seines Werkes hebt sich, wenigstens für uns so wohlthuend, an ihm hervor der hohe unerschrockene Freimuth, diese rücksichts- und furchtlose Unbefangenheit des Urtheils, diese ruhige und fast gleichgültige Handhabung der die delicatesten Zustände und Persönlichkeiten betreffenden Thatsachen. Lord Brougham, ehemaliger Minister, spricht über Prinzen und Könige wie ein Journalist. Da ist nichts von dem niedergeschlagenen ängstlichen Blicke eines ehemaligen Staatsbeamten, der wie z. B. in Deutschland mit einer Pension aus den Geschäften schied und nicht einmal ausdrücklich, sondern stillschweigend sein Wort gegeben hat nie den Mund zu öffnen, sondern unverbrüchlich die Geheimnisse seiner Amtsverwaltung zu bewahren. Da ist keine demüthige, lakaienhafte Scheu an erlauchten Personen Menschliches zu entdecken, ihre Leidenschaften Laster zu nennen, ihre hartnäckig eingewurzelten Ueberzeugungen als dem Wohle des Gemeinwesens gefährlich darzustellen. Die Fürsten stehen ihm da als die Diener ihrer Zeit, ihres Volkes, als verantwortliche oft schwache Werkzeuge einer höhern Allmacht, welche die Monarchie nur deßhalb einsetzte, um durch die Herrschaft eines Einzigen die Freiheit Aller möglich zu machen. Wenn Georg III ein deutscher Fürst gewesen wäre, würde 99 sein Wahnsinn, der ihn periodisch befiel, jemals so thatsächlich anerkannt und zugestanden worden seyn wie im freien England? Welche Schleier würden deutsche Zeitungsschreiber für ähnliche Zustände gewebt haben!*) Der Proceß der Königin Caroline, Georgs IV frivole Lebens- und oft wortbrüchige Handlungsweise …. hier ist nichts verschwiegen, nichts umgangen, hier wird von der Politik nicht gesprochen, ohne an die Geschichte zu berufen, von der Geschichte nicht, ohne an das Wohl des englischen Volkes. Diese freimüthige, stolze Haltung des erwähnten Werkes ist es die ihm etwas Erhabenes gibt, und die mich veranlaßt die Betrachtungen die es in deutschen Lesern nothwendig anregen muß, weiter auszuführen und auf die Verhältnisse unserer Litteratur, unserer Politik, unserer Geschichte anzuwenden.

Könnten wir schon zur Zeit solche Werke liefern? Können wir sie nur etwa über die Epoche von 1789 bis 1815 liefern? Besitzen wir schon welche die auf dem Niveau dieser in Frankreich und England möglichen historischen Publicistik stehen? Dieß sind Fragen, die wir trotz einzelner memoirenartiger Annäherungen an die bezeichneten Vorbilder schwerlich bejahen werden.

Wir wollen eine Definition des Wortes Publicistik geben. Publicistik ist sich kundgebende, sich äußernde, lautwerdende Politik. In Wort geäußerte Politik ist die politische Beredsamkeit, in Schrift geäußerte Politik ist Publicistik. Ein Politiker schafft Staatsleben, ein Publicist bespricht es. Die Publicistik steht in der Mitte zwischen der Historie und der Politik, sie liefert für beide Stoff, ohne eins von beiden selbst zu seyn. Sie ist weniger eine Wissenschaft als eine Kunst, und wenn die Wissenschaft in Pedanterie ausarten kann, so weiß man daß die Klippe der Kunst der Charlatanismus ist. Es liegt in der Natur der Publicistik daß sie sich immer in der Schwebe einer gewissen Ungewißheit befindet und ihr positives Material mit einer Menge negativer Heischesätze, Vermuthungen, Ahnungen, Prophezeiungen verquicken muß. Dieser nothwendige negative Inhalt, der durch den nur allmählichen Uebergang von Politik in Geschichte bedingt wird, hat die trügerische Ansicht verbreitet vom bloßen sophistischen und dialektischen Formengeist der Publicistik, hat jene in allen Farben schillernden Meinungskamäleone geschaffen, welche Publicistik nur als die Kunst der gewandten Feder übersetzen möchten, hat Publicistik gleichbedeutend fast mit Journalismus gemacht, und den Begriff eines sehr ernsten und hochwichtigen Litteraturzweiges allmählich so plattgetreten, daß man z. B. nicht mehr lächelt wenn in Berlin der Gerichtsschreiber Thiele jetzt eine Zeitschrift für Mord, Diebstahl und sonstige Criminalcuriosa unter dem Titel: Der Publicist herausgibt.

Steht uns nun der Begriff fest daß Publicistik die Vermittelung politischer Handlungen an das Urtheil der Geschichte ist, so können wir, in die Zeiten rückblickend, fragen was Deutschland auf diesem Gebiete der Litteratur geleistet hat? Eine Geschichte der deutschen Publicistik wäre eine dankenswerthe und belehrungsreiche Arbeit. Derjenige der sie übernähme, würde sich das Material etwa in folgende Gruppen theilen müssen:

I. Die juristische Periode der Schlözer und Pütter, wo sich auf den Universitäten das Staatsrecht erlaubte die politischen Zustände Europa’s und Deutschlands zu beaufsichtigen.

II. Die Reaction der Bildung und des verfeinerten Geschmackes auf die Beurtheilung der hinter dem ästhetischen und nationalen Aufschwunge des Vaterlandes zurückbleibenden politischen Zustände. Hier kämen vorzugsweise C. F. v. Moser und Justus Möser in Betracht.

III. Die durch die Zeitereignisse von der französischen Revolution bis zum Untergang des deutschen Reiches und von da bis zur Erhebung des Vaterlandes gegen Frankreich hervorgerufene, fast möcht’ ich sagen unfreiwillige, aber gerade dadurch ächt historisch und im höhern Sinne wahrhaft politische Publicistik, zu welcher Johannes v. Müller, Fichte, Gentz, Adam Müller, Arndt, Görres u. s. w. zu rechnen wären.

Erst mit der neuen Bundesverfassung, erst mit der Bildung constitutioneller Staaten und dem Zugeständniß eines in Einklang mit allen moralischen Kräften der Gesellschaft zu entwickelnden Staatslebens begänne dann jene selbstbewußte deutsche Publicistik, die leider auf der einen Seite zu sehr in Juristerei und auf der andern in leeres Zeitungsgerede ausgeartet ist, und der mit vereinter Kraft, mit dem Aufwand einer neuen in die Erkenntniß der Zeit tiefer eingehenden Intelligenz mit Rath und That zu helfen wäre; worüber später.

Das sich gleichbleibende Merkmal der drei obengenannten Stadien ist die entweder absichtliche oder nothgedrungene Unbestimmtheit jener Publicistik über ihren wahrhaften Gegenstand. Man vermied es der eigentlichen Aufgabe ins Angesicht zu sehen, man konnte, man wollte es nicht. Man wollte es nicht zu Schlözers Zeiten, wo sich die Publicistik, ohne Zweifel von England her, unter dem Namen einer fremden Wissenschaft, der Statistik, einschmuggelte; man konnte es nicht, damals als in das sinkende alte Deutschland die Begriffe des idealen Weltbürgerthums und in das wirklich gesunkene die Begriffe eines neu zu erbauenden Vaterlandes einzogen. Was Schlözer Statistik genannt hatte, das nannte Fichte Philosophie. Dem Staat, der Geschichte lernte der blöde Deutsche erst spät ins Auge sehen, und noch jetzt, tägliche Erfahrung beweist es, erträgt sein Auge den Strahl der Dinge wie sie sind, nicht lange, noch jetzt springt er von der Frage des Rechtes und der Freiheit des Volkes nur zu gern auf verallgemeinernde Nebendebatten, z. B. jetzt auf die Kirchenfrage über.

Nur das volle Bewußtseyn des Staates und der Geschichte kann Publicistik bilden. Es war in Schlözer durch Reiseanschauungen aufgegangen, durch seine Studien über Rußland, wo er vor seiner Göttinger Professur angestellt war. Er bestieg den Katheder mit einem schon praktisch geschulten Blick für Gegenstände der Politik und höhern Administration. Sein Briefwechsel und seine Staatsanzeigen haben Deutschland zuerst mit Zuständen bekannt gemacht, die gegen den Fortschritt der Zeit sich nicht mehr erhalten konnten. Die Fackel der Oeffentlichkeit beleuchtete plötzlich die dunkeln Partien des Vaterlandes, die Tyranneien der kleinen weltlichen und geistlichen Despoten, die tausendfach in das Leben hinein verzweigte Mißachtung des Menschen in allen seinen ursprünglichen von der Natur gegebenen Rechten. Die verletzten wuthschäumenden Machthaber schleuderten öffentliche Manifeste gegen den Göttinger Publicisten, die Züricher Oligarchen ließen einen seiner Correspondenten, der ihm Documente über die Unterschleife der Militärverwaltung des Kantons übersandt hatte, den unglücklichen Waser, mit dem Schwerte hinrichten; der geistliche Machthaber von Speyer verklagte Schlözer unmittelbar bei seinem Landesherrn, Georg in England, aber eine kluge Taktik deckte Schlözern gegen alle diese Feldzüge den Rücken. Er lobte nämlich die Handlungen der großen Mächte, um die der kleinen verdammen zu können. Es gab damals noch nicht jene solidarische Verantwortlichkeit, die im gegenwärtigen Deutschland am Bundestag ein Staat für den andern übernimmt und die, wie wir sehen werden, der Ausbildung einer freisinnigen Publicistik nicht eben günstig ist. Glücklicherweise waren zu Schlözers Blüthezeit die 100 Zustände Oesterreichs und Preußens allerdings lobenswürdig und mustergültig für die verrottete kleine Despotie des übrigen Deutschlands, und Hannover selbst schien damals alle Früchte seiner Verbindung mit England ernten zu wollen – Früchte, die auch auf dem Gebiete der Verwaltung und der innern Politik des damaligen Hannovers reiften. Schlözer ging freilich auch in dieser Klugheit zu weit. Er, der mit so hellem Auge das Nächste zu beurtheilen verstand, verlor seine Unbefangenheit für das Entfernte. Indem er seine Politik von der großbritannisch-hannover’schen ins Schlepptau nehmen ließ, mußte er auch Lord Norths Verfahren gegen Nordamerika billigen. Seine Opposition gegen den nordamerikanischen Freiheitskrieg brachte ihn in Deutschland selbst in Widerspruch mit seinen früheren Bewunderern, und man kann wohl sagen daß sich seine publicistische Laufbahn mit einer strafenden Ironie des Schicksals endete. Von Göttingen aus hatte Schlözer Könige und Kaiser zu verurtheilen gewagt und Hannover hatte mit Ruhe seinen Professor gewähren lassen, als aber Schlözern einfiel in seine Zeitschrift einmal auch einen Tadel gegen den Postmeister von Nordheim, zwei Meilen von Göttingen, aufzunehmen, wurde ihm bedeutet daß er seine Thätigkeit in dieser Form einstellen möchte! Gibt es ein charakteristischeres Kennzeichen der Bedingungen unter welchen sich in Deutschland Publicistik entwickeln soll?

Es ist, wenn man die Geschichte der Universität Göttingen verfolgt, von jeher ein Unglück dieser wissenschaftlichen Anstalt gewesen daß sie, selbst bei neuen, von ihr anfangs mit Leidenschaft vertretenen Ideen, nie lange bei dem innern Kerne derselben zu verweilen vermochte, sondern sehr bald zur künstlichen Ausbildung und gelehrten Pflege der Schale überging. Die Politik, die bei Schlözer ausübende Wissenschaft, so zu sagen eine Kunst war, wurde bei seinen Nachfolgern Gelehrsamkeit, Buchwissenschaft, System. Schlözers Weltblick wurde bei Pütter begränzter Actenblick. War bei Schlözer die Statistik die Hülfswissenschaft der Politik gewesen, so wurde dieß bei Pütter die Jurisprudenz. Pütter pferchte sich in den Bann des deutschen Privatfürstenrechts ein und wurde der Ahnherr jener gelehrten Universitätspublicistik, die zuweilen höchst ehrenvolle Beweise tüchtigster Gesinnung aufzuweisen hatte, sich aber doch in einseitige Abgabe von Gutachten, Separatvoten u. drgl. verloren hat. Es ist z. B. bekannt daß man bei einem Adepten dieser Schule, dem seligen Zachariä in Heidelberg, für baare Bezahlung jede Meinung, wenn nicht nach moralischer Ueberzeugung bewiesen, doch nach juristischen Deductionen durchgeführt und wahrscheinlich gemacht erhalten konnte. Hier verwandelte sich die Publicistik in staatsrechtliche Advocatur. Zur Charakteristik dieser Gattung von Publicisten und Staatsmännern würde vieles von dem passen was Brougham über Wedderburne sagt.

Die Publicistik, gewidmet den allgemeinen Interessen eines Volkes, soll mindestens die Sprache aller Gebildeten reden. Sie soll in einem Tone gehalten seyn der das allgemeinste Verständniß möglich macht. In dieser Hinsicht suchten schon früh die Moser, besonders aber der große Justus Möser, ihre Mitbürger aufzuklären. Sie waren die Vorboten einer Zeit, wo das Volk sich selbst entschließen sollte für seine Bedürfnisse zu reden. Man faßte die Zustände an ihrer Wurzel, die Uebel an ihrer unmittelbaren Quelle, man ging vom Kleineren auf das Größere, vom Theil auf das Ganze über. Es bildete sich die Theorie von einem Urstaate, der entweder in einer paradiesischen Vergangenheit oder in einer atlantischen Zukunft läge, eine Theorie die von den einen mehr philosophisch (Kant lieferte bald die Denkmaterialien dazu), von den andern mehr historisch erfaßt wurde. Diese Phase unserer Publicistik (zu welcher z. B. die Hannovrer Brandes und Rehberg zu rechnen sind) ist eine Folge jener allgemeinen Umwälzung unseres geistigen Lebens, welche zunächst nur der Läuterung des Geschmackes gewidmet schien. Geradezu der Schönheitssinn war es der am nachdrücklichsten, nachdrücklicher noch als bei Schlözer das Rechtsgefühl, die Hand anlegte um in unsern geschmacklosen gesellschaftlichen Existenzen aufzuräumen, jener höhere sittliche Schönheitssinn, der von der Kunst ins Leben dringt und überall, wo er es antrifft, das Häßliche, Kleinliche, Entwürdigende bekämpft. Vaterland und Religion wurden die Hebel einer geschmackvolleren Litteratur, sie wurden auch die Leitsterne eines edleren politischen Daseyns. Um die poetische Schönheit unseres Volkes zu retten und die Erhabenheit unserer Geschichte wiederherzustellen, setzten sich die Nachahmer Gottscheds (das war noch C. F. v. Moser) und die Bewunderer Klopstocks (hieher wäre Justus Möser zu stellen) mit puristischem und religiösem Eifer in Widerspruch mit dem Deutschland von 1760. Der Kampf gegen die französische Sprache, gegen die ungefüge Schwerfälligkeit der damaligen deutschen Sprache, der Kampf gegen Curialstyl, Zopf- und Perrückenwesen der Form führte auch auf das Materielle des Inhalts selbst über, auf die Rechtlosigkeit des Volks, auf die sybaritische Vergnügungssucht der Großen, und auf die Anmaßungen eines Adels der in jedem Weiler den souveränen Herrn spielte. Es bildete sich eine ideale Publicistik, die mit der Philosophie und Poesie im Bunde das Volk an edlere Gesellschaftsformen gewöhnte, bis die französische Revolution ausbrach und plötzlich den Träumen, die bisher utopistisch erschienen waren, den Schein einer möglichen Verwirklichung lieh.

Die Dinge wendeten sich aber anders als man erwartet hatte. Das Maß der gegebenen Verhältnisse, das man plötzlich gehofft hatte überspringen zu dürfen, wurde stricter als je. Napoleon zeichnete so eng den Weg vor auf dem die deutsche Politik wandeln durfte, daß die Publicistik sehr bald auf die Bahn der Thatsachen und der Geschichte einlenken mußte. Der Rheinbund begränzte die Frage der Nationalität, die Continentalsperre den Idealismus jener Volkswirthschaftslehre, die damals erst seit kurzem von der Schwärmerei für Adam Smith sich erholte. Ein geschichtliches großes Leben ging uns auf und mit ihm die schönste Blüthe unserer Publicistik. Wahre politische Parteien müssen überall im Strom der Geschichte entstehen. Diese Parteien gaben der damaligen politischen Debatte den Charakter. Die Thatsachen die zu verhandeln waren, brannten hell und vor aller Augen. Jedermann verstand diese Flammen, weil sie jedermann verzehren konnten. Die Sprache die der Schmerz redet, ist nie eine studirte. Die ganze Nation mußte sie verstehen. Im Tone der Schule konnte von öffentlichen Dingen nicht mehr geredet werden. Wir werden unsere schönsten Musterstücke politischer Beredsamkeit, unsere treffendsten Stylproben einer der Geschichte und einem ganzen Volke dienenden Publicistik noch lange nur aus den damals ausfliegenden gedruckten Reden, Ansprachen, Broschüren, Büchern und Zeitungen aller Art entnehmen. Der Inhalt von damals würde sich für unsere Zeit nicht mehr eignen, die Form von damals wird immer eine classische bleiben.

Der Pariser Friede entsetzt Napoleon, der Wiener Congreß beschäftigt sich mit der Wiederherstellung Deutschlands. Es ist nachzuweisen daß sich in der deutschen Publicistik von 1815 bis zum heutigen Tage alle drei Grundelemente unserer politischen Debatte, wie sie im Vorhergehenden entwickelt wurden, wiederfinden, das rein juristische Element, das humanitäre, das historische. Die beiden letzten Elemente schieden sich früh aus der politischen Litte-101ratur zur Zeit der Erniedrigung des Vaterlandes heraus und trennten sich unmittelbar nach dem Sturze Napoleons. Die historischen Publicisten haben wir empfindlich genug in ihren Restaurationsversuchen als die Romantiker der Politik kennen gelernt, die idealen oder Humanitätspolitiker, aus dem Jenaischen Brennpunkte, wo Oken, Fries, Luden den Ton angaben, gestalteten sich vorzugsweise als liberale Publicisten. Die Juristen auf den Universitäten hielten eine Mitte und haben, als die neuen Verfassungen ein Verfassungsrecht schufen, nach der rechten oder linken, der conservirenden oder bewegenden Seite hin eine gelehrte Publicistik ausgebildet, die sich noch bis heute bemüht die Intelligenz unseres im Ganzen unpolitischen Volkes zu sich heranzubilden und für ein sogenanntes constitutionelles Staatsleben reif zu machen. Die Juliusrevolution gab den nur einfach liberalen Gefühlspublicisten das Uebergewicht bis die Folgen jenes Dynastiewechsels, die für den deutschen Statusquo gefährlich zu werden drohten, diese Gattung von politischen Schriftstellern, die besonders den nächsten Bedürfnissen der Zeitungen dienen, mit lebendigem Eifer die Idee der Nationalität ergreifen ließ, zu welcher sie in der jüngsten Gegenwart da, wo die Verhältnisse es gestatten, noch die kirchliche Debatte gefügt haben.

Was ist nun im gegenwärtigen Augenblick die deutsche Publicistik und was wird sie, wenn sich die Verhältnisse nicht wesentlich ändern, bei uns immer nur bleiben können? Diese Frage in Vergleich mit Frankreich und England beantwortet, kann man nicht anders sagen als: Sie ist ein an sich gutgemeintes, aber überwiegend doch zweckloses Hin- und Wiederreden über gewisse politische Allgemeinheiten. Die Frage beantwortet mit Rücksicht auf Deutschlands Vergangenheit und die Hoffnungen der Zukunft, wird man diesen schnellen Ausspruch vielleicht bedenklich finden, und sich bemühen doch Vorschläge, Winke und Erörterungen einem besseren Ziele nach Kräften entgegenzuarbeiten, wenn auch im Augenblick für eine das politische Leben unseres Volkes organisch integrirende Publicistik noch nicht viel Aussicht vorhanden scheint. Die Erkenntniß der Hindernisse ist allerdings das erste Mittel sie zu beseitigen.

Wenn die Publicistik die Aufgabe hat die Thatsachen der Politik mit der Geschichte zu vermitteln, so fragen wir zunächst was sind in Deutschland politische Thatsachen? „Hier stock’ ich schon,“ kann man mit Faust sagen als er die Bibel erklären will. Was ist Thatsache in Deutschland? Was gibt sich frei, offen, unverhohlen als eine Regierungshandlung, als ein politischer Act? Seit drei Jahrhunderten leidet Deutschland an einer Ueberschätzung des Begriffes vom Amtsgeheimniß. Im Mittelalter regierte man bei offenen Thüren. Das Verhältniß der Vasallen zum Lehnsherrn, der Stände zum Landesherrn, der Fürsten zum Kaiser machte die Politik des Mittelalters öffentlicher als in unserer öffentlichen Zeit. Erst mit Karl V, mit Granvella, mit seinen spanischen Regierungsmaximen kam über Deutschland die büreaukratische Etikette, die Geheimnißkrämerei der Cabinette und die Mystik der Regierungsbüreaux. Die allmähliche Ausbildung der absoluten Monarchie, verbunden mit der immer tiefer eingreifenden Zerrüttung der Finanzen, legte auf die deutsche Politik Schleier, die noch jetzt nirgends gern bei uns gelüftet werden. Die Beamten bilden einen Staat im Staate. Sie werden auf Eid und Pflicht genommen die Gegenstände ihrer Amtsthätigkeit geheim zu halten. Politische Thatsache ist bei uns, nicht wie in Frankreich und England das Werdende, sondern nur das Gewordene. Mit welchen Factoren soll unsere Publicistik rechnen? Ihre Thatsachen sind nur die Verordnungen der Regierungsblätter, die wenigen officiellen Aeußerungen welche die Regierungen von sich zu geben geneigt sind, die Anträge die an die Ständekammern, an die Landtage gemacht werden. In Frankreich und England erlaubt das parlamentarische Leben an die Staatsmänner Fragen zu richten, Fragen über das was sich im Stillen hier oder da vorbereitet. In Deutschland wird der Publicist immer in der luftigsten Schwebe gehalten, und ist vor Mystificationen der Zeitungen und seiner eigenen Phantasie nie sichergestellt. Die Amtsverschwiegenheit unserer Beamten ist eine nothwendige Folge unseres überwiegend geheimen Regierungssystemes, sie ist, so schaffen die Sitten die Sitte, unter unsern obwaltenden Umständen eine Tugend, sogar eine Frage der Moral geworden. Ein ausscheidender Staatsmann leistet Verzicht darauf ein Gedächtniß zu haben. Seine Pension ist es nicht die ihm den Mund schließt, sein Gewissen, seine Moral, seine Ansichten von politischer Schicklichkeit sind es. Sonderbare Verschiedenheit der Begriffe! In England ist der Staat etwas das dem Allgemeinen gehört, die Beamten des Staates sind Diener des Publicums. Das Gemeinwesen verlangt in England daß dort die Beamten keine Kette bilden. Sie kommen und gehen, sie dienen nicht einer Hierarchie, einer freimaurerischen Kaste, sondern dem Allgemeinen. In einem Lande wie Deutschland, wo der junge Beamte beim ersten Eintritt in das Büreau gleichsam von der übrigen Welt Abschied nimmt, kann sich die Publicistik nur kümmerlich entwickeln. Sie mag noch so scharfsinnig, noch so gelehrt, noch so geistreich in ihren Combinationen sowohl wie in ihrer Darstellung seyn, sie wird sich in Friedenszeiten, im Geleise ruhiger Entwicklungen, nie auf die Höhe wahrhaft historischer Publicistik schwingen, weil ihr Eins fehlt, eine unterrichtete Einsicht in die Thatsachen.

Wir wollen aber gerecht seyn und noch einen Schritt weiter gehen. Das wogende Meer, auf welchem der englische Publicist entweder als journalistischer Corsar oder kundiger Pilot der parlamentarischen Debatte steuert, ist immer nur das große, einige und ungetheilte Interesse des englischen Volkes im Ganzen. Was in England gut gemacht oder gefehlt wird, wird gut gemacht oder gefehlt für das einige große Vaterland. Deutschland aber, es mag noch so sehr streben Bundesstaat zu seyn, wird immer in dieser Rücksicht ein Staatenbund bleiben, ein Verein von Gemeinwesen, die ihrer Sonderinteressen sich nicht entledigen können. Gäbe der eine dieser Staaten auch gern seine Politik zur heimischen unbefangenen Erörterung hin, so hindert ihn das Gefühl daß dadurch der Nachbar Gelegenheit bekommt mit in das Getriebe seiner Maschine einzusehen. Noch hat das Gefühl einer gemeinsamen Nationalität uns nicht so umsponnen daß z. B. Hessen-Kassel mit Gleichmuth zusehen würde wie in Hessen-Darmstadt seine Zustände auf dem Papier oder der Tribüne besprochen werden. Die tägliche Erfahrung beweist wie sehr wir durch die ungleich vertheilte Freiheit im vollen Genusse derselben immer wieder zurückkommen. Schriften die in Sachsen über Preußen, über Württemberg in Bayern, über Frankfurt in Hamburg erscheinen dürfen, und das Entfernte freisinniger besprechen als es in der Nähe geschehen darf, haben leider immer die Folge gehabt daß wir durch allerlei Restrictionen in Schwankungen geriethen, die zuletzt mehr Verlust als Gewinn brachten. Das Mißtrauen und die Eifersucht der Staaten gegen einander ist demnach die zweite Ursache warum die deutsche Publicistik zu keiner kräftigen Haltung erstarken kann. Wenn unsere Bundesverfassung sich nicht zu der Höhe erheben kann daß das Gesetz in Aussicht stünde: Kein in einem deutschen Staat erschienenes Buch oder Journal darf in einem andern verboten werden – dann wird auch das so nothwendige allgemeine nationale Bewußtseyn, welches 102 der Publicistik so unerläßlich zu Grunde liegen muß, nimmer gedeihen.

Ein drittes Hinderniß des Aufschwungs unserer Publicistik find’ ich in der vagen Allgemeinheit unserer politischen Principien. In Frankreich und England bewegt sich die politische Debatte innerhalb bestimmter durch Ueberlieferung und Geschichte festbegründeter und allgemein anerkannter Theorien. Die Gegensätze der Whigs und Tories stehen durch Jahrhunderte fest. Der Napoleonist, der Legitimist, der Republikaner, der Socialist, der Anhänger der Tiersparti, des Justemilieu, endlich der Doctrinär, das alles sind in Frankreich fertige Typen, fertige Charaktere, deren Proteste, deren Uebereinstimmungen, deren bewilligte oder verweigerte Unterschriften jede Partei kennt. Politik wird in Frankreich und England auf gangbaren, guten Wechseln geschrieben; Jeder kennt die Casse wo man sie präsentiren darf. Politik wird dort in allgemein anerkannter Münze gezahlt. Der Curs dieser Münzen mag schwanken, aber schlägt dort jeder politische Schriftsteller seine eignen Medaillen? Bei uns geschieht dieß. Die Publicistik, statt mit kräftigem Fuß in das innere Heiligthum der Thatsachen einzutreten, so weit sie nun eben zugänglich sind, hält sich bei uns vielzulange im Vorhofe der Principien auf. Wir fühlen das Bedürniß keinem politischen Raisonnement zuzuhören, ohne erst zu wissen, cui bono der Verf. raisonnirt: wir können die Frage nicht zurückweisen, quis, quid, cur, quomodo u. s. w. Die Principienfrage ist zu tief in das Herzblut unserer Zeitgenossen eingedrungen. Aber erleben wir nicht täglich in Deutschland gerade auf diesem Gebiet die widersinnigsten Erscheinungen? Die Einen wollen sich nur an Thatsachen halten, und geben vor alle Principien zu vermeiden. Wie lange hat es gewährt, bis wir von Bülow Cummerow, nachdem wir wußten daß er ein scharfsinniger und patriotischer Mann war, auch erfuhren in welchem höhern politischen Interesse er seine trefflichen Monographien schreibt? Wie ist ein Volk mündig und reif zu nennen für eine unser Leben, unsere Geschichte, unsere Litteratur integrirende Publicistik, wenn wir z. B. Erscheinungen erleben daß man Zeitschriften verkündigen darf, die in der Politik hölzernes Eisen zu liefern versprechen, d. h. die in ihrem Glaubensbekenntnisse liberal-conservativ zu seyn versprechen! So lange sich in Deutschland noch jeder Politiker sein eigenes staatliches System erfinden darf, so lange wird man über Unerheblichem die wahren Erfordernisse der Publicistik, Freimuth und Sachkenntniß, bei Seite gestellt finden.

Ehe wir ein viertes Hinderniß angeben, möchten wir zum Erweise des Vorangegangenen ein schlagendes Beispiel liefern. Wir haben in neuerer Zeit mehrfach Fälle von sogenannter officieller Publicistik erlebt. Steht irgendwo ein Publicist den Amtsgeheimnissen der Regierung näher, so wird ihm selten mehr zu vertheidigen überlassen als ein Princip. Man sucht sich eine gewandte Feder auf, setzt voraus daß sie nur das was bei ihr Ueberzeugung des Verstandes und Gemüthes ist, vertheidigen werde und überläßt dann den Kämpfenden so ziemlich sich selbst. Wie oft haben wir nicht seit 1830 diese Fälle erlebt! Der halbofficielle Publicist, über Thatsachen ununterrichtet, nur auf Vermuthungen, auf die Geschichte im allgemeinen und die bonne foi seiner Ueberzeugung angewiesen, kommt selten über unpraktische Allgemeinheiten und leere Declamationen hinaus. Weil er sich ins Extrem treiben muß, wirkt er eher nachtheilig als befördernd, und wird oft froh seyn in Gnaden von einem Geschäft erlöst zu werden das, einer gleichgültig zugaffenden und seinen Windmühlendampf belächelnden Menge gegenüber, oft nahe genug daran war ihn um die Ruhe seines Innern zu bringen.

Das vierte Hinderniß einer publicistischen Blüthe liegt nun in der Organisation der deutschen Presse selbst, nicht in ihrem Mangel an Freiheit, selbst nicht an der Censur, sondern in den materiellen Bedingungen unserer Journalistik. Was sind denn, abgesehen von deren Unselbständigkeit der Regierung gegenüber, unsere Zeitungen dem Publicum gegenüber? Abweichend von Frankreich und England sind unsere Zeitungen fast alle nur Speculationen des Buchhandels und der Buchdruckerei. Ein Verleger setzt ein Capital für sein Unternehmen aus und sucht sich einen Kreis von Mitarbeitern zusammen, die durch den Werth ihrer Mittheilungen das Glück seines Blattes entscheiden sollen. Schlägt die Speculation durch Concurrenz oder Ungunst der Umstände fehl, so macht sich Niemand etwas daraus, ob die durch das Blatt vertretenen Grundsätze compromittirt wurden. Der Hochtorysmus unterhält in England Organe die sich durch ihren Abonnementsbetrag nie halten könnten; in den National haben einige Anhänger der republicanischen Partei große Theile ihres Vermögens gesteckt. In Deutschland aber will weder die Regierung, die ohne Verantwortlichkeit in ihrer Macht sich sicher fühlt, noch die Partei ihre Organe anders unterstützen als durch die zufällige Kauflust derer die sich die Zeitung zu halten gedenken. Wie wenig dieser Hebel ausreicht um oft die gediegensten, tüchtigsten Unternehmungen emporzubringen, beweist die tägliche Erfahrung der deutschen Presse. Das beschränkte Budget der Mehrzahl unserer Zeitungen reicht nicht hin die Mühe für bedeutende publicistische Arbeiten zu entgelten. Oft werden die geistreichsten, die fleißigsten Arbeiten in kleine Winkel der Presse geworfen, in Zeitschriften die nur einen Leserkreis von nicht tausend Menschen zählen. Dazu kommt die Eitelkeit vieler Schriftsteller, die statt Mitarbeiter Redacteure seyn wollen und lieber ein kleines Blatt für sich begründen, als sich einem großen anschließen. Wo man hinsieht, ist die Verfassung unserer Zeitungen der höhern Publicistik im Wege.

Der Publicist ist der einzige Schriftsteller, der das Recht hat sich zu wiederholen. Es muß sogar eine der ersten Eigenschaften seines Talentes seyn, daß er die Kunst besitzt einen und denselben Stoff mit fast denselben Motiven Tage-, Wochen- und Jahrelang zu umschreiben. Nur im Gedränge einer wirklichen politischen Arena ist dieß möglich. Unter der nothwendigen Tautologie einer schlagenden Publicistik sehen wir, bei den geringen Talentproben die wir in dieser Gattung von Litteratur besitzen, die meisten Schriftsteller ermüden.

Endlich ist die wahre Form der Publicistik Anonymität. In England hat man Menschenalter hindurch die Namen der einflußreichsten Federn nie erfahren können. Wir Deutsche, die wir sonst immer für das Geheime sind, verlangen in der politischen Debatte immer die Namen. In Berlin war es einige Zeitlang, als kürzlich die Presse sich in etwas gelüftetem Kleide bewegte, Sitte daß administrative Mißbräuche in den Zeitungen gerügt wurden. Kaum erfolgte eine solche Rüge, so forderte die obere Behörde den Verfasser auf seinen Namen zu nennen! Welcher Privatmann wagt sich unter so bedenklichen Umständen mit seinem redlichen Willen an die Oeffentlichkeit! Wie hier im Kleinen so im Großen! Und somit ermangeln wir, ganz abgesehen von der Preßfreiheit, der wesentlichsten Bedingungen unter welchen sich im großen Style eine deutsche Publicistik entwickeln könnte.

Und dennoch wird sie auch bei uns noch eine Zukunft haben, dennoch stehen dieser Litteraturgattung auch bei uns noch wesentliche Entwicklungen bevor. Jeder Tag, jede Stunde ist jetzt reicher an politischem Inhalt als weiland Monate und Jahre. Ueberall, wo wir im Vaterlande hinblicken, sehen wir das politische Bewußt-103seyn, das staatsbürgerliche Selbstgefühl erstarken. Nicht nur der Communalgeist ist kräftiger denn je aus lethargischem Schlummer erwacht, auch das Bewußtseyn des Einzelnen, einem großen Ganzen anzugehören, hat angefangen sich mit kräftigerem Pulsschlage zu fühlen. Die großartigen Anwendungen der von der Wissenschaft überwundenen Naturkräfte haben die entlegensten Districte des Vaterlandes in das Netz eines beschleunigten Verkehrs und einer immer näher aneinander gerückten Wechselwirkung eingesponnen. Die Regierungen, einmal gefaßt von der allgemeinen Bewegung, mußten sich mit den Bedürfnissen des Publicums in Einklang setzen und haben mehr denn je der Nothwendigkeit nachgeben müssen sich in ihren Handlungen durch das Vertrauen der Nation zu unterstützen. Die materiellen Interessen haben die politische Principienfrage beseitigt. Die Zugeständnisse, die man von obenher nimmermehr der Theorie würde gemacht haben, hat man dem Bedürfniß gemacht. Die Begriffe von Verantwortlichkeit und öffentlicher Controle brechen sich selber Bahn, und diejenigen denen zur Zeit noch die volle Gewährung fehlt, werden unverhoffte und unerwartete Wege finden sich ihren siegreich gewesenen Vorgängern anzureihen. Die deutsche Politik ist kein Kastenprivilegium mehr. Die Fürsten fühlen das Bedürfniß sich an die Herzen ihrer Völker anzuschmiegen und die Nothwendigkeit der Monarchie aus Thatsachen des Gemüthes zu beweisen. Seitdem die Völker, wenn nicht überall in ihren Rechten, doch in ihrem Urtheil mündig sind, gibt es für keinen Regenten mehr eine beglückte Herrschaft, wenn er sich selbst gestehen muß daß sie unpopulär ist. Was Verschwörungen, Aufstände und revolutionäre Drohungen aller Art nicht bewirkten, das hat sich der Fortschritt der Zeit selbst geschaffen, der belebende Odem der Geschichte, das Verhängniß, das segenbringend über den Geschicken der Völker schwebt.

Wir sprechen nicht von Gewordenem, sondern von Werdendem. Auch die Kunst, mit beredter Zunge, mit gewandter Feder die Bedürfnisse des deutschen Volkes auszusprechen, verweilt noch in der Vorhalle einer künftigen Vollendung. Aber zu dieser Vollendung haben besonders zwei Thatsachen die Schwellen gelegt, einmal das erstarkte Nationalgefühl des ganzen Vaterlandes und sodann die Erleichterung der Presse mit dem Regierungsantritte des jetzigen Königs von Preußen.

Wenn die Eifersucht der deutschen Staaten und Stämme gegeneinander es war die bisher fast überall einer öffentlichen Besprechung politischer Acte so hindernd in den Weg trat, so sind seit 1840 für die Grundbasis aller politischen Erörterung, für die Nationalität, Wunder geschehen. Eine separatistische Politik mag hie und da noch in einigen Cabinetten spuken, aus der Presse, aus der Publicistik ist sie verschwunden. Rheinbundpolitiker, wie sie in Süddeutschland oft ihre Katheder aufschlugen, gibt es nicht mehr: selbst die freisinnigere süddeutsche Debatte hat es im Interesse der Nationalität vorgezogen die Zukunft des Vaterlandes lieber national an Preußen und Oesterreich, als principiell an kleinere Territorien anzuknüpfen. Der Zollverein trug moralische Früchte. Kommt die Gliederung Deutschlands, wie vorauszusehen ist, dahin daß im Interesse eines einigen Bundesstaates im Lauf der Zeiten die einzelnen Souveränetäten von ihren Rechten Opfer bringen werden, so ergreift den Vaterlandsfreund ein herzerweiterndes, freudiges Gefühl, daß eine Zeit kommen muß wo auch am Tempel unserer Litteratur die Seite, die der Publicistik gewidmet ist, mit stolzeren Pfeilern und Bögen sich erheben wird.

Welche Entwicklungen, welche Fortschritte auf diesem Gebiete möglich sind, kann nichts deutlicher veranschaulichen als eine Vergleichung der preußischen Presse unter Friedrich Wilhelm III und ihrer Erleichterung unter seinem Nachfolger. Eine Kirchhofruhe damals, und jetzt bei allen jeweiligen Beschränkungen doch immer wieder eine Rührigkeit, eine Beweglichkeit, die eine noch bedeutungsvollere Zukunft verbürgt. Wenn noch in den dreißiger Jahren, damals als die Tschoppes etc. gewaltsam jede Lebensäußerung des politischen Urtheils niederhielten, nur eine Spur dieser an die volle Freiheit sich annähernden Gegenwart für möglich erschienen wäre! Eine das Grün der Natur und des Frühlings nachlügende grüne Decke des Friedens lag auf den stagnirenden, versumpften Zuständen; einer schwatzhaften, gehässigen, denunciationssüchtigen politischen Rednerei wurde allein das Wort gestattet, Thatsachen die jetzt von dem Könige selbst als nothwendige Aeußerungen der Zeit anerkannt, ja von ihm gehegt und gepflegt werden, erklärte die unterwürfige Beamtenpublicistik jener Tage für Verbrechen und ihre Erwähnung für Unruhestiftung. Das publicistische Talent war wohl vorhanden; da es sich aber nicht äußern durfte, so wandte es sich entweder den Consequenzen der damaligen Modephilosophie oder den Geschichtsstudien zu, um entweder an Phantasmen oder an Erforschung alter Staatsactionen seinen Scharfsinn zu üben. Dieses mumienhafte Scheinleben, dieses ruheliebende Einherschreiten auf Filzsocken ließ sich auf einem so umfassenden Gebiete nicht fortsetzen. Beschämt standen plötzlich diejenigen da welche in dem Augenblick, wo gerade von obenher einem neuen Geiste die Flügel entfesselt wurden, erkennen mußten daß sie ihren Geist, ihren Scharfsinn, ihre Kenntnisse einem colossalen Irrthume gewidmet hatten, einem Irrthume, wenn sie behauptet hatten, der Geist des deutschen Volkes stünde mit seiner Zeit, mit unserem Jahrhundert, mit der Bildung des westlichen Europa auf gleicher Höhe! Und so wird auch die gegenwärtige, hie und da noch im Kindeslallen begriffene preußische Publicistik, wenn durch die Nebel der Zukunft immer noch mehr Strahlen der Freiheit dringen werden, zu der Erkenntniß kommen daß sie jetzt noch nicht die Sprache der Götter redet, aber auf dem Wege ist sie zu lernen.

Bekäme unsere Publicistik eine solche Gestalt, daß z. B. möglich wäre, ein Staatsmann schriebe über die deutschen Politiker des neunzehnten Jahrhunderts ungefährdet so frei, wie Brougham über Canning, Castlereagh, Liverpool, über Georg III und Georg IV, dann würde die Gestalt unserer ganzen Litteratur eine andere, eine weltbedeutendere werden. Worin liegt jetzt der kleinlichere Effect des deutschen Schriftstellers in Vergleich mit dem Auslande? In der von den Umständen gebotenen Unmöglichkeit den Thatsachen gegenüber seinen Geist, seine Bildung so geltend zu machen, wie wir doch sehen daß französische und englische Schriftsteller ihn geltend machen dürfen. Darüber zum Schluß noch einige Worte.

Man hört so oft daß die deutsche Litteratur der Gegenwart (die schöne und die philosophirende) hinter der classischen Periode des vorigen Jahrhunderts zurückbleibt, übersieht aber dabei die großartige Umgestaltung aller der Voraussetzungen, unter welchen sich jetzt noch das was man Litteratur nennt entwickelt. An die Stelle jener ästhetischen und moralischen Wahrheiten welche das verflossene Jahrhundert bewegten, sind in diesem historische und politische Wahrheiten getreten. Die Wirkung derselben in originellen Köpfen, die Offenbarung derselben in erwählten dichterischen und darstellenden Genien könnte jetzt, wie damals, dieselbe seyn wenn nicht eben dem Schriftsteller von heute versagt wäre seinen historisch-politischen Stoff in der ganzen individuellen Fülle in sich aufzunehmen, wie es die Schriftsteller von Damals mit ihrem unverfänglichen, ästhetisch-moralischen durften. Der deutsche 104 Schriftsteller der Gegenwart hat das volle Gefühl seiner großen Aufgabe, erkennt die ganze Größe, den ganzen Umfang der Ansprüche die seine Mitwelt an ihn machen darf. Allein seine Bildung, sein Beruf, sein Ideal ist dasjenige nicht welches ihm unsere Nationalverhältnisse geltend zu machen erlauben. Im Auslande treten dem Schriftsteller diese Schwierigkeiten nirgends in den Weg. Der englische, der französische Publicist darf sich auf die Höhe nicht nur der abstracten, sondern auch der concreten Weltgeschichte stellen: wir Deutsche sind Kenner der fremden Litteraturen genug, um diese großartigen Entfaltungen zu beobachten, zu fühlen. Stellen wir nun die Vergleichung mit der Heimath an, so schrumpft alles was bei uns gleich, was bei uns identisch seyn sollte, zu einer nur ungefähren winzigen Aehnlichkeit zusammen. Man sagt wohl, wir hätten keine Talente wie z. B. Eugène Sue, aber die Wahrheit ist die, wir haben viel größere Talente, nur verbieten ihnen die Umstände sich zu so zeitgemäßen Interessen, wie jene, auszubeuten.

Nach diesen hiemit schließenden allgemeinen Bemerkungen über deutsche Publicistik wird Referent später eine Uebersicht unserer gegenwärtigen politischen Litteratur geben, geordnet nach einzelnen Gruppen und diese Gruppen wieder zusammengestellt nach wahlverwandtschaftlichen inneren Merkmalen, Bezügen und Kennzeichen. Und, um noch dieß hinzuzufügen, wird dabei weniger eine Kritik bezweckt werden als eine Charakteristik.

Apparat#

Bearbeitung: Christine Haug, München; Ute Schneider, Mainz#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow: Ueber deutsche Publicistik. In: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung. Augsburg. [Heft 3], März 1845, S. 98–104. (Rasch 3.45.03.2).

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Schriften zum Buchhandel und zur literarischen Praxis. Hg. von Christine Haug u. Ute Schneider. Münster: Oktober Verlag, 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 7.)

Errata#

Zur Buchausgabe (GWB IV, Bd. 7) sind folgende Textkorrekturen zu vermerken:

215,2 verallgemeinernde lies: verallgemeinernde

217,5 Zacharia lies: Zachariä

218,13 Form lies: Form

227,27 unpopular lies: unpopulär

Kommentierung#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.