Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Maha Guru. Geschichte eines Gottes. Theil 1-2. Zweiter Theil. Stuttgart u. Tübingen: Cotta, 1833. (Rasch 2.3)#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Richard J. Kavanagh
Fassung
1.0: Text und Apparat ohne Stellenerläuterungen
Letzte Bearbeitung
03.2022

Text#

1 Erstes Capitel.#

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Lauter rothe Füchse sehet

Schwarze Raben sehet ihr,

Böse Zeichen, wo ihr gehet;

Freunde, wohin gehet ihr?

Laßt uns bleiben, laßt uns bleiben,

Weil zurück die Zeichen treiben!

Schi-King.

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Wer einem Reisenden, dessen Wegen wir noch weiter zu folgen gedenken, auf der Landstraße begegnete, und das geübte Auge eines Menschenkenners besessen hätte: welche Auslegung würde dieser wohl dem gemessenen Ritte, dem ängstlichen Blicke, der scheuen Rede desselben gegeben haben? Leute, deren Beobachtungsgabe nicht weiter reicht, als wo sie eine Abweichung von ihrer hergebrachten Sitte bemerken, einen Löffel falsch gehandhabt, einen Gruß sonderbar erwidert sehen, waren in der That schon oft von dem eigenthümlichen Benehmen unsers Reisenden überrascht worden. Wo er einen Ort verließ, sahen ihm die Bewohner mit langen Gesichtern nach, steckten die Köpfe zusammen, und verwunderten sich über die auffallenden Anomalien von dem landesüblichen Herkommen, welche sie an dem Fremden bemerkt hatten. Der Eine behauptete, jener Merkwürdige habe Messer und Ga-2bel ganz natürlich am Leibe gewachsen gehabt, und alle die ihn gesehen, gaben ihm darin Beifall; denn er hatte durchaus nach einem Besteck nicht gefragt, und sich ohne weiteres der langen Fingernägel zum Zerschneiden und Halten der Speisen bedient. Der Andere schwur bei allen Heiligen, dem Fremden hätten die Beine gefehlt, und alle Welt konnte diesem Urtheile nur beistimmen; denn der abenteuerliche Mann hatte da, wo jeder in Tibet seine Beinkleider trägt, einen großen, faltigen, seidenen Rock, der seine Mängel gleichsam verbergen sollte, und war so schwach auf den Füßen, daß ihn sein Diener immer aufs Pferd mehr tragen, als führen mußte. Wie kann er aber Füße besitzen, wenn es ihm an Beinen fehlt? O traue man doch den Tibetanern nicht so scharfsinnige Schlußfolgen zu! Jedermann war damit einverstanden, daß jene in der That vorhandenen Füße entweder nur falsche seyn, oder wegen ihrer übergroßen Kleinheit als wirkliche, eigenbeinige Füße gar nicht gerechnet werden konnten.

Bei solchen Beobachtungen ließ es sich auch nicht anders vermuthen, als daß der Reisende, wenn der Schwanz seines Pferdes über das Heck der Dörfer hinaus war, eine förmliche Mythologie in seinem Rücken zurückließ. Mit dem zufallenden Heck schloß sich für die Landbewohner eine himmlische Erscheinung, die sie ihres Besuchs gewürdigt hatte, und an die wenigen Kupfermünzen, welche der Fremde in seiner Herberge für Nachtquartier, Nüsse, Käse, Streu und Futter für 3 seinen Gaul hinterließ, knüpften sich Erzählungen, welche bald ins Sagenhafte und Ungeheure übergingen, und ihre werthlosen Urheber zu Midasschätzen ausprägten. Wär’ es ein gewöhnlicher Reisender gewesen, so würd’ ihm bei dem gänzlichen Mangel an Fremdenbüchern in Tibet zwar die Erinnerung und die Tradition ein unverloschenes Andenken gesichert haben, aber seine Canonisation vielleicht erst um einige Monden später eingetroffen seyn. Wir sagten jedoch schon, daß es kein gewöhnlicher Pilger war, und werden es daher erklärlich finden, wenn ihn beim letzten Wiehern seines Rosses, das man im Thale noch hören konnte, die Tradition schon zum Gotte gestempelt hatte, und ihm von der ewig jungen Sage schon in den Fabeln und Mythen ein Platz zugewiesen war, als hätt’ er ihn vor tausend Jahren schon in Besitz genommen.

Die tibetanischen Dörfler sind aber auch consequent in ihren Phantasien. So rasch sie im Vergessen sind, so schwer kömmt ihnen das Erinnern an. Wen sie, ehe noch die Tassen ausgewaschen sind, aus denen er seinen Morgenthee getrunken, schon zum Gott gemacht, und um tausend Jahre zurück in die Vergangenheit geschoben haben, können sie den noch als jenen irdischen, übernachteten, zahlungsquitten Menschen ansehen, wenn die Tassen schon so weit gekommen sind, daß sie an der Luft abtrockneten? Wir müssen es ganz in der Ordnung finden, daß sie den Diener, welcher in das Dorf zurückgesprengt kam, um ein von seinem schon kanonisirten Herrn vergessenes Necessaire zu holen, mit ver-4wunderten Augen ansahen, und seinen Verstand eben so in Zweifel zogen, wie er mit lärmenden Worten ihre Ehrlichkeit. Sie hatten über den Herrn des treuen Dieners schon den Moderduft einer tausendjährigen Vergangenheit verbreitet, wie konnte ihnen ein vermißtes Necessaire anders klingen, als für unser Ohr die Scheere der Atropos oder Thors Hammer? Kurz, sie wollten eben so wenig etwas von einem eben aus dem Dorfe gerittenen Reisenden als von einem verlornen Gegenstande wissen, den sie ohne Zweifel wieder hätten herausgeben sollen.

Der Diener tobte und fluchte. Er durchsuchte die ganze Herberge, und beschrieb den Umstehenden, die ihn ruhig suchen ließen, was sie sich unter dem Necessaire seines Herrn zu denken hätten. Es handelte sich um einige Zahnstocher, Ohrlöffel, Bartbürsten, welche in ein Ganzes gebunden, der kaum fünfhundert Schritte vom Dorfe harrende Besitzer noch gestern am Ohr getragen, über Nacht jedoch abgelegt hatte, um sich beim Schlafen keine Runzeln, deren er vielleicht schon genug besaß, in die Wangen zu drücken. Bei der Abreise mußte er nach der Aussage des Suchenden vergessen haben, diese Hülfsmittel zur feinen Lebensart wieder einzuhenken. Er schwur darauf, daß sie auf diesem Tische liegen geblieben seyen, und der Wirth, der zugleich der Priester des Dorfs war, wie in Polen die Krüger oft auch die Rabbiner sind, setzte eben so hohe Betheuerungen für seine Behauptung dagegen, daß seit Jahren kein irdisches Wesen bei ihm eingekehrt 5 sey, daß aber die Signalements, welche der Diener von seinem Herrn gebe, sehr lebhaft die Erinnerung an eine alte, uralte Sage und an einen Helden, der in ihr die Hauptrolle spiele, wecke. Die Umstehenden bestätigten die Geschichte von einem Gotte, der in den Localsagen dieses Ortes lebe und durch ein angebornes Besteck eben so merkwürdig wäre, als durch den gänzlichen Mangel von Beinen, der jedoch, wie der Wirth und Priester hinzufügten, den Besitz kleiner, unbedeutender Füße nicht ausschlösse.

Der arme Diener war um so mehr zu beklagen, als er sich am Ziele seiner Mission befand, das Necessaire in den Händen des Wirths erblickte, aber sein Verlangen darnach als einen Tempelraub abgewiesen sah. Der Gegenstand seiner Reclamation, hieß es, befinde sich an hiesigem Orte schon seit undenklichen Zeiten, werde als heilige, urweltliche Reliquie verehrt, und habe schon so viel Segen seit Jahrhunderten in der Umgegend verbreitet, daß man ihr denselben ohne einen allgemeinen Aufruhr nicht entziehen könne. Diese weißen Stäbchen, welche der unberufene Fremdling mit dem Namen eines Zahnstochers zu belegen wage, seyen die Lanzen, mit welchen der in Frage stehende Gott von den Pygmäen verfolgt worden siebentausend Meilen weit; jene an dem obern Ende ausgehöhlten Plättchen hätten niemals mit einem menschlichen Ohre in Berührung gestanden, sondern es seyen Ruder, welche ein Pilger aus dieser Gegend am Ganges gefunden und seit 6 langen Jahren im Geruche standen, daß mit diesen die Pygmäen über den heiligen Fluß geschifft seyen, als sie vor dem mehrfach besprochenen Gotte die Flucht ergriffen. Als der verschmitzte Wirth endlich auf das Werkzeug kam, welches der Diener seinen Bartwichser genannt hatte, drängten sich alle neugierig heran, um dieses in Tibet neue Instrument zu sehen. „Ein Bartwichser?“ rief man durcheinander: „welcher fremden Sitte soll dieses Wesen Vorschub leisten? Seit wann wachsen in Tibet die Haare am Kinn so reichlich, daß man daraus einen Luxusgegenstand machen kann? Dieser Mensch muß aus fremden Ländern seyn. Verwegner, wie darfst du dich in unsre Thäler einschleichen?“ Für den Diener nahm diese boshafte Scene eine Wendung, die mit seinem Verderben hätte enden können. Er ergriff seine Reitgerte, eilte zum Hause hinaus, und schwang sich ohne Verzug auf sein Pferd. Die Tibetaner verfolgten den Diener eines Mannes, den sie eben unter die Götter versetzt hatten, um ihn desto besser berauben zu können, mit Schimpfreden und fernhintreffenden Steinwürfen.

Der im Thal harrende Reisende würde sich unzweifelhaft nach seinem endlich herbeieilenden Diener umgesehen haben, wenn sein Pferd nicht mit dem Entblättern eines Ahornbaumes zu emsig beschäftigt gewesen wäre. „Der Instinct der Thiere,“ sprach der gelehrte Reiter vor sich hin, „kann zur Leidenschaft werden, wenn man ihm seine Richtungen abschneidet. Ich bedarf zu meiner weiten Wanderung 7 eines frommen Trägers; ein hartnäckiger wäre mir durchaus zuwider.“ Ja, als der Diener seinem Herrn die schlechten Erfolge seiner Nachfrage gemeldet hatte, hütete sich dieser wohl, auf das unwillige Zucken, das diese Nachricht über sein Antlitz sandte, eine in äußerliche Gebärden übergehende Entrüstung folgen zu lassen, sondern seine Philosophie und sein grasender Klepper waren für ihn Grund genug, über diesen Gegenstand nicht mehr Worte zu verlieren, als die folgenden: „Unter allen Lehren, welche für Reisen zu empfehlen sind, ist keine passender, als der Spruch Lao-Tse’s: Wenn dein gesatteltes Pferd im Stalle wiehert, und doch erst über viele Meilen sein Futter findet, so besuche noch einmal deine Nachbarn, welche ein Handwerk treiben, und laß dich über das Nöthigste ihrer Kunst unterrichten! Hab’ ich also an dem Necessaire etwas verloren? Nein, mein guter Ho-Po, die nächste Eiche muß uns das Material liefern, es durch unsere Geschicklichkeit zu ersetzen.“

Der Sprecher war um so mehr beruhigt, da endlich sein hungriges Roß von dem Baume abließ, und zu einem sanften Trabe sich gestärkt hatte. Dieser Trab kam dem Reiter wie gerufen; denn die Aeußerung Ho-Po’s, daß er an dem Bartwichser fast für einen Fremden erkannt sey, versetzte ihn doch in mehrfache Besorgniß. Er nahm seine Brille vom Ohr, wandte sich mit vielem Bedacht auf dem Rücken seines Pferdes um, und forschte, ob er gar einer Verfolgung ausgesetzt sey. Die hinter ihm waltende, 8 kaum von einem Vogel oder dem Rauschen eines Blattes gestörte Ruhe der Gegend mußte ihm die genügende Beruhigung geben.

Ho-Po trug etwas auf dem Herzen. Er drehte und wandte sich auf seinem Thiere, griff den Zügel bald kürzer, bald länger, öffnete zuweilen die halben Lippen, und ließ dann wieder von der hemmenden Zunge die vorwitzige Oeffnung verlegen. Endlich faßte er sich aber doch ein Herz und brachte die schwebenden, von keinem dreisten Luftzuschuß der Kehle unterstützten Worte hervor: „Ja, aber – wenn sonst mein Herr durch Tibet reis’te, so gingen seinem Zuge Herolde voran, die silbergestickte Mäntel trugen und ein Schwert auf jeder Hüfte, die täglich einen Tacis Zulage bekamen und alle acht Tage einen Sei Reis, und wenn sie Frauen hatten, noch einen halben mehr: und jeder Träger ihres Palankins wurde in einen neuen Seidenrock mit eingenähten Drachen gekleidet, der ihnen zwar nicht geschenkt wurde, aber mit einigen Tacis doch vergütet.“ –

Nachdem sich der vornehme Herr durch einige spähende Blicke von der Abwesenheit jedes unberufenen Zuhörers überzeugt hatte, lächelte er sehr herablassend und beglückte Ho-Po durch eine zwiefache Gnade. Denn einmal war er so sehr zuvorkommend, das Ende jener Bemerkungen vorwegzunehmen, als der Diener schon beim Anfang stecken blieb, und sodann so milde, ihm seine Verwunderung gar nicht zu verdenken. Er sagte also in seiner dialektischen Manier: „Deine ab-9gebrochenen Reden dienen mir zu Stufen, welche mich an das nördliche Ende der Blume des Weltalls führen. Hier wohnt eine Secte, welche den Eigennutz als das größte aller Laster verdammt. Glänzende Thorheit! Sieht der Diener nicht seinen Schmuck im Glanze seines Herrn? Schon auf dem ganzen Wege, Ho-Po, seh’ ich dir’s an, wie sich deine Seele betrübt, daß sie von dem geschmackvollen Faltenwurf seidener Gewänder nicht wie sonst umwallt wird. Darin liegt eine Aufopferung; denn würdest du deinen Drachenrock umhaben, wenn nicht auch um meine Hüften die Schildkrötplatten lägen, in meinem Rücken der Storch und auf meiner Mütze die weiße Perle säße? Ja, Ho-Po, deine Seele athmet nur Hingebung für deinen Herrn.“

Ho-Po wußte weder, warum ihn sein furchtsamer Herr mit solchen Zärtlichkeiten liebkos’te, noch welches in dieser Erklärung die Antwort auf seine bescheidene Frage seyn sollte; doch fühlte er, wie verbindlich der Inhalt derselben für ihn sey, und küßte sich mit der Schwärmerei eines Verliebten die Fingerspitzen.

Auf einige Zeit durfte er nicht erwarten, daß sein Herr wieder zu reden beginnen werde; denn dieser hatte so eben aus einer blechernen Capsel eine Art Betel in den Mund gesteckt, woran er vielleicht eine Stunde kauen wollte. Die Reise war langwierig genug, als daß sich der Eine gegen den Andern zu sehr zu beeilen brauchte.

Endlich machte der ausgesogene Betel weitern Er-10klärungen wieder Platz. „Ich will dich hinter den Schleier dieser Reise,“ hieß es in dem duftenden Munde des Herrn, „so weit blicken lassen, als es sich mit meinen heiligsten Verpflichtungen verträgt. Die Erklärungen, welche ich darüber dem Sohne des Himmels schuldig bin, sind nicht die, welche ich zur Beruhigung eines Dieners gebe. Ich glaube zu meinen Freunden zu gehen, und doch könnten die schmählichsten Mißhandlungen unser Willkommen seyn. Wird man uns übel begegnen? Nein, Ho-Po, wir dürfen uns wohl mit den besten Erwartungen tragen; denn längst heißt es in dem alten Spruche: dein Feind drückt dir die Hand, wenn du ihm versprichst, seinen verlornen Ring zu suchen.“

Die Chinesen (denn sieht nicht Jeder, daß wir zwei Söhne dieser Nation vor uns haben?) sind die langweiligsten Leute. Abgemessen in ihren Bewegungen, weitläuftig und doch nichtssagend in ihren Reden, können sie einen Tag verbrauchen, um sich über die Schleife eines Zopfbandes zu verständigen. Sie fangen mit den Maulbeerbäumen an, kommen endlich auf die Seidenwürmer, umgehen keine Metamorphose derselben, und wenn die Sonne am Horizonte längst verschwunden ist, sprechen sie vielleicht noch immer erst von dem Webestuhl, der dem fraglichen Seidenbande das Daseyn gab. Diese Kunst der Weitläuftigkeit macht einen Theil ihrer Jugendstudien aus, und tritt im männlichen Alter in den Dienst einer immer zum Trug bereiten Verschlagenheit. Man wird es daher so natürlich finden, wie 11 Ho-Po selbst, daß er erst dann über Zweck und Plan dieser geheimnißvollen Reise einige stark schattirte Erläuterungen erhielt, als die Nacht einbrach, oder um chinesisch zu reden, als die dreibeinige Kröte Hampha das himmlische Gestirn verschlungen hatte.

Das Ziel der heutigen Reise war das Ufer des Erechumbo, eines unter dem Namen des Buremputer uns bekannteren Flusses. Man konnte nach Teschulumbo keinen bessern Führer wählen, als den Lauf dieses Stromes, dessen Nebenfluß, Painom-Tschieu, den Fuß der Residenz des Teschu-Lama bespülte.

Es war keine geringe Verlegenheit für die Reisenden, daß sie die hereinbrechende Nacht mit dem nächst erwarteten Rastorte in falsche Berechnung gebracht hatten. Die Unsicherheit des Weges gesellte sich zu seiner steigenden Unbequemlichkeit. Kein Dorf, keine Hütte, keine Einsiedlerwohnung in der Nähe, um die eben so ermüdeten, als ängstlichen Reiter aufzunehmen. Dazu machte es die rauhe Witterung, der steinichte Boden, der auf unabsehbare Strecken von zerschieferten Felsstücken gebildet schien, gänzlich unmöglich, unter dem Schutze des freien Himmels sein Nachtlager zu suchen. Ho-Po hatte noch weniger Ausdauer, als sein Herr. Der weichliche Chinese jammerte über seine vor Frost erstarrten zarten Hände, die er nicht einmal durch den Hauch des Mundes erwärmen konnte, weil sie mit dem Lenken des ermatteten Pferdes hinlänglich beschäftigt waren. Ueberdieß sah er sich zuweilen ängstlich um, und machte endlich seinen Herrn auf ein anhal-12tendes Geräusch, das bald vor, bald hinter ihnen wäre, aufmerksam. „Ich hab’ es längst bemerkt,“ antwortete dieser; „es sind Schichten zerbröckelter Steine, die wir durch unsere Bewegungen zum Herunterstürzen bringen.“

Ho-Po hatte ganz Recht, wenn er deßhalb anmerkte, daß man um so behutsamer auftreten müsse. Doch fügte er hinzu, daß er das Geräusch mehr vor, als hinter sich höre. „Man sollte fast glauben, daß du die Wahrheit sprächest,“ sagte der Herr; „ich täusche mich vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß wir dicht in der Nähe des ersehnten Flusses sind.“

Ho-Po rief erschrocken aus: „Und wenn wir gar in den Fluß, ohne es zu wissen, hineinritten!“

„Fürchte nichts, mein Sohn,“ hieß es zur Beruhigung; „der Unerschrockene denkt in dem Augenblick der Gefahr immer an den, wo er sie überstanden hat. Das ist das ganze Geheimniß des Muthes.“

In der That hatten die Reisenden längst die Oeffnung des Gebirges hinter sich, und wateten durch ein Meer von Kieselsteinen, welches der oft sehr hoch austretende Buremputer zurückzulassen pflegt. Bald blitzten auch wie von einem hin- und herbewegten Spiegel einzelne Strahlen des Flusses durch das Dunkel der Nacht; das Getöse einer durch tausend Hindernisse sich hindurchdrängenden Wogenmasse schlug immer vernehmbarer an das Ohr, und erreichte endlich eine Kraft, daß man von der Riesengewalt des Stromes einen Begriff 13 hatte, noch ehe man ihn in unzähligen Krümmungen durch sein zerrissenes Bett stürzen sah.

Der Anblick dieser in ihrer ungebändigten Wildheit so großartigen Natur mußte die Hülflosigkeit der Verirrten vermehren. Das Geräusch des Stromes machte es ihnen unmöglich, sich über ihre Lage zu verständigen, und es blieben ihnen daher nur die kläglichen Mienen der Verlegenheit übrig, mit denen sich beide wechselseitig betrachteten. Weniger ihr Muth, als die Noth zwang sie dennoch zu den letzten Anstrengungen. Sie führten ihre Rosse am Zügel, und verfolgten das Ufer, das sich in einer endlosen, wüsten Einförmigkeit ausdehnte. Das Bett lag mit dem Strome in einem hartnäckigen Kampfe; denn es vergönnte diesem nur ungern den Durchgang. Kleine, aus dem Flusse hervorragende Inseln waren die Siegestrophäen, welche der Boden aufsteckte, und deren Grundvesten die ungestümen Wogen vergebens niederzureißen suchten. Wie diese stillen, unbeweglichen, mit üppiger Vegetation prangenden Inseln des Flusses spotteten, so auch unserer Wanderer, die unter ihnen Bäume, Hütten und Obdach genug vermutheten, und bei dem Mangel jedes Uebergangs und jeder Verbindung von diesem Schutze keine andere Empfindung hatten, als daß sie ihn schmerzlich vermißten.

Es ist historisch erwiesen, daß unser chinesisches Reisepaar am Buremputer in jener Nacht weder erfroren ist, noch gezwungen wurde, den Morgen unter freiem Himmel abzuwarten. Wie mißliche Folgen sich 14 auch für Beide an den endlichen Schutz, welchen sie antrafen, anknüpften, so ist es doch gewiß, daß er ihnen auf einige Stunden von einer einzeln am Ufer stehenden Hütte gewährt wurde.

Die rechte Freude über diesen Fund konnte nur Ho-Po’s Herr empfinden, welcher sich durch tröstenden Zuspruch und Citate aus allen Capiteln des Schi-King noch wach genug dazu erhalten hatte. Ho-Po wußte nicht mehr recht, was er that, als er über die ermüdeten Thiere wollene Decken ausbreitete, und sich selbst auf diese Unterlage gebettet hätte, wenn ihn sein Herr nicht aufgefangen, und seinem Fall die Richtung in einen Winkel der Hütte gegeben hätte. Dieser selbst wagte erst dann sein Auge zu schließen, als jedes Theilchen seines Körpers vor den Einflüssen der Nachtluft durch Umhüllungen geschützt war. Draußen sangen die Wogen des Buremputer Wiegenlieder, welche einem Riesen die Augenlieder geschlossen hätten.

Es währte jedoch nicht lange, so wurden die Schlafenden von einem heftigem Lärm geweckt. Die vom Tageslichte schon matt erhellte Zufluchtsstätte war mit Bewaffneten angefüllt. Die Pferde, welche den Eingang verlegten, waren aufgerissen, und standen vor der Thür, von einigen andern Männern gehalten. Fremde, den Beiden unverständliche Laute drangen auf sie ein, und schienen sie eben so um ihr Hierseyn zu befragen, als sich über die Unverständlichkeit ihrer Rede zu verwundern. Die Mienen, von denen sie begleitet wurden, ließen keineswegs auf friedliche und freundliche Absichten schließen.

15 Ho-Po erwartete Alles von der Würde und dem Stande seines Herrn, dieser dagegen war zweifelhaft, ob er nicht vielleicht Alles verlöre, wenn Beide bekannt würden. Schon auf der ganzen Reise hatte ihn die Verbindung des Urtheils und der Gefahr, welche den Buremputer zum besten Wegweiser und zugleich zum unsichersten machte, gepeinigt. Dieser Fluß war weit berüchtigt durch seine räuberischen Bewohner, welche ein Gewerbe daraus machten, in niedrigen, langen, schmalen, oft mit dreißig bis sechzig Rudern versehenen Booten den vorüberfahrenden Schiffen aufzulauern, und welche auf ihren Streifzügen auch die in den Flußebenen entdeckten Reisenden mit Ueberfällen nicht verschonten! Waren sie diesen bewaffneten Menschen als Opfer ihrer Tollkühnheit in die Hände gefallen? Wenigstens schien man draußen die Pferde schon als eine willkommene Beute zu betrachten.

Die Ueberfallenen waren nicht nur der Plünderung ausgesetzt, sondern sie wurden auch ihrer Freiheit beraubt und gefangen genommen. Ihre Besorgnisse mußten um so mehr zunehmen, als sie von den Bewaffneten eben so wenig in ihren Bitten und Versprechungen verstanden wurden, als die Drohungen und Verwünschungen dieser von ihnen. Sie mußten ihren Drängern in ein Boot folgen, das am Ufer des Buremputer angelegt war; die Thiere wurden von einigen Andern das Ufer entlang geführt, und sie selbst flogen pfeilschnell auf dem unsichern Spiegel des Flusses hin.

Unter diesen Umständen mußt’ es den Gefangenen 16 schon zur Beruhigung gereichen, daß die Schifffahrt ihre Richtung nach jener Gegend hin nahm, welche sie selbst suchten. Auch ließ die Bewaffnung ihrer Führer eher darauf schließen, daß sie sich unter Kriegern, als unter Räubern befänden. Dazu kam die zunehmende Belebung der Ufer des Flusses, welche zahlreiche Gruppen ausmachten, die aber immer nur dieselbe Scene vorstellten. Hier hatten sich mehrere Menschen um ein Feuer gesammelt, an welchem sie ihre Nahrungsmittel zubereiteten; dort standen Feldhütten, welche in der Eile aufgebaut seyn mußten. An seichten Uferstellen wurden Pferde in den Fluß geführt, deren Reiter neugierig dem vorbeieilenden Schiffe nachsahen. In andern Gruppen beschäftigte man sich mit Bogenschießen und Steineschleudern, in weitern Entfernungen mit dem Abbrennen schwerfälliger Lunten-Musketen. Und wenn man erwog, daß alle diese wiederkehrenden Scenen immer dichter und enger zusammen traten, daß die Zahl der Bewaffneten immer zunahm, so blieb kein Zweifel mehr, daß sich unsere Reisenden unter einem Kriegerstamme befanden, der von dieser Seite in Tibet eingebrochen seyn mußte, oder sonst mit militärischen Bewegungen in Verbindung stand. Ho-Po, der am entgegengesetzten Ende des Bootes saß, warf seinem Herrn verstohlene Blicke zu, welche sich dieser auslegte, je nachdem er selbst mehr Angst oder Hoffnung empfand.

Der Spiegel des Bettes wurde jetzt von zahllosen Kähnen durchschnitten, welche auf eine weite Strecke hin den Buremputer bedeckten. Sie sammelten sich 17 alsbald um die neuen Ankömmlinge, und begleiteten sie unter verworrenem Fragen und Forschen nach dem gemachten Fange in eine Bucht, welche einen leidlichen Hafen zum Landen bildete.

Unsere Reisenden, deren Schwerfälligkeit im Gehen uns schon bekannt ist, wurden aus dem Fahrzeuge gehoben, und von dem Anführer der Rotte, welche sie zu Gefangenen gemacht hatte, zum Nachfolgen ermahnt. Alles was sich in der Nähe befand, strömte zusammen, und erschreckte durch seinen abenteuerlichen Aufzug, die tumultuarische Bewaffnung, und den wilden, gebräunten Anblick der trotzigen Stirnen die zitternden Chinesen, welche den Fremden eben so sonderbar schienen, als sie diesen. Ho-Po war in Verzweiflung, seinen Herrn so wenig geachtet zu sehen; denn die Huldigungen, welche dieser zu empfangen gewohnt und vielleicht auch berechtigt war, pflegten doch sonst auch auf ihn selbst übertragen zu werden.

Endlich langte der immer mehr anschwellende Zug vor einem Zelte an, welches unzweifelhaft von dem Befehlshaber dieser Kriegerschaaren bewohnt wurde. Ho-Po’s Herr hatte sich noch kurz zuvor alle Fälle überlegt, welche durch die Vermuthungen über seine Person eintreten könnten. Er fand im Grunde unter ihnen nur den einen gefährlichen, daß er im Falle von Kriegsläuften für einen Kundschafter angesehen würde, ein Verdacht, der in dem zweiten Falle bedenklich wurde, daß er sich durch das Nichtverständniß seiner Sprache davon nicht reinigen konnte. Wie beruhigend war es 18 daher für ihn, bei dem Befehlshaber, vor den er jetzt getreten war, einen Dolmetscher anzutreffen, der, wenn auch nicht das Chinesische, doch das Tibetanische leidlich verstand!

Die Gefangenen standen vor einem kleinen Manne von wildem, kriegerischem Aussehen, der sich nachlässig auf seinem erhöhten Polster streckte, und bald mit einem großen Hunde, der ihm zur Linken saß, bald zur Rechten mit seinen glänzend polirten Waffen spielte. Dieß struppige Haar, diese kleinen zusammengedrückten Augen, diese scharfgezeichneten Brauen, endlich die strengen Furchen, welche sich durch das dunkle Antlitz zogen, waren nicht gemacht, den Chinesen Vertrauen einzuflößen. Doch besaß Ho-Po’s Herr eine gewisse Entschlossenheit und so viel Gewandtheit des Geistes, daß er augenblicklich die Freiheit seiner Person erhalten hätte, wenn ihm die Geläufigkeit der Rede zu Hülfe gekommen wäre. So aber blieb ihm nichts übrig, als durch das Gewicht seiner Erklärungen jeden weitern Widerstand niederzudrücken, und er gab sich daher ohne Weiteres als den in Lassa residirenden Correspondenten des Mittelpunktes der Erde zu erkennen.

Wir glauben in dem Frühern diesen Mann so kenntlich gemacht zu haben, daß in dieser Angabe für uns nichts Auffallendes mehr liegen wird.

Der Befehlshaber richtete sich betreten auf, und war zweifelhaft, ob er die rothsaffianene Mütze vom Scheitel ziehen, oder den Gefangenen für eine so vermessene Lüge peitschen lassen sollte. Diese Ueberlegung 19 gab dem Correpondenten Zeit, die Folgen, welche sein Geständniß haben konnte, in Erwägung zu ziehen. Befand er sich unter Leuten, die gegen die Tibetaner freundliche Gesinnungen hegten, und deßhalb den Haß der Chinesen mit diesen theilten? Oder konnte ihnen seine Gefangennehmung erwünscht erscheinen, auch wenn sie mit offener Gewalt die Gränzen ihrer Nachbarn belagert hielten? Konnte er in diesem Falle hoffen, von dem Statthalter in Teschulumbo, dem sein versteckter Besuch galt, ausgelös’t zu werden, oder überhaupt mit ihm in Verbindung zu treten? Ho-Po wollt’ es durchaus nicht in den Kopf, daß man den Namen und den Stand seines Herrn erfuhr, und nicht sogleich die Stirn im Staube vor ihm badete.

Schon war der Befehlshaber nahe daran, sich dafür zu entscheiden, daß er eine Lüge gehört habe, und das Zeichen zum Wegführen des Gefangenen zu geben, als vor dem Zelte ein plötzlicher Tumult entstand und die Aufmerksamkeit des Richters in Anspruch nahm. Boten stürzten herein und überbrachten die Nachricht, daß sich bei den Vorposten eine Gesandtschaft eingefunden habe, welche den General zu sprechen verlange. Diese Sache war von größerer Wichtigkeit, als die Bestrafung eines Lügners. Der Correspondent wurde mit seinem Diener in einen Winkel des Zeltes verwiesen, wo er sich heimlich flüsternd durch den Dolmetscher über die Lage, in welcher er sich befand, unterrichten konnte.

Die aus mehrern Personen bestehende Gesandtschaft trat in das Zelt. Es handelte sich um die Ver-20mittlung eines Friedens zwischen dem Lama von Teschulumbo und den nipalesischen Gränzvölkern, welche das Gebiet des ersten mit unausgesetzten Einfällen beunruhigten, und in Folge ihrer Tapferkeit oft glänzende Siege errangen. Wenn der Statthalter seinem frühern Vorsatze, den Thron des Dalai Lama zu stürzen, noch treu wahr, so konnte ihm nichts unbequemer seyn, als an der Ausführung desselben durch einen zweiten Kampf verhindert zu werden. Hingegen ließ sich aus dem Gange, welchen die Verhandlungen mit diesem ersten Haupte der Nipalesen nahmen, vermuthen, daß der Statthalter aus dem Frieden nicht nur den Vortheil der Ruhe und fernern Nichtverhinderung ziehen würde, sondern auch den der Unterstützung und gewonnenen Theilnahme.

Wie wichtig waren alle diese Dinge für den Correspondenten! Er, der über diese Verhältnisse zuerst berechtigt war, seine Stimme abzugeben, und wenigstens verlangen konnte, über sie unterrichtet zu werden, mußte sie in einer Lage erfahren, die ihm jetzt erst unerträglich wurde, nachdem er einsah, daß sie ihn unter diesen Umständen nicht länger mehr peinigen konnte. Er trat unerschrocken aus seinem Rückhalte hervor, und hatte, ehe er drei Schritte machte, einen Schlag im Rücken. Er kam von Freundeshand, wenigstens von der Hand eines Bekannten. Dhii-Kummuz, der geistliche Hofnarr und Diplomat von Teschulumbo, stand verwundert vor dem Correspondenten, den er eher in Pe-Tschi-Li, der nördlichsten Provinz von China, als am Ein-21flusse des Poinom-Tschieu in den Buremputer vermuthet hätte. „Seh’ ich recht?“ rief er erstaunt aus; „hab’ ich einen verflogenen Falken oder den verirrten Jäger vor mir? Ein Chinese müßt Ihr seyn, und ich schwöre, Ihr seyd der Vornehmste, den es in Tibet gibt. Solltet Ihr nicht der Mann seyn, bei dem ich eingemachte, grüne Bambusstängel mit gebackenen Hirschschwänzen einst gegessen habe?“

Der Correspondent nickte nur freundlich, denn er wünschte, daß Dhii-Kummuz, auch ohne deßhalb von ihm ersucht zu werden, in seinen Wiedererkennungen fortfuhr, und den Glauben an die Identität seiner eigenen Aussage mit der Wahrheit in dem Befehlshaber, der sich durch seinen Dolmetscher von allen Worten den Sinn wiedergeben ließ, bestärkte. Als aber dieser hinter dem Erstaunen mit dem Verdachte herkam, und die einfache Frage: „Wie kann man den Freund im Lager seines Feindes antreffen?“ mannichfach variirt hatte, da trat er schnell mit seiner Erklärung hervor, daß er gefangen hieher aufgetrieben sey, und gab damit eine Thatsache an, die ihm von zehntausend Menschen bestätigt werden konnte.

„Wie konnt’ ich an Euch zweifeln!“ sagte Dhii-Kummuz. „Schon die Länge Eures Bartes mußte mich von Euren redlichen Gesinnungen überzeugen. Wo Ihr willkommen seyd, wird es Euch auch nie an Bequemlichkeiten fehlen. Euer struppiger Bart beweis’t mir aber, daß Ihr die Scheerbeutel der nipalesischen Barbiere nicht zu commandiren hattet.“

22 „Ich habe die Beschwerlichkeiten einer langen Reise nicht gescheut,“ entgegnete der Correspondent, „um deinen Herrn von Angesicht zu sehen.“

„Du bist kurzsichtig,“ fiel der Diener des Statthalters ein; „und wolltest daher die Schrift im Auge des Lama in der Nähe lesen. Ich hoffe, daß du unter dem glänzenden Style dieser Schrift auch aufrichtige Gedanken erkennen wirst.“

„Nicht Mißtrauen trieb mich über Eure todten Berge,“ berichtigte der Correspondent; „was kümmern mich die Augen deines Herrn! Ich wollte seinen Entschluß beflügeln, ihm die Länge seiner Termine abschneiden, und seinen Soldaten das Blei aus den Schuhsohlen nehmen. Doch wende jetzt deinen Einfluß an, mich von diesem Orte zu befreien!“

Es war hohe Zeit, daß sich diese beiden endlich verständigten; denn dem Befehlshaber wurde die Episode zu weitläuftig, und er verlangte, daß man in den Friedenspräliminarien endlich fortfahre. Dhii-Kummuz nahm es auf sich, ihm und dem Correspondenten zu gleicher Zeit zu dienen. „Der streitige Punkt der wechselseitigen Auslieferungen,“ begann er mit schneller Rede „kann jetzt vortrefflich ausgeglichen werden. Ihr sprecht einen Ersatz von acht Ochsen und neunzehn Schafen an, welche Euch von den Unsrigen gestohlen seyn sollen. Wie sehr wir bereit sind, die Zahl der Schafe anzuerkennen, so ist es doch unmöglich, daß wir uns auf die der Ochsen verstehen. Sieben sollen euch nach dem Spruche des Statthalters vergütet werden; ich erlaube 23 mir, in seinem Namen Euch auch den achten noch zu versprechen, wenn von Eurer Seite dieser achtungswürdige Mann dafür ausgeliefert wird. Ich denke, der Handel wird Euch nicht gereuen.“

Dieser Vorschlag fand auf nipalesischer Seite ungetheilten Beifall, aber ein Officier, der sich von Ho-Po eine Viertelstunde lang Schreibunterricht hatte geben lassen, brachte den Diener zur Sprache, und nun verlangten die Nipalesen wenigstens noch ein Schaf zum Ersatz für diesen Gefangenen. Dhii-Kummuz wies diese Zumuthung ernstlich zurück: „Ein Diener gehört zu seinem Herrn,“ sagte er: „wie der Aermel zum Rock, der Henkel zum Topf, das Rad zum Wagen, die Thür zum Haus, kurz wie der Schweif zur Kuh. Wir sind unsers Handels einig. Der Friede ist hergestellt, wir können des Nachts unsre Lichter löschen, die Bombardiere von den Kanonen, und die Kanonen von den Wällen nehmen. Wir erlauben Euch, auf dem Spiegel des Buremputer zu sengen und zu brennen, die Luft zu plündern, und die Heerden zu stehlen, mit welchen wir Euch verköstigen wollen. Eure Bogen bleiben gespannt, Eure Musketen geladen, und die Steine in Euren Schleudern. Die Ziele, welche es zu treffen gibt, werden Euch bekannt werden, noch ehe die Sonne dreimal über uns ihr feierliches Rad geschlagen hat. Bis dahin mögt Ihr an Eure Weiber denken, oder für Eure Schwestern Liebesbriefe schreiben. Wir gehen.“ Der Correspondent erhielt seinen Diener und seine Pferde zurück, und unter der Gesandt-24schaft einen Platz, der seinem Ansehen gebührte. Sein Incognito war einmal aufgedeckt, und es blieb unmöglich, es von Neuem anzunehmen. Er glaubte sicher zu seyn, daß seine Ankunft in Teschulumbo nicht früher in Lassa bekannt würde, als bis er selbst die Nachricht davon überbrachte. Dhii-Kummuz machte sich ein besonderes Geschäft daraus, aller Welt den überraschenden Fund mitzutheilen. Wie ein wohlriechendes Wasser sprengte er tausend Schmeicheleien auf der Landstraße, welche sie zogen, aus; es duftete rings von solchen Parfüms, daß sich Ho-Po und sein Herr wie in einem Meere von Rosenblättern wälzten.

Schon den ersten tibetanischen Vorposten rief der Schalk zu: „Die Patrouillen haben Eure Wachsamkeit immer loben müssen; denn wenn sie Euch anriefen, so schliefet Ihr doch immer nur auf Einem Ohr. Jetzt bringen wir den Frieden, und Ihr möget in Ruhe Euch auf beide legen. Habt Ihr aber noch etwas Frische in Euren Augen, so reißt sie auf, so weit wie Suppenteller; denn wir haben eine Merkwürdigkeit bei uns, die unbezahlbar ist und uns im Grunde doch nicht mehr als einen fetten Ochsen kostet.“

Die Vorposten und Tirailleurs verließen ihre Standörter, weil Frieden war, und folgten immer anwachsend dem Gesandtschaftszuge, weil sie auf die gepriesene Merkwürdigkeit neugierig waren.

Jetzt begann Dhii-Kummuz eine Schilderung, wie sie die Ausrufer vor den Menagerien von ihren Elephanten, Löwen und Eisbären entwerfen. „Versteht Ihr, 25 was ein Chinese ist?“ rief er: „Ein Chinese bleibt nur sieben Monate im Mutterleibe, weil in China die Weiber viel zu klug würden, wenn die Weisheit ihrer Kinder ihnen noch früher als die Milch in den Kopf stiege. Ein Chinese macht sich schon hörbar, noch ehe er auf die Welt kömmt. Er macht seiner Mutter Vorwürfe, wenn sie vor ihrer Entbindung zu viel tanzt, und schreit und lärmt, wenn sie zu häufig noch die Besuche seines Vaters annimmt. Ein noch ungebornes chinesisches Kind hat in seinem kleinen Finger mehr Verstand, als zehn ausgewachsene Bürger von Teschulumbo in ihren Köpfen zusammen genommen. Wenn sich die Muhmen und Vettern darüber streiten, welchen Stempel des Geschlechts der erwartete Ankömmling tragen könne, so ruft der Kleine oft sehr vernehmlich, daß er unter die Männer gehen werde, oder auch, daß er es selbst noch nicht wisse, und sie in acht Tagen deßhalb wieder anfragen sollen. Ist es ein Mädchen, so sträubt sie sich nicht selten so gewaltsam gegen die Verlobungen, welche die Eltern schon mit ihr anstellen, daß der Mutter Angst und Weh wird. Ja die Knaben erklären zuweilen sehr dreist, daß sie aus der Schule laufen würden, wenn man sie zu Gelehrten machen wolle. Jetzt wißt Ihr, was in China die Vernunft schon dann ist, ehe sie noch geboren wird. Und wie große Dummköpfe Ihr auch seyn möget, so drängt nicht so gewaltig auf mein Pferd und laßt mich etwas Athem holen.“

Die Unterofficiere rangen mit den Gefreiten, in die Nähe des Sprechers zu kommen. Sie vermutheten, 26 Dhii-Kummuz trage vielleicht unter seinem Mantel einen neugebornen Chinesen in einem Glase versteckt. Dhii-Kummuz fuhr auch mit der Hand an diesen Ort hin, brachte aber nur eine lange Peitsche zum Vorschein, mit welcher er die ungestüme Neugier glücklich auf einige Schritte zurückscheuchte. Als der nächste Raum um ihn leer blieb, fuhr er fort, die wogende Menge mit seinen Uebertreibungen aufs Neue zu bedienen.

„Chinesen muß man gesehen haben,“ sagte er; „um von ihnen reden zu können. Als ich den ersten Bewohner der Blume des Weltalls kennen lernen sollte, bereitete ich mich mit einer Erwartung auf ihn vor, die ich eher Schrecken als Andacht nennen möchte. Wer aber war dieß auch? Ein Mensch, der von der Erde nur seinen Namen hat. Ich sollt’ ihn wohl nach Würde beschreiben, aber mein Mund ist zu einer wahrhaften Schilderung zu schwach. Ich suchte diesen Mann aus einer großen Menge von Menschenköpfen, die nicht klüger und nicht dümmer waren, als die Eurigen, heraus; glaubt Ihr, daß ich Jemanden nach ihm zu fragen brauchte? Ich warf meinen Blick über die Häupter hin, und war gewiß, den Gesuchten dort zu finden, wo sich die meiste Lichtmasse gesammelt hatte. Ein aufgeklärter Kopf sprüht zuweilen Funken aus, die Alles um ihn her erhellen.“

Wer vermag die Wollust wiederzugeben, in der sich der Correspondent badete; denn er schloß darauf, daß 27 der Erzähler nur ihn zu schildern beabsichtigte. Dhii-Kummuz fuhr fort, ihn noch kenntlicher zu machen. Er sagte: „Ich suche vergeblich nach einer Würde, die Euch bekannt ist, und Euch nur einige Aehnlichkeit mit dem Range eines Mandarinen darbieten könnte. Wenn Einer vom Volk an einem Mandarinen vorübergeht, so muß er sich so tief neigen, daß er ihm nur bis an das Knie reicht. Ihr müßt einsehen, daß dieß nicht unbillig ist; denn es ist von einem seltenen Geiste die Rede. Was wäre das Weltall ohne die Mandarinen! Es gäbe keine scharfsinnigen Antworten auf witzige Fragen mehr, keine Räthsel mehr, die bis in’s Kleinste geheimnißvoll sind, und von feinen Köpfen doch errathen werden; die nützlichsten Dinge, z. B. die Entscheidungen über den guten Ton und die Complimente, würden mit den Mandarinen verloren gehen. Man kann wohl sagen, daß der Welt daraus ein großes Unglück entstehen würde.“

Der Correspondent hätt’ es bei weitem lieber gehabt, Dhii-Kummuz wäre bei seiner Persönlichkeit stehen geblieben. Dieser Wunsch ließ sich errathen, und der Sprecher genügte ihm auch sogleich mit Folgendem: „Auch unter den besten Dingen muß man einen gewissen Vorrang anerkennen, welchen eines vor dem andern hat. Ich gestehe, daß ich wohl mit einem der vorzüglichsten Mandarinen zusammenzutreffen das Glück hatte. Der Kaiser spricht von diesem Manne immer nur mit einer leisen Verneigung des Hauptes auf die linke Seite der Brust; eine Ehre, die er weniger sei-28nem Range, als seinem unermeßlichen Verstande zollt. Das ist aber auch etwas Einziges an diesem Manne. Erzählt ihm eine Historie, und nach fünf Minuten wird er sie rückwärts wiedergeben und in derselben Zeit mit dem Vortrage fertig werden, wie Ihr von vorne! Gebt ihm von einem Gedichte die Reime, und er weiß den Text so vortrefflich auszufüllen, daß es sich vom Original nur durch seine größere Vollkommenheit unterscheidet. Dieser Mann hat alle Länder der Erde gesehen. Er weiß von den Riesenvögeln fremder Welttheile zu erzählen, wie von den Schwalben vor seiner Hausthür. Die auswärtigen Könige erklärten sich oft den Krieg, wenn ein Fürst den Mandarin vermochte, in sein Gebiet früher zu kommen, als in das eines andern. Sie hätten es alle gern gehabt, er wäre im Lande und zur Rechten des Königs geblieben. Ach, was hätten die fremden Völker nicht für einen solchen Minister gegeben? Er würde alle auswärtigen Feinde durch einen schöngeistigen Zweikampf besiegt und somit viel Blut und Geld erspart haben. Er hätte die Könige zeichnen und dichten, und die Königin so vortrefflich tanzen gelehrt, daß sie damit das Glück aller ihrer Unterthanen begründet hätte. Ich muß Euch aber sagen, daß Ihr auch in meinen Augen schlechter Koth seyd, seitdem mich jener Mann zweimal umarmt und zu öfterm seinen Freund genannt hat. Ihr werdet einsehen, daß dieser Stolz gerecht ist, und ich Euch nicht ohne Grund verachte.“

Inzwischen war aber schon das Gerücht verbreitet, 29 daß sich der mehrfach geschilderte Wundermann in eigner Person unter diesem Zuge befände. Das Wogen und Drängen nahm zu, und Dhii-Kummuz versprach, der Neugier zu gewähren. „Seht her!“ rief er, indem er sein Pferd anhielt und den Correspondenten an sich vorbeireiten ließ: „Wer auf dem ganzen Erdboden kann mit so viel Einbildungskraft im Sattel sitzen? Wem ist es möglich, mit diesem Scharfsinne den Steigbügel von den Rippen des Pferdes entfernt zu halten? Ich schwöre, der Klepper selbst empfindet, daß ihm das Licht der Vernunft auf dem Rücken brennt. Und zum zweiten Male schwör’ ich, daß Euer Stumpfsinn ohne Gränzen ist. Denn es bedarf nur etwas kurzer Ohren, um einzusehen, daß ich das Glück habe, neben dem Correspondenten des Mittelpunktes der Erde, neben dem in Lassa residirenden Gesandten von China zu reiten.“

Jetzt brachen unzählige Stimmen in unzählige Huldigungen aus. Wie im Triumphe zog der Correspondent in Teschulumbo ein, nachdem die vielen vergoldeten Traghimmel und Thürmchen dieser Stadt schon aus der Ferne, vom Sonnenlichte beschienen, den Kommenden entgegengeglänzt hatten. Der Gefeierte rückte zuweilen stolz an seinem Hute, und blickte Dhii-Kummuz mit einem Ausdrucke an, der eben so sehr seine Zufriedenheit bezeichnete, als er an Dankbarkeit für eine Gefälligkeit, zu der den Schalk nichts verpflichtet hatte, zu gränzen schien. Dhii-Kummuz erwiderte diese zufriedenen Mienen mit bescheidenem Lächeln.

Im Innern seines Palastes hatte der Teschu-Lama 30 seine vertrautesten Freunde und die von seinen Planen unterrichteten Beamten versammelt. Es war ein Mann, in dessen Mienen nichts an den Priester erinnerte, als ein leichter Ausdruck von strenger Vorsicht, der sich zuweilen bis zu einem schlauen Blicke steigerte. Seine ganze Erscheinung erinnerte eher an einen Krieger, als an den Mann des Friedens. Es schien, als hätte die Priestermütze, welche sein Haupt bedeckte, nur den kriegerischen Helm auf einen Augenblick verdrängt, und als müßte aus dem seidnen Atlasmantel, der seinen Leib umfloß, die Spitze eines Schwertes oder Dolches hervorblinken. In seinen Bewegungen war nichts von der feierlichen Würde, die einem Priester und Untergotte ziemte, sondern es beherrschte ihn eine Lebhaftigkeit, die mit seinen Empfindungen und Gedanken in Wechselwirkung stand.

Die Nachricht von dem gemachten Friedensschluß war hier noch nicht angekommen. Die Ungewißheit darüber störte daher jede Berechnung der Zukunft, welche von den Einen unter den Versammelten gemacht, und von den Andern geprüft wurde. Wir würden durch die Mittheilung des Protokolls dieser Verhandlungen einen groben Verstoß gegen die Kunst der Anlage einer Erzählung begehen; denn da wir längst von dem glücklichen Ausgange jener Friedensanträge unterrichtet sind, so kann in den Chancen der Zukunft, wie sie auch ohne dieselben eintreten sollten, für uns durchaus kein Interesse liegen. Es genügt, anzumerken, daß aus allen vorangegangenen Entschließungen ein un-31bedingtes Vertrauen auf die eigne Kraft und die Gunst des Glücks sprach.

Geraume Zeit vor der Rückkunft der Gesandtschaft trat ein Mann unter die Versammelten, dessen Theilnahme an den Planen des Statthalters uns vor einiger Zeit noch überraschte, an die wir uns aber gewöhnt haben, seitdem wir sie zu rechtfertigen suchten. Der Schaman beugte vor dem Teschu-Lama sein Knie, und überreichte ihm zum Zeichen seiner Huldigung eine weiße Schärpe, die der Statthalter seinerseits mit einer andern an den Schamanen auswechselte. Die Ceremonie wurde um Vieles verkürzt, weil Alles auf die Nachrichten des Schamanen begierig war, und es diesen eben so sehr drängte, sie mitzutheilen. Er kam auf geradem Wege aus Lassa, einem Orte, dessen kleinste Verhältnisse in Teschulumbo interessirten und in weitläuftige Anschläge gebracht wurden. Seine Miene verrieth, daß er etwas von Bedeutung mitzutheilen hatte.

„Beklagt nicht die Beschwerlichkeiten, welche ich auf dieser Reise zu überwinden hatte;“ begann er dankend gegen die zuvorkommenden Herren. „Ich hatte Euch eine Nachricht zu hinterbringen, die meine Schritte beflügelt. Ihr wißt, wie aufrichtig ich an Euren Entschließungen Theil nehme, und daß ich noch nie unterließ, alles hierin Erwägungswerthe zu Eurer Wissenschaft zu bringen. Es handelt sich jetzt um nichts Geringes. Unsre chinesischen Bundesgenossen standen während der ganzen Zeit, seit sie sich für uns erklärten, un-32ter meiner Aufsicht, ich fürchte, daß sie mit Verrath umgehen.“

„Diese Besorgnisse haben einen Schein der Wahrheit,“ hieß es allgemein; aber der Statthalter sagte, daß man sie rechtfertigen müsse.

„Habt Ihr des Nachts über Eure Thüren wohl verschlossen?“ fuhr der Schaman fort. „Laßt Ihr Eure Worte an Orten erschallen, wo das Echo nicht zum Verräther werden kann? Die Chinesen liegen unter Eurem Bette, wenn Ihr schlafen geht; sie stehen hinter Eurem Rücken, wenn Ihr zu Tische sitzt. Wißt, daß seit einigen Wochen der Correspondent aus Lassa verschwunden ist.“

Man sah den Sprecher fragend an; denn was bestimmte ihn, daraus zu vermuthen, daß der mächtige Bundesgenoß die unermeßlichen Berge überstiegen, und daß er sich in diesen Gegenden aufhalte?

„Die Reisen des Correspondenten selbst,“ fuhr der wohlunterrichtete Bruder Maha Guru’s fort, „haben nichts Auffallendes, wohl aber ihre Richtung. Es ist seine Gewohnheit, alle Jahre einige Reisen im Umkreise von Lassa zu machen, und sich über die Verhältnisse zu unterrichten, welche er tibetanische Zustände nennt. Er schreibt dann jeden Namen auf, wo er glaubt, nicht mit gebührender Achtung empfangen zu seyn, und schickt endlose, mit Namen bedeckte Papierrollen nach Peking, wo sie in die Liste der Verdächtigen eingetragen werden. Er kostet die Suppe in den Bauernhäusern, und beurtheilt, je nachdem sie mager 33 oder fett sind, den Wohlstand Tibets, den er zuletzt immer als eine Wohlthat des chinesischen Schutzes zu schildern weiß. Aber diese Züge geschehen mit dem größten Aufwande, mit allem erdenklichen Gepränge, und werden wochenlang vorbereitet. Dießmal ist der Correspondent in Begleitung eines einzigen Dieners verschwunden. Obschon er nach einer entgegengesetzten Seite die Stadt verließ, so gelang es doch meinen Nachforschungen, seinen Wegen bald auf die Spur zu kommen. Er ist in der strengsten Verläugnung seiner Würde und seiner Geburt hieher gereis’t, und erst vor einigen Tagen verschwanden seine Fußstapfen, die ich von Dorf zu Dorf zählen konnte. Steckt das Licht Eurer Vernunft auf, und die Absichten dieses Mannes werden hell werden. Er befindet sich längst in Eurer Umgebung, um Euch zu belauschen. Sein Mißtrauen ist eben so gefährlich als seine böse Absicht, und ich glaube, großer Lama, daß ihn die letzte bewog, sich in deine Nähe zu schleichen.“ Der entrüstete Statthalter erhob sich von seinem Sitze, und zerriß zum Zeichen eines feierlichen Schwures sein Kleid. „Kein Winkel dieses Landes,“ rief er, „soll undurchsucht bleiben. Wir wollen die Dienste eines Bundesgenossen nicht mit der Gefahr erkaufen, von ihm betrogen zu werden. Es ist leichter, sich eines Wolfes zu erwehren, als eines Betrügers, der unter der Maske der Freundschaft sich in unsre Seele einschleicht. Ich sende nach allen Gegenden meine Boten aus; wenn die Schlange in unsrer Gewalt ist, so wollen wir ihr 34 die giftigen Zähne ausbrechen. Kann sie uns dann nichts mehr gegen Andre nützen, so sind wir doch sicher, daß sie uns auch nichts schadet.“

Die Polizeibeamten, welche durch diese Erklärung ihres hohen Gebieters hinlänglich beauftragt waren, verließen augenblicklich den Saal, um ihre tausendarmigen Kräfte in Bewegung zu setzen. Es galt, einem unterirdischen Mineur durch Gegenminen zu begegnen. Aber die Botschaft, welche in der Luft auf dem ersten frischen Windhauche anlangte, machte alle weitern Anordnungen unnütz. Unzählige Kehlen riefen sich die Nachricht von der Ankunft des mächtigen wunderbaren Chinesen zu, und brachten sie auch bald in das Innere des Saales, wo der Statthalter von seinen Vertrauten noch umgeben war, und sich von dem Schamanen Aufklärungen über seinen Bruder geben ließ. Kurz darauf drängte sich die Gesandtschaft in den Saal, und der Correspondent stand vor dem Teschu-Lama, noch ehe dieser sich in dieß plötzliche Erscheinen des Gefürchteten zu finden vermochte.

Der Correspondent, durch den triumphirenden Empfang der Bevölkerung von Teschulumbo daran gewöhnt, seinen Rang und seinen Stolz zu behaupten, erwartete von dem Lama eine Bewillkommnung, welche sowohl seiner in Lassa befindlichen Vollmachtscapsel entsprach, als auch dadurch bestimmt wurde, daß der Statthalter seiner bedurfte. Dieser selbst dagegen sah in dem Correspondenten nur einen auf Verrath ertappten falschen Freund, und würde ihn auch sonst im Bereiche seiner 35 Statthalterschaft niemals mit den Ehren überhäuft haben, welche die Eitelkeit als nothwendige Huldigung anspricht. Dhii-Kummuz endlich war mit dem Wiedersehen seines Freundes, des Schamanen, so beschäftigt, daß sein küssender und geküßter Mund keine Zeit fand, die steigenden Mißverständnisse durch Angabe der ihm bekannten Thatsachen wenn nicht zu heben, doch zu mildern.

„Ich habe dich eines Morgens,“ begann der Chinese zum Statthalter gewendet mit verdrießlicher Stimme, „bei deiner ersten Tasse Thee überraschen wollen; der Zufall hat gewollt, daß ich in meinen Eigenschaften früher erkannt worden bin, und ich erstaune, daß du mir zum Empfange nicht einmal einen Finger deiner Hand reichst.“

„Ich preise das Geschick,“ entgegnete der Abgeordnete: „daß es mir günstiger ist, als deinen hinterlistigen Anschlägen. Ich habe lange gelebt, und schon in tausend Augen geblickt, um die Herzen zu prüfen, aber noch hab’ ich keines gefunden, dessen Wimpern so viel Falschheit beschatteten, als die deinigen.“

Jetzt fiel dem Correspondenten das ganze Gewicht seines Wagnisses aufs Herz. Er hatte seinen Rücken freigegeben, und jede Zunge war ungefesselt, ihn mit Schmähungen zu bedecken. Er versuchte es, seinen Zorn zurückzuhalten, weil er wußte, wie unmächtig er war; er berief sich auf seine Redlichkeit, seine Aufopferung, die ihn hieher getrieben, und die Umstände, welche ihm das versteckte Auftreten zur Pflicht machten. 36 Aber der Statthalter wollte an den Umständen nur die Eigenschaft bemerken, daß sie ihn zur Ehrlichkeit gezwungen hätten.

„Ein Dieb,“ sagte er, „der einen Mantel gestohlen hat, wirft ihn gern der zitternden Armuth um, wenn ihm die Häscher schon auf den Fersen sind. Ihr verhindert mich, daß ich Euch als einen Freund behandle.“

„Haben die Dohlen jemals gegen das Stehlen geeifert?“ fiel der Correspondent mit Gebärden ein, die von Wuth überschäumten. „Seit wann stellen sich die Mörder auf die Dächer, und predigen Menschenliebe? Haben sich die Feldhühner untereinander je Vorwürfe gemacht, daß sie nicht besser singen? Wo sind jene Tugenden, auf welche du fußest, wenn du mir ein Verbrechen vorwirfst? Steht dein Land nicht in Aufruhr? Dem Priester ziemt es, den Samen der Eintracht zu streuen. Du gürtest dich aber mit dem Schwerte, und willst die Spuren deines Weges mit Blut bezeichnen. Deinem göttlichen Meister setzest du ein Messer an die Kehle und willst die Getreuen morden, die sich für ihren König und Herrn aufopfern! Bei meinem Haupte, was vermagst du, Elender, gegen mich, den du betrogen hast?“

Der Gott des Entsetzens flog durch den Saal und hielt Jedem die Kehle zu, daß er regungslos, stumm und erstaunend auf die beiden Männer sah, welche sich drohend gegenüber standen. Der Correspondent war zu weit gegangen, als daß Dhii-Kummuz Dazwischen-37kunft zur nähern Verständigung noch hätte einlenken können. Der Teschu-Lama hatte sich hoch von seinem Sessel aufgerichtet, und den Blicken, die seine Augen schleuderten, folgten diese niederschmetternden Worte: „Ich hörte von einem Gecken, welcher sein graues, verschimmeltes Haar in Salben badete. Ich hörte von einem alten Narren, der sich für ein violettes Band, einen milchweißen Knopf, für eine Feder aus dem Schweif eines Pfauen um seine Nächte betrügt. Ich hörte von einem Verleumder, der des Nachts unter den Fenstern seiner Nachbarn lauscht, und in den Morgenvisiten aller Welt verfängliche Neuigkeiten bringt. Aber was waren diese Dinge gegen diejenigen, welche ich später erfuhr? Da sah ich einen Dieb, der seine Freunde umarmt, und ihnen die Taschen ausräumt; einen Lügner, der sich in das Schlafzimmer seiner Bekannten schleicht, ihnen die Hausschlüssel unterm Kopfkissen wegnimmt, und sie den Räubern zum Fenster hinauswirft; einen Schurken, der sich vor die Thür eines Gartens, in welchem man seine Vettern und Schwäger ermordet, Wache stellt und den Vorübergehenden sagt, er stehe hier, um ihre schönen Kleider zu bewundern, und den Armen recht viel Almosen zu geben. Dieser heimtückische Gesell mischt sich in eine heilige Angelegenheit, an welche er nicht denken kann, ohne sie zu verunglimpfen. Wir wollen einen Thron stürzen, nicht weil uns sein Glanz blendet, sondern weil ihn die Schwäche gebaut hat. Wir wollen der Gottheit nicht Hohn sprechen, sondern ihr eigner Wille hat uns beru-38fen, ein Trugbild ihrer Herrlichkeit zu vernichten. Unsre Schwerter sind Zornesflammen, welche der Himmel in unsre Hand gegeben. Wessen Sohn bist du, daß der Stachel deiner giftigen Zunge in mein heiliges Antlitz leckt? Kann man dem eine Blöße vorwerfen, der auf dem Wege ist, die Kleider des Dalai Lama anzuziehen? Wenn auch in den nächsten Monden erst die Blitze des Himmels in meine Hand gegeben sind, so ist sie doch jetzt schon stark genug, dich zu zerschmettern. Diese Thäler bleiben dein Gefängniß. Nenne dich blind; denn du wirst die Heimath niemals wiedersehen!“

Der Teschu-Lama verließ den Saal, und alle Anwesenden folgten ihm bis auf den Correspondenten und Dhii-Kummuz. Dieser trat auf den verzweifelnden Chinesen zu, und schlug ihn vertraulich auf die Schultern. „Verfluche meinen Herrn tausendmal,“ sagte er, „und du wirst ihm doch danken müssen, daß er mich zum General-Polizeimeister gemacht hat. Die Vögel werden durch Lockvögel gefangen und die ganzen Spitzbuben durch halbe. Die Gefängnisse verdanken mir Vieles, eben so die Gefangenen, wie du selbst sehen wirst. Du hast mir in Lassa Herberge gegeben, und ich will die Gastfreundschaft an dir erwidern. Mein Haus ist geräumig, meine Gärten hab’ ich noch nicht messen lassen, weil es mich zu viel kosten würde, meine Felder tragen so viel Korn, daß ich mit dem daraus gebackenen Brode alle bösen Mäuler in Teschulumbo stopfen kann. Du wirst die fröhlichsten Tage bei mir 39 genießen, und nichts zu thun haben, als rauchen, Betel kauen, die Nägel zierlich beschneiden, und nichts zu lassen, als das Entlaufen.“

Noch glühte der Correspondent vor Zorn; als er aber die Thränen seines Dieners Ho-Po rinnen sah, da lös’ten sich die krampfhaft gespannten Nerven, das heiße Blut hörte auf, ungestüm zu wallen, und er sank wie vernichtet über seine auf der Reise vergebens abgerissenen Schuhsohlen zusammen. Dhii-Kummuz ergriff seinen Arm und geleitete ihn in seine Wohnung, die dem Chinesen, wie es schien, für den Rest seines Lebens angewiesen war. Wenn der Statthalter auch seine Aufwallung bereute, wie wollte er sie wieder gut machen? Konnte er hoffen, den Thron von Lassa sicher zu behaupten, wenn er sich gegen den Repräsentanten der chinesischen Macht so übereilt vergangen hatte? Weil der Teschu-Lama jetzt Alles zu fürchten hatte, blieb für den Correspondenten wenig mehr zu hoffen übrig.

40 Zweites Capitel.#

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Dieser Weiber Augen leuchten,

Daß sie mir wie Sonnen deuchten

Oder Fackeln hell in Brand.

Doch der Schiller dieser Seide

Macht die Farb’ an ihrem Kleide

Ungewiß und räthselhaft.

Schi-King.

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Nach der schrecklichen Katastrophe Hali-Jongs erwachte Gylluspa in sechs Armen, die sich sorgfältig mit ihr beschäftigten. Sie war nicht verwais’t; denn ihre übrigen drei Väter traten jetzt mit denselben Verpflichtungen auf, welche der todte Bruder vor allen gegen sie übernommen hatte. Sie hatten sie von den Stufen des steinernen Altars, wo Hali-Jong als Opfer gefallen war, in diese einsame Zelle getragen, welche ihnen die Priester anwiesen. Sie umstanden das schönste Kleinod ihrer schwindenden Schätze, und betrachteten die ohnmächtige Gylluspa mit Blicken, aus welchen wechselnd das Entsetzen der erlebten blutigen Scene und die Besorgniß für ihre Tochter sprach. Auch von Gylluspa’s Seele stiegen allmählich die verhüllenden Nebel, und die Erinnerung trat in so lebensgroßen Zügen vor ihr Bewußtseyn, daß sie keiner Aufklärung über das Geschehene bedurfte, sondern sich ganz dem 41 Schmerz darüber hingeben konnte. Die Klage, in welche diese Unglücklichen ausbrachen, war lang, stürmisch, leidenschaftlich; ein schluchzendes Schweigen lös’te sie ab, bis mit dem fester auf die Zukunft gerichteten Blick endlich eine aushaltende, stille Pause eintrat.

Die Zukunft brachte vor allen Dingen eine neue Ordnung der Familienverhältnisse. Obschon sich nichts natürlicher ergeben konnte, so begann doch der älteste unter den Brüdern darüber noch folgende Erklärung zu geben. „Wir sind im Ungewissen,“ sagte Heli-Jong, „über die Wendung, welche unsere Angelegenheiten in den nächsten Augenblicken nehmen werden. Aber einige Verhältnisse gibt es, welche sich durchaus nicht anders bestimmen lassen. Ja, Gylluspa, unwiderruflich bin ich jetzt in die Rechte Hali-Jongs getreten, und darf mich hinfort deinen ersten und bevorzugten Vater nennen. Wenn ich früher nur hinter den Vorhängen deines Schlafzimmers auf deinen Athem lauschte, so darf ich jetzt unerschrocken hineintreten und dir die Decke auf die Brust ziehen, wenn deine heftigen Träume sie herunterschoben. Des Morgens beim Ankleiden darf ich dir die Kraft meiner Hände leihen, um deinen Gürtel stärker anzuziehen. Wenn du aus deiner Kammer heraustrittst, so werden deine ersten Grüße mich beglücken. An der Jahresfeier meiner Geburt mußt du mich in der fünfzeiligen Strophe besingen, da du es sonst nur vierzeilig thatest. In deinen Gebeten an die Götter nehm’ ich den Ehrenplatz ein; und wenn ich nach meinem Tode früher nur in den Leib einer Waldschnepfe 42 fahren sollte, so werden jetzt deine Wünsche darauf gerichtet seyn, mir die Wohnung eines Geyers oder eines Bisamthieres zu erflehen. O Gylluspa, man kann nicht glücklicher seyn, als der berechtigte Vater eines solchen Wesens, wie du bist, zu werden!“

Die übrigen Brüder fühlten, daß auch sie durch diese Promotion um eine Stufe höher gerückt waren, und sie umarmten daher Gylluspa mit wahrhaft zärtlicher Inbrunst. Heli-Jong fuhr aber in den Manifesten beim Antritt seiner neuen Herrschaft fort. „Ich war von jeher gewohnt,“ sagte er, „Euch Allen mit Liebe zu begegnen. Ich finde es nicht für angemessen, von dieser Gewöhnung, die meinem Charakter so sehr entspricht, zurückzukommen. Wenn mir sonst beim Guß in unserer Fabrik siedendes Metall ins Auge spritzte, so seyd Ihr noch immer mit einem fürchterlichen Geschrei mir zu Hülfe gelaufen, habt mir die Augen mit Salben bedeckt, die Vorhänge des ganzen Hauses zusammengetragen, um mir den Lichtreiz zu entziehen, und Tage und Nächte an meinem Lager durchwacht. Ich kann an diese Ereignisse nicht denken, ohne von dem Andenken an meinen unglücklichen Bruder, an seine treue Hingebung und stete Aufopferung auf das schmerzlichste bewegt zu werden. Ach, meine Lieben, welch gränzenloses Unglück ist uns doch begegnet!“

Solche Erinnerungen rissen alle Schleußen der kaum gedämmten Thränenbäche wieder auf. Der ungeheuerste Schmerz warf sich wieder auf diese treuen Menschen, zerraufte ihnen das Haar, zerrang ihnen die Hände, 43 daß ihr Leib regungslos nur dem Gewichte ihres schweren, öden Hauptes nachsank. Nach einer allmählich wieder eingetretenen Beruhigung nahm Heli-Jong von neuem das Wort und sagte: „Noch umschließen uns diese finstern Räume, die uns so Vieles geraubt haben; meine Hoffnung steht aber darauf, daß sie uns nicht Alles entrissen. Die Thüren dieses Klosters werden für uns keine Riegel haben, und an den Thoren von Lassa werden uns keine Schergen erwarten, um den friedlichen, der Heimath zugewandten Leidträgern die Straße zu verlegen. Wir werden die Oerter wiedersehen, welche wir mit den schönsten Hoffnungen betraten. In sieben Tagen nahen wir uns den heimischen Thälern. Keine Rauchsäule, die von den Essen aufsteigt, keine zückende Flamme, welche zuweilen aufschießend die finstern Wolken erhellt, wird uns am Horizonte erscheinen, sondern einsam ziehen wir in die einsamen Räume ein. Es wird lange währen, daß wir uns an dieß schmerzliche Wiedersehen gewöhnen. Jeder Winkel des Hauses wird uns an einen unersetzlichen Verlust erinnern. Aber der beste Arzt ist die Zeit, und die beste Trösterin die Gewöhnung. O, richtet Euch auf, meine Lieben! Tausend Hände müssen bald wieder geschäftig um uns walten. In den Wäldern tönt die Axt, in den Schachten der Gebirge der Hammer; auf dem Pa-Tschieu kommen Floßhölzer herab, welche die Essen mit Holz und die Glühöfen mit Metall versorgen. Die alten, verurtheilten Modelle werden bald durch neue ersetzt seyn. Fleiß, Kunstfertigkeit und 44 Achtung vor dem religiösen Gesetze werden sich in die Hände arbeiten. Kurz, wenn wir auch nicht vergessen lernen, so werden wir uns doch an die Erinnerung, wie an eine Beruhigung, gewöhnen.“

Hoffnungsschwellendes Schiff! Ein Windstoß erhebt sich in widriger Richtung, und du bist genöthigt, deine rauschenden Segel zu streichen!

Noch hätte das Echo der letzten Worte Heli-Jongs kaum verklungen seyn können, wenn in der kleinen Zelle eines befindlich gewesen wäre, als sich die Thüre öffnete und eine Anzahl Priester hereintrat. Sie hatten sich vielleicht noch nicht einmal von dem Blute des Armen gereinigt, der hier beweint wurde. Die Priester machen nur dann viel Umschweife, wenn sie sich über die Geheimnisse, als deren Wächter sie bestellt zu seyn glauben (da sie doch ihre Ergründer seyn sollten), aussprechen müssen; wo sie aber zu befehlen und anzuordnen haben, da sind sie rasch zu Werke und sparen die weitläuftigen Vorbereitungen. Der Führer der Deputation trat vor, und erklärte den Brüdern, daß es zwar den menschlichen und göttlichen Gesetzen angemessen, einen Hochverräther am Daseyn Gottes bis ins dritte und vierte Glied zu bestrafen, nicht nur seinen Namen auszurotten, sondern auch den Namen derer, die denselben mit ihm führen, seine Brüder, Schwestern und Freunde zu züchtigen, weil sie alle insofern an seinen Verbrechen Theil haben, als sie es nicht verhinderten. „Aber dennoch,“ fuhr er fort, „weiß es alle Welt, 45 daß die Kirche nicht nach Blut dürstet. Der Orden der schwarzen Gylongs hat immer geglaubt, daß die Strafe eben so zur Belehrung als zur Sühne dienen müsse. Begangene Verbrechen lassen sich nicht ungeschehen machen; aber wenn sie noch im Werden sind, so kann man ihnen vorbeugen. Erkennet daraus die liebevollen Absichten, welche die Kirche mit Euch, die Ihr dem Verderben schon fast anheim gefallen seyd, hegt! Ihr wollt zurückkehren zu Euren gewohnten Beschäftigungen? Wer stellt aber uns und Euch sicher, daß sich an die kaum abgebrochene Kette von Vergehen keine neuen knüpfen? Wir dürfen nicht zugeben, daß Ihr diesen Ort verlaßt, ohne Belehrungen von uns empfangen zu haben. Ich selbst bin mit diesem Geschäfte beauftragt; ich eröffne für Euch eine Reihe von Vorlesungen über die traditionelle Götterbildung; bereitet Euch zu einer Prüfung vor, die Ihr im Angesichte des ganzen Klosters bestehen müßt, worauf erst Eure Rosse gesattelt und die Thore dieser heiligen Stätte Euch geöffnet seyn dürfen. Da Eure Tochter gewohnt war, die Malereien an den Göttern auszuführen, so darf sie sich dieser Unterweisung nicht entziehen. Macht Euch auf, und folgt mir in die neue Wohnung, die Euch künftig beherbergen soll!“

Die Brüder kannten nichts von Einwendungen gegen den Willen eines Priesters. Sie ergaben sich friedlich in den Aufschub ihrer Abreise und folgten ihrem Lehrmeister, bei dem der anvertraute Unterricht 46 nicht wenig Kenntnisse und nicht wenig Stolz darauf voraussetzen ließ.

Gylluspa, in einen weiten Schleier gehüllt, schwankte ihnen nach. Der Schmerz machte sie stumm; ja selbst dem Gefühl versagte eine deutliche, verständliche Sprache. Sie wußte nicht, was sie verloren, aber auch, was ihr wiedergegeben war, blieb ihr unbekannt. Zuletzt schien es ihr wohl eines festen, anhaltenden Gedankens werth, daß sie in Lassa blieb; sie hing an ihm einen Augenblick, aber als er in ihr Herz schlug, und wie ein Feuerstrahl sie erwärmte, da blickte sie auf; ihr Auge fiel in den Hof und auf ein Grab, in welches Priester eine blutige weiße Hülle senkten. Widerhallte vorher Maha-Guru’s Name noch in ihrer Seele, so stieß sie ihn jetzt zurück; denn selbst ein liebendes Herz mußte seine draußen prangende, kraftlose Allmacht mit Unwillen erfüllen. Wir überlassen Gylluspa auf einige Zeit ihrer Trauer, der Sorgfalt ihrer Väter und den klagenden Tönen ihrer Laute, dieser schwachen Trösterin des Schmerzes.

Schü-King war das Gegenbild Gylluspa’s. Diese würde in Augenblicken der Gefahr niemals mit fester Entschlossenheit haben auftreten können, wenn sie auch wie jene die Situationen und die Mittel dazu besessen hätte. Schü-King handelte energisch, wenn sie in den Fall kam, es thun zu müssen. Von ihren Lippen war der Uebergang zum Arme schnell, wenn es galt, ihre Worte ins Werk zu setzen. Wenn die Frauen in den Lauf der Dinge eingreifen, so handeln sie oft mit mehr 47 als männlicher Entschlossenheit, weil sie keine Rücksichten kennen, und die Schmeichelei ihnen die Verantwortlichkeit zu einer unbekannten Verpflichtung gemacht hat.

Es war billig, daß der Correspondent während seiner Abwesenheit die ganze Verwaltung seiner häuslichen Angelegenheiten dem wachsamen Auge seiner Schwester anvertraute. Aber er empfahl ihr beim Abschiede noch mehr. Er entwarf ihr ein Bild des Zustandes, in welchem er die Angelegenheiten Tibets und Lassa’s zurückließ, und wurde von Schü-King darin oft unterbrochen, weil sie bald eine seiner falschen Angaben zu berichtigen, bald über Verhältnisse, die selbst dem Bruder noch zweifelhaft waren, die richtige Auskunft zu geben hatte. Sie kannte die Eifersucht, mit welcher ein Kloster das andere verfolgte, die üblen Nachreden, welche die verschiedenen Orden der Geistlichkeit hinter sich herstreuten; sie war vollkommen unterrichtet über den Zustand des Heers, wo ihr selbst die Statistik der Sattelgurte nicht unbekannt geblieben war, ja bis auf die kleinsten Erlebnisse des Tags erstreckte sich ihre Kenntniß; sie wußte, welche Frauen im Umkreise binnen drei Monaten niederkommen mußten, welche Eheverlöbnisse eingegangen waren, und auf wie lange Zeit der Nachbar im dritten Hause zur Linken sich Brod gebacken hatte; kurz der Correspondent konnte mit der gerechtesten Beruhigung die Thore der Stadt verlassen. Er umarmte seine Schwester mit aller Zärtlichkeit, und gab ihr die Versicherung, daß zwischen diesem Abschiede und der 48 Accolade des Wiedersehens nur der kurze Zeitraum einiger Wochen liegen würde.

Daß diese Reise ihrem mächtigen Bruder gefährlich seyn könne, fiel Schü-King erst da aufs Herz, als die Wochen immer von neuem anfingen, ohne am Schluß die Reisenden zurückzubringen. Tschu-Kiang, der verliebte Oberst, lief jeden Morgen in der Frühe, sobald er nur mit seiner Toilette fertig geworden war, in das Haus seines gehofften Schwagers, weil er bestimmt darauf gerechnet hatte, daß er diese Nacht, dann diese, dann wieder eine Nacht, endlich eingetroffen sey. Aber die Thürsteher schüttelten schon in der Ferne den Kopf, so daß ihm recht bang wurde, und ihn nur die Complimente der Dienerschaft daran erinnern konnten, sich zu fassen und aufrecht zu halten. Und wenn er des Tages über zu Schü-Kings Füßen saß, so trieb ihn jedes Geräusch auf der Gasse ans Fenster, oder eine plötzliche Ahnung und Caprice seiner Angebeteten zwang ihn, auf der Stelle bis in die fernsten Dörfer zu reiten, weil sie den Bruder dort eben angekommen glaubte. Dem Obersten mußte daher Alles daran gelegen seyn, daß der Correspondent endlich wieder in seinen Wirkungskreis zurückkehrte.

Das Ausbleiben des Ersehnten wurde zuletzt so auffallend, daß die einzige Beruhigung nur noch darin lag, daß man ihn aufgab. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, wurden die verschwiegensten Diener ins Vertrauen gezogen, und über das Land nach allen Richtungen geschickt, um die Spur des Verlornen zu entdecken. 49 Schü-King aber rief eines Morgens den Obersten dicht in ihre Nähe, zerriß ihm die auf seiner Schulter mit Zierlichkeit gelegten Epaulettes von seidnen Atlasbändern, und sagte: „Ich legte mich gestern mit schwankenden Entschlüssen ins Bett, über Nacht sind sie gereift, und ich stand mit einem festen, unwiderruflichen Vorhaben auf. Das Regiment von Tibet ist eine Eroberung geworden, die Jeder machen kann. Ich kenne die Gedanken einiger übermüthigen Menschen, welche wir zu fürchten haben, wenn wir die Zügel in Händen behalten wollen. Wer will mich hindern, im Auftrage meines Bruders zu handeln, wenn meine Thaten von Entschlossenheit und mein Wille von Muth zeugen? Ich mache mein Putzzimmer zum Mittelpunkt, um den sich Alles in Tibet bewegen soll.“

Tschu-Kiang war nur geschaffen, fremde Gedanken anzuhören, nicht sie zu prüfen. Am wenigsten würde Schü-King von ihm eine Billigung der ihrigen verlangt haben. Sie fuhr in ihrem Selbstgespräche fort: „Die Klugheit,“ sagte sie, „kämpft nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit Worten, die von Drohungen begleitet sind, mit Handlungen, welche den Schein der Gefälligkeit annehmen, und mit Lügen, die zur rechten Zeit und in passender Verbindung angebracht werden. Die gewaltsamen Schläge schaden dem Hammer mehr, als dem Ambos. Durch weise und mäßige Berechnung sind alle Ziele erreichbar. Warum sollten diese Einsichten den Frauen versagt seyn? Die Männer, welche so oft von ihren Weibern betrogen 50 werden, dürfen sich wohl kaum rühmen, daß nur ihnen die List und die Kunst der Verstellung beschieden ist.“

Darauf begann Schü-King mit einer ausführlichen Darstellung der Verhältnisse, wie sie überall vorlägen, und welche Richtung sie ihnen geben müsse, um den Absichten ihres Bruders, auf den sie keineswegs noch zu hoffen unterließ, entgegen zu kommen. Nachdem sie dabei unzählige Male auf Ming-Ta-Lao, den General, zurückgekommen war, blieb sie beim Dalai Lama stehen.

„Dieser junge Mann,“ sagte sie mit sehr profanen Ausdrücken, „findet in seiner neuen Würde Alles, was sich in ihr nur suchen läßt, Bequemlichkeit, Ruhe, Gleichgültigkeit. Er hat nichts zu thun, als seine gnädigen Herablassungen zu studiren. Sein Leben ist eine fortwährende Uebung im Lächeln, und kein Wunder, wenn er es in dieser Kunst so weit bringt, daß sein Anblick unwiderstehlich wird. Er hat mich zu wiederholten Malen gesehen, ich habe ihm schlecht verhehlt, wie zärtlich ich für ihn empfinde; ich will aber niemals wieder vor sein Antlitz treten.“

Tschu-Kiang mußte Dinge hören, die ihn folterten; aber Schü-King fügte zu seiner Beruhigung hinzu: „Auszeichnungen, welche man für Jeden bereit hat, sind es für Niemanden. Ich verwünsche dieses Lächeln des Lama, mit welchem er jede zahnlose Bauernfrau, welche ihre Eier auf dem Markte verkauft hat, und die Stadt nicht verlassen will, ohne ihn zu sehen, von weitem beglückt. Die Gleichgültigkeit dieses jungen 51 Menschen würde jede Andere herausfordern, mir macht sie ihn zuwider.“

Der Oberst rückte selbst mit einer Geschichte heraus, die man sich seit längerer Zeit in Lassa erzählte, und zum Theil auch Schü-Kings Ohr schon erreicht hatte. Es waren Vermuthungen über die Verhältnisse des Dalai Lama zu Gylluspa, der Tochter eines wegen Ketzerei hingerichteten Verbrechers. Sie kamen der Wahrheit ziemlich nahe, und waren hinreichend, wie sie den Verdacht der lauernden Priesterschaft schon erregt hatten, auch die Eifersucht eines ehrgeizigen Weibes zu steigern. Schü-King würde, wenn sie erfuhr, daß Maha-Guru, in ihren Augen der menschlichste Gott, den Reizen einer Andern den Vorrang gegeben hätte, ihn zwar nicht mit heftigerer Leidenschaft verfolgt, sich aber an dem Gegenstande seiner Hingebung empfindlich gerächt haben. Sie trug daher ihrem Anbeter auf, über diese Angelegenheiten weitere Erkundigungen einzuziehen.

Bei aller männlichen Energie mußte Schü-King doch dem Weibe unterliegen, wenn ihre Leidenschaften die Richtung auf Liebe und Besitz nahmen. Sie gerieth in einen Zustand der sinnlichsten Erregung, und schwankte zwischen den Umarmungen Tschu-Kiangs und der Theilnahme an einer Scene, für welche sie sich zuletzt entschied, und der wir die nachfolgende Schilderung widmen. Der Oberst wurde entlassen; und Schü-King eilte, so schnell es der verjüngte Maßstab ihrer Füße 52 erlaubte, in den hintern Hof, wo sie den Harem ihres Bruders betrat.

Im Harem war eine von vergoldeten Säulen getragene Halle das Gesellschaftszimmer der Frauen des Correspondenten. Hier mußten sie sich in der Frühe versammeln und die längste Zeit des Tages zubringen; denn die Chinesen wissen, daß die Einsamkeit den Frauen sehr schädlich ist, wenn man sie lebhaft, munter, gesellig erhalten will. Die Chinesen legen aber ihren Weibern auch noch andere Verbindlichkeiten auf. Sie wollen sie, wenn sie sie überraschen, nicht von den Armen des Müßiggangs umfangen antreffen, sondern entweder mit kunstvollen Handarbeiten beschäftigt, oder unter Büchern begraben, oder den Schreibpinsel in der Rechten und ein Stück Papier in der Linken. Auch für die Abwesenheit des Correspondenten blieb es das strengste Verbot, von dieser gewohnten Ordnung der Dinge abzuweichen.

Nichts desto weniger mußte die Verzögerung der endlichen Ankunft des Verreis’ten auf die Strenge, mit der man in Beobachtung seiner Befehle verfuhr, zurückwirken. Die Augen der verschnittenen Aufseher wurden kurzsichtiger, ihre Erinnerungspeitsche wurde nicht mehr in Wasser getaucht, die Unterrichts- und Gebet-Stunden erlitten ansehnliche Verkürzungen, und Scherz und Lust zog da ein, wo sonst nur eine Verleumdung, eine üble Nachrede, die Mißgunst und Eifersucht die Gemüther und die Lungen in Bewegung setzte. Man rief sich Sänger von der Straße herauf, man bestellte 53 sich Tänzerinnen, welche den Weibern vortanzten, da sie selbst durch ihre kleinen Füße daran verhindert wurden, und wenn sonst nur ein einziger Palankin dafür bestimmt war, die Frauen des Harems eine nach der andern abwechselnd spazieren zu tragen, so brachte man jetzt deren sechs und acht zusammen, und zog in Karawanen auf das Land, ohne sich dabei durch den Schleier viel verhindern zu lassen, zu sehen und gesehen zu werden. Der Garderobe-Aufseher mußte die Festtagskleider herausgeben, und als er sie zurückverlangte, wurde er von einem verabredeten Gelächter empfangen. Man hätte ihm die Augen ausgekratzt, wenn er die Zurückgabe ernstlich gewollt hätte. Er nahm aber ein Einsehen, und befolgte die Maxime der übrigen Inspectoren, welche sich alle dem weiblichen Despotismus unterwarfen, den Morgen um sieben Uhr, den Abend um acht anfangen, die schriftlichen Pensa sehr verkürzen, die Gedächtnißaufgaben gänzlich fallen ließen, und selbst für das Einschleichen männlicher Gesellschafter kein Auge gehabt hätten, wenn dieß anders auch vielleicht nicht geschehen ist.

Schü-King sympathisirte mit jeder Licenz, welche über gezogene Schranken und Befehle sprang. So lange sie in den Unordnungen des Harems nur das Lüften einer pressenden lästigen Kleidung sah, so lange in ihr die erste Gebieterin des weiblichen Lagers noch verehrt wurde, gab sie gern den Ausbrüchen der Ungebundenheit und Freiheit nach. Sie warf den Mantel ihrer Nachsicht um die Ausschweifungen des weiblichen Sans-54culottismus. Dieß that sie um so mehr, als sie eine Befriedigung ihrer Sinnlichkeit darin fand, an ihnen Theil zu nehmen. Zuweilen gab sie sich den äußersten Anregungen hin, die auf die Phantasie und die verstecktesten Gefühle nur wirken können.

Jetzt eilte sie über die mittlern Höfe, bis sie schon aus der Ferne das Geräusch vernahm, das aus den Räumen des Gesellschaftssaales schlug, und in den Höfen widerhallte. Man sang, man lachte, man klatschte in die Hände, in demselben Augenblick erhob eine Stimme ein Zetergeschrei, mehrere andre fielen ein, Parteien bildeten sich mit kreischenden Parolen; zu den Losungswörtern gesellten sich geschleuderte Nadelkissen, fliegende Fächer, zerschmetterte Stickrahmen, bis sich endlich die Aufseher dazwischen legen und vermitteln wollten. Dieß war aber nur das Signal, um Alle zu vereinigen. Die Parteien bildeten einen Phalanx, wenn es die Inspectorenkette zu durchbrechen galt. Diese wich, suchte den Rücken zu gewinnen, die Zöpfe in Sicherheit zu bringen, und Alles lös’te sich in ein schallendes Gelächter auf.

Schü-Kings Eintritt in den Saal gab diesen Scenen wieder eine neue Wendung. Alle Weiber drangen auf sie ein, und überhäuften sie mit Liebkosungen und den zärtlichsten Grüßen. Die ältern Damen empfingen sie wie eine langjährige Freundin, und die jüngern, frische, liebliche Kinder, die noch von der Sonne des vorigen Sommers die Wellen des gelben Flusses be-55schienen gesehen hatten, drängten sich mit zutraulicher Hingebung an sie, und küßten zärtlich die Säume ihrer weiten Seidenärmel. Jede wußte ihrer Gebieterin etwas zu erzählen, das sie ihrer Kenntniß für würdig hielt. Yeg-Jeg hatte zwei Stecknadeln gefunden und überströmte vor Freude; Hong-Niang schlug die Hände zusammen, weil auf ihrem Zimmer die Blume Lan eine Knospe getrieben; Lo-Liang weinte, weil sich ihr Schoß-Hündchen einen Splitter in den Fuß geritzt, und am Wundfieber kranke; Ye-King sagte mit schelmischen Augen, daß sie von einem Tempel der Pu-Kieu oder der allgemeinen Hülfe geträumt, daß sie der Himmels-Königin Weihrauch geopfert habe, und seit einigen Tagen eine merkliche Verengerung ihrer Unterröcke spüre.

So flossen unendliche Redeströme von mehr als dreimal fünf Lippen, und selbst der Schmerz wurde eine Seligkeit, seitdem er sich aussprechen ließ. Allmählich aber stockten die Zungen, man fing an, sich auf die Sprache der Augen zu beschränken, und betrachtete, in die verschiedensten Gruppen zertheilt, abwechselnd bald die Genossinnen, bald Schü-King, welche ihre stummen Blicke mit Schweigen erwiderte. Es schien, als würde allgemein etwas erwartet, das Eines gegen das Andere nicht auszusprechen wagte. Schü-King weidete sich nicht an den bittenden, sehnsüchtigen Mienen ihrer Umgebung, sondern sie schien dieselben Wünsche zu theilen, vor ihrer Erfüllung aber wollüstig zu erschrecken. Diese Erfüllung lag jedoch in ihrer Hand. 56 Ein Kahlkopf stand schon lange an der Pforte, wie auf dem Sprunge, um augenblicklich die Befehle seiner Gebieterin ins Werk zu setzen. Alles blickte, während Schü-King niedersah und den wogenden Busen hielt, auf den verschmitzten Eunuchen, der mit verfänglichen Gebärden die zitternden Winke erwiderte und nur auf Schü-King wies, als den Schlüssel eines Himmels voller Seligkeiten. Endlich hob diese ihr Haupt, sah nach der Thür, fixirte den lauschenden Diener, und warf ihm so verliebte, schmachtende Zeichen zu, daß er hinausflog, und die Weiber in banger, taumelnder Erwartung zurückließ.

Nach einigen Augenblicken kehrte der Eunuch mit einer großen hölzernen Rundplatte zurück, welche er auf den Händen trug. Es war ein Pfeifenbesteck, daß in sechszehn rings herumlaufenden Löchern eben so viel Pfeifen von feinstem, chinesischem Porzellan und in der Mitte eine glühende Flamme enthielt, an welcher sich der Tabak anzünden ließ. Dieser Moment war der ersehnte, von Schü-King erflehte; ihm sollten noch größere Seligkeiten folgen. Die Weiber nahmen hastig von dem Brett eine Jede ihre Pfeife, sahen mit einem lüsternen Blick auf den gelben angefeuchteten Inhalt des Kopfes, griffen nach einem Hölzchen, und waren bald von balsamischen Rauchwolken umhüllt. Aber welche sonderbaren Stellungen nehmen unsre Freundinnen an! Sie haben Eine für die Andere das Auge und jede Rücksicht verloren. Hat man je in einer lang ausgestreckten Stellung Tabak geraucht? Diese Frauen 57 verstehen das vielleicht nicht besser, oder sie haben eine andere Absicht, die wir nicht errathen können. Sie aber darum zu fragen, möchte schwerlich Erfolg haben; denn mit dem ersten Zuge aus der dampfenden Pfeife scheint bei Allen jede Theilnahme an der Außenwelt verschwunden. In dem duftenden Wolkennebel herrschte eine geheimnißvolle Stille. Alle Worte waren von der Zunge verbannt, und selbst wenn die Rauchende auf einen Augenblick die Pfeife vom Munde nahm, blieb sie lautlos und hatte für ihre Nachbarin weder eine Frage noch Antwort, wenn sie wäre verlangt worden. Doch bald zogen durch dieses Schweigen einzelne Laute, die von allen Stimmen nacheinander aufgefangen und wiedergegeben wurden. Es waren Seufzer der Erwartung, ein entzücktes Ach der Ueberraschung. Ein seliges, freies Athmen entrang sich der tiefsten Brust; dieser Hauch schien seine Arme auszubreiten, und die ganze Welt der Erinnerungen und Hoffnungen zu sich heranzuziehen. Es war, als stürbe dieser Athem an der Größe seiner Sehnsucht einen seligen Tod. Denn auf Augenblicke trat das Schweigen wieder ein, die Pfeifen dampften glühender, die Wolken stiegen undurchsichtiger.

Diese Abwechselung kehrte zu öftern Malen wieder; doch verkürzten sich die Intervalle zwischen den Pausen und der leisen, athmenden Musik dieser in Seligkeiten aufgelös’ten sechszehn Weiber. Die Entzückungen wurden anhaltender, die innere Wollust machte sich mit lauten Worten kund, der Tabak in den Pfeifen verglomm, 58 die Chinesinnen lagen mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf ihren Polsterkissen. Die einzelnen Worte in dem Munde der Einzelnen gewinnen einen Zusammenhang; die tollsten Phantasien schwirren durch den Saal; Nord und Süd, Feuer und Wasser, Liebe und Entsagung verwirren sich in einander; es gibt keine Wünsche, keine Hoffnungen, keine Träume mehr; die Götter steigen von ihren Wohnungen herab, und öffnen alle Seligkeiten aller Himmel.

Yeg-Jeg, dieselbe welche vor einer halben Stunde über zwei gefundene Stecknadeln sich die Hände vor Freude wund klatschte, war vielleicht die schönste unter den Weibern des Correspondenten; die jüngste war sie ohne allen Zweifel. Ihre Träume rannen zuerst zu einem vollständigen Sinne zusammen. Ein Gott sprach aus ihrem Innern, nur bediente er sich ihrer hellen, zarten, kindischen Stimme, so daß die ungeheure Gewalt der Empfindung und Vorstellung gegen den Ton, in den sie ausbrach, seltsam lächerlich abstach. „Ach, wie schnell,“ rief sie, „tragen mich die Flügel durch die Tage und Nächte, welche ich brauchte, um in diese kalten Gegenden zu kommen! Ich fliege wie der Vogel Peng, welcher hunderttausend Li in einem Fluge macht. Ich sehe Wogen, weiß wie der Schnee, bis zum Himmel hinaufblitzen; die tausend Blumenbeete von Lo-Yang entfalten, von diesem Schnee benetzt, ihre Kelche. Ach, diese gelben Fluthen sind das Bett eines heimathlichen Hoangho. Ich sehe dich wieder, Tschang-Kong, die Leuchte meiner Seele! Ich zweifle nicht dar-59an, daß du jetzt dein Examen bestanden und die Würde eines graduirten Doctors erlangt hast. Du warst in allen Königreichen, welche der nasse Gürtel desselben Flusses umgibt, der Fleißigste. Ja, mein Geliebter war so fleißig, daß er durch seinen Eifer ein eisernes Dintenfaß aufgerieben hätte. Er hat alle classischen Schriftsteller studirt! Er war wie der Wurm, der mitten in Büchern lebt, und es nie satt wird, sie zu verzehren. Auch die Nächte verwandte er auf seine Studien; wenn er kein Licht bezahlen konnte, so las er bei dem Dämmerscheine des Schnees, der durchs Fenster fiel, oder im Sommer bei dem funkelnden Lichte, welches der Glühkäfer um sich verbreitet. O wie selig bin ich, daß ich meinen treuen Freund, den Doctor, in meine Arme schließe!“

Die Worte, welche ihre Nachbarin aussprach, kamen etwa auf folgende Phantasie zurück: „Es müßte gar keinen neunten Himmel geben, wenn ich mich nicht jetzt in ihm befände. Das muß wahr seyn: mein Gemahl ist der schönste Mann in Peking, und da Peking die Blume aller Städte ist, so ist er auch der schönste in allen Königreichen, deren Namen herzuzählen ich jetzt gar keine Zeit habe. Er ist Vicepräsident am Ober-Ceremonien-Gerichtshofe, und hat ein System der feinen Lebensart herausgegeben, nach welchem ich mich hauptsächlich gebildet habe. Ach, dieser Mann lebte nur in Complimenten; selbst wenn er des Abends in meine Kammer trat, so lös’te er niemals meinen Gürtel, ohne mir etwas Schmeichelhaftes zu sagen. 60 Muß ich mich aber nicht überaus glücklich schätzen, daß der Vicepräsident jetzt hinter mir steht, und die modische Art, meinen Zopf aufzustecken, mit dem Beifall eines Kenners beehrt! O, mein Tsoui, wie freue ich mich, daß ich deinen Tod ohne alle Ursache beklagt habe! Wie konnt’ ich auch glauben, daß du an einer Leberverhärtung gestorben bist! Ich hielt mich eine Zeit lang für sehr verlassen, und sang täglich nach der Arie des Chang-Hoa-Chi: mein Gemahl ist gestorben, und seine ansehnliche Pension als Vicepräsident ist ihm nachgefolgt! Ich sehe aber, daß dieß ohne allen Grund war, denn sonst würdest du mich nicht mit deinen Küssen bedecken!“

Eine Dritte erging sich ungefähr in diese Träume: „Gestern waren meine Thränen noch geröthet, wie die des Vogels Tu-Kiuen, und wenn der Nord-Ostwind in meinen Ohren saus’te, so verwünschte ich ihn. Ich war einst keine gewöhnliche Schauspielerin, wenn anders eine Anerkennung darin liegt, daß das Publicum sich nach der Vorstellung um meinen Palankin drängte, um mich in mein Quartier zu tragen. Die Schauspiel-Directoren hatten mich lieber als andere Liebhaberinnen, weil ich das Chinesische der Mandarinen vortrefflich sprach, und nichts in meiner Stimme an den Dialekt von Fokien erinnerte. Aber mein Glück ruinirte mich. Ein Obertribunals-Rath hatte sich für meinen Anbeter erklärt, und überhäufte mich mit Zärtlichkeiten, die ich nicht zurückweisen konnte. Ich liebte ihn auch mehr als meine Seele; denn ich schenkte 61 ihm meine Seele. Dieser Freudenkelch wurde bald vom Schicksal vergiftet. An einem schönen Frühlingstage besuchte mich die Gemahlin des Obertribunals-Rathes, schlug mich mit einem Bambusstocke so jämmerlich, daß ich auf dem Rücken noch blaue Flecken davon trage, und machte ihrem Manne den Proceß. Ich mußte fliehen und habe meinen Liebhaber seit Jahren heute zum ersten Male wiedergesehen. Wie ich ihn anbete! Ich singe nach der Arie Ki-Sing-Tsao die Stelle, welche mir aus dem westlichen Pavillon noch einfällt: das harmonische Geräusch der kostbaren Steine, welche an seinem Gürtel hangen, nähert sich immer mehr. Jetzt verbirgt das perlengeschmückte Gitterfenster die Pfirsichblüthe seines Antlitzes; jetzt läßt es mich ihn wiederschauen, den Helden aus dem Paradiese des Wou-Ling. Man könnte sagen: dieß ist der Obertribunals-Rath aus Peking, dessen Frau mich geschlagen hat; ich aber sage: nein, es ist die Sonne, die im östlichen Meere glänzt; es ist ein edles Roß, unter dessen Sattel ich mich sehnsüchtig schmiegen möchte. Ach! Kiun-Chui, ich bin die glücklichste Schauspielerin, die jemals einen Mann gefunden hat, der ihre Reize zu würdigen versteht!“

Diese Exaltationen wurden durch Opium hervorgerufen, mit welchem der verrauchte Tabak angefeuchtet war. Die Betäubten brachen alle in die wahnwitzigsten Träume aus, in denen das Kühnste in Erfüllung und das Entfernteste in die Nähe trat. Es gab in ihren Phantasien nichts mehr, dessen Be-62sitz über ihren Wünschen hinausgelegen hätte; alle Scheidewände waren aufgehoben, und die Seligkeit des Himmels war das Bett, auf welchem sie schwelgten. Eine völlige Abspannung folgte endlich diesen Ausschweifungen. Es währte nicht lange, so lag der ganze Harem in den tiefsten Schlaf versunken.

63 Drittes Capitel.#

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Ahriman ist der in Lastern verschlungene Gott mit langen Knien und langer Zunge, ein Nichts des Guten, der aus sich selbst lebt, und ohnmächtig. Denn wenn ihn glühende Metallströme ausgebrannt, wird auch er heilig werden, Ormuzd loben und das himmlische Wort reden: Avesta!

Vendidad.

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Schütteln wir den Staub von unsern Füßen! Wir treten wieder dem Dalai Lama unter die Augen, die uns auf keinen Augenblick verloren hatten. Allem, wovon die Erzählung berichtete, als sey es in seiner Abwesenheit geschehen, wohnte er nach der Fülle seiner Allgegenwart bei; und nur die Rücksicht auf seine irdische Erscheinung verbot ihm, sich mit allen Ereignissen, von denen selbst eines gegen ihn gerichtet war, in Zusammenhang zu setzen. Menschliche Leidenschaften, welche Feinde gegen ihn werben wollten, mußten ihm ihrer Natur nach unverständlich bleiben. Das eigne Gelüst ist das Gewicht, welches der Mensch auf die Wagschale seiner Entschließungen legt; der Himmel legt das Schwert der Gerechtigkeit dagegen, wenn die Tugend von dem Verbrechen überwogen wird.

Maha Guru’s Seele war zerrissen. Den Einklang seiner Wünsche und Gefühle störten die Hindernisse, welche sich jenen entgegenstellten, und mannichfache Eindrücke, welche diese verbitterten. So 64 weit seine Hand auch reichte, so wußte er doch, daß sie nicht immer Schutz gewähren konnte, wenn sie darum angefleht wurde. Er sah, wie man seinem allwissenden Auge die Dinge in Wolkennebeln entzog. Ach, er fühlte es nur zu gut, daß es allmächtigere Banden gab, mit welchen ihn die Vermessenheit und die frevelhafteste Herrschsucht in willenlose Unthätigkeit schlug!

Die knechtische Verehrung, welche die nicht gerechnete Menge mit dumpfer Gedankenlosigkeit dem erhabenen Jüngling opferte, konnte ihm noch auf Augenblicke den Glauben an sich selbst wieder geben; aber zuletzt blieb sie doch ein zu schwaches Gegenmittel, um alle aufschießenden Zweifel niederzuhalten. Diese finstere Anbetung diente jetzt vielmehr dazu, den Contrast zwischen einem Scheine von Wahrheit und der offenbaren Lüge ins Licht zu stellen, und Maha Guru’s Lage ihm unerträglicher zu machen. Jede Anrufung seiner Allmacht war die peinlichste Erinnerung an seine Hülflosigkeit. Jede Präsumtion einer göttlichen Eigenschaft, welche den frommen Leuten vor seiner Herrlichkeit das Knie beugte, erregte in ihm ein Gefühl, das zwischen Verlegenheit und Entrüstung in unbestimmter Mitte schwankte. Maha Guru war zu lange dem Leben entzogen gewesen, die Gewöhnung an die gesellschaftlichen Kreise des menschlichen Zusammenlebens füllte einen so engen Raum seiner Jugendjahre, sein ganzes Daseyn endlich war zu sehr von den Anschauungen der Welt unter dem 65 Gesichtspunkte des Himmels und seines Zusammenhanges mit dem Regimente desselben gefärbt, daß er nicht anders konnte, als auch in diesen feindseligen Verhältnissen, welche ihm seine Würde so ungenießbar und ungenossen machten, eine Phase der göttlichen Offenbarung sehen. Gewöhnt an die Geschichten der Götter und ihrer Kämpfe, hielt er dafür, daß die feindlichen Gewalten, welche jenseits der sieben Hügel oder der sieben Meere des Righiel Lumbo wohnen, und den wunderbaren Baum Zampuh schon seit Jahrtausenden unterwühlen, auch gegen ihn mit allen Irrungen und Täuschungen, welche den Göttern des Lichts nur zu Gebote stehen, ausgezogen seyen. Die Unbehaglichkeit, welche ihn so peinigte, hielt er für den Drang und die Hitze eines Kampfes, in welchem er sich nothwendig befände; und er zweifelte nicht, bald die glänzendsten Siege über seine Feinde und seine eigne Unmacht davon zu tragen.

Bei diesem Glauben mußten dem Lama die Anmaßungen der Priesterschaft und die Zumuthungen der fremden Dränger in einem besondern Lichte erscheinen. Er ertrug alle Ausbrüche der Leidenschaften, welche in seiner unmittelbarsten Nähe sich um ihn her drängten, und sich zuletzt meist ihn nur immer wechselseitig zum Opfer brachten, als gält’ es eine der herbsten Prüfungen auszuhalten, die er in seinen Vorbereitungsjahren mit Unrecht glaubte schon hinlänglich bestanden zu haben. Er ahnete, daß eine höhere Macht seinem Verhalten bei diesen Kämpfen 66 lauschte, und in Augenblicken wiedergekehrter, seliger Wonne wußte er, daß diese höhere Macht nur seine eigene unläugbare, unsterbliche Lamaität war. Wär’ es den Menschen angeboren, für Götter gehalten zu werden, könnten sie jemals bei gewissen Regungen, die man empfunden haben muß, um von ihnen zu reden, über diese Meinung in Zweifel gerathen? Um wie viel weniger konnte Maha Guru seinem Gefühle mißtrauen, da er, ein Jüngling von hoher und edler Seele, in den Mysterien des Geistes forschte, und den Regungen der Liebe und des Wohlwollens zugänglich war? Dazu kam, daß ihn das Vorrecht der allgemeinen Anerkennung als des Einzigen in seiner Macht traf. Es störte ihn niemals der Gedanke, daß aller Welt an dem Rechte, sich der Ewigkeit gleichzustellen, eine gleiche Theilnahme gebühre. Alle Erhebung der menschlichen Seele war nur für ihn da, nur ihm schlossen sich die Pforten des Himmels auf, er wußte nicht, daß die Offenbarung der Gottheit an alle menschlichen Wesen ergangen war. Darin liegt der Zauber, der den Wahn eines einzigen Menschen gefangen halten kann. Ueberall, wo eine gleiche Vertheilung der Gaben gelehrt wird, sind die Propheten selten. Die Gemeinschaftlichkeit setzt den Genuß der Güter in ihrem Werthe herab; und ich kenne nur Einen Besitz, welchem es noch nie geschadet hat, daß wir ihn mit Andern theilen müssen. Dieß ist der Ruhm.

Der Schaman war vor seinen Bruder getreten. Ein langer Zeitraum lag zwischen der letzten Begegnung und diesem Wiedersehen, und in keiner Zeit hätte 67 sich für beide Beklagenswertheres ereignen können. Der Schaman hatte zweifach den Glauben an seinen Bruder verloren. Er hielt ihn für Mensch genug, um ihm auch die letzten Lichtstreifen seiner Würde zu nehmen, und sich mit seinen Feinden gegen ihn zu verbinden; und dennoch lag in ihm ein heftiger Groll, daß der Gott ein Wesen geopfert hatte, das zu retten nur die Folge eines Winks von ihm, nicht einmal eines Spruchs gewesen wäre. Maha Guru wußte, welche Anklage in dem finstern Blicke des Bruders lag. Er wünschte, daß er sich gegen sie vertheidigen könnte; aber ach! es gab für ihn schon so viele Wünsche, deren Echo niemals ihre Erfüllung seyn wollte.

„Was sind die Versprechungen der Mächtigen!“ klagte der Schaman; „weil sie Allen gefallen wollen, so sind sie Jedem zu dienen bereit. Sie opfern dem Einen dieselben Menschen auf, welche sie dem Andern eben zu schützen versprachen. Ich ziehe die Gerechtigkeit der Götter ihrer Güte und Liebe vor.“

Maha Guru seufzte tief auf; denn wie herrlich er auch antwortete, so ließ sich die Katastrophe Hali-Jongs doch nicht damit ungeschehen machen. Er antwortete aber gar nicht.

„Meine Tritte führen mich aus dem Gefängnisse Gylluspa’s her,“ fuhr der Schaman fort; „die unversiegbaren Thränen werden der Armen das Licht ihrer Augen rauben. Kann es für sie einen Trost geben, da sie außer dem Tode ihres Vaters auch den ihrer Freunde zu beweinen hat? Jedes ihrer Worte ist ein sehnsüchti-68ger Seufzer um ihre Lieben, die für sie geschieden sind; und weil sie dennoch leben, eine Anklage, von der sich weder ich noch du reinigen können.“

Der Dalai Lama ist Zeit seines Lebens im Gespräch nur zum Sitzen angewiesen, weil es für ihn keine Affecte geben kann. Maha Guru war vielleicht der Erste, welcher der Sitte Trotz bot. Der Schmerz jagte ihn vom Polster auf, er maß den Saal mit weiten Schritten und sank erschöpft in die Arme seines Bruders.

„O du theures Licht meiner Seele!“ rief dieser, von dem Anblick erschüttert; „der Raum der Zukunft läßt sich nicht nach den engen Schranken der Gegenwart messen. Mit tausend Möglichkeiten läßt er sich erfüllen; ein rascher Entschluß, und wir schreiben uns selbst die Loose unsrer Zukunft.“

„Was können die Umstände von mir fordern,“ fragte Maha Guru, „um ihrer Meister zu werden? Ich gebiete nicht über das Reich des Todes, und kann für Gylluspa den todten Vater nicht wieder ins Leben zurückrufen.“

Der Schaman antwortete: „Aber dich selbst kannst du ihr zum Opfer bringen. Alle Reichthümer, welche dir zu Gebote stehen, magst du denen schenken, welche ihrer bedürftig sind. Gylluspa bedarf nur deiner.“

„Was soll ich thun?“ war des Gottes zweifelnde Frage.

„Zerbrich die Ketten, welche dich an den Himmel geschmiedet halten! Schleudre deinen Scepter über alle Sphären, daß sie zurückweichen und dir eine Straße 69 bilden. Breite deinen Königsmantel über die Sonne, daß du auf ihm zur Erde niedersteigst! Der fürchterliche Augenblick der Weltschöpfung aus dem Chaos wird wiederkehren. Cenresi, der Gott des Schicksals, wird einen heftigen Sturm erregen, und zahllose Wolken, die er herbeiruft, werden brausende Wasserströme entladen. Die vier großen Welten werden sich von dem All losreißen, die Menschenwelt wird auf die der Riesen, die Welt der Kühe auf die der seelenlosen Menschen fallen. Durch den Garten des Paradieses wird ein so rauher Wind wehen, daß die Blätter der Tangbäume verwelken und sich die Quellen der Unsterblichkeit trüben. Ich zittere vor diesem Tage, und doch beschwör’ ich dich, ihn herbei zu rufen!“

Das Gewölbe des Zimmers brach nicht zusammen, die Wolken des Himmels entluden keine Blitze, welche die frevelnde Zunge gelähmt hätten; sondern Maha Guru blickte nachdenkend vor sich hin, und sprach, wie in einen Traum versunken: „Ich habe der Erde das Wort gegeben, und sie hält mir nicht das ihrige! Kio, der Gott des Gesetzes, flog in den Leib der Lhamoghiuprul, trat dann durch die rechte Seite dieser Königin in die Welt und wurde hinfort Xaka genannt. Der Wanderungen, welche die Gottheit zu machen hat, sind unzählige."

Der Schaman nahm diese Aeußerungen von der menschlichsten Seite, und suchte den Gedankengang seines Bruders zu ebnen, indem er sprach: „Wenn in dir ein Funke des göttlichen Lebens wohnt, so kann er 70 dich nicht verlassen, selbst wenn du in die tiefsten Abgründe des Meeres stiegest. An diese Polster, welche dort aufgethürmt liegen und eher für einen Thron der Unmacht gelten könnten, ist die Majestät der Gottheit nicht geknüpft. Sie waltet überall, wo im Grase dein Fußtritt rauscht.“

Der Augenblick war noch nicht erschienen, wo sich Maha Guru auf dem Wendepunkte seines Entschlusses befand. Noch blieb seinem Bruder die süßeste Hoffnung unbenommen, noch hatte der Gott keine Schwäche blicken lassen. Zuletzt stieß aber die Unvorsichtigkeit des Rathgebers alle Erwartungen um. Es war die verfehlteste Maßregel, welche der Schaman nur einschlagen konnte, als er den preisgegebenen Zustand mit dem neuen, von ihm empfohlenen zu vergleichen anfing, und den letztern mit Farben ausmalte, welche den irdischen Anschauungen, glühenden Leidenschaften und ungöttlichen Begierden entnommen waren. Der Schaman glaubte, daß seinen Bruder nichts mehr bestimmen würde, als ein Gemälde des künftigen, im gemeinschaftlichen Besitze Gylluspa’s genossenen häuslichen Glückes, und begann deßhalb: „O Maha Guru, du Endsylbe aller meiner Gedanken, wie mal’ ich dir die Seligkeit, wenn ich dich, den Menschgewordenen, in Gylluspa’s überraschte Arme zurückführe! Alle Vorwürfe, die sich seit diesen Tagen auf ihre rosigen Lippen gelagert haben, wird der sanfte Hauch deines Athems in berauschte bebende Küsse auflösen! Obschon ich früher, als du, den Leib unsrer Mutter verließ, so gesteh’ ich dir doch alle 71 Rechte zu, die mir bei den Umarmungen unsers Weibes gebührten. Gylluspa wird dich ihren Augapfel nennen, und mich nur die Wimpern, welche ihn beschatten. Sie wird mich mit der Sorgfalt eines reichen Mannes behandeln, welche dieser auf ein Schloß verwendet, das seinen Schatz gesichert hält. Alles, was euch Beide einen Tag über erfreute, werd’ ich für die Nacht verwelkt, entknospet, zerrissen, verwittert und abgerieben erhalten. Ich darf mich dabei wohl befinden; denn ich kenne zwischen der Liebe zu Gylluspa und der Anhänglichkeit an dich keine Gränzen. Ich bin mit dem Schatten des Glücks zufrieden, wenn das Glück selbst auf dem Spiele steht.“

Maha Guru war in diesem Augenblicke wieder mit Leib und Seele Dalai Lama. Wenn ihm vielleicht zuvor die Rathschläge seines Bruders vernehmlich geschienen hatten, so waren sie dieß so lange, als sie sich an die Unmacht, die Zweifel und die Freiheit des Gottes anknüpften. Als sie aber für den Verlust der Unsterblichkeit eine Art von Ersatz boten, als der Schaman die Hand öffnete und in ihr nichts als der Vertrag einer idyllischen Ehe lag, als die dem Lama während seiner ganzen Erziehung zur Natur gewordene Gleichgültigkeit gegen das Fleischliche und Sinnliche ihn in den gemachten Anerbietungen weder etwas Wünschenswerthes noch etwas Würdiges sehen ließ, da saß er längst wieder auf seinem Polsterthrone, das gelbseidene, drachengestickte Gewand um seine Schulter wallend, die Hände und die Füße übereinander geschlagen, die Mütze cylinderförmig 72 über seinem Scheitel sich erhebend, sein Haar in steife, lange Zöpfe geflochten, um den verhüllten Hals ein Rosenkranz, von dem einzelne Kugeln aus dem Kleide hervorsahen, in allen seinen Gebärden und in seinem ernsten, tiefen Schweigen Dalai Lama, der sichtbare Gott der Tibetaner. Der Schaman schwankte. Noch klang das abgebrochene Gespräch in seinem Ohre wider, und doch war Alles still und feierlich um ihn; die Wände schienen verwundert auf ihn herabzusehen, der unbewegliche, stumme Lama saß wie ein Pagode vor einem reuigen Verbrecher, der seine Gnade anfleht. Betäubt von dieser plötzlichen Veränderung warf er sich neunmal zu Boden, benetzte die Stirn mit dem Staube dieses heiligsten aller Heiligthümer, und verließ den Palast, noch die Treppen auf den Knieen hinabrutschend.

Ich stand einmal in dem Vorzimmer eines Ministers. Die Thür öffnete sich und der gnädige Wink des Kammerdieners rief mich zu dem allmächtigen Manne hinein. Ich ließ es an Höflichkeit nicht fehlen, meine Verbeugungen waren eben so abgemessen, als der Zwischenraum, in welchem ich mich von der rechten Hand des Fürsten hielt. Aber in meinen Worten lag etwas Aufrechtes und Offenes, meine Gedanken waren höher, als das landesübliche Recrutenmaß; ich sprach von den Resultaten, die ich meinen Studien verdankte, von einer gewissen Unabhängigkeit der Meinung, welche die einzige Fessel wäre, welche ich mir anlegen ließe, und verlangte zuletzt, daß ich in der Staatsmaschine eine Stellung erhielt, die meinen Talenten und Einsichten 73 angemessen wäre. Man kennt unsre Minister nicht, wenn man glaubt, der Mann habe mich die Treppe hinunterwerfen lassen. Er besaß Geduld genug, mich anzuhören, ja er ging noch weiter, er wollte meine Fähigkeiten für eine Sache gewinnen, die ihm besser schien. Das System, welches ich in meinem Avertissement versteckt angegriffen hatte, war seine Ueberzeugung. Ich war damals noch blutjung, voller Ehrfurcht vor ergrauten Erfahrungen, hörte mit Andacht auf die Lehren, die dem beredtesten Munde entflossen und schied mit gebrochenen Flügeln, gestutztem Kamme, jede einzelne Stufe der Treppe zählend. Der Concierge zieht den Thürdrücker auf, ich stehe auf der offenen Straße, und schöpfe endlich wieder freie Luft. Die Milchverkäufer riefen ihre Sachen aus; die Sandhändler streuten den Vorübergehenden mit gellender Stimme Sand in die Ohren; Carrossen flogen über das funkensprühende Steinpflaster; ein Tuchhändler reichte seinen Kunden mit freundlicher Miene eine Prise; ein Industrieritter suchte in seinen Rocktaschen und fand nur ein ungeheures Loch darin; zwei Hunde untersuchten wechselseitig, zu welchem Geschlechte sie gehörten, und ein freundliches Mädchen rief hinter einem Fenstervorhange den einen zu sich hinauf; eine weißbauchige Schwalbe schoß an den Häusern blitzschnell vorbei; ein Mann trug etwas Verdecktes unterm Arm; die Straßenrinnen waren alle mit Gras bewachsen; die Häuser hatten jedes seine Nummer auf einem blauen Schilde; ich hatte einen Hut auf dem Kopfe, und am linken Zehen drückte mich der Schuh, 74 und unterm rechten Arm war mir am Rock die Nath etwas aufgerissen; ich kaufte mir ein Bund Eckposen und ein Buch unbeschnittenes Patentpapier und zwei Orangen und einen neuen Uhrschlüssel, weil ich den alten gestern verloren, und hundert Zündhölzer für mein Feuerzeug und eine Reitpeitsche, und einen Monat später schickte ich an Herrn Campe in Hamburg meine Narrenbriefe.

Der Eindruck, welchen Maha Guru’s majestätische Weigerung auf den Schamanen machte, war bald verschwunden. Wenn die jüngste Unterredung irgend etwas in seinen Entschlüssen hätte wankend machen können, so ließ es die zurückgekehrte Gewöhnung des alltäglichen Lebens, gegen welches der Lama ein Fabel war, sogleich wieder in den Hintergrund treten.

„Wie beklag’ ich es,“ sagte er zu sich selbst, „daß auf meinen Lippen der Zauber der Ueberredung nicht liegt! Ein friedlicher Act hätte der gewaltsamsten Katastrophe zuvorkommen können; die Erde würde nicht dieß seltene Schauspiel erlebt haben, daß ein Bruder die Macht des andern untergräbt, und eine sichre Hoffnung hätte einige wenige Menschen beglückt, die jetzt von der Zukunft nur die schwächsten Lichtstreifen sehen. Der Augenblick der Verwirrung, wenn er über diese sorglose Stadt hereinbricht, ist nicht in meiner Gewalt; die zweideutige Rolle, welche ich spiele, nimmt mir die Zeit, mich dann einem Geschäft ausschließlich hinzugeben. Die Rettung meines Bruders könnte die Rettung Gylluspa’s verzögern. Welche Wahl bleibt mir 75 noch übrig? Ich muß die letzten Versuche daran setzen, das Auge meiner Seele in Sicherheit zu bringen.“

Der Schaman zog den Weg des Gesetzes seiner eigenen Willkür vor, weil er für die Folgen des erstern nicht einzustehen brauchte. Er ging in die Wohnung des Mannes, der während der Abwesenheit des Correspondenten mit dem größten Ansehen in Lassa bekleidet war, zu Ming-Ta-Lao, dem General der chinesischen Cavallerie. Der General befand sich nicht in seiner Wohnung. Die Diener meldeten, daß er auf dem Exercirplatze bei den chinesischen Casernen militärischen Uebungen beiwohne. Ein Anderer würde ihn dort schwerlich aufgesucht haben; aber der Schaman sagte: „So wahr die Tibetaner von den Affen abstammen, ich fürchte mich vor den Zöpfen der Chinesen nicht!“

Im Hofe der Caserne war der General in der That damit beschäftigt, mehrere Pikets vor seinem Kennerauge ein Evolutionsmanöuvre machen zu lassen. Er schien nicht in jeder Hinsicht befriedigt zu seyn, sondern hatte bald hier, bald dort etwas auszusetzen. Besonders gab ihm Oberst Tschu-Kiang mannichfache Gelegenheit zur Klage. Bald ritt ihm dieser zu schnell, bald zu langsam, dann schwenkte er ihm falsch, dann blieb er ihm zu weit hinter der Fronte, kurz des Generals Flügeladjutant war in beständigem Fluge, aus dem erbitterten Munde des Generals einen Vorwurf über den andern in des Obersten geärgertes Ohr zu tragen. Ja, der General war jetzt nahe daran, die freie Luft zum Ueberbringen seiner Erinnerungen zu gebrauchen, und 76 den Obersten im Angesichte des ganzen Armeecorps an den Pranger zu stellen.

Die Chinesen verlassen ihr Abschließungssystem auch im Auslande nicht. Das Erscheinen eines Fremden in dem Casernenhofe wurde sogleich mit gezogenen Pallaschen empfangen. Einige reitende Wachtposten sprengten auf den Schamanen ein, um ihn aus dem Raume zu verjagen. Doch ließ er sich nicht zurückschrecken, verlangte den General zu sprechen, und machte sich diesem in der Ferne so verständlich, daß er ohne weiteres zu ihm gerufen wurde.

„Ich müßte den Himmel wenig kennen,“ empfing der General den Ankömmling, „wenn mir seine Verwandten fremd wären. Du bist der Bruder des Lama, und ich bin darum immer erstaunt gewesen, wie du mit den Söhnen China’s so vertraut seyn kannst? Was erfährt man von deinem Freunde, meinem ehrenwerthen Collegen? Ich lasse mich herab, den Correspondenten einen Collegen zu nennen, obschon ich ihm eben so an Verstand als an Rang überlegen bin.“

Das auffallende Verschwinden des Correspondenten war Stadtgespräch. Ehe zwei Bekannte, welche sich begegneten, noch von ihrer Verbeugung sich aufgerichtet hatten, bestürmten sie sich schon mit der wechselseitigen Frage, ob über den Verschollenen noch immer nichts Gewisses verlaute. Der Schaman, in der demüthigsten Stellung vor dem General verharrend, sagte: „Es gehen über das Schicksal dieses Mannes mehrfache Gerüchte, die alle auf ein großes Unglück 77 herauskommen. Er müßte sechs Körper haben, wenn er alle die Todesfälle erlitten hätte, welche man ihm nacherzählt. Gestern war er nach einer Aussage von einem Felsen gestürzt; nach der andern ist er bei Nacht in den Fluß Dsgangbo hinein geritten; heute hat ihn die Sage aus allen diesen Fährlichkeiten gerettet, ihn dafür aber von einem wilden Stiere aufspießen lassen; sodann ist er unter einem Baum an seinem Zopfe hängen geblieben, als sein Pferd mit ihm durchging; auch behaupten Einige, die sich an dieß letztere Gerücht halten, daß er weniger am Hängen als am Verlust seines Zopfes, den ihm seine Schwere ausgerissen, gestorben sey. Ich schweige davon, daß die Phantasie sogar Löwen und Schlangen in unsre kalten Gegenden gedichtet hat, um jenen Mann nur recht außerordentlich enden zu lassen. Dieß ist Alles, was ich Euch über eine verschwundene Zierde des himmlischen Reichs mittheilen kann.“

„Möge der Himmel ihm eine glückliche Verwesung schenken!“ sagte der General andächtig; „ich will nicht sagen, daß ich in des Mannes Stelle trete, obschon ich eben so geschickt dazu wäre, wie er ungeschickt, die meine zu übernehmen. Aber bis sein Nichts durch eine andere Leerheit ersetzt wird, hab’ ich die Pflicht, den Sattel einstweilen von meinen Pferden zu nehmen, und ihn auf die Riesenberge dieses Landes, das Rückgrat der Erde, zu legen. Alles wird gut stehen, wenn man dann nicht weiß, ob man das Pferd oder den Reiter mehr loben soll.“

78 „O du warst schon lange,“ entgegnete der Schaman, „der einzig weise Gedanke in einem Kopfe voller Verwirrung und Unklarheit. Die Söhne dieses Landes, welche mich an dich als ihre Zunge schicken, erwarten nicht nur vieles Gute von dir, welches das frühere übertrifft, sondern noch mehr Verbesserung dessen, was als schlecht und mangelhaft in der Verwaltung des Landes zu beklagen ist. Ich fordere dich auf, einige schreiende Mißbräuche durch deine Weisheit wieder gut zu machen.“

„Du liesest da nur die Worte ab, welche in meiner Seele geschrieben stehen,“ antwortete der General; „gib mir ein falsch gewebtes Stück Linnen, ich kann das verfehlte Gewebe nicht wieder herstellen, aber die Ursache des Fehlers wegschaffen, wenn sie an dem Webstuhle liegt.“

Der Schaman benutzte die eben so großmüthige als eitle Stimmung des Generals. Er entwarf in kurzen Zügen die Geschichte Gylluspa’s und ihrer Väter, schilderte mit ergreifenden Farben Hali-Jongs blutiges Ende, den Schmerz Gylluspa’s, die neue Verwickelung, in welche sie gebracht wäre, und unterließ nicht, als die Veranlassung aller dieser Gewaltthätigkeiten die Grausamkeit und die unbegränzte Herrschsucht des Correspondenten hinzustellen. Der General erschrack vor einem so entsetzlichen Berichte und sagte: „Ich würde zehn Gebisse und alle meine Sattelriemen dafür hingeben, wenn ich dem unglücklichen Vater jenes Mädchens seinen unschuldigen Kopf wieder geben könnte; das ist eine 79 arge Erzählung! Sollte man glauben, daß um dieselbe Zeit, wo meine Pferde Hafer fressen und ich mir die Zähne ausstochere, solche romanhafte Geschichten vorfallen, wie sie nur Ngeou Jangsieou, unser berühmtester Poet, beschrieben hat! Womit soll ich dir dienen?“

Der Schaman bat um einen schriftlich erlassenen Befehl, Gylluspa und ihre Väter in Freiheit zu setzen, und um einen Geleitbrief für sie, wenn sie Lassa mit einem andern Aufenthalte vertauschen sollten. Die Chinesen sind zu nichts so schnell, als zum Schreiben. Ein Wink an die Adjutanten des Generals, und ein Griff in den Stiefel, einige Momente für die Abfassung, einige Höflichkeiten von Seite der Umstehenden über den blühenden Styl des Generals, und die beiden verlangten Documente befanden sich in den Händen des Schamanen. Der General hielt es für passend, dem Bruder des Lama und seines militärischen Rivals, des Kalmückenchefs, das Geleite zu geben. Unter den zuvorkommendsten Ehrenbezeugungen verließ dieser den Hof, und eilte freudig dem Kloster der schwarzen Gylongs zu.

Gylluspa’s Väter horchten so eben mit andächtiger Hingebung auf die Vorlesungen, welche ihnen ein Obergylong über das tibetanische Göttersystem hielt. Er sprach von Urghien, dem vater- und mutterlosen Gotte, welcher aus einer Blume hervorgekommen und von dem materiellen Princip aller Dinge, Cenresi, welcher gleich-80falls der Blume Pama entsproß, und nach kanonischen Vorschriften nie anders als mit zehn Häuptern abgebildet werden müßte. Er sprach von der Fortpflanzung des Menschengeschlechts, welches erst durch Blicke (Gylluspa achtete zuweilen auf diese tiefsinnigen Worte), dann durch Lächeln, Küsse, Umarmungen und zuletzt erst durch Vermischung der Geschlechter bewirkt worden sey. Durch eine Incarnation Cenresi’s traten die Menschen zuerst als Affen auf. Mit ihnen kamen die großen Weltherrschaften, fünf an der Zahl. Zuerst der König des Goldes, Weltbeherrscher auf dem Righiel; dann der König des Silbers, Herrscher nur von drei Theilen; der König des Erzes, Herr von zwei Theilen; König des Eisens im zweiten Zeitalter, wo die Menschen noch achtzigtausend Jahre lebten; und endlich ein fünfter König, den der Lehrer nicht nennen wollte.

Als der Gylong auf einige Abweichungen der mongolisch-kalmückischen Lehre übergehen wollte und die Blume Badma, die sechs Creaturreiche, den Luftelephanten und die sechs überirdischen Gebetsylben schon im Munde hatte, trat der Schaman mit eiligen Schritten ein. Es hieß ein großes Wagniß, dem Priester seinen heiligen Codex, den tangutischen Mani Gambo, zuschlagen. Aber die Verwunderung, welche der Erklärung des Schamanen, daß die Gefangenen in Freiheit gesetzt werden müßten, folgte, verhinderte den eifrigen Mann, den Voreiligen darüber zur Rede zu stellen. Er nahm von der Schrift des chinesischen Generals vorläufige Kenntniß, und eilte, den Vorsteher des Klosters 81 zur Entscheidung dieser auffallenden Forderung herbei zu rufen.

Der Schaman hatte seit seiner Rückkehr von Teschulumbo Gylluspa und ihren Vätern schon viele Stunden gewidmet, und sie auf einige Zeit das Oede und Einsame ihrer traurigen Lage vergessen lassen. Obschon seine Gespräche die Beruhigung nicht geben konnten, welche er selbst nicht hatte, so machten sich doch auch hier alle jene seligen Folgen geltend, welche tröstend die Liebe, die Theilnahme, das Mitgefühl einer verwandten Seele begleiten. Hätte Gylluspa auf das Leben größere Hoffnungen gesetzt, so würden sie mit dem Wiedersehen ihres treuesten Freundes auch alle in ihre Seele wieder eingezogen seyn, und die neue Hoffnung mit ihnen, daß einige ihrer Aussichten zu verwirklichen in seiner Macht läge. Aber sie hatte für seinen Zuspruch kein Ohr, verstand nichts von den Folgerungen, welche er aus der Verwickelung sehr nahe vor der Thüre stehender Ereignisse ziehen wollte, und konnte sich am wenigsten in den Gedanken einer Entfernung von Lassa finden. Denn wenn unter der Asche aller zusammengesunkenen Berechnungen der Zukunft noch ein einziger Funke, der nicht Verzweiflung war, im Verborgenen glomm, so konnte er nur auf Maha Guru einen erhellenden Lichtstreifen fallen lassen, auf diesen unbeweglichen Pagoden-Gott, der sich von den Gipfeln des Berges Botala nur trennt, wenn er ihn zum ersten Male betritt, und ihn für das letzte Mal verläßt. Daher die gleichgültige Aufnahme der Nachricht, welche der Schaman 82 von ihrer Freilassung überbrachte. Sie hätte gezögert, diese Erlaubniß zu benutzen, wenn ihre Weigerung ohne die Rücksicht auf ihre Väter nicht eine Grausamkeit gewesen wäre.

Es ist ein alter Spruch, daß die Liebe grundloser ist, als das Meer. Ihr aber könnt diese Wahrheit nicht verstehen, die Ihr in einer Mondnacht oder in einer heimlichen Jasminlaube Erhörung gefunden habt; die Ihr schon in den ersten Tagen Eurer Begegnung Euch gestehen konntet: ach ja, wir sind Beide wie für einander geschaffen! Deren Eltern die Freiwerber ihrer Kinder waren, und die schon in den Flügelkleidern sich verlobten und die Puppen zu ihren Kindern machten! Die glückliche Liebe hört zu schwärmen auf; es ist ihr nichts mehr unerreichbar, und wer sie ergründen wollte, würde überall nur dieselbe Seligkeit, denselben Himmel finden, selbst wenn man noch tiefer, als das Meer, stiege. Sondern von Euch gilt der Spruch, die Ihr der Spott Eurer Umgebung seyd, mit denen Knigge umzugehen verbietet, weil Ihr verliebt und unerträglich seyd; die man immer auf den einsamsten Spaziergängen antrifft; die Ihr mit Euren Kleidern zu wechseln vergeßt und den Bart um einige Tage immer zu lang stehen laßt; von Euch, gegen welche sich alle Waffen des Spotts, alle Unbequemlichkeiten des unzeitigen Mitleids, alle Zumuthungen altkluger Rathschläge kehren; wenn man von Euch sagt, daß Ihr an unglücklicher Liebe leidet. Unglückliche Liebe! Ein belachtes Wort; ein Wort, das unter unsern Zeitgenossen denselben Klang 83 hat, wie ein schlechtes Gedicht; ein Wort, das alle Eure wohlmeinenden Freunde anspornt, Euch in Zerstreuungen zu stürzen, die Ideen Eures Kopfes zu bearbeiten, um Gegengewichte in ihm zu entdecken und das siedende Herzblut in unschädliche Theile zu lenken. Charlotte sagte Euch, daß Ihr ihr so zuwider seyd, wie ein Gericht Linsen, und ließ Euch, wie den verglichenen Gegenstand an jedem Dienstage, stehen. Sollt Ihr Euch todtschießen? Sollt Ihr den philosophischen Gleichmuth wie eine Eisrinde um Euer heißes, blutendes Herz legen? Sollt Ihr wohl gar so stolz seyn, jene Arme zu verachten, die Euern innern Werth nicht zu würdigen wußte? Ich weiß nicht, wer Euch das rathen kann. Und dennoch ist es alle Welt, die mit Fingern auf Euch zeigt, wenn Ihr des Tags zweimal noch an Lottens Fenster vorübergeht; wenn Ihr Euch beim Tanze dreimal einen Korb geben laßt; wenn Ihr Lottens jüngern Bruder bei seinem Heimwege aus der Schule erwartet, seinen Tornister mit Rosinen füllt, und ihm tausend Grüße an die Schwester auf die Seele, und eben so viel Küsse auf den Mund bindet; und wenn Ihr zuletzt Lottens wasserholende Magd vom Brunnen bei Seite nehmt, und sie fragt, wohin ihre Herrschaft morgen eine Partie machen werde, nach Königstein, Hessellohe, Gohlis, Tegel oder sonst. Ja noch mehr, Lotte verlobt sich vor Euern Augen. Wie konnten Sie das thun, schöne Charlotte? Aber warum sollt Ihr Euch die letzten vier Wochen nicht noch schwarz kleiden? warum nicht ein Zimmer miethen, 84 das dem ihrigen gegenüber liegt? warum an dem letzten Abend nicht noch eine Serenade bringen, der Ihr in einen dunkeln Mantel gehüllt, an die Wand des Hauses gedrückt, beiwohnt? warum nicht alle diese Auswege, welche Euch vor der Verzweiflung retten sollen, versuchen, ehe der letzte Augenblick der Hoffnung verschwunden ist, und die ganze Fluth mühsam gedämmter Thränen und zurückgepreßter Wehmuth auf Euch herein bricht; Euch dem Todesengel auf einen Moment in die Arme gibt, daß die Rechnungen für Arzt und Apotheker ein großes Loch in Euern Beutel fressen! Das ist nur Lotte und die Liebe, wie sie in den Mauern einer Residenz entstehen und vergehen kann. Aber übersetzt alle diese Züge, an deren Wahrheit nichts zu ändern ist, in erhabenere, ungewöhnlichere Umstände, deren Conflict großartigere Folgen zuläßt, und Ihr werdet eingestehen, daß auch hier nichts verzeihlicher ist, als die Launen der unglücklichen Liebe; daß Gylluspa’s Weigerung, einen Ort zu verlassen, wo nicht nur die Unmöglichkeit, jemals einen ihrer Wünsche befriedigt zu sehen, sondern noch mehr die gleichgültige Abgeschlossenheit Maha Guru’s die unglücklichsten Eindrücke in ihr hervorrief, einem unläugbaren Zuge des Herzens entsprach. Dennoch bestimmte sie ein Blick auf ihre hülflosen, einem völligen Stumpfsinne ausgesetzten Väter, diesem Zuge nicht zu folgen.

Der Lehrer der Mythologie kehrte mit dem Lama des Klosters und mehrern andern Obergeistlichen zurück, welche sich von dem wiederholten Eingriffe des 85 Schamanen in den Gang der Gerechtigkeit überzeugen, und die Urkunde, auf welche er sich stützte, in Augenschein nehmen wollten. Es ließ sich gegen einen Befehl von chinesischer Seite, und wenn er von einer noch niedrigeren Charge, als der General besaß, gekommen wäre, nichts einwenden; die Herren erstickten ihren Zorn in einigen Ermahnungen, welche sie den Brüdern mit auf den Weg gaben, und befahlen ihnen, von ihrer Freiheit augenblicklichen Gebrauch zu machen. Der Schaman hatte die nöthigen Anstalten zur Abreise schon getroffen, so daß sich die Befreiten ohne weiteres auf die Reise begeben konnten.

Es lag keineswegs in der Absicht des Schamanen, seine Freunde vom Schauplatz der nächsten Begebenheiten gänzlich entfernt zu halten. Er billigte daher die Rückkehr nach Tassissudon nicht, sondern schlug einen nicht zu weit entlegenen, aber vor Unbequemlichkeiten, feindlichen Ueberschwemmungen sichern Ort zum einstweiligen Aufenthalte vor. Zur Provinz Dsang, deren Hauptstadt das uns wohlbekannte Teschulumbo ist, gehört in der Nähe der Stadt Mustun der See Palte, der eine Insel trägt, welche in einer Art Unabhängigkeit von der Verfassung Tibets lebt. Das mit Dörfern und Klöstern besäete Eiland wird nämlich von einem weiblichen Lama regiert, die ihren herrlichen, durch die reichste Pracht berühmten Palast gern von so schutzlosen Wesen, wie Gylluspa und ihre Väter, betreten ließ. Der Schaman gab die Richtung nach dieser Gegend an, und versprach, die Lamaine von den 86 Ankömmlingen in Nachricht zu setzen, und auf dem Wege überall ihren Empfang vorzubereiten. Ihn selbst rief die Entscheidung der Zukunft nach Teschulumbo.

Die fernen Schneerücken eines unabsehbaren Gebirgszuges wurden von der untergehenden Sonne schon mit einem magischen, rosigen Schmelze übergossen, als die kleine Karawane, welcher sich einige Diener und auf eine kurze Strecke der Schaman angeschlossen hatten, durch das westliche der fünf großen Thore von Lassa zog. Der trockene, kalte Hauch der Abendluft gab allen Gesichtern das frische Colorit, welches durch den Widerschein des glühenden Schnees noch gehoben wurde. Lagerte sich so der Schein der Freude und Heiterkeit in den Mienen der Reisenden, so konnte es nicht lange währen, daß diese Stimmung sich bald in Wahrheit auch in den Gemüthern einstellte. Die erwachende Theilnahme für das Gewöhnliche, Zufällige, außer uns Liegende ist bei Leidenden das beste Merkmal, daß sie ihren Schmerz wenn nicht überwunden haben, doch zu ersticken suchen. Man sprach vom Winde, von den Bergen, von einem Vogel, der über den Weg flog, von der Kleidung eines Wanderers, von dem Schritte der Pferde, und wurde dabei so traulich, daß sich die Zwischenräume unter den Reisenden immer mehr verengerten.

Maha Guru’s Bruder schied mit der herein brechenden Nacht. Er brachte seine Gefährten in eine bequeme Herberge, umarmte Gylluspa (in Tibet kennt man das Sträuben nicht) auf das zärtlichste, und setzte 87 seinen Weg fort, während sich die Zurückgebliebenen dem Schlafe und dem Traume in die Arme gaben.

Die Rosse stehen schon seit uralten Zeiten mit der Sonne in geheimer Wahlverwandtschaft. Mit den ersten in die Morgendämmerung hereinbrechenden Strahlen weckte das Wiehern und Stampfen in dem Untergeschosse der Herberge seine flüchtigen Bewohner. In kurzem war Alles zur Weiterreise bereit, und es klommen die Reisenden einen Gipfel hinan, den sie im Rücken liegen lassen mußten. Der Schaman hatte als ein trefflicher Fourier die Wege zu den Küchen, Kellern, Herzen und Händen der Menschen schon geebnet, so daß die Reise den Tag über mit der größten Bequemlichkeit zurückgelegt werden konnte. Seine Spur verschwand auch gegen Abend noch nicht; doch schien sie durchkreuzt von einer andern, welche eine Truppenabtheilung gezogen haben mußte. Nach einigen Erkundigungen ergab sich, daß ein Corps chinesischer Cavallerie des Weges gekommen sey, überall die schärfsten Nachforschungen gehalten, und sich nach einem Zuge Reisender erkundigt habe, der mit dem gegenwärtigen derselbe wäre, wenn dieser aus weniger Personen bestanden hätte.

Wir wollen den Leser nicht durch eine weitläuftige Spannung hinhalten. Es ist grausam, die Wahrheit der Schilderungen so weit zu treiben, daß man auch in des Lesers Seele alle die Eindrücke zu erzeugen sucht, welche die peinigendsten Situationen auf die Gestalten des Autors machte. Kann man nach dem kaum Erwähnten anders schließen, als daß dieß Capitel mit der 88 erneuten Gefangennahme Gylluspa’s und ihrer Väter enden muß? Warum eine sorgfältige Ausmalung aller scheuen Blicke, welche die Reisenden um sich herwarfen? Warum alle Klagen und Verwünschungen aufzählen, welche sie über die neue Täuschung ihres Schicksals ausstießen, noch ehe sie eingetroffen war? Um das Unglück wahrhaft rührend zu machen, kann man es nicht einfach genug schildern.

Es war der Oberst Tschu-Kiang selbst, der sich an der Spitze des Piquets befand, und eine Nacht und einen Tag durch geritten war, um die Entschwundenen wieder aufzutreiben. Schü-King wollte vermuthlich dem General zeigen, welche Achtung seinen Befehlen gebühre. Der Oberst freute sich, zum ersten Male eine Waffenthat glücklich überstanden zu haben, die seine angebetete Braut zur Anerkennung und unfehlbar auch zum Danke verpflichten würde. Er sah ein, daß man ihn zu gewissen Dingen gebrauchen könnte, und vorzüglich zu denen, für welche, wie er zu seinem Feldwebel sagte, der Muth eines Löwen und die Schnelligkeit eines Vogels erforderlich wären. Keiner meiner Leser aber wird dieß Capitel verlassen, ohne es herzlich zu beklagen, daß uns bei diesem Ausgange die merkwürdige Bekanntschaft des weiblichen Lama von Palte entzogen wird. Ob wir sie dennoch vielleicht noch machen werden, kann in der That Niemanden mehr interessiren, als den bescheidenen Autor dieser Geschichte selbst.

89 Viertes Capitel.#

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Am Thor der Gräber auf dem Baume Mai

Tschi-Hiao der Vogel sitzt, und singt vom Sterben.

Chinesisch.

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Kann man den Gedanken der Revolution, deren Katastrophe wir immer näher rücken, eine Unwahrscheinlichkeit nennen? Ich vermuthe, daß Einigen dieß Ereigniß zu wenig motivirt erscheinen wird. Sie werden an den Planen des Teschu-Lama zweifeln, weil ich in der Mittheilung seiner Beweggründe zu karg gewesen bin. Dazu kömmt, daß Jeder bereit seyn wird, mir einen falschen Gedanken unterzuschieben. Er wird mich anklagen, daß ich die Revolution als das alleinige Werk des Schamanen hinstelle, und es sonderbar finden, um den Preis eines Weibes die bestehende Ordnung mit einem unsichern Wechsel zu vertauschen. Ich erinnere daher theils, daß die Entwürfe des Statthalters früher waren, als die Berechnungen des Schamanen, der sie adoptirt, weil er Nutzen aus ihnen ziehen mochte, theils weis’ ich auf Tibets eigenthümliche Lage hin, welche ich in dieser Rücksicht zum Theil noch ans Licht zu stellen die Pflicht habe.

Ungeachtet der Heiligkeit und Unverletzlichkeit, welche dem Dalai-Lama, als dem verkörperten Herrn des 90 Himmels und der Erde, zugeschrieben wird, erheben sich doch häufig gegen die irdische Hülle seines Fleisches die feindseligsten Bewegungen. Die Reibungen zwischen dem Lama von Lassa und dem von Teschulumbo sind so alt, als die ganze Theokratie, welche den Hintergrund unsers Gemäldes bildet. Bald beruft sich der Eine auf ein Versehen, das bei der Wahl des Andern begangen sey; bald wird der letzte Wille eines sterbenden Lama außer Acht gelassen, und ein Anderer wirft sich zum Vollstrecker des umgangenen Testamentes auf; bald entstehen zwischen den einzelnen Herrschern, selbst nach Verjährung ihres Regiments, in Folge streitiger Befugnisse, eine Reihe von Feindseligkeiten, die oft mit dem völligen Sturze der schwächern Partei enden. Hiezu kommen von der einen Seite noch die Umtriebe der Fremden, und von der andern gewisse Vorurtheile der Einheimischen. Die Intriguen des Cabinets von Peking haben schon oft dem rechtmäßigen Herrscher einen ungesetzmäßigen als Gegen-Lama entgegen gestellt. Und den Teschu-Lama wählten die Chinesen zu diesem Zwecke desto lieber, weil sie selbst vorgeben, daß dem letztern eine größere Heiligkeit beiwohne, als dem Dalai-Lama. Einige Mongolenstämme und die weißen Mandschuren sind desselben Glaubens, und finden damit bei den Tibetanern um so eher Eingang, als es unläugbar ist, daß die Dynastie von Teschulumbo weit mehr Jahrhunderte zählt, als der jüngere Thron von Lassa. So wird alles Heilige in die kleinliche Berechnung des irdischen Maßstabes gezogen. Die Kurzsichtigkeit unsers 91 Auges zieht das Firmament in einen so kleinen Raum zusammen, daß man es mit einer Fingerspanne ausmessen kann.

Es ist bekannt, daß in Tibet die Geistlichkeit sich in zwei Secten trennt, welche sich nach ihren verschiedenen Trachten Gelbmützen und Rothquäste heißen. Es ist gleichgültig, worin die Differenz ihrer Ansichten besteht, aber die Trennung ist eben so erwiesen, als daß die erstere Partei ein größeres Maß von Ehrfurcht vor dem Teschu-Lama, die letzte vor dem Dalai-Lama hegt. Wenn zwischen diesen beiden Häuptern des Landes Unruhen ausbrechen, so nehmen jene Secten, je nach ihrer Verwandtschaft, gegen den einen für den andern Partei; und schüren die Flammen des Zwistes noch mehr durch die Aufregung des Volkes, auf welches ihnen die Verfassung Tibets einen so mächtigen Einfluß erlaubt.

Unter diesen Umständen werden wir Vieles erklärlich finden, das uns bei der großen Achtung vor dem Dalai-Lama sonst räthselhaft hätte erscheinen müssen. Nichts war in Tibet mehr vorhanden, als der Zündstoff zu den Mißhelligkeiten, deren Ausbruch wir entgegensehen.

Wir kehren zu den Männern zurück, welche es übernommen hatten, in die brennbare Materie den ersten Funken zu werfen.

Unter dem Giebeldache eines freundlichen Hauses, über welches sich die Zweige eines hohen Ulmenbaumes ausstreckten, saßen auf ausgebreiteten Teppichen zwei 92 Männer, welche in ihren Gesichtsbildungen, in dem ganzen Ausdruck ihres Wesens so verschieden waren, daß man sich wundern konnte, wie ihnen Beiden doch die Sitte des Tabakrauchens gleich geläufig war. Blaue Rauchwolken stiegen in die grünen Zweige der schattigen Ulme und vertrieben zwar das den Bäumen schädliche Ungeziefer, aber auch den Singvogel, welcher auf dem ersten Geäst sein Nest gebaut hatte, und seine Jungen der Gefahr des Erstickens überlassen mußte.

An dem komisch ernsten Aeußern des einen der Dampfenden, an der sorgfältigen Abgemessenheit seiner Bewegungen, an dem abgewogenen Ausdruck seiner Rede, welche er gern mit zierlichen Wendungen schmückte, erkennen wir bald den Correspondenten wieder, welchen wir in der Gefangenschaft des Teschu-Lama verlassen haben. Es ist die kleine Wohnung seines Wirthes und Wärters, des Polizeipräsidenten und Hofnarren Dhii-Kummuz, vor welcher er seine Glieder ausgestreckt hat, die Blicke bald in die Ferne des Ostens, wo sie eine bergige Scheidewand bald abschnitt, richtend, bald sie auf seinem Gegenüber ruhen lassend.

Diese andre Person ist für uns eine neue Erscheinung, und wohl einiger Beachtung würdig. Ein barockes Kleidergemisch, das theilweise dem asiatischen Schnitte gemäß ist, theilweise aber an Europa erinnert, umschließt einen langen wohlgenährten Körper, aus welchem zwei kleine graue Augen und eine fein gebildete, spitze Nase hervorquollen. Jede Oeffnung des geschlossenen, lippenlosen Mundes ließ eine Reihe der 93 weißesten Zähne blicken, die gegen den dunkeln Teint des übrigen Antlitzes auffallend abstachen. Der spärliche Bartwuchs ließ dennoch so viele Haare zurück, daß sich auf der obern Lippe ein kleiner grauer Bart angesetzt hatte. Den kahlen Scheitel bedeckte eine weiß gepuderte Perücke. Rechnen wir zu diesen Einzelzügen noch einen mit Pistolen besteckten Gürtel, sehr lange Stiefeln aus ungegerbtem Leder, und neben dem Manne zwei große Gefäße mit dem Gerstentranke Tschong und mit dem stärkern spirituosen Arra gefüllt, so haben wir das vollständige Bild Sir James Dickson’s, eines Deserteurs aus englisch-ostindischen Diensten, des jetzigen Oberbefehlshabers der Artillerie von Teschulumbo.

„Ich suchte Menschen auf, welche Verstand haben,“ sagte Dickson, einen tiefen Zug aus dem Arragefäße nehmend, „ich traue Euch davon nicht wenig zu, und suchte deßhalb Eure Gesellschaft; warum fangt Ihr aber nichts als Grillen? Legt Euren schlechten Humor ab! Der Mensch ist ein geselliges Thier. Seitdem ich die Gewißheit habe, daß meine Frau in Calcutta wirklich gestorben ist, haben die Gespräche für mich den Reiz der Begattung.“

„Mein lieber Freund,“ antwortete der Correspondent mit einer Miene, die wenig auf eine stolze Ergebenheit in sein Schicksal schließen ließ; „als ich noch Salzmandarin in Kang-Tong war, hatte ich mannichfache Gelegenheit, die Söhne Eures Volkes zu beobachten. Es gefiel mir Vieles an Euch. Eure Röcke sind nicht so weit, und kosten weniger Tuch; Eure Schuhe 94 sind mit Leder, nicht wie die unsrigen mit Papier besohlt; Eure dreieckigen Hüte sind in ihrer dachartigen Form so vortrefflich, daß ich bei jedem Regenwetter an die Europäer denke, in deren Hüten sich bequem ein Fluß bildet und durch Rinnen abläuft, ohne den Kleidern zu schaden. Aber lächerlich schienen mir immer Eure Unterhaltungen, in den Gesprächen Eure Wendungen, kurz ich find’ es belustigend, wenn die Europäer den Mund öffnen.“

„Das wäre ja der Teufel!“ sagte Dickson; „im Gegentheil hab’ ich einen Vetter, der in Dienste bei der englischen Theecompagnie trat, und als er die erste Reise nach Kanton machte, vom Lachkrampfe so befallen wurde, daß ich ihn noch immer höre, obschon ich bestimmt weiß, daß er irgendwo in Devonshire längst begraben ist.“

„In Euern Gesprächen liegt eine Herabwürdigung des Organs, dessen Ihr Euch dabei bedient,“ erklärte der Correspondent; „die Europäer wissen nicht, wie die Weisheit über die einzelnen Theile der Sylbe Wort spricht. Der erste dieser vier Buchstaben begreift die Erde in sich, und die Menschenwelt, und das gemeine Feuer und die Pflanzen, und den Osten, den Frühling, die Zunge und ihre Lust, die Vergangenheit, und den Rhythmus Kaitri, und wenn Ihr ihn abzeichnet, muß er citronengelb gemalt werden.“

„Das sind Dinge, die sich hören lassen, obschon sie sehr spaßhaft sind,“ fiel Dickson ein und sprach dabei herzhaft seinen beiden Eimern zu; „weil Ihr aber 95 die Citronen erwähnet, so denk’ ich, Freund, Ihr sprecht von den vier Elementen, aus welchen ich in bessern Tagen Punsch machte. Fahrt in Eurer Philosophie des Punsches nur fort.“

„Der zweite Buchstabe der Sylbe Wort,“ sprach der Correspondent ferner, den heiligen Büchern nach, „ist die Atmosphäre mit dem Regen, die Lebenswärme, der Sommer, der Westen, der Athem, die Nase und ihre Lust, die Gegenwart, der Rhythmus Tarschetap, und wenn man ihn malen will, so ist er grün.“

„Diese Schnurren versetzen mich nach Calcutta zurück,“ sagte Dickson; „wenn mich damals einer meiner Oberofficiere (ich war Sergeant und trug drei Silberborten über dem linken Arm) aus dem Fort William in die Stadt schickte, um vielleicht ein Briefchen an die reizende Frau eines Raja zu überbringen, so schlenderte ich gemüthlich durch die Pettah, wo die schwärzesten Häuser, aber unter den Mädchen auch die schwärzesten Augen sind. Himmel, was war das für ein Geschrei in den Moscheen und Pagoden! Und die Braminen sprachen eben so tolles Zeug, als mein bester Freund, an dem ich nur seine übergroße Nüchternheit tadeln möchte. Sagt mir jetzt etwas vom dritten Buchstaben, damit ich nachher den vierten noch erklären höre!“

Der Correspondent fuhr in dem Tone eines akademischen Lehrers fort: „Der dritte Buchstabe aller Buchstaben ist die Sonne und ihre Welt, das Paradies und Sonnenfeuer, und der Blitz, der Nord, die zwei Regenmonate, das Licht, das Auge und seine Lust, 96 die Zukunft, und der Rhythmus Djakti, und wer ihn malen will, bedarf dazu der weißen Farbe. Der vierte Buchstabe des Wortes Wort ist endlich der Mond, die Sterne, Wasser, Süd, Winter, Herz, die Wissenschaft, die Mensur Anschetap, kann aber nicht gemalt werden.“

Dickson verwunderte sich darüber und sagte: „Das wäre ja merkwürdig! Gelb, grün und weiß sind die Farben der ersten Buchstaben, es bleiben also für den letzten mehr, als noch einmal so viel, übrig. Warum soll man ihn nicht malen können?"

„Meister Dickson,“ entgegnete der Correspondent; „die Offenbarungen des Himmels haben darüber geschwiegen. Aber ich mache folgende Vermuthung: der vierte Buchstabe ist im Grunde die Unsichtbarkeit des Unsichtbaren, er ist die Seele der drei andern, seine Welt ist die Welt des Wesens, und seine Farbe die Allfarbe. Will man ihn abbilden, so geschieht dieß unter dem Bilde der Welt. Man zeichnet ihn wie eine Kuh.“

Dickson mußte den Krug vom Munde setzen, weil er über dieses Bild in heftiges Gelächter ausbrach. „Fremdling,“ rief er sich als Einheimischen fühlend, „es wollte Leute geben, die dich für überaus vernünftig hielten. Daß hinter diesen Bergen Menschen wohnen, welche die Possen der Hindostaner nachahmen, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Vergoldet man bei Euch auch den Kühen die Hörner? Wer hätt’ es Eurem Zopfe angesehen, daß Ihr 97 auf solche Narrheiten etwas gebt! Nichtsdestoweniger gesteh’ ich, daß Ihr mich vortrefflich unterhaltet, guter Freund!“

„Da sind wir auf dem Punkte,“ fiel der Correspondent heftig ein, „wo ich zweifelhaft bin, ob ich mehr die Bosheit oder die Albernheit der Europäer verachten soll. Warum führt Ihr Gespräche? Um Euch zu unterrichten? Um einander Eure Erfahrungen mitzutheilen? Um Euch in eleganten Wendungen zu üben, Begriffe zu spalten, die Redeformen der Rhetorik in Anwendung zu bringen? Keineswegs! Ihr wollt mit Euern Unterhaltungen nur die Zeit und Euch selbst betrügen. Ihr wollt eine Leerheit in die andere stecken, und ein Loch durch zwei andere Löcher ausfüllen. Ihr nehmt Partei für jede beliebige Meinung, wenn sie zufällig keinen andern Vertheidiger findet. Ihr thut nichts für die Wahrheit und Alles für die Lüge, weil sich von dieser mehr Lärm machen läßt, als von jener; wenn Ihr ein Gespräch beendet, so stürzt Ihr Alles über den Haufen, lacht diejenigen aus, die sich erhitzt haben, um Euch zu bekämpfen, und dankt nicht im Namen Eurer erweiterten Kenntnisse, oder Eures ausgebildeten Redetalents, sondern im Namen einer glücklich verschwundenen Stunde, vor deren langer Weile Ihr vorher in Schrecken geriethet. Das sind die Gespräche Eurer Landsleute, Dickson, und ich zieh’ es vor Tabak zu rauchen, als Dir die Fliegen der Langenweile von Deiner rothen Nase mit meinem Munde wegzuschnappen.“

98 Dickson schüttelte den Kopf über die mürrische Laune des Chinesen, und sagte: „Den Sinn Deiner langwierigen Rede hab’ ich zwar nicht verstanden, aber ich fürchte, es steckt etwas Grobheit darin. Ich bin kein Holländer, und doch zog mich Euer leutseliges Wesen an. Lieber Freund, man muß sich in das Unvermeidliche schicken. Was geht Euch meine rothe Nase an?“

Wie herzliche Freunde auch sonst diese beiden Männer waren, welche durch ihre Entfernung von zwei Heimathen genöthigt waren, sich in der dritten einzubürgern, so brachten doch oft die unsaubern Späße des Einen und die Sonderbarkeiten des Andern Mißhelligkeiten in ihr gutes Vernehmen. Einen solchen Streit zu schlichten, war dann Niemand geschickter als Dhii-Kummuz. Er erschien auch in diesem Augenblicke zur rechten Stunde. „Von da oben weht ein so frostiger Wind!“ rief er, einige Stufen zum Hause hinaufsteigend; „je stärker man die Kanone ladet, desto mehr Hitze glüht sie aus. Das hat auf Euch keine Anwendung, Dickson; denn Ihr sprecht ja nichts. Das Gleichniß kam mir aber zur rechten Zeit. Wie ist der Stand unserer Artillerie, General? Ich soll mich darnach bei Euch erkundigen!“

Dickson nahm eine wichtige Miene an, und richtete sich auf. „Wenn Ihr Sinn für die Wissenschaft und das Geniewesen hättet,“ sagte er, „so würde Eure Frage keinen Fehler enthalten, und unser chinesischer Freund würde ihn sogleich verbessert haben. Wie oft hab’ ich Euch Beide nicht dazu einladen lassen, an 99 meinen Vorträgen über die einzelnen Zweige der Kriegswissenschaften Theil zu nehmen. Ihr habt mich aber ausgelacht, gleichsam als hätt’ ich fortwährend im Fort William auf der Bärenhaut gelegen, und wäre nicht zuweilen in die Compagnieschule gegangen.“

„Ihr macht mich begierig auf die Fehler, die ich begangen habe, Meister Dickson,“ sagte Dhii-Kummuz, neben den beiden Andern sich niederlassend.

„Ich will so eigentlich nicht von einem Fehler sagen,“ entgegnete Dickson, sich wohlgefällig den Bart streichelnd; „doch habt Ihr das Wort Artillerie in einem Sinne genommen, ohne daß Ihr wißt, wie man es noch in einem andern nehmen kann.“

„Glaubt nur nicht, mir etwas Neues zu sagen!“ fiel der gelehrte Correspondent ein; „in keinem Reiche kann sich die Artillerie in besserem Zustande befinden, als in dem Reiche der Mitte.“

Während Dickson über diese Bemerkung in lautes Gelächter ausbrach, fügte Dhii-Kummuz noch hinzu: „und es ist längst erwiesen, daß die Chinesen das Pulver früher erfunden haben, als die Europäer.“

Als Dickson endlich Worte gefunden hatte, sagte er: „Die chinesische Artillerie! Großer Gott, warum führen wir keine Kriege mit bleiernen Soldaten! Warum schneiden wir die ausgemalten Bilderbögen nicht aus, und ziehen die kleinen Papier-Soldaten auf steife Pappe, und stellen sie vor die Fronte! Nein, mein Freund, ein Land, das seine Forts und Lunetten mit 100 papiernen Kanonen bespickt, kann über Artillerie nur lernen, keineswegs aber eine Meinung abgeben.“

„Vergeßt nicht, wegen der zweifachen Artillerie Euer Wort zu halten,“ bemerkte Dhii-Kummuz; Dickson aber räusperte sich, stellte die beiden Krüge zur Unterstützung seiner Beredsamkeit zurecht, und begann zuerst mit einem Verbot: „Unterbrecht mich nicht!“ sagte er; „ich kann Niemanden von Euch drei Stunden nachexerciren lassen, und für zu viel Plaudern an die Thür der Artillerieschule stellen. Von gesetzten Leuten erwartet man, daß sie sich auch ohne Disciplin regieren lassen. Meine Herren, das Wort Artillerie soll türkischen Ursprungs seyn, weil man sich der Kanonen zum ersten Male in den Kreuzzügen bediente, wo man die festen Burgen der Sarazenen mit ihnen in Aschenhaufen verwandelte. Es ist türkisch das Wort; ich zweifle gar nicht daran.“

Dhii-Kummuz konnte trotz der Warnung nicht umhin, zu bemerken, daß darauf wenig ankäme; und Dickson, der eben einen Zug aus dem Arrakrug gethan hatte, war damit zufrieden, denn er sagte: „Ihr habt Recht. Die Hauptsache bleibt Folgendes: Artillerie ist Alles; das heißt, ich meine nicht Jedes, aber unstreitig gehört doch das Pulver dazu. Das Pulver kann man Artillerie nennen; auch das Schrot, auch das Korn des Visiers – Nein, ich bringe da schon zweierlei Dinge unter einander. Man muß sich sehr deutlicher Ausdrücke bedienen, um dem Laien etwas verständlich zu machen. Wenn ich z. B. den Protzkasten 101 nehme, wozu gehört der? zur Kanone? Das wäre falsch; er gehört zum ganzen Geschütz; aber davon soll hier eigentlich gar nicht die Rede seyn; sondern Ihr erinnert Euch, daß ich zweierlei Arten von Artillerie unterscheiden will. Ich meine hier keineswegs die Fuß- und die reitende Artillerie, sondern z. B. die Faschinen. Zu welcher Artillerie gehören die Faschinen? Zur Belagerungs-Artillerie? Das ist sehr richtig; und dennoch ist es falsch. Und warum ist es falsch? Das will ich Euch sagen. Seht, wenn ich z. B. mit Kartätschen schießen will, so läßt sich das wohl leicht aussprechen: Kartätschen? Wo bekomm’ ich aber die Kartätschen her? Aha, das ist der Punkt, auf welchen es ankömmt. Man könnte z. B. sagen, der Artillerist bekömmt sie aus der Pulverfabrik duzendweise. Im Grunde seh’ ich daran auch nichts Unrechtes; denn wie gesagt, es gibt zweierlei Arten von Artillerie; aber die Materie ist sehr schwierig. Kurz und gut – oder vielmehr, wo bekömmt – ich bin auf dem Wege – wo bekömmt der Artillerist die Pulvermühlen her? Die Pulvermühlen? Nein, umgekehrt, wo bekommen die Pulvermühlen die Artilleristen her? Oder sollt’ ich nicht vielmehr? – Kurz – ja, nehmt z. B. die Laffetten –“

Dhii-Kummuz fiel aber dem gequälten Docenten mit der Bemerkung ins Wort: „Im Grunde kömmt’s ja doch auch darauf nicht an!“ und Dickson, seinen Durst löschend, entgegnete gutmüthig: „Ihr habt Recht. Und die Hauptsache bleibt immer Folgendes: Die eigentliche Artillerie besteht aus Geschützen, Mann-102schaft, Pferden, aber keineswegs aus Pulver und Kugeln; denn die Artillerie besteht zwar auch aus diesen, aber nicht so, wie ich es meine. Das Ding ist nämlich dieß. Die eigentliche Artillerie wird in drei Theile getheilt: das heißt, sie läßt sich auch in fünf Theile theilen; aber was haben wir davon? Verwirrung, und man muß in diesen Sachen über alle Maßen deutlich seyn. Nämlich was ist Festungs-Artillerie? Ein Achtundvierzigpfünder ist Festungs-Artillerie, auch noch ein Zwölfpfünder; denn Zwölfpfünder sind immer noch schweres Kaliber. Aber wie ist’s mit der Linien-Artillerie? Nein, ich erinnere mich, diese kömmt später. Wir haben erst von der Feld-Artillerie zu sprechen; obschon dieß so gut wäre, als hätt’ ich den vorigen Fehler schon begangen; nämlich auch dieß ist ein Irrthum. Denn warum? Was ist Linien-Artillerie? Wollt’ ich sagen: Feld-Artillerie? Jedoch hat es nichts auf sich, warum nicht auch Linien-Artillerie? Ist ein Sechspfünder Liniengeschütz oder Feldgeschütz? Das ist die Frage, und wer sich darauf versteht, wird sie bejahen. Daraus folgt aber nicht Alles. Denn ist darum auch Linien- und Feld-Artillerie dieselbe? Wenn man’s recht nimmt: o ja! Und wenn man’s anders nimmt – das heißt, man kann es nicht anders nehmen, als es in der That ist. Daraus folgt – oder vielmehr, was ließ ich doch vorangehen?“

Dhii-Kummuz aber sagte: „Ach, und im Grunde kömmt’s ja auch darauf nicht an.“ Und Dickson stimmte darin ein und sagte wieder: „Ihr habt Recht. Und 103 die Hauptsache bleibt ja doch immer nur Folgendes: Wir sprachen von der Festungsartillerie, und vergaßen die Artillerie der Belagerung. Was heißt belagern? Belagern heißt, um einen festen Punkt so viel Kreise ziehen, bis der letzte Kreis mit dem Mittelpunkte zusammenfällt. Das nenn’ ich eine Erklärung; und so lernt man sie auch nur in der Compagnieschule des Forts William. Allein es handelt sich um das Belagerungsgeschütz. Von diesem aber läßt sich wiederum gar nicht sprechen, wenn ich nicht der Positionsartillerie erst meine Aufmerksamkeit schenke. Positionsartillerie; wie hängt es damit zusammen? Hierüber läßt sich nun durchaus gar nicht tractiren, wenn man nicht erst über die sogenannten Stütz- und Anhaltspunkte Einiges beigebracht. Was sind Stützpunkte bei Belagerung, was im Felde? Im Felde? Aha, da seh’ ich, daß ich vorhin über die Feldartillerie sehr wichtige Urtheile geäußert habe, und gehe daher sogleich“ – „O geht in des Teufels Namen mit diesem Wirrwarr von Unterscheidungen!“ fiel Dhii-Kummuz ein; „läßt sich mit dieser Weisheit eine Taube vom Baume schießen? Gebt mir lieber Auskunft über den Zustand der Waffe, deren Schöpfer Ihr für unser Land gewesen seyn wollt.“

„Ich bedaure Dich, Dhii-Kummuz,“ entgegnete Dickson großmüthig; „Du hast keinen Sinn für die Wissenschaft, sonst würdest Du die Theorie nicht hinter die Praxis stellen. Doch bin ich bereit, über Alles Auskunft zu geben. Ich bin General der Artillerie von Teschulumbo, womit kann ich dienen?“

104 „Es handelt sich um sechs Kanonen,“ sagte Dhii-Kummuz; „um zwei, welche diesen Namen kaum verdienen, um eine schadhafte Haubitze und einen halben Mörser, im Ganzen um zehnthalb Feldstücke; was läßt sich mit diesen bewerkstelligen?“

„Welche Frage?“ entgegnete Dickson; „schon derjenige, welcher den Zustand unserer Artillerie nur oberflächlich kennt, würde erst zwar sagen: gar nichts! dann aber hinzufügen: gegen einen Feind, der keine Kanonen besitzt oder sie schlechter besitzt als wir, Alles. Doch bin ich General dieser Artillerie, ich kenne die Art ihrer Bedienung, und kann Euch versichern, daß wir einen Schatz in dieser Waffe haben.“

„Wir bedürfen aber mehrerer fliegender Corps,“ sagte Dhii-Kummuz; „diese werden sich von der Hauptarmee entfernen, und verlangen zur Begleitung unfehlbar ein Geschütz. Da wird der Rumpf bald bloßgegeben seyn.“

„Dieß heißt ohne Sachkenntniß sprechen,“ fiel Dickson ein; „ich gebe keinen einzigen Feuerschlund heraus, der etwas größer ist, als eine Muskete. Kann die Artillerie an einem andern Orte seyn, als wo ihr General ist?“

„Ihr scherzt wohl nur,“ meinte Dhii-Kummuz; „darf sich das Hauptheer mit den Belagerungen der uns zahlreich aufstoßenden Forts aufhalten? Diese zu bezwingen, bleibt die Sorge der Streifcorps und der ihnen beigegebenen schweren Fahrzeuge. Ich will Euch aber sagen, worin Eure Anhänglichkeit an den hölli-105schen Schoßkindern Eurer Laune liegt: in dem Umstande, daß Ihr zu gleicher Zeit General und Unterofficier seyn wollt, daß Ihr keine Elite um Euch gebildet habt, daß Ihr mit jedem Geschütz einzeln exercirt habt, und wenn sie zusammen feuerten, sie alle commandirtet. General, legt den Sergeanten ab!“

Dickson nickte selbstgefällig zu dieser Erklärung und sagte: „Nun wohl! beim Anfang eines Krieges tritt ein großartiges Avancement ein. Die Officiere, die meine Stelle übernehmen sollen, werden noch heute geschaffen werden. Ich sehe es ein, daß ich mich aufopferte. Unter diesen Umständen ist die Lage unserer Artillerie folgende: wir besitzen als Festungsartillerie nur einen etwas schadhaften Mörser, der noch dazu von Eisen ist; aber Schikadse wird vor Angriffen sicher seyn, und wir führen diese alte Reliquie unfehlbar mit uns. Unsere Belagerungsartillerie besteht aus einer zehnpfündigen Haubitze, die ich als eine Merkwürdigkeit für Hochasien sehr verehre, und die uns von Nutzen seyn kann. Zwar fehlt ihr Korn und Visier, aber was soll’s auch mit dem accuraten Zielen bei einer Belagerung? Etwas Anderes ist’s im Felde; da gilt es, einen Obersten vor der Fronte wegzuputzen oder ein Zelt zu beschießen, wo der Generalstab über den Karten des Terrains brütet; bei einer Belagerung weiß ich, daß jeder Schuß ein Stück Mauerwerk aufreißt, und mehr bedarf es nicht. Sollte es einen Pulverthurm oder einen Buben, der uns zum Hohne die Mauer mit Besen fegt, zu erlegen gelten, nun, so besitzen wir zur 106 Belagerungsartillerie gehörig noch einen Zwölfpfünder von schönem Kaliber; ja, warum soll ich es nicht sagen? Wir besitzen noch einen, den ich herzlich gern von der Feldartillerie ablassen will. Dann bleiben uns für die offne Schlacht noch sechs Kanonen übrig, die ich eine Batterie nennen würde, wenn ich ihrer nicht an verschiedenen Orten bedürfte. Ich theile diese sechs Geschütze in drei zur Linien- und in drei zur Positionsartillerie gehörige ein. Leider treten hier einige Uebelstände ein, die sich so leicht nicht umgehen lassen. Im Grunde sind nämlich nur drei von diesen Geschossen tauglich; denn zwei sind vernagelt, und können nur dazu dienen, dem Feinde Furcht einzuflößen, oder das Gerassel der Schlacht zu vermehren oder im schnellen Fluge einige Beine, Arme und Gehirne zu zerquetschen. Von der dritten bedenklichen Kanone fürcht’ ich noch Aergeres. Sie hat quer über das Rohr einen Sprung, der unläugbar ist. Ich habe seine Tiefe nie sondiren mögen, weil ich fürchtete, das Rohr möchte sogleich zum Teufel gehen. Aber so viel ist richtig, den ersten Schuß hält es noch aus, den zweiten aber nicht mehr. Ich will unter meinen Kanonieren anfragen, wer eine reiche Erbschaft zu bekommen hoffte und sie nicht erhielt; wer von seinem Mädchen verlassen ist, oder sich gestehen muß, daß ein Andrer zu seiner Frau gestiegen ist, wer einen Zug zur Melancholie hat oder zu wenig Löhnung bekömmt, und doch niemals hoffen darf, Bombardier zu werden; kurz nur lebenssatte Kanoniere sollen jenen gefährlichen Posten einnehmen. Denn den ersten Schuß 107 opfre ich nicht auf; was kann ich nicht Alles mit diesem Schusse ausrichten? Der Lärm, den dieser Schuß anrichtet, zersprengt schon allein vielleicht ein Quarré. Die Kugel fährt durch ein zweites mit hundert abrasirten Köpfen durch, zerschmettert einen General, der vielleicht eben seinem Adjutanten einen witzigen Einfall mittheilen wollte, und auf dem Sprunge war, uns durch ein Manöuvre zu fangen, schlägt einem Esel, der eben auf mich zielte, die Flinte aus der Hand, und wühlt endlich ein so großes Loch in die Erde, daß wir nach dem Siege bequem darin bivouakiren können. Einen solchen Schuß sollt’ ich ungeschossen lassen? Nein, mag der Sechspfünder bei der zweiten Kugel in tausend Stücke zerspringen; ich halte mich ja fern davon und lass’ ihn nur, wie gesagt, von lebenssatten Kanonieren bedienen, dann bleiben mir noch drei unübertreffliche Geschütze übrig. Ich pflege niemals etwas über meine Kräfte hinaus zu erheben, aber mit diesen drei Wesen getrau’ ich mich ganz Hinterasien und meinetwegen noch einen sechsten Welttheil zu erobern.“

Eine gellende Fanfare von Tschungs oder tibetanischen Muschelhörnern setzte sich dicht auf die Fersen dieser langen Exposition. Eine Staubwolke stieg von der linken Seite der im Schatten der Ulme Sitzenden auf, und ließ nur zuweilen gegen die Sonne einige blitzende Waffen oder Verzierungen von Mützen durchblicken. Der Zug kam näher und bewegte sich gerade auf das Haus des Dhii-Kummuz zu. Dieser erhob sich mit den Worten: „steht auf, General, der Lama geht auf 108 die Jagd, und wir müssen ihn begleiten. Wäre unser stummer Freund, unser schwermüthiger Hausgenosse, ein besserer Reiter, er müßte ein Roß besteigen und seine Grillen nach dem Walde tragen, um sie nicht wieder zurück zu bringen.“

Der Correspondent, der gegen die weitläuftigen strategischen Unterhaltungen der beiden Andern eine auffallende Gleichgültigkeit gezeigt hatte, lächelte, und sagte mit einiger Bitterkeit: „Ich glaubte, Teschulumbo sey der Sitz eines geistlichen Fürsten. Ich finde aber, daß es vielmehr der Sitz der freien Sitten ist. War es in Lassa erhört, daß der Lama auf die Jagd geht!“

Dickson brachte seine Kleider in Ordnung, und entgegnete auf diese Bemerkung: „Wer aus Europa gebürtig ist, versteht sich auf scharfsinnige Unterscheidungen. Freund, Ihr müßt das Gesetz von denen unterscheiden, welche unter ihm stehen. Es gibt in Europa eine Art Religion, welche man Christenthum nennt, und aus den Katechismusjahren meiner Jugend hab’ ich diese Trennung noch nicht vergessen. Der Lama ist das Gesetz, wer hindert ihn, sich in den Finger zu schneiden? Mit andern Worten: dieser geistliche Hof hier ist so unterhaltend, wie es der von Rom niemals gewesen ist. Oder, um eine andere Wendung zu gebrauchen: Ich hoffe Dich wieder zu sehen, mein Freund, den ich liebe wie der Engländer einen Hongkaufmann, und wenn Du vielleicht Lust tragen solltest, meine Vorlesungen über die Geschütze zu Papier zu bringen, so kannst Du eines Dankes gewiß seyn, für den ich mich 109 bei der Jagd auf Worte besinnen will. Nützen muß es Dir auf jeden Fall.“

Der Zug war jetzt bei dem Hause angekommen, und zwei Pferde wurden vorgeführt, welche von Dhii-Kummuz und Dickson bestiegen werden sollten. Der Teschu-Lama, der sich in seinem kriegerischen Zeug stattlich ausnahm, war von einem Gefolge umgeben, dessen Kleidung ein sonderbares Gemisch von geistlichem und weltlichem Aufzuge vorstellte. Er richtete an die beiden Theilnehmer der Jagd, welche sich in den Sattel schwangen, einige wohlwollende Worte, und Dickson, welcher noch nicht ganz den europäischen Bedienten und den subalternen Soldaten abgelegt hatte, erwiderte sie mit einem langen Redefluß, der ungefähr sagen wollte: Ew. Gnaden sind heut gar zu gütig! Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, die Muschelhörner hielten den Rossen die Ohren steif, die Hunde drängten vor und wurden mühsam von den Reitern an langen Stricken zurückgehalten. Die Richtung ging einer sanft sich aufdachenden, von einem dunkeln Waldkranze bekränzten Ebene zu.

Wie der Correspondent den vorhergegangenen Gesprächen Dicksons und seines Wirthes eine nur gleichgültige, theilnahmlose Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so gab er auch bei der Ankunft des Lama einen stummen Zuschauer ab. Er stand interesselos an den Ulmenbaum gelehnt, ohne ein Zeichen äußerer Achtung vor dem Manne, in dessen Gewalt er sich befand, blicken zu lassen. Dieß Benehmen stimmte mit seinem frühern nicht überein. Denn bis dahin war er immer 110 nach dem richtigen Grundsatz verfahren, daß die Großmuth den am mildesten behandelt, welcher keinen Widerstand leistet; seine Gefangenschaft hatte in Folge dieser Ergebenheit nichts Unerträgliches erhalten; die Gränzen, innerhalb deren er sich bewegen durfte, waren weit auseinander gesteckt, und die Besuche der angesehensten Männer, welche seinen Verstand, seine mannichfachen Kenntnisse und seine gesellschaftlichen Gaben aufsuchten, mußten seiner Eigenliebe besonders schmeicheln. Wenn der Correspondent dabei nie unterließ, Jedermann mit Zuvorkommenheit zu begegnen, so mußte ihn heute ein fremdartiger Einfluß beherrscht haben, dem er sich hingab, ohne darauf zu achten. Was bestimmte ihn, heute zum ersten Male offen zu zeigen, in wie hohem Grade ihm seine Lage zuwider war?

Ho-Po, der Diener des Correspondenten, kam aus dem hintern Hofraume von der linken Seite der Terrasse herangeschlichen, zog seinen Herrn so nahe an seinen Mund, daß jedes seiner Worte nur in dessen Ohr widerhallen konnte, und flüsterte ihm zu: „O mein theurer Vater, war ich bis jetzt ein Roß, das unter der Last des Grams, der seinen Herrn drückt, zusammensinkt, so fühl’ ich jetzt einen neuen Lebensmuth in mir, da ich Euch bald wieder in die alten Kreise Eurer Macht zurück versetzt weiß.“

„Ist Dir Deine Nachforschung gelungen?“ fragte der Correspondent mit besorgten Blicken die Umgebung ausspähend. „Wer wird uns bei der Flucht zu Gebote stehen?“

111 „Ich habe einem Mann, der uns führen soll,“ antwortete Ho-Po, „ein weitläuftiges Mährchen aufgebunden, das er aber sehr wahrscheinlich findet. Warum sollte der Mann es Euch nicht zutrauen, daß Ihr noch auf verliebten Wegen geht? Es ist finstre Nacht. Die Menschen haben hier zu Lande in der That mehr Verstand, als man von ihnen glauben möchte. Unser guter Pferdeverleiher sieht ein, daß die Liebe nur des Nachts auf ihren Raub ausgeht, daß es hartnäckige Väter, spröde Bräute, eifersüchtige Liebhaber noch unzählige in der Welt gibt, und daß man ihren Wünschen und ihren Intriguen oft nicht anders zuvorkommen kann, als durch einen raschen, ohne Säumen ausgeführten Entschluß.“

„Deine Geschichte mag recht artig erfunden seyn,“ sagte der Correspondent lächelnd; „doch hätt’ es sich besser geeignet, mich zu einem verliebten Mönche zu machen, den die Sehnsucht nach einem angebeteten Gegenstand auf nächtliche Abenteuer treibt. Der Eifer des Mannes, uns zu dienen, würde um so größer gewesen seyn. Doch um welche Zeit werden wir seiner gewiß seyn?“

Die weitere Unterredung brachte alle die Umstände zur Sprache, welche bei dem nächtlichen Vorhaben beachtet werden mußten. Wir finden den Gedanken an Flucht sehr erklärlich, und wenig Hindernisse, die ihn hätten vereiteln können. Wenn es seither in den Absichten des Correspondenten lag, die Wachsamkeit seiner Aufseher unschädlich zu machen, so mußte er auf ge-112raume Zeit das System befolgen, das ihm zu diesem Zwecke vortrefflich gelang. Es hinderte ihn nichts, in der Nacht sein Zimmer zu verlassen, die Hausthüre zu öffnen; an der Pforte der Umzäunung seinen harrenden Diener mit sich zu nehmen, und in einiger Entfernung ein Pferd zu besteigen, das ihn vielleicht sicher bis zu einem Orte trug, von wo aus es nicht unmöglich war, sein Fortkommen weiter zu bewerkstelligen. Mit dem zunehmenden Dunkel der Nacht lassen wir über diese Unternehmung einstweilen den Schleier fallen.

Die Jagd des Teschu-Lama sollte erst am folgenden Morgen beginnen; aber rings war schon durch die gellenden Muschelhörner und das Hetzen der Jäger das ganze Thierreich in Bewegung. Die tangutischen Büffel liefen in zahlreichen Haufen über die Ebenen, mit den Hörnern die Erde aufwühlend, blieben dann zuweilen stehen, die gebückten Häupter erhebend, und beklagten mit dem ihnen eigenthümlichen Grunzen des Schweins, daß ihnen bei dem vielen Laufen dennoch die gefährliche Bürde ihres seidenhaarigen Schweifes, der ihnen morgen das Leben kostete, nicht entfallen sey. Die Moschusthiere verpesteten die Luft mit jenem Gestank, der den europäischen Tabakschnupfern so ambrosisch duftet, eine zarte Nase zerfressen kann und jeden Besitzer einer solchen Nase aus einem Zimmer treibt, wo auch nur im tiefsten Verließe des Kleiderschranks ein Billiontheil dieses Ingrediens in Baumwolle verborgen liegt. Was helfen euch diese Opfer, die ihr hier den Bergen und unwirthbaren Räumen bringt, ihr un-113gestalteten Geschöpfe! Mein alter Professor lärmt, daß in seiner Bibliothek der Moderduft über den Moschus den Sieg davon getragen hat, er schickt in die Apotheke, und läßt sich einige Gran Eurer kopfweherregenden Eigenschaften holen! Müssen die Büffel morgen ihre Haare lassen, so seyd ihr gleichfalls den Beutelschneidern* preisgegeben!

Der Herbst war schon so stark geworden, daß er das Laub von den Bäumen schüttelte. Aus den offenen Gebirgsreihen, die dem Zugwind einen freien Durchgang gestatteten, zog die Nachtluft mit schneidender Kälte. Einzelne Regenwolken, welche der Sturm von dem Gipfel eines himmelhohen Felsen wegtrieb, sanken mit ihrer ganzen Schwere auf die Ebenen herab, und entluden sich in langwierigen Strömen. Mit der bedauerlichen Klage, daß durch diese Regenschauer auf den Morgen die Wege schlüpfrig und schwierig gemacht seyn würden, begaben sich die Jäger in einem einsamen Schlosse zur Ruhe.

Diese kleine Wohnung war befestigt und konnte zugleich als eine Capelle für Pilgrime dienen; denn sie war mit geistlichen und wunderthätigen Bildern besetzt. Für diese Nacht verrichtete sie dem Teschu-Lama und seinem Gefolge einen schon oft geleisteten Dienst als vorübergehende Herberge. Wozu die Umschweife? Es war ein fürstlich-tibetanisches Jagdschloß.

114 Mit Tagesanbruch hatten sich alle Theilnehmer des kommenden Vergnügens vor dem Rastorte schon versammelt. Der Teschu-Lama, der sich etwas später einfand, beliebte über die Inconvenienz dieser Unterhaltung mit seinem Stande einige scherzende Worte zu sagen, die von dem Gefolge mit großem Beifalle aufgenommen wurden. Dickson hatte sich schon früh einen anhaltenden Humor getrunken; und phantasirte über die Benutzung der Artillerie, die ihm selbst auf der Jagd nicht ohne Vortheil zulässig schiene.

Als das Treiben der aufgescheuchten Thiere lebhafter wurde, näherte es sich mehr dem Gebirge. Das Verfolgen wurde auf den steilen Wegen beschwerlicher, der Zug trennte sich, je nachdem man auf dem einen Pfade ein bestimmtes Ziel früher zu erreichen hoffte, als auf dem andern. Es liegt nicht in unsrer Absicht, den ganzen Verlauf dieser Unterhaltung zu berichten, sondern wir folgen nur dem Pfade, welchen Dhii-Kummuz mit einigen andern Leuten einschlug, weil er uns zuletzt den Anblick der zweiten Katastrophe dieser Geschichte zeigen wird.

Der Weg zog sich mit fast unersteiglicher Schroffheit in die Höhe. Die Reiter waren alle von ihren Thieren gestiegen, die sie mit kurzem Zügel führen mußten, wenn nicht Mann und Roß einen Sturz in die Tiefe gewärtigen wollten. Einige unter den Begleitern Dhii-Kummuz’s hatten vor ihm schon einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen; jetzt blieben sie an einer Stelle, wo eine weitere Fortsetzung des Weges undenkbar war, 115 plötzlich stehen, wandten sich um, riefen den Nachkommenden zu, ihre Schritte zu beschleunigen. Wessen waren sie ansichtig geworden? Zwei Männer lagen mit ihren zerschmetterten Rossen in der Zwischenspalte, welche zwei Felsen von einander hielt. Der Fall war nicht tief, aber durch die zackigen Felsspitzen, welche die Gestürzten empfangen hatten, überaus gefährlich. Auch war es keinem Zweifel unterworfen, daß nur der eine der Unglücklichen noch am Leben sey, und einige scharfe Blicke reichten hin, in dem Andern, dem es ans Leben gegangen war, den Correspondenten zu erkennen.

Es war nicht ganz unmöglich, sich den beiden Chinesen (denn der noch Lebende war Ho-Po) zu nähern. Es bedurfte nur einiger Behutsamkeit, und die Schwierigkeit der Lage war leicht überwunden. Mehrere Männer kletterten hinunter, schwangen sich mit Gewandtheit über einige Felsblöcke, und trugen die beiden Opfer ihrer Freiheitslust zu den Uebrigen zurück. Die Scene wurde belebter; denn diese Störung in dem Treiben ließ sich bald bemerken, und von höher liegenden Gipfeln auch in seiner Ursache erkennen. Bald war die ganze Gesellschaft um diesen traurigen Anblick versammelt. Ho-Po ließ noch einige Hoffnung zur Rettung übrig. Er war zwar an allen Theilen seines Körpers beschädigt; doch nur eine Vernachlässigung seines Zustandes hätte ihm können tödtlich werden. Am Correspondenten blieb jeder Wiederbelebungsversuch ohne Erfolg. Die zerschmetterten Glieder hingen schlaff am Körper herunter, und schon die harten Verletzungen des Kopfes hätten ihm 116 tödtlich seyn müssen. Das bleiche, von Entsetzen und Angst entstellte Antlitz, der Mund, wie zum Hülferuf geöffnet; die Augen, aus ihren Höhlen hervor gequollen, waren mit schwarzem, geronnenem Blute überzogen. Unter allen Aeußerungen, welche dieser Anblick veranlaßte, war diejenige am grausamsten, welche aus dem Munde eines Europäers kam. Denn Dickson sagte nur die einzigen Worte: „Er hat uns entlaufen wollen;“ schien aber damit ausdrücken zu wollen, daß dem Armen so ganz recht geschehen sey.

Den Stiefeln des todten Correspondenten entfiel eine Papierrolle. Sie trug die Ueberschrift: An die Redaction der Pekinger Hofzeitung, und enthielt einen vollständigen Nekrolog, den der Verschiedene, sein Schicksal vielleicht ahnend, für den vorkommenden Fall entworfen hatte. Es hieß darin: „Schon wieder erlosch an dem Horizonte des Reiches der Mitte ein Stern der ersten Größe. Leang-Kao-Tsu wurde geboren im dritten Jahre der Regierung Kien-Long aus der glorreichen Dynastie Tai-Thsong. Seine erste Jugendzeit war dem Studium der classischen Autoren gewidmet, in dem er es so weit brachte, daß seine Kenntniß sowohl in Dichtern als Philosophen die allgemeinste Anerkennung fand. Man rief sich oft zu: der junge Leang-Kao-Tsu wird bald graduirter Doctor seyn! Und diese Vermuthung wurde in Kurzem eine Wahrheit. Er wurde promovirt, ging einige Zeit noch in den Unterricht eines Bonzen, um seine Seelenreinheit zu erhöhen; besuchte darauf Su-Tsheu, um den feinen Anstand aus dem 117 Grunde zu studiren, und erhielt darauf die Stelle eines Salz-Mandarinen in Kang-Tong. Lassen sich die Verdienste aufzählen, welche sich an diesem Orte Leang-Kao-Tsu im Umgange mit den Holländern und den Europäern um das himmlische Reich erwarb? Wer jede einzelne Wohlthat, die er seinen Landsleuten und dem Sohne des Himmels, seinem allergnädigsten Kaiser, erwies, berechnen wollte, müßte auch angeben können, aus wie vielen Tropfen das Meer besteht. Der Weise erhält immer seinen Lohn, wenn er ihn von dem Gerechten erwartet. Leang-Kao-Tsu wurde zum Mandarinen der vierten Classe erhoben, und erhielt eine Stellung, die seinen Talenten nicht angemessener seyn konnte. Er wurde Correspondent am Hofe des tibetanischen Dalai Lama von Lassa. Zu welchem Dank verpflichtete er in dieser Eigenschaft die Blume des Weltalls? Auch unsere Zeitung kann nicht umhin, anzuerkennen, daß er seit Jahren schon zu ihren eifrigsten Mitarbeitern gehörte. Er lieferte ihr seine ersten Gedichte, später Aphorismen über verschiedene Gegenstände der Lebensphilosophie; in reifern Jahren aber mehrere publicistische Beiträge, die sich über das Recht der Regenten und des Volkes mit eben so viel Klarheit als Loyalität verbreiteten. Das beste Erzeugniß seines gewandten Pinsels war unstreitig die Reihe von Aufsätzen, die wir seit geraumer Zeit unter dem Titel: Tibetanische Zustände, den Spalten dieser Zeitung einverleibt haben. Niemand anders war der Verfasser dieser geistvollen Berichte, als der vollendete Leang-118Kao-Tsu. Sein Tod hing aber mit folgenden Umständen zusammen: –“

Der Correspondent schien erwartet zu haben, daß ein befreundeter Pinsel diese Lücke ausfüllen würde, aber in Teschulumbo gab sich dazu wohl Niemand her. Herr Professor Neumann wird mir bezeugen können, daß dieser Nekrolog auch niemals in der mehr erwähnten Zeitung gestanden hat.

Ein Bote brachte dem Teschu-Lama die Nachricht von der Rückkunft des Schamanen. Dieß war das Zeichen zum Beginn der schon lange vorbereiteten Feindseligkeiten. Zu Vergnügungen wurde jetzt die Zeit zu kostbar; man rief mit den Muschelhörnern, deren Töne das Echo unzählig durch die Berge trug, die Zerstreuten zusammen, und kehrte mit einiger Beute und dem Leichnam des jetzt unschädlichen Chinesen in die Ebene zurück. Der Verwundete Ho-Po war schon voraus getragen worden.

Inzwischen hatte Schü-King mit unglaublicher Energie die Zügel des chinesischen Regiments in Lassa ergriffen. Jede Einmischung, welche sich der General in die Dinge, die sie in den Kreis ihrer Aufsicht ziehen wollte, erlaubt hatte, wurde mit Festigkeit von ihr zurück gewiesen. Den ersten Act der Souveränetät, die er sich übertragen glaubte, die Befreiung Gylluspa’s, hatte sie weniger aus Eifersucht auf die ihr näher bekannt gewordenen Verhältnisse dieses Mädchens, als nach dem festen Vorsatz ihrer alleinigen Machtvollkommenheit wieder rückgängig gemacht.

119 Alle diese Entschließungen gewannen bei ihr um so mehr Gewicht, da sie sich auf die Nachricht stützte, welche ihr von Teschulumbo aus über ihren Bruder zugekommen war. Sie konnte mit Gewißheit noch auf seine Existenz bauen, und deßhalb auf alle ihre Unternehmungen den officiellen Stempel ihres brüderlichen Willens drücken; ja sie konnte annehmen, daß die endliche Rückkunft des Bruders selbst dasjenige gut machen müßte, was sie vielleicht in der Eile oder in Folge eines unweisen Entschlusses, oder mit mehr als verantwortlicher Gewaltanmaßung ins Werk gesetzt hatte.

Die Verbindung, in welche Schü-King mit ihrem Bruder trat, war keine unmittelbare, sondern wurde durch Unterhändler, welche Einiges anders erzählten, Vieles gänzlich verschwiegen, unterhalten. Diese bestürmten sie in den Zurüstungen fortzufahren, welche der Correspondent zu Gunsten der Unternehmung des Teschu-Lama gemacht hatte. Schü-King war mit den desfallsigen Planen ihres Bruders wohl vertraut. Sie wußte, daß er sich so viel Einfluß auf die chinesischen Truppen verschaffen wollte, als hinreichte, um sie entweder zur Schilderhebung für den neuen Lama zu gebrauchen, oder sie in einer theilnahmlosen Neutralität zu erhalten. Sie wußte, daß ihr süßer Freund Tschu-Kiang zu diesem Zwecke benutzt werden sollte; daß dieser seine Mitwirkung versprochen hatte, und eilte daher, alle abgebrochenen Fäden dieser Vorbereitungen wieder anzuknüpfen.

Tschu-Kiang sagte, daß man sich in solchen Dingen 120 gänzlich auf ihn verlassen könne. Er könne, obschon ein weiser Mann, alle Thorheiten begehen, wenn Schü-Kings Bruder sie verantworten wolle. Es sey ihm nun ganz einerlei, ob er eine Schwadron oder das ganze Regiment in das Complot ziehen solle. Warum sollt’ er eines sichern Erfolges nicht gewiß seyn? Wäre doch jeder Recrut, der nur einmal das Glück gehabt hätte, vor ihm das Gewehr zu präsentiren, bereit, für ihn durchs Feuer zu laufen. Ja, er könne versichern, das ganze Unterofficier-Corps sey unter sich eifersüchtig gegeneinander, weil er Einigen von ihnen einmal die Versicherung seiner Freundschaft gegeben habe. Die Befehle des Generals zu hintertreiben? Welche leichtere Aufgabe ließe sich ihm stellen! Kein Soldat, der nur je den Hahn eines Karabiners gespannt habe, werde die mürrischen Sitten eines alten Eiferers seinem leutseligen, einnehmenden, bezaubernden Wesen vorziehen. Kurz, er sey gewiß, daß ihm im Augenblick des Kampfes, den er übrigens sehnsüchtig erwarte, mehr zu Gebote stehen würden, als bedürftig seyen.

In dem Augenblicke, wo Tschu-Kiang diese Versicherung gab, fand Schü-King seine Tournure, seinen Zopf, seinen Stutzbart, den Faltenwurf seiner Kleider, die Nachlässigkeit seines Gürtels auch so liebenswürdig, daß sie in ein begeistertes Lob dieser Vorzüge ausbrach. Der Oberst drückte dafür ihre Hand mit Zärtlichkeit an seine Lippen. Wir können nicht zweifeln, daß auch für seine Wünsche bald die Erfüllung anbrechen wird.

121 Fünftes Capitel.#

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Fang-Schu, der Feldherr, führt sein Heer

Dreitausend Wagen reich an Wehr,

Sie treiben wohl den Feind zu Paaren.

Fang-Schu, der Feldherr, zieht voraus,

Es tönet laut der Trommeln Braus,

Und wohlgeschaart ziehn alle Schaaren.

Zum Angriffszeichen gnüget schon

Den Muth’gen ein gelinder Ton.

Doch soll’s des Rückzugs Zeichen seyn,

Und soll’n wir ihm Gehör verleihn,

So dürft ihr nicht die Trommel sparen.

Schi-King.

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Es war finstere Nacht. Tausend Fackeln leuchteten im Gebirge. Der rothe Schein, den jede einzelne warf, konnte auch nur den Schritt eines Einzigen sichern. Für die übrigen Tausende, die mit ihren Rüstungen über das Gebirge kletterten, gesellten sich zu den natürlichen Hindernissen des gefahrvollen Weges noch die blendenden Schatten, welche die Fackelträger in die tiefen Abgründe warfen.

Bald stürzte ein Roß, bald ein Reiter, der es am Zügel führte. In dem verworrenen Zurufen, welches von einer Bergspitze auf die andere schallte, und das schlummernde Echo weckte, erstickten die Schmerzensschreie der Unglücklichen, welche die falsche Berechnung des Wegs und die Tollkühnheit der Anführer mit ihrem Leben bezahlen mußten.

122 Am entlegensten Endes des Zuges und noch am tiefsten Fuße des Berges ertönte das Commando einer uns wohl bekannten Stimme. „Die Fackeln von den Pulverwägen!“ rief es mit siebenfachem Echo. „Wir haben so viel brennbares Material, daß wir mit Einem Funken die asiatischen Hochgebirge in die Luft sprengen könnten.“

Es war Dickson, der mit seiner schweren Artillerie weit zurückblieb, und in der That nur mit den außerordentlichsten Anstrengungen des Weges Meister werden konnte. Seine wenigen Geschütze wären außerdem verloren gewesen, wenn er nicht jedes in Augenschein nahm und bald hier, bald da zugegen war. Die Stücke waren mit einem Dutzend Pferden bespannt, welche von eben so viel Kanonieren wieder kurz am Zügel geführt werden mußten. Dickson rief dabei unaufhörlich oder nur in kurzen Zwischenräumen: „fünfzig Stockprügel für Jeden, der elend genug ist, sich hinten aufzusetzen! Und die Hälfte für Jeden, der sich von seinem Thiere ziehen läßt!“ Dabei machte er seiner Galle an allen Gegenständen Luft; er war im Zuge, die anstößigsten Dinge zu sagen. „Das sind die Folgen der Vielherrschaft,“ rief er; „schätzte man meine Rathschläge so hoch, als sie werth sind, so würde man besser bedient seyn. Was gab ich im Kriegsrath für eine Meinung ab? Ich stimmte für Zögerung, für eine Rast, die vier Stunden vor dem Untergange der Sonne beginnt; für einen Marsch, der Niemanden ermüdet, und uns Zeit läßt zu den nöthigen Erholungen, zur 123 Verdauung und zu einem erquicklichen Trunke. Ich drang nicht durch, weil in dieser Armee zu Viele rathen wollen. Steckt die Köpfe nicht zusammen! Himmel, sitzt da nicht Einer auf dem Protzkasten?“ Dickson lief hinzu, stolperte, stand mit einem derben Fluche wieder auf, und überzeugte sich von seinem Irrthume. „Was gibt’s da zu lachen?“ rief er einen Trupp Kanoniere an, welche hinten an dem schadhaften Mörser schoben; „Ich wette, der Schuft hat meinen Fall benutzt und ist herunter gesprungen, während ich ihn nicht sehen konnte. Wie schlaff an der Haubitze dort die Stricke hängen! treibt die Pferde an, ihr Buben! Und rennt mich – zum Henker, die Steine tanzen mir unter den Füßen weg; wollt ihr mich hinunterstoßen?“

Der General war stehen geblieben und wurde von der vorüberfahrenden Positionsartillerie so hart gestreift, daß er einige Schritte zurücktrat, und erschrocken, nichts als Luft hinter sich zu fassen, jenen Schrei ausstieß. Da er noch nicht fiel, fand er den Muth, sich umzusehen, wo denn der Tod noch ganzer drei Schritte weit entfernt lag. Es gewährte ihm eine Beruhigung von seinem Schrecken, auf die Mitglieder des Kriegsraths zu schmähen und seine Mannschaft zu Vertrauten seines Grolls zu machen. „In der Compagnieschule zu Calcutta,“ sagte er, „hab’ ich Blicke in die Strategik geworfen, daß mir ihre feinsten Grundsätze erklärlich wurden. Konnt’ ich daher ohne Lachen hören, wie einige Regimentschefs in einem vor vierzehn Tagen gehaltenen Rathe auf Bildung einer reitenden Artillerie 124 drangen? Himmel, das wäre ein Commando gewesen. Rechtsum schwenkt! Sturmlauf! Die ganze Batterie in einer Viertelstunde 20,000 Fuß über dem Meeresspiegel. Nein, diese Menschen sind zu bedauern. Hätte man doch nie auf sie gehört! Warum müssen sie über die Touren, welche wir täglich machen, den Ausschlag geben? Wer über Artillerie und Geniewesen unnütze Worte verliert, von dem heb’ ich nie etwas auf, weil ich weiß, daß es in keinem Ding etwas Werth hat. Gerechter Gott, was willst du, Dschangho?“

Es war nicht der ganze Feuerwerker Dschangho, der an Dickson vorüberflog, sondern nur sein Kopf und ein Stück seines Rumpfes. Diese Begegnung war von einer ungeheuern Explosion begleitet. Ein Pulverkasten hatte bei dem unvorsichtigen Handhaben der Fackeln Feuer gefangen und war in die Luft gesprungen mit Mann und Roß, die ihn bedienten.

„Das Ding ist nun einmal geschehen,“ sagte Dickson nach einer Weile; „lasse sich Niemand entmuthigen! Wer auch das Bein seines Bruders finden sollte, zögere nicht, das seinige darauf zu stellen. Zur Klage haben wir jetzt durchaus keine Zeit. Wer heult da? Niemand soll den Mund verziehen!“

Mehrere Stimmen fingen nämlich einen leisen Trauergesang zu murmeln an. Hätte Dickson sie aufkommen lassen, so würden sich alle Zungen zu Klageliedern gelös’t, und eine Muthlosigkeit sich dem ganzen Heere mitgetheilt haben. Der General fuhr aber mit so heftigen Drohungen dazwischen, daß jeder 125 sein Gebet unhörbar zwischen den Zähnen flüsterte, und die Bedienung des Postens, auf dem er sich befand, nicht aus den Augen ließ.

Solche nächtliche Zufälle hielten den Marsch der Artillerie hinter den Uebrigen weit zurück. Dicksons Eifer und seine rücksichtslose Energie gehörten dazu, die Ordnung des Zuges zu erhalten, und ihn, bei den vielen Hindernissen, die ihn trafen, nicht in völlige Auflösung zu versetzen. Wo ein Rad brach, ein Strick riß, wo ein Pferd ausgleitete, wo beim Niedersteigen ein Hemmschuh aus dem Gleise fuhr, und das Geschütz mit Gewalt auf seine bewegenden Kräfte rollte, da war er mit Rath und That immer zugegen, um jeder Verwirrung vorzubeugen, und schnell die Ursachen zur Muthlosigkeit wegzuräumen.

Als endlich der Weg anfing mehr bergabwärts zu führen, stellten sich auch die Hoffnungen einer baldigen Rast und mit ihr eine neue Anfeuerung ein. Das Thal öffnete sich immer mehr, und man erblickte einen hellen Schimmer, der sich eine weite Strecke durch das nächtliche Dunkel zog. Es waren die Wachtfeuer der schon früher eingetroffenen Krieger, denen ein weiter Thalkessel zur Rast von den gehabten Anstrengungen hinlänglichen Raum gab. Am folgenden Morgen konnte man hoffen, von der nächsten Bergwand, die zu besteigen allein noch übrig war, das bedrohte Lassa zu erblicken. Noch war ihr Vorhaben für die Allwissenheit des Dalai-Lama ein Geheimniß. Keiner der ausgestellten Wachtposten hatte bei der Ablösung seinem Offi-126cier eine verdächtige Erscheinung in der Umgegend zu berichten.

Als der Artilleriepark in die Thal-Ebene hinabrasselte, lagen die übrigen Krieger schon an ihren Feuern zur Ruhe ausgestreckt. Die Geschütze wurden in Ordnung aufgestellt, die Pferde ausgespannt, an Pfähle befestigt, zur Noth gefüttert, und die Kanoniere waren noch früher eingeschlafen als jene. Dickson aber fühlte seine Befehlshaber-Pflichten zu sehr, als daß er dem Beispiele seiner Leute sogleich hätte folgen sollen. Er frug sich vielmehr nach dem Hauptquartiere hin, um an Berathungen Theil zu nehmen, wenn sie vielleicht gepflogen werden sollten. Es war aber sehr still um das große Zelt, das die heiligen Glieder des Teschu-Lama umschloß, nur aus einem Theile desselben brannte noch eine schwache Flamme. Dem Eintreten des bekannten Generals stand nichts entgegen, und Dickson fand seinen Freund, Dhii-Kummuz, noch in so später Nacht über einem großen Pergamentsbogen beschäftigt, auf dem er zierliche Charaktere in großen Zügen mehr malte, als schrieb.

„Wer du auch seyn mög’st,“ rief Dhii-Kummuz dem Eintretenden, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen, entgegen, „nach einigen Augenblicken bin ich bereit, alle Geschenke zu empfangen, welche man mir geben wird.“

„Ich bringe nichts, als einen müden Fuß, eine trockene Kehle und ein begieriges Ohr,“ entgegnete Dickson, und sein Freund, ihn sogleich erkennend, 127 sagte kurz vor sich hin: „Dickson;“ ließ sich aber nicht stören, sondern arbeitete auf seinen Bögen weiter. Dickson brummte über die Unfreundlichkeit der Gelehrten, und sah dem Schreiber über die Schultern zu. Endlich wusch aber dieser seinen Pinsel im Wasser von den Farben rein, hielt das Geschriebene mit zufriedenem Blicke gegen das matte Licht der Lampe, und begrüßte dann seinen Freund mit herzlichem Willkommen. „Als ich gestern die gebratenen Fische mit dir aß,“ sagte er, „und dir die Kopfstücke und mir die Schwänze ließ, hätt’ ich da glauben mögen, daß wir beide vielleicht unser jüngstes Gericht gehalten hätten! Ein verwünschter Weg! du riethest dagegen, und ich fange an, deinen Instinct als ein untrügliches Ahnungsvermögen zu verehren.“

Dickson war aber selbst für Lobeserhebungen nicht zugänglich, wenn seiner Leibesnothdurft etwas abging. Er verlangte vor allen Dingen ein bequemes Nachtmahl, sodann eine Wiederholung der beifälligen Aeußerungen, welche sein Wirth über ihn gemacht hatte, und als er beides erhalten, Aufklärung über die eben beendete Beschäftigung des Dhii-Kummuz. „Ich bin aus dem Lande der Cultur gebürtig,“ sagte er, „und kann auf der Straße nichts Geschriebenes liegen sehen, ohne es aufzuheben. Was bedeuten diese nächtlichen kalligraphischen Uebungen?“

„Ich kenne den Gebrauch deines Vaterlandes nicht,“ entgegnete der Befragte; „aber bei uns herrscht die Sitte, selbst dem Feinde Rechenschaft 128 darüber abzulegen, was uns zu einem Kriege gegen ihn bewogen hat. Wir erlassen in diesem Falle beim Anfang aller Feindseligkeiten eine weitläuftige Schrift, die wir Proclamation, auch wohl Manifest nennen. Ueber dieser Arbeit hast du mich angetroffen.“

Dickson, der für Definitionen eine unbeschreibliche Ehrfurcht hatte, hörte mit offenem Munde zu, und vergaß über jene gründliche Auseinandersetzung sogar, daß in Europa die Manifeste nicht weniger heimisch sind. „Das ist sehr merkwürdig,“ sagte er, „doch was hast du im Namen des Lama, unsers Herrn, den Leuten denn aufgeheftet?“

„Nicht wahr?“ fragte Dhii-Kummuz, „wir haben sehr wichtige Ursachen zu diesem Kampfe?“

„Ohne Grund sind wir in der That nicht hier,“ antwortete Dickson.

„Und diese Ursachen sind höchst

„Sie sind durchaus nicht ungerecht.“

„Wir kamen nicht von freien Stücken?“

„Nein, wir sind durch Beleidigungen gereizt worden.“

„Und diese Beleidigungen waren unerträglich?“

„Sie waren zahllos, und ließen sich allerdings nicht ertragen.“

„Der Lama hat die gerechtesten Ansprüche auf den Thron des Himmels?“

„Ich frage dich nur, wer sie ihm streitig machen sollte?“

129 „Der Dalai Lama kann nur schlecht beglaubigte Ansprüche aufweisen?“

„Wir haben sie nie beglaubigt.“

„Es ist der Wille des Himmels, daß in Tibet eine andre Ordnung der Dinge herrsche?“

„Wir sind unstreitig damit beauftragt, sie einzuführen.“

„Wollen wir die Lage der feindlichen Provinzen verschlechtern?“

„Behüte! wir beabsichtigen ihr Bestes, und kommen mit den reichsten Versprechungen.“

„Werden auch diese Versprechungen gehalten werden?“

„Was du nur frägst! freilich, aber unter gewissen Bedingungen.“

„Und diese sind?“

„O so geh mir zum Henker! So examinirt man einen Narren. Commandir’ ich denn eine feindliche Batterie? Bin ich als Parlamentär im Lager? Sage mir lieber, was auf jenem Pergamente enthalten ist?“

Dhii-Kummuz fand aber jetzt keine Zeit, diese Mittheilung zu machen; denn draußen war es unruhig geworden, mehrere Stimmen riefen durcheinander, und ein anwachsender Lärm näherte sich dem Hauptquartier, wo sich die beiden nächtlichen Sprecher befanden. Einige Officiere kamen aus den hintern Räumen des Quartiers herbeigeeilt, um nach der Ursache dieser Störung sich zu erkundigen. Man führte einen Menschen herein, der sich von Lassa her durch die Spalten und Eng-130pässe der Gebirgswand in das Thal geschlichen haben, und von den Wachtposten bemerkt seyn sollte. Nach der Aussage derer, die ihn gefangen, warf er bei dem ersten Anruf der Schildwache statt der Antwort ein Paket Papiere von sich, und schien zweifelhaft zu seyn, ob er die Flucht ergreifen, oder das Folgende abwarten solle.

Dhii-Kummuz untersuchte die Papiere und verhörte den Ueberbringer derselben. Es war allerdings ein Spion, aber ein solcher, der nur in Lassa gewärtigen konnte, aufgehängt zu werden. Er war von jener Partei abgeschickt worden, die in Lassa für den Teschu-Lama gewonnen war, und er selbst ein Chinese. Das Paket enthielt Briefe von Schü-King an ihren Bruder, den sie unter den Ankömmlingen vermuthete, von Tschu-Kiang an den Teschu-Lama über die von ihm getroffenen Vorbereitungen, über die sichersten Operationen, welche sich gegen die schwache Besatzung machen ließen, endlich noch Plane, Zeichnungen und einige Schreiben von den Vertrauten der Aufrührer, die sich in der unmittelbaren Nähe Maha Guru’s befanden. Aus allen diesen Documenten ließ sich absehen, wie dunkel noch in Lassa das Gerücht von dem Vorhaben des Statthalters war, und wie wenige Vorkehrungen getroffen seyn mußten, um den Erfolg eines unvermutheten Ueberfalls zu vereiteln. Dem Statthalter ließ sich zum kommenden Morgenthee außer seiner Pfeife keine angenehmere Unterhaltung geben.

131 Dem gewandten Chinesen gab man außer der verdienten Belohnung noch eine Rückfracht, die ihm gefährlich werden konnte, nämlich das Manifest, welches Dhii-Kummuz verfaßt hatte. Er wurde in die Gegend wieder zurückgeführt, über welche er gekommen war, und von dem Verfasser der Proclamation mit Erläuterungen über den Gebrauch derselben begleitet. Als Dhii-Kummuz in das Zelt zurückkehrte, fand er seinen Freund Dickson vom Schlafe schon überwältigt, und ist ohne Zweifel mit dem ganzen, heimlichstillen Lager seinem Beispiele gefolgt. Schrieb ich eine geheimnißvolle, magische, magnetische Geschichte, so würd’ ich diesen wunderbaren Mann in eine versteckte Thür gehen, etwas Unerkennbares aus der Tasche nehmen oder sonst einen ähnlichen Spuk treiben lassen, der die Phantasie des Lesers befruchtet und seine Neugier spannt. Aber ich schildere Ereignisse und Menschen, die dem Leben und der Wirklichkeit entnommen sind.

Auf dem Berge Botala, dem Sitze des Dalai Lama, wollten auch am Morgen des folgenden Tages die gewohnten frommen Uebungen unter lautem Gesang und Gebet ihren Anfang nehmen, als der Wächter auf der höchsten Zinne desselben, dem Gipfel Marbori, in der Ferne die sonderbarsten Bewegungen erblickte. Alle Alpenketten, die von der Westseite das Thal von Lassa begränzen, schienen zu schwanken, und ein lang aushaltender, scharfer Blick entdeckte bald, daß unabsehbare Kriegerschaaren von den Bergen herab-132stiegen und die Gegend zwischen dem Fuße des Gebirgs und dem linken Ufer des Flusses Tsang-Tschu überschwemmten. Noch ehe er aber, bleich vor Schrecken, zu den versammelten Vätern hinabgestiegen war, hatte schon des Dalai Lama ältester Bruder, der General der kalmückischen Cavallerie, die Stufen des Palastes zurückgelegt, den Saal mit seiner Botschaft von einem feindlichen Ueberfall erfüllt und die Betenden auseinander gesprengt. Er suchte die Zimmer des Dalai Lama, ungeachtet des scharfen Verbots für Laien, diesem heiligen Orte in den Morgenstunden sich zu nahen.

Maha Guru saß mit gestütztem Haupte in einem kleinen Gemach, wo durch eine Oeffnung die ersten Strahlen der aufsteigenden Morgensonne über den gelben Raum eines alten Buches gesammelt fielen, uralten Geheimnissen nachsinnend, als der General athemlos hereinstürzte und den Frieden dieser stillen Einsamkeit durch seine eiligen Berichte störte. Maha Guru richtete sich still von seinem Buche auf, seufzte und sprach: „Wie können doch Menschen so frevelhaft seyn, und das Glück ihres Lebens verscherzen! Wer sind die Verblendeten, welche sich meinem heiligen Throne mit böser Absicht nahen?“

Der General erklärte, daß er davon noch keine sichere Kenntniß habe, zweifelte aber nicht, daß die schon seit längerer Zeit verbreiteten Gerüchte über die feindseligen Absichten des Teschu-Lama durch diesen Einfall bestätigt seyn könnten. Dann fügte er hinzu, daß er Sorge tra-133gen werde, den Palast des Lama unüberwindlich zu machen. Wenn er, wie er hoffe, den Feind nicht aus offenem Felde schlage, so könnt’ es bei einem Sturme auf die Stadt nur den unglaublichsten Anstrengungen gelingen, eine solche Befestigung, wie er sie der Residenz geben wolle, zu überwinden. Maha Guru erwiderte die ängstliche, hastige Sorgfalt seines Bruders mit einem freundlichen Lächeln, das auf diesen wie ein überirdischer Zauber wirkte. Er warf sich vor ihm nieder und rief mit begeisterter Stimme: „Auf deiner Stirne ist es hell und klar, mein göttlicher Meister; welche Besorgniß dürft’ ich vor der Zukunft haben! Keine Kugel, die wir schießen, wird ihren Mann verfehlen, und unsere Pfeile brauchen wir nicht zu vergiften, weil sie dennoch tödtlich treffen. Du hast gelächelt, und wie werden wir unsere Schwenkungen machen! Welches Manöuvre kann es geben, das uns nicht gelingen müßte? Kein Roß wird beim Sturmlauf sein Eisen am Hufe verlieren, keinem Sattel der Gurt reißen, wir dürfen des glänzendsten Sieges gewiß seyn. Lebe wohl, in Augenblicken dringender Gefahr bin ich in deiner Nähe!“

Mit diesen Worten blieb Maha Guru allein. Er warf einen langen, nachsinnenden Blick durch die Fensteröffnung, in den blauen Himmelsraum, und kehrte dann zu den Geheimnissen seines Buches wieder zurück.

Inzwischen wurden die Zurüstungen zu dem bevorstehenden Kampfe mit der größten Eile betrieben. Der Palast des Dalai Lama bedurfte nur einer zahlreichen 134 Besatzung, um einer vollkommenen Festung zu gleichen. Es waren Schanzen und Gräben hinlänglich vorhanden, welche jetzt mit Bewaffneten gefüllt wurden. Vor die Thore legten sich ungeheure Riegel, andere wurden durch eine Menge Hindernisse verrammelt, die es erst zu besiegen galt, wenn der andringende Feind einen Fuß breit Weges gewinnen wollte. Dazu kam, daß der Gedanke, für den Himmel und die Unsterblichkeit zu kämpfen, selbst eine zagende Seele zum Muth anfeuerte.

In der Stadt, welche mit einiger Entfernung am Fuße der hohen geistlichen Residenz liegt, war die Verwirrung auf einen schon höhern Grad gestiegen. Die mit Pfeil und Bogen, Wurfspießen oder langen Flinten bewaffneten nipalesischen Reiter hatten sich schon in einzelnen Schwärmen den Stadtthoren genähert, und die in der Eile zusammengeraffte Besatzung derselben mit neckenden Plänkeleien gedrängt. Die aufgeschreckte Bevölkerung selbst legte der eiligen Rüstung Hindernisse in den Weg. Die Priester strömten aus ihren Klöstern und regten durch ihre Lamentationen nur die Klage der Bewohner, nicht ihren Entschluß, mit thätiger Hülfe beizuspringen, auf. Doch der energische Eifer, den der General, des Lama’s Bruder, in dem Anordnen der Vertheidigung entwickelte, half auch diesen Unordnungen bald ab. Jedermann erhielt die scharfe Weisung in sein Haus zurückzukehren, und es nur zu verlassen, wenn er bewaffnet unter die Reihen der Krieger treten wolle. Blieb’ er daheim, so müßt’ er sein Haus zu einer Festung umwandeln, alle Kräfte, die 135 ihm zu Gebote ständen, aufbieten, die Diener bewaffnen und an den Eingängen zur Verwahrung des Eintritts aufstellen. Den weiblichen Händen wurde die Zubereitung solcher Materialien anempfohlen, welche bei Belagerungen immer eine der letzten, aber auch der wirksamsten Rollen spielen. Siedendes Oel, Pech und Erdharz erwarteten ihre Opfer. Auf den Höfen wurde das Pflaster aufgerissen, da ein alter Mauerwall zertrümmert, hier ein Brunnen, der kein Wasser mehr geben wollte, abgetragen, und die Steine in großen Haufen auf die Dächer gebracht. Selbst die zahllosen Priester thaten mehr als beten und die Sturmglocke ziehen. Sie verschanzten ihre Klöster, bewaffneten sich und schlossen sich in ihren Rüstungen den Vorbereitungen an, welche allgemein gegen das Wagniß eines Sturms gemacht wurden.

An einigen Punkten der Stadt hatte der Kampf schon seinen Anfang genommen. Mehrere kleine Mauerwälle, welche sich auf der Fläche vor der Stadt befanden, und nicht vertheidigt werden konnten, wenn man die Streitkräfte nicht zersplittern wollte, waren von dem Feinde schon in Besitz genommen und zu Anhaltspunkten weiterer Operationen gemacht worden. Wir würden eine schlechte Meinung von Dicksons strategischen Kenntnissen bekommen, wenn nicht bald einige seiner Kanonen von diesem Hinterhalt aus zu spielen beginnen sollten.

Durch diese Concentration konnten die Truppen des Dalai Lama nur an Energie gewinnen. Sie versam-136melten mehr Kräfte an einem Ort, und richteten durch einen lebhaften Widerstand so viel aus, daß der Feind zu maskirten Bewegungen seine Zuflucht nehmen mußte. Einige Feldstücke, welche ihre mangelhafte Beschaffenheit durch eine gute Position ersetzten, richteten unter den Angreifenden mehr Verwüstung an, als diese mit den ihrigen gegen eine aus Felsstücken gebaute, uralte Mauer. Nur der Verrätherei gelang es, das Gleichgewicht der streitenden Kräfte zu stören, und dem Feinde Vortheile zu verschaffen, welche er durch seine eigene Anstrengung schwerlich errungen hätte.

Tschu-Kiangs Vorhaben war in der That keine Chimäre, mit der er seine Eitelkeit betrog und die Gunst Schü-Kings auf immer an sich fesseln wollte. Die Versprechungen, welche er in der verflossenen Nacht durch einen Boten dem Correspondenten mit der Versicherung seiner übergroßen Freude, ihn nach so langer Trennung wieder in seine Arme zu schließen, gemacht hatte, waren aufrichtig gemeint; er besaß die Mittel, sie in Erfüllung zu setzen.

Den ersten und einflußreichsten Officieren hatte er sein Vertrauen geschenkt, und diese sagten ihren Beistand zu, gelockt durch die Aussicht auf reiche Belohnung, und beruhigt durch die dem Correspondenten anheimfallende Verantwortlichkeit. Der größte Theil der chinesischen Mannschaft ergab sich blind den Anordnungen dieser Befehlshaber.

Wie ungern man einem Gecken Lobsprüche ertheilt, so verdient er sie doch, wenn uns in seinem Betragen 137 plötzlich eine seltene Entschlossenheit, ja sogar in Augenblicken der Gefahr uns seine Tapferkeit überrascht. Der Oberst entwickelte bei dem Ausbruche der heutigen Katastrophe einen so entschiedenen, festen Willen, daß ein Kenner seiner lächerlichen Person an ihm irre werden mochte. Zum ersten Male saß er mit fester Haltung in seinem Sattel, das geckenhafte Wiegen und Ueberneigen beim Reiten war verschwunden; er hatte sein Auge überall, commandirte mit einer mannhaften Stimme, die alles Süße verbannt hatte, kurz wer in seine Plane eingeweiht war, mußte erwarten, daß ihm nichts fehlschlagen würde. Noch ehe Ming-Ta-Lao, der General, von den bedenklichen Unfällen in Kenntniß gesetzt war, und deßhalb seine Befehle austheilen konnte, hatte der Oberst die seinigen schon gegeben. Er rückte in geschlossenen Reihen dem Thore zu, das dem Hauptangriffe des Feindes in der entgegengesetztesten Richtung lag, und das von den Angegriffenen am schwächsten besetzt war. Hier wollte er sich den Durchgang erzwingen und ihn damit zu gleicher Zeit den Feinden öffnen.

So gering aber die Besatzung des bedrohten Thores war, so leistete sie doch dem verrätherischen Unternehmen des Obersten einen kräftigen Widerstand. Tschu-Kiang war darauf gefaßt, den Durchgang erst erkämpfen zu müssen. Er befahl seiner Mannschaft, auf die Wache Feuer zu geben, dann abzusitzen und im Sturmschritt auf die Widerstehenden einzudringen. Diese Manöuvres gelangen nur zum Theil, weil sie an der Tapferkeit der Gegner eine muthige Gegenwehr fanden. 138 Der Lärm des Gefechts zog auch sogleich für die Bedrängten Hülfe herbei, und es gedieh zu einem ernsten, erbitterten Kampfe. Auch für die Chinesen erschien Entsatz; denn zu gleicher Zeit begann der Feind aus der Ferne die Außenwerke des befestigten Thores anzugreifen und sich, von der innern Verwirrung geschützt, demselben auf weniger als Schußweite zu nahen.

Nichts desto weniger brachte den Obersten die zuströmende Unterstützung seiner Gegner bald in eine unvortheilhafte Stellung. Er mußte aufgeben, gegen das Thor zu operiren, und sich auf die Vertheidigung gegen eine erbitterte, wachsende Menge beschränken. Er legte in diesen Augenblicken Proben der seltensten Tapferkeit und Gewandtheit ab, selbst Einsicht in die Taktik verrieth er bald durch eine verdeckte Bewegung, bald durch einen scheinbaren Rückzug. Er würde ohne Zweifel die auf ihn eindringende Uebermacht auch noch länger beschäftigt, und vielleicht gar die inzwischen zugenommenen Fortschritte der äußern Angriffe benutzt haben, wenn nicht endlich eine Scene eingetreten wäre, welche dem fernern Kampf ein Ende machte, und jeden treulosen Chinesen den Säbel in die Scheide stecken hieß.

Ming-Ta-Lao war erst spät mit dem Ereignisse, das ganz Lassa in Bewegung setzte, bekannt geworden. Als er auf den Posten, den zu behaupten seine Pflicht war, treten wollte, sah er, daß ihm der Oberst schon zuvorgekommen war. Er hatte die wenige Mannschaft, welche im Hofe der chinesischen Cavallerie noch zurückgeblieben war, aufgeboten, und kam jetzt nach langem 139 Suchen an den Ort gesprengt, wo sich für ihn der auffallendste Kampf entwickelt hatte. Da bedurfte es keiner langen Nachfrage; er konnte dreist seinen Augen trauen, und verlor über die Rolle, welche er hier den Obersten und seine Leute spielen sah, vor Entrüstung und Schrecken zuerst fast alle Fassung. Doch benutzte er schnell die Pause, welche sein plötzliches Erscheinen veranlaßte, und ritt mit Entschlossenheit unter die Empörer, sie mit seinem Säbel und seinen eben so scharfen Vorwürfen aus einander haltend. „So mögen doch aus den Gräbern Eurer Mütter die Ohren der Esel hervorsehen, mit denen sie neun Monate vor Eurer Geburt Umgang gepflogen!“ rief er mit entrüsteter Stimme den eingeschüchterten Empörern zu. „Wo soll ich einsylbige Wörter genug hernehmen, um Eure nichtswürdigen Unternehmungen in das rechte Licht zu stellen! Seh’ ich nicht, daß dieser Boden von dem rothen, hinterlistig vergossenen Blute Eurer Brüder raucht? O bei dem höchsten Drachen der kaiserlichen Hofburg in Peking! wie durfte mir in alten Tagen noch eine solche Treulosigkeit begegnen. Seh’ ich nicht dort einen Mann an Eurer Spitze, der sonst an meinem Busen alle seine Schmerzen ausweinte und heute sich nicht scheuen würde, auch in mein Blut seinen scharfgeschliffenen Säbel zu tauchen? Werden die Freundschaften so wohlfeil? Trägt man die Schwüre in Körben auf den Markt, und verkauft sie nach dem Tagespreise? Steckt Eure Säbel in die Scheide, daß es einen Klang gibt, als wolltet Ihr die Arie Yang-Keu-Tsa, oder die Arie von 140 der Versöhnung anstimmen! Seit wann gehen die Söhne des himmlischen Sohnes in die Schlacht, ohne das Lied von den zwei feindlichen Brüdern zu singen? Wenn die Hoboen diesen Gesang begleiten, seit wann haben sie aufgehört, in der Begleitung das liebliche und zärtliche Girren der Turteltauben nachzuahmen? Habt Ihr die Stelle vergessen, wo es heißt, wenn zwei Brüder über die Scholle eines Ackers zanken, so geht der Herbst an ihnen vorüber, ohne ihnen Brodkorn für den Winter zu geben? Schämt Euch, Entartete; schließt Eure Reihen, richtet Eure Augen nach meinem Commando, und singt: wo zwei Fürstenbrüder hadern!“

Was war da zu machen? Der General war seinen Leuten mit Mäßigung begegnet; er hatte die den Chinesen angeborne tumultuarische Gesinnung durch keine unzeitigen Drohungen gereizt, und war ihnen von der empfindlichsten Seite beigekommen. Jetzt wandten sie sich mit lautem Geschrei ihrem Oberanführer zu und schwuren in diesen schwierigen Zeitläuften keine Handbreit von seiner Seite zu weichen. Tschu-Kiangs Säbel fuhr zuletzt in die Scheide; er zog sich zurück, und seine starken Entschlüsse waren im Nu verschwunden. Dieselbe Muthlosigkeit, welche ihm immer eigen war, stellte sich bei ihm wieder ein; er hatte nur noch Sinn für seine eigne Person, zog einen Spiegel hervor und fing an, seine durch den Kampf in Verwirrung gerathene Toilette wieder in Ordnung zu bringen. In der Fortsetzung des Gefechts verlieren wir ihn auch ganz aus den Augen.

141 Obgleich für die Belagerer der Plan fehlgeschlagen war, daß ihnen durch den Ausbruch der chinesischen Besatzung der Eintritt in die Stadt ohne weitere Anstrengungen eröffnet werden sollte, so hatte ihnen doch die Episode der innern Verwirrung den besten Vorschub geleistet, und die Fortschritte in der Occupation erleichtert. Sturmleitern waren an der äußern Mauer, trotz aller Versuche der Belagerten, sie umzustürzen, glücklich angebracht, und verschiedenartige rohe Belagerungs-Werkzeuge verrichteten schon ihren zerstörenden Dienst. Nach ansehnlichem Verluste für die Stürmenden kam es endlich zum Handgemenge; mehrere Krieger faßten auf der obern Mauer festen Fuß, und nach einem kurzen Kampfe war das Thor erobert. Dieselben Erfolge traten bald an andern Seiten der Stadt ein. Durch die Straßen währte jedoch Angriff und Vertheidigung immer noch fort, und jeder Schritt, den die Sieger vorwärts thaten, mußte mit blutigen Opfern erkauft werden. Der Fanatismus der Priester feuerte inzwischen sowohl die ermattenden Kräfte an, als er auch selbst an dem schwankenden Kampfe Theil nahm. Sie gaben damit das Signal für die übrige Bevölkerung, und schufen eine Macht, die um so furchtbarer wurde, als selbst für die augenblicklichen Sieger die Nothwendigkeit eingetreten war, sich durch das Nachlassen des anderseitigen Widerstandes von ihren übergroßen Mühen zu erholen. So kamen jetzt beide Parteien wieder in ein bald hieher, bald dorthin schwankendes Gleichgewicht.

142 Nur Einen Kriegerhaufen unter den Angreifenden gab es, der unwiderstehliche Fortschritte machte. Es war derselbe, dessen Ueberlegenheit das erste Thor geöffnet hatte. Dieser Zug schien von einer genauen Kenntniß des Ortes geleitet zu seyn, denn alle seine Richtungen trafen auf Auswege, die nur von Wenigen verlegt wurden, oder selbst von einer Uebermacht nur mit Mühe vertheidigt werden konnten. Er bahnte sich mit augenblicklicher Schnelle den Weg zur Residenz des Dalai Lama. Seine Absicht war nicht schwer zu errathen, und die Kriegerschaaren, welche zum Schutze des Palastes aufgestellt waren, setzten daher Alles daran, sie zu vereiteln. Aber auch hier wurde jede Operation von einer Umsicht geleitet, welche die vollständigste Bekanntschaft mit der Oertlichkeit verrieth. In kurzer Zeit und mit geringen Verlusten hatten diese Krieger eine Seite des Berges Botala gewonnen, die zwar am entlegensten von dem Aufenthalte des Lama lag, aber vielleicht am sichersten zu ihm führte und am wenigsten vertheidigt werden konnte.

Wir werden uns die auffallend glücklichen Fortschritte erklären können, wenn wir wissen, daß Maha Guru’s Bruder, der Schaman, an der Spitze dieses Haufens stand. Der von ihm lange vorbereitete Augenblick war jetzt erschienen. Eine rasche That sollte die Verwickelungen lösen, welche niemals zu befriedigenden Resultaten geführt hätten, wenn ein jeder nur in seinem eignen, ungestörten Kreise geblieben wäre. Es galt durch einen schnellen Entschluß die Schranken zu 143 heben, welche die Wünsche des Einen unerfüllt von den Pflichten des Andern trennten. Ein schwacher Sterblicher hatte hier die Macht, das Loos des Himmels zu werfen. Der Schaman war auf alle Fälle entschlossen, seinen Bruder von einem Throne zu entfernen, den er länger nicht behaupten konnte …

Die wohlgelungene Berechnung aller Oertlichkeiten in der weitläuftigen Residenz des Dalai Lama gab den unerschrockenen Bestürmern derselben einen siegreichen Vorsprung. Ueberall, wohin sie ihr Anführer treten ließ, fanden sie nur geringen Widerstand, weil Niemand an die Vertheidigung versteckter, scheinbar unangreifbarer Punkte gedacht hatte. Sie durchschritten Höfe, wo ihnen einzelne Wachen begegneten, die bei ihrem Anblicke flohen, und eilten durch lange Gemächer, in denen nur ihre eigenen Fußtritte widerhallten. Erst als der Schaman die Gewißheit hatte, daß man sich endlich in der unmittelbarsten Nähe des Dalai Lama befände, trafen sie auf entschiedene Gegenwehr. Auf ihren kühnen Wegen waren sie keineswegs unverfolgt geblieben; die Nachricht von dem unvermutheten Ueberfall hatte sich mit Blitzesschnelle durch die Burg verbreitet, und jetzt sahen sich die Tollkühnen von allen Seiten umringt. Die einzige Hoffnung, welche sie unter diesen Umständen noch haben durften, war der Entsatz der übrigen Belagerer, denen ihre Digression einen freiern Spielraum verschaffte. Bis auf diesen Moment fanden sie noch immer ihre Hülfsmittel in dem 144 eignen Muthe und der aushaltenden Kraft, welche diese auserlesene Schaar vor Allen beseelte.

Aber nicht bloß auf Vertheidigung beschränkten sich die Begleiter des Schamanen, sondern es lagen die siegreichsten Angriffe in den Bewegungen, welche sie fortwährend unter dem Schutz der Localität machten. Sie deckten an verschiedenen Stellen nur die Thür und kämpften, um ihren Rücken frei zu erhalten, bis der Durchgang in ein andres Zimmer mit Gewalt erbrochen war. Ein solcher Rückzug war eine fortlaufende Eroberung.

In diesem Augenblicke krachten aber die Riegel und die Pfosten der letzten zertrümmerten Thür. Wie ein Pfeil schoß eine Zahl Kämpfender in das geöffnete Zimmer, und die Waffen sanken augenblicklich, wie auf einen höhern Befehl. Der Dalai Lama kniete auf dem Fußboden und fütterte mit rührender Sorgfalt ein Paar junge Tauben, das auf seinen Schultern saß. Die bluttriefende Leidenschaft neben der schüchternen Unschuld! Welch’ ergreifender Contrast!

Diese Scene war nicht an der Zeit. Der Schaman verscheuchte sie, raffte seinen Bruder auf, und verlangte, daß er sich ihm zum Schutz ergebe. Aber noch ehe des Gottes fragender, rührender, seelenvoller Blick das Herz des Drängers entzündet hatte, erschallte schon aus dem Hintergrunde die lärmend rufende Stimme des Generals der Kalmücken, keinen Augenblick zu weilen und die Empörer sogleich wieder anzugreifen. Der Kampf begann aufs Neue, der dritte Bruder bahnte sich in die vordere Reihe den Weg und 145 suchte sich Maha Guru’s zu bemächtigen, der von dem Schamanen in den Kreis seiner Begleiter gezogen wurde. Die Begegnung der Brüder störte aufs Neue den Verlauf dieser peinlichen Scene. Das gegen den Schamanen aufgehobene Schwert des Generals sank, als er den leiblichen Bruder in ihm erkannte. Er konnte nicht annehmen, in ihm einen Feind zu finden, und verlangte eine Erklärung über sein Unternehmen.

„Des Allerheiligsten eigener Wille soll entscheiden!“ rief er, nachdem der Schaman sein Verlangen mitgetheilt, und die Uebergabe Maha Guru’s in seine Hände zur Bedingung seines Weichens gemacht hatte. Alles schwieg voll gespannter Erwartung. Und der Gott erhob seine entsagende, getröstete, freudige Stimme und sprach mit einem Ausdruck, welcher selbst die ergriff, die er in diesen Worten verdammte: „Gerecht ist der Priester, der an seinem Altare stirbt. Gerecht sind die, welche als treue Wächter ihrer Pflicht untergehen. Gerecht ist der, welcher in den Schranken der Natur und des Gesetzes bleibt.“

Was bedurfte es weiter, um die Leute des Generals zu dem verzweifeltsten Muthe anzufeuern? Ihre Erbitterung stieg um so höher, als ihnen der Lama entzogen war; denn der Schaman hielt ihn im Hintergrunde unter seinen Mitkämpfern zurück. Die Scenen des ersten Kampfes kehrten alle mit gesteigerter Hitze wieder. Das Zimmer war mit Blutspuren bezeichnet, die sich bald so anhäuften, daß es schwierig war, beim Gefecht auf festem Fuße zu stehen. Der General kämpfte mit 146 einem Löwenmuthe, der selbst den treulosen Schamanen zerrissen hätte, wenn ihm dieser unter seine schonungslose, unnahbare Hand gekommen wäre. Die Angriffe wurden aber mit derselben Hartnäckigkeit erwidert; denn es galt jetzt weniger einen eroberten Preis zu schützen, als das eigne Leben, das von einer wüthenden Uebermacht bedroht war. Die Kämpfer kamen immer dichter auf einander, die Leiber sind fest verschlungen, und ringen um einen Fußbreit Raum, den man erobern mußte, um ihn sicher zu behaupten. Eine Scheidewand von Leichnamen trennt auf einige Momente, wie man ihrer ansichtig wurde, die Mordenden. Aber auch sie wird erstiegen, und desto unwirksamer, je mehr sie anwächs’t. Konnte man glauben, daß eine solche Verwirrung noch höher steigen würde? Aber dieser höchste Grad trat ein und mit ihm eine plötzliche Veränderung der Scene. Der General war plötzlich verschwunden; wer ihn suchte, sah auf den blutigen Leichenhügel, der sich im Zimmer erhob; neue Mannschaft war der ermatteten zu Hülfe gekommen, aber sie fand keinen Feind mehr, da sie sich durch den Rücken der unglücklichen Beschützer dieses heiligen Ortes ihren Weg gebahnt hatte. Die Residenz befand sich in den Händen der siegreichen Eroberer.

Der Schaman hatte sich seine kostbare Beute zu erhalten gewußt. Er eilte, den schüchternen Bruder an der Hand führend, durch die von Kriegern durchstürmten Gänge, bahnte sich den Weg durch einen brennenden Theil der Burg und brachte die bedrohte Person des 147 entthronten Dalai Lama in Sicherheit, ehe sie von der Erbitterung der siegreichen, fanatischen Parteihäupter erreicht werden konnte. Er warf seinem Gefangenen den Mantel des nächsten todten Kriegers, der am Boden lag, über, und zog ihn mit sich durch das Gedränge den Berg Botala in die Ebene hinunter. Welch ein Bild lag vor ihnen ausgebreitet! Mord, Brand und alle Schrecken des wildesten Krieges waren in dieß sonst so friedliche, nur von den Gebeten der Priester und dem Läuten der Glocken widerhallende Thal gezogen. Verheerende Flammen zucken über die zertrümmerten Dächer der Häuser, dunkle Rauchwolken steigen auf und lagern sich an den höchsten Gipfeln der fernen Waldgebirge. Die Hitze, der Wahnsinn eines Thürmers, die zerstörte Lage der Klöster-Dachstühle bringt die zahllosen Glocken der Stadt in Bewegung; die Bewohner fliehen die Thore, welche ihnen keinen Schutz gewährten, und entziehen sich den Gräueln einer Verwüstung, die ihnen Besitz, das Leben geliebter Personen und jede Hoffnung auf Ersatz dieses großen Verlusts entzog. Der Fluß Tsang-Tschu war so roth gefärbt, daß man zweifeln konnte, ob seine Wellen das vergossene Blut mit sich fortführten, oder nur den Widerschein der brennenden Stadt gaben.

Der unerkannte Maha Guru wandelte jetzt zum ersten Male wieder unter den Sterblichen als einer ihres Gleichen. Er, der die ganze Zeit seiner bewußten Jugend in der Abgelegenheit seines ersten vorbereitenden Aufenthalts und seither in den Gärten, auf dem Pa-148muri nur im Gespräch mit der leblosen Natur, mit sich selbst und langweiligen Priestern zugebracht hatte, mußte von diesem heillosen Anblick, den die Verwirrung der Stadt ihm darbot, mächtig ergriffen werden. Die Erscheinungen eilten so stürmisch an ihm vorüber, daß er sich mit ängstlicher Scheu an die Seite seines rüstigen Bruders barg. Auch wenn alle diese neuen Umgebungen von einem friedlichen, heitern Glücke beschattet gewesen wären, würde sich doch in des Jünglings Brust dieselbe beklommene, überraschte, fremdartige Stimmung erzeugt haben. Er hätte mit kindischer Neugier jedem Arbeiter zugesehen, der auf dem Laden seines Fensters Röcke zugeschnitten oder Hüte gerundet. Ihm wär’ es auffallend gewesen, daß eine Magd auf der Handmühle Getreide zermalmte. Von der Zusammensetzung der Straßen würde er sich schwer einen Begriff gemacht haben, nachdem er Zeit seines Lebens von Lassa nur jenen heiligen Weg, der ihn zu seiner Herrlichkeit führte, kennen gelernt hatte. Und auch jetzt unter den Gräueln der Zerstörung traten einzelne Gegenstände heraus, die seine Neugier rege machten. Er bestürmte deßhalb seinen Bruder mit Fragen, und gab sich nicht eher zufrieden, bis dieser ihm Ursprung und Ziel aller dieser Dinge mit kurzen Worten angegeben hatte.

Den Weg, welchen sie beide einschlugen, mußten sie sich oft erst über Leichen bahnen. Maha Guru, der noch vor einigen Augenblicken bei dem Kampf in seiner verlornen Residenz dem Tode so nahe gewesen war, empfand vor diesem Anblick den meisten Widerwillen. 149 Er wandte sich von den blassen, kalten Gesichtern ab. Die Liebe zum Leben, die seiner frühern resignirenden Stimmung fremd gewesen, war mit dem Bewußtseyn menschlicher Empfindungen in seine Seele wieder eingezogen. Er wandte sich seinem Bruder zu, und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Als diese Menschen beim letzten Rufen des Hahns und dem ersten Strahle der Sonne heut ihr Morgengebet an mich richteten, ahnten sie wohl nicht, welchem Verhängniß sie so bald fallen sollten! Du hättest mich nicht dort droben in meiner Ruhe stören sollen, vielleicht wär’ es meinen frommen Gedanken gelungen, das äußerste von allen diesen Opfern entfernt zu halten.“

Der Schaman zog seinen weichherzigen, von seiner Götterschaft noch immer geäfften Bruder mit sich fort, zeigte ihm aber, wie in dem wirren Gewoge und Treiben, das um sie her rausche, noch jeden Augenblick der Tod seine Hand über einen ihm Verfallenen ausstrecke. Und Maha Guru sah mit Schrecken, wie hier die rohen Plünderer mit Unbarmherzigkeit einem Hülflosen begegneten, wie dort ein brennender Balken auf den Armen niederstürzte, der sich kaum aus dem Schutt seines Hauses hervorgerettet hatte. Diese unaufhörlichen Todesscenen in seiner nächsten Nähe brachten Maha Guru zur Verzweiflung. Er wollte sich von seinem Bruder losreißen, um den Unglücklichen zu Hülfe zu eilen, und der Eilende konnte ihn nur mit Mühe von seinen menschenfreundlichen Wagnissen zurückhalten.

Sie näherten sich inzwischen dem Ende der Stadt. 150 Das Kloster der schwarzen Gylongs stand in hellen Flammen. Es schien von allen seinen geistlichen Bewohnern verlassen; denn Niemand ließ sich mit dem Brand im Kampfe begriffen wahrnehmen. Den Schamanen faßte der Gedanke an Gylluspa. Er glaubte sie in Sicherheit, da ihm nichts von ihrer fehlgeschlagenen Reise bekannt war. Er dachte sie sich in den Armen der Päpstin von Palte, geschützt vor jedem Eingriffe in ihre Freiheit. Und doch rang sie in diesem Augenblicke mit dem Tode. Sein Blick hätte sie wahrnehmen können, wie sie verzweiflungsvoll auf einem hohen Fenstervorsprung stand, mit den Armen kämpfend, als wolle sie die erstickenden Flammen abwehren. Der Sinn seines Ohrs war gefangen, und vergebens schlug an ihn der Nothschrei des Entsetzens aus dem theuersten Munde. Wie hell auch die blutigrothen Fackeln ihren Widerschein verbreiteten, er sah nichts von dem weißen Gewande, das aufgelös’t und von der Flamme verzehrt am Winde flatterte und kaum noch den zitternden Leib der Angebeteten verhüllte.

Gylluspa, welche nach dem Ueberfall an den vorigen Ort ihres Unglücks zurückgebracht war, hatte von dem anbrechenden Kampfe nicht früher eine Vorstellung seiner Absicht und seiner Ursachen, als schon die furchtbarsten Folgen desselben auf sie einbrachen. Die Bewohner des Klosters ergriffen die Flucht, und die Verwirrung, zu welcher sich noch die Schrecken des Brands gesellten, trennte sie bald von ihren Vätern. Sie durchirrte hülflos die unermeßlichen Räume der geist-151lichen Wohnung, überall verlegte ihr die um sich leckende Flamme den Weg. Sie sank erschöpft von ihren vergeblichen Versuchen, einen Ausgang zu finden, nieder, und schrack wieder auf, wenn sie auf verbrannte und erstickte Körper gefallen war. Das Gebälk stürzte über ihr zusammen, einem Wunder verdankte sie ihre Rettung, und doch bedurfte sie in demselben Momente eines zweiten Wunders, um einer neuen Gefahr zu entrinnen. Endlich schien sie einen Ausweg gefunden zu haben, eine Stiege war noch unversehrt, sie betrat sie und kam immer höher. Da stand sie jetzt auf einem der höchsten Orte des Klosters, sie hatte geglaubt, überall sey Rettung, wo die Flamme den Weg nicht hin gefunden. Zu ihren Füßen lagen glühend und rauchend die Trümmer der niedrigern Vorsprünge des unregelmäßigen Gebäudes. Sollte sie den schauderhaften Sprung wagen, der sie in die sengenden Arme eines Vulcans brachte? Jetzt schwand ihr jede Hoffnung, sie stieß mit der letzten Anstrengung einen verzweiflungsvollen Schrei um Rettung aus, und sank bewußtlos zusammen.

Es ist eine alte Geschichte, die in Romanen schon hundertmal vorgekommen ist, und die ich hier nur nacherzähle, weil ich in meinem Falle etwas Wahres berichte. Gylluspa wurde gerettet. Wir lachen, wenn uns die Dichter einen Brand schildern, ein flatterndes Gewand, einen Schrei, einen Jüngling, eine Blitzesschnelle, ein Stürmen durch brennende, fallende Balken, ein Ach der zuschauenden Menge, ein plötzliches Wiedererscheinen 152 nach langem Verschwinden, die errungene Beute, und mit einem fürchterlichen Krachen einen Augenblick nach vollbrachter That das Zusammenstürzen des Gebäudes. Aber wir haben Grund dazu. Wir leben in civilisirten Ländern, und müssen unsre monatlichen Abgaben an die Commune zahlen, um Löscheimer, Wasserspritzen, Feuerleitern in gutem Zustande zu erhalten. Nur da darf die Poesie die Rettungsanstalten übersehen, wo sie nicht existiren. In Tibet ist man auf so entsetzliche Vorkommnisse mit nichts, mit gar nichts versehen; dort können Hunderte in einem Brande ersticken, und eben so viel auf eine poetische Weise davon gerettet werden. Dort kann eine löbliche Feuerpolizei mit der Dichtkunst in keinen Streit gerathen.

Gylluspa’s Retter war aber weder der Schaman, noch ein anderer als Maha Guru. Er hatte sich unerschrocken durch das lodernde Feuer seinen Weg gebahnt. Die lange Gewöhnung an seine Herrschaft über die Elemente benahm ihm jede Rücksicht auf die zerstörende Gewalt. Feuer, Wasser, Luft und Erde schwammen bei ihm noch immer in Eins zusammen, und schienen ihm Kräfte, die von einem Winke seiner Hand in Ohnmacht sänken.

Der Geretteten geschwundene Lebensgeister kehrten wieder zurück. Welch ein Wiedersehen! Der Schaman wollte seinen Sinnen nicht trauen, weil er den Zusammenhang dieser Begebenheit nicht fassen konnte. Maha Guru aber schloß Gylluspa mit zärtlicher Inbrunst in seine Arme und schüttelte mit den versengten 153 Fetzen seiner Kleider auch die Vergangenheit von sich. Er hatte sich mit dieser That den Eintritt in die Reihen der Menschen erkauft, und stolz auf seinen Gewinn schritt er mit den beiden theuersten Wesen, die er besaß, durch die verworrenen Haufen den Bergen zu, welche ihnen für den ersten Moment einige Rast und für die Zukunft ungestörte Sicherheit gewähren sollten.

154 Sechstes Capitel.#

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Das Welt-Ei blieb in seinem Bestand ein Jahr,

und berstete dann in zwei Hälften auseinander.

Die eine Hälfte wurde der Himmel, die andre

die Erde.

Oupnekhat.

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In Lassa herrschte jetzt eine neue Ordnung der Dinge. Der Sieg des Teschu-Lama war entschieden, und die Unbequemlichkeiten, welche sich für ihn noch ergeben konnten, hinderten ihn nicht, von dem Throne seiner Eroberung vollständigen Besitz zu ergreifen. Das plötzliche Verschwinden des Dalai Lama bewies allem Volk, daß ein böser, unmächtiger Geist bisher an dem Ruder der Welt gesessen habe, der, vor der Uebermacht eines Höheren entflohen, niemals wagen würde, durch einen Angriff diesen herauszufordern. Der neue Himmel umschlang die alte Erde wie eine längst verlobte und jetzt erworbene Braut.

Man kennt die Maßregeln, welche Usurpatoren nach dem Sturze legitimer Dynastien ergreifen. Sind die neuen Herrscher ohne Leidenschaft, und verfahren sie nach den Eingebungen ihrer Klugheit, so adoptiren sie die frühern Einrichtungen, wenn sich die Völker dabei wohl befunden haben. Das ist eine Gerechtigkeit, die 155 ihnen wohlfeil zu stehen kömmt. Dhii-Kummuz zählte in allen seinen Proclamationen jene Institutionen auf, die ihnen durch die Wohlthat seines und ihres Herrn auch ferner verbleiben sollten. Dazu gehörte vor allen Dingen die Luft und das Wasser, die Scholle Landes, auf welcher Jedermann seine Wohnung erbaut hatte, die gesunden Gliedmaßen, welche die Natur schenkte, Frau und Kind, der Brunnen und die Linde im Hofe, die Nachtigall, welche nächtlich unter dieser singt; die Vergangenheit, die Erinnerung und alle die Sprüche, welche sich Einer auswendig gelernt hatte. Diese Einrichtungen wurden mit keiner Hand angetastet. Eben so wenig die tägliche Einfuhr des Getreides und Gemüses in die Stadt; die Befugniß, das Gras zu mähen, wenn es einen Fuß hoch gewachsen; die Benutzung des Flusses Tsang-Tschu, um die Pferde in die Schwemme zu führen; ja selbst an der alten tibetanischen Sitte, das Schöpsenfleisch an der Luft zu trocknen und mürbe zu machen, wurde nichts verändert. Alle Welt frohlockte über die neue Herrschaft, welche ihren Anfang mit so milden Thaten bezeichnete, und nannte in Gebeten, Briefen und öffentlichen Reden den Teschu-Lama ihren wahren und alleinigen Gott, Regierer und Erhalter.

Schwieriger mußte es der neuen Dynastie fallen, sich das Vertrauen der Priesterschaft zu erwerben. Nicht, als wäre nicht die Thatsache längst erwiesen, daß die Diener Gottes auch immer die bereitwilligsten Diener seiner Stellvertreter sind, sondern es handelte [156] sich hier um die Anhänger zweier verschiedenen Lehr-Meinungen, von denen die bisher verketzerte den Sieg davon getragen hatte. Aber daß auch hierin sich nicht Mittel und Wege finden sollten, um allen Inconvenienzen vorzubeugen, beweis’t die Erfahrung der Geschichte und der glückliche Erfolg, den eine Clausel des Besitz-Ergreifungs-Patentes nach sich zog. Dhii-Kummuz sagte hier nämlich, daß so wie die Freiheit der Person von der neuen Regierung garantirt sey, eben so auch die Religionsübung in jedes Willkür überlassen bleibe. Man erwarte allerdings, daß Niemand seinen Bauch oder die Nase eines Andern vergöttere; daß man jedem ausländischen Religionswerber gebührlich antworten, und sich namentlich sowohl vor einem verderblichen Mischcultus als vor Aufklärerei, Deismus und Neologie hüten werde; sonst solle jedoch Jeder in der Meinung, welche seit Jahrhunderten im Lande gesetzlich tolerirt werde, ungekränkt bleiben. Der neue Lama erschuf sich zwar mit dieser Verfügung eine Gegenpartei in seiner eignen Umgebung. Denn die Gelbmützen hatten bestimmt darauf gerechnet, mit dem Siege ihres Lama auch den Untergang der Rothquäste entschieden zu sehen. Aber Dhii-Kummuz sagte deßhalb in einer vertraulichen Unterredung: „Der Staat besteht aus widerstrebenden Interessen, und die Kunst des Regierens verstehen heißt, sie gegen einander ausgleichen. Ich sehe ein, daß unter den Gelbmützen seit dem ersten Tage unserer glorreichen Regierung die Gesichter immer bösere Mienen machen, aber warum sollten wir sie fürchten, 157 da wir in den Rothquästen eine Macht gewonnen haben, welche jenen das Widerspiel hält? Das Geheimniß unserer künftigen Existenz liegt darin, alle Mittel, welche uns zu Gebote stehen, zur rechten Zeit zu benutzen.“

Dickson, der bei der Belagerung mit seinen halben und vernagelten Kanonen Wunder gewirkt hatte, erhielt zur Belohnung seiner treuen und einträglichen Dienste die Stelle des Oberdeibuns oder des General-Feldmarschalls sämmtlicher Truppen von Tibet. Die Artillerie, sowohl in ihrer theoretischen Begründung als praktischen Anwendung, blieb dabei immer sein Steckenpferd. Er suchte sie auf jede Art zu vervollkommnen; und obschon ihm nicht mehr Geschütze zu Gebote standen als bisher (die Chinesen wollten ihm papierne verkaufen, diese konnt’ er aber nicht brauchen), so gab er doch diesen eine Vollendung, die jede Möglichkeit hinter sich ließ. Ja der Anblick einer nicht unbeträchtlichen Ebene, wie sie Lassa umgibt, verführte ihn auch zur Ausführung der längst aufgegebenen Lieblingsidee, eine reitende Artillerie herzustellen. Er entzog der Fuß-Artillerie die beiden vernagelten Zwölfpfünder, und bemannte sie mit Cavallerie. Ohne Zweifel kamen auf diesem Wege jene Geschütze ihrer ursprünglichen Bestimmung wieder näher. Denn statt daß sie früher im Treffen nur den ruhigen, gefahrdrohenden Anblick in der Ferne gewährten, und durch ihre Regungslosigkeit, die sich ja jeden Augenblick furchtbar hätte entladen können, den Feind mit Schrecken erfüllten, so ließen sie sich jetzt wie rasselnde Eisendrachen bewegen, und muß-158ten unter die Reihen der Feinde Furcht und Verwirrung bringen. Dickson hat sich um seine Waffe in Mittel-Asien große Verdienste erworben.

Auch die Verhältnisse des Dalai Lama zu China wurden aufs Neue geregelt. Obschon seine Verpflichtungen gegen den Sohn des Himmels dieselben blieben, welche Maha Guru hatte erfüllen müssen, so wollte es doch der Zufall, daß gerade jetzt, zu gleicher Zeit mit den in Tibet vorgefallenen Veränderungen, die alten Repräsentanten der chinesischen Macht am Hofe von Lassa abberufen wurden, um durch neue ersetzt zu werden. Den Correspondenten gab das Grab nicht wieder heraus, aber den Uebrigen lag nichts Eiligeres ob, als dem Rufe ihres Herrn Folge zu leisten. Vielleicht wurden sie ja zu neuen und größern Ehren berufen; warum sollten sie ihre Schritte nicht beflügeln?

Vielleicht war der Oberst Tschu-Kiang der einzige Chinese, der die Verlängerung des Aufenthalts zu Lassa gewünscht hätte. An welchem andern Orte hätt’ er bequemer auf seinen Lorbeeren ruhen können? Er hielt sich nicht mit Unrecht für den Begründer der neuen Dynastie; er wußte, daß der Sieg des Teschu-Lama nur die Folge seiner Tapferkeit war, und dieser Fürst war dankbar genug, den Dienst, welchen ihm der Oberst durch sein zwar mißlungenes, aber doch nicht unnützes Unternehmen geleistet hatte, fortwährend anzuerkennen. Von Stund an hatte sein Stolz auch keine Gränzen mehr. Der Himmel hing ihm zu niedrig, weil er stets fürchtete, mit dem Kopf an ihm anzustoßen. Früher konnte 159 man ihm seine Größe streitig machen, und er war daher zänkisch, ungenießbar, launenhaft; jetzt kam Alles darin überein, daß er niemals von sich zu wenig gesagt hatte, und seitdem war seine Miene stets ein freundliches Lächeln, eine gefällige, nicht einmal beleidigende Wohlgewogenheit. Diese tröstliche Umänderung fand aber nur für Lassa statt, wo Niemanden an seiner wahrhaften Größe Zweifel aufstiegen; auswärts mußte er wieder seiner Thaten eigner Herold werden.

Eben so früh wurde die Heldenlaufbahn unterbrochen, welche Schü-King in Leitung öffentlicher Angelegenheiten begonnen hatte. Während der Belagerung und des Sturmes hatte sie Sorge, sich mit ihrem Hause vor Angriffen sicher zu stellen. Tschu-Kiang verließ sie in der Verwirrung nicht, sondern theilte eben so die Gefahren als das Trübsal der Nachricht, welche sie jetzt über das Ableben des Correspondenten erhielten. Die nähern Umstände dieses Ereignisses blieben ihnen immer verborgen.

Jetzt erst gab Schü-King den dringenden Anträgen des Obersten ernstliches Gehör. Sie äußerte zwar, man wisse nicht, was ihrer im himmlischen Reiche erwarte, ihr Geliebter könne seinen Gehalt verlieren; doch berief sich dieser auf seine Tante in Wampu, auf die einträglichen Geschäfte, welche sie in Ochsen mache, und ihre stete Bereitwilligkeit, ihm unter die Arme zu greifen. Schü-King gab sich zufrieden, und von diesem Augenblick an haben niemals Liebende in friedlicherem und zärtlicherem Verhältnisse gelebt. Nur 160 einmal vor der Abreise trübte sich noch der Himmel dieses Glücks. Es entstund nämlich die Frage, was mit den fünfzehn von ihrem Ehegemahl verlassenen Weibern des Harems zu beginnen sey? Der Oberst, ohne den Eindruck seiner Worte zu berechnen, fuhr mit der kurzen Erklärung heraus, daß er schon lange daran gedacht hätte, diese ganze Sippschaft an seine linke Seite zu nehmen, und sie in einige kleine Bevorrechtungen einzusetzen. Es war der letzte Backenstreich, den er als Bräutigam von Schü-King für diese unüberlegten Reden empfing. Er hielt sich die brennende Wange und erwiderte kleinlaut, daß er so nachdrücklichen Wünschen augenblicklich Gehör geben wolle. Schü-King knüpfte an die strafende Bewegung ihrer Hand einen langen Discurs über die jetzt in China einreißende Sitte der Kebsweiber, über gewisse Dinge, die ihr künftiger Mann niemals aus den Augen setzen dürfe, die sie streng ahnden werde, die er sich niemals solle einfallen lassen, die sie nun und nimmermehr zugeben werde. Der Oberst suchte sie zu beruhigen, er versprach Alles, was in seinen Kräften stände, und hatte so sehr den Muth verloren, daß er seine strenge Gebieterin nicht einmal zu fragen wagte, was sie denn mit den dreimal fünf verlassenen Geschöpfen zu beginnen gedenke? Schü-King gab ihm aber aus eigenem Antriebe die Erklärung, daß sich in China Auswege genug finden würden, schöner, munterer und unterrichteter Mädchen ledig zu werden.

Es war an einem frischen kühlen Morgen des Spätherbstes, als aus Lassa eine lange, unabsehbare Reise-161Karawane zog. Sämmtliche Chinesen machten ihrer demnächst eintreffenden Ablösung Platz. Die einfache Ordnung des Zuges bestand darin, daß das Militär rings den übrigen aus Weibern, Kindern und Civilbeamten bestehenden Troß umgab. Schü-King mit ihren Weibern wurde getragen; ihre Begleiterinnen mußten sich verschleiern, weil Tschu-Kiang häufig an den Palankin seiner Braut heranritt. Aber die meisten dieser Frauen hatten keine Augen für ihre Umgebung, sie trugen ihre Gedanken weit in die heimathliche Ferne, träumten von Wiedersehn und schönern Tagen. Yeg-Jeg sprach leise mit ihrem graduirten Doctor, die Schauspielerin mit ihrem Ober-Tribunalsrath, eine Jede mit Jedem, der ihrem Herzen nahe stand.

Der Rand der Gebirgskette, welche das schöne Thal von Lassa umschließt, ist erreicht. Noch einen Blick für die reißenden Wellen des wilden Tsang-Tschu, für die vergoldeten Kuppeln der heiligen Gottesstadt, für die hohen Obelisken auf dem Berge Botala, und nun lebet wohl! Mögen sich die Berge vor Euern Tritten ebnen und die Wellen des gelben Flusses bald in Euern Augen spiegeln! Dürftet Ihr alle daheim in der Blume des Weltalls, so Ihr Männer seyd, Sommerhüte von Blättern, in den Ohren Edelsteine, und flatternde Enden an Eurem Gürtel tragen, und so Ihr Frauen, Euch schmücken können mit krausen Scorpionen-Locken, mit schönen Namen, die für gute Symbole gelten, und mit grünen Obergewändern, welche Frühlingsfeier und reiche Lust des Herzens bedeuten! 162 Wenn Ihr Euch dem Kaiser nahet, so woll’ er seinen Ring vom Finger ziehen, und ihn Euch anstecken, woll’ er Euch eine Pfauenfeder an den Hut heften, und silberne Troddeln geben, um sie an Eure Oberkleider zu hängen! Harrt Eurer daheim eine Braut, so mag sie nicht gealtert haben, sondern noch immer ihr Wuchs schwellen wie ein Baum, von dem Gewande seiner Blätter umrauscht; ihrer Wangen Haut sey ein geronnener Rahm, ihres Mundes Lächeln ein Frühlingstag, der sich mit Duft umziehet; ihre Augenbrauen seyen dunkle Schmetterlinge und die Zähne feuchte Kürbis-Kerne, und die Nägel an ihren Fingern Rosenblätter. Hattet Ihr Arbeiten zu einem Examen eingegeben, so mögen die Prüfungscommissionen sie inzwischen gebilligt und Eure Fähigkeiten den Oberbehörden empfohlen haben. Hinterließet Ihr Schulden, so wünscht die uneigennützige Muse, daß Eure Vettern sie unterdessen bezahlt haben mögen. Wer sein Weib zu der Zeit verließ, als der vorjährige Weizen gesäet wurde, mag es mit keinem Säugling an der Brust wiederfinden, und wer seinen Brüdern den Auftrag gab, die Zinsen eines Capitals zu erheben, mag so viel Treue an ihnen finden, daß sie die Zinsen zum Capital schlugen! Die Vögel Lu-See ziehen dem Mittelpunkte der Erde zu, und lassen sich in der Ferne auf den Teichen nieder. Ein Zug von Gästen naht sich mit geschwungenen kaiserlichen Fahnen, welche hoch das Drachenbild emporhalten. Schmücket die Thore aller Städte zu ihrem Empfange, lasset bunte Wimpeln von den Altanen wehen, und spannt durch-163sichtige kühle Flore aus, um die Strahlen der Sonne zu wehren! Und wenn sie Euch verlassen haben, so sendet ihnen nicht Haß und Widerwillen nach, sondern ein schmerzliches Bedauern, daß sie so früh von Euch geschieden sind!

Wir aber folgen jetzt den drei flüchtigen Wesen, deren ferneres Schicksal hinfort unsre Aufmerksamkeit allein in Anspruch nehmen wird.

Maha Guru hatte Mühe, sich in eine Welt zu finden, welche ihm seit Jahren verschlossen war. Alles beschäftigte seine Aufmerksamkeit, und selbst bei dem kleinsten Gegenstande kostete ihm das Wiedererkennen eine Anstrengung; die Erscheinungen der Natur und des Lebens waren nur durch die Vermittlung mündlicher oder schriftlicher Belehrung vor seine Seele getreten, sie hatten für ihn nie eine andre Wahrheit gehabt, als die, welche sie der Sprache der Gleichnisse, Sentenzen und der Energie geben.

Der Eindruck, welchen dieser Zustand auf des jungen Mannes Gefährten machte, mußte wunderbar, selbst unheimlich seyn. Es war noch der ganze Duft einer fernen Welt, der den Entthronten umwob. Wenn er auf dem beschleunigten Wege, den so kurz als möglich zu nehmen die Nothwendigkeit gebot, ermattet niedersank, und sein schwärmerischer, wehmüthiger Blick auf einen Stein oder eine Pflanze zu seiner Seite fiel und mit langer, traumartiger Bewußtlosigkeit auf diesem Gegenstande ruhen blieb; so beugten sich unwillkürlich die Kniee des Schamanen und Gylluspa’s, und 164 beide betrachteten stumm den mährchenhaften Knaben, dessen Anblick uns zu Thränen gerührt hätte, sie aber noch immer zu stillem Gebete begeisterte. Dann richtete sich der Ermattete wieder auf, umarmte die treuen Seelen, die ihn mit unbeschreiblicher Inbrunst liebten, und winkte, den beschwerlichen Weg wieder fortzusetzen.

Es gibt unzählige Menschen, welche nur wie Träume über den Erscheinungen der Alltäglichkeit schweben. Ihr seyd in einer Gesellschaft, Euer Mund strömt in zügellosen Ergüssen über, Eure Laune entzückt Jeden, der am Leben seine Lust findet; und doch war vielleicht ein Wesen unter Euern Zuhörern, in dessen Seele jedes Eurer beklatschten Worte tiefe Furchen zog, das vor den Ausbrüchen des jubelnden Beifalls zusammenschreckte, und sich sehnte, einen Ausgang aus diesen menschlichen, erlaubten, und den Reiz des Lebens erhöhenden Genüssen zu finden. Diese stillen Herzen weichen Euch auf der Straße aus, wenn Ihr einmal länger als eine halbe Secunde gelacht habt, und danken Euch in ihrer Angst früher, ehe Ihr noch gegrüßt habt. Ihr verlangt einen Dienst von ihnen? Seyd gewiß, daß sie Euch schon jede Bitte gewährt haben, ehe Ihr sie noch vorbrachtet. Sollte sie die Angst zu dieser Bereitwilligkeit treiben? Nein, sie fürchten nur Eure Leidenschaft, sie wollen keinen Schmerz in Euch erregen, sie wollen nicht, daß Ihr in die Menschheit ungerechte Zweifel setzt. Kennt Ihr diese treuen Menschen? Ihr trefft sie in großen Städten da, wo sich die Straßen in Gärten verlieren, wohin der Bewohner der mittlern Stadt 165 jährlich einmal pilgert, um die Königin der Nacht bei einem Gärtner blühen zu sehen; nicht selten in der Nähe eines Dichters, eines Geistlichen, eines alten Sonderlings, der sich mit seinen Renten und seiner Haushälterin gegen die Welt abgeschlossen hat. In Euern Familien ist es vielleicht der ältere Bruder Eurer Mutter, an dem Ihr in Eurer Jugend mit zärtlicher Hingebung hinget; dessen Weisheit Euch mit edlen Vorsätzen erfüllte; an dem Ihr niemals bemerktet, daß auf seinem Rocke sich die Fäden zählen ließen; daß seine Wäsche nicht rein war, wenn die Mutter nicht dafür sorgte; daß sich für seine morgende Zukunft erst am heutigen Abend entschied, wo er bei den Verwandten in der Runde essen sollte; an dem Ihr dieß Alles nicht bemerktet, weil Ihr ihn niemals klagen, nie ein Thräne vergießen sahet. Oder es ist gar Eure jüngste Schwester, diese Unglückliche, die mit dem Tode ringend in die Welt trat; die im sechsten Jahre erst sprechen, und im achten laufen lernte, weil sie im Rücken eine natürliche Last, die nicht leicht ist, zu tragen hat, und die keinen einzigen körperlichen Reiz besitzt, als ein seelenvolles, himmelblaues Auge und das schönste hellblonde Seidenhaar. Sie folgte Euern Jahren nach, ihr großes Herz erweiterte sich, und das Maß ihrer Liebe zu Euch nimmt immer noch zu. Jeden Eurer Wünsche lies’t sie von Euern Augen, sie liebt Alles, woran Eure Seele hängt, sie umarmt den Freund, mit welchem Ihr für Eure Ideale schwärmt, und ließe das Leben für jenes Mädchen, dem Ihr Euer 166 Herz geschenkt habt. Kennt Ihr nun jene Menschen, die ich zeichnen wollte? Dieß sind die Seelen, welche niemals auf der Erde heimisch werden, und sich aus dem Himmel nur in diese Räume verflogen zu haben scheinen.

Ich muß aber noch höher steigen; von den Stufen, wo die Engel stehen, zu jenen Thronen, auf welchen die Weltenschöpfer sitzen. Thürmen wir den Pelion auf den Ossa, rufen wir die Titanen zum Streit, vielleicht gelingt es uns, unbemerkt hinter der Draperie des Weltenthrones heranzuschleichen, und einen Nagel aus dem Sessel zu ziehen, auf welchem die Allmächtigen lagern! Triumph! Der Schöpfer der vier Elemente stürzt hinunter; in einem Nu hat er mitten im civilisirten Europa Fuß gefaßt. Der Gott verliert den Muth nicht. Denn er weiß, daß er Feuer, Wasser, Erde und Luft geschaffen hat. Wird ihn nichts in Verlegenheit bringen? Ja, er wird seine eignen Werke nicht wieder erkennen. Die Gränzen, welche er zwischen die Elemente setzte, hat der Mensch längst aufgehoben. Chemismus, Gasentwicklung, Dämpfe! Was versteht der Himmel von diesen Dingen? Einen Feuerzeug wird der verirrte Gott mit kindischer Neugier betrachten, eine Compressionsflinte muß ihn in Erstaunen versetzen.

Ich lasse diesem Gott der Elemente die übrigen folgen. Die drei Naturreiche, die menschlichen Tugenden, die großen Entschlüsse, die ehrlichen Nahrungszweige, die Kunst, die Wissenschaft, den Handel – alle himmlischen Anwälte dieser Gegenstände werden von der Art, wie sie sie hienieden antreffen, über-167rascht seyn. Die ausgestorbenen Thiergeschlechter mit der Veredlungskunde, mit dem Dünger und der Rhinoplastik; die Bestimmungen der Sitte über das Ehrbare und die Vermehrung der anständigen Gewohnheiten; die Berechnungen des Ehrgeizes und der Durst der Völker nach großen Ereignissen, den sie selbst auf Kosten ihrer Freiheit befriedigt wissen wollen; die mannichfachen Verzweigungen menschlicher Thätigkeit, welche der Luxus und das steigende Bedürfniß veranlaßt haben, mit der Kunst des Unthätigseyns und der Verzweiflung der Proletarier; die Rouladen der Sontag, die altdeutschen Kopfsenkungen und die Ghaselen nebst der G-Saite, der Lithographie und der Kunst Gedichte durch den Würfel zu machen; die Rotation der Erdachse und die griechischen Partikeln nebst der Göttinger Bibliothek und dem Meßkatalog, endlich im Handel die Giro-Banken, die Anleihen nebst dem Papiergelde, dem Credit und den Wechselreitern – das Alles sind die Erfindungen, welche dem Menschen eigenthümlich gehören, und an denen die Götter erst dann Antheil haben, wenn sie sich darin unterrichten lassen. Wie unglücklich müßten sie also seyn, wenn sie sich durch einen Zufall unter die Menschen verliefen!

Maha Guru war in so fern ein antiker Gott, als ihn die Liebe zu einer Irdischen zwar nicht von seinem Throne getrieben, diese Leidenschaft ihn aber unter die Menschen begleitete. Gylluspa lehrte ihn die Vergangenheit entbehren. Sie selbst hatte für die Ver-168gangenheit das Gedächtniß verloren. Die Vorwürfe, welche sie in den finstern Stunden ihrer langen Kerkernächte dem eher Ohnmächtigen als Treulosen machte, waren verstummt in ihrem Munde. Sie hätte sie Dem jetzt machen müssen, der ihr das Leben rettete, dessen Wiederfinden die ganze Gluth ihrer alten Leidenschaft von Neuem anfachte. Maha Guru’s sanfte Rede, sein langer Blick auf die Reize Gylluspa’s, sein Lauschen auf den Ausdruck ihrer Miene und die zärtliche Hingebung, mit der der Ermattete zuweilen seine treuen Gefährten umarmte, waren ihr hinlängliche Zeugnisse, daß die Versicherungen der Liebe, welche sie einst von Maha Guru unter dem Mangobaum empfangen hatte, in selige Erfüllung gehen würden.

Die Entfernung von Lassa war eine Flucht, die in jedem Augenblicke hätte mißlingen und mit dem Tode des entthronten Lama enden können. Bei jedem andern Lama hätte der Usurpator darauf rechnen können, daß der Entflohene im Gebirge einen Anhang aufwiegeln und mit starker Macht auf dem Schauplatze wieder erscheinen werde. Alle Maßregeln, die er ergriff, waren auch auf Verhütung eines solchen Ereignisses gerichtet. Selbst wenn er wußte, daß sich Maha Guru mit seinem Verluste begnügte, und zu wenig Energie besaß, um mit eigner Hand sich den alten Besitz oder Rache zu verschaffen, so konnte er leicht von den Unzufriedenen als Vorwand benutzt werden, und im Verein mit dem Fanatismus anders lehrender Priester, die in Religionsangelegenheiten leicht erregbare Masse 169 des Volks in Bewegung bringen. Deßhalb folgten dem Flüchtling auf allen Wegen die Diener des neuen Lama; ein hoher Preis wurde auf sein Leben gesetzt, und die Behörden in den umliegenden Oertern überall aufgefordert, allen Fleiß auf die Entdeckung des verschwundenen Lügengottes zu wenden.

Die Flüchtigen hatten durch die Entweichung von Lassa, welche sie mitten in den verworrenen Scenen der Plünderung und Zerstörung bewerkstelligt hatten, einen guten Vorsprung gewonnen. Die Vorsicht des Schamanen führte sie über die schwierigsten, unwegsamsten, aber auch die sichersten Pfade. Die Richtung blieb nach Süden hingerichtet, wo er im Lande Butan eine Freistadt für den Verfolgten, dessen Loos er zu dem seinen machte, zu finden hoffte. Butan ist zwar eine Provinz von Tibet, aber von dem Schauplatze der vergangenen Begebenheiten hinreichend entfernt.

Was läßt sich von dem Seelenzustande, in welchem sich der Schaman befinden mußte, sagen? Wir haben uns wohl gehütet, diesen Mann als einen scharfen, entschiedenen, Alles nur mit Plan und Absicht beginnenden Charakter hinzustellen, weil uns ein solcher unter den hier obwaltenden Verhältnissen unmöglich schien. Man zieht seine Vorurtheile nicht so schnell aus, wie seine Kleider, und wird in die Gewöhnung der Sitte zehnmal wieder zurückfallen, wenn man es einmal wagte, sich von ihr zu entfernen. Zu Allem, was die Schicksale der drei Fliehenden zusammen gewürfelt hatte, gab der Schaman aus eignem Willen Einiges hinzu, 170 aber er selbst wäre nie im Stande gewesen, sich auf die Höhe dieser Erlebnisse zu stellen und sie nach seiner Einsicht zu lenken. Deßhalb mußten ihn die Erfolge eben so sehr ergreifen, als hätt’ er sie nie voraussehen können.

Darin lag aber auch zu gleicher Zeit eine große Beruhigung für seine erschütterte Seele. Er hatte nicht selbst Hand ans Werk gelegt, als noch für ihn die entschiedene Katastrophe keine Seite bot, die er zu Maha Guru’s eignem Besten benutzen konnte. Erst da, als ihm die Möglichkeit ward, das Glück zweier Menschen durch das kurze Unglück eines dritten zu begründen, und durch jenes dieß wieder zu entfernen; da begann er jene Plane zu beschleunigen, deren Erfolg jetzt der flüchtige Fuß dieser drei Wesen war. Seine letzte Thätigkeit war zuletzt auch immer nur darauf gerichtet, dem Verderben seine bösen Ausgänge zu nehmen oder ihnen mit Klugheit vorzubeugen. War in der That sein an dem Bruder begangenes Verbrechen mehr, als die unterlassene Mittheilung einer gemachten Entdeckung? Mit dieser Verschwiegenheit fiel oder stand sein Plan, den er, wenn auch nicht für redlich, doch für gut ersonnen hielt.

Wenn es aber dennoch keine Gränze gibt, wo das Unerlaubte durch die gute Absicht gerechtfertigt wird, so trat die Liebe jetzt als die Vermittlerin der Reue mit dem Verbrechen auf. Lag in Maha Guru’s zufriedener Hingebung an sein Schicksal nicht die schönste Beruhigung für jeden Vorwurf des Gewissens? Ja es trat zuletzt eine Stunde ein, da Frohlocken und jubelnde Freude in die Kleeblattherzen der Liebenden einzog. 171 Maha Guru feierte mit verklärtem Auge seine irdische Wiedergeburt; er fühlte das Glück, an Herzen zu ruhen, wo jeder Pulsschlag sich ihm zum Opfer brachte; er stimmte einen Triumphgesang an, daß die lebensfrohen Wonnen des Menschen die todten Entbehrungen des Gottes in ihm besiegt hatten, und umarmte seinen Bruder, der ihn aus der Heimlichkeit eines unverständlichen, ihm dunklen und erschlaffenden Daseyns in das volle, freie, das Herz erhebende Leben der Menschen gerettet habe. Seit diesem Augenblicke schwanden die trüben Wolken von des Schamanen Stirn.

Nach einer mühevollen Wanderung, die mehrere Tage nicht unterbrochen wurde, immer weiter entfernt von den Oertern, wo die Verfolgung mit scharfen Augen und weit reichenden Armen ihre Opfer suchte, erreichten die Flüchtlinge endlich ein Asyl, das der Schaman mit Sorgfalt gewählt und zur Herberge lange vorher schon eingerichtet hatte. Es war mitten in den unersteiglichsten Gebirgen ein abgeschiedenes, stilles und durch seine Freundlichkeit gegen die schroffen Umgebungen abstechendes Thal, von Niemanden bewohnt, und nur in weiterer Entfernung von stillen, friedlichen Nachbarn umgeben. Zwar konnte hier keine üppige Vegetation gedeihen, aber sie war lebhaft genug, um zu einer Ansiedlung zu reizen. Eine geräumige Wohnung lehnte sich an die grüne Bergwand, und war von einer Umzäunung umgeben, welche noch einen wohlangebauten Pflanzengarten umschloß. Die klare Welle eines Stromes, der sich aus dem Waldgestrüpp hervordrängte, 172 wo ihm ein Fels vielleicht seinen Ursprung gab, floß mit erquickendem Rauschen durch die Einfriedigung und verlor sich am andern Ende des Thales hinter dem schroffsten Gestein, das in dieser Umgebung sich dem Auge darbot. Einer so lieblichen Einsamkeit hätte jeder Verfolgte seine Zukunft mit Freuden anvertraut, wäre die Liebe und Freundschaft auch nicht seine Begleiterin gewesen.

Das Thal war nicht so unbewohnt, als es schien. Mancherlei Hausgethier bewegte sich in dem innern Hofraum, und einige Diener eilten den Ankommenden entgegen. Alles war hier zu wohnlicher Häuslichkeit eingerichtet. Gylluspa und der Schaman flüsterten stille Gebete, als sie die Schwelle des Hauses betraten, und Maha Guru, dem das Beten noch eine unbekannte Verrichtung war, sah ihrer Andacht mit Wohlgefallen zu.

Die nächst eintretenden Scenen brauchen wir nur mit einigen Worten zu erwähnen. Wenn wir die Sitten Tibets nicht vergessen haben und die Bedürfnisse liebender Herzen kennen, so wissen wir, welche sonderbare Hochzeit jetzt in diesem Hause gefeiert wird. Zum Lauschen an der Brautkammer wird kein Raum seyn, da abwechselnd das Schlüsselloch von einem der beiden Brüder in Besitz genommen ist. Erst als das Heraus- und Hineingehen ein Ende hatte, würden wir an die Thür heranschleichen dürfen, aber nichts mehr sehen und vernehmen, als den tief athmenden Schlaf dreier in seliger Umarmung Verschlungener.

Erwachet ihr Lieben, zur Erfüllung der schönen Träume, die über Eurem lächelnden Antlitze schweben!

173 Letztes Capitel.#

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Alle Opfer sind vergänglich.

Das Unvergängliche aber ist die Sylbe Om.

Menu.

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Seit den schönen Stunden, mit welchen der vorige Abschnitt schloß, liegt eine lange Reihe von Jahren hinter uns. Die Castanien, welche damals von den vergelbenden Bäumen fielen, sind selbst schon zu fruchttragenden Stämmen erstarkt. Der Winterfrost hat inzwischen manche Bergspitze zu mürbem Schiefer zerrieben. Der Landmann kann sich seither aus Hagelwettern, großen Ueberschwemmungen, schweren Gewittern von Jahr zu Jahr seine Haltpunkte der Zeit gemacht haben. Wer damals gegen seine Eltern sich verging, kann jetzt an seinen eignen Kindern schon vergolten seyn. Die Unsterblichkeit eines Weisen, dessen Prophezeyungen nicht zutrafen, ist indessen vielleicht schon vernichtet, der Haß zweier alter Geschlechter erstorben, das Auge einer klagenden Wittwe oder einer Braut, die am Tage vor der Hochzeit den Bräutigam verlor, von Thränen getrocknet.

Vor der Hütte im friedlichen Thale, wohin wir einst drei treue Gefährten geleiteten, sitzt eine hohe männliche Gestalt auf dem einen abgehauenen Stamme 174 einer zwiegespaltenen Ulme. Das grüne Laubdach hält die Strahlen der Sonne von einem Haupte zurück, auf welchem Furchen und bleichendes Haar die Vorboten des nahen Greisenalters sind. Wie hell das große Auge glänzt, so ist es doch nicht mehr das blitzende Feuer der Jugend, sondern die Sehnsucht, welche in dem blauen Raume des Himmels einen vermißten Gegenstand sucht. Dieser Sterbliche ist Maha Guru.

Zu des Mannes Rechten steht ein Sessel, aber er ist leer; zu seinen Füßen liegt ein bunter Teppich, aber Niemand ruht auf ihm. Er wendet sich um, und wirft einen fragenden Blick in die umrankten Fenster der einsamen Wohnung, aber keine Antwort von denen, an welche sich jahrelang sein Ohr und seine Seele gewöhnt hat. Die Zimmer im innern Hause stehen öde und verlassen. Der Luftzug weht die Vorhänge auf, welche die Kammern trennen, aber das Auge trifft nichts als stille wehmuthsvolle Einsamkeit. An den Wänden hängen Bogen und Köcher, von Spinnen umwoben; und auf bunten, schönen Feiertagskleidern hat sich zerfressender Staub gelagert.

Maha Guru war allein. Seine treuen Gesellen hatten ihre Wohnung im Schoße der Erde aufgeschlagen. Den Bruder ereilte das Geschick schon vor langen Jahren. Er genoß das Glück des idyllischen Zusammenlebens mit dem einsamen Schauer der Natur und den Liebesdiensten der Freundschaft nur eine kurze Zeit. Der erste Frühling, welcher das Thal begrüßte, 175 rief ihn von der Seite der Liebe hinweg, der er nichts hinterließ, als das schmerzhaft brechende Auge eines schwer Scheidenden, und auf immer eine wehmüthige, sehnsuchtswache Erinnerung.

Ein gütiger Gott waltete über dem Haupte Gylluspa’s. Ihre Entschlüsse waren stärker, als die Maha Guru’s; sie besaß Kraft genug, gegen seine oft überhand nehmende Traurigkeit in stetem Kampf zu liegen. Sie wagte oft den Gedanken zu fassen, ob nicht die Rückkehr unter Menschen, welche eifriger, thätiger, lärmender wären, als die demüthigen Umwohner, welche sie oft im Thale besuchten, und sich von ihrer Weisheit Rathschläge erholten, auf Maha Guru leben- und freudenerregender wirken sollte. Sie dachte dabei an ihre Väter, die glücklich aus dem Brande von Lassa entkommen, in die Heimath zurückgekehrt und an ihre alten Beschäftigungen gegangen waren. Aber Maha Guru verwarf diese Plane, weniger, weil ihre Ausführung mit Gefahr verbunden war, als aus mangelnder Gewöhnung an das rauschende Treiben des täglichen Lebens. Die ganze Richtung seines Schicksals mußte darauf hinauskommen, daß er das Höchste in einem beschaulichen Zustande seiner Seele fand. In diesen geistlichen Uebungen und Gesprächen mit sich selbst würd’ er gestört worden seyn, hätt’ er die geräuschlose Einsamkeit dieser Gebirgsgegend verlassen.

Ehe Maha Guru das Auge zur ewigen Ruhe schloß, mußte er noch Gylluspa das ihre zudrücken. Wie wir den greisen Mann auf dem Baumstamme vor seiner 176 Wohnung erblicken, hatte er noch vor wenigen Tagen erst diesen schmerzlichen Abschied genommen. Noch lag der Raum seit jenem Augenblicke, da er die todte Hülle in ein Grab trug und mit einem ewigen Felsenriegel verschloß, wie eine lange finstre Nacht um seine Sinne. Er fühlte, wie schwer die Träume waren, die über ihn walteten, aber er besaß die Kraft nicht, sich von ihnen aufzuraffen, das Nächste, Zeitliche, Lebendige zu ergreifen und sich über einen Verlust zu trösten, der unwiderruflich war. Wie wir ihn dort unter jener Ulme erblicken, so wird ihn noch manche junge Sonne grüßen, ihn zum Leben erwecken wollen, und keinen Blick in seinem Auge finden, der ein heller Widerschein ihrer Frische und Klarheit wäre.

Doch allmählich rangen sich in seinem Innern aus der Nacht des Schmerzes einige Gedankenatome zum Lichte des Bewußtseyns empor. Es ward heller in seiner Seele, und die Vergangenheit und Zukunft schieden sich in schärferen Zügen von einander. Die Hieroglyphen in dem Buche seines Lebens waren ihm kein Geheimniß mehr; er hatte den Schlüssel seines räthselhaften Daseyns gefunden, und ein Entschluß sprang in vollem jugendlichem Muthe aus den unklaren Wirren seines Hauptes hervor.

Jeder Gedanke hat sein Ziel, und je reiner er ist, desto höher liegt es. Jede Sphäre, in welche sich die Seele aufschwingt, hat eine Hinterpforte, die zu einer erhabneren führt. An einen Kaufvertrag reiht sich die Gewissenhaftigkeit, an diese die Ehrlichkeit, an sie die 177 innere Gerechtigkeit, an die Gerechtigkeit mittelbar oder unmittelbar alle Tugenden, die ihren Besitzer nicht nur der Menschen, sondern auch der Götter würdig machen. So bilden sich die Uebergänge aus dem Gewöhnlichen in eine höhere Ordnung der Dinge. Die Luft wird, je mehr man steigt, immer reiner und durchsichtiger, und die Seele fühlt sich dem Himmel verwandt.

Dieß ist der schwierigste Weg zur Tugend. Dem, der ihn wandelt, bleibt dabei Jedes überlassen, nur der richtige Tact und sein guter Wille bieten sich ihm zum Führer an. Jeder Gang über die belebte Gasse, jede Visitenkarte, die an unserm Spiegel steckt, jedes kleinste Ereigniß des alltäglichen Lebens ist ein Hinderniß, das uns in einem Augenblicke zahllose Stufen tiefer abwärts verlocken kann. Nichts bleibt so schwierig, als die Beziehung des Zufälligen auf das Wesentliche, als die Ausgleichung der Regel mit ihren scheinbaren Ausnahmen. Und dennoch haben die civilisirten Völker diesen Weg zur Tugend eingeschlagen. Die Eindrücke, welche die Außenwelt auf sie macht, sind mannichfach und unabweisbar. Man kann nicht alle Dinge allein um der Tugend willen thun; wir müssen uns darauf beschränken, daß die Dinge nicht ohne die Tugend gethan werden. Es ist sehr schwer, in Europa ein redliches Herz zu haben, aber wenn man es hat, so ist damit ein großes Verdienst und ein großes Glück verbunden. Soll der Tugendhafte dem Leben entsagen? Soll er die Freude an glücklichen Unternehmungen, 178 an siegreichen Anstrengungen wie Farbenstaub von seinem Daseyn streifen? In Europa ist die Resignation niemals eine Tugend gewesen.

Die geistlichen Völker in dem Aufgange der Sonne haben eine andere Lebensgewohnheit. Ihre Beschäftigung ist eine angeborne Ueberlieferung, keine Verwickelung; ein Privilegium, das die Natur ausstellte, und weder überschritten, noch von Andern gefährdet werden darf. Ja, eine große Classe von Menschen hat nicht nur das Recht der Arbeitslosigkeit, sondern auch eine fortwährende Anweisung auf den Ertrag der fremden Hände. Hier läßt sich aus der Tugend ein Geschäft machen. Man kann ein ganzes Leben auf die Fortschritte in der Sittenreinheit wenden, und jeden Aderschlag zu einem unmittelbaren Gottesdienste machen. Jeder gute Vorsatz reicht schon hin, den himmlischen Lohn dafür zu empfangen, weil man sich keinen Klippen aussetzt, an denen er scheitern könnte. Der asiatische Priester lehrt: richte jeden deiner Gedanken in gerader Linie auf die Gottheit, und wache darüber, daß dich nichts darin unterbreche! Hier ist der Weg zum Himmel kurz; aber er wird unendlich, weil man jeden Zoll auf ihm mißt, und zu jeder zurückgelegten Linie die Frist eines Jahres bedarf.

Maha Guru’s erstes und zweites Leben trug alle Elemente zur Beschaulichkeit in sich. Die Einsamkeit nährte jenen Hang an den Geheimnissen des Himmels, denen man sich nur durch Intuition weihen kann, wenn Kraft und Gelegenheit mangeln, ihre Räthsel 179 durch die Wechsel des Lebens zu lösen. Maha Guru stand jetzt als Mensch so allein, wie er’s einst als Gott. Der Kreislauf seines Lebens schien vollendet; von wo er ausgegangen, was hielt ihn noch zurück, dahin wieder zurückzukehren? Das Leben ist der Traum einer jenseitigen Vergangenheit, welchem uns die Geburt entriß und der Tod wieder zurückgibt. Die Gottheit drückte einst bei dem ersten Eintritt in diese Welt einen Kuß auf unsre Stirn, und ihre Arme bleiben liebend ausgebreitet, bis wir, den Himmel ahnend, in sie zurückkehren.

Zum letzten Male rief Maha Guru seine Diener zusammen. Er sagte jedem ein Wort der Erbauung, und denen, welche weinten, ein Wort des Trostes. Er nahm Abschied von allen theuern Gegenständen, welche ihm seine Wohnung zu dem liebsten Heiligthume gemacht hatten; selbst die Thiere, welche an seine freundliche Stimme gewöhnt waren, erhielten von seiner streichelnden Hand die letzten Liebkosungen. Er warf einen Mantel um seinen Leib, nahm einen Stab in die schwache Hand und trat aus dem Raume, der lange Jahre hindurch der Tempel seines Glückes und die Kammer seiner Gebete und stillen Gedanken gewesen war. Sein Fuß wandte sich der höchsten Bergspitze zu, die in der Umgebung des Thales lag.

Der Diener, welcher seinen Herrn bis auf den Gipfel des nächsten erstiegenen Berges begleitet hatte, erhielt jetzt von diesem die letzten Befehle. Er solle 180 wöchentlich zweimal zu dem heraufkommen, der nie wieder hinabsteigen werde, und ihm Nahrung für die irdische Hülle bringen, die jetzt den letzten Kampf mit dem Geiste beginnen werde. Maha Guru fügte noch einige Grüße an die Zurückgebliebenen hinzu, und sein Mund war auf ewig geschlossen.

Als der Diener von der Höhe des Berges verschwunden war, erstaunen wir über jede Bewegung, welche Maha Guru jetzt den Gliedern seines Körpers gibt. Das Auge unverwandt nach jenem Punkte hingerichtet, wo mit jedem erwachenden Morgen die ersten Sonnenstrahlen aufblitzen, bleibt er fest auf dem höchsten Scheitel der Bergspitze stehen. Er hebt den linken Fuß und schlingt ihn um den rechten. Er richtet den rechten Arm in die Höhe und läßt den linken in gerader Linie bis in die Hüfte herabsinken. Die Finger beider Hände ballt er fest zusammen. Alle Theile seines Körpers nehmen augenblicklich eine starre krampfhafte Unbeweglichkeit an. Das Augenlied senkt sich halb über den Stern, der Blick richtet sich ab von Allem, was er bis jetzt noch gesehen, und hat seinen Sinn nur noch für die Nase, einen Gegenstand, den man ohne Zerstreuung betrachten kann. Die einzige Lebhaftigkeit, die in diesen unverwandten Blicken liegt, ist das schielende Wechselspiel, wie bald der linke, bald der rechte Nasenflügel von dem ermatteten Auge wahrgenommen wird.

Und so steht der Andächtige vielleicht noch auf jenes Berges Gipfel. Jahre, Hitze, Frost, Sturm und 181 Regen sind über ihm weggezogen, haben seinen Scheitel entblößt, die Haut seines Körpers zur Mumie zusammen geschrumpft. Er steht noch immer auf dem einen Fuße, und würde auch den andern nie wieder auf den Boden herabbringen können. Schlingpflanzen haben seinen Leib wie einen Baum umrankt. Waldbienen legen in der Oeffnung zwischen dem stehenden und gehobenen Beine ihren Stock an, und der Vogel baut sein Nest in der traulichen Höhlung unter dem rechten Arm, der nie mehr herabsinken wird, um die junge Brut, die unter ihm zum Leben keimt, zu ersticken. Nur in dem Munde liegt noch eine schwache Bewegung und das Auge verräth, daß das innere warme Leben noch nicht ausgehaucht ist. Jener nimmt die Nahrungsmittel auf, welche die andächtigen Verehrer des Bergheiligen in der Runde, die ihn wie eine schon im Himmel lebende Erscheinung anbeten, zuweilen hinein stecken. Das Auge aber labt sich noch immer an dem monotonen Anblick des tiefsinnigsten Körpergliedes, der Nase.

In der That bindet Maha Guru auch nur noch ein leises Athmen an die Erde. Die Seele schwebt schon längst den Weg zur Unsterblichkeit bald hinauf, bald wieder zurück in ihren irdischen Sitz, der, so lange er noch nicht zusammengestürzt, ein ewiges Recht auf sie hat. Die Götter sitzen in dem Glanze ihrer Herrlichkeiten und winken lächelnd dem Greise, der sie in seiner Jugend auf Erden vertreten hatte. Ein Stuhl der Allmacht steht schon lange bereitet und wartet des end-182lich entfesselten Geistes. Alle Genien des Himmels sind schon in ihren weißen Festkleidern und tragen Palmen auf den Händen und streuen tausend Seligkeiten auf den Weg, den der Gefeierte wandeln soll. Nur eines letzten Athemzuges bedarf es noch, und der Himmel hat einen seiner ersten Fürsten wieder.

Apparat#

Der Apparat des zweiten Teils ist identisch mit dem des ersten Teils und dort einzusehen.