Der Tages-Cours unserer Classiker#

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Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.1
Letzte Bearbeitung
13.02.2020
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1 Der Tages-Cours unserer Classiker.#

Man würde die nachfolgenden Bemerkungen sehr mißverstehen, wollte man sie für eine Kritik des ewigen und über die Stimmungen der Zeit erhabenen Gehaltes unserer großen National-Dichter nehmen. Der gegenwärtige Actienstand unserer classischen Papiere, wie er in nachfolgenden Andeutungen bezeichnet werden soll, schließt nicht aus, daß es Menschen gibt, die nur lesen, was dreißig Jahre alt ist, nur anerkennen, was Göthe geschrieben hat, nur in dem Zeitalter unserer Literatur sich heimisch fühlen, welches man das goldene nennt. Nur nach allgemeiner Durchschnitts-Berechnung soll hier ein Versuch gemacht werden, anzugeben, wie sich ein Theil unserer großen Literatur-Heroen von früher zur Gegenwart verhält, nach einer Berechnung, die, wenn sie einem oder dem andern derselben minder günstig sich ergäbe, weniger diesem, als der Gegenwart zur Last fallen möchte. Indessen, betrachten wir einmal heute unsere Classiker wie Staatseffecten (die Börse regiert ja unser Jahrhundert) und notiren ihren Werth ganz nach der üblichen Tages-Terminologie: flau, nicht begehrt, stark begehrt, wenig Nachfrage u. s. w. Wenigstens leben wir nicht mehr in einer Zeit, wo man sagen kann, daß der Werth der Schriften mit dem Staube, der auf ihnen liegt, zunimmt.

Göthe, der Altmeister, wie billig, geht voran. Der Altmeister, sage ich, als wenn wir 1828 schrieben. Vor fünfzehn Jahren hieß Göthe der „Altmeister“, auch wohl der „Alte“, auch „Vater“ Göthe. Die Jugend von 1834 verlor sich mit großer Begeisterung in den Jüngling Göthe; dadurch verlor der „Vater“ Göthe viele von seinen bewundernden Kindern. Der Vater Göthe, der Altmeister Göthe, der Alte schlechthin, diese Würden stehen nicht mehr im gotha’schen genealogischen Taschenkalender unserer Literatur. Der Cultus, vor zehn Jahren noch überschwänglich, hat in der That etwas abgenommen. Friedrich Förster in Berlin besingt jetzt Schelling. Der Geburtstag Schelling’s, schrieb kürzlich ein Berliner nach Augsburg in die „Allg. Ztg.“, ist an die Stelle des Geburtstages von Göthe getreten. Wie im gestiefelten Kater Böttiger jemanden haben mußte, den er selbst mit dem Knebel im Munde „lo- lo- lo- loben“ konnte, so müssen die Berliner immer ein öffentliches Standbild haben, das sie „be- be- be- besingen“ können. Seit Jahren bemühen sich einige Menschen in Berlin, große Dinge durch Uebertreibungen lächerlich zu machen. Die jährlich sich wiederholenden Erinnerungsfeste mit ihren immer gleichen Toasten, ihren immer gleichen Liedern, ihren immer gleichen, zum Ueberdruß abgeleierten Reminiscenzen, die Göthe-Hegel-Schellinggeburtstage, das alles war und ist der Nation schon so langweilig geworden, daß dadurch den gefeierten Gegenständen selbst nur Schaden erwächst. Käme doch ein Aristophanes über diese Tischgesellschafts-Enthusiasten und verwandelte sie alle in Frösche! Göthe’n haben Förster’s Toaste positiven Schaden gebracht, sie machten an jedem 28. August ihm und der Nation Kopfschmerzen; ja, wie man wohl im Scherze wettet, wer am tapfersten trinken könne, so setzten die berliner Enthusiasten Preise aus, wer Göthe’n am stärksten loben könnte! Und diesen Preis hat nicht einmal immer Hofrath Förster gewonnen. Man kann sich also denken, welch ungeheuer starke Dosen Lob der unglückliche Göthe selbst noch im Tode verschlucken mußte.

Göthe’s wahrer Ruhm konnte nur gewinnen, als man die Narrheit an seinem Piedestal nicht mehr knieen sah. Seine Verdienste standen sich besser dabei, als sie anfingen, weniger angebetet als analysirt zu werden. Göthe wurde studirt, nachgeahmt. Man hat unsinnig überschwengliche, aber auch gediegene und aufklärende Commentare zu seinen Werken geschrieben. Noch vor fünf bis sechs Jahren schrieb man eben so viel über Göthe, wie man jetzt oder noch vor Kurzem über Schiller schrieb. Nun scheint es aber einzuhalten. Das Publicum kommt mir vor wie von Göthe recht gründlich gesättigt. Die Unsterblichkeit seiner dichterischen Größe steht fest, die Frankfurter geben ihm eine Bildsäule*), im Uebrigen aber empfindet man nur zu schmerzlich, daß sich der ganze geistige Kampf der Gegenwart an ihn nicht lehnen kann, daß er zwar auf der einen Seite durch und durch in jenem höchst liberalen Geiste gedichtet und gelebt hat, den Bettina in ihrem letzten Werke die Frau Rath predigen und lehren läßt, er auf der andern aber, in der Anwendung dieses Geistes auf das Bestehende, eine bis zur Indifferenz gehende kühle Weltklugkeit besaß. Nach einer Uebersättigung, zu der auch der buchhändlerische Verkehr das Seinige redlich beigetragen hat, ist jetzt ein diätetisches Regime eingetreten. Für die Mehrzahl der Nation concentrirt sich Göthe’s Größe im „Faust“.

Ueber Schiller ist die höhere Kritik erst seit Kurzem klarer geworden. Zur Zeit der förster’schen Toaste, als noch Schelling nicht ihr Gegenstand war, zur Zeit, als man in Berlin Preise aussetzte, wer Göthe’n am stärksten loben könnte, hatten die vornehmen Kunstrichter für den armen Schiller nur karge Almosen von Anerkennung, die Bewunderung nur in Scheidemünze. Tieck, wenn ihn in Dresden durchreisende naive Damen, die noch für Ideale schwärmten, ersuchten, er möchte ihnen etwas von Schiller vorlesen, lehnte es mit vornehmem Lächeln ab, indem er hinzufügte: „Schiller ist ein Dichter ohne Charakteristik.“ Und in der That, Schiller’s dramatische Charaktere bieten dem Vorleser nicht viel Gelegenheit, Charaktere so reden zu lassen, als wenn sie sich räusperten, oder so, als wenn sie husteten, Charaktere mit Stockschnupfen, Charaktere mit Stottern; kurz, der in der Charakteristik Effectsuchende Vorleser oder Schauspieler wird sich höchstens nur mit Kabale und Liebe befreunden können. Schiller wurde von der romantischen Schule nicht anerkannt, und das war nicht gut für ihn. Die romantische Schule beherrschte damals die Kritik, die 2 Literarhistorie, eben so, wie sie jetzt die Kirche, die Philosophie und die Politik beherrscht. Schiller hielt sich nur durch die untern und mittleren Schichten des Volks, durch die Jugend, durch die Schule, durch die Stammbücher, die Nähtische, die Weihnachtsabende, die dramatischen Lesegesellschaften, durch das Volk ohne die Kritik, ohne die Journale, ohne die Katheder und Lehrbücher. Erst als man zu der Erkenntniß kam, daß über alle Theorie in der Kunst positive Schöpferkraft und dichterische Persönlichkeit den Sieg davon trage, als man fühlte, daß unsere strebende öffentliche Bewegung mit der schönen Leidenschaft des schiller’schen Genius in gleichem Tacte pulsirte, erst da setzte auch die vornehme ästhetische Skepsis, nippend und kostend, den Schillerbecher an den Mund, und siehe da! das Volksgetränk mundete! Für verwöhnte Gaumen soll einfache gesunde Naturkost die größte Delicatesse sein. Schiller fand in Hoffmeister einen gelehrten Erklärer, der Buchhandel that das Uebrige. Die Schillerpapiere sind hoch im Preise gestiegen. Als wenn man den abgeschiedenen edlen Geist für lange Sprödigkeit und Strenge entschädigen wollte, widmete sich ihm jetzt das ganze Herz, selbst der Exclusiveren. Schilleralbum, Schillerstatue, Schillerfeste, Vorlesungen über Schiller. Wenn man droben auch irdische Unsterblichkeit empfinden kann, muß der große Todte selig herniederblicken auf so viel Huldigung und Liebe.

Eine Prüfung dieses in der Zeit und ihrem eigenthümlichen Leben und Weben begründeten Enthusiasmus soll an diese Thatsache kein altkluges Aber hängen. In dieser Verbindung wenigstens nicht. Wie ist es mit Lessing? Er wird viel citirt, weniger gelesen. Seine ihm in Braunschweig zu errichtende Statue ist wegen Mangels an thatkräftiger Unterstützung, wenn nicht ganz ins Stocken gerathen, doch an ihrer Vollendung sehr behindert. Der bekannte deutsche Bettelsack, der für unsere großen Männer und Ideen an Hütten und Palästen vorüber muß, hat sich für den geistreichen, geschmackvollen und gesinnungsfreien Lessing nicht füllen wollen. Im Namen der ihm so tief verpflichteten Juden hätte Rothschild allein schon das Denkmal decken sollen. Lessing’s letzte Ausgabe seiner Schriften hat sich nicht ganz verwerthet, Emilia Galotti ist kürzlich von einem hamburger Recensenten für ein frostiges Verstandes-Product erklärt worden! Was soll man sagen? Es gibt Geister, die wirken wie jener unsichtbar verwehte Same mancher Bäume, von denen Ableger und Sprößlinge aufwachsen in entlegensten Gegenden, wohin den Samen nur der Wind geführt haben kann. Unsere ganze Literatur ist von Lessing voll, sein Geist hat alle Richtungen des Witzes, Scharfsinnes und der Phantasie geschwängert; alles, was auf dem Gebiet der freien Forschung mit alten Vorurtheilen kämpfen mußte, that es mit Lessing’s Waffen. Wir denken mit Lessing, ohne es zu wissen, denken mit ihm, ohne ihm zu danken. Er ist ein geistiges Einmaleins selbst bei denen geworden, die sich nicht mehr die Mühe geben, ihn zu lesen. Wenn irgend Einer, so verdiente gerade ein solcher schon zum Begriff verflüchtigter Geist die Verkörperung und dauernde Fixirung durch ein Denkmal; gerade Lessing war größer, als seine Werke. Schwing dich doch auf, du träger Nationalgeist!

Man könnte dasselbe auch von Herder sagen, hätte Herder nicht zu viel geschrieben. Er verwässerte seine Ideen durch eine maßlose Production, die auch jetzt schon vergebens sich noch nach Anerkennung umsieht. Auch Herder gehört zu den befruchtenden Geistern, die über ihre Schriften hinaus gewirkt haben und deren Schriften nicht ganz ihrem Ruhme gleichkommen. Wie Lessing sich in der philologischen Welt am unmittelbarsten und frischesten erhalten hat, so Herder in der theologischen. Noch mancher junge Student geht Sonntags ins grüne Holz hinaus und wirft sich in den Rasen, nicht mit den Mystères de Paris, sondern mit Herder’s „Ideen“. Es wäre auch entsetzlich, wenn diese Poesie aufhörte und sich neben dem rasselnden Eisenbahnlärm der tagesüblichen Debatten nicht noch der entlegen stille Cultus jener Geister erhielte, die einst unsere ganze Seele gefangen nahmen!

Den Wieland aber nimmt wohl kein Student mehr ins grüne Holz. Gesinnungslos bei großem Verstande, weltklug bei besserer Einsicht, Nachahmer und indiscreter Benutzer fremder Muster, hat sich der Ruf, den ihm die Weimaraner aus Rücksicht auf die Herzogin Amalie abtraten, überlebt. Ging Göthe zwei Schritte vorwärts, so mußte auch Wieland wenigstens einen vorwärts, das brachte die Etiquette des weimar’schen poetischen Hofes mit sich. Es hätte sonst zu vielen Lärm, zu viel Anfeindung des aufstrebenden Günstlings der Zeit, der Musen und des Herzogs gegeben. Göthe mußte seine Bewunderer bitten: Bewundern Sie mich ums Himmels willen nicht allein, sondern auch Herder und Wieland mit mir, sonst macht man mir das Leben sauer!

Die große Mehrzahl unserer „Classiker“ lebt nur noch anthologisch fort. Jene Unzahl von Mustersammlungen (jeder Lehrer trägt sich fast eine zusammen und läßt sie drucken), von Blumenlesen, Belegen und Beweisstellen zur Literaturgeschichte hat dem Namen der Dichter selbst Vortheil, ihren Werken Nachtheil gebracht. Wer, der nicht gerade aus der Literaturgeschichte ein Studium macht, kennt von Uz, Rammler, Kleist, Gleim, Göckingk, Pfeffel, selbst von den genialeren wie Klinger, Lenz, Maler Müller u. s. w. mehr, als was er in jenen Beispielsammlungen lies’t? Klopstock’s dichterische Eigenthümlichkeiten wird man nach dem Unterricht der Lehrbücher und den Beispielen in den Mustersammlungen richtig angeben können, seine Werke selbst aber, wer lies’t sie noch? Da 1806 schon ein göttinger Professor dieselbe Bemerkung gemacht hat, so kann sie wohl ein Feuilletonist von 1844, ohne den Vorwurf der Impietät auf sich zu laden, gutes Muthes wiederholen.

Jean Paul sprach einst die Schwärmerei einer ganzen Epoche aus. Er war in einem kleineren Kreise, was J. J. Rousseau in einem größeren. Jünglinge von höherer Bildung und edle Frauen lebten in der phantastischen Welt, die er mit sittenreinen Charakteren zu bevölkern wußte, in einem Gemüths-Arkadien, in einem gelobten Lande von Liebe, Freundschaft und Unsterblichkeit, das er nicht nur wie Moses von fern zeigte, sondern auch erobern half wie Aaron. Jean Paul erhielt ein Standbild, und die Leihbibliothecare klagen über den Staub, der auf seinen zahlreichen Werken liegt. Doch gewiß gibt es noch Jünglinge, die sich für ihre Bildung einen eigenen Weg bahnen und die auch das Jean-Paul-Stadium, obgleich es nicht mehr Mode ist, noch zurücklegen, ganz für sich, ganz in der Stille eines kleinen Hinterstübchens auf einem Hofe, oder an sonntäglichen Vormittagen in freier Natur. Gewiß, es gibt noch Seelen, die den Genuß auch in der Lecture sich durch Arbeit verdienen wollen und die es begreifen, 3 daß man bei Jean Paul nicht nur lacht und weint, sondern auch lernt. Er ist schwer zu lesen, man kann ihn nur in einzelnen Dosen genießen, aber wie stärkt jedes Capitel, wie voll, wie berauscht, wie gekräftigt scheidet man von jedem Abschnitt! Man muß das Buch niederlegen und Alles im Geiste noch einmal sich vorführen, noch einmal genießen und sich’s ordnen und zurechtlegen; und welche Anregung zu den entferntesten Gedankenreihen! Consensuel ist der ganze Mensch in uns aufgeregt. Sollte das nicht mehr bei Euch sein, Ihr Jüngeren? Sollte Jean Paul nur noch für unsere so genannten neuern „Humoristen“ da sein, die sich aus diesem vergrabenen Schatze heimlich ihre Bilder und Gleichnisse entlehnen, um ein Jean-Paul-Goldkörnlein zu bettelarmem Goldschaum zu verkochen?

Die Franzosen, die in der Erkenntniß unserer Literatur gerade bis zu Jean Paul und Hoffmann, als zu unserm „jungen Deutschland“, vorgeschritten sind, übersetzen Jean Paul, und E. T. A. Hoffmann ist jenseit des Rheines gelesener als noch bei uns. Novalis lebt in einem engeren Kreise, aber dort auch mit wahrhafter Liebe gepflegt, fort, im Kreise der frommen Gemüther, die nicht recht wissen, ob sie sich an Herrenhut oder Rom halten sollen, jener Gemüther, welche man sonst die Stillen im Lande nannte, die es aber jetzt keinesweges mehr sind, auf gewissen Gebieten sogar eher die Ueberlauten. An Heinrich von Kleist, den Dichter des Käthchens von Heilbronn, schließen sich weniger die Neigungen des Publicums an, als hier und da einige dichterische Bestrebungen im Kreise der Producirenden. Das Dämmernde, Mondsüchtelnde und Magnetische von Kleist abgezogen, bleibt noch ein so großer Reichthum von poetischer Unmittelbarkeit und urkräftiger Anschauung übrig, daß die jüngere Production noch viel von diesem zu früh geschiedenen Geiste lernen kann.

Von Tieck dagegen kann man keine gleichen Nachwirkungen rühmen. Immer mehr stellt sich bei diesem an sich reich begabten Geiste heraus, daß er nur Formensinn besaß und in der Offenbarung eines Inhaltes sich über die gewöhnlichste conversationelle Sphäre nicht erheben konnte. Tieck war seiner innersten Natur nach Schauspieler, d. h. er reproducirte fremde Productionen. Heimisch in fremder und deutscher Literargeschichte, wurde ihm das Leben in Calderon, Shakespeare, Lope, Holberg, Göthe zur andern Natur. Selbst seine Novellen, die sich nur durch ihren erörternden Dialog bemerklich machten, haben alle einen kunst- oder literargeschichtlichen Hintergrund. Er ist eine Zeit lang das Idol jenes vornehmen Indifferentismus gewesen, der die Ironie für ein Lebensprincip hält, Ironie über die Zeit, Ironie über die Menschen, Ironie über Staat, Kirche und Gesellschaft. In einem verhangenen, mit Teppichen belegten Zimmer, in einer Existenz, zu welcher man erst durch einen Portier und zwei Bediente eintreten darf, mag man wohl, ausgestreckt auf weichem Sopha, in seidenem Schlafrock, sich durch Ironie von der Welt lossagen können, und doch mit Reiz und Anmuth in ihr leben; kommt es aber zur That, zur nothwendigen Bedingung irgend einer Schöpfung, wie hoch schwingt sich da der Ironiker? Zu philologisch-kritischen Experimenten. Im Lustspiel lieferte Tieck dramatisirte Kritik, im Trauerspiel dramatisirte Theorie vom Schönen nach dem Gesichtspunct der romantischen Schule, in den Novellen von Shakespeare’s Leben und Camöens’ Tode gab er in Scene gesetzte Literarhistorie, in seinen neuen Arbeiten literarische Polemik - kurz, es war stäts ein abstracter, vermittelter Inhalt, der durch sein Talent genießbar dargestellt wurde, nie eine aus vollstem Seelenbedürfniß ausströmende höhere Dichterkraft. Davon konnte denn freilich wenig übrig bleiben. Wie ich schon oft gesagt, ist der Grundzug der literarischen Laufbahn Tieck’s die Frivolität. Frivol nenne ich alles, was Maschine ist und sich für Organismus ausgibt, alles, was Luft ist und Erde sein will, alles, was Willkür ist und den Schein der Nothwendigkeit annimmt. Nie ist Tieck über das nur belletristische Princip hinausgekommen und durchgedrungen zur sittlichen Idee der Kunst. Form nur war ihm werthvoll, Inhalt lästig, Ernst drückend, Erhabenes nur willkommen, wenn es möglicher Weise in Scherz umschlagen konnte. Tieck’s Neigung war die Bühne. Tieck und seine Schule machten Iffland lächerlich, ohne einen Ersatz für ihn geben zu können. Ein so witziger, ein so dramatisch und theatralisch routinirter Kopf wie Tieck hat nicht ein einziges aufführbares Lustspiel schreiben können. Maskenscherze sind keine Lustspiele. Schiller sollte verdrängt werden. Wodurch? Durch Ion von Schlegel, durch Alarkos von Schütz, durch Octavian von Tieck; weil die Nation aber keinen Geschmack daran fand, so warf man sich auf Calderon und Shakespeare, die man so toll überpries und bis ins Ungeheuerliche so vergrößerte, daß alles Andere, was sich dagegen zu stellen wagte, winzig und zwergenhaft erscheinen mußte. Dieses Sichlostrennen von der Gegenwart, dieses wichtigthuende Spiel mit zufälligen Liebhabereien, die man zu Nothwendigkeiten stempeln will, diesen Mangel eines innern Willens, eines innern Zweckes, eines innern sittlichen Lebens, hat auch die Nation aus den hier einschlagenden Unternehmungen und Werken bald herausgefunden und sich ihrer mit gesundem Instincte zu erwehren gesucht. Wie sehr man auch sonst von Gervinus’ Urtheilen abweichen möchte, in seiner Geringschätzung der tieck’schen Leistungen werden sich alle Auffassungen, die vom Dichter ein wirkliches Können und Wollen verlangen, begegnen müssen, so daß unsere vorangegangenen Preisnotirungen vielleicht nur ephemere sind, solche, die sich ändern können, heute oder morgen der Tagescours der tieck’schen Papiere aber auch für die künftige Abrechnung gilt; denn der Medio in der Literatur ist die zeitgenössische Kritik, und der Ultimo das Urtheil der Nachwelt.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow, Frankfurt a. M.: Der Tages-Cours unserer Classiker. In: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 55, 24. Februar 1844, [S. 1-3]. (Rasch 3.44.02.24)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.