Realismus und Idealismus#

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Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.1
Letzte Bearbeitung
14.02.2020
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319 Realismus und Idealismus.#

Da uns gelegentlich die Bemerkung gemacht wurde, daß unsere, S. 272 der „Unterhaltungen“ befindliche Aeußerung, der „idealisirte Realismus“ wäre von den realistischen Richtungen die verwerflichste, die Poesie aufzuheben scheine, so kommen wir, ohnehin versprochenermaßen, auf diese Unterscheidungen zurück.

Man liest jetzt soviel von realistisch und idealistisch. Was hat es damit für eine Bewandtniß?

Allgemein bekannt ist die Unterscheidung der Goethe’schen und Schiller’schen Dichtweise. Jene ging von der Erscheinungswelt, diese vom Gedanken aus. Goethe war Realist, Schiller Idealist.

In neuester Zeit hat man dem Realismus den Vorzug gegeben, denn man will entdeckt haben, daß der Idealismus zum Schattenhaften und Wesenlosen führe; Schiller, Jean Paul, die Romantiker und unsere transcendentale Philosophie hätten nur Straßen angebahnt, die in ein Utopien führten ...

Man suchte daher, um Träumereien über Reform der Staaten, Sitten und Meinungen zu vermeiden, nach einem positivern Inhalt der poetischen Darstellung und fand diesen allmälig theils durch Nachahmung des Fremden, theils durch eigenen Umblick. Von den Franzosen hatte sich seit 1830, fast gleichzeitig mit dem idealistischen Roman, das Genrebild in Deutschland eingebürgert; von den Engländern ermunterte Boz, auch auf deutsche Sitten und Eigenthümlichkeiten, vorzugsweise die gegebenen socialen Verwickelungen einzugehen. Das deutsche Provinzleben fand einen reizenden Ausdruck schon seit lange in Hebel’s „Alemannischen Liedern“; in der Schweiz war die Richtung Pestalozzi’s weiter ausgebildet worden von Ulrich Hegner, Zschokke und Jeremias Gotthelf; Immermann überraschte durch die westfälischen Thatsächlichkeiten in seinem sonst so formlosen und zu dem alten romantischen Spuk- und Koboldwesen gehörenden „Münchhausen“. Daran schloß sich die Dorfgeschichte und Hackländer’s Soldatenerinnerung. Das Material für den Realismus war gefunden.

Eine Sonderung und Zersetzung in zwei ihrer selbst erst bewußte Richtungen konnte nur die Folge eines kritischen Processes sein. Dieser wurde, ätzend und säuerlich genug, in Leipzig vollzogen. Man erklärte der ganzen deutschen Literatur, soweit sie idealistisch war, bis zu den „Räubern“ Schiller’s hinauf den Krieg. Schiller’s Lyrik hieß „beinahe ein einziger großer Irrthum“. Jean Paul wurde der Vertreter rechtloser und polizeiwidriger Begriffe und Kopf-, Herz-, Sitten- und Charakterlosigkeit jeder Art galt als der eigentliche Niederschlag jenes Idealismus, dem plötzlich Alles mit einem Rette sich wer kann! zu entfliehen suchte.

Man hat nun gegenwärtig eine sich realistisch ausdehnende Literatur, d. h. man hat die Ideen, Abstractionen, Träume von Glauben, Wissen, Denken, Fühlen u. s. w. aufgegeben und daguerreotypirt die Wirklichkeit. Manche thun dies ganz roh. Diesen bricht natürlich jedes Forum, auch das realistische, den Stab. Irgendeinen Zweck, irgendeine Idee, eine Zuspitzung muß auch die Beobachtung des Getreidesäens oder der Schafzucht oder der doppelten italienischen Buchhaltung haben. Und darüber können zuletzt Alle einverstanden sein, daß eigentlich der ganze Streit insofern ein müßiger ist, als ja wahrlich auch vernünftigerweise keine noch so neue Theorie etwas Anderes wollen kann als allenfalls einen Idealismus, der sich real, d. h. auf Voraussetzungen der Natürlichkeit und Wirklichkeit, zu offenbaren und auszusprechen, und einen Realismus, der seine Anschauung des Lebens und der bunten Erscheinungswelt zu einem Kunstzweck zu concentriren sucht. Vom dichterischen Standpunkt aus, soweit die obengenannte moralische und polizeiliche Kritik Dies oder Das als dichterisch zuläßt, können Idealismus und Realismus vielleicht verschiedene Wirkungen hervorbringen, doch in ihrem Werthe vor dem Musenhofe sind sie beide in dem Falle sich gleich, daß nur entweder zur Seele die rechten Glieder oder zu den Gliedern die rechte Seele kam.

Verwerflich aber ist die Zwittergattung, die ein Stück Realismus und ein Stück Idealismus ist. Idealisiren darf der Künstler, aber er darf es nur insoweit, als dem Realen dadurch kein Abbruch geschieht in Dem, was zu seiner ganzen Wesenheit nothwendig ist. Den Realismus zur Idee zu erheben, ist schön und gibt Poeten im Geiste Goethe’s. Idee und Ideal sind aber himmelweit verschieden. Wenn Jeremias Gotthelf das Bauernthum uns in seinem ganzen Duft, mit Dünger- und Käsebereitung, schildert, so wendet man sich vielleicht ab, weil diesem großen Meister 320 der Beobachtung leider die Gabe versagt war, immer auch ein Bildner, ein Ergänzer und Verklärer seines Stoffs zu sein; er war es zuweilen, z. B. im „Uli der Knecht“; er würde es noch öfter gewesen sein, wenn seine schweizerische Parteisucht und religiöse Unduldsamkeit ihm nicht den Blick getrübt und ihn statt zum epischen Dichter nur zum Satiriker gemacht hätten; der Zorn schafft Caricaturen, keine reinen Kunstgebilde. Aber - er hätte die ganze Wahrheit seiner Beobachtung ruhig lassen und beibehalten können, wenn ihm nur noch etwas Anderes wäre gegeben gewesen, das so oder so heißen mochte, aber eher alles Andere war als die Kunst des Idealisirens. Da, wo man einmal an reale Dinge herangegangen ist, können diese durch Idealisiren nur entstellt werden. Einem a priori idealistischen Dichter läßt man es hingehen, wenn er schreibt: „Die Saaten blühten, die Lerche stieg wirbelnd auf, Lust und Freude wehten über Feld und Flur.“ Es ist einfach empfunden, wenn auch nur so obenhin gesagt. Ist nur sein übriges Herz und was es schildert in Ordnung, so ist es wunderlich, wenn ein Realist, der zufällig auf dem Lande geboren wurde, kommen wollte und ihm sagen: „Kannst du Gerste von Hafer unterscheiden? Weißt du, wie die Lerchen des Morgens und wie sie des Abends singen?“ Jeder könnte ihm sogleich erwidern: „Wie aber dreht der Töpfer die Drehscheibe? Wie viel Procent Sauerteig nimmt der Bäcker in die verschiedenen Brotsorten?“ Kurz, um das Leben und die Welt hinfort als Poet noch schildern zu können, müßte man bei allen Handwerken erst in die Schule gegangen sein, in allen Contoren gesessen, alle Wasser befahren haben. Geht man aber auf das Isolirte ein, schildert man mit ausdrücklicher Apartheit, wie man beim Pflügen umwendet oder beim Holzflößen über den Waldbach die Stämme in Schuß bringt, oder ähnliches, an sich sehr dankenswerth Aufzunehmendes und immerhin uns wohlthuend Berührendes, dann gehört auch nothwendig zum bäuerlichen Dasein der Dünger, zu einer jahrelang barfuß hinter den im Wandeln stets düngenden Gänsen einhergehenden Hirtin, die auch später als Dienstmagd noch immer nur barfuß gehen muß, die Gewöhnung an das Unsaubere und eine dem Unsaubern entsprechende Anschauungsweise und Geistesbildung. Sich gleichsam nur die Psyche aus einem solchen Dasein herausnehmen und diese dann bald unter Blumen einschlummern, bald im Walde träumen, bald Dinge sagen und treiben lassen, die an und für sich gar lieblich und das Auge blendend sein mögen, aber nur die loseste Verbindung mit der so nur von ungefähr ergriffenen eigentlichen Persönlichkeit gehabt haben können, dies Idealisiren ist die Anbahnung und Mehrung jenes Unwahren, mit welchem in unserer Zeit soviel bedenkliches Blendwerk getrieben wird.

Einen Bauernknecht, der zur rechten Zeit mistet, Sonntags seine Stiefeln mit Schweinsschwarte glänzt, poetisch verwenden, warum wäre es nicht möglich! Jeremias Gotthelf hat im Interesse einer Herz und Nieren erfreuenden genrebildlichen und didaktischen Darstellung und Unterhaltung diese Kunst meisterlich verstanden. Er erhielt sich die Ironie über seinen Gegenstand, diese köstliche, nothwendige Ironie, die das Salz dieser ganzen Literatur sein muß, wenn man sie aushalten soll. Er stellte dem Rohen, wie es ist, einen Schulmeister, einen Amtmann zur Seite oder gegenüber und ließ das vegetative Leben so hintrotten in seiner dummlichen Art, uns durch die andern Charaktere fesselnd oder beruhigend, die ihm zur Folie dienten. Aber dem Uli seine Mistgabel nehmen und seine Stiefeln und sein sonstiges Zubehör von Rindsleder auch am Kopf und leider oft genug am Herzen und ihn sauberkehren zum Besten des Salons und ihn hinausschicken in den Wald, um ein Capitel über das Schlagen der Amseln zu produciren oder Mittags im Sonnenbrand die Geister zu belauschen, die so durch die Halme rascheln, und darüber zu idealisiren wie ein junger Student, der am Heimweh krankt, das ist ihm nie beigefallen. Wäre er so im dorfgeschichtlichen Modeton mit seinen Stoffen verfahren, dann hätte er sie idealisirt, d. h. ihr natürliches Colorit verwischt.

Gewiß, das ästhetische Verbrechen ist nicht zu groß, wenn man einen Bauer in eine Bürgergeschichte einführt, und er ist zuletzt nur die Abstraction eines Bauern, oder man läßt einen Handwerker vor einem Grafen reden und sein Stil entspricht nicht ganz seiner gewöhnlichen Volksgrammatik, die Derjenige kennt, der vielleicht zufällig die Kunde von der Art und Weise der Blaufärber oder Lohgerber hat - es genügt, daß nur die Psyche oder Quintessenz dieser Menschen, ihres zufälligen Anliegens, ihres Zwecks für die Darstellung auf glaubhafte Art getroffen wurde. Wer uns aber ausdrücklich unter die Blaufärber und Lohgerber einführt und sich etwas darauf zugute thut, sie in ihrem ganzen Thun und Handeln, in ihrer Hantierung am Farbentopf und in der Lohgrube zu schildern, der darf an ihnen nichts idealisiren, weder Inneres noch Aeußeres.

Wenn also unsere Leser wieder von diesen beiden strittigen Principien hören, so mögen sie nur denken: Realist oder Idealist, Beides hat gleichen Werth, wenn nur Jener seinem detaillirten Material eine Seele, d. h. eine Idee, eine innerhalb der gegebenen Voraussetzungen mögliche schöne Einheit zu erzielen verstand, Dieser nicht ganz in Abstractionen herumfährt und wie Kinder den Bäumen blaue Blätter, den Menschen grüne Gesichter malt. Der „idealisirende“ oder „idealisirte Realismus“ aber, der etwas aus dem Dorfe hernimmt und es mit den Reizen der Bildungswelt schmückt (wozu auch die unausgesetzten, vom Landbewohner gar nicht empfundenen Naturdetails gehören), ist eine modische Vergänglichkeit, mögen Einzelne von Denen, die ihr huldigen, auch noch so sehr durch Wärme des Gefühls und die Tiefe ihrer Absicht sich auszeichnen.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Der Aufsatz Realismus und Idealismus erschien zu Gutzkows Lebzeiten nicht in Buchform. Allerdings verwertete er drei Passagen des Beitrags 1868 für seine Denkspruchsammlung Vom Baum der Erkenntniß, wo er sie im Kapitel Walten und Schaffen des Genius als einzelne Denksprüche darbot.

J [Anon.:] Realismus und Idealismus. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. N.F. Bd. 2, Nr. 20, [14. Februar] 1857, S. 319-320. (Rasch 3.57.02.14)
E Vom Baum der Erkenntniß. Stuttgart: Cotta, 1868. S. 209, 215, 216-217. (Rasch 2.38)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.