Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Vom Berliner Büchertisch#

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Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
11.2009
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4457 Vom Berliner Büchertisch.#

I.#

* Eine besondere Eigenthümlichkeit, welche gerade die Berliner verlagsbuchhändlerische Thätigkeit vor derjenigen anderer deutscher Städte zu charakterisiren pflegte, kann von ihr, wie allerdings in ältern Zeiten, jetzt nicht mehr behauptet und hervorgehoben werden. Die Friedericianische Zeit, die Zeit der Nicolai-Biester'schen Aufklärung, bestimmte fast ausschließlich den Charakter des Berliner Verlags, der Meßneuigkeiten, welche die alten Firmen, die Nicolai'sche, Vossische, Sander'sche, Maurer'sche Handlung, nach Leipzig schickten. Als sich später der Hippogryph zum Ritt ins romantische Land rüstete und zwei Berliner, Tieck und Wakkenroder, vorzugsweise dabei ihre Reiterkünste entfalteten, diente sogar noch eine Zeitlang die alte Friedrich Nicolai'sche Buchhandlung als Vermittlerin eines Geistes dessen Tragweite der alte Sosier in der Brüderstraße wohl nicht mehr übersehen konnte. Dann traten andere Firmen für die neue Richtung ein, vor allen die Unger'sche (später Reimer), die zugleich eine bedeutende Reform im Letternguß in ihrer Druckofficin einführte. Wer die Romantiker aus den Quellen studiert hat, wird diese der alten "gothischen" Pergamentscriptur nachgeahmten Fracturlettern mit dünnem Grundstrich kennen. Bettina hat sie bei der Herausgabe der Werke ihres Gatten wieder neu schneiden und diese ganz so wieder bei den "Gebrüdern Unger" oder Trowitzsch drucken lassen wie sie vor Jahren zum erstenmal hier herauskamen. Die eigentliche genetische Entwicklung dieses Unger'schen altdeutschen Letternschnitts ist in die "Geheime Oberhofbuchdruckerei" von Decker übergegangen, deren Schriftsorten bekanntlich eigenthümlich gefällig, zierlich, in manchen Schnörkeln vielleicht ein wenig geziert sind. Jedes aus dieser Officin gekommene Buch, jedes von ihr gedruckte "Accidenz"-Blättchen kann man sofort an dem eleganten gefälligen Eindruck seiner Typen erkennen.

Berlins Verlagsbuchhandel liefert auf den Büchermarkt erstaunlich viel Waare. Wie im Sortiment haben sich auch die Verleger zumeist auf Specialität werfen müssen. Die Firma Hirschwald verlegt seit Jahren nur Medicinisches, einige andere Firmen nur orthodox Theologisches, eine neuere Firma, Henschel, huldigt ausschließlich den neuen Religionsprincipien. "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister!" heißt es auch hier. Die Absatzwege sind oft so schwierig zu ermitteln und zu behaupten, daß ein Verleger verzweifelt für einen Artikel der nicht die gewohnten Bahnen seines Geschäfts geht die gehörige Förderung aufzufinden. Sogar einen rein landwirthschaftlichen Verlag zeigt die Firma Wiegand und Hempel, wie der Verleger der "Philosophie des Unbewußten," Karl Heymons, Miene macht nur Philosophisches zu drucken. Die Mittler'sche Handlung gehört schon seit Jahren fast ausschließlich dem Militärstand an.

Berlin zeichnete sich früher durch Druckofficinen aus in welchen die ganze strenge und fast pedantische Regelmäßigkeit herrschte, ohne welche die "schwarze Kunst" in ihren Leistungen gegen ältere Zeiten entschieden zurückgehen würde. Die Officinen von Starcke, Schade, Trowitzsch u. a. wurden nach einem einheitlichen strengen Regulativ geleitet, welches theilweis auch noch dem Jahre 1848 Widerstand leistete, wir meinen dem Hang zur Unordnung, Willkür und Auflehnung, der vorzugsweise in den Officinen durch die neubegründeten Zeitungen genährt wurde. Jetzt aber, seit der Arbeiterfrage, seit den "Strikes" und Lohnerhöhungsforderungen, ist in die stille Welt der Setzerkästen ein Geist gefahren der im Bunde mit den halb wie im Rausch so schnell hervorgerufenen täglichen Nummern der Journalunternehmungen die ganze alte Bedachtsamkeit, ja treuherzige Innigkeit einer Fertigkeitsübung, die seit Gutenberg ihre höchst interessante Geschichte hat, zu zerstören droht.

Von einer literarischen Conversation kann man eigentlich in einer Stadt nicht mehr sprechen wo die geistige Arbeit immer mehr gegen die Entfaltung des militärischen Glanzes und den Lärm der politischen Bauarbeit zurücksteht. Die Siegessäule wurde nur vom Militär eingeweiht, der König von Italien nur vom Militär empfangen. Der Frack existirt so zu sagen selbst beim Gelehrten nicht mehr. Denn auch bei diesem (Ausnahmen sind selbstverständlich) ist alles Uniform, Beamtenthum, Drängen nach oben, Sinnen und Planen auf Beförderung geworden. Und im Grunde darf man sich gegen dieses mit förmlichem Enthusiasmus sich gebende System, nichts zu denken als die Gedanken der Regierung, nicht auflehnen. Leben wir doch in einem Uebergangsstadium, wenigstens in einem Provisorium, das jeden Augenblick eine neue Probe der Nationalkraft verlangen kann, von jedem Deutschen in trauriger Weise das Zugeständniß daß wir nicht als Menschen, sondern nur als Bürger auf die Welt gekommen sind. Der Compromiß den die Freiheit des Urtheils, die Wahrung der Erdenrechte mit den gebieterischen Thatsachen der Wirklichkeit eingegangen, dauert schon in quälender Weise überaus lange; aber wenn man denn doch sieht daß die Förderung einiger Culturfragen gewahrt bleibt, so beruhigt man sich. Hat es doch der große Meister am Webstuhle der Zeit (wir meinen Gott, nicht Bismarck) weise eingerichtet daß ihm selbst der ungerechte Mammon dienen muß. Die katholische Kirchenfrage, welche dem Jahrhundert aufzuwerfen längst geziemte, ist vom preußischen Ministerium aufgeworfen aus Motiven zufälligster Art. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Der Exercierplatz, wo sich die Folgen des Jesuiten-Einflusses im preußischen Polen am Nichtverstehen der deutschen Commandoworte offenbarten, brachte die Erschütterung des Vaticans.

Man hört noch oft, besonders von gewissen alten Damen, darüber klagen daß Berlin keine Conversation mehr habe. Der "Salon," der einfache Thee-Abend mit einem gemäßigten Streit über den letzten Urania-Jahrgang, ist verschwunden! Wo man jetzt nicht bei einer Abend-Einladung sogleich beim Eintritt den Duft des späteren warmen Soupers aus der Küche heraus einathmet, wird diesem materiellen Zeitalter nicht wohl. In Berlin hätte noch Ludmilla Assing die Mittel gehabt etwas ähnliches zu schaffen wie die bureaux d'esprit der Vergangenheit, oder Prinz Georg. Aber jene hat sich an die italienische Nation verheirathet, dieser hat nicht den Muth, wie Prinz Louis Ferdinand, mit den Usancen seines Hauses zu brechen. So gehen denn eine Menge "schöne Seelen" in Berlin trostlos in der Irre, und suchen, wie Gräfin Hahn sonst den "Rechten," ihrerseits jetzt wenigstens einen jour fixe, den Frau v. H. oder Gräfin B. des Winters anzusetzen pflegt, wo "empfangen" wird. Beim Maler B. waren die Stelldichein, wie sie nur bei einem berühmten Schlachtenmaler sein konnten, von Civil und Militär, Künstlern und Officieren gemischt. Die Absicht war edel; die Gegensätze begegnen sich wenigstens, Bekanntschaften können vermittelt werden, die Interessen und die Bildung der Menschen sich näher bringen. Aber an elektrische Strömungen ist dabei nicht zu denken. Die Erfahrung welche man über die Bildung, namentlich der Frauenwelt, in Berlin macht, ist entsetzlich. Durch die Herrschaft des Luxus, der Toilette und der von oben kommenden nichtigen und leeren Anregung sind die Frauen größtentheils bis zur Gewöhnlichkeit verflacht.

Berlin ist keine Großstadt, sondern nur eine sehr weitläufige Mittelstadt. Sie bietet Platz genug daß sich jeder der den Ruhm liebt eine kleine Gemeinde für sich bildet. Durch Vorlesungen, durch Vereine erzielen manche Namen eine erstaunliche Popularität in dem einen Stadtviertel, während man von ihnen in dem andern keine Notiz nimmt. Als Berlin nur noch wenige Viertel oder Reviere hatte, setzten sich gewisse Namen derartig fest, daß sie Jahre lang die bedeutendere auswärtige Concurrenz des geistigen Lebens (sogar auf der Universität) abwehren konnten. Literargeschichtlich läßt sich die Abwehr nachweisen, die gerade von Berlin gegen die maßgebenden Namen und Richtungen in unserer schönen Literatur ausgieng. Der Berliner Hofrath, vollends als Freimaurer sein gepudertes Haupt hochtragend, glaubte im Bunde mit Berlins sämmtlichen berühmten Kanzelrednern noch an die Wolff'sche Philosophie, als Kant schon längst die Kriterien der reinen Vernunft selbst für das katholische Deutschland festgestellt hatte. Goethe ist in Berlin erst seit 1820 allgemeiner anerkannt.

Vor zwei Jahren sah ich einen würdigen Greis mit grauem Haupt im Saal einer Schule den Lehrstuhl besteigen, ein Manuscript ausbreiten und den Inhalt vor seinen Zuhörern mit sanfter, weicher, wohlthuender Stimme vorlesen. Das Auditorium bestand zum größten Theil aus Frauen oder richtiger jungen Mädchen. Es war ein Lehrer an einer Töchterschule, der seinen dankbaren Schülerinnen von früher und altersher Dinge vortrug die mit gläubigem Vertrauen in das eine Ohr aufgenommen wurden und entschieden zum andern wieder hinausgehen mußten, da sich wohl schwerlich die eigene andachtsvolle Ergriffenheit des würdigen Vorlesers eines nur auf den Druck berechneten Manuscripts von seinem Gegenstand auf die größtentheils dem Bürgerstand angehörenden Hörerinnen übertrug. Werner Hahn hat nun, an passenderer Stelle, in seinen "Liedern der Edda" (Berlin, Weitling, 1873) den Text der alten nordischen Göttersage noch einmal geschmackvoll übertragen und mit Noten begleitet. Alle seine Zugaben sprechen für reiche Belesenheit, völliges Vertrautsein mit dem weiten Gebiete der germanistischen Sprachforschung und der allgemeinen Mythologie, und sind zugleich Beweise für eine sittlich-religiös-sympathische Uebereinstimmung mit den Gedankenverbindungen jener Voluspâ-Offenbarungen, an denen - ich kann dem Gefühl das ich schon 1829 als Hörer der Nordischen Mythologie bei F. H. v. d. Hagen hatte nicht anders als Ausdruck geben - ein isländischer Mönch, der hochgelahrt und zugleich ein wunderbarer Poet war, stark mitgearbeitet zu haben scheint. Die Parallelen des Asenglaubens mit dem der Griechen und Römer sind zu auffallend.

Einer der edelsten Geister die im neuen Berlin gewirkt haben war Karl Twesten, derselbe welchem Generalissimus Manteuffel die Finger seiner Schreibhand steif schoß, ohne daß sich darum der wackere Kämpe am Bewähren seines freimüthigen Geistes und reichen Wissens durch Wort und Schrift verhindern ließ. Ich habe schon einmal in diesen Blättern gesagt daß das Duell beiden Kämpfern Ehre machte - dem einen weil er Courage hatte, dem andern weil 4458 er nicht zu seiner Rechtfertigung gleich zum Staatsanwalt lief. Twesten hatte leider die traurige Erfahrung machen müssen daß ihm die launische Natur einen früh dem Tode geweihten Körper gegeben. Eine solche Thatsache erkennt der Mensch nicht, ohne an die Geheimnisse des Lebens, den Zweck der Welt, an die Bestimmung der Menschheit überhaupt zu denken. Wie wir hier schon einen Juristen hatten der nach trüben Erfahrungen, wo ihm die undankbare Welt ekel und unersprießlich erscheinen mußte, unter die Philosophen gegangen ist, den unerschrockenen freigesinnten v. Kirchmann, so auch Twesten. Ueber sein hinterlassenes Werk: "Die religiösen, politischen und socialen Ideen der asiatischen Culturvölker" (zwei Bände, Berlin, Dümmler, 1873), hat Referent im verflossenen Winter hier und da im "Salon," oder was sich dafür ausgibt, "Conversation zu machen" versucht, kann aber nur Einen anführen der au fait war, den ehrwürdigen Vater des Verfassers. Der berühmte Theologe, Schleiermachers Paulus, desavouirte natürlich vollständig den Inhalt, der so ziemlich den Ausführungen des Strauß'schen bekannten Buches gleichkommt. Das hindert uns verlorene Seelen nicht daran die größte Freude zu haben. Das leider unvollendet gebliebene Werk beginnt mit einer Einleitung, deren Gegenstände von den asiatischen Culturfragen allerdings ziemlich entfernt liegen. Es ist eine Art Glaubensbekenntniß, das sich sogar bis auf die Unsterblichkeit der Seele und die Vernunft der Thiere erstreckt. Der Verfasser hat sich, vielleicht dazu durch einen Aufenthalt in Paris bestimmt, die philosophische Methode, eine mathematische, des sogenannten Positivisten Comte angeeignet, ohne daß wir indessen, wenigstens im Verlauf seiner eigenen Darstellung, besonders überraschenden Ergebnissen dieser Bekanntschaft begegnet wären. Muß doch der Verewigte auch selbst zugestehen daß die Schriften Comte's (der bekanntlich erst in Littré zur vollkommeneren Klarheit gelangte) ein ungenießbares Durcheinander von Längen und Langweiligkeiten bieten, wahrscheinlich Resten seines Fourieristischen und Saintsimonistischen Ursprungs. Einen Wissenschaftstitel wie das monströs aus zwei Sprachen zusammengesetzte Wort "Sociologie" hätte Twestens Geschmack ablehnen sollen. Im übrigen erfreut die ganze Partie des ersten Abschnitts durch den Eindruck eine Art Anthologie maßgebender Aeußerungen unserer berühmtesten Forscher zu sein über die schmale Linie wo sich Seele und Leib berühren, so wenig auch die spätern Erörterungen über die indische Götterlehre von diesem Thema berührt sein mögen. Das Werk trägt den Stempel des Unvollendeten und Unverarbeiteten in hohem Grade, bietet aber doch auch in seiner vorliegenden Gestalt ein reiches Material zur Anregung für den Kenner und zur Belehrung für den Laien.1)

Wir kommen schließlich auf einen Gelehrten dessen fernere Entwicklung und Bewährung beinahe auf bayerischem Grund und Boden, in der schönen Juliusstadt am Main, erfolgt wäre. Zu unserem Gewinn ist aus der Berufung des Dr. Lasson nach Würzburg nichts geworden. Der üble Ruf den ihm, einem Schwager des Schulregulativ-Stiehl, seine vor einigen Jahren veröffentlichte Uebertragung des alten Axioms der Philosophie: "Krieg ist der Vater aller Dinge," auf die ihn unmittelbar umgebende Welt der Pickelhauben und Zündnadelgewehre verschaffte, hat der geistvolle, gefühlsinnige Mann durch spätere gediegene Werke vergessen lassen. Seine neueste Arbeit ist eine durch seltene Kenntniß des Altitalienischen ausgezeichnete Uebersetzung der Dialoge des Giordano Bruno über "Ursache, Princip und das Eine" (Berlin, Heimann 1872). Der große Martyrer, den bekanntlich ein falscher Freund aus dem freien England nach Bologna lockte und an die Inquisition verrieth, die ihn auch 1600 in Rom verbrennen ließ, schrieb diese Nachahmungen platonischer Disputirweise in London, und muß mit manchen Scurrilitäten die darin enthalten sind einen gewissen Modeton getroffen haben. Denn zuweilen glaubt man geradezu den schwänkereichen Signor Fest aus Shakespeare's "Was ihr wollt" zu hören, und zwar in dem Augenblick wo der launigste aller Shakespeare'schen Narren den eingesperrten Malvolio durchs Schlüsselloch über des Pythagoras Lehre, wildes Geflügel betreffend, examinirt. Die zum Stichblatt genommene Figur des Italieners, der Mitstreitende "Poliinnio," ist ursprünglich ein dem Giordano gehässig gewesener Professor von Oxford. Sie gebärdet sich aber wie eine Stereotype des damaligen Theaters. Dr. Lasson hat zu den an sich gewiß sehr unfruchtbaren scholastischen Wortgefechten eine Reihe lehrreicher Anmerkungen geschrieben, auch eine Einleitung, in welcher uns nur wiederum in störender Weise die trübe Anschauung begegnet daß "Bruno seines Todes wegen nicht zu beklagen sei!" Es ist wieder diese alte Lasson'sche Lehre vom Krieg als nothwendigem Culturhebel! Der Uebersetzer spricht an sich mit Entrüstung über jenes schmachvolle Annex des Papstthums, die Verbrennung Andersdenkender, entschuldigt aber schon gleich die verblendeten im Dienste der Inquisition und des Wahns stehenden Geistlichen, und breitet dann noch durch die oben angeführte Aeußerung, an sich sei jenes Ende nicht zu beklagen, einen düstern Mantel elegischer Resignation über Bruno's ganzes Leben. Wenn eine solche Betrachtungsform wie diese gestattet wäre, so gienge die moralische Betrachtung der Geschichte, auch die Entscheidung über das was an ihr gut und böse war, an die ästhetische Betrachtung, was uns an ihr als komisch oder als erschütternd tragisch besser gefällt, verloren.

4490 II.#

* Berlin. Daß aufs neue die Philosophie mehr als seit lange in den Vordergrund der wissenschaftlichen Arbeit getreten ist, erkennt man recht an den regen Debatten einer hiesigen "philosophischen Gesellschaft," wo die Geister die so glücklich sind zum abstracten Denken organisirt zu sein (andere Naturen können absolut nur concret denken), mit allerlei scharfen Auslassungen aufeinander platzen, um sich hierauf nach geschlossener Debatte, und während beide Parteien Recht behalten, zu einem gemeinschaftlichen Mahle zu vereinigen. Diese Deipnosophisten, unter denen auch der neulich genannte Dr. Lasson sich durch besondere Schärfe der Dialektik auszeichnet, v. Kirchmann immer schlagfertig auf seinem Erfahrungsstandpunkte feststeht, führen mich auf einen fast 600 Seiten starken Großoctavband, "Thalysia oder das Heil der Menschheit von Gleïzés. Aus dem Französischen von Robert Springer (Berlin, Otto Janke 1873)." Dieses Werk gehört zu den heiligen Büchern der Vegetarianer. Auch hier in Berlin haben wir diese "Schwärmerei nach der Mode," die mit einer eigenthümlichen, aus der Abstinenz des Fleisches hergeleiteten Auffassung des Lebens und der Zeit zusammenhängt. Warum lieferte noch kein Belauscher der Zeit, kein Historiker der Gegenwart in Ihren Spalten ein Culturbild dieser Zusammenhänge zwischen Düsseldorf, Nordhausen, dem "Auf der Waid" im Kanton St. Gallen und den christlichen Hindus in Berlin? Schon der gefeierte Name Baltzer, der durch ein eigenes Organ die deutsche Fleischabstinenz zusammenhält, führt auf den Zusammenhang des veränderten täglichen Küchenzettels mit der Religion. So ist denn auch Thalysia (der Name bedeutet eine Opferspende des antiken Ackerbaues zur Herbstzeit) ein Buch der Erbauung, ein Brahmanenwerk der Betrachtung über eine Welt die anders geworden sein würde wenn wir den sanften Lockungen der Natur gefolgt wären, nicht den wilden, welche letztere uns verhinderten nur immer Spinat zu essen, und bestimmten, Cotelettes und Beefsteaks vorzuziehen. Gleïzés ist todt. Er gehörte jener sentimentalen Schule der Franzosen an auf welche wir 1870 so viele Hoffnungen setzten, weil wir glaubten gerade sie müßten uns eine gerechte Würdigung unserer guten, gegen ihre hochmüthigen Prätensionen verfochtenen Sache zutheil werden lassen. Aber nein! Auch diese von uns Deutschen gehätschelten Franzosen betrogen uns und liebäugelten nur mit ihren Landsleuten! Wo hat Edgar Quinet, der im Grunde nichts positives geleistet hat, mehr Anerkennung gefunden als diesseits des Rheins? Wo Pressensé? Wo Crémieux? Und dennoch waren wir diesen bei uns Betoasteten und Gefeierten nur Barbaren; selbst diesen Philanthropen und dem seligen Gleïzés würden wir es gewesen sein.

Natürlich bietet die philanthropische Absicht der "Thalysia" auf jeder Seite reiche Anregung für ein wohlwollend und in den Intentionen seines Handelns immer sanft gestimmtes Herz. Aber der Mensch ist nun einmal in eine Welt der Widersprüche, des Haders und der materiellen Schwierigkeiten versetzt. Er muß sich, um nur diesen einen Umstand zu nehmen, ernähren mit dem was er zu seiner Sättigung vorfindet. Die "Grausamkeit," die nach Gleïzés so sittenverderbend dem Fleischgenuß zum Grunde liegen soll, ist niemals so systematisch wie die Fleischhasser darstellen, so bewußt kannibalisch eingeführt worden, und dem Menschen des 19. Jahrhunderts vollends wird die Sünde gegen die heilige Thierwelt am wenigsten bewußt. Der Vegetarianismus ist im Gegentheil ein Luxus, eine ausgesuchte Lebensweise, ein förmliches Studium über den Küchenzettel, ein stetes Wählen und Prüfen, das vor allem im Hauswesen Dienstboten erfordert, welche man in einer Zeit wo wir in der Dienstbotenfrage schon den traurigen amerikanischen Zuständen entgegengehen gar nicht bekommen kann! Der Vegetarianismus erfordert Umgestaltungen der Lebensweise die tief in die Verpflichtungen der Gesellschaft eingreifen und für eine Familie zur völligen Isolirung führen müssen! Die Darstellungen in der "Thalysia" entbehren keinen Reiz des französischen Styls, nirgends die warme überzeugende Eloquenz, die der französischen Diction eigen ist, selbst wenn sie, wie hier, das Hundertste ins Tausendste mischt und ohne Plan und Anordnung schreibt. Aber zuweilen fällt doch auch das Bestreben immer zart, immer gefühlvoll und pflanzenartig delicat, so zu sagen mimosenhaft zu sein, ins Läppische. So z. B. S. 42, wo dem fleischfressenden Menschen vorgeworfen wird daß er, nachdem er ein Beefsteak oder einen Schöpsenbraten gegessen hätte, "noch im Stande wäre zu singen, gerade wie der Löwe nach seiner Mahlzeit brüllt." Erstens glaube ich, zwar nicht aus Erfahrung in der Wüste, aber doch im zoologischen Garten, daß der Löwe nicht nach, sondern vor seinem Mahle brüllt. Dann fragt sich: ob etwaige fröhliche Gesangstöne die sich der Mensch beim Zahnstochern erlaubt, nicht weit eher aus dem genossenen Wein, also aus dem erlaubten Pflanzenreich, oder aus der hinreichend genossenen Quantität und ausgezeichneten Qualität etwa von Dampfnudeln herzuleiten wären, statt aus dem verbotenen Braten.

Dem Uebersetzer selbst kann das Zeugniß für die gewandte und, wie die Noten bekunden, begeisterte Durchführung einer mühevollen Aufgabe nicht versagt werden, wie denn überhaupt Robert Springer zu den gewissenhaftesten, nur das Gute und Edle anstrebenden Schriftstellern gehört die hier in verschiedenen Fächern anregend auf ein größeres Publicum wirken.

Da wären wir in die stillere Welt der rauschenden Stadt gekommen, und könnten sogar von hiesiger Schwärmerei und Lyrik sprechen, die sich freilich zunächst ausnimmt wie die Anpflanzung von Bäumen in der Kochstraße allhier. Jedermann ist froh daß solche schattendüstere Bäume von seinem Fenster weggenommen werden; nur eine große Promenade wie die Linden kann Bäume vertragen; aber der Berliner findet, und nicht bloß in der Kochstraße, manches poetisch, wofür dem übrigen Deutschland die Empfänglichkeit fehlt. Mit der Lyrik geht es gewiß so. Die Schulen zuvörderst treiben wahrhaft Balladenzucht. Deutsche Prosaschriftsteller kommen in den höchsten Classen der Gymnasien kaum zur Nennung, wenn nicht auch noch eine Ballade von dem Betreffenden declamirt und auswendig gelernt werden kann. Warum ist doch der 4491 selige Geßner aus der Mode? Den Myrtill habe ich noch auf einem Berliner Katheder vortragen dürfen. Es war poetische Prosa. Sanft fluthete der Mond durch den Abendhimmel. Es ließ sich sprechen. Da jedoch unsere neuere Literatur meist zum Lesen und nicht zum pathetischen Declamiren geschaffen ist, so kann man sich diesen Heißhunger nach Balladen und epischem Futter denken. Das übrige thun die in den alten Bahnen, in ihrem Wiederkäuen von immer sich gleich bleibenden Urtheilen und Anschauungen, fortwandelnden Mustersammlungen und Leitfaden, die mir wie die Conversationslexika vorkommen, wo jede neue Concurrenz zu Brockhaus, Meyer oder Pierer mit dem unbedeutenden, überschätzten, langweiligen Abt (vom Verdienste) anfangen muß, oder wie der Berliner Wohnungsanzeiger mit seinem (übrigens sehr ausgezeichneten Arzte) Hrn. Abarbanell.

Für die bedeutendsten neuern Erscheinungen auf dem Gebiete der gebundenen Rede gelten jetzt Hamerling und Scheffel, jener unter österreichischen, dieser unter rheinischen Voraussetzungen - wozu die dem norddeutschen Ohr unerträglichen falschen Reime (reiten und leiden) gehören. Eingeführt sind hier beide - dieser durch Studenten die in Heidelberg studierten; jener durch Wienerinnen die sich hieher verheiratheten. Schule, Salon, Conversation und Journalistik haben wenig zu ihrer Verbreitung gethan, und noch jetzt würde der gebildete Calculator (Rechnungsrath), der einen gefühlvollen Sonntagsmorgenspaziergang im Thiergarten unternimmt, seine Stimmung ganz durch den Dichter Ferrand befriedigt fühlen, der vor 30 Jahren in Berlin für einen classischen galt. Die Berliner Poeten, die sich später auf einem traurig untergegangenen Schiffe "Argo" versammelten, sind theils aus dem Leben geschieden, theils in andere Winde zerstreut oder an andere Berufszweige, z. B. Theaterkritiken zu schreiben, übergegangen. Wie kommen hiebei, ohne diese Metamorphose heute näher zu besprechen, der "Vossischen Zeitung" sehr nahe, und nehmen vom Büchertisch ein in Goldschnitt gebundenes zierliches Bändchen: "Gedichte von Hermann Kletke." (Berlin, Schröder 1873).

Wie ein Redacteur en Chef, der sechsmal in der Woche eine Zeitungsnummer mit zuweilen 10 eng gedruckten Beilagen zu beschaffen hat, der von hundert Gesuchen, Reclamationen, selbst Erwägungen technischer Schwierigkeiten mit dem Umbrecher (metteur en pages) stündlich in Anspruch genommen wird, noch Stimmung gewinnen und diese erhalten kann sich der lyrischen Muse zu widmen, begreift sich nur aus dem Gesetz der Contraste und dem selbst für das politische Gebiet zum Rechnungtragen, zur Rücksichtsnahme, zur Mäßigung gestimmten weichen Naturell des hier in Frage stehenden Dichters selbst. Die heilige Nacht, die, ach! manchem politischen Redacteur (glücklich, wer um 9 Uhr abschließen darf!) allein zur Erholung übrig bleibt, spielt denn auch in Verbindung mit dem Mond und den Sternen, dem Brunnengeplätscher, den Wächtern u. s. w. in den wohlgeformten, nur etwas zu epigrammatisch kurz gehaltenen Gedichten Kletke's eine hervorragende Rolle. Im Gefolge der Nacht gehen Traum, Tod, Jenseits, die vollkommenen Gegensätze des Leitartikels, der uns des Morgens beim Kaffee an die Gegenwart fesselt. Für jede "Ente" die unser Dichter in seiner Zeitung wider Willen hat schwimmen lassen müssen, rudert hier ein Schwan. Die Schwäne, die Blumen, die Nachen, die Sonne und besonders das sonst den Lyrikern wenig zuströmende Gold, der ganze Apparat der deutschen Lyrik, sind vom Dichter umgesetzt in Situationen anziehender Art, das Gold in Abendröthen, ins Glühen der Mädchenwange, in den Wellenspiegel des Sees, auch in die Tiefen eines gepriesenen edlen Charakters. Kurz, es gibt sich ein in dieser nihilistischen Zeit, und zumal auf dem Gebiete der Publicistik, in der That seltenes, kindlichreines, weihevolles Leben in diesen Gedichten kund. Und keineswegs ist es ein Leben nach der Richtschnur überlieferter Traditionen. Selbst den Greis ergreift noch der Reiz des Schönen, die mächtig wieder auflebende Erinnerung, der Ton geht zuweilen in die dem Saturn trotzende Weise des Hafis über - aber bald (und vielleicht zu oft für diese immer gleiche Pointe) naht Sturm, oder bricht Nacht herein, oder pocht der Tod an die Thür und macht so dem vorgeführten Bild ein Ende. Wenn wir ferner als tadelndes Wort noch von einer gewissen zu weit getriebenen Knappheit der Form sprechen, so ist allerdings damit zunächst ein Lob ausgesprochen, das des Entferntseins jeder phrasenhaften Prolixität, aber doch ist die Uebertragung der stündlichen Parole, die ein Redacteur en Chef im Munde führen muß: "Nur kurz! Nur kurz!" auf den lyrischen Mittheilungsdrang bedenklich. Bei Gedichten ist der Rothstift nicht angebracht. Es ist diesen zarten Eingebungen schädlich wenn man sie zweimal lesen muß um sie zu verstehen, wie die weiland Gubitz'schen Recensionen in der "Vossischen Zeitung." In der That sind viele der Kletke'schen Gedichte so compreß in der Form gehalten, so zugleich von irgendeinem zufälligen, dem Leser nicht sofort geläufigen Umstande veranlaßt, daß es ein längeres Verweilen kostet, eine Vertiefung in die gebrauchten Bilder, um in die Constructionen und ihren Sinn einzudringen. Am ungezwungensten bewegt sich des Dichters Humor. Im Scherz, angeregt von Vorkommnissen des täglichen Lebens, besonders der Familie, fließt die dichterische Sprache mit krystallner Klarheit, voll und mächtig. Den Gesellschaftsliedern läßt sich unmittelbare Sangbarkeit und vor allem Geschmack nachrühmen. Letzterer wird doch wohl bei den Trinkliedern unserer Zeit nicht immer eingehalten? Man glaubt jetzt manches Derartige, das dem Jahrhundert besonders zu gefallen scheint, nur für eine Tafelrunde gerötheter Nasen bestimmt.

Jene Wortfülle, jenes Deutlichsein à tout prix zeigt sich recht, aber freilich im Uebermaß, bei einem Poeten der Wiener Schule, den ein Zufall auf den Berliner Büchertisch geführt hat: "Dranmors Gesammelte Dichtungen" (Berlin, Gebrüder Pätel 1871). Bekanntlich ist Dranmor niemand anders als der unglückliche Director der Wiener Weltausstellung, Hr. Generalconsul v. Schwarz, derselbe den anfangs die Berichte der "Allg. Ztg." als den Matador der Reclame bezeichneten, später aber, weil es dem Manne denn doch zu conträr gieng, dem Mitleid der Menschheit empfahlen. Die Reclame hat auch für diese Gedichte schon manches gethan, ja man könnte, wenn man vorliegende Sammlung alles dessen was Hr. v. Schwarz poetisch geschrieben und höchst geheimnißvoll, doch immer laut genug für den Respect den wohl Titel und Orden einflößen, hat drucken lassen, pathologisch beurtheilen wollte, den Satz aufstellen: Dranmor mußte zuletzt die Weltausstellung erleben und, wie sein Freund Kaiser Maximilian an Mexico, daran untergehen!

Aber welch ein liebenswürdiger Tausendsappermenter - und dabei recht ein Kind der neuern, der absolut Heine'schen Schule. Das zuweilen bei Heine vorkommende Tragische haben für diesen Zögling von Wien die Lenau, die Auersperg ins weitläufigere Pathos übersetzt, Grillparzer und Bauernfeld in eine gewisse rappelköpfische Bitterkeit (Alpenkönig und Menschenfeind), Timonische Menschenverachtung, und nun ist unser Dranmor bald im Sperl, bald im Stephansdom, bald cancaniren vor ihm die "bekannten Frauen," bald weinen die Engel Klesheim-Thränen, Faust und Mephisto schleudern der Gottheit Schopenhauer-Injurien zu, und wieder zeigt sich ein reizendes Boudoir mit schwellenden Kissen, ein gedeckter Tisch steigt aus dem Boden, und der Champagner fließt, und die Trüffelpastete schmeckt doch "schön," wie der Berliner sagt - Und warum nicht "schön?" Die Ekstase bringt ja Seebilder, Novara Erinnerungen, große Ahnungen, zuletzt Gefallen an Sagen und Legenden, an Gedichten von Barbier und Paul de Musset, an geistvollen Paradoxen Montaigne's, bis sich beim Dessert die Wehmuth einstellt, die Wehmuth über die große Zahl schon gebrochener Herzen. "Te Caesarem moriturus salute!" wählt der Generalconsul als ein derartiger "moderner Titane" zum Motto seiner Dichtungen, von deren Anordnung er unmittelbar zu den Zurüstungen der Weltausstellung übergegangen zu sein scheint. Man muß von dem armen Gladiator sagen: er ahnte wohl sein Schicksal.

Im Grunde hat Richard Wagner Ursache über die Zeit in der er lebt nicht zu klagen. Kommt auch das Bayreuther Theater nicht zu Stande, so beherrscht er doch ersichtlich den Geschmack seiner Zeit. "Lohengrin" und "Tanhäuser" machen überall gefüllte Häuser. Die jüngere Generation hat ein gewisses Etwas an des Maestro Weise herausgefunden das berauschend, alle Sinne zugleich bestrickend wirkt, und kein Nachdenken, keine Ueberlegung, kein Studium kostet. Gesunde Vernunft, Bildung, alles geht mit einem gewissen Taumel von Phantasie, süßer Ahnung oder süßer Erinnerung bei dieser Wagner-Stimmung durch. Männer sogar, Reichstagsdeputirte, habe ich in der ersten Vorstellung der "Meistersinger" im hiesigen Opernhause, bei einer Musik die auf mein Ohr haarsträubend wirkte, vor Begeisterung rasen sehen. Eine wilde, Stürmen auf dem Meer oder fernem Schakalgeheule gleichkommende, Instrumentation begleitete die einfachen, dem Kenner der altdeutschen Literatur als so anspruchslos und idyllisch bekannten Lebenskreise des alten Nürnberger Meistergesangs. Die Uebung in der Tabulatur, das Verlesen der Reimereien, diese naive stille Herbergsfreude war durch Bässe und Klappenhörner im ganzen ersten Act zu einer Art Hunnenschlacht, zu einer Jagd auf dem Mazeppa Roß in Galiziens Wäldern geworden. Wo waren da die kleinen Vorfälle, die um den Schusterschemel Hans Sachsens nur möglich gewesen! Aber jede Prüfung, jede Besinnung fehlte hier den Berauschten. Und diese aus dem Phantastischen, Nachgeahmten, Forcirten herstammende Bildung ist jetzt aller Wege anzutreffen, führt im Salon, in den höchsten Kreisen das tonangebende Wort, und kann sogar, wie hier vorliegt, eine Weltausstellung anzuordnen beauftragt werden. Danmor ist ganz ein Kind dieser geistigen Tanhäuserei. Von Don Juan gibt er Seite 111 in dithyrambischer Form, richtiger in halber Prosa, folgende Rechtfertigung: "Einer albernen Fabel opferte dich, den Helden spanischer Minne, deutsche Klatschbaserei; "Tausend und drei" sagen die Frommen achselzuckend, und seit Jahrhunderten spukst du in engen Gemüthern als zierlich geputztes Monstrum, das mit blutbefleckten Lippen armen Tauben Liebe heuchelt. Schönheit, Weiblichkeit, knospende Frauenanmuth oder reiferer Formen blendende Reizesfülle herrschten über dein ganzes Sein! Aber nicht Sinnentaumel zeigten dir jene Gefilde wo sich an hängende Himmelsgärten irdische Liebe klammern möchte (ein merkwürdiges gymnastisches Bild!), sondern du wolltest nur in der Wollust verathmenden Ohnmacht träumen, um deiner Seele Einsamkeit mit immer neuen Gefühlen und die angestammte Trauer mit Dithyramben zu täuschen." Folgt dann eine Apologie, die wieder, was schon 1830 Mode gewesen, Don Juan und Faust verschmelzen will; später kneteten ja einige lyrisch-epische Versuche noch etwas "Ahasver" in den unförmlichen Teig. Diese Beobachtungen über Don Juan scheinen auf Meerreisen entstanden zu sein, denn ringsherum schäumt und spritzt es auf in dem Buche von Schaum, brechen sich die Wogen, ragen die Klippen. Auch St. Helena wird begrüßt, und Napoleon I mit der ganzen Janitscharenmusik besungen die gewissen neueren Dichtern, Heine, Zedlitz, Gaudy, bei Nennung des Namens zu Gebote stand. Plötzlich gibt aber auch unser die Contraste liebender Danmor seinem Raptus für St. Helena und die Asche Napoleons eine Schwenkung und sieht in einer Vision alles was Louise Mühlbach in ihrem Schwanengesang, dem von Amerika bestellten Jubelprogramm der Weltausstellungseröffnung, ebenfalls in Perspective stellte: "Eisenbahnen, Telegraphen, Handelsflotten möcht' ich baun, Und durch Riesenteleskope ferne Horizonte schaun. Unsere besten Kämpen führen einen Pflug im Wappenschild u. s. w."

Liebenswürdig ist Hr. v. Schwarz bei alledem in seinen Gedichten. Er gibt sich voll Vertrauen, verräth eine Menge der intimsten Dinge über sich selbst, und offenbart in seinen Citaten eine Bildung die, in der Sphäre in welcher er lebt, nicht immer angetroffen wird. Aber sein sanguinisches Temperament springt von einer Stimmung in die andere. Wie in dem Gedicht "Dämonenwalzer" aus einem gothischen Dom und den erhabenen Klängen der Orgel plötzlich die Piccicatos Offenbach'scher Violinen heraushüpfen und den Dichter zu einer ihm unvergeßlichen Pariser Grisette zurückführen, so könnte auch umgekehrt die kleine "katholische Seele," die reizende Marietta, ihn wieder in die Peterskirche zurückführen und zur Verherrlichung Pio Nono's. Es ist dieß geradezu eine Krankheit der österreichischen Bildung, die Macht der auf einen gewissen feuilletonistischen Effect zugespitzten Situationen. Sie schadet der Charakterentwicklung.

4593 III.#

* Berlin. Heute ist Auction des Louise Mühlbach'schen Nachlasses! Nicht ihrer Manuscripte - denn diese giengen mit noch nicht getrockneter Tinte sofort in die Druckereien - sondern ihrer Möbel, Teppiche, Vorhänge, Pendülen, Gemälde, Vasen und der ägyptischen Andenken, die alle in einer Etage der Potsdamer Straße charakteristisch gruppirt standen! Hoffentlich hat die enthusiastische Ueberschätzung die der so plötzlich der Welt Entrückten jenseits des Oceans zutheil wurde, ein reiches Contingent von amerikanischen Steigerern herbeigeführt, das auch für eine alte Stahlfeder, die von ihr gebraucht wurde, fünfzig Dollars zu zahlen bereit ist! Denn ganz Berlin ist erstaunt über die Zerrüttung der Louise Mühlbach'schen Vermögensverhältnisse! Die Verstorbene hatte die glänzendsten Honorare bezogen. Sie soll vom Khedive außergewöhnliche Geldspenden erhalten haben. Sie gab Dîners und Soupers von lukullischer Fülle. Sie reiste ohne die mindeste Einschränkung wie eine Fürstin. Bei alledem soll für ihre noch unversorgte Tochter nichts als eine Schuldenlast vorhanden sein, wodurch die Bedauernswerthe vielleicht genöthigt sein dürfte die Erbschaft nur "unter der Wohlthat des Inventars" anzutreten.

Mitten aus angefangenen Romanen, die des Morgens gegen 10 Uhr einer Stenographin zwei bis drei Stunden lang dictirt wurden, ist die merkwürdige Frau durch den Tod abgefordert worden, den unerbittlichen Tod, den sie durch kein Zeichen ihres Lebens und Verhaltens als auch für sie schon herannahend geahnt hatte. Wenn es vollständig "diesseitige" Menschen gibt, Individuen für die man sich im Jenseits, falls man nicht mit den alten Aegyptiern an die Seelenwanderung glauben wollte, nirgends eine passende Unterkunft und Anknüpfung denken kann, so sind dieß die reinen Lebens- und Genußnaturen. Louise Mühlbach war eine solche. Sie war die ewig Unerschrockene, immer Muthige, immer auf der Bresche Stehende. Imperterrita hätte sie irgendein Romantiker der Spanier in einem Drama genannt, das sich vielleicht aus ihrem frühern romantischen Leben selbst hätte formen lassen. Ihren Freunden wird der resolute, muthige, keine Gefahr oder Anstrengung scheuende, etwas breit-mecklenburgische Klang ihrer Stimme unvergeßlich bleiben. Keine Niederlage drückte sie zu Boden. Die freudigste Zuversicht, Siegesgewißheit, Trotz bei jedem Unternehmen lag in ihren Zügen, in ihren Worten. Widersprachen die Thatsachen, so hatte sie der Auswege so viele wie ein Feldherr, der nach einer verlornen Schlacht doch noch seinen Rückzug imposant zu maskiren versteht.

Auf den "Berliner Büchertisch" könnte nur ihr letztes, von Flüchtigkeiten wimmelndes Werk "Kaiser Wilhelm und seine Helden" gehören, verlegt von einer hiesigen Buchhandlung (Werner Große), die nur einen massenhaften Absatz in den mittlern und untern Regionen anstrebt. Es war eine schon von ihren zerrütteten Finanzen herstammende Unsitte daß sich die in den Stoffen bedrängte Frau, die durchaus ihre alten Erfolge wieder erobern wollte, an lebende mächtige Persönlichkeiten anschloß, schon den Erzherzog Johann von Oesterreich als Romanstoff verarbeitete, während der ehemalige Reichsverweser noch ruhig auf seinem Schloß in Steiermark saß, an Napoleon schrieb (siehe die "Enthüllungen aus den Tuilerien"), weil sie Hortense und die Napoleonische Romantik verherrlichen, auch à tout prix an den Feierlichkeiten bei Einweihung des Suezcanals betheiligt sein wollte u. s. w. Die Unsitte der "Actualität" ist jetzt durch den ehemaligen Welfenagitator Meding, genannt Samarow, so weit gediehen, daß wir Romane zu lesen bekommen, wo in einer Scene Lasker mit Bismarck über ein Compromiß unterhandelt, Hr. v. Keudell dabei eine Cigarre raucht, und Lothar Bucher, ans Fenster gelehnt, scheinbar gleichgültig eine englische Zeitung liest. Die Poesielosigkeit, die Unbildung, das Yankeethum unseres Zeitalters sind die Beförderer dieses ans Kindische streifenden Mißbrauchs einer raschen und gewandten Feder geworden, die sogar nicht mehr angesetzt wird. Die Phantasie, die nur den Bogen füllen will, bedient sich der Stenographie. Yankeethum nennen wir hier jene fast an den Urzustand von Wilden erinnernde maßlose Schausucht, die gierig durch die Masse sich mit eingestemmten Armen Bahn bricht und alles anstaunt, alles belorgnettirt, alles im Bild anschaulich gemacht sehen will, Hinrichtungen, Schreckensvorfälle, Weltausstellungsspectakel u. s. w. Ganz Nordamerika leidet an diesem Sensationsfieber, während sich doch Europa, nach einigen Aufregungen, längst, wenigstens in den Kreisen der Bildung, beruhigt hat. Sollte man glauben daß ein New-Yorker Blatt Louise Mühlbach nicht bloß nach Wien, sondern auch nach Ems schickte, um dort das dießjährige (so stille, friedliche, von nicht der mindesten "Sensation" begleitete) Erscheinen des Kaisers an der Krähnchen-Quelle zu beobachten und zu beschreiben! Sie flog von Wien nach Ems, machte dann selbst in Marienbad eine Cur, erkältete sich, legte sich in Berlin ohne die mindeste Ahnung ihres gefahrvollen Zustandes ins Bett, und ist im bewußtlosen Zustande, ohne Schmerzgefühl, aus dem Leben geschieden. Als man ihre Leiche neben meinem alten Kampfgenossen Theodor Mundt in die Grube senkte und manchem des würdigen Sydow Sargweihe-Rede als zu herb noch im Ohre klang, hätte ich, wenn hier Laien-Grabreden Sitte wären, dem Thema: "Richtet nicht -!" erwiedern mögen: Auch diese Prunk- und Prahlsucht, die du zu verurtheilen scheinst - forsche nur nach, Priester! - es lag ihr bloß die weibliche Liebe zum Grunde! Liebe zuerst zu ihrem Gatten, der ihr bedeutender, anerkennenswerther erschien als ihn die schulmäßige Wissenschaft Berlins wollte aufkommen lassen, oder diejenige Berliner Anerkennung der man nur mit Titeln und Orden imponiren kann! Die Liebe war es die auch allmählich die mephistophelische, satirische, ja cynisch verbitterte Verachtung der Welt annahm, die sich allmählich des Gatten und zurückgesetzten Professors bemächtigt hatte! Liebe, Liebe allein ließ den Schein entstehen als wenn die moderne Literatur mit dem Adel, mit der Kaufmannswelt, mit den tausend Anmaßungen und hochgetragenen Nasen der Anmaßung ringsum rivalisiren könnte! Es ist ein alter Satz, den George Sand nur wiederholt hat, wenn man ihn als von ihr herrührend anführt, daß unsere Fehler die Uebertreibungen unserer Tugenden sind. Dieß auf das allerdings erschreckende Système de bascule angewandt, wie Louise Mühlbach verstanden hat sich bei den bekannten Lieferanten von Luxus- und Genußgegenständen einen Credit von Tausenden zu machen und zu erhalten, gibt einen Einblick in die Stufenfolge der Entwicklung der Charaktere. Die Verschwendung dieser Frau war nicht ganz die Folge der persönlichen Eitelkeit, sondern eine Folge des Widerstandes den der erlaubte Ehrgeiz geistig Schaffender der breitspurigen, vom Glücke begünstigten Alltagswelt leisten möchte. "Erlaubt" -? sagte ich von ihrem Ehrgeiz? Nun, in Bezug auf "Friedrich der Große und die Seinen" und "Kaiser Joseph" möchten wir in unsers Helmerding so köstlich vorgetragenes Couplet mit dem Refrain: "dazu gehört wahrhaftig doch Talent!" mit einstimmen.

In fast allen Berichten über die Gegenwartsliteratur findet man den Satz aufgestellt: daß der eigentliche poetische Ausdruck der Zeit der Roman sei. Besonders bei Einleitungen zu einer Besprechung über einen neu erschienenen Roman von N. N. begegnet man regelmäßig diesem Axiom von fragwürdiger Tragweite. Hätte der betreffende Autor, dessen Zeltcamerad und wahrscheinlicher täglicher Cigarrenkastengenosse der Recensent zu sein pflegt, zufällig ein Drama als epochemachend zu bezeichnen, so würde ihm niemand der die Unzahl der überall erstehenden Theater erwägt, und das trotz der "Krachs" wieder beginnende Billet-Rennen, widersprechen können. Aber genau erwogen ist jener Satz weder für den Roman noch für die Bühne erweislich. Wenn z. B. heut ein origineller, aus Kunst und Naivetät geschaffener Geist wie Robert Burns der deutschen Literatur, die ähnliches nur in den Ansätzen einiger verschollenen "Naturdichter" besitzt, geschenkt werden könnte, warum sollte er nicht in den Vordergrund treten und wieder auch für die Berechtigung der Lyrik zeugen können! Von einem Hindurchgehenmüssen des ästhetischen Begriffs, wie Carriere sagen würde, in "welthistorischer Entwicklung," ausschließlich durch den Roman, scheint mir gar keine Rede. Macht gute Dramen, und alle Welt wird davon erfüllt sein! Macht ein "reizendes" Epos (ich spreche berlinisch), und es wird auf jedem Toilettentisch liegen!

Schon deßhalb muß man jenen Einleitungssatz zu den Recensionen über die Romane von N. N. und N. N. ablehnen weil die Ablagerung der schriftstellerischen Impotenz im Roman eine Ausdehnung angenommen hat die schreckenerregend ist. Junge Mädchen ohne jede Lebenserfahrung, nur von den Reminiscenzen ihrer Lectüre erfüllt, häufen Bogen auf Bogen, und finden Gelegenheit ihre Convolute drucken zu lassen. Frauen "erfinden" - man kann wohl, nach dem Sprichwort, sagen, "auf Teufelholen" - Geschichten von geraubten Kindern, unterdrückten Testamenten, Brandstiftungen, Nichtanerkennungen illegitimer Kinder, Eindringlingen, die sich, nachdem sie das Herz einer Gräfin gewonnen haben, als Galeerensklaven entpuppen, oder sie nehmen Geschichtsstoffe, die in einer Weise zusammengeknetet werden die den Mélangen der Küchenrecepte entspricht. Gewisse Mémoiren-Excerpenten, die jahrein jahraus ihre 8-9 Bände zusammenbringen, die dann vorher schon in der Unzahl unserer illustrirten Blätter verwerthet worden waren, schreiben mit um so größerem Vertrauen, als sie nur von Menschen gelesen oder als langweilig beiseite gelegt werden die nicht wieder schreiben. Kritik existirt für diese Buchmacherei nicht. Wer soll sie üben, wer soll sie lesen, durchblättern, als höchstens ein auf massenhaftes "Abthun" angewiesener Recensent in den "Blättern für literarische Unterhaltung?" Nur die Reclame hält sie, worunter nicht die Anzeige "unterm Strich" zu verstehen ist, sondern die den obern Zeilen ebenbürtige redactionelle Meinungsäußerung, in der Regel ein vom Autor oder von dem Verleger selbst besorgtes Referat, das jeden Tadel ausschließt. Die Redactionen der meisten hiesigen Zeitungen sind froh wenn sie nur irgendwie die Bücherstöße, die sich bei ihnen namentlich gegen Weihnachten aufhäufen, in solcher Art erledigen können.

Da "die Kinder der Welt" von Paul Heyse (Berlin, Hertz), eine Zierde des "Berliner Büchertisches," in diesen Blättern bereits eingehende Referate gefunden haben, so sei Robert Schweichels "Der Bildschnitzer vom Achensee" (drei Bände, Otto Janke) erwähnt, und zunächst die Verwahrung 4594 eingelegt daß die günstigen Stimmen die darüber schon verlauteten nicht etwa ebenfalls so unterderhand entstanden seien. Im Gegentheil versetzt uns in diesem spannend und anziehend geschriebenen Roman ein talentvoller Autor in eine der schönsten Gegenden Tirols, an den Achensee, den tiefblauen, nicht meergrünen Tiroler See, der, nach manchen Vorkommnissen zu schließen, einen Eingang zu den Geheimnissen der Weltbildung zu verdecken scheint. Eigene Anschauung verräth sogleich die prächtig geschriebene Einleitung des Romans, die in lebendigster Weise auf den Schauplatz der Handlung versetzt. Wir sehen jene gemütherhebenden Gegenden, die Sommerfrischen der von Staub und dem Kalkgeruch der Neubauten unserer norddeutschen Städte erschöpften Mitmenschen, leibhaft vor uns in allen Eigenthümlichkeiten bis auf die blauen und rothen Gewänder der Madonnen auf den alpinischen Hausgiebeln.

Freilich aber auch erkennt man mit kunstvoller Hand gewoben den urdicken Nebel, der sich nicht nur Abends, wenn die Wiesen dampfen, sondern zu jeder Stunde über diesen schönen Fluren, Bergrücken, Schluchten in der Nähe des Innstädtchens Jenbach gelagert hält. Es ist die dumpfe finstere Tiroler Geistesnacht, die Schweichel zum Hintergrund seines psychologisch interessanten Gemäldes gemacht hat, die Priesterherrschaft, die Abhängigkeit der kleinen dem Fortschritt nicht abgeneigten Ortspfarrer vom Einfluß der Jesuiten in Innsbruck, die Verstrikkung der Gewissen, die aus den dem freien Handeln und Empfinden überall vorgezogenen Schranken nicht mehr heraus kann. Einzelzüge dieser traurigen Abminderung des Werthes, den sonst jene nationalen Lebensstufen für unsere Theilnahme, unsere Vorliebe haben würden (cf. Vischer "Kritische Gänge" I) sind von dem Verfasser vortrefflich wiedergegeben. Dagegen ist in andern Zügen die Feder des gesinnungsvollen Autors zu weit gegangen und hat dem Geschmack der Zeit zuliebe doch carikirt. Solche Streiche, wie sie Schweichel den Innsbrucker Jesuiten unterlegt, muß ein Schriftsteller von Bildung und Maß sich versagen. Um einen elenden Bauerhof sollte Diebstahl, Unterschlagung, Mord, was nicht alles, auf Rechnung der Herren mit der langen Robe kommen! Etwa um ein Grafenschloß, etwa um die Nachkommen eines vornehmen Geschlechtes wäre es allenfalls möglich daß jene oben charakterisirten "Erfinderinnen-Auf-Teufelholen" solche Streiche ersännen. Aber um den weiland in der Welt herumziehenden, in England zum Stiefelputzer degradirten Aloys Sterzinger und dessen endlich glücklich eroberten Hof am Achensee verdienten die Jesuiten nicht an ihrer geistlichen und weltlichen Ehre so schmählich gekürzt zu werden. Der Hauptspitzbube heißt sogar, wie der Verfasser der jesuitischen Lehrbücher, "Pater Gury!"

Man könnte mit dem Verfasser, der jedoch bei alledem eine wie wirklich vor uns stehende Welt zu gestalten verstanden hat, ebenso noch über manches an seinen Motiven, manches an seinen Charakteren rechten. Man könnte einwenden daß das eigentliche Agens des Romans, ein "Testament," das so in Jagdtaschen und Dachstuben herumfährt und aller notariellen Beglaubigung, der gerichtlichen Deposition, also wirklicher Einschüchterungskraft für unrechtmäßige Erbfolge entbehrt, unmöglich so viele Beklemmungen verursachen kann, daß daraus ein Roman in drei Bänden entsteht. Aber diese Unglaublichkeit vorausgesetzt, ist das individuelle Interesse das sich an jenes Stück Papier anknüpft vortrefflich gezeichnet, die zur "Bäuerin" erhobene frühere Magd Veronika geradezu ein in seinen Tücken, seiner Verschlagenheit, Keckheit unergründlicher Charakter wie Adele Spitzeder. Nur gegen die Eva möchten wir gelinden Einspruch thun, weil sie einer nicht chronischen, sondern immerfort vorhandenen, also acuten Krankheit des deutschen Romans, dem Mignon-Fieber, angehört.

Nicht ein größerer Roman erscheint, wo nicht eine Nachkommin aus der Familie des alten lombardischen Harfners auftritt. Vielleicht, Literarhistoriker mögen darüber Forschungen anstellen, hat sogar Mignon schon Ahnen gehabt bei Schlenkert und Grosse ("der Dolch"). Die neuere Zeit hat nun die Mignons, die später in "zottelköpfige" Bettinen ausarteten, in die Sphäre "Grille" und "Barfüßle" übersetzt. Auch die Eva in unserm Roman gehört dieser Familie an. Aber solche bewußt aparte Mädchen gibt es nicht. Weder solche die immerfort originelle Einfälle aus dem Collectaneen-Buch ihres Schöpfers an einer irgend passenden Stelle an den Mann bringen, wie die Auerbach'sche deutsche "Fadette," noch solche die, wie Robert Schweichels "Eva," diesem den Gefallen thun bei Gelegenheit all die Schnaderhüpferln zu singen die sich der Treffliche auf einer Sommerreise durch Tirol aufgeschrieben hat. Was da so ein wüster Gamsschütz mit bierheiserer Stimme in irgendeinem Wirthshause, während der Regen draußen an die Fenster klatscht, am sogar im Sommer geheizten Kachelofen gesungen haben mag, paßt das für ein junges Ding von 15 Jahren zu wiederholen und zu bejuchen und zu bejodeln? Und thut sie es, so hat sie doch wohl die Berechtigung dem Leser etwas von Blumen und im Mondschein vorzureden, und wie ein Elfe auf- und niederzuschlüpfen, verloren.

4749 IV.#

* Berlin. In der That, Berlin ist die Stadt des "Unbewußten!" "Bewußt" stand dem Referenten (Allg. Ztg. Nr. 296, Beilage) seit einem an sich unvergeßlichen Aufenthalt am Bregenzer See die Thatsache fest daß ihm dorthin "Neue Gedichte von Dranmor," dem seit Jahren unbekannt Spukenden, zugesandt wurden, begleitet von der Visitenkarte eines - Generalconsuls. "Unbewußt" liefen ihm später die Generalconsuln Schmidt und Schwarz in einander, und mit allen Formen geziemenden Bedauerns bitte ich den Demiurgos der Wiener Weltausstellung um Verzeihung für einen Irrthum, der zu seinen mit so vielen Dornen verbundenen Lorbeeren noch die problematische Ehre fügen wollte Verfasser von "Dranmors Dichtungen" zu sein! Am Inhalt des Referats selbst ändern die zu vertauschenden Adressen desselben nichts.

In seinem Buche "Die Welt als Wille und Vorstellung" hat Arthur Schopenhauer unser Bewußtsein mit dem Spiegel eines Sees verglichen, auf dessen Grunde die Gewässer der Erfahrung, der empfangenen Eindrücke, uns unbewußt hin- und herwogen und nur durch Wille und Denken zu Tage treten. Das Bild des Frankfurter Philosophen hat die neuere Zeit weiter ausgeführt. Es ist ein hydraulischer Apparat erfunden worden, ein Taucherharnisch, um sich sogar in diesem unergründlichen Meere der Unbewußtheit zurechtzufinden. "Unsere besten, sinnreichsten und tiefsten Gedanken treten plötzlich ins Bewußtsein, wie eine Inspiration," sagt Schopenhauer in den Parergen. Eduard v. Hartmann hat dieser Plötzlichkeit das Ueberraschende und Wunderbare nehmen wollen. Seine "Philosophie des Unbewußten" will alle Wahrnehmung der Sinne in der Erscheinungswelt, alle des Geistes in den Gebieten des Gefühls, den Gebieten der religiösen Gebundenheit und des Geschmacks methodisch auf unbewußte Vorstellungen zurückführen. Nicht ohne Ironie des Zufalls fiel Hartmanns Lehre in denselben Moment wo Liebreich das Chloralhydrat, diese Wohlthat für die vom Schlaf geflohene Menschheit, erfand. Nach amerikanischen Berichten zu schließen, wie sich dort die Wirkungen des letztern offenbaren sollen, nähern wir uns im Genuß jenes chemischen Präparats ebensowohl wie im Genuß der Unbewußtheitsphilosophie jenem traumseligen indischen Nirwâna, dem Schwinden aller Formen, dem Untertauchen in den kreißenden Alläther. In demselben quietistisch, buddhistisch, pessimistisch verharrend, warten wir das Ankommen der elektrischen Strömungen von Leben, Dasein, Pflichtgefühl, Liebe, Leidenschaft u. s. w. bei der sogenannten "Reizschwelle" ab, welche letztere naturkundig sein sollende Entdeckung der sinnige Fechner gemacht hat und Hartmann weiter ausbildete. Die "Reizschwelle" gibt für die von außen kommenden Strömungen im Ich mit dem Unbewußten den Contact. Kurz, die räthselhaftesten Vorgänge im Menschen erleben "unbewußt" eine fast mathematisch nachweisbare Entwicklung.

Fragt man nach der eigentlichen Religion der hiesigen Bildung, so dürften jetzt die Anhänger Buddha's in unserer gebildeten Welt überwiegend sein. Ist bei ihnen als "Reizschwelle" auch nur die Cigarre vorhanden oder bei den Frauen die Wagner'sche Musik - alles soll bei uns jetzt "Pessimismus" sein, Lebensqual, Unerträglichkeit des Daseins. Und wunderbar, wie der Weltgeist für sein Fortschreiten zu sorgen weiß! Dem Nationalliberalismus zufolge befinden wir uns, wenigstens in Deutschland, in der Epoche der vollkommensten Zustände die sich denken lassen, bis auf einige wenige Gesetze, die noch unsere Gesetzesfabricanten in Petto haben - und unter ihren Augen muß diese immer mehr um sich greifende Bewegung entstehen, die alles Irdische, also mit der Zeit doch auch die Institutionen im "neuen Reich," unvollkommen, lückenhaft, den freien Willen lähmend u. s. w. findet! Die freie Discussion bricht sich Bahn von Punkten aus wo man die "Reizschwelle" am wenigsten voraussetzte.

Daß schon an sich eine Philosophie die an die Stelle logischer Klarheit und richtiger aus festen Prämissen gezogener Schlußfolgerungen überall ein unbestimmtes Etwas setzt, das bald aus natürlichen Vorgängen des latenten Angehäuftseins empfangener Eindrücke, bald aus dem Antheil des Menschen an der Urseele der Welt überhaupt besteht, vorzugsweise in der Laienwelt Anhänger gewinnen muß, läßt sich begreifen. Der Absatz des Hartmann'schen Werkes hat schon die fünfte Auflage zuwege gebracht. Die Gegner sind theils Anhänger der alten constructiven Metaphysik, die dem Schopenhauerianismus mit Recht den Vorwurf machen daß sein Philosophiren zu sehr den Charakter des gelegentlichen Aperçus, der Paradoxie, der unvermittelt an einander gereihten Thatsachenkritik trägt; theils sind es Erfahrungsdenker, die mit Hartmann und seinen Vorgängern über die Richtigkeit und ausreichende Prüfung der Thatsachen selbst streiten. Der sich wiederholende Satz dieser Lehre: Der Mensch ist die Dupe seiner selbst! hat auch in der That etwas ungemein trauriges und könnte nur Stoff zu einem neuen Faust, zu einem Mephisto geben, der voll Schadenfreude unser elendes Sichselbsttäuschen beobachtet. Es ist aber auch nicht wahr daß die Liebe und der Grad der Lust an ihr aus dem Grade der Unlust (der Dauer der Entbehrung) entsteht. Es liegt der Liebe wahrlich kein Erinnern, kein Aufsteigen von Unbewußtheiten zum Grunde. Es ist eine unmittelbare Präsenz des Geistes und Gefühls, die den Dichter ergreift wenn er ein Gebilde der Phantasie gestaltet. Ein Unmittelbares reißt den Beschauer von Kunstgebilden in einer Gallerie zur Bewunderung hin oder rührt den Hörer eines Musikstücks zu Thränen. Man kann den Punkt der in einem solchen Augenblick im geistigen Organismus des Schaffenden, des Genießenden getroffen wird, nicht das Bewußtwerden einer Unbewußtheit nennen, das Springen einer Taste in dem sich selbst bildenden Instrument der "Unbewußtheiten" der Seele. Es ist höchstens das Springen eines von Beginn an eingelegten Samenkeims, eines befruchteten Eies in dem Ovarium angeborner und ausgebildeter Anlagen. Der vom Dichter behandelte Stoff hat als solcher unmittelbar seine Consequenzen, bedingt momentan sich gestaltende Denkformen, Kunstgefühle, für welche bei einem ursprünglichen Geiste gerade im Gegentheil keine Prämissen vorhanden sind. Und wie verfehlt scheint doch in diesem sonst gewiß geistvoll und edel anregend geschriebenen Werke Hartmanns so manche Vermuthung über das Unbewußte bei diesem oder jenem psychologischen Problem des Lebens! Offene ehrliche Sprache, glückliche Beobachtung über die Vorkommnisse des täglichen Lebens lassen sich dem, wie man erzählt, an ein beständiges Krankenlager gebundenen Denker nicht absprechen, er ist auch nicht in solchem Grade Cyniker wie sein Vorgänger; aber was soll man z. B. von dem unbewußten Raisonnement sagen das reiche Leute bestimme sich um Kinder umzuthun! "Sie wünschen sich" (schreibt der Verfasser) "Besitz von Kindern, um an dem auf diese ausgedehnten Egoismus ein Motiv zum Fortsetzen der Erwerbsthätigkeit zu haben!" Wie aber, wenn sie sich zur Ruhe setzen und doch noch immer Kinder bekommen?

Eine begeisterte Vertheidigung hat die neue Lehre gegen ihre Gegner in dem so eben erschienenen: "Der Pessimismus und seine Gegner. Von A. Taubert (Berlin, Heymons 1873)" gefunden. Hier ist die Sache schon zur Schwärmerei gediehen, zum Thema philosophischer Zukunftsmusik. Gewiß, ein warmempfindendes Herz, Begeisterung für alles Schöne, Zorn und Haß gegen jede Unbill der positiven Welt sprechen aus diesen Blättern mit fortreißendem Schwung. Jetzt, sagt der Verfasser, sei der Pessimismus, der die Welt zu erlösen gekommen, erst im Vorstadium. Aber er wird aus seiner Geburtsstätte, dem Gehirn der einsamen Denker, zunächst in die literarisch gebildeten Schichten eindringen, von wo er dann von selbst aus tausend und abertausend Canälen weiter rieseln wird, um alle Schichten des Volksgeistes zu befruchten. (S. 145.) Ein weiteres Eingehen den Fachblättern überlassend, bemerke ich nur daß bei den Pessimisten zu wenig Nachdruck auf den unbefriedigten Ehrgeiz und die Kleinlichkeit großer Seelen gelegt wird. Wenn Goethe bekanntlich in seinem 80. Lebensjahre nur vier glückliche Wochen gehabt haben will, so muß man doch wohl weniger die Welt als ihn selbst anklagen, der die Hof- und Gesellschaftskreise von Weimar mit einer Macht auf sich wirken ließ die seiner nicht würdig war. S. 56 spricht der Verfasser dem Alterthum den "Naturgenuß" ab. Eine seltsame Behauptung, wenn man an die Bukoliker und Horazens Landhauswonne denkt, fern von dem Getriebe der Welt seine Reben selbst zu beschneiden und zu ruhen unter alten Eichen, wenn sich der Strom zu unsern Füßen schlängelt et queruntur in silvis aves!

Eine Empfehlung und zugleich mannichfach abweichende scharfe Kritik der Hartmann'schen Lehre bringt "Das Unbewußte und der Pessimismus. Studien zur (wohl Kritik der?) modernen Geistesbewegung. Von Dr. Johannes Volkelt." (Berlin, Henschel 1873) Der ohne Zweifel noch jugendliche Verfasser hat die ganze Frische der Ergriffenheit von einem Wissensbereich, das wahrscheinlich auch die Grundlage seines Lebensberufs bildet. In einem fast zu schnell fließenden Strome der Rede, der mich an manche Proben sächsischer Eloquenz erinnerte, folgen sich seine polemischen, mit Beweisen einer vielseitigen Kenntniß der Literatur reich ausgestatteten Paragraphen, die von einem Rückblick auf die Geschichte der Philosophie eingeleitet werden. Den Dresdener C. G. Carus, weiland königlich sächsischen Hof- und Leibmedicus, so bevorzugt in die Vorgängerschaft Hartmanns aufgenommen zu sehen, wie hier geschehen, hat Referenten angenehm überrascht. Wo die Carus'sche Seelenmystik an ihrem Platz ist, verdient sie nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Das "Unbewußte" hatte vor zwanzig Jahren schon in Dresden eine eigene und sehr vornehme Gemeinde. Goethe's Tasso, den wir kürzlich an unserem Hoftheater unter freilich sehr modernen Voraussetzungen dargestellt sahen, vergegenwärtigt etwa die Welt, wo unter Carus' Leitung einst in Dresden alles was hoffähig war das Bestreben hatte eine "schöne Seele" zu werden. Die Hartmannianerinnen trifft man allerdings in diesen Kreisen wohl noch nicht, weder in Dresden noch hier. In der Gelehrten-, in der Kaufmannswelt dagegen sind, um nur bei der Damenwelt zu bleiben, hier die Hindumädchen mit den langen Haaren, die Musikmappe unterm Arm, häufig anzutreffen. Meist wollen sie Lehrerinnen werden oder spüren Beruf zum Telegraphendienst. Nur der noch laufende Musikcursus bei Kullak hält die endliche Entschließung auf, um aus 4750 den mächtig das Gemüth hin- und herwerfenden Trieben der Selbstbestimmung herauszukommen. Aristophanes fände hier viel Stoff für seine Satire. Ein neuer Molière brauchte nur zuzugreifen. Ein Schmerzensschrei wie: "Ha! Zu den Comforts des Paradieses gehörte gewiß, daß damals Eva noch keine Köchin brauchte!" ausgerufen etwa von unserer Frau Frieb-Blumauer am königlichen Theater, würde gewiß in einer Komödie "Berliner Nirwâna" oder "Die neuen Buddhisten" seine Wirkung nicht verfehlen. Dieser köstliche Witz findet sich, wie noch manches andere hieher gehörende Ultra-Pessimistische, in dem Buche: "Ein Beitrag zur Frauenfrage. Von Hedwig Dohm." (Berlin, Wedekind und Schwieger, 1873.) Da wir gerade die Wahlen haben, wollen wir nur von dem Vielen, worin die mit Gott, der Welt und besonders den Köchinnen zerfallene muthige, aber geistreiche Verfasserin "Jesuitismus" wittert, auch das Stimmrecht für die Frauen erwähnen. "Die Frauen haben Steuern zu zahlen wie die Männer, sie sind verantwortlich für Gesetze, an deren Berathung sie keinen Antheil gehabt; sie sind also den Gesetzen unterworfen die andere gemacht. Das nennt man in allen Sprachen der Welt Tyrannei, einfache absolute Tyrannei; sie mag noch so mild gehandhabt werden, sie bleibt Tyrannei. Die Frau besitzt wie der Sklave alles was man ihr aus Güte bewilligt. Der Vergleich zwischen der Stellung des Sklaven und der Frau ist oft gemacht worden, und er ist vollkommen zutreffend. ... Wie jene Martyrinnen, weil sie im Tempel glauben wollten was sie im Herzen glauben mußten, so wollen wir das Stimmrecht, weil wir in der Welt sein wollen was wir im Herzen sein müssen!" Gewiß in diesem Augenblick sehr beherzigenswerthe Worte! Denn wie die Sachen eben stehen, bin ich überzeugt: der Ausfall der eben vorgenommenen Wahlen (es waren noch ausschließlich männliche) wird keine Partei ganz befriedigt haben.

Apparat#

Bearbeitung: Kurt Jauslin, Altdorf#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow: Vom Berliner Büchertisch. I.- IV. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 294, 21. Oktober 1873, S. 4457-4458; Nr. 296, 23. Oktober 1873, S. 4490-4491; Nr. 303, 30. Oktober 1873, S. 4593-4594; Nr. 313, 9. November 1873, S. 4749-4750. (Rasch 3.73.10.21, 3.73.10.23, 3.73.10.30, 3.73.11.09)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Die eigenwollige Kommasetzung geht auf eine redaktionelle Übereinkunft der Allgemeinen Zeitung zurück. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

2.1.1. Texteingriffe#

2,1 "Accidenz"-Blättchen "Accidenz "Blättchen

11,11 einen einem

11,27-28 gekommen, und gekommen und

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.