Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Wally, die Zweiflerin#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
  2. Martina Lauster
Fassung
1.3
Letzte Bearbeitung
30.07.2023
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Text#

3 Wally, die Zweiflerin.#

Roman von Karl Gutzkow.#

– Des Friedens Wund’ ist Sicherheit,
Sorglose Sicherheit; doch weiser Zweifel
Wird Leuchte der Vernunft, des Arztes Sonde,
Der Wunde Grund zu prüfen.

Shakspeare.

5 Erstes Buch.#

7 1.#

Auf weißem Zelter sprengte im sonnengolddurchwirkten Walde, Wally, ein Bild, das die Schönheit Aphroditens übertraf, da sich bei ihm zu jedem klassischen Reize, der nur aus dem cyprischen Meerschaume geflossen sein konnte, noch alle romantischen Zauber gesellten: ja selbst die Drapperie der modernsten Zeit fehlte nicht, ein Vorzug, der sich weniger in der Schönheit selbst, als in ihrer Atmosphäre kund zu geben pflegt. Welche natürliche und ihr doch so vollkommen gegenwärtige Koketterie auf einem Thiere, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wußte, daß es blind war! Wally gab sich das Ansehen, als wäre sie mit ihrer Situation verschwi-8stert; aber nichts ist so reizend, als wenn durch irgend eine fast gelungene Affektation, durch die ganze Haltung eines innerlich mehr reflektirten wie angebornen Wesens einige kleine Lichtritzen schimmern und für den Mann, welcher sie sehen kann, die versteckten Erleichterungen einer sich einbohrenden Neigung werden. Aber von den zahlreichen Cavalieren, welche Wally umgaben, sahe diese kleinen Lücken der Furcht edler Weiblichkeit Niemand. Jene, die Lücken der Furcht, kannte vielleicht der Jokey, der auch wußte, daß die weiße Stute blind war. Aber die Uebrigen hingen nur wie der Eisenfeilstaub am Magnet, wie die Nachahmung am Genie, wie das Ordinäre am Wunderbaren.

Am Wege schritt, wie es beim Temperamente sich von selbst versteht, im Zweivierteltakte Cäsar, ein Mann, der im Stande war, eine solche Gruppe, wie die vorbeisprengende, 9 im Nu zu übersehen und jede darin waltende Figur so zu isoliren, daß er sie Alle verarbeitete und an seiner eigenen Individualität zerrieb. Kennt ihr diese genialen Charaktere, welche durch ihr Schweigen immer mehr ausdrücken, als wenn sie reden, die nur ihr rollendes, siegendes Auge in die Gesellschaft bringen dürfen, und jede Persönlichkeit darin absorbiren in eine Huldigung, die ihnen wird ohne ihr Verlangen? Cäsar stand im zweiten Drittel der zwanziger Jahre. Um Nase und Mund schlängelten Furchen, in welche die frühe Saat der Erkenntniß gefallen war, jene Linien, die sich von dem lieblichsten Eindrucke bis zu dämonischer Unheimlichkeit steigern können. Cäsars Bildung war fertig. Was er noch in sich aufnahm, konnte nur dazu dienen, das schon Vorhandene zu befestigen, nicht zu verändern. Cäsar hatte die erste Stufenleiter idealischer Schwärmerei, welche unsre Zeit auf junge Ge-10müther eindringen läßt, erstiegen. Er hatte einen ganzen Friedhof todter Gedanken, herrlicher Ideen, an die er einst glaubte, hinter sich: er fiel nicht mehr vor sich selbst nieder und ließ seine Vergangenheit die Knie seiner Zukunft umschlingen und sie beten: heilige Zukunft, glühender Moloch, wann hör’ ich auf, mich mir selbst zu opfern? Cäsar begrub keine Todten mehr: die stillen Ideen lagen so weit von ihm, daß seine Bewegungen sie nicht mehr erdrücken konnten. Er war reif, nur noch formell, nur noch Skeptiker: er rechnete mit Begriffsschatten, mit gewesenem Enthusiasmus. Er war durch die Schule hindurch und hätte nur noch handeln können; denn wozu ihn seine todten Ideen machten, er war ein starker Charakter. Unglückliche Jugend! Das Feld der Thätigkeit ist dir verschlossen, im Strome der Begebenheiten kann deine wissensmatte Seele nicht wieder neu geboren werden; du kannst nur 11 lächeln, seufzen, spotten, und die Frauen, wenn du liebst, unglücklich machen!

Cäsar, wie er einsam wandelte, fühlte, daß er weinen sollte, und lachte, um die Thränen zu vertreiben.

Da flog Wally mit ihren Begleitern an ihm vorüber. Sie schlug mit ihrer Gerte in die Seiten des schönen, aber blinden Gaules (sie wußte es wahrhaftig nicht!) – ein sonderbarer Glanz klang durch die Luft, und zu Cäsars Füßen lagen fünf kostbare Ringe.

Sie mußten an der Reitgerte gesteckt haben.

Wally sah, was der Unbekannte am Wege aufnahm; sie machte Miene anzuhalten; aber als der Fremde mit der Zurückgabe zögerte, blickte sie bös und trieb ihren Schimmel weiter. Die Cavaliere hatten nichts gesehen.

Cäsar aber, da er die Reiterin sogleich aus den Augen verlor, mußte sich auf Alles besinnen. Er gefiel sich darin, an eine alte Sage 12 zu glauben, an die Prinzessin im Walde und sich selbst mit irgend einem Zauber in Verbindung zu bringen.

Er steckte die Ringe zu sich und hatte sie wieder vergessen, wie er innerhalb der Stadt war.

________

13 2.#

Ein gewisser Regierungs-Präsident gab einen beinahe ländlichen Ball. Wally und Cäsar sahen sich hier. Cäsar hatte in einem Anfalle guter Laune die fünf Ringe über seine Handschuhe gezogen. Wally frug ihn, wie er darauf käme?

„Weil meine rechte Hand,“ antwortete er, „beim Tanzen immer ungeschickt ist. Die Ringe verhindern sie, von dem glatten Rücken der Tänzerinnen abzugleiten.“

Wally ließ ihn stehen: dieser junge Mann mißfiel ihr. Aber sie fühlte, daß sie sich zerstreuen müsse, und tanzte mit Vorliebe. Sie wurde erhitzt, verfolgte Cäsar und sahe, daß er die Ringe wieder fortgenommen hatte.

Sie wollte sie wieder haben und rief einem 14 ihrer Employés, einem blondharigen Referendär, der eine kleine Schrift über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte. Sie setzte ihm die Lage der Dinge auseinander.

„Ich bin gewohnt,“ sagte sie, „für jeden Monat im Jahre einen andern Anbeter zu haben, und ich nehme Niemanden an, der sich nicht durch einen Ring in meine Gunst einkauft. An meinem Finger will ich die Ringe nicht: ich trage sie an meiner Reitgerte, und mache mir ein Vergnügen daraus, wenn ich von Juli zu Juli ins Bad reise und armen preßhaften Leuten sie alle zwölf nach einander in die heißen Sprudelbecher werfe.“

Darauf erklärte sie ihm, wie sie fünf davon verloren hätte, und verlangte, daß sie ihr wieder zu Handen, das heißt zur Reitgerte, kämen.

Der junge Mann, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte, versprach sein Möglichstes und redete Cäsar an.

15 Cäsar betrachtete ihn und besann sich auf den Verfasser der kleinen Brochüre. „Sie verstehen sich darauf,“ sagte er dann, „als St. Georg gegen die Ungethüme der Zeit zu kämpfen. Die Ringe der Dame passen zu meinem Schuppenleibe: ich stehe als Lindwurm zu Ihren Diensten!“

„Wie versteh’ ich das?“ fragte der junge Mann, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte.

Cäsar ließ ihn stehen. Der Bote wagte nicht unverrichteter Sache zu Wally zurückzugehen; eben tanzte sie, sie hatte seine Abweisung glücklicherweise nicht bemerkt.

Der junge Mann half sich: er wußte, von wem die fünf Ringe kamen: vier von seinen Freunden, die mit ihm theils auf dem Stadtamte fungirten, theils auf das nächste militärische Avancement warteten; einer gehörte ihm, denn Wally’s Sonne stand zufällig während 16 dieses Monats in seinem Zeichen. Die Sache wurde unvermeidlich ein Ehrenhandel; aber er war perfid genug, dem Gegner das Spiel fünffach zu erschweren. Cäsar bekam noch an demselben Abend fünf Ausforderungen ins Ohr geflüstert.

Er nickte lächelnd zu jeder; für den folgenden Morgen war Alles anberaumt, aber er entfernte sich früh.

Wally tanzte bis in die Nacht. O welch ein Glück, sich mit dem faden Mittelgut in ewig gleichen Kreisen herumzudrehen!

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17 3.#

Es war schon um die eilfte Vormittagsstunde des folgenden Tages, als Wally unter den Händen ihres Kammermädchens saß und ihr Haar flechten ließ. Sie hatte einen kleinen Tisch vor sich gerückt, worauf die Erzeugnisse der neuesten Literatur lagen. Natürlich kamen sie frisch aus dem Buchladen; anständige Leute lesen nicht aus Leihbibliotheken.

Sie blätterte in dem jüngsten Musenalmanach von Schwab und Chamisso. „Diese guten Waldsänger,“ sprach sie vor sich hin, „nehmen sich die Freiheit, sehr ennüyant zu sein. Wenn uns die Reime nicht in einer Art von melodischer Spannung hielten, die Monotonie der Ge-18fühle und Anschauungen wäre tödtlich. Ich ziehe Prosa vor. Heine’s Prosa ist mir lieber, als Uhland und sein ganzer Bardenhain.“

Sie griff nach Heine’s Salon, zweiter Band. „Willst du Philosophie studieren, Aurora?“ fragte sie ihr Kammermädchen: „hier sind all die gelehrten, bemoosten Karpfen der deutschen Philosophie mit Frühlingspetersilie und Vanille zubereitet. Man sollte die Bonbons in Aphorismen aus Heine’s Salon einschlagen. Welch gesunkenes Volk müssen die Franzosen sein, daß sie gerad’ auf der Stufe in den Wissenschaften stehen, wo in Deutschland die Mädchen.“

Einige Schriften vom jungen Deutschland lagen zur Hand, von Wienbarg, Laube, Mundt. „Wienbarg ist zu demokratisch: ich habe nie gewußt, daß ich vom Adel bin,“ sagte sie; „aber mit Schrecken denk’ ich daran, seit ich diesen Autor lese. Laube scheint den Adel nicht abschaffen, sondern überflügeln zu wollen. Doch bleibt es arg: er 19 ist zudringlich. Er gibt sich in seinen Schriften das Ansehen, als kenne er jede seiner Leserinnen und verlange von ihr eine Hingebung, um die er nicht ein Mal bittet. Mundt goutir’ ich nur halb: denn er wird, je mehr er sich selbst klar zu werden scheint, für Andere immer unverständlicher. Verstehst du, Aurora?“

Aurora hatte etwas in den Mund bekommen und mußte abscheulich husten. Wally lachte.

Unter den Büchern lag zuletzt die neueste Lieferung der Carlsruher Bilderbibel, auf welche Wally abonnirt hatte.

„Wie sonderbar doch das Christenthum auf Velinpapier aussieht!“ sagte sie zu sich selbst. „Dienen diese Kupfer zu etwas anderem, als die Aufmerksamkeit noch mehr von dem heiligen Buche abzulenken! Siehe, da steht ein Druckfehler! Ein umgekehrter Buchstabe! Es ist hübsch, in der Bibel Irrthümer zu entdecken.“

20 Wally sahe nur auf das Aeußre, auf den Einband, dann las sie etwas. Sie las einige Verse, ein halbes Kapitel und fragte ihr Mädchen, wann sie zuletzt in der Kirche gewesen wäre?

Aurora war nicht frivol: sie war vor vier Wochen da gewesen.

Wally las, ohne zu hören. Dann fragte sie: „warum bist du so still?“

Aurora war nicht mehr im Zimmer: Wally blickte sich scheu um, und las weiter. Ihr Auge haftete stier auf den Buchstaben: sie schlug eine Seite nach der andern um: dann lehnte sie sich zurück, eine Thräne stand in ihrem Auge. Sie sah mit einem flehenden, verzweifelnden Blick auf den kleinen Tisch, der so viel Widersprechendes friedlich umschloß. Sie stützte den Kopf auf die Lehne ihres Sessels; es war Sonntag. Die Glocken läuteten, aus der nahen Kirche brausten die Töne der Orgel 21 herüber. Wally war in Thränen aufgelöst. Kann man dem Himmel ein schöneres Opfer bringen? Diese Thränen flossen aus dem Weihebecken einer unsichtbaren Kirche. Die Gottheit ist nirgends näher, als wo ein Herz an ihr verzweifelt.

Aurora kam zurück. Es war Besuch im Gesellschaftszimmer. Wally hätte absagen müssen; aber sie war willenlos. Sie fand die Ritter von den fünf Ringen, einige von ihnen leicht verwundet.

Wally erschrak, als sie von dem Vorfalle hörte. Cäsar war am Arme blessirt. Aber schon die Nachricht, daß keine Gefahr vorhanden sei, richtete sie auf; und wie in der menschlichen Seele Schmerz und Freude sich ergänzen, und das Linderungsmittel des einen Uebels auch alle übrigen Sorgen heilt, die mit ihm in keiner Verbindung standen, so wandte sie sich 22 theilnehmend dem Gespräche zu. Es war fade, wie immer; aber verzeihlich der Tageszeit wegen. Man soll vor Tische von keinem Menschen verlangen, daß er geistreich sei.

Wally konnte lachen und lachte übermäßig.

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23 4.#

Beide sahen sich eine Woche später. Wally hatte nicht das Herz, von dem Vorfalle zu sprechen. Aber es währte nicht lange, so sprachen sie über den Muth.

Sie wollte wissen, ob der Muthige die Gefahr absichtlich verkleinere oder geringer achte, ob der Muth noch während der Gefahr daure oder nur das Vorspiel der Gefahr sei. Cäsar sagte, er habe nie über den Muth nachgedacht, besäße ihn auch nicht hinreichend dafür. Wally brannte der Vorfall auf den Lippen; aber sie hielt an sich und lächelte blos.

„Ich glaube,“ sagte Cäsar, „daß es Menschen gibt, deren Muth darin besteht, daß sie die Gefahr gar nicht sehen. Das sind diejenigen, welche als die vorzugsweise Muthigen über-24all gefürchtet werden: auf den Universitäten jene unverschämten Knaben, die gegen Jedermann die Hand in die Seite stemmen und von Verachtung und Malice übersprudeln; unterm Militär diejenigen, welche ihren Säbel gern so hängen, daß sie ihn hinter sich klirren hören. Man kann aber sagen, daß wenn diese Menschen Einbildungskraft genug hätten, die Gefahr zu sehen, sie die verzagtesten sein würden. Der Besonnene ist von Natur niemals muthig. Er folgt nur den Rücksichten, und ist unerschrocken, weil die Sache einmal nicht zu ändern ist.“

Wally fand diese Aeußerungen durchaus nicht so liebenswürdig, wie sie gewohnt war, dergleichen von ihren männlichen Umgebungen zu hören. Es war in ihrem innerlichen Urtheile etwas, was einen guten Schein hatte. Sie vermißte an Cäsar den Reiz der Natürlichkeit. Seine Reflexion zog an, befriedigte aber das 25 Temperament nicht. Nichts desto weniger traf sie sehr gut die Gedankenreihe Cäsars, indem sie fortfuhr: „Ich glaube fast, Sie halten die Tugend für eine Berechnung?“

„Die Tugend nicht,“ entgegnete Cäsar; „aber Alles, was man gern für Instinkt anzusehen gewohnt ist. Unsre Handlungen sollen berechnet sein, unsre Empfindungen sind es. Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme mancher Empfindung, mit der wir gern kokettiren, die uns aber in gewissen Zeiten recht zur Unzeit kömmt.“

„Sie sind ohne Natur;“ sagte Wally.

„Ich bin ohne Verstellung;“ fiel Cäsar ein.

„Ohne Verstellung? Jeder Satz in Ihren Theorien scheint von Ihren zufälligen Zwecken abhängig zu sein.“

Cäsar mußte lächeln; er hatte etwas gesagt, was er nicht meinte.

26 „Glauben Sie,“ fragte er, „daß es in der Liebe eine Höflichkeit gibt?“

„Das versteh’ ich nicht.“

Cäsar blickte finster und wollte abbrechen.

„Was ist Ihnen?“ fragte Wally.

„Ich denke, Sie vermeiden über einen Zustand zu sprechen, den Sie vielleicht nicht zu kennen vorgeben.“

„Halten Sie mich für eine Närrin?“ fragte Wally, erst bös, dann aber hellte sich ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf, die Cäsarn fast einen Augenblick zu verwirren schien.

„Nehmen Sie nur an,“ sagte er, „wie unzeitig und unbequem man werden kann, wenn man seinen Leidenschaften immer den natürlichen Raum läßt. Ich verspreche zum Beispiel einer Dame, sie einen Tag um den andern zu besuchen. Was heißt das? Sie ist einen Tag um den andern in der Spannung, wo sie glaubt beglücken zu können. Ihre Gedankenreihen werden im-27mer einen Tag überschlagen, einen Tag, wo sie nicht untreu aber ohne Rapport und Illusion ist. Man kann nicht unhöflicher sein, als an diesem Tage, der überschlagen werden sollte, der für die Liebe gar nicht da ist, seine Braut zu überraschen.“

Wally lachte laut auf. Jetzt hielt sie Cäsarn für einen Narren und fragte ihn, welche Frau ihm diese Geständnisse gemacht habe.

Cäsar war kein Pedant, er lachte mit, fuhr aber fort: „Ich versichre Sie, es ist nichts abscheulicher, als das Ungeschickte und Unbequeme. Der Instinkt mag hier manche üble Empfindung hintertreiben; aber sicher geht allein die Combination der Psychologie. Ich möchte um alles in der Welt zu einer gewissen Zeit, unter gewissen Umständen von der Freundschaft kein Opfer, von der Liebe keine Zärtlichkeit verlangen. Mit unsrer rohen Natürlichkeit sind wir immer gewohnt zu übertreiben; 28 in nichts sind wir aber übertriebener, als in unsern Forderungen. Ist es erhört, was der Enthusiasmus nicht alles in den gefühlvollen Beziehungen der Geschlechter oder in der Freundschaft zu entdecken glaubte! Wer kann das alles leisten! Wer kann so unhöflich sein, alle diese Leistungen in Anspruch nehmen? Sagen Sie!“

„Ich habe vergessen, Rumohr zu lesen;“ antwortete Wally.

„Rumohr!“ sprach Cäsar; „Rumohr hatte vielleicht Anstand, aber nicht Geist und Muth genug, eine Schule der Höflichkeit zu schreiben. Rumohr glaubt an seine Vorschriften und scheut sich doch, die meisten davon anders, als in einem gewissen Helldunkel zu geben. Rumohr glaubte, er müsse sich immer noch eine Hinterthür offen lassen, um nicht für einen Fant zu gelten. Auch ist dieser Mann so sehr in die Classicität verrannt, daß er alle Tugenden und 29 Untugenden des Alterthums aufzählt, aber ein wichtiges, modernes Laster ganz mit Stillschweigen übergeht, ein Laster, wofür die Alten gar keinen Ausdruck hatten. Rumohr konnte davon nicht sprechen, weil er selbst darin ganz verstrickt ist. Dies ist die Langeweile. Aber was Rumohr? Es gibt eine weit tiefere Höflichkeitstheorie, welche auf ästhetischen und moralischen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht. Soll ich ihren Grundsatz nennen? Lassen Sie aus einem christlichen Gebote nur einen Buchstaben weg. Rathen Sie!“

Wally wurde roth: nicht des Räthsels wegen, sondern des Christenthums.

Cäsar ergänzte sich selbst und sagte: „Lebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Sei Egoist, ohne deinen Nachbar zu verwunden! Wenn ich mich in die innersten Falten Ihrer Seele (Falten! Ihre junge Seele! Aber die Seele ist immer alt, der Theil der jahrtausendjährigen 30 Urseele und Weltseele, der in uns wohnt), wenn ich mich in sie versetze, so bin ich gewiß, immer die Wirkungen zu veranlassen, die ich eine Minute vorher schon bestimmen kann. Sie hören mich nicht mehr. Es ist wahr, ich habe zu laut gesprochen.“

Der gute Cäsar mit seinen langweiligen Theorien! Er mochte Wunder glauben, wie zart er die Fibern des menschlichen Herzens anatomire; und hatte schon längst seine Widersacherin innerlichst verletzt. Er wußte dies nicht und schämte sich, so theoretisch debattirt zu haben. Um die Sache war es ihm gar nicht zu thun. Er hatte überhaupt nur zwei Steckenpferde, auf denen er sich heiß reiten konnte, die Verachtung der Musik und die Strenge der Erziehung. Diese beiden Fragen interessirten ihn, weil sie das Nächste berührten, das Zimmer des Nachbars gleichsam, weil die Musik sich gern in der Gesellschaft 31 breit macht und über Erziehung so viel Empfindsames gefaselt wird. Er pointirte die Verachtung der Musik, um die jungen Damen (welche, wenn man von ihnen Gedanken verlangt, mit Musik antworten) ihre Leere fühlen zu machen: in der Erziehung aber den Stock, um sich das Geschwätz über Kinder, das Präsentiren der lieben Kleinen, die Koketterie mit seiner einzigen oder seinem jüngsten Balge vom Leibe zu halten. Auf alles Uebrige ließ es Cäsar ankommen. Für Himmel, Hölle, Erde und was drin, drauf und drunter ist, nahm er nur Interesse, um sich zu unterhalten, oder eine hübsche Wendung darüber zu haben.

Warum ist Cäsar kein Schriftsteller geworden? Er würde ein vortrefflicher Dialektiker sein, immer gute Gedanken haben, und jedenfalls einen glänzenden Styl schreiben.

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32 5.#

Wir sind noch in derselben Gesellschaft, wo über Herrn von Rumohr so abfällig geurtheilt wurde. Wally ist nur hingebender und Cäsar erschöpfter geworden. Er war im Zuge, links und rechts seine zusammenhanglosen Einfälle auszustreuen und grade im Gegensatz zu seiner Höflichkeitstheorie alle Welt zu verwunden. Die Hauptunterhaltung hatte der lange blonde Mann an sich gerissen, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte. Mit ihm correspondirte ein Justizrath, welcher anonymer Verfechter von verschiedenen Lehrbüchern zur Kenntniß des allgemeinen Landrechts war oder doch sein sollte. Beide citirten sich wechselseitig als Autoritäten, der Junge den Alten, der Carrière wegen: der Alte den 33 Jungen, weil er wußte, daß der Nachruhm in den Händen derer liegt, die nach uns leben. Cäsar war auf der Folter: er ahnte, daß sie ausschweifen wollten, daß sie auf dem Wege waren, zur schönen Literatur überzugehen.

„Wirklich?“ zitterte er für sich hinein. „Warlich! Ja sie müssen – O – .“ Cäsar war aufgesprungen.

Er wollte fort. Wally frug ihn, was er hätte?

Der Justizrath, Mitglied einer Liedertafel, das heißt eines Vereins, wo man über Tafel die schlechten Compositionen eines Zelter und Anderer zu singen pflegte, rief: „Ist es nicht auffallend, daß auch nicht ein Einziger aus der neuen Schule in Deutschland sich auf Musik versteht. Wie schön hat Tieck die italienische Musik in seinen Sonetten charakterisirt! Wie treffend drückt er in seinem Vorspiel zum gestiefelten Kater oder 34 zur verkehrten Welt, ich weiß nicht, das Wesen der verschiedenen Instrumente aus! Wie hat die ganze romantische Schule in der Musik gelebt!“

„Und Hoffmann,“ rief eine ältliche Dame, die ihrem Teint nach mit Napoleon verwandt sein konnte.

„Und Hoffmann!“, fielen Alle ein.

„Ja,“ rief der Justizrath, „Hoffmann, der mein College war!“

Cäsar sagte ruhig: „Ich weiß nicht, worin der Zusammenhang der Literatur und der Instrumentation liegen sollte. Göthe scheint mir auch ohne den Contrapunkt verständlich zu sein.“

Aber der Justizrath hatte das Wort: „Man hat noch immer gefunden, daß irgend eine Beschäftigung, welche dem Dichter sonst noch theuer und lieb war, recht hübsch das Wesen seiner eigenen Poesie ausdrückte. Ich rede von Homer und Ossian nicht, Männern, die mehr Mu-35siker als Dichter waren; aber Göthe arbeitete in Pappe, wenn ich nicht irre. Schiller war Compagnie-Chirurgus. Nun sehen Sie, das ist prosaisch genug; sagen Sie mir von allen neuen Autoren einen, der ein gutes Urtheil über Musik hätte? Es ist Mangel einer gewissen Saite in der Seele, daß es ganz unmöglich ist, die Namen Menzel, Börne, Heine u. s. w. mit irgend einer musikalischen Verrichtung zusammenzubringen.“

„Die Lärmtrommel!“ hieß es irgendwo. Man beklatschte den Einfall und nannte ihn witzig. Aber Recht hatte der Justizrath; auch Cäsar, wenn er sagte: „Was kann empfehlenswerther für die Richtung sein, welche unsre ersten Geister nehmen? Alle frühere Literatur bildete sich im Interesse irgend einer vereinzelten Kunst oder Tendenz: die Lessing-Göthische Zeit im Interesse der Antike: die Romantik im Interesse der Malerei: die Phantastik im 36 Interesse der Musik. Erst in unsern Tagen sammelt die Literatur ihre Vorposten, die sich in die fremden Feldlager ganz verloren hatten, und zieht sie in den Kern ihrer Kräfte zurück, um auf’s Neue zu bestimmen, welches ihr Zweck ist. Ich glaube, daß sich die Literatur ausdehnen wird auf andre Felder, um sie zu befruchten; aber warlich, mein Herr, auf die Musik nicht!“

Bis hierher sprach Cäsar so richtig, daß es unnütz gewesen wäre, Unterschriften darauf zu sammeln. Das Folgende schien zweifelhafter: „Was soll überhaupt die Musik? Diese klingende Mathematik? In der Erziehung sind die geometrischen Köpfe meist die dicksten und härtesten, und in den großen Musikern habe ich immer Leute gefunden, die, obschon sie immer mit Schlüsseln umgehen, doch über nichts Aufschluß geben können. Die Musik ist eine ganz sinnliche Kunst. Wenn Sie dem Otaheiter 37 einen Trauermarsch von Spontini vorspielen, mein Herr, glauben Sie, daß er weinen wird? Er wird springen und seine Kokosschale vor Lebenslust bis auf die Hefe leeren. Musik ist absolut nichts: die Bildung legt erst das hinein, was wir darin zu finden glauben. Wenn ich bei irgend einem Musikstück ein solcher Narr bin, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, so verbinden zu gleicher Zeit Sie damit einen Begriff, welcher vielleicht der entgegengesetzte ist. Wenn Sie bei einer Symfonie von Beethoven an einen gothischen Dom denken, so dachte der Componist an das Giebeldach einer Bauerhütte. Nein, mein Herr, die Musik wird aufhören zu den Künsten gerechnet zu werden. Nähert sich die Musik in der Oper nicht schon immer mehr der rhetorischen Deklamation? Ist die Sprache, das volle, tönende, menschliche Wort nicht unendlich höher, als der unnatürliche Gebrauch einer ganz im tiefsten Schlunde 38 versteckten zufälligen Fertigkeit? Ich bitte Sie, überlegen Sie das, mein Herr!“

Hier war keine Verständigung mehr möglich. Was sind Hunderttausende in der Welt ohne das bischen Fortepiano, was sie spielen können! Es war, als hätte einer gesagt, die Frauen sollten keine Gigotärmel mehr tragen. Was wären diese schmalen Brüste, diese gedankenlosen Köpfe ohne Gigots, ohne Pianoforte! Und doch strafte man Cäsarn nicht durch Stillschweigen, ging nicht wie wegen eines Tollen zur Tagesordnung über, sondern schrie auf und rief das Gefühl, den Himmel, die Moralität zu Hülfe, um einen Ketzer zu bekehren. Der blonde Unzeitgemäße war so glücklich, die Frage in das Gebiet der Politik hinüberzuspielen und aus der Musik eine Sache des Staates zu machen. Hierüber schwieg Cäsar.

Ihn verdroß nichts mehr, als das Warmwerden. Er wußte zu gut, daß die Adler nie-39mals in der Fläche horsten. Warum Niagaradonner, wo Knallerbsen genügen? Er gab sich willig dem Spotte Wally’s hin, die viel zu leichtsinnig war, auf dergleichen Debatten etwas zu geben, zu eitel, um eine allgemeine Unterhaltung interessant zu finden, und die überdies weder sang noch spielte. Wally hatte Ideen, aber nur momentan; sie verschmähte es, die Geistreiche zu scheinen, weil sie wußte, daß sie schön war. Flüchtig waren ihre Bewegungen, liebenswürdig, ohne Pedanterei ihre Capricen. Cäsar fühlte das, und badete sich in dem oberflächlichen Schaume, den Wally von den Ideen nur gelten ließ. Cäsar hatte Recht, sie für unfähig zur Spekulation zu halten. Er nahm sie wie ein humoristisches Capriccio der animalischen Natur.

Beide spotteten im Vertrauen über sich, über Alle. Was sie sprachen als Sprechenswerthes, waren Raketen, die sie sich einander 40 zuwarfen. „Warum brechen Sie über Politik ab?“

„In Athen durfte kein Volksredner auftreten, der nicht verheirathet war.“

„Was Sie gelehrt sind! Ich bin es auch: in Kreta durfte niemand Gesetze geben, der nicht einen Strick um den Hals hatte.“

„Das ist dasselbe Gesetz: Die Athener wollten eigentlich auch sagen, der keinen solchen Strick am Halse habe.“

„Wie unanständig!“

„Wally!“

Wally lachte: es war ein hübscher, vertraulicher Ton, in dem ihr Cäsar drohte. „Was machen Sie mit Leuten, die Ihnen gefallen?“ fragte sie ihn, ohne zu wissen, was sie fragte.

„Alles, nur nicht ihre Bekanntschaft.“

„Das ist auffallend! Doch können Sie Recht haben.“

41 „Wonach beurtheilen Sie die Menschen, Wally?“

„Nach ihren Werken! – O Gott, nein; dies wäre ja albern geantwortet, wie im Katechismus. Sagen Sie?“

„Nach dem, was sie sind?“

„Nein, nach dem, was sie im Stande wären.“

„O Wally, Sie sind liebenswürdig! Woran würden Sie denken, wenn Sie Jemanden prüfen wollten, der zu lieben wäre?“

„An die ausserordentlichen Fälle.“

Cäsar schwieg. Diese Antwort war zu ernst. Er betrachtete die fünf Ringe, die er über seinen Handschuhen trug, und fragte dann: „Sie reisen in’s Bad?“

„In acht Tagen.“

„Sie werden den Rhein sehen?“

„Von Mainz bis Cölln.“

„Von Mainz bis Düsseldorf. Sie dürfen einen Besuch bei den Malern und bei Immer-42mann nicht unterlassen. Läge Düsseldorf in Thüringen, es würde ein zweites Weimar werden.“

„Sind die Ufer in der That so reizend?“

„Gefällig sind sie und da schön, wo Sie etwas von Rührung einfließen lassen in Ihre Betrachtung.“

„Das versteh’ ich nicht.“

„Das Schöne, Wally, ist immer das Ueberraschende. Ich bin ursprünglich kalt gegen Alles, was in Deutschland für schön ausgegeben wird. Am Lurleyfelsen, wo der Rhein sich wie ein See verengt, wo Flinten abgeschossen und Waldhörner geblasen werden, um die Echo’s, von denen die Handbücher sprechen, zu beweisen: da werden Sie durch diese Zurüstungen zur Wehmuth übermannt werden. Ihr blondes, bescheidenes Deutschland, dem Sie nichts zutrauten, nicht einmal das Echo des Lurley, wird Sie rühren und bei einer fließenden Thräne 43 werden Sie sich gestehen müssen, daß der Rhein in der That ein schöner Strom ist.“

„Sie wollen sagen, die Natur spräche nur zu uns, je nachdem unser Auge und Herz sie ansieht.“

„Ich stand in dem Cöllner Dome. Sie kennen das zerrissene Prinzip unserer Zeit, nichts anzunehmen, was vielleicht richtig ist, aber von Leuten proklamirt wurde, die uns widerstehen. Der Enthusiasmus der Einen erkältet immer die Andern. Ich wollte den Cöllner Dom ironisch betrachten, und mußte weinen, da ich ihn sahe, über das Unvollendete der Idee, über die dünnen Hammerschläge der Ausbauer, welche durch die mächtigen Räume picken, über mich selbst, der sein Herz künstlich verhärtet und zu einer gemachten Empfindungslosigkeit herabgestimmt hatte.“

„Die Dampfschiffe fahren zu schnell.“

„Sie fahren zu langsam und sind für das 44 Auge ermüdend. Der Gedanke einer feurigen über das Wasser kriechenden Schildkröte steht vor unsrer Einbildungskraft, und wir sind einmal daran gewöhnt, das Kriechen für langsam zu halten.“

„Ein sonderbares Bild! Worüber nur meine Tante so lacht?“

„Ihre Tante ist eine Spinne, die über den Ozean kriecht.“

„Wie so?“

„Sie spekulirt in Papieren.“

„Sie spricht über Politik: ich verstehe nichts davon.“

„Verstünden Sie davon, so glichen Sie einem Schmetterling, der sich in die gaserleuchtete Verwirrung eines Salons verflogen hat.“

„Schmetterlinge sind zu Gleichnissen verbraucht.“

„Wie die Unsterblichkeit selbst.“

Wally erröthete. Sie blickte auf Cäsars 45 frivoles Lächeln und nahm dies Lächeln für eine Gewißheit, die sie erschrecken machte.

„Wir sähen uns nicht wieder?“ fragte sie beklommen.

„Gesetzt, nur die Guten sähen sich,“ antwortete Cäsar, „so läßt die Tugend so viel Nüancen übrig, daß nichts desto weniger im Jenseits eine Mannichfaltigkeit entstünde, die in seiner nächsten Nähe zu haben Gott kein Vergnügen machen würde. Ja wir selbst würden uns weigern, alle die zu lieben, welche im Leben ehrliche, aber oft die langweiligsten Menschen waren. Ich weiß aber nicht, wie aus einem langweiligen Menschen plötzlich ein interessanter Engel werden könnte.“

„Sie sind kein Christ?“

„Glauben Sie, daß Christus von den Todten auferstanden ist?“

„O Gott, lassen Sie, ich kann darüber nicht nachdenken. Ich –“

46 Sie stockte. In ihrem Auge sprach sich ein zerreißender Schmerz aus. So hatte sie Cäsar noch nicht gesehen. Sie erhob sich unruhig und war für diesen Abend verschwunden. Cäsar begriff hievon nichts. Er war so leichtsinnig, an Alles zu denken, nur nicht an die Religion. Aber Wally hatte ihn entzückt. So weit Menschen dieser Art noch lieben können, war Cäsar außer sich. Er folgte Wally ohne Aufenthalt.

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47 6.#

Wally’s Tante litt an nervösen Reizungen und Abspannungen, an Herzklopfen, Uebeln, für welche die Aerzte unter den nassauischen Bädern das tristeste, Schwalbach, empfehlen. Wally konnte in Wiesbaden und Ems tanzen, aber in Schwalbach mußte sie der alten Dame die Zeitungen und Courszettel vorlesen (die Frau spekulirte wahrhaftig in Papieren!); in Schwalbach mußte sie so manchen häuslichen Dienst übernehmen, den man bald von sich abwälzen würde, wenn man nicht das Vergnügen hätte, in einem Bade zu leben.

Sie hatte dies wunderbare Nassau erreicht, diese unterirdische Küche Hygiea’s, mit ihren Gebirgskesseln, in denen die heilsamen Quellen sieden und dampfen. Von üppiger Natur 48 kann bei einem Lande nicht die Rede sein, das von Alaun und Schwefel unterminirt ist und in der Ernte immer einen Monat zu spät kömmt. Zwerghaft sind die Bäume auf den Hügeln: aber reizende Perspektiven öffnen sich zahlreich in die weiten Thäler. Nichts ist hier schöner, als die mannichfachen Schattirungen des grünen Kleides der Natur. Man steht an der morsch zerbröckelnden Mauer einer hohen Straße, und sieht kleines Gesträuch zunächst zu seinen Füßen; dann tiefer einen Wald, der sich mit den schwärzesten Tinten in die tiefste Spalte des Thales verliert, und in einem dumpfen Murmeln, in dem Rieseln eines Waldbaches zu enden scheint; dort aber erhebt sich wieder der Blick, die grüne Alpenmatte entlang, welche am andern Ende des Thales aufwärts steigt. Auf dem frischen, üppigen Teppich weidet das Auge bis sich die Sehkraft in jenen dunkeln Kranz von Fichten verliert, welcher den äußersten Horizont 49 umsäumt. Ist das nicht viel für ein Land, wo die Natur sich an gekochtem Wasser erfrischen muß? Das Land ähnelt der schwäbischen Alp. Auch sprechen die Leute mit schwäbischem Accent.

Wally hat für solche Bemerkungen keinen Sinn: ich führe sie auch nur an, um durch Wally’s Mängel ihre Besitzthümer anzudeuten. Sie ist ohne Schwärmerei für die Natur, ohne Sinn für Blumen, welche sie zerkaut, wenn sie ihr in die Hand kommen. Sonne, Mond und Sterne gehen ihre Bahnen, ohne von Wally bemerkt zu werden. Jedermann wird bereit sein, sie gefühllos zu nennen, und ihr dennoch Unrecht thun. Wally’s unaussprechlicher Reiz ist ihre Natürlichkeit. Sie gibt sich, wie sie ist, und hat die Tugend, alles beim rechten Namen zu nennen. Sie war sehr unglücklich, in Schwalbach leben zu müssen.

Doch traf sich Alles besser, als man er-50wartet hatte. Das allmälige Herunterkommen der Romantik erschlafft die bisher angespannten Nerven der Nationen. Es waren Deutsche genug da, die an Hoffmanns Tode litten, Franzosen genug, welche die üblen Folgen von Victor Hugo’s ruhendem Federkiel spürten. Sie alle wollten Reiz. Die spanische Krisis war vielen in den Unterleib geschlagen und hatte Hypochondrie erzeugt. Stahlbäder sind sehr anzurathen. Es war gedrängt in all den Höfen, goldnen Ketten, Gasthöfen zu den beiden Indien. Wally wohnte im Kaisersaal.

Eines Tages stand sie an einem Orte, den sie vorzüglich liebte, am grünen Tische. Sie hazardirte im Pharo. Sie gewann; sie gewann immer; vielleicht weil Dreistigkeit auch das einzige Geheimniß im Spiele ist. Noch ist es mir unerklärlich, wie die schüchternsten Weiber sich an Dinge wagen, an welche die muthigsten Männer immer mit einer Art von Zaghaftig-51keit herangehen. Sie sind die Ersten, wo es gilt, einen Thurm zu besteigen, auf einem schwindelnden Wege zu gehen, Pistolen abzuschießen, mit einem Eskamoteur in Correspondenz zu treten, auf Vexierstühle und an die Elektrisirmaschine sich zu stellen. Namentlich wird sich auf diese letzten Dinge oft der muthigste Mann nicht einlassen. Warum die Frauen? Weil sie gewohnt sind, zu herrschen? Weil man ihnen genug sagt, daß ihrer Schönheit nichts widerstehen könne? Wally spielte in der That, weil es ihr schon zur andern Natur geworden war, in jeder Lage zu gewinnen.

Plötzlich wird sie unruhig. Sie verliert. Ihr Glück stürzt zusammen. Sie fühlt, daß ihr ein Dämon entgegentritt, und rathet auf Cäsar. Sie wußte, daß ihr alles Widerwärtige nur von einem Manne kommen konnte, der sie beunruhigte und der sie vielleicht zu lieben anfing. Wally blickte um sich; Cä-52sar stand in einer Ecke, grüßte stumm, bot ihr den Arm und führte sie in die Zimmer ihrer Tante zurück, einer Dame, welche er einst mit einer Spinne verglichen hatte, die über das Weltmeer kreucht.

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53 7.#

Ein Gewitter in Schwalbach ist immer eine Katastrophe; aber sie geht vorüber. Noch gefährlicher ist es, wenn der Himmel jene weinerliche Laune hat, daß er von der grauen Wolkendecke unaufhörlich einen nassen Staub tröpfeln läßt. Dann kann man in Schwalbach am besten alle jene Uebel bekommen, für welche sein Stahlwasser so gut sein soll. Ist man nicht melancholisch, so wird man es erst. Wally weinte den ganzen Tag vor Ungeduld. Sie wollte nach Wiesbaden; aber ihre Tante bestand darauf, daß ihr die spanische Krisis im Unterleibe säße. Der Geheimerath Fenner von Fenneberg, der Arzt der Saison, warf sich gegen jede Unbesonnenheit in’s Mittel. Wally wollte sterben vor Langerweile. Ihr werdet 54 sagen, sie muß schlecht erzogen worden sein. Gewiß, das war sie.

Cäsar bot Alles auf, ihr die trübe Zeit zu verkürzen. Er erzählte ihr Beobachtungen aus Schwalbach, die gar nicht verdienen übergangen zu werden, z. B. folgende: „Haben Sie noch nichts vom tollen Bärbel gehört? Das tolle Bärbel steht den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht an der Hinterpforte des Gasthofes zu den beiden Indien, die auf die Landstraße nach Ems hinausführt und späht in die Extraposten, welche den Berg herunterkommen. Sie ist von einem etwas gedrückten Wuchse, und hat matte Augen; aber ihre Gesichtsbildung ist im höchsten Grade einnehmend, die Haut von der ganzen Feine und Weiße, welche zu blondem Haare gehört, um blonde Mädchen erträglich zu machen. Der Reiz Bärbels würde noch weit mehr hervortreten, wenn die fixe Idee, welche sie beherrschen 55 soll, ihr nicht den an Wahnwitzigen so unheimlichen Ausdruck und die eigenthümliche Verrückung aller Bewegungen gäbe. Und woran leidet sie? An zwei verunglückten Saisons. In der ersten soll sie der Gegenstand irgend einer eleganten Herablassung gewesen sein, die glücklicherweise ohne Folgen blieb. Sie fiel einem jungen Manne in die Augen, der sie dann drei Monate lang nicht aus seinen Händen ließ und vielleicht gar mit ihr über Vorurtheile der privilegirten Stände, über die allgemeine Stimmberechtigung der Liebe und morganatische Ehen philosophirt hat. Er versprach im nächsten Jahre wiederzukommen. Einen langen Herbst und Winter, einen ganzen Frühling hindurch war Bärbel glücklich und das frommste Mädchen in Schwalbach. Sie war die erste und letzte in der Kirche, die freundlichste zu aller Welt. Die Mäßigung in einem Glücke, das ihre Kräfte überstieg (nämlich das Wiedersehen war 56 für sie schon ein gränzenloses Glück: wie leicht wird es Gott, seine Geschöpfe selig zu machen!) Diese Mäßigung stand ihr ungemein schön, wie die Leute sagen, die aus ihrer jetzigen Verwirrung das Vorangegangene herausgelockt haben. Da kam die zweite Saison. Bärbel stand an der Gartenthür der beiden Indien. Ein großer Reisewagen, thurmhoch bepackt, mit sechs Pferden bespannt, glitt am Hemmschuh bedächtig die Höhe herab. Vorn und rückwärts Bediente, Kammerzofen, Bologneser Hunde, ein Papagay, ein Geschwätz und Gekrächz, das eine ganz neue Welt in das alte Schwalbach zu bringen schien. Bärbel stand auf den Zehen, blickte in den offenen Schlag und stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Sie hatte die untreue Herablassung gesehen, wie sie die Hand eines jungen reizenden Weibes küßte. Es war des jungen Paares erste Badereise, gleich nach der Hochzeit. Das sahe auch Bärbel sogleich ein, nach-57dem sie wieder zur Besinnung gekommen war, denn noch war sie nicht närrisch; aber sie wurde es; schon durch die Ungewißheit, das Herumlaufen, Fragen, Erkundigen, Abgewiesenwerden, durch impertinente Bedienten, durch die Schaam, den Mann am Brunnen und auf der Promenade zu sehen, und ihm nicht zu Füßen fallen zu dürfen. Sie war den Winter über ganz still. Mit dem Frühjahr wurde sie unruhig, holte immer tiefere Seufzer, schüttelte viel den Kopf, und nun steht sie seit dem ersten Mai zu jeder Stunde des Tages hinter den beiden Indien und muß immer mehr erkranken, schon am Sonnenstich. Sie sieht in jede Kutsche und schämt sich, wenn man ihr Geld zuwirft. Sie ist für alle Schwalbacher Bettler der Lockvogel, oder der mit Honig ausgefüllte Stock, um die wilden Almosen-Bienen zu fangen. Sie ist die unschuldige Heilige, die stumm für sie Alle bittet, und nichts davon hat, als immer tiefern Wahnsinn.“

58 „O ich bitte Sie, erzählen Sie Geschichten, die sich runden und einen Schluß haben!“ fiel Wally ein mit der ganzen Fühllosigkeit, die sie allein schon charakterisiren würde, wenn sie dieselbe nicht mit allen Frauen gemein hätte, wo es sich um die Herzensleiden irgend einer ihrer Schwestern handelt. Sie sind dabei alle kalt, eine gegen die Andere.

„Den Schluß müssen wir abwarten;“ sagte Cäsar, erschrocken über Wally’s Phlegma. Er hätte sie aufgegeben, wenn sie als Phänomen nicht seine Neugier reizte. Auch würde er sich Vorwürfe gemacht haben, Wally nachgereist zu sein, wäre diese Mühe vergebens gewesen. Er dachte in der That daran, bei ihr zu irgend einem Ziele zu gelangen.

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59 8.#

Nach einiger Zeit theilten sich die Wolken über dem Thale. Es war möglich ins Freie zu treten. Cäsar und Wally stiegen die Straße nach Ems hinauf. An der Thüre der beiden Indien stand das stille Bärbel und betrachtete sie beide mit einem wehmüthig-rührenden Blicke. Wally blieb kalt dabei; er konnte das nicht begreifen.

„Ich will Ihnen, Wally,“ sagte er, „eine andre Geschichte erzählen, die sich in unsrer Nähe begibt, und in der That schon eine Art Schluß hat. Glauben Sie nicht, daß ich die Demokratie so weit treibe, und auf Entdeckungen in den Hütten ausgehe. Die Schwalbacher bilden sich ein, ihre Gäste unterhalten zu müssen, und so erfuhr ich etwas, was würdig ge-60wesen wäre, von Hoffmann bearbeitet zu werden. Sie kennen die nassauischen Soldaten, Wally! Sie haben über Brust und Schulter gelbe Bandeliere, was für ein preußisches Auge kurios läßt. Die Artillerie ist schöner, aber hören Sie von einem Tambour bei jener Infanterie. Der junge Mensch stand in Wiesbaden, und soll ein Meister auf seinem Instrumente gewesen sein. Niemand in der nassauischen Armee schlug wie er die Reveille mit solcher Fertigkeit. Seine Wirbel sollen den Turbillons geglichen haben, welche bei Feuerwerken aufsteigen, nur daß er im Stande war, eine Viertelstunde lang die Schlägel in dieser tremulanten Bewegung zu erhalten. Namentlich aber gelang ihm jenes hübsche Stakkato auf der Trommel, das mit Wirbeln untermischt die Erschütterung des Kalbfells plötzlich hemmt und einen ganz abbrechenden Ton, einen Ton ohne alles Echo hervorbringen muß. Sie sehen, welch 61 einen Schatz das Haus Nassau an diesem Tambour hatte. Unglücklicherweise verliebte sich aber der militärische Künstler, und in ein Mädchen, das zwar den Werth der Armee zu schätzen wußte, auch den der Musik, aber einem Trompeter von der Artillerie schon den Vorzug gegeben hatte. Hier mußte eine Rivalität eintreten, welche der Liebe eben so sehr galt, wie der Kunst. Der Tambour verzweifelte nicht; indessen war er zu bescheiden. Er fühlte, wie sein Instrument, diese monotone Rhythmik, hinter der Trompete zurückstand. Sein Gegenstand war die Tochter eines Wiesbader Bürgers, eines Mannes, den man durch Auszeichnungen ehren konnte. Und wie zeichnete ihn der Trompeter aus! Wenn er des Abends in des gehofften Schwiegervaters Gärtchen saß, siehe, dann setzte er das silberne Mundstück an die glänzende Trompete und blies den Parademarsch, „Frisch auf Kameraden!“ alle Walzer, 62 von denen des Kursaals an bis zu dem Zweitritt der Kirchweih. Das erfreute die Herzen dieser Menschen. Die Nachbarn sammelten sich: sie lauschten, sie klopften an die Gartenthür, sie kamen herein und tanzten auf dem grünen Rasen. Der Schwiegervater hatte den ganzen Abend die Nachtkappe zu lüften, und war unbeschreiblich geehrt. Und wenn der Trompeter mit seinen lustigen Stücken Feierabend machte und sie alle aus dem Gärtchen mußten, um in der Finsterniß die Beete nicht zu verderben, dann blieb er mit der Tochter noch allein und blies ihr Arien der Schwärmerei vor, „Schöne Minka;“ „Mich fliehen alle Freuden,“ mit sterbenden, gedämpften und wie durch Zugwind gehauchten Tönen, bis Alles still wurde. Der Tambour hörte diese Scenen täglich und verging vor Wehmuth. Er war eine sanfte, ächt deutsche Heimwehnatur, voller Empfindung und Ehrgefühl. Jede Nacht badete er sich in Thrä-63nen und schlug die Morgenreveille mit matten Händen. Das Feuer seiner Augen erlosch. Er fluchte seinem Instrumente, fluchte der Artillerie und ihren Trompeten. Was hatte er an seiner Trommel! diesem dummen Lärmkasten, bei dessen Tönen sich die Gebildeten der Nation das Ohr zuhalten, dieser Klangmaschine, die, wie man mich in meiner Kindheit überredete, nur dazu da ist, auf dem Schlachtfelde das Geschrei der Verwundeten zu übertäuben! Zum Unglück gab es Augenblicke, wo der Tambour nichtsdestoweniger auf sein Instrument eifersüchtig wurde. Ist es nicht das wohlthätigste Instrument, schlußfolgerte er, wenn es den Menschen anzeigt, wo Feuer ausgebrochen ist, um welche Zeit das Thor geschlossen wird; kann es rührendere Töne geben, als die dumpfen Wirbel beim Begräbnisse eines meiner Kameraden! Bei der Erinnerung an den Tod stürzten ihm die Thränen aus den Augen, 64 von jenseits drang die Trompete seines glücklichen Nebenbuhlers herüber, ach! diese freudigen Töne durchschnitten grausam seine zitternde Seele. So schwand er hin und wurde immer mehr das blasse Bild der Resignation. Er dachte nur an den Tod und sagte oft, wenn er nicht käme, so müsse er selbst sich ihn geben. Damit ging er lange um und weinte viel, so oft er beim Abendmahl und in der Kirche war. Aber es half nichts: die Liebe zermalmte sein Herz, die Eifersucht vernichtete seinen Stolz, statt ihn zu erheben. Noch einmal richtete er sich eines Abends auf, wo Alles still war, am Tage vor der Hochzeit der Trompeterbraut, und setzte sich dicht unter ihr Fenster auf einen Stein. Zwischen den Füßen hielt er die Trommel eingespannt, und begann sie in der Stille der Nacht, wo Alles schlief, so schwermuthsvoll und sanft zu rühren, daß es lange währte, bis mehr darauf achteten, wie das Mädchen oben in der 65 Kammer. Sie hörte diese Serenade, sie wußte Alles, denn sie hatte den Tambour gekannt, ihn bevorzugt, ehe die Trompete kam. Sie zitterte unter der Bettdecke, denn es klang, wie zum Grab so hohl unterm Fenster. Aber die Töne hoben sich, die Schlägel wurden dringender, die abgestoßenen Punkte folgten Schlag auf Schlag: sie mußte aufspringen vor Entsetzen; die ganze Straße schien zu grollen und die Steine dumpf an einander zu schlagen. Man rief: „Feuer!“ Sie riß das Fenster auf. Draußen war alles still; der Tambour war nirgends zu sehen; auch beim Appell nicht. Man schiffte seine Trommel bei Mainz an der Rheinbrücke auf: ihn selber einen Tag später auf der nämlichen Stelle.“

Wally hatte von dieser Erzählung erwartet, daß sie in einer Beziehung mit Schwalbach stünde und allem, was auf diese Erwartung keine Rücksicht nahm, nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie blickte Cäsar mit 66 ruhigem Auge an, und fragte kalt, was in dieser Geschichte mit Schwalbach zusammenhinge? Cäsar fand diese Frage natürlich und legte sie sich nicht so empörend aus, als sie ursprünglich war.

„Diese Historie,“ fuhr er fort, „ist mehre Jahre alt. Der Trompeter heirathete die Tochter des Wiesbader Bürgers, nahm seinen Abschied und zog nach Schwalbach, wo er die Direktion der Musiken für die Saison zu übernehmen pflegt. Aber seine Frau leidet seit jener traurigen Katastrophe ihres verschmähten Liebhabers an einem unheilbaren Uebel. Hätten die Aerzte nicht schon zuweilen ähnliche Beobachtungen gemacht, so würde man versucht sein, hier an einen Spuk, an eine Rache des gespenstischen Tambours zu glauben. Die Frau des Trompeters hört Tag und Nacht ein dumpfes Murmeln an ihrem Ohr, das sich zu verschiedenen Zeiten steigert und ihr wie der 67 Ton einer Trommel vorkommen muß. Nachts schreckt sie aus dem Schlaf auf, zeigt mit stierem Blick auf die Thür, wo sie den blassen, kleinen Mann mit seinem Instrumente zu erblicken glaubt; sie hat nicht Ruhe, wie tief sie sich auch in die Kissen des Bettes hineinwühlt. Die Aerzte nennen dies eine unnatürlich präponderirende Kraft des Gehörsinnes und können sich auf die gleichzeitige Thatsache berufen, daß alle übrigen Sinne der Frau allmählich schwinden, und der übermäßig hervorbrechenden Gehörskraft zu weichen scheinen. Dabei ist sie abgefallen und bleich, ihr äußerer Körper verringert sich immer mehr: ich sahe sie, es ist eine ganz absorbirte Erscheinung, die Grausen erregt. Sie selbst hat den festen Glauben an die Rache des Tambours, oder wie es diese Leute nennen, daß er im Grabe keine Ruhe habe. Sie versicherte mich, daß das Gespenst ihr überallhin folge, in Küche, Boden und Kel-68ler; ja auf dem Wege, selbst im Walde sähe sie ihn oft, den Todten, wie er leibhaftig vor ihr stehe, die kleine, bleiche Figur, mit der Trommel auf dem weißen Schurzfell und dieselben gelbledernen Bandeliere um die Schultern gehängt, welche uns Preußen so fatal sind. Die Aerzte wissen, daß die Frau bald sterben muß an totaler Nervenentkräftung. Ich glaub’ es. Gott, da steht sie!“

„Wo?“ schrie Wally auf.

Cäsar lachte. Es war ein Scherz; aber sie hatte ihn übel aufgenommen und ließ sich mit der bittersten Laune über seine Späße und abentheuerlichen Erzählungen aus.

„Gehen Sie mit Ihren Trommeln und Trompeten! Womit Sie sich doch alles abgeben!“ sagte sie mürrisch, empfahl sich, und wandte sich allein dem Kaisersaal zu, wo sie wohnte.

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69 9.#

Diese Scene war bald vergessen. Auf die regnerischen Tage folgten mit dem Sonnenscheine tausend Aufforderungen der Natur, ihre Reize zu genießen. Bis in die entfernteste Umgegend trugen Esel und kleine Gefährte den weiblichen Theil der Gesellschaft, welche als die Crème der Saison sich zusammengefunden hatten. Wally war eine sprühende Girandole von Freude und Ausgelassenheit. Sie bildete den wahren Mittelpunkt der Gesellschaft, so aber, wie es Wasserkünste gibt, wo man nur hier zu drücken braucht, um auf der entgegengesetzten Seite überall lustige Fontänen springen zu lassen. Cäsar war verschlossen und reflektirte viel. Dem Beobachter konnte es nicht entgehen, wie tief sich Wally in seine Neigungen eindrückte. Wenn 70 es nicht Liebe war, die ihn trieb, so war es die Aufgabe, die sich seine Eitelkeit gestellt hatte, Wally, diese Ungezähmte und Unbändige überwunden zu haben. Hütet euch, ihr Frauen! die Liebe der meisten Männer ist nichts, als eine Huldigung, welche sie sich selbst bringen.

Der Rhein sollte das Ziel einer Spazierfahrt sein, der sich eine große Anzahl von Badgästen angeschlossen hatte. Wally war noch vor diesem Ziele zu sehr ermüdet, als daß sie weiter konnte. Sie blieb bei einem der Bedienten zurück, um die nachkommenden Wagen abzuwarten. So trennte sie sich unbemerkt von der Gesellschaft, so daß Cäsar, der auf Abwegen dem Zuge nachgeritten war, erstaunte sie allein zu finden. Er sprang vom Pferde und gab es dem Bedienten. Wally und Cäsar gingen voran.

Der Verführung eines grünen Rasenplatzes 71 mitten im Walde widerstanden sie nicht. Während der Wagen und Cäsars Pferd auf der Straße hielten, giengen sie dem einladenden Ruheorte entgegen und setzten sich auf abgesägte Baumrümpfe nieder. Es lag etwas Mechanisches in diesen Bewegungen, als wenn eine Verabredung statt gefunden hätte und doch schwiegen beide. Sie sprachen noch immer nichts, auch als sie beide mit gestüztem Haupte sich gegenüber saßen.

„Seit einiger Zeit sind Sie auf mich erzürnt, Cäsar!“ sagte dann Wally.

Ein Lächeln, das man kennen muß, um zu wissen, daß es nur die Maske eines tieferen Schmerzes ist, flog über ihre Mienen. Das Lächeln Cäsars konnte Beistimmung oder Verwunderung sein. Er war klug genug, sie darüber im Unklaren zu lassen.

„Ihre Geschichten haben mich kalt gelassen;“ fuhr sie fort.

72 Daran dachte Cäsar nicht mehr; aber er sagte: „hab’ Ich sie denn verfaßt?“

Nach einer Pause seufzte Wally tief auf, schlug ihren Blick zu Boden und begann eine Perspektive in ihr Inneres zu geben, die Cäsar neu war, an ihr zumal, und die ihn entzückte. „Ich muß mich, ich muß die Frauen hassen;“ sagte sie still; „von Natur sind wir grausam und zu den Gefühlen, welche wir zu äußern wohl unter Umständen fähig wären, haben wir ursprünglich nur die bloßen Anlagen. Glauben Sie es, Cäsar, die Frauen gedeihen nur durch die Männer. Sie selber wären im Stande, sich unter einander zu zerfleischen. Niemand kann bei dem Elende der Menschen, bei Krieg, Erdbeben, öffentlichem und Privatunglück empfindungsloser sein, als die Frauen. Verstehen Sie mich recht, so lange wir allein stehen. Was wir von Gefühl ursprünglich haben, das ist mehr Schauer, als Bewußtsein, mehr thie-73rische Furcht, als Reflexion einer edlen Seele. Ach, ich zittre oft vor einer Empfindungslosigkeit, die ich nicht zu heilen weiß!“

„Aber woher die spätere Metamorphose der Frauen?“ fragte Cäsar, erstaunt über die Wahrheit, welche sich in Wally’s Antlitze ausdrückte.

Sie stockte: sie blickte ihn an. Er errieth und sank zu ihren Füßen.

So lange diese Situation stumm war, konnte sie zwischen beiden wohl empfunden sein; als aber Wally nach einem Worte suchte, wies sie ihn zurück.

Ihm war es recht; denn die Reflexion schlug ihn in den Nacken, und hatte ihn unwillkürlich aufgerissen, da er auf nichts in seinem Herzen Vorbereitetes stieß und ihm jede Situation fatal war, in der er sich selbst nicht hätte beobachten können.

74 Sie saßen beide wieder auf ihren Baumstämmen. Doch war es eine warme Stimmung, die sich ihrer bemächtigt hatte, in der sie wenn auch über nichts entscheiden, dennoch über Alles unterhandeln konnten.

Wally verhehlte nicht, daß die Zauberruthe, welche die im Herzen des Weibes schlummernden Gefühle erst wecke, die Liebe sei. Cäsar ergriff ihre Hand und sagte: „Wir sind für die Illusion beide nicht gemacht. Eine Mücke würde uns stören, wollten wir zu den Sternen beten. Jede Aufwallung, bei der wir nur einen Augenblick unsre Manieren nicht in der Hand hätten, würde uns lächerlich scheinen. Helfen wir uns beide! Eine kurze Uebereinkunft kann uns auf die Stufe versetzen, welche uns alle jene Glückseligkeit gewährt, die wir durch Zurückhaltung, Schaam, natürliches oder kokettes Wesen niemals erreichen. Wally! Wally!“

75 Jetzt lag Cäsar zu Wally’s Füßen, wahrhaftig, ohne Bewußtsein, von einem ungeheuchelten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn nieder? Nicht die Liebe, sondern der Gedanke an eine Humanitätsfrage, die niemanden von euch fremd ist: der Gedanke an jene Augenblicke, wo wir, überdrüssig der conventionellen Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten möchten und ihr zurufen: „O warum dies Gehäuse von Manieren, in welches du Spröde dich zurückziehst? Warum diese Verhüllung des Menschen in und an dir? Warum Zurückhaltung, du, mein Bruder, du, meine Schwester, da du doch gleichen Wesens mit mir bist, eine Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie ich zum Kusse hast? Ach, wie seh’ ich rings um mich her eine so reife Ernte von Liebe und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre, daß ich sie breche? Warum nicht das Entzücken, daß wir alle Menschen sind, schwach und 76 stark, sterblich und unsterblich! Diese unsichtbaren Barrieren, welche die Menschen trennen, welche auch den Jüngling vom Mädchen trennen, müssen fallen; denn ich kenne dich, dein Alles, dein Gehen und Stehen, deine Schwächen und Tugenden: siehe! hier ist meine offne Brust, hier schlägt mein Herz, ich bin nichts, was noch etwas anderes wäre, als es ist, nichts, was du für etwas anderes halten dürftest. Weib, in deinen Augen, in den Formen deines Körpers bist du überreif zur Liebe; und wenn ich dich heut zum erstenmale sähe, so pflückt’ ich dich, denn wir sind die Kinder eines und desselben Planeten, ich Mensch, wie du, beide alternd, beide den Tod fürchtend, beide elend. Was weichst du mir aus?“

Wally zerfloß in Thränen. So fast hatte Cäsar zu ihr gesprochen, und sie fühlte das Entzücken, statt eines Weibes Mensch zu sein. 77 Sie zitterte bei dieser ächt philanthropischen Vorstellung, welche, wenn sie allgemein würde, die Welt durchaus umgestalten und ihre schwierigen Fragen im Nu lösen müßte. Sie ließ die Umarmung Cäsars zu: nicht, weil sie ihn liebte, oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann überwunden zu haben, sondern weil sie sich als das schwache Glied der großen Wesenkette fühlte, die Gott erschaffen hat, weil sie wußte, daß sie ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt und bloß und mitleidswürdig war, weil sie zuletzt glaubte, daß diese heißen Küsse, welche Cäsar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen gälten unterm Sternenzelt.

Sehet da eine Scene, wie sie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier ist Raffinirtes, Gemachtes, aus der Zerrissenheit unsrer Zeit Gebornes: und was ist die Wahrheit Romeo’s und Juliettens gegen diese Lüge! Was ist die 78 egoistische Geschlechtsliebe gegen diesen Enthusiasmus der Ideen, der zwei Seelen in die unglücklichsten Verwechselungen werfen kann! Ich zittre vor einem Jahrhundert, das in seinen Irrthümern so tragisch, in seinem Fluche so anbetungswürdig ist.

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79 10.#

Die Uebereinkunft der Liebe zwischen Wally und Cäsar mußte ihren Verhältnissen ein neues Colorit geben. Wir fürchten, daß die Farben allmählig erbleichen werden. Aber noch sind sie hell und frisch; noch liegt auf Wally’s Antlitz der melancholische Schatten jener entzückenden Verirrung, in Cäsars Mienen die Resignation und Selbstzufriedenheit, welche selbst blasirte Charaktere und verwitternde Natürlichkeiten ergreifen kann, wenn der immer durstige Becher ihrer Wünsche einmal voll ist bis an den Rand der Erfüllung. Das Wiederfinden eines Jugendfreundes unterstützte Cäsars reflektirende Persönlichkeit sich in einer Welt zu halten, in welcher er sich seit einiger Zeit gefiel.

Waldemar hieß der neue Ankömmling, ein 80 Mann, der einst blühend und schön war, in der Residenz zu Wally’s Anbetern gehörte, dann heirathete und trotz der glänzendsten Verhältnisse zu keiner Freude kam, da seine Gattin an unheilbaren Uebeln siechte. Die Stimmung dieses Mannes theilte sich seinen Umgebungen mit, erst auch Cäsar, verlor sich aber an diesem in dem Augenblick, als sie für ihn durch folgende gemischte Anekdote einen Grund bekam.

Seit Waldemars Ankunft im Bade hatte sich nämlich das stille Bärbel von den beiden Indien zurückgezogen. Ihr Betragen gegen ihn ließ keinen Zweifel, daß dieser Mann die Ursache ihrer Geistesverwirrung gewesen war. Sie verfolgte Waldemar, wo er sich nur blicken ließ, und weinte oft auf dem Wege, wenn er in zahlreicher Gesellschaft vorüber ging. Jedermann kannte den Zusammenhang dieser tragischen Comödie, doch wollten nicht Alle glauben, 81 was Waldemar versicherte, daß er sich dieses Mädchens durchaus nicht entsinne, nie mit ihr ein Wort gewechselt, und auch im vorigen Jahre zum erstenmale Schwalbach besucht habe. Cäsar aber glaubte diesen Versicherungen; denn Waldemar war eine treue Seele, die Niemanden betrüben konnte, noch weniger aber wäre eine Unwahrheit über seine Zunge gekommen. Er nahm den Wahnsinn Bärbels von der lächerlichen Seite und suchte Waldemar zu trösten. Ja, diesem melancholischen Manne fehlte nur noch eine neue Ursache seiner Schwermuth!

Wally befand sich in einer Stimmung, die ihr den Verkehr mit beiden Männern, der immer gewisse Gränzen und Nüancen hatte, recht zum Genuß machte. Einst wollte sie in einem Garten zu ihnen unbemerkt herantreten, während beide Freunde unter einem Bosket von verwelkenden Rosen sich unterhielten; da sie aber hörte, daß ihr Gespräch religiöse Saiten aufgezogen hatte, so 82 fürchtete sie, etwas zu verstimmen, und blieb unwillkürlich in einer Weite stehen, daß ihr von dem Gesprochenen nichts entgieng und sie dabei doch ungesehen blieb. Sie fühlte das Mißliche dieser Situation in einem Augenblicke nicht, wo alle ihre Seelenfäden Gespinnste zu schießen begannen, in die sie sich immer tiefer verstrickte, wo es einer Untersuchung über die Religion galt.

„Hätt’ ich einen größeren Wirkungskreis,“ sagte Waldemar, „vielleicht gelänge es mir dann, den Unmuth meiner Seele zu zerstreuen, wie auch jene Berge, auf welchen viel Waldleben herrscht, Tannen rauschen und die Natur in einer steten Bewegung ist, die Nebel sich leichter zerstreuen. Ich bin ein kahler Hügel, jedem Windzuge offen, und von jeder Wolke gleich bis tief unter die Augen bedeckt. Nach ideellen Schutzwehren such’ ich eben so vergebens. Die Politik ist nur im Stande, meine 83 Schwermuth zu vermehren, und die Religion hat man mir durch meine Erziehung verleidet.“

„Wer wird auch,“ entgegnete Cäsar, „bei üblen Stimmungen Hülfe von der Religion erwarten! Religion ist das Produkt der Verzweiflung: wie kann sie die Verzweiflung heilen?“

„Sie sollte es wohl; jede Religion soll es, welche die Miene der Offenbarung annimmt,“ sagte Waldemar. „Aechte Religion ist positive Heilkraft; aber gleicht das Christenthum nicht einer Latwerge, die aus hundert Ingredienzien zusammengekocht ist? Meine Vernunft sagt mir, auch ohne Hahnemanns Organon, daß die Krankheiten immer einfache und nur die Symptome zusammengesetzt sind, daß die Natur für jede ihrer Abnormitäten eine medizinische Rektifikation im simpeln Zustande hat und daß in einer Mixtur von Heilkräften eine Kraft die andere aufhebt. Die unerhörte Ueberladenheit des Christenthums aus traditio-84nellen, historischen und biblischen Ursachen macht aber, daß es für den Schmerz der Seele ganz ohne Wirkung ist. Eines seiner Dogmen stört das andre.“

Ein Krampf schnürte Wally’s Brust zusammen. Sie wankte ohnmächtig fort, bis jener Referendar, der über das Unzeitgemäße der politischen Garantien geschrieben hatte, ihren Arm ergriff und sie zu Waldemar und Cäsar führte, von denen er den ersten gesucht hatte.

„Waldemar!“ rief er: „was Sie glücklich sind! Ein Ehegatte, und noch bringen sich Ihretwegen die Frauen um.“

„Was wollen Sie damit?“ fragte Waldemar.

„Sie müssen nicht erschrecken,“ sagte jener; „aber Ihr verlassenes Bärbel ist todt. Sie ging gestern den ganzen Tag um Schwalbach herum, sich ein Grab zu suchen, blieb dann noch lange bei den beiden Indien, wankte 85 darauf mechanisch fort bis an das Schloß Nassau, wo sie sich von der eisernen Hängebrücke hinabgestürzt hat. An der linken Seite von hier, da wo der Brunnen auf der Brücke steht, soll sie noch mehre Stunden gesessen haben, wie die Leute versichern, die sie dort sahen. Die Gerichte von dort schicken diesen Ring mit, der an dem Finger des Mädchens sich befand. Ich hab’ ihn hier.“

Waldemar erblaßte. „Mein Gott!“ schrie er. „Dieser Ring –“

Cäsar sprühte auf: „Wie?“ rief er; „Waldemar, du hättest dennoch –“

„Ja,“ bemerkte der Dritte: „ich kenn’ ihn. Sie trugen diesen Ring vor mehren Jahren, Waldemar.“

Wally trat hinzu und nahm den Ring. Sie betrachtete ihn und gab mit unpassender Heiterkeit die Erklärung: „Waldemar, Sie gaben 86 mir vor drei Sommern diesen Ring. Ist eine Verheirathung dem Gedächtnisse so schädlich?“

„Aber wie kam die Unglückliche zu dem Ringe, den alle Welt als ein Pfand meiner treulosen Versicherungen auslegen wird?“ fragte Waldemar mit bleichen Lippen, die doch wieder sprechen konnten, nachdem er sich auf die Huldigungen besann, die er einst Wally gebracht hatte.

„Ich hatte die Gewohnheit,“ sagte Wally, „die Ringe meiner Verehrer jährlich im Bade zurückzulassen, indem ich sie in die Becher, die am Sprudel stehen, warf, und diese dann armen Leuten oder Kindern zu trinken gab. So ist die Närrin wohl zu dem Geschenke gekommen.“

„Gut erfunden!“ flüsterte der Referendär, dem im Augenblick auch sein Ehrenhandel mit Cäsar einfiel. Wally blickte etwas stolz: man 87 kann durchaus nicht sagen, warum? und reichte dem Menschen ihren Arm.

Waldemar saß in tiefes Nachsinnen versunken. Wie wunderbar war der Zusammenhang dieses unglücklichen Ereignisses! Man konnte versucht werden, an eine magnetische Einwirkung zu glauben. Wer erklärte ihm, wie ein Ring eine Neigung veranlassen konnte zu einem Manne, den man nie gesehen! Wie kam es, daß die Arme, gleich als sie ihn zum erstenmale sahe, ihn als den Eigenthümer des Ringes erkannte, den sie liebte und mit einer wirklichen Person verwechselte! Er ging tief bekümmert in seine Wohnung und überredete seine kranke Gattin, mit ihm sogleich den Schauplatz so unheimlicher Begebenheiten zu verlassen.

Was aber empfand Cäsar bei dem Ereignisse? Nicht das Ereigniß selbst, nicht den Schmerz seines Freundes, sondern nur Eines, was ihn schon oft bei Vergleichung des Todes 88 mit dem Leben interessirt hatte. Das arme Bärbel war vor ihrem Ende unruhig in dem Flecken herumgewankt und hatte den Tod gesucht, der ihr nothwendig schien. Sie war bis nach der eisernen Brücke gelaufen, um den Tröster ihrer Leiden zu finden. Ist es beim Selbstmorde eine unsichtbare Hand, die die Kehle zuschnürt? Geht man wahnsinnig, ohne Bewußtsein in den Tod, wie die Mücke in das brennende Licht stürzt? Oder ist man bei etwa vorhandener Kraft, sich noch als nachdenkend zu fühlen, schon so mit dem Tode verschwistert, daß jener weitere Act des Selbstmordes nur die Publikation eines Befehles wird, der schon abgemacht und im Stillen ausgeführt ist? Darüber sann Cäsar nach, und konnte sich vor Schmerz nicht fassen, als er bei dem Verfolgen von Bärbels Benehmen nur darauf zurückkam, daß die Furcht vor dem Tode doch immer das Ursprüngliche und bis zum schwin-89denden Bewußtsein das Letzte sei. Die Unzulänglichkeiten der Erhabenheit, sagte er, die Furcht vor dem Tode, der Schmerz, nicht wie Brutus, der alte und der junge tödten, nicht wie Cato sterben zu können, die Bitte des Prinzen von Homburg, ihn leben zu lassen: das ist das Tragische unsrer Zeit und ein Gefühl, welches die Anschauungen unsrer Welt von dem Zeitalter der Schicksalsidee so schmerzlich verschieden macht. Sie wollte sterben, und lief einen ganzen Tag, einen Weg von sechs Stunden, um den Tod zu finden, den sie herzlich suchte und den sie fürchtete!

So war Cäsar.

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90 11.#

Jenes feste und präcise Benehmen, das Wally bei der Aufklärung über den Ring gezeigt hatte, war nur durch die Situation hervorgerufen worden. Auch wird sich niemals ein Weib bei der Leidenschaftlichkeit einer Andern enthalten können, sich aufzuschnellen und mißachtend auf die fremde Verirrung herabzusehen. Diese Stimmung war aber nur eine vorübergehende.

Die Erklärung, welche Waldemar über das Christenthum abgab, hatte auf ihre Seele wie die Berührung eines kranken Zahnes gewirkt. Glaubt ihr, Wally habe nach einem Mittelpunkte ihres Lebens gesucht? Warlich nicht. Nirgends lagen etwa zerstreute Bruchstücke von Gedanken, die sie gern verbunden hätte. Un-91mittelbar und zufällig war ihr ganzes Leben: nur im Religiösen stand sie oft, wie ein Wanderer auf der Landstraße, der den Weg verfehlt zu haben glaubt, sich in der Gegend umblickt und mit seinem Ortssinne sich zu orientiren sucht. Es war ein ganz bewußtloses Sinnen, ein träumerisches Fühlen, dem sie sich tastend und anpochend hingab. Von einer Reflexion, einer zusammenhängenden Untersuchung konnte bei Wally nicht die Rede sein. Sie litt an einem religiösen Tik, an einer Krankheit, die sich mehr in hastiger Neugier, als in langem Schmerze äußerte. Sie war wie in einem Zimmer, das sich plötzlich mit Rauch füllt und wo man sich nicht anders helfen kann, als an das Fenster zu springen, es aufzureißen und mit einem unmäßigen Gestus nach frischer Luft zu haschen.

Wally wußte selbst nicht, was Alles zusammentraf, sie nachdenklicher als je zu machen. 92 Sie hatte zum erstenmale einige Beobachtungen über ihren Zustand in eine zusammenhängende Kette aufgereiht. Sie war vor ihren Gedanken nicht scheu zurückgeschreckt, sondern hatte sie diesmal scharf ins Auge gefaßt. In einem Brief an eine Freundin suchte sie ihrer Angst Luft zu machen.

Der Brief war vielleicht vollendet. Sie wagte nicht, was sie hatte, wieder durchzulesen. Auch verzweifelte sie während des Schreibens ihn abzusenden. Sie zerriß ihn.

Einige Minuten blickte sie die Reste an; dann ordnete sie mechanisch, was davon noch vor ihr lag. Die Linien und Buchstaben paßten zusammen. Jetzt erst las sie ihn, wo sie gleichsam wußte, daß er ihr nichts mehr schaden könne.

„Meine theure Antonie,“ hatte sie geschrieben; „deine geschmackvollen Muster, das sehr hübsche Diadem, was aber wohl zu meinem 93 Haare nicht stehen wird, auch die englischen Nadeln und die neuen Touren zum Cotillon hab’ ich bekommen. Ich danke dir, Antonie! Verzeih mir nur, daß ich nicht jetzt auch mit all dem Entzücken davon spreche, das ich wirklich über deine Gefälligkeit und die Gegenstände derselben empfunden habe. Du glaubst nicht, in welcher wunderlichen Stimmung ich heute bin. Und heute mußte ich doch schreiben – Morgen würd’ es schon besser sein. Nur eins sage mir, Antonie, hast du wohl in deinem Leben einen frohen, recht frohen Augenblick gehabt? Ich besinne mich vergebens auf einen; denn es ist doch immer eine peinliche Unruhe und Hast, von der wir getrieben werden, eine Aengstlichkeit, von welcher die Männer keine Vorstellung haben. Zuweilen erschreck’ ich vor dieser pflanzenartigen Bewußtlosigkeit, in welcher die Frauen vegetiren, vor dieser Zufälligkeit in allen ihren Begriffen, in ihrem 94 Meinen und Fürwahrhalten. Der Augenblick ist der Urheber unsrer Handlungen und die Vergeßlichkeit die Richterin derselben. Ach, Antonie, ich beschwöre dich! Nimm diese Klagen nicht als die Frucht eines regnerischen Tages; o – ich leide an einem Schmerze, der unheilbar ist, da ich ihn gar nicht zu nennen weiß. Das rennt, läuft, springt, lacht, singt, weint, zankt, – nun sage mir um des Himmels Willen, was steckt dahinter? Was ist der Kern dieser spiralförmig fortkreiselnden Unruhe? Die Männer sind glücklich, weil man an sie Anforderungen macht. Das Maaß ihrer Handlungen ist der Beifall oder der Nutzen, den sie damit gewinnen. Auch dies sage, warum wir den Faust nicht lesen sollen? Die Schilderung jener Zweifel, die eines Menschen Brust durchwühlen können, macht uns vertraut mit ihnen und die Wirkung derselben für uns weniger gefährlich. Aber ich fühl’ es, daß sich in je-95des Menschen Herzen innere Gedichte entwickeln, eine ganze Historie von Wundern, die wir zu erklären verzweifeln, Gedichte, in denen wir selbst der von den Göttern verfolgte, geneckte, scheiternde, irrende Ulysses sind. Das ist alles halb, siehst du. Es ist noch immer nicht das, was ich sagen möchte und nicht sagen kann. Liebe Antonie, das ist der Fluch: man verlangt nichts von uns, man will gar nichts, es kömmt gar nichts drauf an. Auch dies noch: wir haben einen Ideenkreis, in welchen uns die Erziehung hineinschleuderte. Daraus dürfen wir nun nicht heraus und sollen uns nur mit Grazie, wie ein gefangenes Thier, an dem Eisengitter dieses Rondels herumwinden. Diese Gefangenschaft unserer Meinungen – ach, war Spreu für den Wind! Rechte will ich in Anspruch nehmen, für wen? für was? O Antonie, ich habe nichts, was werth wäre, gedacht: ich will gar nicht sagen, ge-96meint oder gesprochen zu werden. Ich drücke an den Begriffen, die mir zu Gebote stehen; aber sie sind elastisch und geben immer nach und gehen immer wieder zurück. So glaub’ ich, kommen auch die Revolutionen, wenn die Menschen so viel Mühe haben, an ihrer Stirn hin- und herfahren und ihre welke Begriffstyrannei gern stürzen möchten mit etwas, was sie suchen, aber nicht finden können. Dann schaffen sie sogar Gott ab, nämlich, weil sie ihn wahrhaftig nicht verstehen. Es ist auch schwer, Antonie! Die Schöpfung – schon gut; aber woher? womit? warum? Der Mensch, der Affe, der Polyp, die Sinnpflanze, das Moos, der Stein, der Crystall, das Wasser, die Luft, der Wind, Nichts: wo ist Gott? Oder wollt ihr nicht den Weg des Wassers gehen: so geht den des Feuers! Der Vulkan, das Licht, die Wärme, die Elektricität, der Magnetismus: wie kann Gott in der Volta’schen Säule stecken?“

97 Hier mußte Wally laut auflachen, bei all ihrem Schmerz und Unglück. Der komische Conflikt der Schulweisheit mit ihrer Melancholie, die Vergleichung Gottes und jenes kleinen Professors der Physik, der sie mit papinianischen Töpfen, Herobrunnen und Luftpumpen so tief in die Natur hatte sehen lassen wollen, ob er gleich selbst nur ein Auge hatte, das waren zu drollige Erinnerungen. Sie zuckte mitleidig mit sich selbst, über sich selbst die Achsel, und gieng Cäsar entgegen, der viel ungereimtes Zeug mit ihr zu sprechen hatte.

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98 12.#

Ein Begegniß, das Wally kurze Zeit darauf erlebte, machte den ersten Abschnitt in ihrem Leben. Es schien, als könnte sie in ihrem jetzigen Aufenthalte die Heiterkeit nicht wieder gewinnen, welche ihrem Charakter entsprach. Ein Umstand aber veranlaßte bald die Abreise von Schwalbach.

Wally war eines Abends spät und unmuthig zu Bett gegangen. Die Lampe brannte noch auf ihrem Tische; aber sie konnte nicht schlafen. Ihr Blut war in fieberhafter Aufregung. Sie warf sich unruhig hin und her, aber ihre Sinne wollten sich nicht lösen.

Da sprang sie auf, setzte sich an den Tisch und fing all die Mittel zu prüfen an, welche die Leute anrathen, um in gleichmäßige Bewe-99gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die zwölf Glockenschläge an der Kirchthurmuhr, sie zählte das Einmaleins her, von vorn und hinten, deklamirte das einzige Gedicht, welches sie bei ihrem schlechten Gedächtniß auswendig wußte: „Eine kleine Biene flog emsig hin und her, und sog.“ Nichts half. Da erblickte sie auf dem Tisch die Anordnungen, welche sie neulich gemacht hatte, um an ihre Freundin zu schreiben. Sie ergriff die Feder und schrieb:

„Meine theure Antonie, deine geschmackvollen Muster, das sehr hübsche Diadem, was aber wohl zu meinem Haare nicht stehen wird, auch die englischen Nadeln und die neuen Touren zum Cottillon hab’ ich erhalten. Ich danke dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur –“

Abscheulich! rief sie aus, und trat an das Fenster. Der Mond beleuchtete hier und dort einen Theil des engen Thales und seiner Umgebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die 100 aber nicht eilten, sondern schwer auf ihm hafteten. Es wehte kein Wind. In sanfter, nächtlicher Stille ruhte die malerische Natur. Ein tannenschwarzer Bergrücken begränzte auf der einen Seite die ovale Rundung des schlummernden Thales. Nirgends die Ahnung eines menschlichen Wesens.

Wally hüllte sich in einen leichten Nachtüberwurf. Ihr Zimmer lag zur ebnen Erde. Mit einem Tritte war sie draußen im Freien. Ohne mehr zu wollen, als die Hitze ihres Blutes abkühlen, stieg sie zur linken Hand die Straße hinauf, dann wieder hinunter zum Alleesaal hin. Sie wird nur einige Schritte unter den Bäumen auf und abgehen.

Als sie ein weniges weiter gekommen war, vernahm sie ein sonderbares Geräusch, welches man für das Seufzen einer schwankenden Pappel hätte halten können, wäre ein starker Wind gegangen. Sie erschrak, wie diese Laute sich 101 immer deutlicher als Gestöhn und schmerzliche Klage zu erkennen gaben. Es war wie das Jammern eines Verwundeten, der sich fürchtet, durch übergroßen Schmerzausdruck des Mundes vielleicht die brennenden Leiden seines Schadens desto stärker zu machen.

Wally blieb betroffen stehen. Ihr siedendes Blut gerann und die Fieberhitze wich einer kalten Erstarrung, in die der Schreck ihre Glieder versetzte.

Sie sahe, daß sich im Hintergrunde der Allee Etwas bewegte, das auf sie heranzukommen schien. Die Angst hatte sich ihrer Seele so sehr bemächtigt, daß sie nicht einmal wagte, zu entfliehen. Wie angewurzelt blieb sie stehen, und wankte nur, als eine menschliche Figur immer näher trat, mechanisch hinter einen Baum, von dem sie glaubte, daß er ihr Schutz gewähren könne.

Ein Weib kam mit händeringenden Geber-102den. Sie wandte sich oft gespenstisch um und suchte etwas, was man nicht sehen konnte, von sich abzuwehren. Dann fuhr sie mit einer grauenerregenden Vehemenz und sie begleitendem Geheul in die Gegend ihres Kopfes, als wolle sie etwas bedecken oder irgend einen übergroßen Schmerz stillen. Wally zitterte.

Jetzt stand die Unglückliche, welche nicht im Fieber zu sein, sondern das volle Bewußtsein zu haben schien, dicht vor ihr. Wally sahe, wie sie schwankte und zu Boden stürzte. Mit einem fürchterlichen Geschrei wühlte das entsetzliche Weib ihren Kopf in den losen Sand und rang, ihre Hände gleichsam zu vervielfältigen, um den Kopf von allen Seiten bedecken zu können. Dabei stöhnte sie wieder, und sahe sich, wie tief sie auch den Kopf in den Sand hineingewühlt hatte, um, und fuhr mit einem gräßlichen Schrei auf, als hätte sie einen Geist 103 erblickt, bis sie ohnmächtig und besinnungslos in dieser gräßlichen Lage verstummte.

Wally wagte nicht, einen Laut von sich zu geben. Als das Wesen sich beruhigte, versuchte sie aufzutreten, ob man sie auch nicht hören könne, wagte dreistre Schritte, und floh, als sie eine Strecke weit von der Scene entfernt war, der sie hatte beiwohnen müssen. Sie fror an allen Gliedern, als sie auf ihrem Lager sich gebettet hatte und schlief ein aus Furcht.

Am folgenden Morgen betrieb sie die Abreise. Die Tante zögerte. „Unter keiner Bedingung!“ rief Wally; „ich bin eines Ortes müde, der mich umbringen muß.“ Das war ein fürchterlicher Ausdruck; die Tante war diese Wendungen nicht gewohnt. Sie entsetzte sich und reiste ab.

Als Cäsar sie beide an den Wagen begleitete, erzählte er ihnen noch, daß die Frau des Trompeters an der gespenstischen Trommelmusik 104 ihres Ohres diese Nacht gestorben sei. Sie sei vor Unruhe aus dem Hause gerannt, habe Nachts die ganze Stadt durchirrt, um den grauenhaften Tönen zu entfliehen, und sei in der Allee gefunden worden, wie sie mit dem Kopf in den Sand gewühlt dagelegen.

Wally winkte mit der Hand, daß er schweigen solle.

Cäsar aber glaubte, daß sie ihn zum Abschied grüße; die Pferde zogen an und, den Spruch des großen Römers parodirend, sagte er zu dem Fahrzeuge: du trägst Cäsar und sein Glück!

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105 Zweites Buch.#

107 1.#

Der Sommer reifte zur Ernte. Aus seinen letzten Fäden spann sich ein Herbst voll Kelterlust. Die Astern sammelten noch einmal alle Farben der schönen Vergangenheit, dann starb die Natur und was zurückblieb, legte den Frostreif und Nebelflor der Trauer an. Die Ströme gerannen, die Wolken zerrieben sich zu Schneeflocken. Der Winter kam in seinen Pelzschuhen angeschlichen, und klopfte mit Weihnachtsfreuden an die Reifblumen der Fenster an.

Wally wirbelte sich in einer Lust, die sie so zauberhaft zu regeln verstand. Was Religion! Was Weltschöpfung! Was Unsterblichkeit! Roth oder blau zum Kleide, das ist die Frage. Ob’s 108 besser ist, die Haare zu tragen à la Madelaine oder sie zusammen zu kämmen zu chinesischem Schopfe? Tanzen – vielleicht auch Sprüchwörter aufführen – o nur gering ist die Zahl der Vergnügungen, welche im Verhältniß zur zunehmenden Civilisation nicht mehr lächerlich sind: so sehr gering! falls man sich selbst so viel liebt, nicht Karten zu spielen, jene melancholischen Spiele Albions und der nordamerikanischen Yankees, wenn man noch wie Mendelsohn philosophisch und kantisch genug ist, für den Scherz keinen Ernst und für den Ernst keinen Scherz aufzuwenden!

Aber eine Unterhaltung ist unerschöpflich; ein Spiel unermüdlich. Das ist die Koketterie. Wally hatte damit alle Hände und alle Mienen voll zu thun. Künstliche und natürliche Launen waren die Zahlen, mit welchen sie ihre Umgangsexempel zusammensetzte. Wally ließ die ganze Welt wie elastische Figuren auf dem 109 Resonanzboden ihrer Einfälle springen. Sie spielte die capriciösen Melodien zu allen diesen Bewegungen, welche sie lachen machten. Was wollte sie auch mehr? Sie wollte nicht einmal den Ruf davon, die Neigungen ihrer Umgebungen so unübertrefflich eskamotiren zu können. Sie that alles ohne Stolz, ohne Absicht, ohne Bewußtsein. Sie war bezaubernd!

Cäsar war die Balancirstange dieser Equilibres. Er rektificirte wie irgend ein chemisches Natron alle die barokken Confusionen, welche Wally anrichtete. Cäsar fiel dabei bald hier, bald dorthin, in jenem ersten Bilde. In diesem letzten nahm Wally bald größere, bald kleinere Portionen von ihm. Er fehlte aber nie, und diese perspektivische Verschiebung bald zu einer Gunst von einer Linie, bald zu einer von zwei Zollen, oder drei, hielt ihn in der Spannung, welche Männer allein zu fesseln im Stande ist. Es ist möglich, daß Cäsar 110 Wally liebte, wenigstens war sie ihm eine Vertraute geworden. Er hätte sie vielleicht einem andern abtreten können; aber von ihr sich trennen, das konnte er nicht. Und doch! Vielleicht! Wir sind Charlatane, wir können alles!

Es war auf einem glänzenden Balle, der am Hofe gegeben wurde. Cäsar, der nicht tanzte, weil die Prinzessinnen zugegen waren und es ihn beleidigt haben würde, wenn sie ihm durch ihre Kammerherrn die herkömmlichen Aufforderungen geschickt hätten, zog sich zurück. Wally beachtete ihn nicht. Er nahm das leicht. Er wußte, daß Wally weit entfernt war von der gewöhnlichen Ansicht deutscher Mädchen, dem Tanze eine sinnliche Bedeutung oder die Bedeutung irgend einer Gunst unterzulegen; er wußte, daß sie diejenigen liebte, mit denen sie nicht tanzte. Und doch war sie heute aufgeregter, als jemals. Das nahm ihn Wunder und verstimmte ihn. Als Wally zu ihm trat, 111 sprach sie: „Ich habe Sie suchen müssen. Wo stecken Sie? Ich muß Ihnen etwas sagen.“

Sie standen in einem der entlegeneren Zimmer. „Und was?“

„Ich werde den sardinischen Gesandten heirathen; aber wir sprechen uns noch!“

Damit war sie verschwunden.

Cäsar eilte nach Hause. Er hatte durchaus nichts, was ihn drückte, und doch entschloß er sich, eine kleine Reise zu machen. Er war sehr unruhig den ganzen Tag, mehre Tage. Er machte die Reise. Er notirte, zeichnete, schrieb viel Briefe. Er würde sich vortrefflich zerstreut haben, wenn ihm nicht aus jedem Baum, aus jedem Echo zugeklungen wäre: aber wir sprechen uns noch! Dies Aber! machte ihn verwirrt; denn es klang wie eine so schwärmerische, träumende Liebe, daß er geglaubt hatte, den letzten lechzenden Seufzer, 112 das kaum gelispelte felicissima notte einer Italienerin zu hören. „Sind das schon die Wirkungen der sardinischen Gesandtschaft?“ sagte er lächelnd und kehrte hübsch beruhigt in die Residenz zurück.

Er hatte bald darauf von Wally die Einladung zu einem vertrauten Gespräch.

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113 2.#

Am Tage, wo die Unterredung mit Wally stattfand, hätte man bei Cäsar nicht ahnen können, mit welcher Katastrophe er schließen würde. Cäsar schien die ganze Beruhigung zu besitzen, welche man von seinem Charakter erwarten durfte. Höchstens ließen sich jene forcirten Scherze, mit welchen er um sich warf, vermuthen, daß irgend ein Gefühl wie ein Ereigniß bei ihm im Anzuge war, dem er zu entgehen wünschte. Diese Scherze sind immer die über’m Meere kreisenden Möven, welche den Sturm ankündigen.

Wenn er einem Freunde begegnete, der auf dem Stadtgericht arbeitete, so frug ihn Cäsar: „Was hast du jetzt unter Händen?“

Ehescheidungen – hieß es.

114 Also noch immer schlechte Ehen?

Schlechte Wahlen vor der Hochzeit, Leichtsinn –

„Ganz richtig;“ erklärte dann Cäsar. „Es ist ein Unglück, wenn man sieht, mit welchem Leichtsinn die Ehen geschlossen werden. Der Besitz einer kleinen Aussteuer lockt den Handwerker, ein Frauenzimmer zu heirathen, welches er gar nicht liebt. Der Staat sollte niemals die Ehe bürgerlich vollziehen lassen, bis nicht ein Kind vorhanden ist, welches das Dasein der Liebe vorher ausweisen muß.“

Der junge Mann vom Stadtgerichte lächelte zu diesem Vorschlage. Cäsar ging und begegnete einem andern Freunde.

„Du bist verliebt,“ sagte er ihm; „aber Antonie ist arm.“

Es war dieselbe Antonie, an welche Wally einst schreiben wollte.

115 Antonie ist arm! hieß die weinerliche Bestätigung.

„Siehe, was zu thun wäre! schlug Cäsar vor. Das Heirathen durch die Zeitungen greift um sich. Aber man ist erst einen Schritt weit gekommen, wenn die Frauen durch Zeitungen nur Männer bekommen. Der zweite Schritt wäre, daß sie durch die Zeitungen auch zu Vermögen kämen. Die Mädchen sollten sich durch ein Lotto ausspielen. Sie sollten die Männer auffordern, Aktien auf ihren Besitz zu nehmen, Aktien, meinetwegen eine jede zu fünfhundert Thalern. Hundert Loose dieser Art geben eine Summe von 50,000 Thalern. Die Wahrscheinlichkeit, daß unter hundert ich – du – er gewinnen, ist sehr groß: man gewinnt ein Weib, ein reiches Weib, ein schönes Weib. Denn um eine Schöne muß es sich handeln, der Nebengewinne wegen, welche in Zugeständnissen mancher Art an diejenigen bestehen müssen, welche 116 sich mit Aufopferung von fünfhundert Thalern der seligen Chance aussetzten, Mann einer schönen Frau und Besitzer zufälliger 50,000 Thaler zu werden. Mein Lieber, das heißt, die Gesellschaft revolutioniren.“

Jener hatte nur an Antonie gedacht; Cäsar an Nichts, als sie schieden.

Der Abend kam heran. Die Thür zu Wally’s Gemächern öffnete sich. Beide saßen sich stumm gegenüber. Cäsar, der von Wally nicht erwartet hatte, daß sie sich in ein schwärmerisches schwarzes Kleid werfen würde: Wally, welche nach einem Blicke in Cäsar’s Mienen geizte, der verzeihend, warm und siegend auf sie wirkte.

Liebenswürdig war es von diesem gränzenlosen Leichtsinn, daß er Thränen am Auge hängen hatte. Cäsar schwamm in Entzücken. Er war auf eine Komödie gefaßt, und fand eine tragische Scene, die ihn erschütterte. Alles, 117 was sie sprachen, war nur, um den Erklärungen, die sie sich machen wollten, zu entgehen. Cäsar mochte in seiner Eitelkeit übertreiben; Wally’s Bescheidenheit lag wohl nur darin, daß sie glaubte, Cäsar um Verzeihung bitten zu müssen. Alles Uebrige aber dichtete seine Phantasie hinzu.

Sie hielten ihre Hände in einander und sprachen recht eifrig über Dinge, auf welche gar nichts ankam in ihrer Lage. Sie sprachen von der Erfindung des Schießpulvers, vom Gesetz der Schwere, vom Compaß und der Magnetnadel, worüber sie schnell abbrachen, um nur immer wieder auf Neues zu kommen. So verrann die Zeit, aber das Entzücken Cäsar’s stieg. Wally’s Hand nahm er, und legte sie sanft auf die Lehne des Sopha’s, um sie als Kopfkissen zu brauchen. Sie lächelte dazu und warf ihm das ganze Polster ihres elastischen Körpers, sich selbst in aller ihrer Anmuth nach. Sie hielt 118 ihn umschlungen, während sie unwillig glaubte, daß er es thäte. Ihre nur leis’ aufgesteckten Locken nestelten sich los und küßten Cäsar’s brennende Wangen. Die langen Augenwimpern senkten sich majestätisch sanft auf die bläulichen Ultramarinringel, welche unter dem Auge so viel Leidenschaft verrathen. Dieses Herablassen des Vorhangs, dieser Fensterladenschluß der Weiblichkeit, diese Verhüllung ist das reizende Gegentheil dessen, was sie scheint, weil sie nur allmälige Entwaffnung ist. Es ist das Sinken des Tages, der aufsteigende Stern, dessen feuchte Strahlen die Kronen der Blumen auflockern und die Kelche erschließen, während die Kelche zu schlafen scheinen. Cäsar umarmte Wally mit glühendem Entzücken und rief aus: „O Wally, ich will nicht grausam sein! Ich eile Allem zuvorzukommen, was sich auf deiner Lippe zu Tode ängstigt und gern sprechen möchte. Ich dringe nicht auf den Besitz dieses göttlichen 119 Leibes, dessen Seele mich stets umhauchen wird. Aber – o Gott!“ –

„Was ist? Cäsar! sprich! fordre! Alles, Alles!“

Cäsar sann und war wie von einem unbekannten Gefühle ergriffen. Er strich mit der Hand über seine Stirne und sagte dann leise mit sanften und zärtlichen Worten zu Wally: „Sie werden reisen: ich auch. Wir werden uns in vielen Jahren nicht wieder sehen. Da gibt es ein reizendes Gedicht des deutschen Mittelalters, der Titurel, in welchem eine bezaubernde Sage erzählt wird. Tschionatulander und Sigune beten sich an. Sie sind fast noch Kinder: ihre Liebe besitzt die ganze Naivetät ihrer jugendlichen Thorheit. Ich spreche nicht von Tschionatulander’s Tod, weder vom treuen Hunde, der aus der Schlacht die tragische Botschaft bringt, nicht von Sigunens Klage, wie sie den Leichnam des Geliebten im Arme haltend unter’m Baume sitzt, wo Parzifal an ihr vorüber-120kömmt im Walde, nicht von dem Edelstein unserer deutschen mittelalterlichen Dichtkunst. Nur jener Zug ist so meisterhaft schön, wo Tschionatulander, als er in die Welt hinaus muß und sein treues Windspiel klug zu den beiden Liebenden hinaufsieht, Sigunen anfleht, um eine Gunst –“

Cäsar stockte und sprach dann leise, mit fast verhaltenem Athem: „daß Sigune, um durch ihre Schönheit ihn gleichsam fest zu machen, wie der magische Ausdruck der alten Zeit ist, um ihm einen Anblick zu hinterlassen, der Wunder wirkte in seiner Tapferkeit und Ausdauer – daß Sigune – in vollkommener Nacktheit zum vielleicht – ewigen Abschiede sich ihm zeigen möge.“

Wally betrachtete Cäsar einen Augenblick. Dann erhob sie sich stolz und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer. An ihre Rückkehr war nicht zu denken.

121 Cäsar’s Antlitz zeigte einen schmerzhaften Ausdruck. Er hatte das Höchste bewiesen, dessen seine Seele fähig war, die kindlichste Naivetät, eine rührende Unschuld in einer Forderung, die empörend war; aber die Schaam, die erst in ihm aufglühte, verschwand vor seinem Stolze, so edel und rein erschien er sich.

Sie ist ohne Poesie, sie ist albern, ich hasse sie! stieß er heftig heraus, trat zornig mit dem Fuße auf, lauschte und verließ, da er nichts als den Schlag der Pendeluhr im Nebensaale vernahm, mit unwillkürlichem Geräusch das Zimmer und das Hotel. Er schwur, es niemals wieder zu betreten.

Sie hat nicht mich, sie hat die Poesie beleidigt. Sie ekelt mich an! rief er und malte sich Wally mit den gräßlichsten Farben, daß es ihm keine Freude machen mußte, noch an sie zu denken. Wenn sie ihm noch einfiel, so geschah es nicht, ohne daß er mit dem Fuße etwas von sich stieß.

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122 3.#

Inzwischen rückte Wally’s Vermählung heran. Sie gestand sich oft und selbst ihren Umgebungen, daß es ihr wäre, als würde ein unsichtbares Netz, das sie aber fühle, immer enger angezogen, und daß es ihr bald zum Ersticken sein müßte. Alles, was man nur brachte, um die Atmosphäre recht duftend und verführerisch zu machen, drückte ihren Athem noch mehr zusammen; sie ging wie Gretchen im Faust und lüftete Fenster und Thüren, da Mephistopheles im Zimmer es so schwül gemacht hatte.

Noch größer war aber die Unruhe in ihrem Innern. Sie brauchte gern physikalische Gleichnisse und verglich sich mit dem Gefühl eines lebenden Wesens, das man in die Glocke einer Luftpumpe setzt; mit dem Vogel, dem es von 123 innen und außen bei entzogener Luft weh wird. Ach, sie konnte Cäsar nicht vergessen: sie konnte jene begeisterte Miene des Freundes nicht vergessen, jene unschuldige Seligkeit, die sie an ihm noch nie gekannt hatte, und die er damals zeigte, als sie einige aus seinen zuckenden Lippen schleichende Worte mit so pedantischer, altkluger Entrüstung aufnahm. Schon im nächsten Augenblicke, als sie gegangen war, war sie sich mit ihrer Tugend recht abgeschmackt vorgekommen.

Wally fühlte bald, daß Cäsar an das Unsittliche seines Antrags im Momente nicht gedacht hatte. Sie machte sich den Vorwurf, diese Ueberlegung an dem Manne nicht abgewartet zu haben. Auch mußte sie sich gestehen, daß Cäsar ihr vielleicht nie das Prekäre der Situation eingeräumt haben würde. Jetzt wußte sie, worin der ganze Zauber liegt. Sie fühlte, daß das wahrhaft Poetische unwiderstehlich ist, daß das Poetische höher steht, 124 als alle Gesetze der Moral und des Herkommens. Sie fühlte auch wie klein man ist, wenn man der Poesie sich widersetzt. Ach, das quälte sie, untergeordnet zu sein und weniger unschuldig im Grunde, als die Poesie, die Menschen braucht und schildert!

Wally schlug die rührende Geschichte nach, die ihr Cäsar erzählt hatte. Sie weinte mit Sigunen, sie kostete die Unschuld, die in dem Verlöbniß der beiden Liebenden des Gedichtes lag, allmälig immer tiefer. Es liegt in der Schönheit der Natur eine göttliche Gewalt, die bezaubert. Wally beugte und wand sich mit all ihren schönen Grundsätzen und den Lehren, die sie ihrer Erziehung, ja selbst ihrer vernünftigen Ueberlegung verdankte, vor dem Ideale des Naturschönen. Sie ging noch weiter. Sie gab die Natur auf, sie hielt sich an die Kunst, an das Gebilde der Phantasie, das in sich ab-125gerundet und hier so richtig gezeichnet war, wie jeder logische Cirkel ihrer tugendhaften Entschlüsse. Sie kam sich verächtlich vor, seitdem sie fühlte, daß sie für die höhere Poesie kein Gegenstand war. So konnte es nicht mehr fehlen, daß sie sich bald selbst dazu machte.

Wie oft war sie Cäsarn begegnet! Er blickte stolz! Er hatte eine Moral, die über der ihren war! Er konnte das Auge erheben, das Ideale hub es in ihm! Wally konnte nicht stolz sein. An ihr schien die Reihe der Schaam zu sein. Sie fürchtete sich vor Cäsar. Ihre ganze Tugend war armselig, seitdem sie ihm gleichsam gesagt hatte, die Tugend könne nur in Verhüllungen bestehen, die Tugend könne nicht nackt sein. Cäsar hatte an ihr den poetischen Reiz verloren. Er übersah sie.

Ob es wohl Menschen gibt, dachte Cäsar 126 eines Tages bei sich selbst, welche die Literatur und das, was dem Leben durch sie an schönen Elementen und Staffagen gegeben wird, für eine Tyrannei und eine despotische Willkür der Dichter und Künstler halten? Wär’ ich selbst Autor, so würde mich dieser Gedanke erschrecken. Ich würde die Gleichgültigkeit, die Dummheit der Masse immer mit einer Strafe verwechseln, welche ich als Autor für die Zudringlichkeit meiner Schöpfungen mit Recht einernte. Ich würde zittern, wenn von Büchern die Rede kömmt, und würde immer gewärtig sein, daß Jemand aufträte, und die Literatur in die Kategorie von Waarenartikeln stellte, von Ellen- oder Kolonialwaaren, die man nimmt oder stehen läßt, je nach Bedürfniß. Ich brauche die Schönheit nicht! Fürchterlich, wenn von Homer und Ossian die Rede wäre! Ich brauche nicht einmal die Bestrebungen um das Schöne, wenn von einem Erstlingsversuche die Rede wäre! 127 Ja, es gibt Menschen dieser Art, welche die Poesie für eine Zumuthung halten, Geldmenschen, Aristokraten, manche Könige, auch Frauen, besonders wenn sie schön sind und sie deßhalb glauben, der Bildung überhoben zu sein!

Cäsar dachte dabei gewiß nicht an Wally; denn welch’ ein Unterschied ist es, für das Außerordentliche sich interessiren, und dem Außerordentlichen sich als Staffage unterlegen! Er hatte aber in dem Augenblick einen Brief von Wally in der Hand.

„Ich habe Sie beleidigt, schrieb sie ihm; Sie wissen es ja, Cäsar, daß der Muthlose immer der Ausfallendste ist. Wissen Sie noch, wie wir über Muth stritten? Welch’ eine Zeit, wo Sie sich um fünf Ringe, die Sie mir noch immer nicht wiedergegeben haben, mit fünf Menschen schießen konnten! Morgen um zehn Uhr 128 Abends besuchen Sie das Hotel des sardinischen Gesandten. Sie werden von Auroren, die Sie dort erwartet, an einen Ort geführt werden, den Sie nicht verlassen dürfen. Schwören Sie mir, hinter dem Vorhang, den Sie zehn Minuten nach Zehn gütigst zurückziehen wollen, nicht hervorzutreten! Cäsar, schwören Sie mir! Ich schäme mich vor Ihnen, daß ich Schaam hatte. Verantworten Sie es einst! Vor Gott! Vor Gott! Aber ich liebe heiß, ewig, unaussprechlich!“ Wally.

Und an Wally’s Hochzeitstage zeichneten die Unsichtbaren ein reizendes Gemälde, ein Gemälde in altem Styl, zart, lieblich, wie die saubern Farbengruppen, welche sich auf dem sammetweichen Pergamente goldener Gebetbücher des Mittelalters finden.

Rings, wie Rahmen und noch hineinrankend 129 in die Scene Epheu und Weinlaub. Auf den Aesten sitzen Paradiesvögel in wunderbarem Farbenspiel, auf den breiten Blättern der Arabesken schlummern Schmetterlinge, in den Kelchen der Blumen saugen Bienen. Oben schwebt der Vogel Phönix, der fußlose Erzeuger seiner selbst; unten blicken die spitzschnäbligen Greifen und hüten das Gold der Fabel. Bezaubernd und mährchenhaft ist die Verschlingung aller dieser Figuren. Es ist wie ein Traum in den tausend Nächten und der einen. Zur Rechten des Bilds aber im Schatten steht Tschionatulander im goldenen, an der Sonne funkelnden Harnisch, Helm, Schild und Bogen ruhen auf der Erde. Der Mantel gleitet von des jungen Helden Schulter, seine Locken wallen üppig wie von einem Westhauche gehoben. Das Auge staunt; ein Entzücken lähmt die Zunge. Zur Linken aber schwillt aus den Sonnennebeln 130 heraus ein Bild von bezaubernder Schönheit: Sigune, die schamhafter ihren nackten Leib enthüllt, als ihn die Venus der Medicis zu bedecken sucht. Sie steht da, hülflos, geblendet von der Thorheit der Liebe, die sie um dies Geschenk bat, nicht mehr Willen, sondern zerflossen in Schaam, Unschuld und Hingebung. Sie steht ganz nackt, die hehre Gestalt mit jungfräulich schwellenden Hüften, mit allen zarten Beugungen und Linien, welche von der Brust bis zur Zehe hinuntergleiten. Und zum Zeichen, daß eine fromme Weihe die ganze Ueppigkeit dieser Situation heilige, blühen nirgends Rosen, sondern eine hohe Lilie sproßt dicht an dem Leibe Sigunens hervor und deckt symbolisch, als Blume der Keuschheit an ihr die noch verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit. Alles ist ein Hauch an dem Auge, ein stummer Moment, selbst in dem klugen Auge des Hundes, der die Bewegungen verfolgt, welche der Blick seines Herrn 131 macht. Das Ganze ist ein Frevel; aber ein Frevel der Unschuld.

So stand Sigune einen zitternden Augenblick; da umschlang sie rücklings der sardinische Gesandte, der seine junge Frau suchte. Es war ein Tropfen, der in den Dampf einer Phantasmagorie fällt und sie in Nichts auflöst. Die Vorhänge fielen zurück und Tschionatulander wankte nach Hause. Der Gesandte ahnte Nichts. Tiefes Geheimniß.

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132 4.#

Als Wally mit ihrem Manne nach Paris gekommen war, athmete sie auf. Sie war froh, sich von einer ganz verfehlten Stellung befreit zu sehen. Sie wußte, daß sie in Paris noch immer den stürmischen Bewegungen irgend einer Neigung ausgesetzt sein konnte, daß ihre eheliche Treue mit weit gefährlicheren Lockungen, wie in der Heimath, würde herausgefordert werden; allein sicher war sie jetzt vor den Zumuthungen der Genialität, vor dem verwirrenden Benehmen Cäsars, vor Männern, welche zu poetisch sind, um ganz nach der Mode, und zu modisch, um ganz nach der Poesie zu leben. In Paris siegte sie, wenn sie wollte, noch immer durch die sehr einfachen Künste der Koketterie. Nur die Situationen sind es, welche 133 dem Leben der pariser Frauen eine besondere Originalität geben.

Die Zeit, in welcher Wally mit ihrem Manne nach Paris kam, war bei Anfang des Aprilprozesses.

Wenn man glauben wollte, daß die Julirevolution in den Sitten der höhern pariser Welt eine Aenderung veranlaßt hätte, welche gleichsam dem Ernste der Zeit hätte entsprechen sollen, so verkennt man den Charakter der Franzosen. Die alte Revolution, welche eine Strafe der Frivolität zu sein schien, rottete die Frivolität doch selbst nicht aus. Die alte politische und gesellschaftliche Verfassung wurde gestürzt, aber die Manieren erhielten sich. An dem Besitzthume klebte etwas, was sich nicht von ihm trennen ließ; in den Reichthümern, welche kaum den Tod der Einen veranlaßt hatten, lag ein Zauber, der auch die wieder verwirrte, welche 134 die neuen Herren derselben wurden. Den Leichtsinn tilgte die Guillotine nicht.

Die neueste Revolution hatte zu den alten Elementen des pariser Lebens neue, zu zwei Aristokratien, der bourbonischen und bonapartistischen, noch eine dritte gesellt, die Aristokratie der Banquiers. Mehr als je wurde das Geld der Hebel des gesellschaftlichen Mechanismus, seitdem eine Klasse in den Vorgrund trat, mit der es in dieser Rücksicht schwer war, zu wetteifern. Weil die Pariser das Geld nicht anhäufen, sondern es als Mahlschatz immer wieder aufschütten und von dem Winde umtreiben lassen, so wird jede Lebensäußerung dort in den metallischen Strom mit hineingerissen. Dieser Strom ist es, welcher die entsetzlichsten Verheerungen in der Moralität und Freundschaft anrichtet. Sein Ebben und Fluthen macht Leben und Tod. Er ergießt sich frei, offen, vor allen Augen, nicht einmal unterirdisch. Er 135 wälzt seine goldschäumenden Wogen durch die Säle und kleinsten Gemächer. Man ist in Paris immer in der Nähe des Geldes, weniger dessen, was man besitzt, als dessen, wovon man nicht genug haben kann und das man unter allen Umständen sich zu verschaffen sucht. Daraus entstehen die meisten tragischen und komischen Conflikte der Pariser Gesellschaft.

Wally hatte keine Meditationen nöthig, um über diese Dinge in’s Reine zu kommen. Sie verstand sie bald, da die Begegnisse selbst zu deutlich sprachen und dichterische Erfindungen, Schriften, wie die von Balzac, sie hinreichend bestätigten. Wally philosophirt nicht, das wissen wir längst. Sie wird Paris nicht wie ein Phänomen nehmen, sondern wie eine Erfahrung, über die man erst reflektirt, nachdem sie erlebt ist. Sie wird sich in den dichtesten Strudel der Vergnügungen werfen. Sie wird den Becher der Lust und der Gedankenlosigkeit bis 136 tief auf die Neige leeren. Sie wird jede Minute Leben benutzen, die sie nur verwenden kann, und käme sie einst zurück von Paris, wird sie von Paris nichts zu erzählen wissen. Wally gehörte bald zu den glänzendsten Erscheinungen auf dem Theater des Tages und der Nachrede.

Wenn wir im Folgenden mehr ein Verhältniß schildern wollen, das in Wally’s Hause und in ihrer Verwandtschaft sich entwickelte, so ist es deßhalb, um einestheils über ihren Mann eine Ansicht zu haben, anderntheils, um nichts zu unterlassen, was zuletzt doch berichtet werden müßte, weil es eine entscheidende Folge hatte. Wally beherrschte andere Kreise mit derselben siegreichen Gewandtheit. Sie hatte ein großes Stück an dem Netz zu weben übernommen, welches über Paris ausgebreitet ist und so viel Ehrgeiz, Eifersucht, Tragödie und Idylle in seinen Maschen festhält. Sie war eine fleißige Bundesgenossin des großen Feldzuges gegen Na-137tur, Wahrheit, Tugend und Völkerfreiheit, welcher mit dem Leben der Großen fast immer zusammenfällt; ein Feldzug, dessen Gefahr von den Freuden seiner kleinen Siege im Ernst doch überboten wird.

Je weniger diese Katastrophe zunächst mit der Seelenrichtung in Wally zusammenhängt, die uns veranlaßte, sie zum Gegenstand einer poetischen Darstellung zu machen, desto mehr trägt sie bei, die Drapperien zu bestimmen, auf deren Grunde sich die wahrhafte Originalität Wally’s sprechender zeichnete. Indem Wally Scenen erlebt, welche mit ihrer Krankheit nicht in der entferntesten Berührung liegen, indem sie von einem Gedankenreiche losgetrennt ist, das sie selbst in sich aufgeregt hatte; muß auch der Contrast desselben später nur desto tiefer in ihr Herz schlagen. Wally wandelt sorglos am Rande eines Abgrundes.

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138 5.#

Eines Morgens hatte Wally so eben die Besuche einiger ihrer Verehrer entlassen und lachte noch über die Eitelkeit der jungen Männer, welche gestorben wären vor Aerger, wenn sie ihrer neuen Gilets, ihrer Reitpeitsche und Lorgnette keine Erwähnung gethan hätte, als sie im Nebenzimmer ein lautes Sprechen hörte, das immer näher kam, und dann plötzlich mit Gewalt unterdrückt wurde, gleichsam, als würde Jemand, der sich ihrem Zimmer nahen wollte, mit Heftigkeit zurückgehalten. Nachdem die hierauf eintretende Stille anzudeuten schien, daß eine Verständigung dem Besuche hatte vorangehen müssen, öffnete sich stürmisch die Thür und ein junger Mann trat an der Hand ihres Gatten herein, der ihr in dem Ankömmling 139 seinen längst aus dem Piemontesischen erwarteten Bruder Jeronimo vorstellte.

„Wahrhaftig, ich habe mich nicht getäuscht,“ rief der junge Italiener. „Ihren Anblick, Madame, sog ich gestern in der Oper drei volle Stunden lang ein. Ich war kaum in Paris angelangt, als mich der Zufall in die Vorstellung der Cenerentola führt und in die reizendste Perspektive, welche ich je gehabt habe. Madame, Sie saßen in einer Loge, von der ich nicht wußte, daß sie die meines Bruders war. Sie trugen blaue Seide, weiße Tüllstreifen, einen rothen Shawl und Marabouts in dem Haar?“

„Ihr Gedächtniß muß weite Taschen haben,“ sagte Wally, „wenn sie am Morgen noch die Toilette der Damen angeben können, die Sie am Abend vorher bei den Italienern bezaubert haben, wie der in dieser Rücksicht bei den jungen Enthusiasten übliche Ausdruck ist.“

140 „Madame, es sollen viele eine gute Toilette gemacht haben, sagt man. Ich sahe nur Sie. Viele werden sie machen, ich werde nur Sie sehen. Wenn ich die Sprache eines Dichters führen könnte, dann würd’ ich erst die Ausdrücke haben, welche Ihrer würdig sind. Ja, ich muß dies elende Wort: bezaubern adoptiren und meine Gefühle hinter der armseligen Wendung verstecken, daß ich Sie versichre, Ihre Schönheit kann niemals vom Künstler getroffen werden; denn müßte er nicht erblinden in der Anschauung solcher Reize, Madame?“

„Ich schäme mich, mein Herr,“ sagte Wally, „Ihnen ein Wort empfohlen zu haben, das Sie lernen sollten, um bald in die Gesellschaft der jungen Enthusiasten einzutreten; denn ich sehe, daß Sie schon Meister sind in diesen allerliebsten Uebertreibungen, die man um so lieber hört, je weniger Grund sie haben!“

„Sie weichen mir aus, Madame; Sie ver-141gessen, wenn Sie glauben, meine Liebe käme Ihnen ungelegen, daß Wiederstand die Liebe verdoppelt. Sie haben die Wahl. Es ist wie mit den Sibyllinischen Büchern; aber umgekehrt: immer mehr Liebe, aber doch immer nur die gleiche Summe.“

Hier machte der Gesandte, der das Zimmer schon verlassen hatte, ein Geräusch nebenan, und zwang beide jungen Leute, einen Moment darauf hinzuhören. Wally mußte über die etwas steifen Anträge ihres Schwagers lachen. Sein Feuer hatte mehr von dem russischen Spiritus. Für einen Italiener schien er ihr zu viel Worte zu machen.

„Setzen wir uns aber,“ sagte sie freundlich, „mein lieber Jeronimo. Wir wollen versuchen, wie wir uns arrangiren. Es gilt nur, daß man sich verständigt. Wollen Sie meine Farbe tragen? Wollen Sie ins Wasser springen, wenn ich behaupte, es sei nicht tief? 142 Wollen Sie sich mit halb Paris schlagen, wenn ich die Caprice habe, Ihnen Dinge in den Mund zu legen, die Sie über die Herzogin von Breteuil, die Gräfin Allan, die Vikomtesse von Hericourt geäußert hätten? Sie sehen, welche Arbeiten sich Ihnen auferlegen lassen, wenn Sie Herkules genug wären, sich in Dejanira zu verlieben.“

„Bezaubernd, Madame, entzückend! Wie liebenswürdig!“

„Und wenn wir auf dem Fuße hinken, womit der Liebhaber geht: so nehmen Sie den andern, den Fuß der Verwandtschaft, auf dem wir stehen. Ich glaube in der Art wohl, daß Sie ermüden können, Jeronimo, aber niemals, daß Sie fallen.“

Die Thür öffnete sich. Die Vikomtesse von Hericourt trat ein. Sie war eine jener niedlichen Schwätzerinnen, an denen nichts hübscher ist, als eine perennirende Begleitung ihrer Stimme 143 mit einer luftpumpenden Bewegung aus der Brust heraus. Sie seufzte bei jeder Periode aus der innersten Tiefe her, und da sie es lächelnd that und mit glänzendem Auge, bekam dadurch ihr Ausdruck eine hinreißende Gewalt, daß man sich die Triumphe dieser Frau erklären konnte.

Jeronimo blieb aber bei aller dieser Grazie kalt. Er sprang nicht, wie junge Narren von fashionablem Tone mit Recht thun, wo es sich darum handelt, zwischen zwei schönen Frauen das Gleichgewicht zu erhalten, von einer zur andern über, sondern biß in seine Handschuhe, verlegen und nur Wally fixirend, die sein Benehmen nur als Affektation eines übertriebenen Eindrucks auslegen konnte.

Die Vikomtessa hatte so viel mitzutheilen, zu klagen, zu weinen, zu lachen, daß Jeronimo sich mit ihr zu gleicher Zeit entfernte. Er 144 war stumm bis auf den letzten Augenblick geblieben. Die ganze Geläufigkeit, mit der er begann, war gehemmt. Sie wußte nicht, wie sie diesen Charakter nehmen sollte. Er ist ein Russe, dachte sie unwillkührlich. Aber sie besann sich auf die Russen ihrer Bekanntschaft, auf welche dennoch keines der Merkmale Jeronimo’s passen wollte; denn die Russen, immer begierig, sich elegant und civilisirt zu zeigen, und den Juchtengeruch durch Bisam, eine Unanständigkeit also durch die andere, zu verdecken, affektiren überall gegen Damen eine ekelhafte Liebenswürdigkeit, springen von einer zur andern und üben sich in süßen Grimassen. Jeronimo mußte also doch ein Italiener sein.

Am Abend kam Jeronimo in die Loge des sardinischen Gesandten. Wally hörte ihm gern zu; er hatte Ansichten über Musik und viel biographische Notizen über die italienischen Componisten. Doch Alles war flüchtig; denn eine 145 Dame kömmt im Theater nicht zur Ruhe. Keine Meinung, die unter den Liebhabern verbreitet ist, ist so falsch, als die von der Gunst, welche das Theater der Neigung gewähre. Man wird sein Idol neben sich haben, man wird Stunden lang mit ihm flüstern können; das ist gewiß; aber das Idol wird auch immer zerstreut sein und hinter jeder aufgehobenen Lorgnette einen Mann vermuthen, der mit dem Seufzenden neben ihr die Vergleichung aushält, oder ihn wohl übertrifft in der Huldigung, die er ihr schenkt. Jener Satz gilt nur bei der Sentimentalität, welche nicht hört und nicht sieht, oder bei jenen kleinen Geschöpfen, die über ein geschenktes Freibillet glücklich sind und alles, was das Theater an Illusionen bietet, für die Schöpfung und die Bekanntschaft ihres Anbeters halten.

Als Wally nach Hause begleitet war von ihrem Schwager und ihn noch einige Zeit bei 146 sich gesehen hatte, zog sie sich in ihre Gemächer zurück. Es klopfte. Der sardinische Gesandte trat mit einem Armleuchter in ihr Schlafkabinet. Sie erstaunte; denn solche Besuche waren ganz gegen die Verabredung.

„Was ist?“ fragte sie gedehnt.

„Liebes Kind,“ sagte ihr Gatte; „mein Bruder –“

„Ihr Bruder ist sehr langweilig.“

„Er liebt dich; aber höre nicht auf ihn. Was ich ihm auch vorstellen mag, es ist, wie wenn man Feuer plötzlich ins Wasser wirft; aber höre nicht auf ihn. Ich war in meinen Briefen unvorsichtig. Er liebt dich wie eine Nebelgestalt, die man sich aus Täuschungen zusammensetzt und die man sonderbarer Weise jede Nacht wieder vor sein Bett zaubern kann. Er schwärmte mit der Luft, er –“

147 „Was will ich das?“

„Höre nicht auf ihn! Eh’ er dich sahe und Nizza nicht verlassen durfte, irrte er in den Wäldern und warf Blumen in die Flüsse. Seine Neigung ist so stark, daß er jede Lebensfunktion seines Körpers mit dem Deinigen verwechselt, daß er –“

„Lassen Sie!“

„Höre nicht auf ihn! Warum ist Cupido nur blind? Er ist auch taub, sag’ ich oft zu Jeronimo, weil er nicht hört. Sollten seine Sinne verzaubert sein?“

„O Sie werden zum Schwätzer: ich glaube gar, Sie machen Verse.“

„Wie ich dich liebe, Wally! Kind, diese Scheere auf dem Tisch nehm’ ich als eigne Parze meines eignen Geschickes und schneide eine deiner himmlischen Locken, um sie mit 148 verstohlenen Küssen zu bedecken, wenn ich dich selbst nicht habe. Gute Nacht, Wally: vergiß ihn, höre nicht auf ihn!“

Was sollte Wally denken? Der Gesandte hatte ihr eine Locke genommen. Welche Zärtlichkeit! Zu dieser Stunde, wo sie ihn nie sah. Sie erbleichte, denn jetzt war ihr dieser Mann erst im Lichte eines Gatten erschienen. Welch ein Bild! Ein Narr! Eine schwerfällige Gestalt! Ein Ungethüm, das einen falschen Bart trug! Ein Geizhals, der selbst an Worten sparte und nie umsonst redselig war! Eine hülflose Phantasmagorie, die ein Licht in der Hand hielt und vor ihr stand, leibhaftig, als hätte sie einen Mann in den Vierzigen vor sich gesehen! Sie wischte an ihrem Antlitz, das er berührt hatte. Sie lüftete das Bett, um es von den unkeuschen Worten zu reinigen, die hineingefallen waren, denn es stand offen. Sie begriff jetzt erst die Lage, in der sie sich 149 befand, daß sie seit vier Monaten an einen Mann verheirathet war, den sie nicht kannte. Sie müsse fliehen! schrie es unhörbar in ihr auf und erst als sie über die Mittel, diese Thorheit zu begehen, nachdachte, schlief sie ein.

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150 6.#

Am folgenden Morgen bot sich Wally sogleich eine Ursache zur Verstimmung an, als wenn sie die Erinnerung des gestrigen Abends nicht gehabt hätte. Sie hörte im Nebenzimmer das zufällige Gespräch zweier Leute ihrer Bedienung, die sich über den Geiz und die Geldspekulationen der Herrschaft beklagten. Sie staunte über das ökonomische Talent ihres Mannes, der mit Milch gehandelt und Bier gebraut haben würde, wenn er in Paris zufällig die Anstalten dazu gehabt hätte. Nach jedem Diner ließ der Gesandte die Weinreste zusammengießen und führte seine Bedienten selbst an, wie sie von den Leuchtern die Kerzen nehmen und sie zum Lichtgießer tragen mußten, der sie gegen brauchbares Wachs eintauschte. Wally 151 verstand viel zu wenig von solchen Dingen, als daß sie ihnen eine rechte Würdigung hätte geben können. Sie fühlte ein allgemeines Mißbehagen ihrer Seele, das sie verhinderte, diesmal das Lächerliche an dem Geize ihres Mannes zu entdecken. Es war eine gefährliche Stimmung, in der sie an Cäsar schrieb.

Als sie den Brief beendet hatte und sah, wie nur Kleinigkeiten der Pariser Conversation, satyrische Bagatellen und viel Albernheiten aus ihrer Feder geflossen waren, da hatte sie bessre Laune bekommen. Sie freute sich, in Cäsar einen Mann gefunden zu haben, bei dem der Ernst sich hinter so vielem Scherz verstecken durfte, der nicht pedantisch war und vom Gefühl keine Ueberfluthungen verlangte. Das Gefühl war einmal da, nicht in Gestalt einer das Herz betreffenden Empfindung, sondern in Gestalt einer Thatsache, der sich keine andere Auslegung, als die einer Neigung geben 152 ließ. Wally liebte jetzt Cäsar wahrhaftig, ohne sich darüber ein Geständniß zu machen. Sie hatte sich ihm auf ewig durch jene mystische Scene verpflichtet. Und doch war es weder Schaam, was sie an ihn fesselte, noch der Gedanke, ihn besitzen zu wollen. So viel Unschuld bei so vieler Freiheit!

Als Jeronimo zu ihr eintrat, konnte sie mit Lachen seinen heißen Liebesbewerbungen zuhören, so heiter war sie. Jeronimo machte eine Miene, als wäre ihm ein großes Glück widerfahren, als hätte er ein Unterpfand, das ihn gegen Wally’s Scherze sicherte. Sie sagte ihm: „Wie tief sind wir doch schon in den Wahnsinn der Liebe versunken! Bart, Kleidung, Alles seh’ ich heute an Ihnen vernachlässigt! Sie gleichen jenen Shakspear’schen Liebenden in seinen Lustspielen, die so jämmerlich von dem Schmerz ihrer Brust verzehrt sind, und je verliebter sie werden, desto länger ihre 153 schwarze Wäsche tragen. Und vor acht Tagen sahen wir uns zum erstenmale.“

„Vor sechs Monaten,“ entgegnete Jeronimo.

„Wie, Sie kennen mich länger?“

„Länger, als Sie leben, Madame! Ich kannte Sie schon, als Sie nur noch ein Gedanke waren, der im Schooße Gottes schlummerte. Meine Liebe zu Ihnen ist nur die Erinnerung eines alten Glückes. Diese schwellenden Lippen, diese jetzt so spröde Brust: ich weiß es, ich habe sie schon einmal geküßt, ich habe sie schon einmal umarmt.“

„Fabelhafte Dinge muß ich hören, Jeronimo. Was würde die Vikomtesse von Hericourt denken, wenn Alfred Jardinier, dieser bürgerliche aber liebenswürdige Anbeter, ihr solche Dinge sagte.“

„Lasen Sie Plato, Madame?“

„Nein!“

„Die Seelen meiner Person und der Ihri-154gen, Wally, sollen einem Schooß entsprossen sein. Die Bilder und Urtypen unsrer Persönlichkeit kannte schon die Ewigkeit, und was wir Liebe nennen, ist nur ein Tribut, den wir unsrer Vergangenheit, unserm Gedächtnisse und unsern früher eingegangenen Verpflichtungen schuldig sind.“

„Sie werden mich überreden wollen, daß Sie urweltliche Rechte auf mich haben; daß Sie diese Hand, welche Sie mir für eine Zärtlichkeit viel zu heftig drücken, schon vor der Sündfluth besessen haben. Sie thun Unrecht, eine so kleine Frau, wie ich bin, in die großen Hallen der Philosophie einführen zu wollen.“

„Was Philosophie, Wally! Im Schooße Gottes trugen Sie einst dieselben gelben Pantoffeln, mit welchen Ihr Fuß noch jetzt so reizend kokettirt.“

„Mit all Ihrer Philosophie sind Sie doch im Irrthum über die gelben Pantoffeln. Es 155 sind Schuhe, mein Herr; ich erwarte nun von Ihnen, daß Sie sie zu binden versuchen. Machen Sie es ordentlich, und vernachlässigen Sie mir künftig lieber den Plato, als Ihre Toilette, die ganz geschmacklos ist.“

Während die Situation, die jetzt folgte, noch nicht beendigt war, trat ein Diener ein und zeigte an, das Cabriolet Jeronimo’s sei vorgefahren. Sie nahm ihren Shawl, klagte viel darüber, daß er mit nichts umzugehen wisse, und stieg, sich auf ihn stützend, die Treppe hinunter. Jeronimo faßte selbst die Zügel des Pferdes und lenkte das gebrechliche Fahrzeug mit einer Ungeschicklichkeit, die Wally nicht erschreckte, da sie davon nichts verstand. Sie fuhren durch die Boulevards. Jeronimo wollte fahrend sprechen. Er hörte nicht auf, den Schooß Gottes im Mund zu haben. Wally hielt ihm diesen wahnsinnigen Mund zu; er übersah sein Pferd und rannte bei der Porte 156 St. Martin so heftig in die Kutschen der Schauspielerinnen hinein, die vor der Thür des Theaters, wo eben Probe war, hielten, daß seine Bemühungen, sich herauszuwickeln, vergeblich wurden. Die Peitsche brauchte er nur zu seinem Mißgeschick. Das Pferd bäumte sich und hob die Gabel des kleinen Wagens so hoch, daß die beiden darinnen rücklings überfielen und Gefahr liefen, aus ihrem Sitze herausgeschleudert zu werden. Hier mußte ein Unglück geschehen.

Wally verlor einen Augenblick lang die Besinnung. Als sie wieder im Zusammenhang der schrecklichen Scene war, sahe sie den Wagen aus jener Verwirrung herausgeführt und das Pferd von einem Manne beschwichtigt, in welchem sie zu neuem Schreck Cäsar erkannte. Gott, jetzt fiel es ihr ein, sie hatte ihn schon zwei-, dreimal heute an dem Rande der Boulevards gesehen. War er es gewesen, so konnte 157 die Rettung kein Wunder sein. Er mußte sie verfolgt und den Augenblick der nöthigen Hülfe wahrgenommen haben.

Jeronimo staunte, wie er bei der weiten Fahrt statt Vorwürfe von Wally nur Scherz und Lachen vernahm. Er stotterte Bitten heraus, die sie nicht verstand. Sie war außer sich vor Entzücken. Jeronimo wußte sich nichts zu erklären und eilte, ihrem Wunsche nachzukommen. Sie wollte nach ihrer Wohnung zurück.

Wally stand den ganzen Vormittag wie auf Kohlen. Sie kam nicht vom Fenster, weil sie jede Minute hoffte, Cäsar an dem Thorwege zu sehen. Sie nahm mechanisch an der Mittagstafel Theil, gieng nicht in’s Theater; aber Cäsar kam nicht. Jetzt erst fiel es ihr ein, daß sie sich getäuscht haben konnte, und rief einem ihrer Leute, den sie unverzüglich zu Herrn von Werther, dem preußischen Gesandten, 158 schickte, um über ihren Anblick Gewißheit zu haben.

Der Bote brachte die vernichtende Nachricht, Cäsar hätte sich seit länger als vier Wochen in Paris aufgehalten und habe seinen Paß zur Abreise bereits zurückgenommen.

Wally blieb stumm vor Schmerz. Sie hielt das erblaßte Haupt auf der krampfhaften Hand gestützt und gerann in Eis, statt in Thränen. Womit hatte sie diese Demüthigung verdient! Sie kannte Cäsar genug, um zu wissen, wie dieses Betragen mit seinem Wesen zusammenhieng. Ach! auch dies nicht ganz so wunderbare, wozu Cäsar es machen wird, Begegnen an der Porte St. Martin, sagte sie vor sich hin, wird er wie eine Romanenepisode nehmen, um sein ewiges Selbstennui, seine hypochondrische Quälerei damit zu würzen und aufzustutzen.

Wally seufzte tief auf und durchmaß mit 159 Verzweiflungsschritten ihr Zimmer. Es schien ihr der herbste Schlag, der sie treffen konnte. Das Gehen machte sie ruhiger. Sie setzte sich und jetzt erst konnte sie weinen.

„Womit verdient’ ich das?“ war ein erstickter Ton ihrer Stimme. Woran dachte sie jetzt! Was hatte sie alles gethan, um ihm eine Liebe zu zeigen, an die er, an die sie nicht glaubte, und die sich doch so unvertilgbar in ihre Herzen eingenistet hatte! Womit verdient’ ich das? Unglückliche Wally! Was hattest du nicht dem Egoismus eines Mannes geopfert? Du gabst ihm deine Seele, deine Gedanken, deine Schaam, Alles, was du außer dem armseligen Stand der Verheirathung hattest; und dies Alles dem Egoismus, dem Lächeln, vielleicht dem Verrath? O, das wäre entsetzlich, schrie sie auf; dem Verrath? Das nicht, Wally! Aber sein Herz ist kalt, er lebt nur von Gefühlen, die er raffini-160ren und filtriren kann, er trotzt gegen sich selbst; du bist die Leiche, die er mit Füßen tritt. Wally! Wally! Ihr Blick fiel auf den noch offenen Brief, den sie an ihn geschrieben hatte. Welches Vertrauen, welche Harmlosigkeit! Wie treue, kindische Worte! Wie Alles so selig, so unbewußt verbrecherisch, so süß in Etwas, was zuletzt immer eine Uebertretung ihrer Pflicht war! Sie hatte ihm Alles gegeben! Sie weinte; ihre Gedanken schwammen fort auf ihren nassen Augen, ihr Bewußtsein sank hin in eine allgemeine Erschöpfung, in eine Ohnmacht, die von einem hitzigen Fieber abgelöst wurde. Sie sollte erst nach langer Zeit von diesem Schmerze erwachen.

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161 7.#

Drei Wochen hindurch war der Wächter: Bewußtsein vom Thore der Vernunft verschwunden. Die Gedanken Wally’s waren frei gegeben, das Dach stand offen, jedes Auge konnte in das glühende Hirn hineinsehen und die Verwirrung der Ideen mit seinen Blicken verfolgen. Da lagen sie alle, die wie ein Kapital angelegten Eindrücke der Vergangenheit, ohne die lachenden, fröhlichen Zinsen des Umgangs und des Bewußtseins zu tragen; nackte Leiber, die des bunten Gewandes der Rede ermangelten, Ideenembryone, so gräulich anzusehen, wie die Infusorien, die man durch Vergrößerungsgläser in einem Wasserglase unterscheidet. Die Erinnerungen, Ideen und Ideenschatten jagten sich untereinander und giengen wahnwitzig lä-162cherliche Bundsgenossenschaften ein und fraßen sich unter einander auf wie Ungethüme, denen die Gestalt, die Schönheit, die Freiheit des Willens und das Wort fehlt. So lag Wally drei Wochen.

Als sie zum erstenmale die Augen mit Bewußtsein aufschlug, erblickte sie Auroren und fragte nach allem, was seither geschehen wäre. Diese junge berlinische Schwätzerin schlug die Hände zusammen, setzte sich die Mütze der Verwunderung auf, und hatte viel von Wally’s fieberhaften Phantasiestücken zu erzählen. Wally fühlte sich stark, zu hören, auch stark, sich zu erinnern. Sie wußte deutlich, wer die Schuld ihres Uebels trug; sie gieng auch bald wieder bei diesem Gedanken in die Nebel zurück und sprach von einem Manne, der sie gerettet, aber nicht besucht hatte.

Aurora sprach von Jeronimo. Sie schilderte seine Verzweiflung. Er hielte sich für 163 den Urheber von Wally’s Leiden, er verließe das Haus nicht, und würde durch nichts aufgehalten, Augenblicke, wo Wally schliefe, zu benutzen und in ihr Zimmer zu dringen.

„Wer?“ fragte Wally.

„Jeronimo!“

Es gehörte noch Anstrengung dazu, daß Wally wieder wußte, warum sie nach Jeronimo gefragt hatte. Sie vergaß es, und räumte Aurorens Schwatzhaftigkeit das Feld. Diese tummelte sich weidlich darauf. Sie kam immer wieder auf den Italiener zurück, bis er selbst kam und an Wally’s Bett niederkniete. Wally sahe ihn, aber sie erkannte ihn nicht.

Jeronimo stand bleich und hager da. Seine Wangen waren eingefallen und abgezehrt. Die Augen blickten starr und mit einem unheimlichen Feuer. Sein Aeußeres war gänzlich vernachlässigt. Hätte man nicht annehmen müssen, daß ihn die Trauer verhinderte, Sorgfalt 164 auf sich zu verwenden, so würde man zu dem Glauben gezwungen gewesen sein, seine Erscheinung sei die Folge der Armuth. Er sprach italiänisch; Aurora verstand nichts davon, zu seinem Glücke; denn hätte sie es verstanden, wie würde es ihr entgangen sein, daß Jeronimo’s Reden einen bedenklichen Geisteszustand verriethen?

Wally verstand wohl die wahnwitzigen Worte an ihrem Bett, aber sie wußte nicht, von wem sie kamen. Und hätte sie es gewußt, so würde sie sogleich auf den Zustand reflektirt haben, den sie so eben von sich selbst erfahren hatte. In der That, sie verwechselte auch den Wahnsinn, den sie hörte, mit dem, welcher sie selbst beherrschte und flehte unhörbar, ihr nichts zuzurechnen von der Verwirrung, die aus ihrem bewußtlosen Haupte entsprang. Jeronimo küßte ihre Hand. Sie erkannte ihn nicht, als er wie ein Gespenst von ihrem Lager fortschlich.

165 Benutzen wir den Augenblick, wo der Faden unsrer Erzählung gehemmt ist durch das Schicksal ihrer Heldin, die sonderbare Erscheinung Jeronimo’s und das Verhältniß zu seinem Bruder näher zu erklären. Jeronimo ist eine widerliche Störung dieses Berichts. Wally’s unübertreffliche Originalität, das bunte Farbenspiel ihrer Laune verdiente warlich nicht, von so fratzenhaften Verrückungen menschlicher Gefühle und Verhältnissen, wie wir sie kennen lernen werden, paralysirt zu werden.

Luigi und Jeronimo hießen die beiden Brüder, welche uns bis jetzt nur in so nebelhaften Umrissen erschienen sind. Jener war der ältere, dieser der jüngre; beide an Jahren so verschieden, wie an Gestalt und Gemüthsrichtung. Luigi, ein praktischer Egoist, Jeronimo, ein excentrischer Schwärmer, dort das drohende Extrem der Bosheit, hier des Wahnsinns. Beide Brüder hatten zu gleichen Theilen ein 166 großes Vermögen geerbt; aber verschiedenartig war der Gebrauch, den sie davon machten; Luigi geizte, Jeronimo verschwendete. Luigi traf in Jeronimo’s sanfter Gemüthsstimmung keinen Widerstand, als er ihm bei den Verschleuderungen seinen Rath anbot und sich für bereit erklärte, die Verwaltung seines Vermögens zu übernehmen. Die Verantwortlichkeit machte Luigi schlecht. Immer im Harnisch gegen Jeronimo’s Unbesonnenheiten, längst gewohnt, ihn wie ein Zuchtmeister seinen Gefangenen zu behandeln, immer in der Illusion, daß er das Gute, Noble und Ehrliche thäte, während er doch nur das Kluge und Nützliche that, nahm er seine eigne Verfahrungsweise wie etwas Nothwendiges, und gewöhnte sich daran, Dinge als sein Eigenthum zu betrachten, für welche er zuletzt wirklich einstehen mußte. Diese Verwechselung war leicht gemacht und artete in decidirte Schlechtigkeit aus. Es galt 167 nicht mehr, daß Luigi für all die Thorheiten, die Jeronimo begieng, und unschädlich machen mußte, sich schadlos halten wollte, daß er durch die Verwendungen, die er überall versuchte, als Jeronimo ins Gefängniß geworfen wurde wegen Carbonarismus, ein Recht über des jüngern Bruders Leib und Leben zu haben sich überredete, sondern bald wurde es Ziel und Plan bei ihm, einen Menschen, dem nicht zu helfen war, gänzlich zu unterdrücken, und das Vermögen an sich zu ziehen, welches Jeronimo noch besaß und möglicherweise auf irgend eine seiner flüchtigen Neigungen vererben konnte.

Von einer neuen Thorheit, die Jeronimo begieng, wußte Luigi erst kaum, wie er sie behandeln sollte. Er hatte ihm von Wally geschrieben, von ihrer Jugend und Schönheit. Jeronimo bat ihn, nichts von ihren Reizen zu übergehen. Luigi fährt in seinen Entzückungen fort und Jeronimo schwört ihm in einem Briefe, 168 daß Wally nur für ihn bestimmt wäre. Lächerlicher Einfall! sagte Luigi, als er am Tage seiner Hochzeit diesen Brief empfieng. Aber Jeronimo hörte in seinen Grillen nicht auf. Er drohte, noch in Haft befindlich, die er sich durch eine unbesonnene Tödtung zugezogen hatte, mit dem Aeußersten. Die Idee schien fix bei ihm geworden zu sein. Es ist nicht unmöglich, daß man in ein Bild sich verlieben kann. Arme Wally! Mußte deine glatte, stille, liebliche Seele, dein nüchternes, von allem Excentrischen abseites Leben in solche Strudel gerissen werden?

Luigi wußte, daß sein Bruder nach Paris kommen würde. Er hatte ein Mittel gegen ihn, und scheute sich nicht, da er sahe, welchen Eindruck Wally auf Jeronimo machte, es in Anwendung zu bringen. Was war ihm Wally? Welche Genüsse gewährte sie ihm? Und doch war er nicht so niedrig, sie an seinen Bru-169der gleichsam verkaufen zu wollen; er war mehr bös, als gemein, mehr europäisch schlecht, als italiänisch ordinär. Er wollte Jeronimo’s Neigung im Schach erhalten und davon Gewinste ziehen. Sein Geiz sahe mit Schrecken, wie des Bruders Vermögen in den durstigen Sand der Pariser Vergnügungen und Ausschweifungen verrinnen würde. Er sahe schon tausend Arme geöffnet, tausend Zärtlichkeiten als Falle gelegt, er zitterte vor dem weiten Meere, dessen Abgrund bald Jeronimo’s Erbe verschlingen mußte. Er wollte es retten. Er wollte es absorbiren, erst, wie er glaubte, um es zu bewahren, dann, um es nie wieder herauszugeben. Wally mußte zu diesem Zwecke dienen. Ihre Koketterie mußte Jeronimo fesseln und unglücklich machen. Luigi arbeitete planmäßig, um das Hirn des Bruders zu verrücken. Er brachte Grüße, Zärtlichkeiten, Locken, und zwang den Glücklichen, von Wally 170 sich immer wieder enttäuschen zu lassen. Jeronimo war schwach, ein Kind, eine todte Hand seines Vermögens. Luigi eignete sich Alles zu. Wer kann zweifeln, daß Wally im Stande war, durch ihre unzähligen kleinen Charakterlosigkeiten einen Mann zu vernichten? Sie that es ohne darum zu wissen. Sie wurde unbewußt das Werkzeug einer nichtswürdigen Intrigue.

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171 8.#

Jeronimo hatte früher eine glänzende Wohnung besessen, jetzt mußte er sich einschränken. Er trat in Paris mit all dem Glanze auf, der der Wiederschein seines Vermögens war; jetzt hatte ihn eine unglückliche Leidenschaft so gebeugt, daß er nicht einmal das Schmerzliche seiner gegenwärtigen Lage empfand. Er dämmerte in seiner Idee hin. Er gab Alles seinem Bruder, seitdem er keine Bedürfnisse mehr kannte. Sein ganzes Vermögen wurde Luigi verschrieben. Zuweilen, am frühsten Morgen, wenn noch keine Seele auf der Straße war, besuchte ihn dieser und stieg die vier Treppen hinauf, über denen Jeronimo wohnte. Denn er wollte nicht, daß sein Bruder irgend einen Groll gegen ihn faßte. Er gab sich immer das Ansehen, 172 als sorgte er väterlich für den Verlassenen, als bewahre er ihm seine Glücksgüter, die in seiner trüben Seelenstimmung ihm doch eine Last sein würden. So hatte er auch eines Morgens bedächtig an die Thür der kleinen Kammer gepocht, welche Jeronimo bewohnte. Er trat hinein und fand seinen Bruder lang ausgestreckt auf einem schlechten Bett, dessen er sich als eines Sopha bediente. An den kahlen Wänden hiengen einige schlecht gemalte Heiligenbilder. Auf den Kissen rings lagen die zerstreuten Bestandtheile einer ganz mangelhaften Toilette; auf dem Tische einige Bücher, die mit Staub bedeckt waren und deßhalb ahnen ließen, daß Jeronimo noch aus sich selbst Trost und Unterhaltung schöpfen konnte.

Als Luigi eintrat, sprang sein verlassener Bruder auf, grüßte mit einer mechanischen Höflichkeit, für welche er selbst keinen Grund wußte, räumte schnell einen Stuhl ab und 173 schob ihn zurück, um seinem Besuche Platz zu machen.

„Ist sie wohl?“ war seine erste Frage. Luigi bejahte sie mit dem Lächeln eines Mannes, der hier gleichsam sagen wollte: Es hängt Alles von dir ab! oder: Du kannst Vortheil davon ziehen!

Aber Jeronimo war nicht so starken Glaubens. „Sie liebt mich nicht!“ rief er aus, „sie ist grausam und kalt! Man sieht, daß ein solches Herz nur im Norden geboren werden konnte.“

„Was hängst du auch, mein Sohn!“ entgegnete Luigi, „dieser Grille nach? Warum sich einer Leidenschaft hingeben, welche ohne alle innere Begründung ist und die nur dazu dient, dein ganzes Leben zu verwirren?“

„Sie läßt mich nicht mehr vor!“

„Du zwingst sie dazu; denn sie liebt mich von Herzen. Was richtest du an! du bist in 174 der glänzendsten Lage, bist reich, jung, hast eine ausgesuchte Bildung; warum entziehst du dich der Gesellschaft? Warum diese schlechte Wohnung, die dich um deine Annehmlichkeiten und mich um meinen Credit bringt? Warum dieser vernachläßigte Aufzug, welcher eher dem eines Industrieritters und Bankeruttiers gleicht, als dem Range und dem Geiste, den du besitzest?“

„Du bist sehr boshaft, Bruder!“ sagte Jeronimo, den ein Vernunftfunke durchleuchtete. „Wenn ich mich vernachläßige, so bist du Schuld daran, meine Liebe wahrlich nicht, welche nur dazu dient, das Unglückliche meiner Lage mich weniger herb fühlen zu lassen. Wer spiegelt mir die ungeheuern Verluste vor, die mein Vermögen soll erlitten haben?“

„Ungerechte Beschuldigung!“

„O sieh’, Luigi! ich blicke tief in dein Inneres. Dein Geiz ist die Triebfeder deiner Schlechtigkeit. Du hast dir immer das Ansehen 175 gegeben, mein Beschützer zu sein, und wahrlich du machtest dich vortrefflich dafür bezahlt. Ich würde wahrhaftig keine deiner ehrlosen Intriguen zugeben, Mann; wenn ich mir Besonnenheit und Festigkeit des Willens in meiner jetzigen Lage erhalten hätte.“

„So ungerecht sprichst du zu einem Bruder, der für dich sorgt, Jeronimo? der niemals in dieses verfluchte Schmutznest tritt, ohne von den Geldrollen in seiner Tasche einen schweren Tritt zu haben. Wann komm’ ich leer? Ich biete dir Alles an: ich beschwöre dich, anzunehmen. Auch jetzt: siehe! nimm! aber wache über deine Ausdrücke, die mein Herz verwunden und der Welt Veranlassung zu einem falschen Urtheil geben können.“

„O damit schläferst du dein Gewissen ein, mit diesen Geldrollen, welche hier liegen und von mir nicht geachtet werden, weil ich keine Bedürfnisse mehr habe! Man hat gut von Reich-176thümern zu einem Manne reden, der das Gelübde der Armuth ablegte. Was fürchtest du wohl mehr, Prahler, als meine erwachende Lebenslust? Sie kann niemals kommen, Glücklicher! Du siehst mich dem Tode entgegenreifen und hoffest, bald der Sorge um einen Menschen enthoben zu sein, von dem ich selbst gestehe, daß er für menschliche Berührungen und das im Dasein Gewöhnliche kein Kettenglied mehr ist. Du aber warst es, der mich um Wally betrogen hat.“

„Lenk’ ich die Neigungen dieser schwer zu zügelnden Frau?“

„O Mensch, Bruder, du warst auch als Gatte schlecht genug, mir Hoffnungen zu machen.“

„Verächtlicher!“ rief Luigi und sprang vom Sitze auf.

„O setze sie vor dein kahlgewaschenes Antlitz, die Maske der Entrüstung! Dein Weib mußte der Blitzableiter meiner gewitterdrohenden Nei-177gungen und der Hagelwetter werden, welche mein Vermögen ruiniren konnten. Dein Geiz sah alles vorher. Ein teuflisches Spiel hast du mit mir getrieben. Zu den Beleidigungen fügtest du noch meine Entnervung, meine Unfähigkeit, mich für sie zu rächen, hinzu!“

Und das sagte Jeronimo mit Recht. Denn wie richtig er auch das Benehmen seines Bruders, diese Manier, ihn zu beobachten und in der Hand zu haben, durchschaute, so war er doch in seiner Willenskraft wie gelähmt. Eine unerwiederte Neigung hatte ihn zu Boden geworfen. Er war keines Entschlusses fähig, wenn sein Bruder so schlecht handelte, ihm wieder eine neue Hoffnung zu machen. So lächelte Luigi auch hier, nahm die Geldrollen und ließ, indem er sie einsteckte, wie zufällig die Schleife eines blauen Damenkleides aus ihr herausfallen. Jeronimo fieng sie auf und preßte sie an seine Lippen. Sie war von Wally, ein Raub in 178 derselben Art, wie ihn ihr Gatte oft mit verstellten Zärtlichkeiten beging. Während Jeronimo im Entzücken dieses Besitzes schwelgte, fand Luigi Muße, sich ohne Geräusch zu entfernen.

Als er dicht bei seinem Hotel war, öffnete sich die Thür desselben und einer seiner Bedienten trat heraus, ohne ihn zu bemerken. Ein junger Mann sprang auf den flüchtigen Burschen zu, hielt ihn an und fragte ihn dringend, indem er etwas durch Geld belohnte, was noch kommen sollte: „Ist die Gräfin zu Hause?“

„Ich glaube nicht.“

„Sei aufrichtig: ich muß es wissen!“

„Sie ist bei der Vicomtesse von Hericourt.“

„Dort kann ich sie nicht sprechen. Sie war krank?“

„Wer? Die Gräfin? freilich; sie ist vor einer Woche vom hitzigen Fieber genesen.“

179 „Gerechter Gott! Wie lebt sie denn im Hause? hat sie viel Vergnügungen?“

„Sie wissen wohl, hierin läßt sie sich nichts entgehen. Sie glauben, Herr Baron, ich kenne Sie nicht? Wie oft waren Sie bei der Gräfin, als ich noch mit ihr Manêge ritt.“

„Du kennst mich? Sage ihr nicht, daß du mich gesehen hast: morgen aber hilfst du mir, sie ohne Ceremoniel und weitläufige Anmeldung sprechen zu können!“

Der Gesandte sah dem forteilenden Fremden nach. Er erkannte ihn als einen Deutschen, dem er früher begegnet sein mußte. Der Bediente gab ihm den Namen an; doch hatte er nie gewußt, daß dieser mit Wally in einer Verbindung gestanden hätte. Er trat in sein Hotel.

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180 9.#

Am folgenden Morgen, als Wally sich noch in den ersten Umrissen ihrer Toilette befand und im neusten Hefte der Revue de Paris blätterte, wo sie durch die Schwärmereien eines französischen Gelehrten über deutsche Zustände, die er aber falsch verstanden hatte, sehr belustigt wurde, riß eine unangemeldete Hand die Thür ihres Zimmers auf und stürzte mit einem freudigen Gruße zu Wally’s Füßen.

Sie war bleich vor Schrecken, als sie es dulden mußte, daß Cäsar sie stürmisch in seine Arme schloß und ihre Hand mit seinen Küssen bedeckte. „Meine Wally!“ war der einzige Ausruf, der über seine bewegten Lippen dringen konnte. Wally zitterte vor Schrecken und Freude. Auch sie konnte keinen Ausdruck finden.

So saßen sie sich eine Weile stumm gegen-181über; aber ihre Blicke sprachen mit feurigen Zungen und hatten tausend Dinge zu gleicher Zeit zu fragen und mitzutheilen. „Dein Tschionatulander!“ sprach dann Cäsar mit holdseliger Ironie. Wally erröthete und barg ihr glühendes Antlitz vor Schaam an seine Brust.

„Sie müssen mir diesen stürmischen Angriff verzeihen!“ fuhr dann Cäsar fort. „Ich habe viel bei Ihnen gut zu machen und will es durch Dinge, welche für Sie von Werth sind.“

„Sie haben vor zwei Monaten mir das Leben nur gerettet, um es mir zu nehmen!“ sagte Wally.

„Ich wollte Sie nicht besuchen. Ich vermied Sie. Warum? fragen Sie mich! Ich weiß es nicht. War ich stolz, beleidigt? Nein: es war lächerlich; aber Sie kennen mich, Wally, wie schwierig ich zu behandeln bin. Ich lasse immer auf eine Liebenswürdigkeit zehn unerträgliche Thorheiten kommen.“

182„Liebenswürdigkeiten! Unerträglich! Thorheiten! O, Alles, wie sonst – mein Cäsar!“

„Meine Wally! Aber Sie schweben in einer unvermeidlichen Gefahr, aus der ich Sie retten muß. Ihr guter Ruf ist bedroht. Sie verdanken das Ihrem Manne. Welche Leute kommen in Ihr Haus?“

Wally hatte nicht viel Gehör für diese Worte, für den Inhalt nicht, nur für den Schall, den sie an Cäsar’s Munde verfolgte. Wenn die Wörterbücher es erlauben, sich so auszudrücken, so wollte sie ihn nur sprechen, nicht reden hören.

„Nein, in der That, Wally! Wer ist dieser Jeronimo? Alle Welt spricht davon. Es ist unmöglich, daß Sie Antheil an dieser Intrigue haben. Sie kömmt allein auf Rechnung Ihres Mannes.“

Wally lächelte nur und weidete sich an dem Anblick.

„Nein, bezaubernd sind Sie, Wally!“ grollte 183 Cäsar mit komisch-weinerlicher Stimme; „aber so hören Sie doch und gehen Sie auf etwas ein, das Sie interessirt.“

Cäsar mußte sie wecken, mit Küssen wecken aus ihrem Rausche. Er mußte Auge an Auge, Stirn an Stirn legen, jeden Zug in Wally’s Antlitz bannen, um sie in seiner Gewalt zu haben und seinen Worten Eingang zu verschaffen. Wally that noch immer nichts, als in einer gewissen gemachten Abwesenheit von unten herauf mit einer halben Wendung ihres Kopfes, mit klugen und verdächtigen Augen an ihn sich hinaufschmiegen und das küssen, was sie grade traf, Auge, Mund, Nasenflügel. Man muß lieben, um diesen malerischen Gestus der Zärtlichkeit zu verstehen.

„Wally!“

„Cäsar!“

„Wer ist Jeronimo?“

„Ein Narr.“

184 „Der Bruder Ihres Mannes?“

„Der Bruder meines Mannes.“

„Er liebt Sie.“

„Er liebt mich.“

„Er ist wahnwitzig.“

„Er ist wahnwitzig.“

„O, Wally! Wally!“

„Was soll ich nur? Warum inquiriren Sie mich?“

„Man behauptet, Jeronimo würde mit Vorspiegelungen von Ihnen hingehalten, während Ihr Mann die Zeit benutzt, seinen eigenen Bruder auszuziehen.“

„Aus der Comödie! Ein Roman von Eugene Sue, Balzac, Victor Hugo; was soll ich lesen? Rathen Sie mir: ich verwildre ganz, Cäsar.“

„Keine Fabel, nein! im Hotel des sardinischen Gesandten plündert man die unglücklichen Liebhaber.“

„Und die glücklichen, Cäsar, sind langweilig.“

185 „Und die glücklichen Liebhaber, Wally, wollen nicht, daß ihr Idol ein Gegenstand der allgemeinen Beschimpfung ist.“

„Wer beschimpft mich?“

„Ihr Mann!“

„Nun, so müssen Sie mich wieder rein waschen.“

„Das will ich; aber –“

„Aber –“

„Geben Sie mir Aufschlüsse, Data, Erklärungen. Wer ist Jeronimo? Was will er? Was hat er? Ahnten Sie nichts? Theilen Sie die Schuld Ihres Mannes?“

„Gott, so hören Sie auf, Cäsar. An diesen Sachen nehm’ ich keinen Theil. Ich habe ja an Ihnen genug, Cäsar; ich lasse Sie nicht. Reden Sie von der Vergangenheit, von Ihren Lebensschicksalen, von unsern Freunden. Kein andres Wort, oder ich verlasse Sie im Augenblick.“

186 Cäsar begriff diese Grillen nicht. Verdiente er, so geliebt zu werden!

„Nun dann!“ sagte er lachend und ärgerlich zugleich, und begann auf die Themata einzugehen, welche Wally entzückten. Bis zur Mittagszeit konnten sie über diese Dinge sprechen, ja noch in der Loge des Theaters, und nach dem Theater bis tief in die Nacht hinein.

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187 10.#

Endlich hatte Wally den Zusammenhang ihrer häuslichen Verhältnisse erfahren. Cäsar war unermüdlich, den Ruf seiner Freundin wieder herzustellen und die öffentliche Meinung über sie zu berichtigen. Sie dankte ihm dafür nicht einmal; denn sie lebte gar nicht in Bezug auf diese unwürdigen Dinge, weil sie weder von ihnen eine Vorstellung hatte, noch sie für werth einer Aufmerksamkeit hielt, die größer gewesen wäre, als die vollständige Erschöpfung ihres Verhältnisses zu Cäsar.

So verflossen einige für sie unersetzliche Tage. Wally duldete nicht, daß irgend etwas sie im Genusse derselben störte. Sie gab sich wenigen Besuchen preis. Die meisten wies sie ab, vor allen die Anmeldungen Jeronimo’s, den sie in 188 seinen Leiden mit einer entsetzlichen Grausamkeit behandelte. Sie trat Alles mit Füßen, was nicht in unmittelbarer Beziehung auf Cäsar stand.

„Sie müssen mich über diesen Unglücklichen anhören;“ sprach Cäsar einst zu ihr. „Er glaubt Rechte auf Sie zu haben und behauptet, daß Sie um den Preis seines Vermögens die seine wären.“

Wally lachte hierüber, dann aber sagte sie ärgerlich: „Was soll ich aber thun? Ich bin dieser Verhandlungen müde, daß mir meine Lage unerträglich wird. Es kömmt so weit, daß ich jedes Mittel ergreife, Paris zu verlassen.“

„Was thut Ihr Mann? Was sagt er Ihnen? Will er denn Alles geschehen lassen?“

„Was geschieht denn? Gütiger Himmel, so schenken Sie den Narrheiten der Welt nicht fortwährend Ihr Ohr. Ich bin für Sie ohne Tadel und bedarf nicht mehr, weil ich 189 nur Ihnen gefallen will. O Gott! ist je zu einem Manne so gesprochen worden?“

„Sie verwirren meinen Kopf, Wally!“

„Gewiß: denn der meinige ist unfähig, noch im Zusammenhange zu denken. Wollen Sie etwas Entscheidendes thun?“

„Nun?“

„Befreien Sie mich aus dieser Lage! Ich gehe mit Ihnen aus Paris und kehre niemals zurück. In der Einsamkeit will ich wohnen; selbst, wenn Sie mich verbergen müßten. Hier ist die Luft verpestet. Sagen Sie Alles meinem Manne. Er ist ein Pinsel, der gar keine Rechte auf mich hat. Fort! Gehen Sie noch jetzt hinüber zu ihm.“

Als Cäsar mit dem Gesandten allein war, sagte er zu ihm: „Mein Herr, Sie vernachläßigen den Ruf und die Ruhe Ihrer Frau.“

„In welcher Eigenschaft sagen Sie mir dies?“ fragte der Gesandte.

190 „Als Bevollmächtigter und Beauftragter Ihrer Frau, als Freund des Hauses, dem sie angehört, als Theilnehmer an Wally’s Lebensschicksalen, die sie betreffen, als beträfen sie mich selbst, zuletzt – wenn auch nur – als Beschützer eines Wesens, das unschuldig ist und nicht die Kraft hat, sich von einer Intrigue loszusagen, in welche sie wider ihren Willen verwickelt wurde.“

„Sie scheinen von den Verhältnissen meiner Frau mehr zu wissen, als ich selbst. Doch will ich ihre Mittheilungen abwarten, um mich zu irgend etwas bestimmen zu lassen.“

„Dann werden Sie freies Spiel haben, mein Herr! Wally lebt nicht mit dem, was um sie vorgeht.“

„Dann scheint es, als bauten Sie ihr eine neue Welt.“

„Ja, Sie können so sagen, wenn Sie darunter verstehen, daß ich die alte einreißen werde. 191 Was können Sie thun, um Ihrem Bruder seinen Verstand wieder zu geben und die Reichthümer desselben, welche Sie sich das Ansehen geben, mit Ihrer Gattin zu theilen? Sie wagten es, eine himmlisch reine Seele zu beschmutzen. Sie wagten es, das Leben eines Bruders methodisch zu untergraben. Gegen das Letzte werden die Gesetze auftreten, gegen das Erste aber Gesinnungen, die sich weder widerlegen noch bestechen lassen.“

„Aber auch gegen diese tugendhaften Gesinnungen wird es Gesetze geben; denn Sie wissen, daß diese Art Tugend nicht überall am Orte ist.“

„Die Gesetze werden zu spät kommen.“

„Wie sollten sie von Ihnen vereitelt werden?“

„Durch die Entführung Ihrer Frau, die Brandmarkung Ihres Namens, durch die Aufhebung jeder ehrlichen Gemeinschaft mit Ihnen, durch tausend Vorsprünge, welche die Ehrlichkeit 192 vor einem Manne voraus hat, der mit dem guten Namen seiner Frau das Vermögen eines Bruders kauft, der zur einen Seite die Menschen übel berüchtigt, zur andern wahnsinnig macht. Wahrhaftig, ich schwöre Ihnen –“

Der Gesandte trat scharf auf Cäsar zu, und hintertrieb hiedurch das, was dieser sagen wollte, er stieß einige Drohungen aus, und verließ dann mit einem gemachten Stolze das Zimmer. Cäsar wollte ihm nach, aber die Thür war in’s Schloß gefallen.

Als er in die Zimmer Wally’s zurückkam und er hörte, daß sie im Bade sei, verließ er unmuthig über die verlorne Mühe das Hotel. Seine Ausdauer war erschöpft. Er war nahe daran, jetzt Alles so kommen und so gehen zu lassen, wie es ging. Aber noch an demselben Abende sollte eine Schlußkatastrophe den Knoten durchhauen.

Jeronimo’s Seelenzustand war unheilbar zer-193rüttet. Es war ihm nur noch eine Kraft geblieben, die gefährlichste für seinen unzurechnungsfähigen Zustand, die Kraft, Entschlüsse zu fassen und sie um so eher in’s Werk zu setzen, weil ihn nichts in seinen Combinationen störte. Jeronimo war fast ein Bild des Todes. Das dunkle Feuer seines Auges hatte sich selbst verzehrt, ein Büschel dünner Haare deckte den kahlen Scheitel. In Regen und Frost stand er vor den Fenstern seiner unglücklichen Neigung, die ihn von sich wies und den ganzen Herbst und Winter mit ihm nicht gesprochen hatte. Dabei versagte er sich das Nothwendigste. Er schien, verhungern zu wollen. Da ihn aber die Langsamkeit dieser Todesart peinigte, so wählte er eine schnellere. Nur darum handelte es sich noch bei ihm, wie er vor den Augen Wally’s sterben sollte.

Es war an demselben Tage, wo Cäsar mit dem Gesandten gesprochen hatte, als sich in 194 der Nachtdämmerung eine blasse Gestalt von ihrem Lager erhob, nach einem Pistol griff und sich an den erleuchteten Häusern der Pariser Straßen dicht unter den ersten Stockwerken entlang schlich. Es war ein wenig Schnee gefallen. Die Straßen waren leer, oder doch hatte Alles, was auf ihnen war, Eile, sie wieder zu verlassen. Nirgends brannten Laternen. Der Kalender hatte Mondschein.

Jeronimo stand endlich vor dem Hotel seines Bruders. Man sah es, daß dieses Haus kein Sitz der Freude war. Nur hie und da war ein Fenster erleuchtet. Jeronimo spähte nach dem, welches zu Wally’s Schlafkabinet gehörte. Er sah es, doch war es noch finster. Wally mußte aus dem Theater schon zurück sein. Einige falsche Accorde auf dem Clavier drangen zu dem Ohr des Unglücklichen. Jeden Andern, dessen Geist nicht schon in wahnsinnige Erstarrung übergegangen war, hätten diese 195 Töne dem Leben wieder gegeben. Jeronimo hatte keine Empfindung, als für das, welches mit seinem Tode und einer Art von Rache zusammenhieng. Er that nichts, als den Hahn seines Pistols zurücklegen.

Jetzt schwiegen die Töne, welche nur in einem Anfalle von Zerstreuung und zufälliger Leere des Bewußtseins angeschlagen schienen. Das Schlafkabinet Wally’s erhellte sich. Jeronimo zitterte, denn nah erkannte er zwei Gestalten, welche an den Gardinen des Fensters zuweilen wegrauschten. Bald war es nur noch dieselbe, die zuweilen wiederkehrte. Es mußte Wally sein.

Jeronimo wollte nicht anders, als sie im Auge haben. Der Zufall war grausam genug, hier Alles zu erleichtern. Vom Vorsprung des Parterrefensters war er bald auf das eiserne Gerüst einer Laterne. Die Einschnitte an der 196 Wand des Hauses unterstützten ihn. Er schwang sich auf, griff mit zuckender Hand an das Fenster und faßte soviel vom Holze, daß er bequem aufgerichtet einige Minuten lang stehen konnte; er stand noch länger; denn in so fürchterlichen Augenblicken ermüdet der Körper nicht und kann das Unglaubliche leisten.

Wally blieb drinnen an einen Pfeiler ihres Bettes gelehnt. Sie war noch nicht ganz entkleidet; nur was an Schnüren und Bändern ihre Kleider zusammenhielt, das war gelöst und machte, daß sie in einer malerischen, die Sinne verlockenden Situation dastand. Sie war sehr indifferent in ihrem Gemüthe, wie es schien, und griff nach einem Buche, nach einem deutschen Buche, um sich in Paris einzuschläfern. Da störte sie ein Geräusch am Fenster. Sie sieht auf und erblickte durch die angelaufenen Scheiben die ganz undeutlichen Umrisse 197 einer menschlichen Gestalt. Sie eilt hinzu, wischt so viel von dem Thau des Fensters ab, um ein gräßlich verzerrtes Antlitz wahrzunehmen, das im Nu beim Knall eines Pistols zerschmettert ist. Sie stößt einen entsetzlichen Schrei aus: der Schuß machte das Haus lebendig. Man eilt von allen Seiten herbei, dringt in Wally’s Zimmer; denn hier hatte man den Schuß gehört. Man tritt in das Kabinet, und findet Wally bewußtlos am Boden liegen. Die Scheiben sind zerschmettert und blutige Theile eines zersprungenen Schädels liegen auf dem Fußboden.

Wally hatte sich bald erholt. Sie besann sich auf Alles; sie hatte Jeronimo in dem Augenblicke, als das Pistol blitzte, erkannt; Niemand zögerte, ihre Vermuthung zu bestätigen, als man den hinuntergestürzten Leichnam besichtigte und dem Bruder des Gesandten in ein 198 Antlitz leuchtete, das nicht mehr da war. Aber welch’ ein tiefer Abgrund ist das weibliche Herz! Wally tobte wie eine Bacchantin. Sie lief, sie schrie, sie riß die Zimmer ihres Gatten auf, der nirgends zu finden war. Sie verbot unter jeder Bedingung, den entsetzlichen Leichnam in das Haus zu tragen. Wäre Jeronimo nicht todt gewesen, jetzt hätte sie ihn umbringen können. Sie rief nach Cäsar. Bedienten eilten fort; man traf ihn nicht. Sie schickte zwei-, dreimal. Zuletzt ließ sie ihm sagen, daß er am folgenden Morgen um sechs Uhr reisefertig in ihrem Hotel eintreffen sollte.

Hier war kein Besinnen, kein Abrathen mehr möglich. Alles mußte Hand anlegen, um ihre Sachen zu ordnen und das Nöthigste auf den Reisewagen zu packen, der unter den Thorweg gezogen wurde. Die Post wurde zur Minute bestellt. Wally war wie verzaubert. Sie 199 befahl, majestätisch, kalt, nordisch, wie eine Alleinherrscherin Moskovien’s. Bis tief in die Nacht war sie mit diesen Zurüstungen beschäftigt.

Sie hatte in halbem Schlummer gelegen, als sie in der Frühe aufwachte. Das blutige Ereigniß hatte sie vergessen; nur ihr Entschluß beschäftigte sie. Cäsar erschien, ganz verstört. Sie blickte ihn forschend an, sie befahl. Er begriff nichts, er frug nicht, er folgte willenlos. Unten im Thorweg war Alles noch um den Wagen beschäftigt, sie zitterte vor Aerger, daß hier noch nicht Alles beendigt war. Sie dachte gar nicht daran, bei Menschen, welche sie nie wieder sehen wollte, einen angenehmen Eindruck zu hinterlassen. Cäsar’s Blick fiel auf eine Blutspur, die von Außen sich in den Thorweg und wieder hinaus zog. Er wagte nicht zu fragen, so erschreckte ihn dies. Wally schien Alles zu wissen, und wie leichtsinnig trat sie 200 über das kaum getrocknete Blut, das hie und da mit zersplitterten Knochen vermischt war!

Erst als sie beide im Wagen saßen und die Barrièren von Paris im Rücken hatten, theilte ihm Wally das Geschehene mit. Cäsar schauderte.

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201 Drittes Buch.#

203 Wally’s Tagebuch.#
Es ist zu spät, das Leben ihres Bluts
Ist tödtlich angesteckt, und ihr Gehirn,
Der Seele zartes Wohnhaus, wie sie lehren,
Sagt uns durch seine eitlen Grübeleien,
Das Ende ihrer Sterblichkeit vorher.

Shakspeare.

Die Einsamkeit meiner jetzigen Lebensweise zwingt mich, den Kreis, in welchem ich mich bewege, nun doch auch in allen seinen Theilen auszufüllen. Wie beglückt mich Cäsars Liebe! Ich will aber nicht ungerecht sein gegen die Außenwelt, und mich wenigstens schriftlich mit ihr beschäftigen, so weit sie ein Recht dazu hat. Viele verdienen es, daß ich auf sie achte: nicht 204 alle. Cäsar sagt mir, ich wäre egoistisch gegen die Welt, er nennt mich sogar grausam. Er meint es gewiß damit aufrichtig. Ich will mich auch mit den Andern beschäftigen; aber schriftlich: täglich will ich drei Vormittagsstunden darauf verwenden. Täglich –

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205 Ob ich das Vorige ausstreiche? Fünfmal hab’ ich gegen meinen Vorsatz gesündigt, und multiplizire ich die drei vergessenen Stunden mit den fünf vergessenen Tagen, so that ich’s fünfzehnmal. Ich schreibe ungern, denn ich denke viel schneller, als mein bleierner Styl folgen kann. Cäsar sagte mir, man müsse die Menschen in ihrem ganzen Wesen anatomiren. Dadurch lerne man und vergnüge sich. Cäsar hat immer Recht.

Ich will einige meiner alten Freundinnen zu schildern suchen. Ich vernachlässige alle; wenn ich sie sehe, zeig’ ich ihnen, was ich von ihnen schrieb und daß ich sie doch liebe. Ich will Delphinen charakterisiren, sie ist so verschieden von mir.

Delphine gefällt, ohne schön zu sein. Man kann ihr nicht einmal einen ausgezeichneten Wuchs zugestehen, nur ihre Haltung, ihr schwebender Gang kann den Mann veranlassen, auf 206 sie zu achten. Sie trägt sich mit erstaunenswerther Einfachheit. Ihr Haar ist gescheitelt; ein weißer Kantenstrich, wie man ihn unter Hüten trägt, hebt diese Einfachheit zu dem lieblichsten Eindruck. Weiß und hellblau stehen ihr gut; eine rothe Schleife auf der Brust giebt dieser Monotonie der Toilette eine lachende Auffrischung. Delphine hat einen kleinen Fuß. Sie geht sehr schön. Das will viel sagen! Das Blaue in Delphinens Auge ist nicht rein, es ist mit zu viel Weiß gemischt. Für die Augenbrauen ist eine schöne Wölbung da; aber sie ist nicht stark aufgetragen; dieser Reiz verschwindet. Sie hat einige hübsche Gewohnheiten. So faßt sie z. B. oft mit der linken Hand in die Gegend der Stirn, öffnet sie, schließt mit dem Daumen und dem Zeigefinger einen Kreis und beginnt diesen Kreis allmälig zu öffnen, indem sie aus der Thränendrüse des linken Auges zurückfährt, das 207 ganze Auge umkreist und die Oeffnung der beiden Finger wieder schließt am Ende des Auges. Diese sonderbare Bewegung erfolgt mit Blitzesschnelle, und ist deßhalb so hinreißend, weil sie immer mit einer Erregung ihrer Seele zusammenhängt. Der größte Zauber in Delphinens Erscheinung kömmt aber von ihrer eigenthümlichen Seelenstimmung her. Diese muß man, um kurz zu sein, sentimental nennen; obschon der Ausdruck sie nicht ganz erschöpft. Besser würde man sagen, sie ist musikalisch gestimmt. Denn Musik drückt ihr ganzes Wesen aus: und zwar nach jener einseitigen Richtung hin, wo die Musik nur Wollust der Empfindung ist. Für plastische Gestaltenschöpfung in der Musik, so weit die Musik diese erreichen kann, für Opern im französischen Geschmack, kurz für das Dramatische in der Musik ist sie nicht. Die Richtung ihrer Seele ist lyrisch. Alles, was sie mit einem wunderlieblichen Organe 208 spricht, nimmt den Ausdruck des Zarten, Schonenden und Bittenden an. Bittend sind die meisten Töne ihres Lautregisters. Nichts kann hinreißender sein, als dies flehende, mit einer gewissen lächelnden und doch schmerzlichen Selbstironie hervorgebrachte: O Gott! womit sie so vieles begleitet, was sie spricht. O Gott! Dieser Ausdruck soll ihr ewiges Ueberwundensein, ihre Hingebung an die Menschheit, an die sie glaubt, ausdrücken. Wer könnte widerstehen, wo solche Töne anschlagen! Delphine ist so willenlos, daß sie die Beute jeder prononcirten Absicht wird. Mit liebenswürdiger Naivetät gestand sie mir einst: Sie würde Jeden lieben, der sie liebt. O wie nöthig ist es, bei einer solchen Willensschwäche, daß sie in die Hut eines Mannes kömmt, der so viel geistiges Leben besitzt, um sie ganz durchströmen zu können mit seiner eignen Willenskraft! Delphine liebte unglücklich, mehrmals; aber sie ist 209 so unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten sind so wenig sichtbar in ihrem Benehmen, daß sie dem Manne immer noch als kaum erschlossene Knospe erscheinen muß. Delphine besitzt äußerlich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge zu fesseln, aber wer sie einmal, sei es aus Liebe oder Illusion eroberte, der wird sie nie verlassen können, weil ihre Hülflosigkeit, ihre Hingebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet sie noch mehr an ihrem Geiste. Sie hält einige Minuten lang die Dialektik eines bloß verständigen logischen Gesprächs aus; aber dann kann sie es nur fortsetzen, wenn es entweder auf einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen bestimmten vorliegenden Fall, den sie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man ihr blos erzählt, kann sie nicht urtheilen, weil sie alle Menschen für gut hält, und alle nach sich selbst richtet. Delphine sollte viel lesen. Sie liest, aber fragmentarisch. Sie ist reich, 210sie sollte sich durch vielfache Lektüre darin zu bilden suchen, was über die Musik und das bloße Gefühl hinausliegt. Ihr Organ macht, daß sie schön, ihre keusche Seele, daß sie fast Alles richtig liest. Ich hörte sie Gretchen im Faust lesen, so wahr und hold, wie es der Peche in Wien und Höffert in Braunschweig kaum gelingen möchte. Cäsar muß ihr Bücher geben. Was er wohl über sie urtheilt! Er ist ihr diametral entgegengesetzt, und sagte mir doch einmal: er müsse Jede lieben, die ihn liebe und würde auch Jeder treu sein in seiner Art. Bei ihm ist das Egoismus, bei Delphinen Schwäche. Sie können sich aber nicht begegnen. Delphine ist eine Jüdin.

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211 Ich habe das gestern nur so hingeworfen, daß Delphine eine Jüdin ist. Aber welche eigenthümliche Richtung mußte dies ihrem Wesen geben! Sie wurde unter sehr glänzenden Verhältnissen erzogen. Das Judenthum in seinem Schmutz, mit seinen Ceremonien und Priestern nahte sich ihr niemals. Sie findet keine Reue darin, irgend eines der jüdischen Gebote zu übertreten, von welchen sie den größten Theil gar nicht kannte. Wie originell ist doch ein Mädchen, das den ganzen Bildungsgang christlicher Ideen nicht durchmachte, und doch auf einer Stufe steht, welche ganz Gefühl ist, und das so viel Liebenswürdigkeit entwickelt! Delphine kann von der Religion nur wenige Nachrichten haben, einen weiblichen Gottesdienst giebt es in ihrem Glauben nicht, eine häusliche Verehrung kömmt in Form von Ceremonien, Gesang oder sonst einer Weise nicht vor, die Confirmation ist unter uns den Juden nicht 212 erlaubt – wie auffallend ist dies Alles, und doch hat man es dicht neben sich!

Glücklich ist Delphine zu nennen, denn niemals wird ihr die Religion irgend eine Aengstlichkeit verursachen. Ein gewisses unbestimmtes Dämmern des Gefühls muß für sie schon hinreichend sein, die Nähe des Himmels zu spüren. Sie braucht jene Stufenleiter von positiven Lehren und historischen Thatsachen nicht, die die Christin erst erklimmen muß, um eine Einsicht in das Wesen der Religion zu bekommen. Wir sind weit schwieriger in diesem Betracht gestellt und sollten im Grunde, wenn die Religion die Tugend befördert, weit weniger tugendhaft, als die Juden sein; denn unsere Religion ist ein so hoher Münster, daß man ihn zwar ersteigen, aber nicht zu jedem Sims, zu jedem Vorsprunge, zu jedem Seitenthurme gelangen kann. Eins aber bemerk’ ich, was charakteristisch ist. Niemals könnt’ 213 ich als Christin über meine Religion zu Delphinen sprechen und sie eine Verzweiflung über meinen Glauben blicken lassen. Es ist dies eine Schaam und ein Stolz, welcher unvertilgbar in uns niedergelegt ist, und die uns nicht verlassen würde, selbst wenn vom Christenthum Alles in uns morsch geworden ist.

Für christliche Männer, welche widerspänstig gegen den Katechismus sind, muß die Liebe einer Jüdin von besonderm Reize sein. Sie nehmen hier weder Bigottismus, noch eine Zerrissenheit, wie die meinige, in den Kauf, sondern weiden sich an der reinen, ungetrübten, natürlichen Weiblichkeit, an einem sinnlichen Schmelz der Liebe, welcher die der Christinnen bei Weitem übertreffen soll. Bei einer Jüdin reduzirt sich Alles einseitig auf ihre Liebe, Rücksichten tauchen nirgends auf: ihre Liebe ist ganz pflanzenartiger Natur, orientalisch, wie eingeschlossen in das Treibhaus eines Ha-214rems, der Alles erlaubt, jedes Spiel, jede weibliche (aber wollüstig-ergreifende) Gedankenlosigkeit, Alles, Alles: darum schwillt Delphine von Liebe. Das Segel ihres Herzens ist niemals schlaff, sondern immer aufgebläht, rund und voll, immer auf rauschender Fahrt.

Cäsar entdeckt, glaub’ ich, in der Liebe zu Jüdinnen noch einen andern Reiz. Er hat eine ganz heillose Ansicht von der Ehe, und will die letztere durchaus nicht als ein Institut der Kirche gelten lassen. Das Sakrament der Ehe ist nach seiner Theorie die Liebe, nicht des Priesters Segen. Wie glücklich würde Cäsar sein, wenn er je heirathete, es ohne kirchliche Ceremonie thun zu dürfen!

Eine Ehe zwischen einer Jüdin und einem Christen kann zwar nicht bei uns, aber in andern Ländern geschlossen werden; natürlich ist dies eine Ehe ohne den christlichen oder jüdischen Priester; es ist eine rein civile Ehe 215 vor den Gerichten, ein Akt der geselligen Uebereinkunft. Ich glaube fast, Cäsar könnte deßhalb seine Neigung zu Delphinen ins Aeußerste treiben. Schon bemerk’ ich, wie eifrig er sie sucht.

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216 Wie leichtsinnig bin ich gestern über die Abgründe meines Denkens hingewandelt! Ohne weiteres konnt’ ich mich damit beruhigen, diese Zweifel an meinem Glauben hinzunehmen als etwas, das ich mir längst selbst gestanden habe, und doch weiß ich aus meinem frühern Leben, wie unglücklich ich war, daß ich über diese Dinge nichts zu denken wagte. O wie mächtig ist der Liebe Zauber! Ein männliches Herz, das uns liebt, ist der Wächter aller unsrer Gedanken und muß die stille Verantwortung dessen tragen, was in der Seele des Weibes Sünde und Empörung ist. Wie sicher fühl’ ich mich, selbst im Entsetzlichsten, wenn ich nur die warme Hand meines Freundes drücken darf! Er nimmt Alles auf sich: er ist heiter und lächelt und fürchtet nichts.

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217 Wenn ich jetzt schon nicht ohne Zagen sehe, wie Cäsar sich Delphinen immer mehr nähert, wenn ich mir die grausame Wirkung denke, die ein Verhältniß zwischen beiden in mir Unglückseligen hervorbrächte: was muß dann kommen, wenn ich die Trümmer sehe, welche sich in meiner Seele aufgehäuft haben! Die Unruhe, über die Religion eine Ansicht zu haben, peinigt mich mehr als sonst. Sie hat eine solche, jetzt zur Noth gedämmte Gewalt über mich, daß ich glauben muß, die Wegnahme dieses Dammes der Liebe bringt eine Ueberfluthung in mir hervor, welche selbst den Schmerz über Cäsars Verlust mit fortschwemmt. Ich lebe und sterbe mit Cäsar. Leben kann ich nur mit Cäsars Liebe. Sterben muß ich, nicht weil Cäsar im Stande war, eine andre mir, ein Mädchen einer Frau (ob er es wohl weiß, eine Unberührte einer Unberührten) vorzuzie-218hen, sondern weil dann Alles in mir zusammensinkt. Gott, ich glaube, fast brauch’ ich Cäsar nur, um mich zu beschäftigen und meinen Gedanken eine unschädliche Richtung zu geben. Er kömmt.

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219 Nur die Erkenntniß ist das Schwere. Das Dasein Gottes selbst bezweifeln, hieße den gegenwärtigen Zustand meines Innern fortläugnen. Würd’ ich diese Mühe haben, wenn es nicht in Wahrheit einen Gott gäbe! Das Resultat des Atheismus war auch nie ein andres, als daß er in ein System übergieng und zuletzt selbst eine Religion wurde. Konnt’ es abergläubigere und bigottere Atheisten geben, als Chaumette, Anacharsis Cloots und Momoro waren!

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220 Der Atheismus eine Religion! Eine Ironie, die man satanisch nennen möchte! In einer Reisebeschreibung las ich, daß einer der ersten Gottesläugner der Revolution, Billaud-Varennes, nachdem er auf seiner Flucht erst von der Dressur azorischer Papageien gelebt hatte, dann in Amerika Priester wurde, unter Indianer kam und zuletzt von ihnen als göttliches Wesen verehrt wurde, er, der Gott geläugnet hatte!

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221 Diese satanischen Ironien reizen mich. Sollte es möglich sein, daß es noch einst im Himmel einen Gottesdienst giebt! Das Christenthum (man lese nur die Offenbarung Johannis) gefällt sich in diesem lächerlichen Widerspruch, als wenn Gott vor sich selber Weihrauch streuen müsse. Er etablirt im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären, auf welchen die Cherubim thronen. Göthe benutzte diese Maschinerie für die Canonisirung seines Faust.

Aber was jag’ ich nach solchen Bemerkungen! Sie haben freilich lindernde Kraft, aber ich schäme mich, aus meinem Schmerze Thatsachen heraufzuwühlen und mich selbst als einen Gegenstand meiner Leiden zu betrachten.

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222 Wir sollen Gott fürchten und lieben! Dies eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich kann es weder befolgen, noch mich anklagen deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir sollen Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Weltansicht, welche eine unglückliche ist und freilich sich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich vier Jahreszeiten kommen und man im Frühjahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch ein so vortreffliches Surrogat der Vanille sind. Es ist im Grunde nicht viel, was wir besitzen auf Erden. Wir werden geboren oft in den elendesten Verhältnissen. Wir kriechen thierisch auf dem Boden und werden nur allmälig aufgerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier der Bildung. Noth, Mühsal verfolgt uns überall; selten ein Genuß, der nicht durch eine Anstrengung erkauft ist. Wir haben so viel mit der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen Stein wie Sisyphus den Berg hinauf; warum 223 müssen wir es thun? Der Fluch, nicht der Segen der Götter begleitet uns. Warum sind wir? O könnt’ ich mir irgend einen erweislichen Grund vorstellen, warum diese Planeten im Weltsysteme irren, warum wir auf unserm Planeten so armselig und hülflos kriechen müssen? Was bezweckte Gott damit? War dies eine Grille von ihm? Was kömmt darauf an, ob das Gute oder Böse in der Weltordnung produzirt wird? Ich bin so unglücklich. Ich weiß hierauf keine Antwort.

Die Fähigkeit, Fragen aufzuwerfen, ließ Gott bei der Schöpfung oder bei der ewigen Schöpfung, bei unsrer Geburt, ohne die entsprechende Fähigkeit, auch Antwort darauf zu geben. Diese Halbheit einer Gabe ist so feindselig. Gott duldete es, daß der Glaube an ihn die Tagesordnung der Geschichte wurde; er duldete es, daß noch heute der Atheismus wie das größte Verbrechen von den Völkern 224 behandelt wird. Nun, ich denke an Gott; aber warum gab er uns nicht die Fähigkeit, ihn begreifen zu können? Verlangt er die Folgen, warum ließ er mich ohne die Voraussetzungen? Alle Nationen kommen darin überein, daß man von Gott nichts wissen könne. Dann weiß ich auch nicht, warum sie an ihn glauben. Oder es darf mich niemand tadeln, wenn ich denke, die Existenz Gottes anzunehmen, war eine ganz äußerliche, politische und polizeiliche Uebereinkunft der Völker. Denn warum haben wir halbe Vernunft, halbe Erkenntniß, halben Geist? Warum zu allem nur die Elemente? Und wir sind so vermessen, und bauen auf diesen trüben Boden Systeme, welche den Schein der Vollendung tragen, und uns mit Verpflichtungen willkürlich belasten!

Und zuletzt der Tod! Dieser Schrecken des Tods! Die Krankheit mit ihrer unsäglichen Hülflosigkeit! Das allmälige Verschwinden des 225 Bewußtseins! Und dies Alles nicht einmal so entsetzlich, als das Zunehmen an Jahren. Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfindungen werd’ ich haben, wenn ich vierzig, fünfzig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch fünf sind die Wahrscheinlichkeit! Dies ist eine so folternde Grausamkeit des Schicksals, ein solcher Fluch der menschlichen Natur, daß ich mich nie entschließen kann, das Gebot der Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Einiges und das Meiste wurde uns versagt. Das Einzige, was wir in seiner ganzen Vollkommenheit zu besitzen scheinen, ist die Fähigkeit, unsern unglücklichen Zustand zu begreifen und alle die Dinge zu nennen, welche wir vermissen sollen.

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226 Ich habe mir ein merkwürdiges Buch verschafft, von dem ich einmal durch Cäsar hörte: die Fragmente des Wolffenbüttler Ungenannten, welche Lessing herausgegeben hat. Es liegt viel Puderstaub auf dem Buche, viel altfränkisches Wesen; aber das hab’ ich abgewischt und mir von meiner Lektüre eine ganz moderne Vorstellung gemacht. Der Verfasser soll ein ehemaliger Hamburger Arzt, Reimarus, gewesen sein. Die vollständige Prüfung des Christenthums steht in einem Glasschranke auf der Hamburger Bibliothek. Sie wollen das Buch nicht herausgeben. Sie fürchten, daß aus dem vergilbten Papiere jener Kritik Motten fliegen, die das Christenthum selbst anfressen. Warum Lessing nur sagt, daß der Verfasser jener Fragmente Schmidt heiße!

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227 Die Fragmente nehmen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ihr nüchterner, leidenschaftsloser Ton erschreckt das Gewissen nicht. Ich lese in der besten Laune. Wie der Autor die Bibel zerfleischt, wie er in den glatt gescheitelten Mienen jener Fischer und Zöllner, welche das Christenthum predigten, den Schalk entdeckt, denselben Schalk, den der gottselige Pietismus so oft im Nacken führt! Und doch jammert mich’s jener kindlichen, märchenhaften Sage, die der Autor mit so vieler Gelehrsamkeit vernichtet! Nur Eines bestimmt mich, ihm beizupflichten, der Hinblick auf das, was uns umgiebt, auf unsre Priester, auf – ach! wie hängt das Alles zusammen! Aus jenem kleinen christlichen Senfkorn ist ein ganzes Senfpflaster geworden, das der gesunden Vernunft die brennendsten Blasen zieht!

Ganz männlich werden meine Ausdrücke!

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228 Und doch können die Fragmente nicht befriedigen. Sie deuten auf eine Naturreligion, mit deren Voraussetzungen sich die heutige wissenschaftliche Bildung kaum noch begnügen würde. Die Frage muß höher liegen. Sie dringt dort nicht in das Innre der Christuslehre ein, sie hält sich nur an deren historische Offenbarung. Ich suche Trost. Wo? Wo?

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229 Ich war gefaßt auf diese Eiseskälte, mit der mir Cäsar seinen Entschluß anzeigt. Was ich vermuthete ist eingetroffen. Delphinens Situation reizt ihn. Er wird um ihre Hand bitten. Die Eltern sind ohne Vorurtheile und ich werde ihn verloren haben. Ich bin ruhig. Ich habe keine Thränen für diesen Verlust. Ich bin in einer fürchterlichen Seelenstimmung. Ist dies nicht ein neuer Fluch des Himmels? O jetzt sind mir die Blitze des Schicksals willkommen, denn die Donner welche ihnen nachrollen, wecken mich immer mehr aus der dumpfen Betäubung meiner Gedanken. Ich muß Licht haben, Aufschluß, Einsicht! Ich denke an Cäsar nicht mehr. Ich will wissen, erkennen. Warum? Wozu? O, das sah’ ich Alles voraus.

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230 Ich bin krank, ich fühl’ es. Sollte das auf ein Zunehmen deuten? Ist auch im Geistigen wie im Körper Wachsthum eine Krankheit?

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231 Glückliche Naivetät der vergangenen Zeiten! Ich komme von einer Ausstellung alter Gemälde. Auf vielen, die Transfigurationen und Glorien der Heiligen vorstellen, sah’ ich Engel, welche die Geige spielten. Dies würde mir weniger auffallend gewesen sein, wenn sie es nicht nach Noten gethan hätten.

Und doch gleicht die Malerei selbst, die Kunst, diese Lächerlichkeit aus. Die Poesie würde es nicht können. Die Poesie hat diese Einfachheit nicht; sie würde solche Anomalien immer nur als Travestie geben.

Und wie entwürdigt sie sich, wenn sie es thut! Man sollte den Spott über das Heilige, das Wühlen der Mistkäfer in duftenden Blumen, bitter verfolgen, auch die Freigeister sollten es; sie, die alle Sorge tragen müssen, nicht mit den Spöttern verwechselt zu werden.

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232 Es würde mir viel leichter werden, den göttlichen Begriffen mit Sicherheit nachzuhängen, wenn ich vom Nichts eine Vorstellung festhalten könnte. Aber dies ist unmöglich. Ich habe schon früh an dieser Verzweiflung gelitten. Ich wollte schon als Kind mir zuweilen Alles wegdenken, was ich sahe und denken konnte, Europa, Asien, Afrika, die ganze Erde, den Himmel, alle Schöpfung, und dann war es immer, als stürzt’ ich von einer unermeßlichen Höhe ins Leere hinunter und fiel ohne Aufenthalt. Fast möcht’ ich sagen, ich bin seither mit Eindrücken beladener und es würde mir schwieriger sein, als ehemals, eine solche Vorstellung des Nichts zu fixiren. Ach das hohle, weite Chaos, diese dumpfe Leere, worin das Nichts unsichtbar schlummert! Und Gott, der dieses Nichts selbst ist, nämlich dasselbe Nichts, das später doch ein Etwas wurde! Gott, der in dem Nichts ist, und 233 doch wiederum auch in dem Etwas nicht sein soll, weil dies die Welt selbst vergöttern heißen würde! Der pantheistische Gedanke widerstrebt mir, und ich glaube, Frauen werden ihn niemals hegen können, weil sie durch sich selbst schon gewohnt sind, alle Dinge in aktive und passive einzutheilen. Wir werden immer anthropomorphische Ideen haben; das Christenthum unterstützt uns darin. Die Vorstellung eines über uns thronenden Werkmeisters ist ein Bedürfniß, das unsere Phantasie immer geltend machen wird. Jedes Andre, ach, Alles, Alles ist uns verschlossen.

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234 Cäsar wird in Ländern wohnen, wo das französische Recht herrscht. Er ist glücklich, sich ohne die Kirche verheirathen zu dürfen. Eine bürgerliche Verbindung wird zwischen ihm und Delphinen stattfinden. Wenn er nur meinen Zustand schonte! Aber er kennt ihn nicht. Wüßte er, wie mich seine leichte Manier über die Religion so tief verwundet! Das Peinlichste ist dies, daß er sich öfter das Ansehen giebt, als ließen sich einige Wahrheiten sogar im christlichen Glauben unumstößlich beweisen. Dann thut er’s und beginnt über die schwierigsten Punkte Entwickelungen, welche er mit ernster Miene durchführt und wenn er zu Ende ist, für phantastischen Witz erklärt. So begann er neulich folgende Auseinandersetzung der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit, eines Begriffes, den ich noch gar nicht anrührte, weil ich mit seinen Prämissen noch nicht im Reinen bin. Er sagte: Die bloße Vater-235schaft Gottes ist relativ, sie ist unerkennbar, oder, wie Jakob Böhme gesagt hat, ein dunkles Thal. Licht und Erkenntniß kömmt erst durch den Sohn. Beide dürfen nicht isolirt gedacht werden, ihre Ergänzung, ihre Wechselseitigkeit ist der heilige Geist. Gott als das bloße Alles oder das bloße Nichts ist unerkennbar. Gott muß sich etwas gegenüber stellen, einen Schatten seiner selbst, er mußte sich negiren aus seiner Ruhe heraus und schuf die Natur. Die Natur ist nicht Gott, denn dann müßte die Natur ein Zustand sein. Nein, die Natur ist eine Thätigkeit Gottes und alles in Gott Thätige, auf die Außenwelt Bezügliche, ist in ihm das Englische. Die Engel sind die Herolde des göttlichen Willens, und ihre Zahl ist so unendlich, wie, fast möchte man sagen, die Atome der Welt. Die Engel wohnten ursprünglich in Gott; denn seine Thätigkeit ist seinem Sein immanent. Darum mußten die 236 Engel auch gut sein ursprünglich. Luzifer aber empört sich, Luzifer, der Lichtbringer, der die Finsterniß erhellt. Dies Empören ist eine Thätigkeit Gottes, das heißt Gott wird das Gegentheil seiner selbst, Gott wird Satan. Ja, die Natur ist Teufel, dieselbe Natur, welche für Gott durchaus nicht vorhanden ist, da sie nur sein Athem ist. Die Natur vor Gott ist so, als wäre sie nicht. Vor Gott giebt es auch einen Teufel, als gäb’ es ihn nicht. Je höher bei dem Einen oder Andern das philosophische Bewußtsein ist, desto weniger existirt für ihn auch der Teufel. Im Christenthum ist der Teufel ideell gänzlich ausgetrieben, denn Gott sonderte die menschliche Individualität von der Natur ab, und gab dieser in seinem Sohne eine eigne Offenbarung. Gott wollte den Widerspruch seiner selbst durch sich selbst strafen und an sich seinen eigenen Proceß büßen lassen. Er wurde gekreuzigt und es 237 herrscht hinfort nicht mehr Gott, nicht mehr Satan, nicht mehr der Mensch, nicht mehr die Natur, sondern das Reich des Geistes, der Freiheit und der Wahrheit.

Was hatt’ ich nun von dieser Improvisation! Mit einer Art von komischem Atheismus schloß Cäsar seine mystische Deduktion, welche Menschen von größerer Einbildungskraft, als ich besitze, viel Beruhigung gewähren mag. Ich soll schon an den Sohn glauben, und bin noch mit dem Vater unbekannt.

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238 Ich habe mich drei Wochen lang täglich in Vergnügungen berauscht. Ich mußte der Welt zeigen, daß ich Cäsars Entfernung ertragen kann, ich mußte es mir selbst zeigen. Aber es erquickt mich nichts mehr. Cäsars Liebe war die schönste Zerstreuung meiner unglücklichen Seelenstimmung. Ich sinke immer tiefer in Nacht und Verzweiflung. Man erkennt mich nicht wieder. Oft bin ich so von Wehmuth aufgelöst, daß ich in die Kammer stürze, wo die Erinnerungen meiner ersten Kindheit aufbewahrt liegen. Ich räumte auf in der Verwirrung, um mich zu zerstreuen. Ein Stilet fiel mir in die Hand. Wie mag das hierher gekommen sein?

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239 Ich glaube, Cäsar müßte sich schämen, noch zu leben, wenn er keine Auskunft geben kann. Seine Scherze verdecken nur eine Ueberzeugung, die vielleicht folgerichtig ist. Ich habe ihm geschrieben, sie auch mir zu geben. In Heidelberg muß ihn mein Brief treffen; er wird sich sogleich hinsetzen, um mir, ich hab’ ihm die Hand auf’s Herz gelegt und ihn feierlichst beschworen, seine ernsthafte Meinung über Religion und Christenthum zu sagen. Ich zittre, wenn seine Darstellung einläuft.

Das Stilet gehörte meinem Bruder, der in demselben Alter gestorben ist, in welchem ich mich jetzt befinde.

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240 Cäsar sagte mir oft, als Kind hab’ er sich fortwährend damit geängstigt, daß er keines natürlichen Todes sterben würde. Die Katastrophe des jungen Sand hätte zu seiner Zeit alle jungen Köpfe auf den Gedanken gebracht, daß sie ihnen auch einst abgeschlagen würden. Keiner, sagte er, glaubte so würdig zu sein, wie Sand, und keiner glaubte deßhalb auch, auf einen milderen Tod rechnen zu dürfen, als Sand. Er gestand mir mit eisigem Grauen, daß er oft Stunden lang heimlich mit entblößtem Halse gesessen und sich in die Illusion des Schaffots hineingedacht habe, daß ihm die Thränen geflossen seien, aus Verzweiflung, so sterben zu müssen. Es war immer ein wehmüthiges, liebes Lächeln, das bei solchen Geständnissen auf seinen Lippen lag. O Gott! ich vergess’ ihn nicht. Für Alles brauch’ ich ihn. Er soll mir zu Allem Beweise geben!

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241 Ich lese das Buch: Rahel; aber nur in Bruchstücken. Viel davon auf einmal verwirrt den Kopf; nicht deßhalb, weil das Buch absolut schwer wäre, sondern relativ schwer ist es, in Beziehung auf Rahel, die sich das Denken so schwer machte. Ich glaube, daß diese Frau unter Denken verstanden hat, die Dinge immer von der verkehrten Seite anfassen oder doch von der entgegengesetzten, gegenüber dem gewöhnlichen Wege. Sie gräbt sich wie ein Maulwurf in die Ideen ein, und bezeichnet dann und wann ihre Resultate durch kleine aufgeworfene Hügel, die nichts sagen, nämlich nichts Positives, die nur Wahrzeichen sind, daß hier etwas war, was wie ein Gedanke war und was so leicht wieder vergessen ist! Wie reich ist diese Frau an Philosophie und objektiver Vergeßlichkeit! Man hat so wenig in ihrem 242 Buche, und doch glaubt man, wenn man es zuschlägt, Alles zu haben. Darin seh’ ich recht, wie nur die Männer im Stande sind, zu produziren, auch Gedanken.

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243 Bettina! – Spielerei – alte Gedanken; nur klassische, neue Formen. So sprechen, gehen, laufen, essen, trinken, schlafen, handeln – wie es Einem gerad’ einfällt? Ich konnt’ es einmal; jetzt nicht mehr. Bettina hatte so lange freien Willen, sich ein Gesetz zu schaffen; und nun so alt, und noch immer kein Gesetz! Ihr Buch ist ungereimte Poesie. Ein freies Weib ist nur erträglich mit Spekulation.

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244 Wieder wie Jakob einen Zug aus dem Rahelbrunnen gethan. Aber es ist immer nur Lea, die man erhält, niemals Rahel. Rahel sitzt hinter den zweimal sieben Jahren und flicht ihren Freiern Körbe. Man glaubt eine Priesterin mit Weissagung in ihr zu finden, und wird doch von ihr nur angeregt, oder vielmehr nur herausgerissen aus dem alten Kreise seiner Vorstellungen. Es ist furchterregend, eine Frau die Gegenstände so dämonisch-linkisch anfassen zu sehen. Will sie es nur anders machen, als die Andern? Oder wurde ihr diese Originalität angeboren? Sie giebt nirgends nach, sie ist rastlos in ihren Bestrebungen, die verschiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken und konnte nicht anders enden, als entweder in einem Wahnsinn, der sich mit der Bewegung im Tretrade vergleichen läßt, oder als Anhängerin des Pietismus. Man ist in keiner Si-245tuation übertäubter, als bei’m Untertauchen. Pietismus aber ist die Fähigkeit, leben zu können, selbst wenn man Wasser im Ohre hat.

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246 Dieser ruhige, verständige Ton, in welchem ich mich oft Tage lang erhalten kann, wird mir oft so unheimlich, daß ich vor mir selbst erschrecke. Sollte es Menschen geben können, die wie Vernünftige sprechen, und doch wahnsinnig sind? Cäsar erzählte mir einst eine Geschichte, die er wahrscheinlich, wie Vieles dergleichen, nur seiner Einbildungskraft verdankt. Sie paßt auf meinen Zustand. Kann ich sie noch?

Es war um die zwölfte Stunde, als Alfred von seinem Lager auffuhr und über das matte Flackern der Lampe erschrak, die er zu löschen vergessen hatte. Eine Zeit lang saß er mit halbaufgerichtetem Körper – –

Wörtlich seine Worte wiederzugeben ist schwer. Ich suche in meinen Papieren, viel-247leicht find’ ich die Geschichte, die er mir einst, von seiner eigenen Hand geschrieben, schenkte.

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248 Hier ist sie:

Es war um die zwölfte Stunde, als Alfred von seinem Lager auffuhr. Noch flackerte die Lampe, welche er zu löschen vergessen hatte, und zog, wie sie größer oder schwächer wurde, wolkige Kreise an den Wänden seines Zimmers. Eine Zeit lang saß er mit halbaufgerichtetem Körper im Bette und verfolgte dies gespenstische Spiel an den stummen Wänden. Er suchte nach einem Gegenstand für dies Bild: er mußte an die Welt denken, welche draußen schlummerte, und dachte zuerst an Julien.

Meine Julie! sprach er still vor sich hin, und erhob sich dann etwas feierlich und mechanisch von seinem Bette. Er hörte die Uhr picken, die auf dem Tische vor dem Spiegel 249 stand. Er sahe sich selbst im Spiegel mit bleichen, geisterhaften Zügen und mit Augen, welche wie geschlossen schienen. Dann saß er auf dem Sessel vor’m Bett, und hatte sich, ohne es zu wollen, angekleidet.

Ich werde vor Juliens Fenster gehen und den Vorhang wegheben! flüsterte er vor sich hin, aber nur wie zum Scherz, denn Julie wohnte im dritten Stock. Doch gieng er.

Die Straßen waren still und öde. Man sieht auf ihnen Niemand, auch Alfreden nicht. Wo geht er nur? Aber es ist dunkel, der Mond liegt hinter Wolken, man kann Alfred nicht sehen.

Alfred stand vor dem Hause Juliens, ja er hätte schwören mögen, daß er vor ihrem Fenster stand, das im dritten Stocke lag.

250 Es ist nicht möglich, flüsterten seine Gedanken; sie wohnt im dritten Stock; obschon ein kleines Vordach vor dem Fenster liegt, das Moos und Hauslauf anzusetzen pflegt. Die arme Julie! Ich werde fleißiger sein, sie muß künftig im zweiten Stock wohnen!

Jetzt war es Alfred, als drückte er an dem Fenster; aber es widerstand. Es war ihm, als klopfte er; aber hinter dem weißen Rouleau brach sich der Schall. Er mußte lächeln über seine lebhafte Einbildungskraft.

Wie! dachte er, wenn du ins Haus trittst, die zwei Stiegen hinaufschleichst und an ihre Kammerthür pochtest.

Aber dann mußte er durch des Nachbars Haus, das ihm offen zu stehen schien, mußte über den Garten- und Hofzaun klettern und von dort einzudringen suchen.

251 Und das Alles gelang vortrefflich. Er stand jetzt gleichsam höher als Juliens Wohnung war, was er sich nicht erklären konnte. Da blendete ihn ein Lichtstrahl; ein schnurrender Laut ließ sich hören. Julie hatte das Rouleau aufgezogen, sie stand im Nachthäubchen und mit bloßen Schultern am Fenster, das sie öffnete.

Alfred war nun dicht vor ihr. Was ist ihr nur? dachte er; sie erschrickt, sie öffnet den Mund, als wollte sie um Hülfe rufen; was zitterst du, mich zu erkennen, Julie?

Alfred! schrie es durch die stille Nachtluft. Alfred aber lag unten mit zerschmettertem Körper auf dem Pflaster der Straße. Alfred war ein Nachtwandler. Julie glaubte nichts gesehen zu haben, als Alfred todt war. Sie 252 legte sich wieder in ihr weißes, weiches Bett und träumte von ihm. Am Morgen erfuhr sie Alles. Sie lebt noch, aber kümmerlich; die Thränen zehren sie auf.

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253 Cäsar hat noch immer nicht geschrieben; doch wird sein Brief desto ausführlicher sein. Einstweilen hab’ ich etwas Beruhigung erhalten durch eine Maxime, die empfehlenswerth ist. Das luftige Traumbild des Somnambulismus hat mich gestern darauf gebracht. Nämlich, man nehme einen recht hohen Standpunkt, einen kosmischen oder planetarischen, wie ich ihn nennen möchte. Man thue und lasse nichts, ohne sich im Zusammenhang der Weltordnung zu fühlen. Ich denke, wo ich gehe und stehe, an die Beziehungen der übrigen Himmelskörper zur Erde und abstrahire von Allem, was über diesem kleinen Erdball geschieht, auf das Universum, das Niemand läugnen kann. Und nicht blos im Allgemeinen, sondern ganz im Detail, wie man ißt und schläft. Bei jedem Spaziergange richt’ ich den Blick gen Himmel und forsche in dem blauen Meere nach den versunkenen Sternen, die die Nacht erst 254 sichtbar macht. Ich fühle, wie die Erde unter meinen Füßen kreist und ich gleichsam nur auf ihr stationirt bin, sonst aber dem Allgemeinen angehöre. Wie vielen Stolz das giebt! Ich habe jetzt einen Begriff von der Ruhe des Weisen. Ihn kann nichts erschüttern, denn er hört die Planeten rauschen und fühlt sich als Glied einer großen Wesenkette. O, vielleicht ist noch Hülfe für mich! Ich fange an, mir die Möglichkeit einer zufriedenen Stimmung zu denken.

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255 Jetzt weiß ich, wie in Indien die Bonzen ihre Büßungen möglich machen. Die Abstraction hebt ihren Stolz; aber sie würden es nicht aushalten können, wenn nicht die Erde für sie gleichsam verschwände und sie nichts übrig behielten, als den gestirnten Himmel und das Gefühl der großen Wesenkette. Ich müßte in die Einsamkeit ziehen. Wenn mich nur Eines nicht verfolgte! Nämlich die Natur und das Grün. Das Siderische und Tellurische im Menschen bekämpfen sich, und wer poetische Stimmungen hat, wird immer der Erde unterliegen. Das Meer, Gebirge und Ströme wirken noch immer siderisch auf uns; denn sie sind das Rückgrat und die großen Zellgewebe der Erde, und veranschaulichen die Kugel. Aber das Peinigende ist die stille Nachbarschaft der Blume, die Bescheidenheit der Idylle, die kleine Existenz mit ihren Kornährenkränzen und Abendglocken und Alles, was so nahe zu unserm Her-256zen spricht, die Offenbarung Gottes, die wir flüstern zu hören glauben, diese große Thatsache, die entweder Täuschung oder Wahrheit, und in beiden Fällen unenthüllbar ist. Das Irdische faßt uns wie im Strudel und reißt uns hinunter in den bodenlosen Abgrund, von wo keine Wiederkunft.

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257 Ich las nun Alles, was ich schrieb und zittre, daß ich kaum geschrieben habe, was ich wollte. Eines ist auch ganz unmöglich, geschrieben zu werden: die Verzweiflung und das Gräßliche. Nämlich jene grausamen, blutsaugenden Träume, die mich wachendes Auges überfallen und mich hinausstoßen in eine hohnlachende, von gräßlichen, unnennbaren Dingen drappirte Welt. Wie combinir’ ich! Was für Dinge kommen mir vor die Augen! Ich zittre, während mein Puls ganz richtig und medizinisch schlägt. Muß ich sterben, was verbrach ich, daß mir Raben erscheinen müssen? Ich sehe eine schwarze Halle und einen weiten Sarg. Ein Rumpf fällt von der Decke, wo eine Oeffnung, hinunter in den 258 Sarg und den nachstürzenden Kopf greift unser Arzt auf. Oben muß das Schaffot sein. Der Mann drückt das blutige Haupt stürmisch auf den rauchenden Körper, paßt Fuge auf Fuge, Ader auf Ader, und legt einen Silberreifen um die gierig zusammenklaffenden Fleischränder beider Theile. Er dreht sich um, und Leben, galvanisches Leben regt sich in dem Körper und der Leichnam erhebt sich, ein blasser, schöner Jüngling und schleicht zur Pforte hinaus. Dort, dort – eine grüne Flur – ein Mädchen, das Rosen bricht und im Schatten der Allee ausruht. Ein bleiches, gespenstisches Bild schleicht zu ihr heran, spricht nicht, sondern lächelt. Sie umarmt ihn, sie scherzt, sie lacht; er hat auf sich warten lassen, er sei untreu, er gehe zu Doris, er gehe zu Galathee, du Lieber! Und sie küßt seinen blassen Mund – O, röchelt er, drücke 259 nicht! Doch sie hört nicht, sie drückt, der Reifen springt – Herr Jesus, was geht mit mir vor! –

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260 Hier brach Wally’s Tagebuch auf längre Zeit ab. Sie bekam inzwischen das ihr von Cäsar versprochene Glaubensbekenntniß. Es war in das Tagebuch eingeheftet und lautete folgendermaßen.

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263? Geständnisse über Religion und Christenthum.#

265 Ich will über den Glauben der Völker sprechen. Aus dem melancholischen Schweigen des Heidelberger Schlosses hol’ ich mir abendlich die Geheimnisse jener frommen Naturreligion, für die ich glühe. Alles Historische aber, was ich zu fixiren habe, knüpf’ ich an jene kleine Herberge jenseits des Neckar an, wo Luther auf der Reise nach Worms sein Frühstück zu berichtigen vergessen haben soll, ein Frühstück, das der Protestantismus dem Katholicismus so theuer hat bezahlen müssen.

Religion ist Verzweiflung am Weltzweck. Wüßte die Menschheit, wohin ihre Leiden und Freuden tendiren, wüßte sie ein sichtbares Ziel ihrer Anstrengungen, einen Erklärungsgrund für dies 226 wirre Durcheinander der Interessen, für die Tapezierung des Firmaments, für die wechselnde Natur, für Frost, Hitze, Regen, Hagel, Blitz und Donner; sie würde an keinen Gott glauben. In progressiver Entwicklung folgt hieraus dreierlei: Der natürliche Ursprung der Religion, die Accomodation der göttlichen Begriffe an den jedesmaligen Bildungsgrad, und zuletzt die Unmöglichkeit historischer Religionen bei steigender Aufklärung.

Dem Begriffe Offenbarung läßt sich vielleicht eine philosophische Unterlage geben, pantheistischer Art; aber im herkömmlichen theologischen Sinne ist die Offenbarung eine Verfälschung der Natur und der Geschichte. Eine saubre Insinuation, sich Gott als Priester zu denken, der im schwarzen Talare zu dem ersten Menschenpaar hinzugetreten wäre, und ihm Unterricht gegeben hätte in glaublichen und un-267glaublichen Dingen! Sie machen aus Gott einen Souverän, einen Patriarchen, einen Geistlichen. Sie lassen Gott in sehr unvollkommnen Sprachen reden, zu Zeiten, wo es an stylistischer Vollkommenheit noch überall fehlte. Niemand war in diesen anthropomorphistischen Consequenzen einer supernaturellen Offenbarung kecker, als die Apostel Jesu; denn: alle Schrift von Gott eingegeben heißt: in der Lehre von der Inspiration Gott zum Mitschuldigen aller der Solöcismen und incorrekten Construktionen machen, welche sich im griechischen Texte des neuen Testamentes finden. Gewisse Kapitel gibt es in den dogmatischen Systemen unsrer Theologen, die sich besser für Grimm’s Kindermärchen oder Tausend und eine Nacht schicken würden. Dazu gehören die criminalisch strafbaren Dogmen von der Offenbarung und Inspiration.

Je naiver die Völker sind, desto sinnlicher 268 und äußerlicher ihre Begriffe vom Weltzwecke: je gebildeter jene, desto geheimnißreicher diese. Die Verwechselung endlicher und unendlicher Ursachen der Weltregierung lag nahe und so kam es, daß das Alterthum so viel Historisches in Mystisches, Mystisches wieder in Himmlisches verwandelte. Der Naturmensch versteht die Welt nur so weit, wie sein Auge reicht. Alles, was über den Sehkreis seiner sinnlichen Vorstellungen hinausliegt, scheint ihm die erklärende Veranlassung der Unerklärlichkeiten zu sein, die ihn in nächster Nähe umgeben. Daher die zahllosen Details im Glauben der alten Völker: daher die Uebertreibungen der Phantasie, das Ungeheure in Zahlen und Formbildungen. Die alten Religionen sind so ausschweifend, wie Alles, was man, ich sage nicht, nicht kennt, sondern wie Alles, das man noch nicht gesehen hat. In diesen Unförmlichkeiten Entstellungen alter Ueberlieferungen zu finden, 269 einfache aber tiefsinnige Keime einer urweltlichen Offenbarung, oder auch nur eines heiligen, frommen und simpeln Zeitalters: das heißt von einer kindischen Ansicht, die wir schon erwähnten, nur eine ernsthafte Anwendung machen.

Das klassische Alterthum hatte den schönsten Ausdruck für das religiöse Prinzip der alten Welt: Religion ist Alles, was man entweder selbst nicht ist, oder nicht kennt. Die Griechen, mit ihren östlichen Ahnen und deren architektonischen Vorstudien der vollendeten heidnischen Idee, die Griechen setzten die Religion in die Kunst, sie setzten sie in das, was im Ungewissen immer das Gewisse ist, in das Maaß aller Dinge, in den Menschen. Man konnte eine einseitige Idee nicht schöner ausdrücken, und konnte doch zu gleicher Zeit nicht tiefer sinken. Wenn die Menschheit nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist, so war sie jetzt da wieder angekommen, 270 von wo sie ausging. Wir werden uns, so lange die Erde kreist, in Cirkeln bewegen. Hier war ein Cirkel, dessen Anfang sich in sein Ende zurückbog.

Wäre das Heidenthum ohne Cultus gewesen, warum hätte die Menschheit nicht an ihm Genüge finden sollen? Aber die Priester der Religionen pflegen immer diejenigen zu sein, welche ihre Religionen selbst untergraben. Könnten sich die Religionen von Gebräuchen, Aeußerlichkeiten, von der Zudringlichkeit ihrer berufenen und verordneten Diener frei erhalten, so würden sie eine längere Dauer in Anspruch nehmen dürfen. Das Heidenthum war Poesie und bildende Kunst, war Veredlung der Sinnlichkeit, war Gestaltung der rohen Materie; Julian, der Apostat, fühlte es wohl, daß die Götter Griechenlands einen Mann von Geschmack befriedigen konnten. Das Heidenthum war to-271lerant. Es war die friedfertigste Religion von der Welt, so lange sie nicht nöthig hatte, um ihre Existenz zu kämpfen. Das Heidenthum wurde blutig, verfolgungssüchtig, ich möchte sagen, christlich erst da, als ein sonderbarer Aberglauben zur Aufwiegelung der Völker gepredigt wurde, als sich gleißnerische Frömmler in die Gemächer der Fürstinnen schlichen und eine Gottesherrschaft, eine Religion, die nicht Friede, sondern das Schwert brachte, eine politische Revolution zu verbreiten suchten. Der Ursprung dieses Ereignisses kam aber auf Folgendes zurück.

In Judäa, einem sehr barokken Lande, trat ein junger Mann, Namens Jesus, auf, der durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen auf den Glauben kam, er sei schon seinen Vorfahren als Befreier der Nation, der er angehörte, verkündigt worden. Jesus war aus 272 Nazareth gebürtig, unehelichen Ursprungs, Stiefsohn eines braven Zimmermanns, Namens Joseph. Jesus beschäftigte sich viel mit den Schriften der jüdischen Literatur, reiste, unterrichtete sich, und strebte mit edler Selbstüberwindung nach einer stoischen Sittenreinheit. Jesus fühlte, daß eine Mission an sein Herz pochte. Es war ihm, als müßte er einen Auftrag erfüllen, über den er Zeit seines Lebens nicht im Klaren war. Er adoptirte den Glauben an einen verheißenen König, der seine eitle Nation zur Herrscherin der Welt machen würde: er erschrack aber selbst vor dieser übermüthigen Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war. Jesus wußte selbst da noch nicht, wohinaus, als er die ersten unbesonnenen Schritte gethan, als er seinen Freund Johannes auf Kundschaft und Prüfung der Menge vorausgesandt hatte; er wurde Rabbi, ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu 273 sich, er predigte Buße und gottseligen Wandel, predigte das reine, das Urjudenthum des Moses, er nannte sich Messias und stritt nirgends gegen die falsche Auslegung seiner Absicht, nirgends gegen die Begriffe, welche man in Judäa mit dem Messias verband. Nicht einmal des Römischen Joches erwähnte Jesus; er scheint gefühlt zu haben, daß der Messias nur eine theologische Bedeutung haben könne, und richtete doch seine Invektiven gegen die politische Verfassung in Jerusalem, gegen den hohen Rath und gegen Priester, die er einer zu ihrem Frommen falschen Auslegung der alten Bücher bezüchtigte. Inzwischen mehrte sich die Unruhe, Jesus zog mit Tausenden durch das Land, hielt einen gewaltsamen Einzug in Jerusalem, vergriff sich thätlich an dem Tempel, dem Nationalheiligthume der Juden, und fiel als ein Opfer seiner falschen Berechnung und innerlichen Unklarheit. Er hatte dem trägen Volke 274 Energie zugetraut: es verließ ihn, wie Thomas Müntzern, als er keine Wunder thun konnte, wie zahllose Revolutionäre alter und neuer Zeit, da sie die Hülfe nicht brachten, die sie versprachen. Jesus wurde gekreuzigt. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ rief er und starb. Jesus war nicht der größte, aber der edelste Mensch, dessen Namen die Geschichte aufbewahrt hat.

Dies ist der historische Kern eines Ereignisses, aus welchem spätere Zeiten ein episches Gedicht machten mit Wundern und einer ganz fabelhaften Göttermaschinerie. Eine kleine Anekdote wurde welthistorisch. Die französische Revolution hinterließ eine Menge von politischen Wahrheiten, welche im Ansehen geblieben sind, selbst wenn jene weniger glücklich von Statten gegangen wäre. So kam es auch, daß die verunglückte Revolution des Schwärmers Jesu etwas zurückließ, was zuletzt eine Religion wurde. 275 Sollte hier zum ersten Male ein kleines, zufälliges Faktum den Anstoß zu einer großen Bewegung gegeben haben? Nein, die Folgen jener Historie mögen so umfassend gewesen sein, wie sie es waren, so kann davon nichts auf die Naivetät der Historie selbst zurückfallen. Jesus war in Rücksicht auf den jüdischen Messiasglauben nicht der rechte Messias, sondern ein falscher, so gut wie Theudas, Judas Galiläus und Bar Kochba. In Rücksicht auf die Weltgeschichte war er desgleichen nicht mehr; nur daß seine Anhänger zufällig von der Zeit, von dem unsinnigen Heidenritus, von der Sucht des Geheimnisses profitirten. Das Ereigniß, das allen den folgenden Begebenheiten und Revolutionen zum Grunde lag, steht an und für sich betrachtet auf keiner höhern Stufe, als die Lebensumstände des Pythagoras, Zoroaster oder Sokrates.

Jesus war Jude. Er dachte nicht daran, 276 eine neue Religion zu stiften. Es war bei ihm weder von einer Aufhebung noch von einer Erläuterung des Judenthums die Rede. Er sagte selbst, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen; ein Ausdruck, der freilich im griechischen Texte mehr sagt, als das bloße: Befolgen, aber nicht über den Begriff eines vollkommnen, in allen seinen Bezügen verstandenen Judenthums hinausgeht. Da war auch nicht eine einzige neue Lehre, welche Jesus brachte. Enthüllte er tiefer die Geheimnisse Gottes? Nein, er kennt nur jenen pädagogischen Gott des Judenthums. Waren seine Andeutungen über die Unsterblichkeit neu? Sie waren es, der dunkeln und zweifelhaften Lehre des Alten Testaments gegenüber: aber seit dreihundert Jahren glaubten die Juden an die Fortdauer nach dem Tode aus eignem Antriebe: die Pharisäer hatten daraus das Feldgeschrei ihrer Partheimeinung gemacht. Was blieb demnach 277 im Munde Jesu übrig? Eine Moral, welche allerdings veredelnde Kraft hat, aber nie mehr giebt und geben will, als das lautre Judenthum. Die Moral Jesu hält sich immer dicht bei den Gebräuchen des Ceremonialgesetzes, und ist nur darin charakteristisch, daß sie für den äußern Ritus innerlich entsprechende Gesinnungen forderte. Jesus lehrte: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! So lehrte schon Moses; aber der Stifter einer neuen Religion mußte sagen: Liebe deinen Nächsten mehr, als dich selbst! Daraus schließt man, daß Jesus eine Person war, die einzig und allein der Geschichte, keineswegs aber der Religion oder Philosophie angehörte.

Thörichter Glaube, das Neue Testament für die Grundlage einer Religion anzusehen, für ein Buch, das geschrieben worden wäre, um symbolischen Werth zu haben! Der Kanon ist nichts als die erste Erscheinung des Christen-278thums. Das Christenthum selbst liegt darüber hinaus: das heißt, vage Begriffe über ein gescheitertes historisches Ereigniß wurden von Männern herumgetragen, die dabei betheiligt gewesen waren. Die Apostel hatten die Fähigkeit nicht gehabt, eine Begebenheit zu verstehen, welche mit sich selbst in Widersprüchen lag; sie konnten sich nur der Wirksamkeit nicht entschlagen, welche eine so bedeutende Persönlichkeit, wie die ihres Lehrers, auf sie ausübte: sie glaubten seinen dreisten Behauptungen, daß er der Messias wäre und fanden bei der Verbreitung dieser Ansicht darin eine Unterstützung, daß Jesus seine baldige Wiederkunft versprochen hatte. So entspann sich ein romantisches Truggewebe von Wundern, subjektiven, die Jesus verrichtet habe, objektiven, die an ihm selbst geschehen wären. Die Apostel übersahen, wie sehr die Mehrzahl dieser Wunder, welche eher auf einen Eskamoteur, als auf einen Pro-279pheten schließen lassen, (ich erinnere nur an die Fabel von dem Stater im Leibe eines Fisches) das göttliche Gepräge ihrer Erzählungen verwischte. Ja, sie wußten nicht einmal, wieviel sie moralisch wagten, alle ihre Behauptungen wechselseitig ohne Prüfung anzunehmen. Denn das Alterthum war überall auf das Außerordentliche hingerichtet und konnte sich keine große Begebenheit ohne Abweichungen von dem natürlichen Laufe der Dinge erklären. Auffallend bleibt es indessen, daß die Apostel selbst im Neuen Testamente so wenig scharf und präcis als Verbreiter der Lehre Jesu auftraten, daß erst Andere meist ein Amt übernahmen, was ihnen vor Allen zukam. Hätten sie wirklich den Leichnam Jesu gestohlen? Dann klänge dies Stillschweigen fast wie böses Gewissen. Hierüber mag ich nichts entscheiden: nur dies scheint fest, daß die Apostel Menschen von bornirtem Verstande waren, daß sie überhaupt viel Aehn-280lichkeit mit unsern Theologen hatten, und daß es zuletzt nicht ohne typische Vorbedeutung war, wenn neben der Krippe Jesu gleich ein Ochs und ein Esel standen.

Diejenigen unter den Anhängern Jesu, welche, ich sage nicht, logische Schlüsse machen, doch wenigstens begreifen konnten, wie z. B. der von den Theologen gern zu einem tiefsinnigen Philosophen gestempelte Paulus, befolgten in der Stiftung einer neuen Sekte den dreisten Gang, daß sie in Jesu nur die Neuerung anerkannten. Sie rissen seine Erscheinung als etwas Isolirtes vom Gesetze los. Sie machten aus polizeilichen Differenzen ihres Lehrers mit der Synagoge absichtliche, dogmatische, religionsstiftende. Eine übermüthige Exegese, welche die Stellen des Alten Testamentes in einem sträflich verkehrten Sinne auf Jesus bezog, mußte ihre Absichten unterstützen. Jesus wurde ein Wunderthäter und er machte als 281solcher unter den Heiden ein Glück, das Apollonius von Tyana auch gehabt hätte, wäre ihm der Jude Jesus nicht in der Zeit zuvorgekommen. Die geringe Philosophie, die hinzu kam, alle diese Märchen zu erklären und in einen dogmatischen Zusammenhalt zu bringen, waren die Unterscheidungen zwischen physischer und psychischer Natur, zwischen Fleisch und Geist, zwischen dem Gesetz und der Freiheit. Wahrlich, eine Religion mußte diese Einfachheit haben, um so um sich zu greifen, wie es das Christenthum that!

Das Christenthum ist eine Religion der Persönlichkeit. Moses war doch nur der Sendling Gottes, Muhamed Allahs Prophet, sie ließen sich keine göttliche Ehre erweisen! Sehet hier eine Religion, deren unwillkürlicher Stifter von einigen verworrenen Köpfen mit Gott selbst verwechselt wurde, eine Religion, die nichts für ihren Gegenstand, und Alles für 282 ihren ersten Priester thut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgend einem Namen sein, und im Christenthum ist man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jesu gebührt. Welch ein Glaube! Wir sind nicht ohne Poesie, wir schwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich sein, wenn wir nicht zuweilen auf unsern herben Lebenswein ein Rosenblatt der Illusion legen dürften, ein Rosenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert, und das wir doch nicht missen möchten. Aber hier überschreitet eine Zumuthung die Linie des Erträglichen. Das Christenthum wurzele nicht in Jesu Lehre, sondern in seinem Leben: nicht die Liebe sei es, sagen sie, die er im Abendmahle eingesetzt habe, sondern sein Fleisch und Blut, seine eigne Persönlichkeit, die nun immerdar solle gegessen und getrunken werden. 283 Auf die individuellen Begegnisse eines unglücklichen Menschen wird eine Religion gebaut, eine Dogmatik, die sich nicht um die Worte seines Mundes kümmert, sondern seine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt, seine Nägelmaale als Kapiteleinschnitte: kurz das Christenthum ist eine Religion, die auf eines Menschen körperlichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist, eine Religion, die das objektive Evangelium eines Menschen predigt. Armer Rabbi von Nazareth! Statt, daß sie weinen sollten über dein wehmüthiges Schicksal, freuen sie sich deines Todes und haben ihn lachendes Muthes im Munde! Die Kreuzigung Jesu wird gar nicht mehr historisch nachempfunden; sondern da Alles in des unglücklichen Mannes Leben typisch und als Nothwendigkeit gedeutet wird, so geht die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und sieht am Charfreitage immer nur Ostern, bei einem Sterben-284den eine grausame Hand, die ihm das Kissen unter’m Kopfe wegzieht, damit er schneller sterbe, damit er schneller auferstünde! Das Crucifix ist eine Zierrath geworden, die man im Ohre hängen hat.

Die große imponirende Gewalt des Christenthums liegt in seiner welthistorischen Ausdehnung. Nicht, daß ich dieser Lehre die Umgestaltung Europa’s zuschriebe, nicht, daß ich so ungerecht gegen Gott wäre und behauptete, er habe ohne die verworrenen Ideen einiger palästinensischer Fischer und Teppichfabrikanten die Welt nicht auf diesen Gipfel der Cultur bringen können: nein, schon dadurch wird die christliche Idee geschwächt, daß sich die germanischen Völker für sie interessirten und ihre eigne welthistorische Prädestination in jene Lehre legten und das Christuskind als Christoffel durch das Weltmeer trugen. Das Einzige, was mich an das Christenthum kettet, ist ein magischer mit Blut 285 beschriebener Kreis; jene schreckhaften Verfolgungen, denen der neue Glaube ausgesetzt war, jene Hekatomben, die das Christenthum dem Heidenthum opfern mußte, die Männer, Weiber, Kinder, die zu Tausenden hingemordet wurden – ah, das preßt an die Kammern des Gehirns: die Fibern des Nachdenkens ziehen sich zitternd in ihren Versteck: das brennt und schmerzt, wenn man Sinn für Historie, Sinn für die Leiden der Menschheit hat. Nur jener Blutströme wegen bin ich gewissermaßen Christ, weil meine Religion die des Schmerzes und mein Cultus der Muth ist. Ich würde nicht rathen, eher ein neues Bekenntniß abzulegen, ehe man nicht im Begriffe und in der Lage ist, dafür dasselbe auszustehen, was das alte Bekenntniß gekostet hat.

Bis hieher konnte noch von einem Christenthum die Rede sein. Als der Begriff Kirche erfunden war, als Concilien und Würdenträger 286 eingesetzt wurden, da hatte sich die Lehre Jesu in eine neue Art von Heidenthum verwandelt, in Mythologie auf der einen, Aristotelismus auf der andern Seite. Zwischen beiden wucherte die Mystik, keine ursprünglich christliche Pflanze, sondern arabisch-jüdisch-cabbalistisches Gewächs, das in der Philosophie als Platonismus wieder zum Vorschein kam. Das Christenthum, insofern es von Priestern und Mönchen repräsentirt wurde, war auch nicht einmal eine Religion mehr, sondern nur noch Vorwand einer politischen Tendenz des Zeitalters. Die Hierarchie umgürtete sich mit dem Schwerte und fluchte wie ein Landsknecht. Das Christenthum war nun doch ein Reich von dieser Welt geworden. Der todte Rabbi Jesus drehte sich im Grab um: er hatte sich gerächt. Wann gab es eine Religion, die in tausend Jahren mit so disparaten Anomalien sich äußern konnte? Der Islam ist zwölfhundert Jahre alt und noch 287 weht die grünseidne Fahne des Propheten, wie damals, als er aus der Wüste zog. Man hatte Jesus zum Stifter einer Religion machen wollen. Jesus hatte sich gerächt. Die falsche Auslegung seiner Mission war gescheitert.

Luther versuchte noch einmal das lecke Schiff einer imaginären Möglichkeit zusammen zu fügen. Ein Bergmannssohn aus Thüringen stieg in das Bergwerk des Christenthums hinab, durchhämmerte die oberen Flötzschichten der Tradition und holte aus den tieferen Erzgängen hervor, was er für reines, silbernes und goldenes Christenthum hielt. Es war eine kühne Neuerung, die sich aus dem Wittenberger Flachlande, aus der Gegend von Kroppstädt und Treuenbrietzen, die ganz so aussieht, wie der gesunde Menschenverstand, entwickelte. Tausende sagten sich von dem römischen Heidenthume los, das mit der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch ganz Europa etablirt hatte. Die Wittenberger 288 Reformation war ein großer Fortschritt der Menschheit, wenn es groß ist, wie Herr Tholuck gethan haben soll, in Rom von den antiken Götterstatüen zu sagen: Es sind schöne Götzen! Darum handelte es sich: die Menschheit von einem religiösen Mechanismus zu befreien, zu gleicher Zeit aber auch auf dreihundert Jahre die Kunst, die Literatur, die Schönheit aller vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogiren. Das ist kein Unglück, wenn es von einem großen Glücke ersetzt worden wäre. Für das Christenthum geschah in der Reformation alles, für die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand und die Naturreligion aber nichts.

An zwei Begriffen siechte gleich anfangs die Reformation: an einem, den sie nicht abschaffte, an der Kirche; und an einem, den sie neu erfand, am Evangelium.

Biblisches Christenthum! Was heißt das? 289 Ein Christenthum erfinden, das sich gründete auf falscher Exegese, schlechten kritischen Hülfsmitteln, auf Interpolationen und frommen Betrügereien, auf einer ungestörten und sorglosen Verbindung des alten und neuen Testamentes, endlich aber auf jener heillosen Verwechselung zwischen dem Kanon, als einer Richtschnur des Christenthums, statt daß der Kanon, wie wir zeigten, nur erste Erscheinung, die ganz prekäre und subjectiv überall beanstandete Erscheinung des Christenthums war. Der Protestantismus bekam seine symbolischen Bücher, welche die Lehrer beschwören mußten, seine Katechismen, den großen und den kleinen, nach welchen die Unmündigen an einen Glauben geschmiedet wurden, dem sie schon als Säuglinge durch die Taufe willenlos sich hingeben mußten. Was muß ich glauben? Ich muß glauben, daß Gott, die Welt erschaffen hat – als wenn ein Gott, der sich in so endlichen Werken, wie die Erde 290 ist, ausspricht, ein Gott, der zugiebt, daß etwas außer ihm ist, ohne er selbst zu sein, als wenn ein Gott, der Raum und Zeit erschaffen hat, um aus Laune irgend einen kleinlichen Weltzweck zu erfüllen, um durch die Dauer zu thun, was ihm ja im Nu gelingen könnte, um unglückliche, von Zweifeln zerfleischte, halb thierische, halb menschliche Menschen auf einem gewissen Erdballe, in einem gewissen Deutschland, hier in dieser ganzen Misere herumkriechen zu lassen, als wenn ein solcher Gott jemals meinem philosophischen Bewußtsein entsprechen könnte! Aber was Philosophie? Wir reden nicht von Philosophie: ich vergaß, daß wir über einige Ammenmärchen und poetische Grillen sprechen. Ich muß glauben, daß Christus sei ein eingeborner Sohn Gottes, von einer Jungfrau geboren, niedergefahren zur Hölle und wieder auferstanden – Nein, auch dies ist nicht der Kern des Christenthums. Was soll 291 ich glauben? daß Christus ist unser Mittler, daß er im Abendmahl persönlich assistirt als Fleisch und Blut im Brod und Weine, daß er uns rechtfertigt durch die Gnade, daß die Erbsünde, an die ich als Psycholog und Menschenkenner faktisch glaube, theologisch zu erklären sei, zum großen Theile aber eine Dogmatik, welche auf jedes einzelne Glied im Körper des Rabbi Jesus gegründet ist. Der Katholicismus war sinnlicher Götzendienst mit polytheistischer Färbung. Der Protestantismus wurde mystischer Götzendienst mit einer Beschränkung auf einen Gott, der aber drei Hypostasen hatte. Wittenberg und der Sand waren Schuld, daß diese Lehre immer flacher, äußerlicher und zänkischer sich ausbildete. Aus dem Evangelium, der Bibelmanie und den symbolischen Büchern setzte sich zuletzt das knöcherne Skelett der Orthodoxie zusammen, eine Gestalt, die statt des Herzens einen ledernen Beutel, statt des Gehirns 292 eine Anhäufung schwammartiger Stoffe zu tragen hat.

Das zweite Unglück des Protestantismus war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche und die unterlassene Ausgleichung desselben mit dem Begriffe: Gemeine. Hier trat früh ein Schwanken ein, das auf der einen Seite das Extrem der englischen Hochkirche und auf der andern das quäkerische Extrem der allgemeinen Priesterschaft erzeugte. Das Lutherthum an und für sich selbst nahm früh eine servile Richtung. Es stritt für das göttliche Recht der Fürsten eben so sehr, wie es seine eignen Satzungen in ein legitimes, unantastbares Gewand zu kleiden suchte. Thomas Müntzer schalt mit Recht auf Luther, den Papst von Wittenberg. Das Territorialsystem war die Folge der Schmeichelei. Die Kirche blieb etwas Ganzes, der Glaube wurde nicht an die stille Kammer des Herzens, als seinen Tempel verwiesen, sondern 293 die Kirche repräsentirte, wie ehemals. Die Geistlichen regieren unter einander. Sie scheinen eine Monarchie für sich zu bilden und ducken sich außerdem unter der politischen Souveränität, so daß es noch heutiges Tages nicht entschieden ist, wie weit sich die kirchliche Autorität, als Landeshoheit erstreckt, wie weit man wagen darf, Agenden zu verfassen und sie mit militärischer Gewalt, wie in den Schlesischen Dragonaden geschehen ist, in Wirksamkeit zu setzen. Hier ist Alles vag, hoffärtig, augendienerisch, despotisch, und erfüllt das Herz des Biedermannes mit den schmerzlichsten Gefühlen.

Die deistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts konnte deßhalb dem Christenthum keinen merklichen Abbruch thun, weil sie bald zu frivol, bald zu witzig war. Der unsittliche Reformator macht nirgends Glück. Der Witz ist einer so großartigen Institution, wie das Christenthum, gänzlich unangemessen. 294 Die naive Einfachheit kindlicher und glaubensfreudiger Seelen parirt alle Nadelstiche Voltaire’s, eines Mannes, den man für einen Schneider halten möchte, so furchtsam und eitel war er. Das Christenthum fordert andere Waffen heraus, überhaupt keine Waffen, die nur für den Krieg taugen, sondern solche, welche sich an einen Stiel stecken lassen, positiv und schaffend werden, und die Erde zur neuen Saat auflockern. Das achtzehnte Jahrhundert, der mephistophelische Geist der abstrakten Verneinung hauchte mit dem ersten Seufzer aus, der auf der Revolutionsguillotine ausgestoßen wurde. Die Negation der Revolution war schon eine schöpferische.

Die Flügel meiner Seele schlagen freudiger, weil ich die Morgenröthe (ach! die blutige Morgenröthe) der neuen Schöpfung sich am Himmel malen sehe. Aber noch halte mich zurück, du stürmischer Genius des Jahrhunderts; noch 295 einmal wurde in Deutschland der Versuch gemacht, zu einem trostreichen Resultate über die wunderbaren Begebenheiten in Palästina zu gelangen. Die Welt seufzt in ihrer Axe ob der stürmischen Bewegung. Wie glücklich wären wir Alle, wenn wir in den Träumen unsrer Jugend uns ewig wiegen dürften, und uns keine Unruhe der Seele von den Spielen der Unschuld verscheuchte!

Die Kantische Philosophie schien unsern Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares Erwachen. Noch nie ist eine Entdeckung mit so reinem Enthusiasmus empfunden worden. Die Kantische Philosophie war Kriticismus: sie war ohne Geheimnisse; aber sie schien den Schlüssel der Geheimnisse zu besitzen. Früher wurde sie auf die Offenbarung und das Christenthum angewandt: aber die Consequenzen, welche sich hier durch sie ergaben, waren von der entgegengesetztesten Art. Der Rationalis-296mus hielt sich an die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erkennen; der Supernaturalismus an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge an sich liegen konnten. Das Ding an sich war eben so sehr negativ, wie mystisch positiv: das weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben so gut, wie das Chaos der Gefühle. Diese beiden Prinzipien über Christenthum machten fünfzehn Jahre in Deutschland die Tagesordnung aus. Es war ein Streit um den Anfang eines Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott behauptete, daß man vieles von seinem Wesen wisse, manches aber noch unerörtert zu lassen habe, begann mit dem Bestimmten und hörte mit dem Unbestimmten auf. Der Supernaturalismus, der aus seinen Ahnungen ein System, aus seinen Ungewißheiten eine Dogmatik schuf, fing mit dem Unbestimmten an und hörte mit dem Gegentheile auf. So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat 297 aus dem Cirkel heraus. Sie walzten ihre Debatten herum und erschöpften sich in Conzessionen praktischer und theoretischer Art. Mischgattungen drängten sich zwischen die Extreme: Damenprediger, welche das Christenthum mit Gemälden verglichen, wo die Conturen dem Rationalismus, die Farben dem Supernaturalismus angehören müßten: Professoren der Theologie, die das Urchristenthum wollten; Generalsuperintendenten, welche die Perfektibilität des Christenthums lehrten. Andre, wie Schleiermacher adoptirten die Dogmatik, wenn ihre Lehrsätze sich gemüthlich als Seelenzustände bethätigten. Mit einem Worte, sie mochten so freidenkerisch verfahren, wie immer; so riß doch Niemand den Vorhang der Lüge weg. Auf der Kanzel gaben sie niemals jenen Glauben preis, den sie auf dem Katheder anatomisch zergliederten. Ueberall trifft man auf Diakone und Consistorialräthe dieser Art, welche sich 298 wie jesuitische Aale theoretisch winden und hin- und hersträuben, praktisch aber sich immer wieder in ihren homiletischen Schleim verstecken.

Schelling und Hegel, jener von katholischer, dieser von protestantischer Seite, stellten den letzten Versuch an, die Philosophie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen. Schelling übertrug allerhand Analogien des Naturprozesses auf die Geheimnißlehren des Christenthums: er wußte Opfer, Menschwerdung u. s. f. durch witzige Bilder von Seiten der Phantasie annehmlich zu machen. Hegel stützte sich auf den Geschichtsprozeß, auf die innerlichen Ruhemomente seiner metaphysischen Logik, deren ganzes Schema allein schon den Begriff der Trinität ausdrückte. Hegel’s Philosophie scheint mir auch wahrlich die einzige, die im Stande ist, das Christenthum zu beurtheilen. Ihr Standpunkt ist der historische. Sie bringt einen Schematismus in die Begebenheiten, wel-299cher den innern und äußern Sinnen wohlthut. Wodurch ist auch das Christenthum eine so imposante Erscheinung? Durch seine historische Stellung. Hegel hat die Verschiedenheit der Zeiten immer vortrefflich charakterisirt und das Eigenthümliche des Christenthums darin gefunden, daß sich logische und historische Begriffe daran akkommodiren lassen. Aber mehr gelang ihm nicht. Seine Philosophie des Christenthums konnte nur da erst anfangen als die Entwicklung der christlichen Lehre zu Ende war. Hegel’s Maaßstab ist überall die Vergangenheit. Seine Erklärungen sind typischer Art, seine Philosophie ist eine Auslegung. Schelling und Hegel stehen an der Spitze jenes christlichen Dilettantismus, der aus künstlerischen Interessen sich mit verstopftem Ohre in eine grundlose Fluth versenkt. Das Christenthum selbst muß dabei seinen Credit verlieren, wenn nur noch Dichter, Grübler, Künstler, verzweifelte und 300 polizeilich beaufsichtigte Menschen sich für die Erklärung seiner Satzungen interessiren. Der gesunde Theil der Menschheit wird in eine andere Strömung des stürmenden Weltgeistes gerissen werden.

Unser Zeitalter ist politisch, aber nicht gottlos. Wie gern verbände es die Freiheit der Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit! Aber unchristlich ist unser Zeitalter, denn das Christenthum scheint sich überall der politischen Emancipation in den Weg zu stellen. Daher jene merkwürdigen Erscheinungen, welche die neuere Zeit auf dem Gebiete, man weiß nicht, soll man sagen, der Politik oder der Religion hervorgebracht hat. Ueberall Sektengeist, Religionsstifter, Religionen auf Aktien, Religionen auf Subscription, jede Religion, nur kein Christenthum. Man spricht von Priestern, von einer Theokratie, von Gottesdienst, nur nichts Christliches. Es ist erstaunenswerth, daß diese Dinge 301 in Frankreich auftauchen, in einem Lande, das für Europa die Mission der Freiheit hat, in einem Lande, das in der neuern Geschichte für alle Fragen der Cultur die Initiative übernommen zu haben scheint. Wir reden hier vom St. Simonismus und den Worten eines Gläubigen.

In diese beiden Bekenntnisse ist zuerst die Anerkennung der politischen Tendenz des Jahrhunderts niedergelegt. Man hat hier die Unverschämtheit vermieden, welche die hungernden Arbeiter auf das himmlische Brod des ewigen Lebens anweist. Die Religion der Entsagung mag für Jahre passen, wo die Ernte nicht gerathen ist; aber wo Fülle und Verschwendung rings ihre Feste feiern, da murrt die Menschheit über eine Religion, welche immerfort an das Sichschicken, an die Demuth, an den Rathschluß Gottes appellirt. Von dieser Seite des Christenthums überhaupt, die sich dem Zeitgeiste 302 entgegenstellt, kann nicht mehr die Rede sein. Der Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen ist der, daß der St. Simonismus das Christenthum antiquirt und durch einige materielle Philosopheme, nebst kirchlichen freilich dem alten Glauben entnommenen Institutionen zu ersetzen sucht, die Worte eines Gläubigen dagegen auf den demokratischen Ursprung des Christenthums zurückgehen und unverholen eine republikanische Tendenz desselben aussprechen. Der St. Simonismus will den Staat von der Kirche, die Worte eines Gläubigen wollen die Kirche vom Staate befreien. Jener weist auf die Zukunft, diese auf die Vergangenheit. Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen: der St. Simonismus an der Philosophasterei: La Mennais am Katholicismus. Wie soll man in der Kürze über beide Tendenzen urtheilen? Beide sind keine Revolutionen, aber sie sind Symptome. Der St. Simonismus verräth ein 303 Bedürfniß der Menschheit: die Worte eines Gläubigen suchen es zu befriedigen, aber sie befriedigen es nur zur Hälfte.

Ich habe die Thatsachen der Vergangenheit verfolgt und breche da ab, wo Alles, was nun kommen muß, nicht so von mir vorgezeichnet werden kann, sondern in die Hand der Zeitgenossen gegeben ist. Lasset mich an einem Orte inne halten, den wir selber auszufüllen haben, bei jenen weißen Blättern der Geschichte, die hinfort von uns beschrieben werden sollen!

Ich höre draußen ein simultanes Glockengeläut: katholische und protestantische Töne. Es ist Pfingsten, ein Fest, wo man zwar nicht mehr plötzlich wie einst in Jerusalem, gut Englisch, Spanisch und Sanscrit lernt, was mir sehr lieb wäre: wo aber der heilige Geist auf alle Welt ausgegossen wurde. Wir leben in der Zeit des heiligen Geistes, von dem Christus selber sagt, daß er uns in alle Wahr-304heit führen und freimachen würde. So scheint es sogar jener Mann gewußt zu haben, daß die Geschichte immerdar ihre eigne Autorität bleibt, daß der Weltgeist rastlos wirkt und in uns schafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottesdienst im Tempel der Freiheit ist. Wir werden keinen neuen Himmel und keine neue Erde haben; aber die Brücke zwischen beiden scheint es, muß von Neuem gebaut werden.

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305 Es schlug Mitternacht, als Wally das sauber geschriebene Heft durchlesen hatte. Die Wachskerze war tief heruntergebrannt, ihre Augen glühten, sie hatte Thränen nöthig, um den heißen Brand zu löschen. Aber die Thränen kamen nicht. Sie saß da, versteinert, wie Niobe, der man das Liebste und Theuerste wegschießt. Rings war alles grauenhaft still, nur der Uhrpendel schwang sich unterm Glase hin und her und zählte die Minuten, die den Geistern auf Erden zu wandeln vergönnt waren. Wally lebte nur in den Worten, die sie gelesen hatte, und flüsterte sich zu: Ich sterb’ 306 auch mit ihnen. Dann ergriff sie mechanisch den kleinen Kerzenrest, der noch brannte, und schritt in ihr Schlafgemach, einen finstern, dämonischen Schatten werfend.

305 Noch sechs Monate hielt Wally ein Leben aus, dessen Stütze weggenommen war. Sie, die Zweiflerin, die Ungewisse, die Feindin Gottes, war sie nicht frömmer, als die, welche sich mit einem nicht verstandenen Glauben beruhigen? Sie hatte die tiefe Ueberzeugung in sich, daß ohne Religion das Leben des Menschen elend ist. Sie gieng nun damit um, dem ihrigen ein Ende zu machen.

Je unerschütterlicher sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt hatte, desto mehr suchte sie ihn äußerlich zu verbergen. Sie zeigte sogar, je gewisser sie mit sich selbst wurde, eine heitre Unbefangenheit, die die Rückkehr ihrer frühern Laune hoffen ließ.

Sie war viel auf ihrem Zimmer allein, weinte und rang; aber beten konnte sie nicht. Sie warf sich wohl oft verzweifelnd auf die Knie, aber wie eine eherne Mauer stand es vor ihr, wenn sie flehend die Hand ausstreckte. 306 Sie schrieb noch einzelne, ihren Seelenzustand verrathende Aphorismen in ihr Tagebuch; die meisten bewegten sich um den Gedanken des Todes. An der Ursache desselben hatte sie nichts mehr, was sie in sich ändern konnte. Eine Stelle, welche man später im Buche fand, war ganz mit Thränen durchnäßt. Man konnte das an der geronnenen Dinte und dem zerknitterten Papiere sehen. Sie hieß:

307 O Jesus! Nie warst du mir theurer, als thränenvergießend im Garten von Gethsemane! Jesus! Du batest Gott, daß er den Kelch dieses herben Todes möchte an dir vorüber gehen lassen, du, du, der die Welt verändert hat! Und die Jünger schliefen. Sie achteten deiner flehenden Stimme nicht, daß sie mit dir wachten, daß sie mit dir weinten auf dem Oelberge. Ach, um mich schlafen sie Alle und Niemand kennt den Schmerz, der mich verzehrt, Niemand wacht mit mir, Niemand betet für mich!

308 Es war an einem trüben und regnerischen Herbsttage. Die Kastanien prasselten von den Bäumen. Der Wind schlug die Regenschauer an die nassen Fenster. Alles in der Natur schien zu Grabe zu gehen. Wally saß einsam in ihrem Zimmer. Eine Uhr lag neben ihr. Neben der Uhr ein rothes Tuch, das einen unsichtbaren Gegenstand bedeckte.

Eine Stunde verrann nach der andern. Um die sechste dunkelte es. Man brachte ihr Licht. Sie winkte stumm mit der Hand, als man nach ihren Befehlen fragte.

Sie trat an’s Klavier und schlug einige Accorde an. Es schlug sieben Uhr.

Dann setzte sie sich und schrieb einige Zeilen:

309 Ich muß sterben, denn hassenswerth schien’ ich mir, wenn ich mich durch die Welt schliche und mir selbst verbergen wollte, was ich leide. Wir erkennen Gott nicht. Nun und nimmer mehr. Das tragische und der Menschheit würdige Schicksal unsers Planeten wäre, daß er sich selbst anzündete, und alle, die Leben athmen, sich auf den Scheiterhaufen der brennenden Erde würfen. Alle müßten sie sich opfern – aus Haß gegen den Himmel; opfern, wie man Rechnungen verdirbt, die ohne den Wirth gemacht werden. Alle! Alle! Dann wäre das Problem gelöst und Gott müßte eilen, sich neue Menschen, neue Sklaven zu schaffen. Barbarischer Mord der Völker unter einander glaubt ihr, werde das Ende der Dinge sein? Die wiedererwachende Rohheit der Natur? Hyänen, die sich unter einander zerfleischen, sind euch der Zweck der Geschichte? Gräßlicher Gedanke! Prophezeihung, würdig eines Henkers! Sie 310 werden sterben, aber sie werden Alle den Dolch in ihre eigene Brust senken, und eine große Kette der Freundschaft schließen, die Menschen! Sie werden sich fassen Alle an ihrer Hand, und mit der Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode sich mit ihren Küssen bedecken. Sie werden sterben, weil sie reif sind, weil sie das Höchste erreichten in Wissenschaft und Kunst, weil sie Alle ineinandergerechnet der Gottheit gleichkommen. Aber die Gottheit sitzt hinter einem Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr sprödes Antlitz, und zögert zu kommen und sich zu enthüllen. Was haben wir ihr gethan?

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311 Es schlug acht Uhr. Sie war in eine Aufregung gekommen, welche für ihren Entschluß nicht paßte. Was ist Sturm, Ungewitter, Herbst, was selbst der Schmerz der Seele und des Herzens, wenn der Geist seine Gedanken aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden ausschießt? Das Denken erhält den Muth, den man am Wissen verliert. Wally war so nahe daran, ihre Verirrung zu fühlen. Aber sie war ein weibliches Herz, das nicht so leicht vergißt, was es einmal wollte und in sich selbst kein großes Register von Entschließungen hat, wo sie wählen könnte. Sie fiel in den alten Schmerz zurück.

Um neun Uhr griff sie noch einmal nach der Feder und schrieb:

312 Lebet wohl! Alle! Alle! Armselig war mein Leben; wie klein, wie nichtig alle die Beziehungen meiner Jugend! Und das war wohl des Todes werth; denn ich bin nichts, nur Staub, nur Vernichtung. Mein Leben ist unnütz. Grüßet sie Alle, grüßet den Frühling des kommenden Jahres, wo ich todt sein werde und keines Vogels Ruf mich wieder wecken wird. Ich danke euch Allen, die mich liebten, und dir, dir, Cäsar; Allen! Allen!

313 Sie mußte noch viel geweint haben. Auch diese Zeilen waren verronnen in nasse Punkte. Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben mit jenem Dolche, der ihrem todten Bruder gehörte.

Man fand sie auf dem Bette ausgestreckt. Das Licht stand zu ihren Häupten. Sie hatte mit beiden Händen den in das rothe Tuch gewickelten und darin auch von ihr während des Stoßes gelassenen Dolch in ihr Herz gedrückt, und lag da, nicht lächelnd und ruhig, wie wohl in andern Fällen hier getroffen ist, sondern mit krampfhafter Verzerrung ihres schönen Antlitzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung in den starren Augen, der erschrecken machte.

Sie wurde mit Gepränge bestattet. Die, welche am Grabe standen, beweinten nicht sie selbst, sondern nur ihre Jugend.

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315 Wahrheit und Wirklichkeit.#

317 Man kann den Zufall verdammen, man kann selbst überzeugt sein, daß in Allem, was geschieht, eine konsequente Offenbarung der Gottesidee liegt; und doch würde Niemand zu behaupten wagen, daß Alles, was geschieht, Alles, was wir als geschehen beobachten können, etwas Andres sei, als die zufälligen Aeußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee. Ich glaube, daß Alles gut ist, was geschieht; glaube aber nicht, daß eben nur das geschehen kann, was geschieht. Unendlich ist das Reich der Möglichkeit, jenes Schattenreich, das hinter den am Lichte der Begebenheiten sicht-318baren Erscheinungen liegt. Es giebt eine Welt, die, wenn sie auch nur in unsern Träumen lebte, sich eben so zusammensetzen könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit selbst, eine Welt, die wir durch Phantasie und Vertrauen zu combiniren vermögen. Schaale Gemüther wissen nur das, was geschieht; Begabte ahnen, was sein könnte; Freie bauen sich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unsichtbaren Welt sind die Religion und die Poesie. Jene schließt das Reich der Möglichkeit auf, um zu trösten; diese, weil sie die Wirklichkeit erklären will. Beide beruhen auf Täuschungen, nur ist die Poesie glücklicher, weil sie die Wahrscheinlichkeit für sich hat. Es ist leichter, an ein Gedicht, als an den Himmel glauben. Die Ereignisse des Gedichtes sind oft die heimlichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die 319 Schöpfungen des Autors haben die Analogie für sich und die Erde; aber der Himmel schwebt in der Luft und ist, trotz aller Philosophie, ohne Maaßstab, wie Gott selbst.

Die Geschichte der Poesie zeigt, wie sich in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit gestritten haben. Jene Gemüther, welche wir die schaalen nannten, entschieden sich für die Wirklichkeit, die freien für die unsichtbare Wahrheit, die begabten, die empfänglichen, die sogenannten Leute von Geschmack, Bildung und Erziehung, für das Mittlere zwischen beiden, für die Wahrscheinlichkeit. Und so ist es noch. Bei jeder neuen Dichtung fragen die Einen: Wo geschah dies? die Andern: Sollte dies geschehen können? nur die freien Gemüther entscheiden, ohne zu fragen, weil sie es fühlen, daß das, was nicht geschieht, immer noch wahr ist, selbst wenn es nicht geschehen kann.

320 Alles, was die Wirklichkeit kopirt, ist für die Masse. Diese Gattung der Poesie erhebt sich von der untersten Stufe der Genremalerei bis zu den Romanen von Walter Scott und Bulwer, bis zu den Dramen Ifflands und Kotzebue’s. Nur hell, blank und geschliffen muß diese Literatur sein, weil sie der Wirklichkeit gegenüber ein Spiegel ist, der sie treu auffäßt und wiedergiebt. Für die schaalen Gemüther ist nichts genialer, als sie selbst zu zeichnen, wie sie sind: ihre Tante, ihre Katze, ihren Shawl, ihre kleinen Sympathien, ihre Schwachheiten. Was haben wir von euern Grillen? von euern Erfindungen, die in der Luft schweben? Gebt uns uns selbst, dem Egoismus den Egoismus! Es giebt Kritiker und Literatoren, die sich nur für das Copiren der Wirklichkeit enthusiasmiren können. Das Wahrscheinliche ist bei ihnen schon eine Conzession. England hat von jeher diese Art der poetischen 321 Darstellung bevorzugt, Deutschland ist systematisch genug bearbeitet worden, hierin nachfolgen zu müssen. Die alte Literatur steht bei uns versteinert da in Tempeln und in Wallhallen, die mittlere war keines Schusses Pulver werth, die neue hat nur noch ein schwankendes und kaltes, von Politik und spekulativer Trägheit ganz darnieder gehaltenes Publikum. Darauf kömmt alles zurück: Man will von der Literatur keine Anstrengung haben; die Literatur soll Niemanden mehr eine unruhige Nacht machen, sie schildert, sie porträtirt, sie stillt die Leselust mit Historie und Bulwer. Die Poesie ist jetzt Selbstbefruchtung. Die Wirklichkeit nährt sich von ihrem eignen bürgerlichen, überquellenden Fette.

Menschen, die schon eine Stufe höher stehen, sind mit der Wahrscheinlichkeit zufrieden. Sie wollen nur einige Voraussetzungen, die 322 den Boden der Wirklichkeit berühren; das Uebrige überlassen sie der Combination und Phantasie. Dies sind die gemüthlichen Leser, die sich durch poetische Schöpfungen in einen sanften Halbschlummer wiegen lassen, die die Bücher nach der Elle consumiren. Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne liegen. Schwebend zwischen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters, freuen sie sich zuletzt, daß nun Alles, was sie gelesen haben, doch entweder nicht wahr ist, oder im entgegengesetzten Falle immer sehr wahrscheinlich bleibe.

Die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich ist. Die poetische Wahrheit ist schöpferisch. Sie baut mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele, sie combinirt nicht, wie der Staat, die Familie, die Religion, die Sitten und das Her-323kommen combiniren, sondern revolutionär. Die poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Genius. Dieser lauscht niedergestreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innersten Getrieben der Gemüther eine embryonische Welt mit keimendem Bewußtsein wächst. Wer auf seine Entwickelung lauscht, muß sich oft gestehen, daß ganze Gedichte in ihm sich zusammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies sollte nicht auch Wahrheit sein? Dies sollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren schufen in dieser Weise nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Historien sind nicht die Sage oder Geschichte, sondern die Ideen, die im Schooße der still wirkenden und schaffenden Gottheit schlummern. Die Welt, wie sie ist, wird ihren Gebilden nicht entsprechen; diese werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrschein-324lichkeit ausgesetzt sein. Aber noch immer gieng das Genie seinem Jahrhunderte voraus.

Zwei Thatsachen möcht’ ich aus Obigem folgern: die beide weniger literarisch, als historisch sind.

Wenn man in Anschlag bringt, daß entschieden schon in der französischen Literatur, ohne alle Widerrede auch bei uns allmälig eine Poesie der ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit sich zu entfalten beginnt, wenn man diese Frauengebilde betrachtet, welche die Phantasie der jetzigen begabteren Dichter erfindet, diese originellen Situationen und allem Herkommen widersprechenden Sitten; sollte man diese Erscheinung nicht für beziehungsreich halten für unser zukünftiges Leben, für die Existenz in der Wirklichkeit, für die weite Unterlage der Masse und des allgemeinen Glaubens? Es ist wahr, die Dichter fangen an, auf im-325mer luftigeren Bahnen zu wandeln: sie schaffen sich ihre eignen Welten mit Thronen, die ihre Phantasie erbaute, mit Richterstühlen, die ihre eigne Gesetzgebung haben, mit einem Gottesdienst, dessen Priester nur noch die kleine Gemeinde selbst ist. Es baut sich eine Wahrheit der Dichtung auf, der in den uns umgebenden Institutionen nichts entspricht, eine ideelle Opposition, ein dichterisches Gegentheil unsrer Zeit, das einen zweifachen Kampf wird zu bestehen haben, einmal einen gegen die Wirklichkeit selbst als constituirte Macht mit physischer Autorität, sodann einen gegen die Poesie der Wirklichkeit, welche so viel Dichter und so viel Kritiker für sich hat.

Dies ist ein Symptom unsrer Zeit, aus dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß ziehen wollen, als einen, der vielleicht außerhalb der Literatur liegt, den ich aber nicht 326 verschweigen will, weil Jedes, was die Menschheit ehrt, auf den Lippen des Enthusiasten brennt. Man verwirft mit Recht das Experimentiren mit der Menschheit, aber man geht darin weiter, als man darf, ohne die Menschheit zu beleidigen. Wir fürchten uns, den Zeitgenossen etwas zu entziehen, wovon wir uns einbilden, daß es zu ihrem Leben nöthig ist. Wir glauben an die Institutionen in Sitte, Meinung und politischer Einrichtung, wie an die unerläßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte. Als wenn die Menschheit keine innern Quellen hätte! Als wenn sie untergienge, wenn ihr sie aus dieser ganzen Sündfluth ihrer Existenz plötzlich nackt und noch triefend auf den Ararat versetztet! Als wenn die Menschheit nicht immer die erste sein wird, die sich hilft und diejenige, welche für sich den besten Rath weiß! Sie zucken die Achseln, wie unvorsichtige Aerzte, sie fürchten für das Leben des Patienten und 327 quacksalbern an den alten Schäden herum; aber nehmt der Menschheit ein Bein ab: sie wird sich ein neues machen; nehmt ihr, um nur Eines, was unmöglich scheint, zu nennen, z. B. das Christenthum: glaubt ihr, daß sie untergehen wird? Nehmt ihr eure Gesetzbücher, eure Verfassungen; – nehmt ihr zuletzt das, worauf gleichsam Alles ankommen soll, nehmt ihr euch selbst! – und die Menschheit wird fortbestehen. Sie wird Alles ertragen, und durch Felsen vom stärksten Granit noch immer einen Weg finden, der sie zu ihrem Ziele führt.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin; Martina Lauster, Exeter#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin liegt in drei voneinander abweichenden Druckfassungen (E, A1, A2) vor.

Es gibt vom Roman keine Vorabdrucke in Zeitungen oder Zeitschriften. Lediglich der am Ende des Buches (S. 315-327) beigefügte, von Gutzkow unverändert übernommene Aufsatz Wahrheit und Wirklichkeit erschien wenige Wochen vor Auslieferung des Romans in Gutzkows „Literatur-Blatt“ zum Frankfurter „Phönix“ (Rasch 3.35.07.25.1). Vermutlich griff Gutzkow auf diesen Beitrag zurück, um die Zahl von 20 Bogen überschreiten zu können. Bücher, deren Umfang über diese Menge hinausreichte, unterlagen keiner Vorzensur.

Nachgedruckt wurden 1835 zwei Binnenerzählungen aus dem Roman, die der Redakteur der „Didaskalia“ Wilhelm Wagner mit eigenem Titel versah: „Des Trompeters Braut.“ In: Didaskalia. Frankfurt/M. Nr. 242, 2. September 1835, [S. 2]. (Rasch 3.35.09.02) – „Alfred.“ In: Didaskalia. Frankfurt/M. Nr. 247, 7. September 1835, [S. 2]. (Rasch 3.35.09.07) Die letztere Erzählung wurde wiederum aus der „Didaskalia“ nachgedruckt in: Neue Flora. Ein Konversations- und Mode-Blatt für Bayerns Männer und Frauen. Augsburg. Nr. 144, 10. September 1835, S. 575-575. (Rasch 3.35.09.10 N) Für die Textgeschichte des Werkes sind diese Nachdrucke, an denen Gutzkow keinen Anteil hatte, irrelevant.

Gutzkows Buch erschien am 12. August 1835 in einer Auflage von etwa 700 Exemplaren; der Roman wurde am 24. September 1835 in Preußen verboten. Dem Verbot schlossen sich alsbald alle anderen deutschen Bundesstaaten an. Bei den folgenden polizeilichen Konfiszierungen des Bandes bei Buchhändlern konnten jedoch nur noch wenige Exemplare sichergestellt werden.

Gutzkow ließ den Roman später nicht mehr als selbstständige Einzelausgabe unter dem ursprünglichen Titel erscheinen. Nachdem über viele Jahre das Verbot des Buches rechtskräftig blieb und an eine Neuausgabe ohnehin nicht zu denken war, konzipierte er Ende 1851 für den dreizehnten Band seiner Gesammelten Werke eine Sammlung unter dem Titel Vergangene Tage, in welcher der verfemte Roman einen Platz finden sollte. Der Titel unterstreicht den dokumentarischen, retrospektiven Charakter dieser Zusammenstellung. Neben einer stark überarbeiteten Neuausgabe von Wally, die Zweiflerin enthält sie eine ausführliche, den historischen und biographischen Zusammenhang der Romanentstehung beleuchtende Vorrede, die Rechtfertigungsschrift Appellation an den gesunden Menschenverstand von 1835 sowie einen fremden Text, das „Sendschreiben an Karl Gutzkow“ von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus aus dem Jahr 1836.

Auch in der zweiten Ausgabe seiner Gesammelten Werke, die bei Costenoble herauskam, hielt Gutzkow 1874 an der Textkompilation Vergangene Tage fest. Auf den Wiederabdruck des „Sendschreibens“ von Paulus verzichtete er jedoch. Der Roman wurde, neben der Vorrede und der Appellation an den gesunden Menschenverstand, einer stilistischen Revision unterzogen.

Die vorstehenden und folgenden Angaben beziehen sich auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow (1829-1880). Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 1998 (2 Bde.) sowie auf die → Nachträge zur Bibliographie.

E Wally, die Zweiflerin. Roman. Mannheim: Löwenthal, 1835. (Rasch 2.6)
A1 Wally, die Zweiflerin. In: Vergangene Tage. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1852. S. 1-164. (Rasch 1.2.13.1)
A2 Wally, die Zweiflerin. In: Kleine Romane und Erzählungen. Dritter Theil. Jena: Costenoble [1874]. S. 247-363. (Rasch 1.5.4.7.2)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit eckigen Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Paginierung der ersten Ausgabe ist an zwei Stellen fehlerhaft: Die Seiten 261/262 oder 263/264 (sie sind nicht paginiert) fallen aus; nach der Seite 260 bis zur Seite 306 eilt die Paginierung um 2 Seiten voraus; die Seite 266 ist falsch als Seite 226 bezeichnet; die Seiten 305 und 306 werden doppelt gezählt, so dass ab Seite 307 die Gesamtpaginierung wieder stimmt. Diese Unstimmigkeiten der Paginierung bleiben bei den Angaben der Seitenbegrenzungszahlen erhalten und werden nicht berichtigt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

2.1.1. Texteingriffe#

8,14 kleine keine

17,32 Hoffmann!“ Hoffmann!‘

38,20 gälten gälte

40,17 dann, den dann,den

57,11 Antonie Antoine

57,12 schieden scheiden

58,3 nestelten nehtelten

61,17 sein. sein,

68,22 Shawl Shwal

69,5 Sie sie

71,25 schwärmte schwännte

75,10 Shawl Shwal

78,13 fraßen frasen

80,15 Eigenthum Eigenthnm

83,21 Luigi! Jeronimo!

85,7 Hause?“ Hause.“

90,23 können könen

91,31 es sich er sich

97,11 wenigstens weuigstens

110,2 des der

138,19 ihrem ihren

139,20 noch nach

140,9 keineswegs kei neswegs ausgefallener Trennstrich am Zeilenende

142,22 Religion Neligion

144,25 aber aber aber

144,26 Literatur, die Literatur die

145,6 Kanon, Kanon.

152,22 ihrer ihre

159,22 heimlichen heim- ichen ausgefallene Letter am Zeilenanfang

160,11 Shawl Shwal

162,13-14 umgebenden umgebendenden

5. Rezeption#

5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.1.1 Kritiken#
1. Neue Speyerer Zeitung, 29. August 1835#

[Anon.:] Mannheim, den 22. Aug. In: Neue Speyerer Zeitung. Speyer. Nr. 172, 29. August 1835, [S. 4]. (Rasch 14/6.35.08.29 N)

Die neue, auch im Conversationsblatte der Frankfurter Oberpostamtszeitung empfohlene Firma: L. Löwenthals Verlagsbuchhandlung hierselbst, debutirt mit einem Verlagsprodukte des Herrn Gutzkow: Volly, die Zweiflerin betitelt, das die berüchtigte Vorrede zu Schleiermachers Briefen etc. noch überbietet. Mag diese Zweiflerin in allem, auch was heilig und ehrwürdig ist, zweifeln und in diesem Zweifel untergehen, wir zweifeln dagegen nicht, daß wenn diese neue jüdische Firma, die ihren Lehnbrief als Buchhändler übrigens nicht vorzuzeigen vermögen soll – es darauf angelegt hat, mit solchem frevelhaften, frivolseichten Produkte sich im bis jetzt noch ziemlich christlich-deutschen Buchhandel auszuzeichnen, sie nichts besseres wählen konnte zu ihrem Debut, um sich den Credit zu verderben gleich von vorn herein; denn ex ungue lernt man diesmal die Katze kennen, die, wir wollen hoffen, für jetzt nur die Pfote hergegeben, aber in der Dummheit sich tüchtig verbrannte.

2. Wolfgang Menzel, Literatur-Blatt, 11. und 14. September 1835#

[Wolfgang Menzel:] Wally, die Zweiflerin. In: Literatur-Blatt. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 93, 11. September 1835, S. 369-372; Nr. 94, 14. September 1835, S. 373-376. (Rasch 14/6.35.09.11)

Wenn Herr Gutzkow nicht Talent besäße, würde ich mich seiner nicht angenommen haben. Ich war es, den dieses junge Talent sich zum ersten Führer wählte. Ich glaubte, es pflegen, es vor Verirrungen hüten, ihm eine freie Bahn öffnen zu müssen. Ich habe Herrn Gutzkow jede Unterstützung und Empfehlung angedeihen lassen und wie ein Vater an ihm gehandelt. Er wird mir das Zeugniß geben, daß ich nie darauf ausging, sein Talent für mich ausbeuten zu wollen. Obgleich er sich mir vielfach anbot, habe ich ihm immer gesagt, er müsse selbstständig werden, nicht für mich, als literarischer Schildträger, sondern frei auftreten und die eigene Bahn gehen. Ich eröffnete ihm in der Nähe und Ferne Verbindungen. Ich rieth ihm, seines linkischen Benehmens wegen, zu reisen, neben den Büchern auch Menschen kennen zu lernen, und verschaffte ihm die Mittel dazu.

Ich machte dabei so wenig auf seine Dankbarkeit Anspruch, daß ich die Verbindung, in die er mich mit einigen jungen Literatoren bringen wollte, die bereits eine Lobassekuranz etablirt hatten, verschmähte. Wenn ich die erbärmliche Rolle unserer älteren literarischen Egoisten hätte spielen wollen, so würden mir die getreuen Schildknappen und Lobbläser nicht gefehlt haben. Aber dergleichen habe ich immer verachtet, verachte ich und werde ich immer verachten. Ich strebe, die dauernde Achtung der Nation zu verdienen, nicht vergängliches Lob in Tagesblättern zu erkaufen.

Daß ich es nicht vermocht habe, Herrn Gutzkow auf der Bahn der Tugend und Ehre, auf der er mir einst nachkam, festzuhalten, thut mir leid, denn es geht mit ihm ein schönes Talent verloren. Ich habe jedoch keine Schuld daran. Von mir hat er keine Lehren erhalten, als die eines Mannes von Ehre würdig sind. In dem ersten Augenblick, da der unsaubere Geist in ihm deutlich aus seiner Maske hervorsah, habe ich ihm die Thür gewiesen und den Schmutz seiner Nähe von der reinlichen Schwelle meines Hauses hinweggefegt. Ich habe keinen Theil an dem Geiste, der seitdem in ihm getobt und das Papier um ihn her besudelt hat, es müßte denn seyn, daß meine Verachtung den bösen Trotz in ihm noch mehr geweckt hätte.

Er hat nun seit ungefähr einem Jahr unausgesezt versucht, sich an mir zu reiben, und zwar auf eine kleinliche und hämische Art. Sollte er sich plötzlich bekehrt und meinen Einfluß auf die Literatur, der ihm einst so wohlthätig schien, für verderblich erkannt haben, so hätte [370] er auch kräftig und mit Gründen gegen meine Tendenz auftreten müssen. Aber er machte nur immer boshafte kleine Anmerkungen zu einzelnen Aeußerungen von mir und gab der Lesewelt Notizen über meine Person und Familie Preis. In einen Principienstreit ließ er sich niemals ein. Sehr natürlich, denn er hatte gar kein Princip. Seitdem er aufgehört, mein Princip zu heucheln, blieb ihm nichts übrig als ein System kleinlicher Mocquereien, und nun flogen die Wespen bei ihm ein und aus. Seine Kritik suchte sich nicht durch eine edle Tendenz, nicht durch eine geschichtliche Uebersicht, überhaupt durch nichts Ernstes, Würdiges und Wissenschaftliches, sondern lediglich durch kleine Witzeleien über Persönlichkeiten geltend zu machen. Anstatt von Schleiermachers Hauptwerken zu schreiben, schrieb er von einer zufälligen Jugendsünde desselben. Anstatt an Schleiermachers Tendenz Anstoß zu nehmen, nahm er an Schleiermachers Höcker Anstoß. Statt von Spindlers Romanen zu reden, spottete er über Spindlers kleine runde Frau. Von dieser Art waren seine edeln Kritiken. Er rechnete dabei auf die Diskretion der Vernünftigen. Wie die kleinen Berliner Mitbürger, die aus der Schule kommen, oder in gar keine Schule gehen, den Vorübergehenden mit grinsendem Gesicht aushöhnen, aber von allen honetten Leuten ignorirt werden; wie man kleine Mitgeschöpfe, die uns nachkläffen, bellen läßt und weiter geht, so ließ sich auch kein vernünftiger Mann in eine Diskussion mit Herrn Gutzkow ein, wenn er seinem edeln kritischen Triebe den Lauf ließ und nie über Sachen urtheilte, sondern immer nur über Personen spöttelte.

Diesem Umstand hat er die Großmuth zu verdanken, daß man ihm nicht schon seinen eignen Spiegel vorgehalten, ihm den von der Natur gezeichneten Schwächling gezeigt und ihn belehrt hat, daß es dem Wiedehopf nicht zukomme, sich über Adler und Schwan zu mocquiren.

Außer der Verachtung hielt mich ein gewisses Mitleid ab, ihn für seine Ungezogenheiten öffentlich zu züchtigen. Alle seine Aeußerungen über mich waren Ergüsse des Neides.

Erst jezt, da es sich nicht mehr um Persönlichkeiten, sondern um Sachen handelt, da Herr Gutzkow es unternommen hat, an der Spitze eines sogenannten jungen Deutschland unsere bisherige Sitte und Denkart zu reformiren, muß ich doch sehen, was hinter dem Ofen vorgeht, und ob denn der Pudel wirklich zum höllischen Rhinozeros geworden ist. Ich finde da einen Roman des Herrn Gutzkow, der in der That von Frechheit und Immoralität schwarz aufgeschwollen ist und muß nun meines Amtes warten.

So lange ich lebe, werden Schändlichkeiten dieser Art nicht ungestraft die deutsche Literatur entweihen.

Die Sucht, schnell berühmt zu werden und zu ernten, ohne zu säen, ist vielen unserer jüngeren Literatoren eigen. Sie haben nicht mehr den Muth, zu arbeiten, etwas Tüchtiges zu lernen, die Reife der Erfahrung zu erwarten. Sie wollen den Genuß, ohne die Mühe. Das angeborne Genie soll alles Andere ersetzen, und Jeder hält sich für ein Genie.

Auch Herr Gutzkow leidet an dieser galoppirenden Ruhmsucht, und da er wirklich mehr Geist hat, als viele Andere, so begnügt er sich nicht mit den kleinen Reizmitteln, durch die man das Publikum spannt und aufmerksam macht, sondern läßt lieber gleich den lebendigen Teufel in die Leute fahren. Wenn sie das nicht merken, wenn das nicht Aufsehen erregt, wenn ihn das nicht schnell berühmt macht, so müßte – Casanova nie gelesen worden seyn.

Mit der Unzucht ist einem gewissen Theil des Publikums immer beizukommen, denn viele sind nicht unschuldig und unter den Unschuldigen sind wieder viel Neugierige. Die Spekulation mit unzüchtigen Schriften wird also selten trügen. Herr Gutzkow scheint aber gefürchtet zu haben, was er durch seine Unzucht an Ruf gewinnen würde, an Ruhm wieder zu verlieren. Er hat daher seine Obscönitäten zu veredeln und in ein höheres philosophisches Gebiet zu versetzen gesucht, indem er Gotteslästerungen damit verbindet.

Sein Roman ist voll kränklicher, raffinirter, ausgedüftelter Wollust. Der Verfasser glaubt nicht pikant genug seyn zu können und entblößt seine Geliebte gleichsam auf offner Straße, um sich bemerklich zu machen. Die gute Person muß sich schämen, sich geschämt zu haben, und das ist die witzige Pointe.

Bei alledem maßt sich Herr Gutzkow an, das Haupt des „jungen Deutschland“ zu seyn und im Kampf der Zeit eine große Rolle zu spielen. Auf einem kranken Bock reitend, glaubt er sein Ritterthum im Kampf der Zeit zu bewähren. Mit Unzucht will er die Welt verbessern. Eine schändliche Krankheit bietet er ihr als Heilmittel an.

Wenn die deutsche Jugend ein Recht haben soll, sich als „junges Deutschland“ dem alten gegenüber zu stellen, so muß sie auch den edeln Feuergeist und die sittliche Begeisterung, die man von jeher an deutschen Jünglingen so hoch schäzte, durchglühen. Es müssen reine, freie, kräftige Naturen seyn, aber nicht Schwächlinge und Wollüstlinge. Eine junge ritterliche Tugend muß sie zieren, eine Kraft und Reinheit, die das Alter nicht mehr hat. Sind sie aber Huren und Buben, so gehören sie zum Auswurf der Nation und sind nicht Repräsentanten einer neuern bessern Zeit, sondern nur die verspätete Nachgeburt der alten verdorbenen Zeit, [371] und gehören mit den alten Faunen, mit Julius von Voß, Althing etc. in einen Stall.

Der bloße Umstand, daß man jung ist, befähigt noch nicht. Wenn das „junge Deutschland“ nur in den Jahren zu suchen wäre, so könnte jeder Gassenbube darauf Anspruch machen, Ehrenmitglied zu seyn. Nur der jugendliche Geist kann ein junges Deutschland begründen, und in diesem Geiste müssen unsere Nationaltugenden sich erfrischen und verjüngen, wenn es ein junges Deutschland seyn soll. Bei einem frechen Gotteslästerer und Nuditätenmaler ist aber überall nichts von einer Nationaltugend und von einem frischen Geiste, in dem sie sich verjüngen soll, zu finden. Es ist ein junger Wurm in einem alten Kadaver, der noch im Grabe der alten Zeit mit sterben muß, nicht eine junge Rose, die ewig fortblüht über dem Grabe.

Das junge Deutschland sollte wohl an ganz andere Dinge denken, als an Hurerei. „Noch viel Verdienst ist übrig,“ sagte Klopstock, und es ist seitdem noch nicht erschöpft worden. Dem edlen Geist liegt eine große weite Bahn offen, der Kampf wird ihm nie fehlen, und wenn er ihn in guter Treue besteht, wird ihm auch der Ruhm, der wahre und bleibende, nicht fehlen. Gegen Laster ist mit Tugend, gegen Schmutz mit Reinheit, gegen die kleinliche Gesinnung mit der großen und gegen die Geistesverwirrung mit Klarheit zu streiten. Es hat der guten Streiter wohl schon gegeben, doch hat keiner solchen Sieges und Triumphes sich erfreut, daß er den Nachkommenden etwa allen Ruhm vorweg genommen hätte. Es ist noch erstaunlich viel zu thun übrig für jeden, in dem ein Funken des göttlichen Geistes lebt, und die Reinen stehn sich weniger im Wege, als die unsaubern Geister. Also hätten die jungen Deutschen wohl allen Grund, lieber auf die Arena, als in’s Bordell zu gehen.

Die deutsche Nation hat ein Gefühl für Sittlichkeit, das ihr seit Jahrtausenden treu geblieben ist, und das immer wieder siegreich hervortrat, wenn es auch „feile Narren und geile Buben“ ihr eine Zeitlang wegzulügen und wegzuspotten trachteten. Die Unsitte kam immer von Frankreich herüber, und der deutsche Volksgeist war immer gesund und edel genug, sie wieder von sich abzuschütteln. Kann es eine frechere Anmaßung geben, als, von den Franzosen angesteckt, sich für das junge Deutschland auszugeben?

Vom jungen Deutschland werden doch unsere Frauenzimmer auch etwas wissen wollen. Wohlan, so seht her, da wankt das kranke, entnervte und dennoch junge Deutschland aus dem Bordell herbei, worin es seinen neuen Gottesdienst gefeiert hat. Wie gefällt euch diese junge Generation?

Es sind mehrere edle Jünglinge, die seit einiger Zeit die frechsten Darstellungen der Wollust versuchen. Sie sind alle klein, schwächlich, von eckigem Benehmen, und so vollkommen unliebenswürdig, daß es nicht erst ihres literarischen Schmutzes bedürfte, um sie dem schönen Geschlecht widerlich zu machen.

Ueberhaupt, wenn eine überwiegende sinnliche Kraft, ohne von sittlicher und geistiger Kraft gezügelt zu seyn, sich in die Wogen der Wollust stürzt, so mag diese Erscheinung im Leben, trotz ihrer Verwerflichkeit, etwas Entschuldbares haben. Echte Mannheit, auch wenn das Thier in ihr überwiegt, hat etwas, das wider Willen gefällt. Darum wird man einem Don Juan den verführerischen Reiz nie absprechen können.

Aber nun denke man sich schwächliche, kleine Jünglinge, marklos und wadenlos, das vollkommene Gegenbild von Don Juan, die nicht das Leben warm und kraftvoll umarmen, sondern die dasitzen und hinter dem Schreibtisch hocken und geile Bilder entwerfen und sich erhitzen an kranken Vorstellungen und wie der betrogene Jupiter die kalte Nebelwolke umarmen, und die dann den jungen Mädchen, denen nicht ihre bloße Nähe schon wie dem Gretchen „in tiefer innerer Seele verhaßt“ ist, ihre geilen Schriften zur bildenden Lektüre in die Hand geben.

Da die Unzucht keine Tugend ist, hat sie sich von jeher verborgen. Es mußte weit gekommen seyn, wenn sie sich offen zur Schau stellte. Die obscöne Literatur bezeichnet schon eine Abschwächung, die durch unnatürlichen Kitzel und Prahlerei ersetzen soll, was der erschöpften Natur bereits gebricht. Echte Don Juans schreiben nicht. Nur Schwächlinge schreiben unzüchtige Bücher und nur entmannte Zeitalter dulden sie. Die Blüthezeit obscöner Bücher war immer ein Zeit des tiefen Verfalls in Rom, wie in Paris und Berlin. Petronius, Crebillon, Julius von Voß.

Man wird mich keiner unzeitigen Pruderie beschuldigen. Ich bin kein Pedant. Ich liebe einen Scherz der guten alten Zeit von Luther, Shakespeare etc. Ich werde nie einem Rabelais oder Juvenal etc. seine Zoten vorwerfen. Ich achte die Freiheit der Satire und glaube, daß sie in ihr verzehrendes Feuer auch solches fette Oel und solchen stinkenden Schwefel schütten darf, damit es wie Granatenfutter und kongrevische Raketen auf die Knochen brenne. Der Arzt, auch der Seelenarzt, muß das Kind beim rechten Namen nennen und darf nicht zimperlich und blöde thun.

Etwas ganz anderes aber ist die unzüchtige Poesie, die bloß zur bösen Sünde reizen oder sie entschuldigen will, die aus dem, was ein gemeines Laster ist, eine vornehme Tugend machen will; die uns überreden will, der Esel, den der Haber sticht, sey ein Heiliger; die [372] von einer „Religion der Wollust“ faselt, wie Friedrich Schlegel that, oder die es als den Kulminationspunkt weiblicher Bildung bezeichnet, daß die jungen Mädchen sich der Scham schämen, wie Herr Gutzkow will. Es gibt Tempel, es gibt gebildete Gesellschaften, es gibt Bordelle auf der Welt. Wollt ihr denn durchaus in ein Bordell gehen, so macht wenigstens nicht den Tempel, und auch nicht die gebildete Gesellschaft dazu. Entweiht eine Heilige nicht durch eure frechen Blicke und Wünsche, beleidigt ein gebildetes Mädchen nicht durch unflätige Lektüre, und macht auch aus feilen Dirnen hinwiederum nicht Engel, nicht feingebildete Damen. Laßt wenigstens Alles an seinem Ort, die Andacht hier, die feine Sitte dort und die Unzucht im Winkel. Beschmuzt nicht reine Orte, entweiht nicht den Altar und den Salon, in dem euch die Gastfreundschaft empfängt, mit eurem ekeln Laster, und baut keinen Altar oder etablirt keine vornehme Unterhaltungen in den Winkeln der Schande!

Die Literatur, welche die gemeine Sinnlichkeit sentimental beschönigte, und unter dem weiten Mantel des lieben Herzens und der lieben Natur alle Schwachheiten zudeckte, unter den Auspicien Kotzebues, Claurens, Langbeins etc. war noch gewissermaßen unschuldig in Vergleich mit der Luzinde Schlegels, die aus der Wollust ein Sakrament machte, und mit dieser Wally Gutzkows, die im Namen des Geistes und der Freiheit jeder edeln Sitte, als einer alten Dummheit, den Krieg erklärt. Jene armen Leute, die sich ihrer Schwäche bewußt waren und sich wie die Maus im Wochenbette wohl seyn ließen, wenn man nur ihre kleinen niedlichen Nester nicht zerstörte, sie sind nicht so arg gewesen als die Leute, die überschwänglich groß und vornehm thun mit ihren schlechten Sitten, und der ehrlichen Welt wohl gar damit imponiren möchten.

Herr Gutzkow hat gefühlt, daß er die sittlichen Grundlagen nicht erschüttern könne, ohne zugleich die religiösen zu untergraben. Die Scham ist etwas Heiliges, und bleibt dem Menschen treu, so lange er noch irgend etwas Heiliges erkennt. Es ist psychologisch interessant, daß auch er, wie vor ihm fast alle literarischen Wüstlinge in Frankreich, sich nicht begnügt, das Haus der Sünde neben den Tempel zu bauen, sondern den Tempel selbst zum Haus der Sünde machen will. Unzucht und Gotteslästerung stehn in einer uralten Verbindung, deren Ueberlieferung wir schon im Alten Testamente finden. Noch deutlicher wird diese Allianz in der spätern Zeit. Da Christus als das sichtbare Ideal der Tugend und Herzensreinheit, wie der Polarstern fest in der sittlichen Welt steht, und sein Name wie ein Siegel das Thor des Abgrunds schließt, so rütteln seitdem alle unsaubern Geister an diesem Thore, und über kurz oder lang kommt eine Ratte gelaufen und sucht die allmächtige Signatur abzunagen mit kleinem giftigen Zahn.

Viele unzüchtige Bücher des vorigen Jahrhunderts, besonders in Frankreich, machten sich durch einen glühenden Haß gegen Christus bemerklich. Doch unsrer Zeit und unserm deutschen Vaterlande war es vorbehalten, die Sache noch weiter zu treiben, und an die Stelle des Hasses sogar Verachtung und vornehme Geringschätzung, ein suffisantes Mitleiden zu setzen. Die unsaubern Geister scheinen gar nicht mehr zornig über Jesus, sie bespötteln ihn nur noch, sie finden nur noch, daß er lächerlich sey.

Wir lesen in dem vorliegenden Roman Seite 271: „In Judäa, einem sehr barocken Lande, trat ein junger Mann, Namens Jesus, auf, der durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen auf den Glauben kam, er sey schon seinen Vorfahren als Befreier der Nation, der er angehört, verkündigt worden. Jesus war aus Nazareth gebürtig, unehelichen Ursprungs, Stiefsohn eines braven Zimmermanns etc. Jesus wußte selbst noch nicht, wo hinaus, als er die ersten unbesonnenen Schritte gethan etc.“ In diesem Ton ist das ganze Buch des Herrn Gutzkow geschrieben.

Was will er damit? Will er das Christenthum umstürzen? Ist er von der Verderblichkeit des Christenthums tief überzeugt? Will er selbst eine neue Religion gründen? Will er die ganze Welt umgestalten? Er will vorerst nur Aufsehen erregen, und zum Unglauben, zur Entsittlichung so weit beitragen, daß er für seine Unzucht mehr Raum gewinne, und er gefällt sich in dieser Art, Aufsehen zu machen. Es ist doch eine Bubenlust, den Herr Christus, den alle Welt verehrt, abzukanzeln und wie einen Einfaltspinsel zu behandeln.

Die Sache ist eine potenzirte Nachahmung der neufranzösischen Frechheit, und auch diese ist nur eine Wiederholung früherer Sünden. Schriften, wie die von Gutzkow, worin die sogenannte Freigeisterei und Obscönitäten Hand in Hand gehn, waren nach Voltaire sehr häufig und kamen auch nach Deutschland. Der ehrliche alte Schummel hat in seinem „kleinen Voltaire“ all dieses damalige Treiben in Deutschland entlarvt. Damals gab es geheime Orden, in die Niemand aufgenommen wurde, als wer Gott läugnete und beweisen konnte, ein ehrliches Mädchen verführt zu haben; einen andern Orden, in den Niemand aufgenommen wurde, der nicht eine galante Krankheit hatte etc. Zu diesem Schmutz könnte uns Herr Gutzkow zurückführen, wenn Christenthum und gute Sitte heutzutage nicht fester stünden.

[373] Nicht bloß in diesem Schmutzroman, auch schon in dem Libell gegen Schleiermacher hat Herr Gutzkow ganz offen erklärt, es wäre eigentlich besser, wenn die Welt nie etwas von Gott gewußt hätte.

Nur im tiefsten Kothe der Entsittlichung, nur im Bordell werden solche Gesinnungen geboren. Sie waren gang und gäbe bei den philosophischen Sykophanten des altfranzösischen Hofes. Im Palays-Royal wurden sie zuerst aus der Hofsprache in die der Jakobiner übersezt. Wenn sie aber den Dienst des Despotismus nur verlassen hätten, um unter der Maske der Freiheit die Völker um ihre lezte Tugend zu betrügen, so wäre es weiter gekommen, als ich glauben kann. Herr Gutzkow hat es über sich genommen, diese französische Affenschande, die im Arme von Metzen Gott lästert, auf’s Neue nach Deutschland überzupflanzen, in einem Zeitalter, das Gott sey Dank, gereifter und männlicher ist, als das Jahrhundert Voltaires. Damals schon scheiterte das Laster am Sinn unseres Volkes; jezt wird es um so weniger durchdringen. Die Literatur wird es ausstoßen, die öffentliche Meinung wird es brandmarken.

Nachdem sich diese Versuche wiederholt haben, nachdem dieses junge Deutschland es gar kein Hehl mehr hat, daß es mit „dem Kapital von Verruchtheit“ anfangen wolle, mit dem das alte, durch alle Schulen der Unsittlichkeit gegangene Frankreich aufgehört hat, ist es Zeit, ihm nicht die mindeste Schonung mehr angedeihen zu lassen, sondern es bis zur Vernichtung zu bekämpfen.

Um so mehr, als die Frechheit sich immer wieder ein neues Organ zu schaffen bemüht ist. Kaum ist das Gift an einem Orte ausgeschwizt, so legt es sich an dem andern wieder an. Unstät und flüchtig, ein böser Gast überall, wo es hinkommt, und immer bald ausgetrieben, ist es gleichwohl vorhanden und täuscht die Unerfahrenen. Der „Phönix“ hat seine tausendjährige Periode nicht abgewartet, um sich zu verjüngen, schon in wenigen Monaten vertrug er das Gift seines Literaturblatts nicht mehr. Nichtsdestoweniger droht uns Herr Gutzkow mit einer neuen literarischen Revue im großen Styl, mit einem mächtigen Organ des sogenannten jungen Deutschland, das große Wunder wirken und alles umgestalten soll im alten Deutschland.

Aber ich will meinen Fuß hineinsetzen in euern Schlamm, wohl wissend, daß ich mich besudle. Ich will [374] den Kopf der Schlange zertreten, die im Miste der Wollust sich wärmt.

Was hat Deutschland von der kritischen Thätigkeit des Herrn Gutzkow zu erwarten? Wie hat sie sich bisher in seinem Phönix bewährt?

Seine Kritik ist eben so unsittlich, wie sein Roman, aber vielleicht noch verdammlicher. Ein Dichter malt unflätige Bilder, aber er läßt doch die schönen und heiligen Bilder Anderer in Ruhe. Wenn es aber ein Kritiker unternimmt, mit venerischem und gotteslästerlichem Geist alles Gesunde und Edle in der Literatur zu bespötteln, so ist dies weit ärger. Wenn er sich nicht begnügt, selbst bloß Priape zu schnitzeln, wenn er sich untersteht, zugleich die Bilder der schönen und edeln Götter zu beschmutzen, so ist dies weit ärger.

Von Jedem, der es wagt, sich unter einem großen Volk, in einer lebendigen Zeit, in einer reichen und vielseitigen Literatur als Kritiker aufzuwerfen, muß man zweierlei verlangen. Er muß eine große historische Uebersicht haben, den Umfang und die Tiefe der Welt, über die er zu urtheilen unternimmt, kennen. Sodann, wenn er nicht bloß registriren, wenn er auch richten will, so muß sich eine edle Tendenz und die strengste Gerechtigkeit in ihm offenbaren. Er muß nicht sich selbst und seinen Vortheil, sondern die Wahrheit allein vor Augen haben. Er muß einen persönlichen Feind loben und einen persönlichen Freund tadeln können um der Sache willen. Er muß das Recht nicht fälschen, nicht groß nennen, was klein, nicht gut, was übel ist. Er muß das Leben nicht Tod, den Tod nicht Leben nennen. Er muß im Entwicklungsgange der Bildung nicht ein Hemmschuh, nicht ein Stein des Anstoßes, sondern ein Triebrad seyn. Er muß, sofern Viele auf ihn hören und nach ihm sich richten, die Tugenden haben, ohne die kein öffentlicher Charakter bestehen kann. Er muß die Religion und Sitten achten. Nur unter diesen Bedingungen ist es ihm verstattet, die Richtermiene anzunehmen und zu strafen die, welche die Literatur in ihrem Fortgang und in ihrer Freiheit hemmen durch Stagnation, die alten Pedanten und Stabilen, und hinwiederum die, welche die Literatur entweihen durch junge Gottlosigkeit, Sittenlosigkeit, unwissenschaftliche Bubereien.

Hat Herr Gutzkow in dieser Weise sich des Richteramtes über die Literatur würdig gemacht, daß Deutschland diesem gerechten Manne seine Ehre anvertrauen kann? Ich will ihn zeichnen, wie er ist, und Deutschland möge urtheilen, ob ich wahr rede.

Herr Gutzkow trachtet als Kritiker nur dahin, alle Ansichten zu durchkreuzen und zu verwirren, jede Basis, auf der die öffentliche Meinung ruht, zu zerstören, jedem ehrlichen Namen einen Schandfleck anzuhängen, jede edle Tendenz lächerlich zu machen, um dann im Chaos oben zu schwimmen und in der allgemeinen Anarchie der Geister den Thron seiner gottlosen Unzucht aufzuschlagen. Je reiner ein Mann, je unbescholtener eine Tendenz ist, um so gewisser beschmuzt er sie, denn es ist ihm unerträglich, daß etwas Edles herrschen soll in der Welt, daß es nicht in der ganzen Welt so unsauber aussieht, wie in seinen Schriften. Aber auch da, wo er Fehler zu entdecken glaubt, die seine eigenen sind, spottet er, nur um Allen und Jedem einen schlechten Ruf zu machen.

Während er über Schleiermachers und Tiecks Jugendsünden spottet, predigt er selbst in seiner Wally die offenste Unzucht.

Während er eine Jugendzeitung herausgibt und das Haupt des jungen Deutschland zu seyn affektirt, verspottet er den edeln Uhland und sucht es vergessen zu machen, daß an diesen Namen jedes schöne Gefühl deutscher Jugend sich knüpft! Beginnt das „junge Deutschland“ damit, aus dem Schmutz französirender Unzucht heraus über den Sänger des reinsten Patriotismus herzufallen?

Nur Egoismus modifizirt dies System allgemeiner Lästerung. Dem Herrn Gutzkow ist Jeder Freund, den er braucht; Jeder Feind, der sich nicht von ihm brauchen läßt; Jeder gleichgültig, den er nicht braucht. Daher überschüttet er zuweilen Leute, die ihm gerade einen Dienst leisten sollen, mit beleidigenden Lobhudeleien, in deren unwahren Uebertreibungen sich schon sein undankbares Herz verräth, und sobald er die Leute benuzt hat, schneidet er ihnen ein Gesicht.

Ein besonderes Vergnügen findet er darin, die Leute an einander zu hetzen, oder wo er dies nicht vermag, wenigstens einen nur auf Kosten des andern zu loben. So macht er Uhland neben Heine lächerlich; aber ich glaube nicht, daß Heine ihm für diese Sünde gegen die Poesie Dank sagen wird.

Herr Gutzkow kennt das deutsche Publikum so weit, um etwas mit ihm zu wagen. Er weiß, daß der sittliche Geist der Nation, obwohl vorhanden, doch nicht immer auf die Oberfläche hervortritt, und daß in müßigen und faulen Stunden das Publikum allerlei Menschen und Bücher verträgt, allerlei annimmt und sich sagen läßt. Er weiß, daß es nur darauf ankommt, recht unverschämt zu seyn, rechten Lärm zu machen, und vor allen Dingen, eine Coterie zu bilden, sich das Lob mit mehreren zu verassekuriren.

Er hat sich also die jeune Allemagne zum Aushängeschild gewählt, gab eine Jugendzeitung heraus und sucht jezt allerlei junge Leute durch die Parole „Heine“ an sich zu locken. So läßt sich vielleicht mancher Unbesonnene mit ihm ein, der erst nachher entdeckt, in welches [375] moralische und physische Lazareth er gerathen ist. Glücklich, wer noch zur rechten Zeit die schändende Gemeinschaft flieht und der allgemeinen Verachtung entrinnt, die den Mann, der sich der Scham schämt, keinen Gott haben will und Christum als einen „unglücklichen Revolutionär“ mit Thomas Münzer in einen Rang stellt, unfehlbar treffen wird.

Das Geschäft dieser jungen Leute ist jezt, einander auf’s unverschämteste zu loben und als die größten Männer darzustellen, die je über die Weltbühne geschritten. Ganz besonders versteht sich Herr Gutzkow auf die kleinen Mittel, Gerede von sich zu machen. Er fraternisirt mit Winkelblättern und weiß Korrespondenten zu finden, die in den Zeitungen ausposaunen müssen: „der berühmte Gutzkow ist da oder dort angekommen“ oder „der berühmte Gutzkow ist mit der ersten deutschen Verlagshandlung einverstanden, eine Revue im größten Styl zu eröffnen.“ Obgleich kein Wort davon wahr ist, erregt es doch Aufsehen und bringt manchem minder erfahrenen Verleger eine unverhältnißmäßige Meinung von dem Herrn Gutzkow bei. So ist es bekannt, daß die mehrfachen Zeitungsartikel, die in der lezten Woche den Herrn Gutzkow so übereinstimmend angepriesen, bloß darauf berechnet waren, die hiesigen Verleger für ihn zu bestechen, nachdem er von Frankfurt fortgelaufen. Mit solchen Mitteln will man heutzutage ein berühmter Mann und Repräsentant der deutschen Jugend werden!

Auch das ist nicht übel auf das Publikum berechnet, daß Herr Gutzkow gelegentlich einen hohen philosophisch scheinenden Ton annimmt, und sich gar altklug geberdet, obgleich es schlecht zu seiner Obscönität paßt, denn was ist wohl ekler als ein Wüstling, der zugleich ein Pedant ist, oder ein Pedant, der den Wüstling spielt. Aber Herr Gutzkow ist zu sehr geborner Berliner, als daß er nicht wissen sollte, wie leicht es ist, mit der augenblinzelnden suffisanten Miene vornehmer Geringschätzung noch immer allerlei einfältigen Lesern zu imponiren. Er hat also jenen hoffärtigen Styl gewählt, der über die ehrwürdigsten Gegenstände und über die bekanntesten und ewig unumstößlichen Wahrheiten mit affektirtem Naserümpfen und Achselzucken sich ausdrückt, von Christus als von einem Schwachkopf spricht etc. Das hat er den Hegelianern abgesehn.

Dahin gehört auch die philosophische Bemäntelung der Unzucht. Herr Gutzkow findet z. B. für nöthig, seinen wüsten Roman am Schluß in einer besondern Abhandlung kritisch zu rechtfertigen, als ob jede Poesie sich nicht selbst rechtfertigen müßte. Darin nennt er seine nur in’s gemeinste Bordell gehörigen Nuditäten ideale Dichtungen und drückt die Hoffnung aus, diese in Frankreich bereits herrschende Gattung werde nun auch bald in Deutschland durchdringen. Die Reminiscenzen der Bordelle oder die frechen Einbildungen des einsamen Lasters wagt er Ideale zu nennen, und an die Stelle dessen zu drängen, was man sonst unter Ideal verstand, nämlich die höchste Tugend, die höchste Reinheit, nach der zu streben die Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft ist. Nur der schändlichste Egoismus schafft sich im Winkel Vorstellungen, die seinen schmutzigen Hunger doch niemals stillen, weil sie eben nicht wirklich werden, die aber vom Ideal so entfernt sind, wie die Hölle vom Himmel, Vorstellungen, die nur dem verwandten Laster ein beifälliges Lächeln ablocken, leider zuweilen die Unerfahrenheit verführen, aber der Welt ein Abscheu sind. Wahre Ideale sind etwas ganz Anderes, sind immer Werke eines der Gesellschaft und der Menschenveredlung sich hingebenden Gemüthes, Vorbilder des öffentlichen Lebens, Muster für die Nacheiferung, etwas, dessen alle Völker sich rühmen, nicht dessen sie sich schämen. Damit aber, daß man sich nicht mehr schämen zu wollen erklärt, wie Herr Gutzkow, macht man die schamlose Handlung nicht anders, nicht besser.

Wenn man eine solche Schule der frechsten Unsittlichkeit und raffinirtesten Lüge in Deutschland aufkommen lassen wollte, wenn sich alle Edeln der Nation nicht dagegen erklärten, wenn sich deutsche Verleger nicht vorsähen, solches Gift dem Publikum feil zu bieten und anzupreisen, so würden wir bald schöne Früchte erleben. Aber diese Schule wird nicht aufkommen. Unsere reiche, von würdigeren Kräften geschaffene Literatur wird nicht das Erbe solcher Lüderlichen werden. Aber schlimm genug, wenn die Verruchtheit nur eine Zeitlang ihr Wesen treiben und ihre Spur in die Literatur und in’s Leben eindrücken darf. Schlimm genug, wenn ein Schmutzroman, wie diese Wally, nur in die Hände weniger Mädchen kommt. Und Schande genug, sofern es nur einmal möglich war, daß ein Mensch, dem nichts heilig ist, sich zum literarischen Richter in Deutschland aufwerfen konnte, daß einmal der Koth sich anmaßen durfte, die Literatur reinigen zu wollen.

Wer den Zauberbesen führen will, muß nicht selber der Unrath seyn, oder er wird hinausgefegt.

Da Herr Gutzkow uns eine neue Bibel der Schwäche und des Lasters anstatt der alten Bibel der Kraft und der Heiligkeit aufdrängen will, so will ich ihm einige Seiten des alten Buchs aufschlagen, daß das Herz in ihm erschrecke:

„Der Herr sagte zu mir also: gehe hin und stelle einen Wächter, der da schaue und ansage.

Er siehet aber Reiter reiten und fahren auf Rossen, Eseln und Kameelen und hat mit großem Fleiß Achtung darauf.

Und ein Löwe rief: Herr, ich stehe auf der Warte immerdar des Tages und stelle mich auf meine Huth alle Nacht.

[376] Höret mir zu, ihr Inseln und ihr Völker in der Ferne, merket auf, der Herr hat mir gerufen.

Und hat meinen Mund gemacht, wie ein scharf Schwert, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum reinen Pfeil gemacht und mich in seinen Köcher gesteckt.

Denn es ist ein Tag des Getümmels und der Zertretung und Verwirrung vom Herrn im Schauthal und des Untergrabens der Mauern und des Geschreis am Berge.

Ein Tag des Trübsals, Scheltens und Lästerns, und gehet gleich, als wenn die Kinder bis an die Geburt kommen, und ist keine Kraft da, zu gebären.

Sie brüten Basiliskeneier und wirken Spinnweben. Isset man von ihren Eiern, so muß man sterben; zertritt man’s aber, so fahren Ottern heraus.

Sie kennen den Weg des Friedens nicht und ist kein Recht in ihren Gängen; sie sind verkehrt auf ihren Straßen; wer darauf geht hat nimmer keinen Frieden.

Und das Volk treibt Schinderei, einer über den andern und ein jeglicher über seinen Nächsten, und der Jüngere ist stolz wider den Alten, und ein böser Mann wider den ehrlichen.

Aber ich will die Schinder speisen mit ihrem eigenen Fleisch und sollen mit ihrem eigenen Blut trunken werden.

Sie schießen mit ihren Zungen eitel Lügen und keine Wahrheit und treibens mit Gewalt im Lande und gehn von einer Bosheit zur andern.

Ein jeglicher hüte sich vor seinem Freunde und traue auch seinem Bruder nicht, denn ein Freund verräth den andern.

Ein Freund täuschet den andern und redet kein wahr Wort; sie fleißigen sich darauf, wie einer den andern betrüge und ist ihnen leid, daß sie es nicht noch ärger machen können.

Ihre falschen Zungen sind mörderische Pfeile; mit ihrem Munde reden sie freundlich gegen den Nächsten; aber im Herzen lauern sie auf denselben.

Sollt’ ich nun solches nicht heimsuchen an ihnen, spricht der Herr, und meine Seele sollte sich nicht rächen an solchem Volk, wie dies ist?

Darum spricht der Herr, siehe ich will dies Volk mit Wermuth speisen und mit Galle tränken.

Siehe, es kommt die Zeit, da ich heimsuchen werde alle, die Beschnittenen mit den Unbeschnittenen.

Siehe ihr alle, die ihr ein Feuer angezündet, mit Flammen gerüstet, wandelt hin im Licht eures Feuers und in Flammen, die ihr angezündet habt. Solches widerfährt euch von meiner Hand, in Schmerzen müsset ihr liegen.

Wehe den Gottlosen, denn es wird ihnen vergolten werden, wie sie es verdienen.

Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsterniß Licht und aus Licht Finsterniß machen, die aus Sauer süß und aus Süß sauer machen.

Wehe denen, die den Gottlosen Recht sprechen um Geschenk willen und das Recht der Gerechten von ihnen wenden.

Der Herr kann sich über die junge Mannschaft nicht freuen, denn sie sind böse und ihr Mund redet Thorheit. Darum wird sein Zorn nicht ablassen und seine Hand ist noch ausgereckt.

Und der Herr wird seine herrliche Stimme schallen lassen, daß man sehe seinen ausgereckten Arm mit zornigem Dräuen und mit Flammen des verzehrenden Feuers, mit Strahlen, mit starkem Regen und mit Hagel.

Und Assur wird erschrecken vor der Stimme des Herrn, der ihn mit Ruthen schlägt.

Denn es wird die Ruthe ganz durchdringen und wohl treffen.

Wehe dir, du Verstörer; meinest du, du werdest nicht verstört werden? Und du Verächter; meinest du, man werde dich nicht verachten?

Weil du denn wider mich tobest und dein Stolz herauf vor meine Ohren kommen ist, will ich dir einen Ring an die Nase legen und ein Gebiß in dein Maul und will dich des Weges wieder heim führen, des du kommen bist.

Ich hatte dich gepflanzt zu einem süßen Weinstock, einem ganz rechtschaffenen Samen; wie bist du mir denn gerathen zu einem bittern wilden Weinstock?

Und wenn du dich gleich mit Laugen wüschest und nähmest viel Seife dazu, so gleißet doch deine Untugend desto mehr.

Siehe an, wie du es treibest im Thale und bedenke, wie du es ausgerichtet hast.

Ich muß meine Hand wider dich kehren und deinen Schaum auf’s lauterste fegen und all dein Zinn wegthun.

Mit Stroh gehst du schwanger, Stoppeln gebierst du; Feuer wird dich mit deinem Muth verzehren.

Hebe deine Augen auf zu den Höhen und siehe, wie du allenthalben Hurerei treibst, und verunreinigst das Land mit deiner Hurerei und Bosheit.

Du hast eine Hurerstirn und willst dich nicht mehr schämen.

So höre nun dies, der du in Wollust lebest und sprichst in deinem Herzen: Ich bins und keiner mehr.

Darum wird über dich ein Unglück kommen, daß du nicht wissest, wenn es daherbricht, und wird ein Unfall auf dich fallen, den du nicht sühnen kannst.

Siehe, es wird ein Wetter des Herrn mit Grimm kommen und ein schrecklich Ungewitter dem Gottlosen auf den Kopf fallen.

So tritt nun auf mit deinen Beschwörern, unter welchen du dich bemüht hast, ob du dir möchtest rathen, ob du möchtest dich stärken.

Siehe ihr seyd uns Nichts und euer Thun ist auch aus Nichts und euer Wählen ist ein Greuel.

Der Herr aber wird von Israel abhauen beide, Kopf und Schwanz, Ast und Stumpf, an einem Tag.

Ich will ihnen wehe thun, daß sie sollen zu Schanden werden, zum Sprichwort, zur Fabel, zum Fluch an allen Orten.“

3. Ferdinand Gustav Kühne, Zeitung für die elegante Welt, 5. Oktober 1835#

[Ferdinand Gustav Kühne:] Gutzkow’s neueste Dichtungen. In: Zeitung für die elegante Welt. Nr. 196, 5. Oktober 1835, S. 783-784; Nr. 197, 6. Oktober 1835, S. 787-788. (Rasch 14/6.35.10.05)

Gutzkow hat eine Tragödie, „Nero“*), und einen Roman aus der nächsten Gegenwart: „Wally, die Zweiflerin“**), geschrieben. Gutzkow greift in den verschiedensten Sphären umher, er sucht sich bald da, bald dort sein Feld, wo er mit der Brennfackel seines Grimmes gegen Todtes und Lebendiges einhertobt; er ist ein speiender Vulkan, der sich auf verschiedenen Stellen seinen Krater sucht, um zu verwüsten. Alle revolutionairen Naturen haben etwas Vulkanisches; aber Gutzkow’s Flammen sind kalt, seine Lava unbrauchbar. Es ist kein glühender Dämon in ihm wie in Börne; sein Werk ist nicht Haß, der Haß ist noch poetisch; sein Geschäft heißt: kalte Verachtung. Dies spricht sich in beiden obigen Dichtungen aus, so verschiedenartig sie sonst auch seyn mögen. […]

Ich glaubte, Gutzkow hätte sich an seinem Nero ein hinlängliches Genüge verschafft, allein in seiner „Wally“ hat [784] sich die kaltherzige Zerstörungslust nur auf die Elemente des modernen Gedankenlebens geworfen. Sie findet hier tiefere Interessen vor, und man könnte meinen, sie sey für den Conflict unserer Zustände, die in gährender Bewegung sind, gefährlicher; allein ein Trost liegt nahe, sie ist blos ekelhaft. Daß sich in diesem Romane ziemlich vollständig auch ein platter, witzloser Atheismus breit macht, ist weiter keine neue Erscheinung. Dergleichen ist für Gutzkow eine Kleinigkeit, er wirft es so ab wie Speichel, es kommt ihm auf eine Hand voll ridicüler Späße mehr oder weniger nicht an. Der Anfang des Romans schien etwas zu versprechen. Man findet eine nackte Enthüllung der Charlatanerie, welche die Zeit mit romantischen Gefühlen und religiösen Stimmungen treibt. Aus des Verfassers Empörungslust gegen die Tyrannei der geselligen Formen des modernen Lebens hoffte ich einen wirklichen Roman hervorgehen zu sehen. Wally ist eine geistreiche Coquette mit romantischen Einfällen über Gott und Welt. Cäsar ist der ganze Gutzkow. Er hat „einen ganzen Friedhof todter Gedanken, herrlicher Ideen, an die er einst glaubte, hinter sich; ein gefühlloser Skeptiker, der mit Begriffschatten, mit gewesenem Enthusiasmus rechnet.“ Er ist ein Mensch, der handeln müßte, aber die versagte Thätigkeit macht ihn zum Verwüster an den heiligsten Interessen des Denkens. Das ist Gutzkow’s ganzes Unglück. Dieses innere Unglück ist ein Gegenstand tiefster Beachtung.

[787] Ich kann alle Ausgeburten seiner taktlosen Reckenhaftigkeit gleichgültig abweisen, aber es erschüttert mich, wenn ich die Quellen seiner wirren Mühsal auffinde. Gutzkow ist über den Fluch der Thatenlosigkeit seiner selbst und seiner Zeitgenossen ergrimmt. Die Hamletsschwermuth der Zeit hat sich bei ihm in Wuth und Raserei umgesetzt, für die, wenn der Moment der aufschießenden Hitze vorüber ist, nichts weiter übrig bleibt als das abgestumpfte, erlahmte Gefühl kalter Geringschätzung. Darum die jähe Hast seiner Expectorationen dicht neben der kühlsten Mattigkeit seiner unfruchtbaren Abstraction, deren farblose Blässe nur Unkundige für Festigkeit der Charakters halten können. Nicht die Zerrissenheit, sondern die kalte Berechnung mit den ausgetobten Schmerzen ist das Unglück seines Naturells. Nicht die Verirrungen der Leidenschaft sind häßlich, sondern das selbstmörderische Gefühl der abgestandenen Leerheit. Gutzkow’s Schrift ist ein Product dieser Stimmung, das macht sie widerwärtig und sinnlos. Die wüthendste Verzweiflung ist mir lieber als kalter Geifer; in jener ist eine Krisis, in diesem seelenlose Menschenverachtung. Der Stoff des Romanes ist zum Erstaunen schlecht, eben so schlecht der Styl. Im „Nero“ gefiel sich der Verfasser noch in seiner wüsten Ungeheuerlichkeit, in der „Wally“ beschleicht ihn oft die fadeste Nüchternheit. In meinen Augen verdammt dies den Verfasser am meisten, daß er in der Leidenschaft nicht mehr leidenschaftlich ist und Ekel hat an seinen eigenen Gedanken. Er strangulirt sich und hält sich oder seinen Helden als dem Galgen verfallen. Das ist das äußerste Reizmittel, um sich noch für sich selbst zu interessiren. Gutzkow’s Romangestalten sind keine Menschen mehr, er kann eine Reform der geselligen Verhältnisse des Lebens nicht von Menschen vertreten lassen, die Ueberzeugung von der Umwandlung der Dinge schreit blos wie ein Rabengekrächze aus seiner eigenen Brust heraus. Die klappernden Gespenster, in welcher Gestalt seine Ansichten oft genug auftreten, dürfen Niemand schrecken, aber der Anblick dieser grausamen Zerstörungslust gegen Gott und Welt und gegen sich selber könnte, als geistige Krankheit betrachtet, das Gefühl der Rührung erwecken. Der Anhang des Buches enthält eine, der Uebertreibung wegen verunglückte, Parodie des Christenthums, in welcher der Verfasser die Miene des Verwunderns darüber annimmt, wie „eine kleine Anekdote“, die Erscheinung Christi nämlich, so welthistorisch werden konnte. Hier wird der Witz baare Dummheit. Die Zugeständnisse, die im Verlaufe der Abhandlung dem Christenthume gemacht werden, heben die Polemik fast wieder aus dem Sattel.

Wir sind auf die weitere Entwickelung dieses Phänomens in der Literatur der Gegenwart begierig. Allein es steht zu fürchten, daß es die Zeitgenossen bald überdrüssig bekommen werden, die Krankheiten des jetzigen Gedankenlebens in Gutzkow als bloße Geschwüre eitern zu sehen. Gutzkow ist jung; er wird übers Jahr ein Anderer seyn. Der Schmerz über eine zerrissene Welt hat eine verkehrte Richtung in ihm genommen, sein Unglück, denn das Unglück der Zeit ist das seinige, hat ihn gegen den Gefrierpunct der Polarzone geschleudert, und seine harte Stirn ist Ursache, wenn er an der Eiswand seiner Gedanken nicht zerschmettert hangen blieb. Es wäre lächerlich, wenn ich sagen wollte, er sollte zu Verstande kommen, der überwache Verstand hat ihn eben ruinirt und verzerrt. Ich sage blos, er soll zur Leidenschaft kommen. Wo Leidenschaft ist, da ist Krisis und Möglichkeit zur Lösung der Wirren.

Nachschrift. Die Ankündigung der „Deutschen Revue“ (bei Löwenthal in Mannheim) gibt Hoffnung und Zuversicht zum Besten der deutschen Interessen. Wienbarg’s Einfluß wird sich heilbringend äußern, selbst wenn er nicht so productiv wie Gutzkow’s Schnellkraft sich geltend machen sollte. [788] Wir sehen hier ein Verhältniß, wie in der königl. preußischen Freiheitsperiode von 1813 bis 1815 zwischen Gneisenau und Blücher. Jener lenkte mit der still besonnenen Kraft der Intelligenz, dieser mit dem Vorwärtsschwunge seines Armes; jener war der Kopf, dieser der Haudegen. Daß nur Gutzkow bei seinem Jählingseifer sich vor Schlappen hütet, an denen Wienbarg unschuldig wäre. Der Prospect der „deutschen Revue“ läßt hoffen, daß die Todtschlägerei aller Sympathieen des jung aufsprossenden Lebens, in welcher sich Gutzkow bisher versuchte, aufhören werde. Gutzkow hält sich gewiß für eine Art von modernem Marquis Posa. Allein man muß ihm wie Schiller’s Posa selbst zurufen: Geben Sie Gedankenfreiheit! Bisher war Gutzkow der Sklave seiner selber.

4. Neue Speyerer Zeitung, 10. Oktober 1835#

[Anon.:] Wally, die Zweiflerin. Roman von Karl Gutzkow. Mannheim, C. Löwenthal’s Buchhandlung. In: Neue Speyerer Zeitung. Speyer. Nr. 202, 10. Oktober 1835, [S. 3-4]. (Rasch 14/6.35.10.10 N)

Ehe diese Schrift noch im Buchhandel zu erhalten war, vernahm man in öffentlichen Blättern mehrfaches Cetergeschrei über deren fürchterliche Tendenz. Referent ward – aufrichtig gestanden – gerade dadurch veranlaßt, sich nach diesem „schrecklichen Monstrum“ näher zu erkundigen.

[4] Er las das Buch, las es – mit Vergnügen kann er nicht sagen, denn dazu würde eine andere Gemüthsstimmung erfordert – aber mit wahrem Interesse, um so mehr, als er darin mit ein Zeichen der Zeit findet.

Er soll nun seine Meinung darüber aussprechen. Dies fällt ihm sehr schwer. –

Das Werkchen hat – wie Goldsmith in der Vorrede zu seinem Vicar of Wakefield sagt – hunderterlei Fehler, aber hunderterlei Dinge ließen sich auch sagen, zu beweisen, daß es Schönheiten sind.

Bei dieser „Wally“ darf eben so wenig, als bei Byron’s Cain, ein ganz alltäglicher Maßstab angelegt werden. Wer auf die Ketzereien Jagd ausgeht, wird deren allerdings hunderte hier finden. –

Das vorliegende Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne; wer einen solchen sucht, lasse diese Schrift unberührt. Es ist ein philosophisches Werk in romantischem Gewande.

Der Verfasser schrieb mit blutendem Herzen: seine Phantasie ist im höchsten Grade aufgeregt, sein Gefühl innig ergriffen. Der Cultus, der heutige Socialzustand, sie liegen niedergeschmettert vor ihm: sein Schmerz ist, daß er nichts an deren Stelle aufzuführen weiß. So gibt sich denn ein furchtbar zerrissenes Gemüth kund.

Das Buch beweist unverkennbar Geist und Genie des Verfassers. Aber beide sind wild, ungezügelt. – Gutzkow wird keine zweite Wally schreiben, – mindestens wenn er 10 Jahre älter geworden nicht mehr.

„Die Absicht des Dichters,“ schrieb Jemand dem Referenten sehr richtig, „war eine philosophische, speculative.... Es gab wohl wenige Schriftsteller, denen es um das Wohl, die Bildung der Menschheit ernster gewesen wäre, als Gutzkow. Seine Dichtungen sind das Ergebniß einer Phantasie, die von philosophischer Tiefe durchdrungen ist. Man kann sie tadeln, aber man sollte ihr keine Schlechtigkeit vorwerfen.... Das Buch gibt die Zerrissenheit der jetzigen Verhältnisse treffend wieder, und zeigt zugleich das Unglück derer, die jene Zerrissenheit zu fühlen im Stande sind. – Gutzkow’s Wally, mit objectivem Auge gelesen, ist sehr belehrend. Aber natürlich darf man das alles nicht subjectiv wieder leben wollen.“

Der Referent unterschreibt unbedingt dieses Urtheil.

Als Proben noch einige im Buche nur flüchtig und aphoristisch hingeworfene Ideen:

[…]

Diejenigen zum Schweigen bringend, welche das Buch zum Feuertode verdammen möchten, ist u. a. folgende Stelle: „Nur die Erkenntniß ist das Schwere. Das Dasein Gottes selbst bezweifeln, hieße den ganzen Zustand meines Innern fortläugnen. Würd’ ich diese Mühe haben, wenn es nicht in Wahrheit einen Gott gäbe! Das Resultat des Atheismus war auch nie ein anderes, als daß er in ein System überging und zuletzt selbst eine Religion wurde. Konnte es abergläubigere und bigottere Atheisten geben, als Chaumette, Anacharsis Cloots, und Momoro waren!“

5. Wolfgang Menzel, Dritte Abfertigung des Dr. Gutzkow, Literatur-Blatt, 19. Oktober 1835#

[Wolfgang Menzel:] Dritte Abfertigung des Dr. Gutzkow. In: Literatur-Blatt. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 107, 19. Oktober 1835, S. 426-429. (Rasch 14/6.35.10.19)

Herr Gutzkow hat geschrieben: es wäre besser, wenn man nie einen Gott geglaubt hätte – ein unehelich geborner Mensch, ein gewisser Jesus, habe sich durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen zu unbesonnenen Schritten verleiten lassen und dieser arme Rabbi von Nazareth sey nichts als ein verunglückter Revolutionär gewesen, wie später Thomas Münzer – der Roman, den er (Gutzkow) geschrieben, worin ein gebildetes (!) Mädchen ein kleines Theater aufschlagen läßt, um sich dem Jüngling in puris naturalibus zu zeigen, sey viel poetischer, als Romeo und Julie von Shakespeare – diese Gattung von idealen (!) Darstellungen herrsche bereits in Frankreich und werde nun hoffentlich bald auch in Deutschland durchdringen etc. etc. In derselben Gesinnung hat Herr Gutzkow unternommen, als Kritiker alles Edle mit dem frechsten und persönlichsten Spott [427] anzufallen. Was von der moralischen Seite unantastbar war, z. B. Uhland, nannte er langweilig; wo er irgend eine alte Jugendsünde eines berühmten Mannes, z. B. Schleiermachers, wenn sie auch mit den spätern Leistungen und dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes gar nicht zusammenhing, aus der Vergessenheit aufgraben konnte, that er es mit schadenfroher Bosheit. Was durch Religiosität, Moralität und Patriotismus ausgezeichnet seinem gottlosen, unsittlichen und französischen Trachten im Wege stand, wurde von ihm systematisch besudelt.

Auch Wienbarg hatte in seinen ästhetischen Feldzügen bereits erklärt, die gewöhnliche Moral müsse nicht nur aus der Poesie, sondern auch aus dem Leben verbannt werden, das Fleisch müsse wieder in seine Rechte eingesezt werden, die einseitige christliche Geisteskultur müsse verbannt werden, um der heitern sinnlichen Religion Griechenlands auf’s Neue Platz zu machen, und diese Religion soll ganz auf die schöne That, d. h. auf die Unzucht gestellt seyn, nicht auf eine lächerliche Schwärmerei der Seele oder bloße Gedanken und Worte.

Solche Grundsätze wurden öffentlich verkündigt und mehrere junge Dichter bewiesen durch ihre Erstlinge, daß sie nach solchen Grundsätzen zu leben und zu schreiben ernstlich gesonnen seyen. Man gab sich den lockenden und vielversprechenden Namen „das junge Deutschland“ und machte sich sehr laut.

Ich frage Alle, die sich um die öffentlichen Angelegenheiten in Deutschland irgend bekümmern, ob es nicht Pflicht war, diesem wüsten Treiben ein Ende zu machen? Ich habe es gethan mit so viel Ernst, als die Sache erforderte, aber mit Anerkennung der mißbrauchten Talente und mit Schonung der Verführten, von denen zu erwarten ist, daß sie ihren traurigen Irrthum erkennen werden, und deren Namen ich nicht einmal genannt habe.

Herr Gutzkow hat nun selbst und durch zwei Helfershelfer gegen mich operirt, wie folgt.

Erstens mußte die offenkundige Gotteslästerung und Immoralität seiner Schriften bemäntelt und der Blick des Publikums von dieser Seite ganz ab und auf meine Person hingelenkt werden. Diese meine Person mußte mit einer Sündfluth von Unrath überschüttet werden. Wahrheiten mußten gänzlich entstellt, auf’s gehässigste gedeutet, jeder Scherz, den er in meinem Hause von mir oder meinen Freunden gehört, mußte verdreht, Lügen mußten erfunden werden, um, wenn es auch nicht gelänge, das Publikum zu überreden, doch ihm wenigstens durch den Skandal einen Reiz zu erregen. Alle Vermuthungen alter Weiber, alle Verdächtigungen meiner literarischen und politischen Feinde, durch die meine Konsequenz jederzeit siegreich hindurchschritt, hat er aufgewärmt, obgleich dieses ganze Geklatsch sich schon durch seinen innern Widerspruch von selbst widerlegt. Auf einer Seite wirft man dem nämlichen Manne Servilismus und Furcht, auf der andern Demagogie und Wildheit vor. Ein so blinder Haß macht nur dem Ehre, dem er gilt. Ich hatte schon vor zwölf Jahren, zu einer Zeit, da Herr Gutzkow nur erst die pädagogische und noch nicht die kritische Ruthe bekam, dieselben Grundsätze und sprach sie mit derselben Wärme aus, wie heute. Daher ist auch, was er über seinen Einfluß auf mich faselt, die sinnloseste Aufschneiderei.

Die Wahrheit verlangte, daß ich dem Herrn Gutzkow sein Talent auf keine Weise, auch als der strengste Ankläger seiner Immoralität, nicht abspräche; aber ich will mir dies nicht zu einem Verdienst anrechnen, denn ich hatte nichts dabei zu gefährden. Mein Gegner fühlt freilich anders. Ihm schien, nur etwas an mir gelten zu lassen, gefährlich. Er hat den Muth der Wahrheit nicht und kann ihn nicht haben. Er hat nur den Muth der Lüge.

Ich habe diesen Kampf rein im Interesse der Religion, der Sitte und der vaterländischen Ehre angefangen, es ist nur eine Fortsetzung meiner frühern Kämpfe, die ich gegen weit bedeutendere Leute, in gleichem Interesse durchgefochten. Und nun wollen diese Knaben mir vorwerfen, ich bekämpfe sie nur aus Rivalität, weil ich kein anderes kritisches Journal aufkommen lassen wolle. Abgesehen davon, daß ich allezeit andere Journale neben mir das Glück deutscher Preßfreiheit ruhig habe genießen sehen und sogar immer bereit bin, mein kritisches Amt dem zu überlassen, dem die literarische Ehre Deutschlands so am Herzen liegen wird, wie mir, – ist es überhaupt unsinnig, dem alten bewährten Kämpfer für bekannte Ideen, dem Manne, dem Herr Gutzkow seine kritische Konsequenz sogar zum Vorwurf macht, ein persönliches Interesse unterzuschieben.

Nachdem meine edeln Gegner auf diese Weise nur meine Person verläumdet, verkleinert, im Hohlspiegel verzerrt haben, suchen sie sich zweitens Verbündete.

Von diesen wird es auch erst abhängen, was sie weiter thun werden. Sie wissen es jezt noch nicht. Von mir gedrängt, sehen sie sich zwar gezwungen, in einem feigen und furchtsamen Gewäsch eine Art von pater peccavi anzustimmen; aber sie fühlen zugleich, wie wenig dies zu ihrem bisherigen Uebermuthe paßt, und sie hoffen, daß der Weltliterator Wienbarg für seine „schönen Thaten“, der neue Prophet von Frankfurt, Gutzkow, für seine wohlriechenden „Ideale“ doch wohl einen bedeutenden Anhang finden könnte. Dann müßten sie sich ja schämen, sich einmal aus Furcht auf lächerliche Weise vor dem verspotteten Christenthum und vor der verhöhnten guten Sitte gedemüthigt zu haben.

[428] Sie überschwemmen nun Deutschland mit Briefen und Aufforderungen. Aus den Zuschriften, die mir alte Gegner von mir zugehen lassen, um mir auf eine edelmüthige Weise unmittelbar zu sagen, daß sie die an sie ergangenen Aufforderungen der „unzüchtigen Gesellschaft“ mit Verachtung zurückgewiesen haben, kann ich schließen, was vorgeht, und daß Herr Gutzkow gewiß mit Aengstlichkeit mein ganzes Literaturblatt durchgegangen ist, um alle die aufzufinden, die muthmaßlich meine Feinde sind, und die man geschwind loben und für sich gewinnen muß.

An die Verehrer Goethe’s, als meine ausgesprochenen Gegner, hat man sich öffentlich gewendet. Sie hat man flehentlich in dieser Noth Israels um Hülfe angeschrieen, und hofft, daß sie sich dazu hergeben werden, etwa unter dem Vorsitz des Herrn Gutzkow, wider mich Rath zu halten. Schade nur, daß den Verehrern Goethe’s, unter denen gar feine Leute sind, nichts so widerlich ist, als ein Genosse, wie Gutzkow, als eine Nutzanwendung, wie sie Gutzkow von ihren nicht immer wohlverstandenen, aber doch meistens wohlgemeinten Lehren macht. Sie wissen sehr gut, daß ein solcher Freund dem Goethianismus weit mehr Schaden bringen muß, als es der schonungsloseste Feind vermöchte.

Endlich soll der Welt weisgemacht werden, daß die lasterhafte jeune Allemagne, der Wechselbalg, den man uns einpfuschen möchte, das wahre junge Deutschland sey und die öffentliche Meinung in der ganzen deutschen Jugend für sich habe. Daher wurde aufgeboten, was irgend feil war, um geschwind gegen mich zu schreiben und eine künstliche Mehrstimmigkeit hervorzubringen. Ihrer drei sind aufgetreten, drei falsche Groschen aus Einer Tasche, Einer so gering wie der Andere.

Solcher Ausflüchte bedient man sich. Mit solchen Mitteln hofft man meines Schwertes Spitze verrücken, wider den Stachel lecken zu können. Doch umsonst. Ich halte sie auf euch gerichtet so fest und unabwendbar wie euer böses Gewissen selbst. Ich kämpfe für eine gute Sache. Weh euch, die ihr die schlechte führt!

Und es ist nicht meine Sache allein. Alles, was noch Achtung vor Religion und Sitte hat, kehrt sich wider euch. Jezt hält man euch schon für geschlagen und zweifelt nicht, daß ihr mir gehorchen und euch ganz erstaunlich mäßigen werdet. Solltet ihr aber in eurer bisherigen Weise mit Gotteslästerung und Unzucht fortfahren, so würdet ihr schon sehen, wie weit ihr kämet.

Das junge Deutschland selbst hat in mehreren Blättern schon angefangen, die Unbefugten, die sich zu seinen Repräsentanten aufgeworfen haben, zu desavouiren, und es wird noch ferner geschehen, denn allerdings hat zunächst die jüngere Generation den Schimpf zu rächen, den ihr diese schlechten Vertreter anhängen. Wie die Einsichtsvolleren der deutschen Jugend denken, erhellt z. B. aus folgender Stelle einer jüngst erschienenen Schrift des geistreichen Dr. Kühne (Eine Quarantaine im Irrenhause): „Die Ironisten reißen sich los von den Brüsten der Mutter Vernunft; sie glauben, sie sey eine abgelebte Matrone, aber die Mutter ist die ewig alte und die ewig junge, sie ist der ewige Impuls des Lebens selber im Untergang und Aufgang, im Verwelken wie im Blühen. Die Ironisten glauben den Ernst der Vernunft mit Kurzweil zu vertreiben und wissen nicht, daß ihr alle Mächte des Geistes zu Gebote stehen, daß sie sich aller Formen des Lebens, wie ein ewiger Proteus, selbst bedient, um nichts als sich, sich selbst zu fördern. Eine große allgemeine Emancipation der Ignoranten ist in unserer Zeit in Anmarsch, und so scheint es, als beherrsche die Vernunft nicht mehr das ganze Daseyn. Aber Ihr dient mir Alle, sagt die Vernunft, mit Wissen oder ohne Wissen, Viele nur verworren, bis ich sie in die Klarheit führe! – Junges Deutschland! Du von Dir selber ausdrücklich also benamsetes „junges Deutschland“, Dein Leben scheint mir hektisch, eine rapide Schwindsucht! Du bist engathmig, Du keuchst. Tanze und rase Dich nicht zunichte und zu nichts; Deine Galoppade ist weiter nichts als eine Gallomanie. Nimm Dich in Acht, daß Du nicht zu früh alt, in Deiner Jugend schon alt wirst, und dann nichts mehr jung bleibt als die alte Vernunft, der ewig alte und ewig junge Phönix deutschen Denkens und deutschen Dichtens.“

Dies ist der richtige Standpunkt. Eine Jugend-Literatur, in der nichts von der wahren und ewigen Jugend ist, in der nur altes und fremdes Laster nachkränkelt, verdient diesen ausschließlichen vielverheißenden Ehrennamen nicht.

Junges Deutschland! weder jung noch deutsch, Greiseskälte im verbrannten Hirn, französisches Gift in allen Adern! Dich sollten wir anerkennen als die Jugend unsers großen, schönen Volkes? Dich? Die Franzosen berauschen sich im Genuß eines giftigen Fliegenschwamms und nachdem sie ihn ausgesogen haben, erniedrigst du dich, auch im Laster nur Sklave, dir vom schlechten Abwasser des Schwammes einen ähnlichen, nur matteren, nur thierischeren Rausch zu holen. Und dich sollen wir als die freie, unschuldstolze deutsche Jugend mit reiner Stirn und klarem Aug’ erkennen? Dich? Nein, hier ist nur ekle, Abscheu erregende Verdorbenheit, auf welche die wahre deutsche Jugend mit Verachtung herabsieht.

6. Theodor Mundt, Literarischer Zodiacus, Oktober 1835#

[Theodor Mundt:] Wally, die Zweiflerin. Roman von Carl Gutzkow. In: Literarischer Zodiacus. Leipzig. Oktober 1835, S. 283-286. (Rasch 14/6.35.10.1)

Ein Roman der Skepsis unserer Zeit, des Zweifels und der Verzweifelung, aber durchaus ohne jene zerrissene Subjectivität, welche meistentheils von solchen Tendenzromanen in Deutschland unzertrennlich ist. Gutz-[284]kow ist nicht zerrissen, dazu ist er zu kalt, und besitzt eine gewisse klug darüberstehende und geharnischte Nüchternheit, die seinen Darstellungen ebenso sehr zum Vortheil, wie zum Nachtheil gereicht. Auf der einen Seite macht sein wenig erregtes Gemüth, sein unterdrücktes Herz, ihn nie befangen, daß er sich an die Sympathieen seiner Gegenstände hingiebt, die er vielmehr, fast verächtlich und trotzig, wiewohl mit Geist, unter sich zu erhalten weiß; auf der andern zerstören diese ätzenden Säfte eines tüchtigen, aber grausamen und quälerischen Verstandes ihm allen Duft und Blume der Dichtung, und lassen manchmal an der Originalität innern, tiefen Lebens und Erlebens zweifeln, indem sich mehr eine chemisch zersetzende und zusammensetzende Natur offenbart. Dieser sein neuer Roman ist mit einer raffinirten Kälte geschrieben, die merkwürdig ist, und, wie alle seine Bücher, den Leser nur zu einem mühsam abgerungenen Antheil bringt. Vieles ist recht frisch und keck herausgegriffen aus den unmittelbaren Conflicten der Zeit und der socialen Stimmung, aber diese Conflicte treffen hier einen zu gefährlichen Scheidepunct, einen zu ungeheuern Entwickelungsmoment der modernen Menschheit, als daß die Weise, wie Gutzkow in einem leicht angelegten und flüchtig motivirten Roman die dunkelste Sphinx unserer Zustände kopfüber in den Abgrund hinunterstürzt, um ihr Räthsel zu lösen, nicht mindestens für ein voreiliges und schädliches Handanlegen an die verschwiegenste und geheimnißvollste Frage gehalten werden müßte. Es ist die Frage, ob das Christenthum eine abgelebte Institution sei und für uns und unsere Zustände nicht mehr tauge? eine Frage, auf welche sich weder durch schneidende psychologische Thatsachen in einem Roman, noch durch ganze dogmatische Abhandlungen, ein kurzes und abgemachtes Ja oder Nein antworten läßt.

Gutzkow giebt sich, nach dem Vorgange Heine’s im zweiten Theil des „Salon,“ eine sehr bestimmte Stellung zu dieser Frage, nämlich die der Verneinung, ja der frivolsten Polemik, die am allermeisten auf diesem Gebiete unstatthaft und desorientirend ist. Was Rahel in scheuer Metaphysik und halbverhüllten Prophezeihungen nur bange angetönt (denn Scheu und Bangigkeit ergreift gerade die gewaltigsten Gemüther vor den großen Geburtswehen der Geschichte); was die St. Simonisten, die aus der Religionslosigkeit doch immer wieder eine neue Religion zu machen suchten, am geistigen Leben der Menschheit zur Herstellung einer glücklichen materiellen Zukunft niedergerissen; was selbst Heine noch mit Salonsanstand und gefallsamen Witzen vorgetragen, indem er seinen Feldzug gegen das Christenthum wenigstens mit christlicher Humanität zu führen bemüht ist: das nimmt hier ein blonder, verwegener Knabe, namens Carl Gutzkow, wie einen Bagatellprozeß leicht auf die Zunge, und speit es, wie die Kinder knisterndes Theaterkolofonium, in die Welt hinaus, um sie danach brennen zu sehen, und sich dann, ein kleines Nero-Ungethüm, vor Freuden die Hände darüber zu reiben. Aber so arg ist es nicht. Gutzkow hat Unglück, man traut ihm keine tiefen Gährungsmomente des Gemüths zu, und so hält man es bei ihm nur für eine specielle Malice gegen das Chri-[285]stenthum, was, wenn es aus wirklichen Erschütterungen und Erfahrungen der Seele hervorgegangen, selbst bei der größten Herbheit der Apostasie immer noch Aufmerksamkeit, ja Ehrfurcht verdiente. Er sagt selbst in den den Hauptkern seines Buches bildenden Geständnissen über die Religion (S. 293.), der Witz sei für eine so große Institution, wie das Christenthum, eine unangemessene Behandlung! Nun muß ich es freilich zugeben, wenn man mir entgegenhält, welche armselige und gottverlassene Witze Gutzkow in diesen Geständnissen selbst über den „armen Rabbi von Nazareth“ gemacht. Dies ist so unwürdig, daß ich es nicht begreife bei einem Verfasser, der sonst so vielen historischen Sinn hat und manchen kühnen, durchdringenden Blick in die Geschichte thut, denn schon die bloß geschichtliche Bedeutung des Christenthums lehrt anders über dasselbe urtheilen. Ein bedauernswerter Irrthum aber wäre es, wenn Gutzkow glaubte, er habe durch diese vom Zaun gebrochenen Befeindungen des Christenthums, zu denen er gar keine innern subjectiven Motive beibringt, etwas Neues gesagt oder gethan. – Was hier, mit besonders zeitgemäßer Miene, zur Vertilgung aller Göttlichkeit der christlichen Religion radotirt wird, hat der ganz gewöhnliche, flache, öde Rationalismus in der Theologie selbst schon längst und vielfältig zu Tage gefördert. Dagegen hat der Verfasser, in der voreiligen Weltverbesserungsdiarrhöe, an der er nun einmal leidet, die eigentlich zeitgemäßen und neuen Regungen der Gemüther nach dieser Seite hin sich entgehen lassen. Hätte er irgend von innen her die Zerwürfnisse und Conflicte der Zeit berührt, in denen gewisse Elemente und Formen des Christenthums ihren Tod zu finden scheinen (denn die christliche Idee selbst ist ewig und für alle Zeiten einer neuen Entwickelung fähig!), so würde seine Darstellung einen genetischen Zusammenhang, und damit die Berechtigung gewonnen haben, für den nothwendigen Abdruck eines von den Zeitbewegungen ergriffenen Gemüths zu gelten und geachtet zu werden. Durch Brutalität aber wirst du die Welt nicht verbessern! Mit eigenen stillen und tiefen Schmerzen mußt Du die neuen Ideen gebären, dann werden sie wirken!

Der Verfasser kann sagen: er hat nur einen Roman gegeben! Die individuelle Frevelhaftigkeit seiner Romanpersonen, die er ganz objectiv gehalten, dürfe man ihm nicht in den Schuh schieben! Nachdem er die Vorrede zu den Briefen über die Lucinde geschrieben, möchte Gutzkow jedoch zu stolz sein, dies Argument für sich geltend zu machen. Die Charaktere des Romans sind übrigens ungemein frostig und künstlich zusammengeflickt, sodaß man an ein wirkliches Leben und inneres Bewegen an ihnen sich nicht entschließen kann zu glauben. Cäsar, ein kaltes Schema rationalistischer Selbstsucht, und Wally, die im Gefühl verwahrloste, geborene Zweiflerin, sind zwei Rechenexempel der Gutzkow’schen Absichten, welche aller Blutswärme entbehren. Die Schreibart hat etwas absichtlich Trockenes und Herbes, ohne alle geschmackvolle Tinten, wodurch schwerlich eine neue, glückliche Revolution des deutschen Stils bewirkt werden wird. Das ganze Buch macht den Eindruck wie von naßkaltem Wetter; [286] nicht einmal ein Sonnenstäubchen blitzt erhellend und wohlthuend durch diese unheimlichen und wirren Regenschauer.

7. Philipp von Leitner, Literarische und kritische Blätter der Börsen-Halle, 18. November 1835#

Ph[ilipp] von Leitner: Wally, die Zweiflerin. Roman von Carl Gutzkow. – Nero. Tragödie von Carl Gutzkow. In: Literarische und kritische Blätter der Börsen-Halle. Hamburg. Nr. 1123, 18. November 1835, S. 1101-1104. (Rasch 14/6.35.11.18)

Es ist seit einigen Jahren in Deutschland eine Periode in der Literatur eingetreten, wo junge, kräftige Männer sich in eine heftige Opposition setzten gegen Alles, was die Gegenwart ihnen darbot, indem sie nicht bloß kämpften gegen die bestehenden politischen Einrichtungen, und so nur dem allgemeinen Zuge der Zeit folgten, sondern gegen Alles, was Gesellschaft und Sitte, Glaube und Ueberlieferung ihnen darbieten mochte. Eine solche Opposition kann nur dann zu etwas Gediegenem führen, wenn sie von einem wahrhaft tiefem Ernste, von einer sittlichen Gesinnung ausgeht, die vor Allem den Glauben an eine bessere zukünftige Gestaltung festhält. Wir müssen leider gestehen, daß es uns scheint, als fehle Manchen jener sittliche Ernst der Gesinnung, als fänden sie ihr größtes Vergnügen in einer gewissen Wollust der Zerstörung des Bestehenden, ohne etwas Besseres und Tieferes an dessen Stelle setzen zu können. Zu den jungen Männern, die diese Opposition bildeten, rechnen wir vor Allem Carl Gutzkow, und wirklich wüßten wir kein Buch zu nennen, in dem diese Opposition umfassender und durchgreifender durchgeführt wäre, als in dem früher von ihm erschienenen Romane „Maha-Guru.“ […] Alles dies wird nur dargestellt, um die Nichtigkeit aller Formen von Gesellschaft und Familie, von Priesterschaft und Religion selbst, zu zeigen.

Daß ein so durchgeführter Skepticismus eine innere Unruhe und Leere des Gemüthes erzeugen muß, die es zu keiner wahrhaft poetischen Gestaltung kommen lassen kann, ist von selbst klar; dies zeigt sich, wie in jenem Romane, so noch mehr in den beiden, uns vorliegenden Schriften, wo, namentlich in der Wally, die Darstellung wie die Diction so zerrissen, der Verlauf so willkührlich und ohne alle innere Motivirung ist, daß nur der Eigensinn des Dichters gewaltet zu haben scheint. Neben jener Leere des Gemüthes zeigt sich bei Gutzkow die ausgebreiteteste Kenntniß von unzähligen Kleinigkeiten, wie sie im gewöhnlichen Leben überall vorkommen, und diese weiß er oft so geschickt anzubringen, daß seine Darstellungen manchmal den Schein wenigstens der Wahrheit und Individualisirung erhalten. Indeß erkennt man bei näherer Besichtigung freilich leicht, daß diese Dinge nur äußerlich den Personen angeheftet sind, denen aller Hauch psychischer Aechtheit und Gemüthlichkeit ganz abgeht; und jene äußerlichsten Kleinigkeiten scheinen in der Seele Gutzkows wie Gespenster umherzuflattern, die es nicht zu einem geordneten, harmonischen Geisterreiche bei ihm kommen lassen.

Jenen Vorwurf der Unwahrheit, den wir so eben dem Verfasser der Wally machten, wird derselbe freilich nicht anerkennen, und es scheint Pflicht, wenigstens kurz seine Meynung zu hören. In einem Anhange zur Wally, „Wahrheit und Wirklichkeit“ überschrieben, sagt Gutzkow: „Schale Gemüther wissen nur das, was geschieht; für sie dichteten Bowles und Walter Scott, Iffland und Kotzebue; Begabte ahnen, was geschehen könnte, sie begnügen sich mit der Wahrscheinlichkeit; Freie bauen sich ihre eigene Welt, sie entscheiden, ohne zu fragen, weil sie fühlen, daß das, was nicht geschieht, immer noch wahr ist, selbst wenn es nicht geschehen kann. Die Welt wie sie ist, wird den Gebilden des Genius nicht [1102] entsprechen; diese Gebilde werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrscheinlichkeit ausgesetzt seyn, aber noch immer ging das Genie seinem Jahrhunderte voraus.“ Diese Poesie der „ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit“ herrscht nun nach dem Verfasser entschieden schon in der französischen Literatur, und fängt auch bei uns an, sich zu entfalten; sie hat Richterstühle mit ihrer eigenen Gesetzgebung, und deshalb giebt der Recensent, wie er gern gesteht, sein Urtheil allerdings nur für die schaleren Gemüther, die vor Allem Wahrheit schlechthin vom Dichter fordern.

In dem Romane „Wally, die Zweiflerin,“ dreht sich der Inhalt um das Verhältniß Wally’s zu Cäsar; beide Charaktere sind gleich ausgehöhlt und nichtig in sich. Wally ist ganz ohne Charakter, sie weint und lacht ohne Ursache, kann kein zusammenhängendes Gespräch führen, sondern nur Aphorismen hinwerfen, ihre Bewegungen sind flüchtig aber liebenswürdig, ihre Capricen ohne Pedanterie; sie ist ohne Schwärmerei für Natur, ohne Sinn für Blumen, aber dennoch will sie Gutzkow nicht gefühllos genannt wissen, und findet den unaussprechlichen Reiz derselben in ihrer Natürlichkeit; mit Recht nimmt sie Cäsar für ein humoristisches Capricio der animalischen Natur. Sie ist zu leichtsinnig und eitel, um eine allgemeine Unterhaltung interessant finden zu können, nur über Religion kann sie nicht sprechen, und fühlt bei der Verspottung derselben einen tiefen Schmerz. Cäsars Bildung dagegen ist fertig; er hatte einen ganzen Friedhof todter Gedanken, herrlicher Ideen, an die er einst glaubte, hinter sich, er war nur noch Skeptiker, und rechnete mit Begriffsschatten, mit gewesenem Enthusiasmus; er war durch die Schule hindurch und hätte nur noch handeln können. Denn wozu ihn die todten Ideen machten, er war ein starker Charakter. Nur zwei Steckenpferde hatte er: Verachtung der Musik, und Strenge der Erziehung; er pointirte die Erstere, um die jungen Damen, welche, wenn man von ihnen Gedanken verlangt, mit Musik antworten, ihre Leere fühlen zu lassen. Auf alles Uebrige ließ es Cäsar ankommen, für Himmel und Hölle, Erde und was darauf und darunter ist, nahm er nur Interesse, um sich zu unterhalten, und einen hübschen Einfall darüber zu haben.

Diese beiden lernen sich in der Residenz kennen, stoßen sich erst ab, doch die gleiche innere Leerheit zieht sie gegenseitig an. Im Bade treffen sie sich wieder, und Wally’s Langeweile wird durch Cäsar etwas vertrieben; als Würze und Reiz bei der inneren Leerheit wird das Schreckliche zu Hülfe gerufen, obgleich Wally die beiden Geschichten, die ihr Cäsar erzählt, wo in der einen ein Mädchen wahnsinnig wird, und sich endlich selbst tödtet, weil sie der Geliebte in Stich gelassen hat, und in der andern entgegengesetzten ein ähnliches Schicksal den Geliebten trifft, „mit der ganzen Gefühllosigkeit anhört, die sie allein schon charakterisiren würde, wenn sie dieselbe nicht mit allen Frauen gemein hätte, wo es sich um Herzensleiden irgend einer ihrer Schwestern handelt.“ Diese ihre Grausamkeit und Gefühllosigkeit fühlt Wally sehr wohl, und sie gesteht Cäsar, als sie mit ihm im Walde allein ist, daß die Frauen nur durch Eines geheilt werden können. Cäsar sinkt ihr zu Füßen, doch reißt er sich sogleich wieder auf, da ihm jede Situation fatal war, in der er sich selbst nicht hätte beobachten können. Wally verhehlte ihm nicht, daß die Zauberruthe, welche die im Weibe schlummernden Gefühle wecken, die Liebe sey, worauf Cäsar ihre Hand ergreift, und sagt: [„]Wir sind beide nicht für die Illusion gemacht, eine Mücke würde uns stören, wollten wir zu den Sternen beten, eine kurze Uebereinkunft kann uns auf die Stufe versetzen, welche uns alle jene Glückseligkeit gewährt, die wir durch Zurückhaltung, Schaam, natürlicher und koquetter Wesen nie erreichen. Wally! Wally! Jetzt lag Cäsar zu Wally’s Füßen, ohne Bewußtseyn, von einem ungeheuchelten Gefühle übermannt, aber nicht Liebe, sondern der Gedanke an die Humanitätsfrage warf ihn nieder, daß, wenn wir der conventionellen Form des Lebens überdrüssig, wir aller Welt zurufen möchten: O! warum dies Gehäuse von Manieren, in welches du Spröde dich zurückziehst? Warum diese Verhüllung des Menschen in und an dir? Warum diese Zurückhaltung, du mein Bruder, du meine Schwester, da du doch gleichen Wesens mit mir bist, eine Hand wie ich, zum Drucke, einen Mund wie ich, zum Kusse hast? Ach! wie sehe ich rings um mich her eine so reife Aerndte von Liebe und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre, daß ich sie breche? Wenn ich dich heute zum erstenmal sähe, so pflückte ich dich; denn wir sind Kinder eines und desselben Planeten, ich Mensch, wie du, beide alternd, beide den Tod fürchtend, beide elend. Was weichst du mir aus? Wally zerfloß in Thränen. So fest hatte Cäsar zu ihr gesprochen, und sie fühlte das Entzücken, statt eines Weibes – ein Mensch – zu seyn. Sie zitterte bei dieser ächt philanthropischen Vorstellung, welche, wenn sie allgemein würde, die Welt durchaus umgestalten, und ihre schwierigen Fragen im Nu lösen möchte. Sie ließ die Umarmung Cäsars zu, nicht, weil sie ihn liebte, oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann überwunden zu haben, sondern weil sie sich als das schwache Glied einer großen Wesenkette fühlte, die Gott erschaffen hat; weil sie wußte, daß sie vor der Wahrheit und der Natur ganz nackt, und bloß, und mitleidswürdig war, weil sie zuletzt glaubte, daß diese heißen Küsse, welche Cäsar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen unterm Sternenzelt gälten. Seht da eine Scene, wie sie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier ist Raffinirtes, Gemachtes, aus der Zerrissenheit unserer Zeit Gebornes: und was ist die Wahrheit Romeo’s und Juliens gegen diese Lüge! Was die egoistische Geschlechtsliebe gegen den Enthusiasmus der Ideen, der zwei Seelen in die unglücklichsten Verwechselungen werfen kann! Ich zittere vor einem Jahrhundert, das in seinen Irrthümern so tragisch, in seinem Fluche so anbetungswürdig ist.“

Wir haben diese Stelle ganz mitgetheilt; sie enthält die Ansichten des Verfassers über die Verhältnisse beider Geschlechter. Nicht die Liebe, die wahre, tiefe, feste, nur die sinnliche Aufregung soll beide vereinigen, „ein entzückender Augenblick,“ wie Gutzkow es an einem anderen Orte ausdrückt; wir sollen, verlangt er dort, über die Methodik der Liebe nachdenken, und den Willen frei machen, zu freier Wahl; die Liebe soll eine Kunst seyn. Schade nur, daß er die Phrase hier mit den Worten schließt: „wir sind beide alternd, beide den Tod fürchtend, beide elend.“ Er giebt sich hier außerdem die Miene, als verlange er diese Reform aus philosophischen und philanthropischen Ueberzeugungen; sie wären ja Beide Menschen; und doch ist Niemand Mensch schlechthin, sondern zunächst Mann und Weib, beide physisch und psychisch von der Natur selbst unterschieden, und deshalb vom Hause aus auf verschiedene Kreise der Wirksamkeit angewiesen; und endlich, wer möchte wohl, nach der oben gegebenen Charakteristik beider, an die Wahrheit dieses Enthusiasmus glauben?

Eine Entwickelung dieser Verhältnisse zwischen Wally und Cäsar wird nicht gegeben, wohl aber tritt die oben schon berührte Unruhe Wally’s hervor, als sie unbemerkt ein skeptisches Gespräch Cäsar’s mit einem Freunde, über die christliche Religion anhört, und sie schildert ihren Zustand, so wie den eines Weibes überhaupt, das ohne Liebe und Glauben, ohne einen Halt in der Familie oder im Manne gefunden zu haben, ohne feste, durch die Erziehung eingeprägte Grundsätze, sehr gut in einem Schreiben an eine Freundin: „ich fühle eine peinliche Unruhe und Hast, von der wir immer getrieben werden, eine Aengstlichkeit, von welcher die Männer keine Vorstellung haben; zuweilen erschrecke ich vor dieser pflanzenartigen Bewußtlosigkeit, in welcher die Frauen vegetiren, vor dieser Gefälligkeit, in allen ihren Begriffen, in ihren Mienen und Fürwahrhalten; die Männer sind glücklich, weil man Anforderungen an sie macht, das Maaß ihrer [1103] Handlungen ist der Beifall oder der Nutzen, den sie gewinnen; unser Fluch aber ist, daß man von uns nichts verlangt, nichts will; wir haben einen Ideenkreis, in den uns die Erziehung hineinschleuderte; daraus dürfen wir nicht hinaus und sollen uns nun mit Grazie, wie ein gefangenes Thier, an dem Eisengitter dieser Rondele herumwinden. Rechte will ich in Anspruch nehmen, für wen? für was? o Antonie, ich habe nichts, was werth wäre gedacht, ich will gar nicht sagen, gemeynt oder gesprochen zu werden. Ich drücke an den Begriffen, die mir zu Gebote stehen, aber sie sind elastisch, und geben immer nach, und gehen immer wieder zurück. So glaube ich, kommen auch Revolutionen, wenn die Menschen so viele Mühe haben, an ihrer Stirn hin und her fahren, und ihre welken Begriffs-Tyrannen stürzen möchten mit etwas, was sie suchen, aber nicht finden können. Dann schaffen sie sogar Gott ab, nämlich weil sie ihn nicht verstehen. Es ist doch schwer, Antonie! die Schöpfung – schon gut; aber woher? womit? warum? der Mensch, der Affe, der Polyp, die Sinnenpflanze, das Moor, der Stein, der Crystall, das Wasser, die Luft, der Wind, Nichts und wo ist Gott? oder wollt ihr nicht den Weg des Wassers gehen: so geht den des Feuers! Der Vulkan, das Licht, die Wärme, die Elektricität, der Magnetismus: wie kann Gott in der Volta’schen Säule stecken?“ Hier mußte Wally laut auflachen, bei all ihrem Schmerz und Unglück, über den komischen Conflict der Schulweisheit mit ihrer Melancholie.

Doch dieser Zustand dauert nur so lange, als sie in dem traurigen Badeorte verweilt, von wo sie durch die schauerliche Scene einer Wahnsinnigen vertrieben wird, der sie zufällig beiwohnt, denn in der Residenz nehmen sie die bewegtesten, glänzendsten Zirkel auf; und um den Charakter Wally’s auch von dieser Seite kennen zu lernen, geben wir die kurze, aber anschauliche Skizze ihres Treibens: „Eine Unterhaltung nur ist unerschöpflich, Ein Ziel nur unermüdlich, das ist die Coquetterie. Wally hatte damit alle Hände und Mienen voll zu thun. Künstliche und natürliche Launen waren die Zahlen, mit welchen sie ihre Umgangs-Exempel zusammensetzte. Wally ließ die ganze Welt, wie elastische Figuren, auf dem Resonnanzboden ihrer Einfälle springen. Sie spielte die capricieusen Melodien zu allen diesen Bewegungen, welche sie lachen machten. Was wollte sie auch mehr? Sie wollte nicht einmal den Ruf davon, die Neigungen ihrer Umgebungen so unübertrefflich eskamotiren zu können; sie that alles ohne Stolz, ohne Absicht, ohne Bewußtseyn; sie war bezaubernd! Cäsar war die Balancirstange dieser Equilibres. Er rectificirte wie irgend ein chemisches Natrum, alle die barocken Confusionen, welche Wally anrichtete. Cäsar fiel dabei bald hier bald dorthin in jenem ersten Bilde; in diesem letzten nahm Wally bald größere, bald kleinere Portionen von ihm. Er fehlte aber nie, und diese perspectivische Verschiebung bald zu einer Gunst von einer Linie, bald zu einer von zwei Zollen oder drei, hielt ihn in der Spannung, welche allein Männer zu fesseln im Stande ist. Es ist möglich, daß Cäsar Wally liebte, wenigstens war sie ihm eine Vertraute geworden. Er hätte sie vielleicht einem Andern abtreten können, aber von ihr sich trennen, das konnte er nicht. Und doch! vielleicht! Wir sind Charlatane, wir können Alles!“ Man sieht, der Verfasser läßt seinen Helden practisch die Regel durchführen, welche er aufgestellt hat; er weiß nichts von der dummen und beschränkten Eitelkeit, ein Weib allein besitzen zu wollen. Wally sagt ihm auch in dieser Zeit: „ich werde den spanischen Gesandten heirathen, aber wir sprechen uns noch!“ In dieser Zusammenkunft erbittet Cäsar von Wally, wahrscheinlich um einmal nach jener philosophischen Anforderung, seine Geliebte ohne alle äußerliche conventionelle Umhüllung, bloß als Mensch zu sehen, daß sie sich ihm, wie in Titurel die Sigune dem Tschionatulander in völliger Nacktheit zum vielleicht – ewigen Abschied zeigen möge. Wally verläßt Cäsar ohne Antwort, weshalb dieser höchst entrüstet ist, denn „er hatte das Höchste bewiesen, dessen seine Seele fähig war, die kindlichste Naivität, eine rührende Unschuld in einer Forderung, die empörend war. Sie hat nicht mich, sie hat die Poesie beleidigt. Sie ekelt mich an! rief er aus.“ Doch auch Wally „war sich schon im nächsten Augenblicke, als sie gegangen war, mit ihrer Tugend recht abgeschmackt vorgekommen, und bald fühlte sie, daß das Poetische höher steht, als alle Gesetze der Moral und des Herkommens. Sie bittet deshalb Cäsar in einem Briefe um Verzeihung, und schreibt: ich schäme mich vor Ihnen, daß ich Schaam hatte. Verantworten Sie es einst! Vor Gott! Vor Gott! Aber ich liebe heiß, ewig, unaussprechlich!“

Als nun Wally diese Situation bereitet hat, und dasteht „ganz zerflossen in Schaam, Unschuld und Hingebung, wobei nirgends Rosen, nur eine hohe Lilie, die verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit bedeckt, da umarmt plötzlich der Gesandte, der seine junge Frau suchte, Wally’n; er ahnte nichts. Tiefes Geheimniß.“ Das Ganze ist ein Frevel, aber ein Frevel der Unschuld, setzt Gutzkow hinzu. Wir müssen bei diesen Ausdrücken: Frevel der Unschuld, Schaam über die Schaam, kindliche Naivität bei einer empörenden Forderung, anbetungswürdiger Fluch, daran erinnern, daß hier Gutzkow immer von einer ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit redet; doch die Poesie soll ja alles rechtfertigen; Schade nur, daß wir zwei Seiten vermissen, ohne die Nichts poetisch ist: wahrer, tiefer Inhalt, aufgenommen von einer fühlenden, kräftigen Seele. Die bloße Nacktheit, ohne Gefühl und Seele, möchte wohl schwerlich ein Vernünftiger für Poesie ausgeben.

Das folgende Verhältniß Wally’s zu ihrem Gemahl, so wie dessen Entwickelung ist ganz ohne inneren Grund, wenn man nicht den Leichtsinn Wally’s als Grund für Alles gelten lassen will. Ihr Gemahl Luigi ist ein practischer Egoist, zum Extrem der Bosheit geneigt, schmutzig geizig. Er erregt durch täuschende Vorspiegelungen die Liebe Jeronymo’s, seines Bruders, zu Wally; der, ein excentrischer Schwärmer, dem Wahnsinn sich nähert. Luigi benutzt dies Verhältniß, auf das Wally durchaus nicht eingeht, bloß um seines Bruders Vermögen zu erlangen. Cäsar kommt indeß wieder mit Wally in Paris zusammen, sie lebt jetzt nur für ihn, Jeronymo wird wirklich wahnsinnig, erschießt sich vor Wally’s Fenster, und jene von Entsetzen und Abscheu getrieben, eilt mit Cäsar aus Paris. Auch hier, wie im Badeorte, ist es wieder das Entsetzen, was Wally zum unmittelbaren Handeln auffordert, und die jähe Erschütterung des Augenblicks ist ganz der Wahrheit gemäß, das Einzige, was die leichtsinnig kräuselnden Wellen von Wally’s Wesen auf Momente energisch aufregen kann.

Jetzt folgen Blätter aus Wally’s Tagebuche. Sie ist erst glücklich im Umgange mit Cäsar; doch bald verliebt sich, wie der Verfasser versichert, Cäsar in Delphine, die einen Charakter hat, der ganz dem Cäsar entgegen gesetzt ist. „Delphine ist ganz hingebende Natur, ihre Seelenstimmung muß man musikalisch nennen, und zwar nach jener einseitigen Richtung hin, wo die Musik nur Wollust der Empfindung ist. Alles an Delphine nimmt den Ausdruck der Bittenden, Zarten und Schonenden an. Mit liebenswürdiger Naivität gestand sie mir, schreibt Wally, daß sie Jeden lieben würde, der sie liebt. Delphine liebte mehremal schon unglücklich, aber sie ist so unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten sind so wenig sichtbar in ihrem Benehmen, daß sie dem Manne immer noch als eine kaum erschlossene Blüthe erscheinen muß.“ Man sieht, daß sie, das Letzte nur ausgenommen, einen Charakter hat, wie ihn Cäsar am meisten haßt, der von den jungen Damen nicht Musik, sondern Gedanken will; doch was thut dies? das Entgegengesetzte zieht sich ja so oft an, überdies ist Delphine eine Jüdin, ohne an ihrem Glauben zu hängen, und Cäsar wird mit ihr in Ländern wohnen, wo das französische Recht herrscht, denn dort wird die Ehe zwischen ihm und Delphine eine bürgerliche Verbindung [1104] seyn; und es ist nach Cäsars Meynung die Liebe, nicht der Segen der Kirche, das Sacrament der Ehe; ob auch, wie Cäsar früher verlangte, ein Kind das Daseyn der Liebe ausweisen muß, wird nicht gesagt. Wir bedauern nur Delphinen, wenn sie bei Cäsar auf dem Kirchhofe von Gefühlen nach einer lebenswarmen Bewegung der Seele suchen sollte; denn sie wird bald genug einsehen, daß Cäsar nie fühlen, und deshalb nie lieben kann. Schon ehe sich Cäsar entschieden von Wally, die noch unberührt von einem Manne ist, trennt, kehren deren Gedanken öfter zur Religion zurück, sie scheint das dumpfe Bedürfniß zu empfinden, einen Halt ihres Lebens zu haben, und als sich Cäsar von ihr getrennt hat, bittet sie ihn um seine Ansichten über Religion und Christenthum. Er schickt ihr dieselben; sie enthalten eine flache skeptische Vernichtung des Christenthums in einem Tone, den man auch am Gegner nur einen unwürdigen und empörenden nennen kann; denn an eine Anerkennung der Größe dieser Erscheinung, und an einen damit verbundenen Glauben an die Würde der Menschheit, den über zwölf Jahrhunderte hindurch die begabtesten Völker an diese Religion gehabt haben, ist nicht zu denken. „Jesus,“ heißt es in diesem Aufsatze Cäsars, „kam durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen auf den Glauben, er sey schon von seinen Vorfahren als Befreier der Nation verkündigt worden. Eine kleine Anekdote wurde welthistorisch, und Christenthum heißt eigentlich nur: vage Begriffe über ein gescheitertes historisches Ereigniß wurden von Männern umhergetragen, die dabei betheiligt waren. Das durch den Katholicismus zurückgedrängte Christenthum erstand neu in der Reformation, ohne daß für die Wahrheit, den gesunden Menschenverstand und die Natur-Religion (von der bloß der Name im Buche vorkommt) etwas geschah. Doch jetzt erscheint die Morgenröthe, ach, die blutige! einer neuen Schöpfung. Unser Zeitalter ist politisch, aber nicht gottlos; da sich aber das Christenthum der politischen Emancipation überall in den Weg zu stellen scheint, muß es fallen.“

„Noch sechs Monate hielt Wally ein Leben aus, dessen Stütze ihr genommen war. Sie, die Zweiflerin, die Ungewisse, die Feindin Gottes, war sie nicht frommer, als die, welche sich mit einem nicht verstandenen Glauben beruhigen. Sie hatte die tiefe Ueberzeugung, daß ohne Religion das Leben des Menschen elend ist,“ sie tödtet sich selbst.

Wir können Wally nur bedauern, daß sie geglaubt, ihr sey durch jene Auseinandersetzung über Religion und Christenthum, eine Stütze entzogen, die sie nie besessen hat. Sie ist in der That lange vor ihrem Tode todt, denn ihr ganzes Daseyn war ohne feste Basis, ihre ganze Existenz leer und luftig. Aber man sieht, wie der Verfasser ihren Tod nicht als einen gesetzlichen Sieg des Christenthums über ein Wesen angesehen wissen will, das von ihm abgefallen, sondern es ist nur die Unwahrheit der bestehenden Wirklichkeit, welche sie, die im Besitze der ideellen Wahrheit ist, tödtet. Die Zukunft Cäsars wird unsern Blicken entzogen, doch die Oede und Einsamkeit seines Wesens wird ihm immer gespenstiger vorkommen; der Verfasser meint zwar, Cäsar könne handeln, denn er sey ein starker Charakter geworden, doch wir müssen dies bezweifeln, denn zum Handeln gehört ein innerer Fond, der ausgegeben werden kann; wo aber nur die ausgebrannten Schlacken sind, läßt sich nichts erhandeln und schaffen. Möge er sich nicht selbst verlieren! sey es durch Selbstmord, sey es durch Wahnsinn. Ob er sich einem Bekenntnisse blind in die Arme werfen wird? Wahrhaft retten kann ihn nur ein ernstes, anhaltendes Nachdenken, über ein absolutes Gebiet, über Gott, Wissenschaft, Kunst, oder Geschichte; ob er Muße haben oder Kraft genug in sich dazu finden wird, muß die Zeit lehren.

Eine äußerst glückliche Wahl Gutzkows müssen wir es nennen, daß er, bei dem fast wahnsinnig aufgeregten Zustande seines Gemüthes, wie es wohl klar genug aus der Wally schon hervorgeht, nach einem Stoffe griff, wo er seinen ganzen Grimm fessellos ausschütten konnte. [...]

8. Hermann Marggraff, Blätter für literarische Unterhaltung, 21.-22. November 1835#

H[ermann] Marggraff: Karl Gutzkow. 1. Wally, die Zweiflerin. […] 2. Oeffentliche Charaktere. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Nr. 325, 21. November 1835, S. 1337-1339; Nr. 326, 22. November 1835, S. 1341-1342. (Rasch 14/6.35.11.21)

Die Namen Gutzkow und Menzel sind in der neuesten Zeit Schlachtrufe geworden, wie im Mittelalter der Ruf „Hohenstaufen“ hier und „Welfen“ dort. Die Parteien haben gegenseitig eine kriegerische Stellung angenommen. Durch die Ebenen und Höhen der Literatur ergießt der Stier von Stuttgart ebenso gewaltige Töne wie zur Zeit der Burgunderkriege der Stier von Uri; aber der blonde Mensch von Frankfurt nimmt auch seine Backen voll und stößt ins Horn, und sucht den Stier von Stuttgart zum Schweigen zu bringen. Wir aber sind keine burgundische Hasenherzen und wenden uns nicht zur Flucht; wir stehen auf der Höhe und sehen dem literarischen Bürgerkriege, der im Thale tobt, mit Bedauern, aber auch mit möglichster Ruhe zu. Wenn ich sage „Wir“, so verstehe ich darunter uns Alle, die wir keine Partei nehmen, das kühne Turnier von den Schranken aus betrachten, ohne selbst eine Lanze zu brechen, und an den umherfliegenden Lanzensplittern, den zerhackten Schilden, den klaffenden Wunden und den grimmigen Geberden die Wuth der Kämpfenden ermessen und zugleich bewundern. Unser Herz ist nicht theilnahmlos, nicht unbewegt; aber unser Blick ist ruhig, unser Urtheil weder von dem Talent des Einen bestochen, noch von der enormen Schlagfertigkeit des Andern geschreckt. Wir halten den Streit in der Art, wie er geführt wird, für eine unanständige Klopffechterei, für ein widerliches Symptom unserer desorganisirten literarischen Zustände, für ein Zeugniß faustrechtlicher Ungebundenheit, welche die Talente je länger je mehr gegeneinander treibt und aneinander aufreibt, die Segnungen des literarischen Friedens vernichtet und den überall nothwendigen Oppositionsgeist in eine zügellose Emeutensucht verwandelt.

Und warum hat man diese „Wally“ für so gefährlich ausgeschrien und die Blicke des deutschen Publicums auf dieses Gutzkow’sche Monstrum und offenbare Fehlgeburt wie mit Gewalt geleitet? Warum hat man das Buch dazu gemacht, wozu es durch sich selbst nie geworden wäre, zu einem berühmten? Warum hat man ihm eine Wirkungsfähigkeit angedichtet, die es durchaus nicht hat? Warum hat man es so geflissentlich secirt wie eine interessante Giftpflanze, und vor seinem Genuß so bedenklich gewarnt? Das deutsche Lesepublicum ist in gewisser Hinsicht wie ein Kind: man warne es nur, und es wird um so neugieriger zugreifen. Man hat den verkehrtesten Weg eingeschlagen. Man wollte das Buch in Verruf bringen und brachte es grade dadurch unter die Leute. Nun wird es freilich hin und wieder mit seinen Ansichten Wurzel schlagen und sich festsetzen. Man wird sich von der theilweise bedeutenden Langweile nicht abschrecken lassen, um endlich auf die interessante Unmoralität und die gefährlichen Tendenzen des Buches zu stoßen, und wird noch viel mehr Unmoralität herauslesen als wirklich darin ist. Das Buch ist an sich eine halbausgeglühte Kohle; aber die deutsche Kritik hat darauf geblasen und daran geschürt, bis sie wieder glühend ward und aufschlug in ein lebendig wirkendes Feuer. Aber die Gefahr ist beiweitem nicht so groß, als man glaubt und will.

Ich gestehe ein oder habe schon eingestanden, daß in dieser „Wally“ gefährliche Tendenzen stecken; daß ein irreligiöser Wahn oder vielmehr Unwahn durch das Ganze sich hinzieht, daß hin und wieder die Spuren einer temporairen Geistesverrückung sich bemerkbar machen. Gutzkow wird den Vorwurf der Unmoralität von sich ablehnen und sagen: ich stelle diesen Cäsar nicht als Muster auf; ich halte von dieser Wally nichts; ich lasse sie in ihrem irrsinnigen Treiben untergehen; ich lasse Die, so an ihrem Grabe stehen, nicht die Todte selbst beweinen, sondern nur ihre Jugend – und ich selbst beweine sie nicht; ich schildere hier nur als Romanschreiber und in objectiver unparteiischer Stellung die Verkehrtheiten unserer grundsatz- und glaubenslosen, unserer haltungs- und hoffnungslosen Zeit; diese antichristlichen Geständnisse Cäsar’s sind nicht meine Geständnisse; sie sind einem Antichristen unserer Tage, der ich nicht bin, als Wahr- und Schreckzeichen in den unsaubern Mund gelegt. Aber wer wollte die offenbare Vorliebe, die nach Sättigung strebende Wollust verkennen, womit grade diese antichristlichen Geständnisse ausgearbeitet sind? wer die Bemühung des Verf., eben diesen entsetzlichen Cäsar in eine Art von Heiligen-[1338]schein, freilich in Gutzkow’schem Sinne, und in ein mystisches Dunkel zu wickeln, ihm eine gewisse fatale Würde und Hoheit zu verleihen, mit der er über den Ereignissen des Romans sich hält und die unglückliche Wally seinen verkehrten Ansichten zum Opfer bringt? Es ist wol nicht möglich, in einem längern Aufsatz mit scheinbarer Gründlichkeit, mit einem Aufwande von blendender Sophistik die Wahrheiten der christlichen Religion zu widerlegen, weder am Schlusse noch zum Anfange auch nur eine Andeutung entgegengesetzter Art zu geben – und doch von diesen Wahrheiten innerlich überzeugt zu sein. Und nun der Appendix des Buches, unter dem Titel: „Wahrheit und Wirklichkeit.“ Hier gehen die Ansichten des Verf. auf seinen eignen Namen, nackt und ohne Verhüllung, und doch unklar und unverständlich, weil sie unwahr in sich selbst sind. Es genügt, zwei davon herauszugreifen. Gutzkow sagt: „Es ist leichter, an ein Gedicht als an den Himmel glauben“; er sagt es und lügt. Ich meine, es gibt Deren eine große Zahl, welche an den Himmel glauben und doch kein Gedicht verstehen als höchstens ein geistliches Lied, das den Himmel glauben lehrt. Nicht Alle sind von einer so blonden und doch so ungläubigen Persönlichkeit wie Gutzkow. Und Gutzkow sagt abermals: „Nehmt der Menschheit ein Bein ab, sie wird sich ein neues machen; nehmt ihr, um nur Eines, was unmöglich scheint, zu nennen, z. B. das Christenthum; glaubt ihr, daß sie untergehen wird?“ Gutzkow wendet sich hier, inconsequent genug, an unsern Glauben, er, der vom Glauben überhaupt nichts hält. Das Christenthum mit einem Beine parallel zu stellen, zeugt von einem schlechten Christenthum, einer philiströsen Phantasie, einer unsaubern Symbolisierkunst. Ja! die Menschheit wird fortbestehen, aber man wird ihr das Christenthum nicht nehmen, und die Gutzkow’sche trockene Verstandesreligion hat auf eine Adoption noch keine Aussicht. Der verruchte Cäsar im Roman ist nichts als der Antichrist Gutzkow, der im Appendix seine Verkappung von sich wirft.

So gefährliche Elemente und so giftige Bestandtheile ich dem Romane auch zugestehen muß, so sind sie, wie ich glaube, doch nur für Den vorhanden, der sich vor der Gefahr und dem Gifte fürchtet, oder der seinem ganzen Organismus nach ähnlich bestellt ist wie Gutzkow. Ich kann hier nur wiederholen, was ich bei einer ähnlichen Gelegenheit schon früher zu sagen für gut fand: „Wer den Glauben hat, der verliert ihn nicht so leicht, und wird ihn wenigstens durch einen Roman sich nicht hinwegdisputiren lassen, und wer ihn nicht hat, dem ist er auch nicht zu nehmen.“ Und ich füge hinzu: Wer das Buch versteht, der ist verständig genug, sich nicht übertölpeln zu lassen, und wer es nicht versteht, der ist in seiner Unschuld und Unwissenheit sicher vor jeder Gefahr. Aber es gibt noch andere Gründe, welche für die kaum zweifelhafte Unschädlichkeit des Gutzkow’schen Treibens, womit Mundt’s und Kühne’s Streben nicht verwechselt werden sollte, Zeugniß ablegen, vor Allem seine Unpopularität und seine Unfähigkeit, sich den Ungebildetern einigermaßen, den Gebildetern nur halb verständlich zu machen. Seine geistreichsten Aussprüche stehen immer noch auf der Grenzscheide zwischen Tiefsinn und Wahnsinn. Nur die eine Seite wird vom Licht beschienen, die andere hüllt sich in Nacht. Es fehlt überall nicht allzu viel vom Verstande; aber was ihm davon fehlt, bringt ihn um seinen Verstand. Er berührt den Gedanken nur, er streift über ihn wie ein Vogel der Nacht auf schwarzem Fittig hinweg. Es ist nichts Compactes in ihm, er bietet keine Handhabe; oder die Handhabe bricht, wenn man sie zu stark anrührt, und wenn sie gebrochen ist, so liegt das ganze Gefäß zerschmettert am Boden. Seine Schreibart hat etwas Scheues, furchtsam sich Drückendes, vielleicht eine Folge des bösen Gewissens. Er gibt sich selten ganz, meist nur zum halben oder zum vierten, oder zu gar keinem Teile. Plötzlich tritt er kühn auf, mit einem Donnerschlage; aber wozu vorher das umständliche und unverständliche Brummen und dumpfe Grollen? Gutzkow ist kein Mystiker, und doch hat er die Art und Weise der Mystiker, seine Aussprüche in dunkle Räthsel zu hüllen. Entweder glaubt er so zu imponiren, indem er wie ein Wahrsager räthselhaft aus geheimnißvoller Höhle spricht, oder der Gedanke scheint ihm selbst zu verkehrt und aus der Art schlagend, und er hängt ihm nun einen Mantel um, hinter dem sich wenigstens Mancherlei ahnen läßt, und der Mantel schleppt ihm weit nach und hüllt ihn vollständig ein. Wer weiß zu deuten, was Gutzkow mit dieser räthselhaften „Wally“ eigentlich bezweckt? Wer erklärt die geheimnißvollen Symbole und Mysterien von Wahrheit und Wirklichkeit im Anhang? Was bleibt übrig, wenn wir dies lange Geschwätz in seine einfachsten Bestandteile auflösen? Nichts als die einfache Wahrheit, daß die Wirklichkeit unserm Ideale nie entsprechen wird. Das haben aber Andere vor ihm schon weit klarer und verständlicher gesagt. Auch seine Angriffe auf das Christenthum sind nicht neu. Er kann jedoch fragen: es haben’s schon Viele gesagt in ihrer Sprache, warum nicht auch ich in der meinen? Und darin hat er Recht. Aber es herrscht in diesen Raisonnements neben er derbsten Unwahrheit auch ein offenbarer Mangel an Logik, und darin hat er Unrecht. Während er das Christenthum als ein willkürlich Gemachtes, ja, unter bloßen Zufälligkeiten Herangebildetes betrachtet, radotirt und prahlt er, daß er es vom geschichtlichen Standpunkt aus betrachte. Diesem Christenthume, das er blasphemirend in die Rumpelkammer werfen will, verdankt aber Gutzkow Alles, was noch Gutes an ihm ist. Hat Christus, nach seinem Dafürhalten, nicht eine einzige neue Lehre in die Welt gebracht, so möchte ich wissen, wo bei Gutzkow der gedenkbar kleinste Theil von einer neuen Lehre zu finden ist. Seine Schwatzhaftigkeit hat dieser Apostel einer modernen Heilslehre aus seinem heimischen Berlin, wie seine Eitelkeit, womit er auf sein Geschwätz sich stolzt und brüstet; seine nicht unbedeutenden Kenntnisse hat er überall her, aus allen Weltwinkeln; aber einen festen Grund und Boden hat er nirgend, am wenigsten in der Masse des Volks; hier wird und kann Gutzkow nie gedeihen. Bei dem Volk hat nur der [1339] Gesunde Recht, nicht der Kranke – und Gutzkow ist krank; er leidet an partiellem Wahnsinn wie sein Cäsar, der er selbst ist. Wer aber nicht die Fähigkeit besitzt, sich dem Volke verständlich zu machen, wird immer ein schlechter Reformator sein. In dieser wesentlichsten Eigenschaft eines Agitators und Umwälzers hat sein stuttgarter Feind ein bedeutendes Uebergewicht, der, während Gutzkow in dem unbestimmt Allgemeinen der Luft schwebt und nach Luft schnappt, auf der mütterlichen Erde seine kritischen Glieder dehnt und aus ihr wie der Riese Antäus immer neues Behagen, neue Kraft und neue Streitlust saugt. Ich kenne kaum einen Schriftsteller, der weniger für das Volk schriebe, der sich mehr auf sich und den Kreis seiner literarischen Freunde beschränkte als eben Gutzkow. Zugleich schreckt er die Gebildeten ab durch die Reizlosigkeit der Sprache, wie sie in seiner „Wally“ erscheint, durch die öde Steppennatur seiner Darstellung, die selten in das frische Grün einer üppigen Vegetation übergeht, durch die hohle Schattenhaftigkeit seiner Gestalten, die nur in einzelnen Zügen wahrhaftes Blutleben verkünden; endlich durch die Formlosigkeit seiner Producte, die in dieser „Wally“ als eine wahrhafte Misform sich darstellt. Denn diese „Wally“ hat keine Form, sie ist kein Kunstwerk; sie kann nur durch ihren Inhalt wirken, und ihr Inhalt wirkt nicht, weil er im Volke keine entsprechenden Elemente vorfindet, und ihre Form nicht, weil sie, so viel davon vorhanden ist, dem Geschmack und dem Schönheitssinn widerstrebt. Was keine Verständlichkeit hat, wirkt nicht für die Gegenwart, was keine Form hat, nicht für die Zukunft, der nur das Musterhafte übrigbleibt und gilt. Gutzkow’s Roman könnte nur eine schädliche Wirkung ausüben, da ihm aber Beides abgeht, Verständlichkeit und Form, so wird sein verdächtiger Inhalt weder uns noch unsern Nachkommen irgend Gefahr bringen. „Wally“ ist ein in hohem Grade unpraktisches, unpopulaires und darum gefahrloses Buch. Wir dürfen für unsere Moralität von dieser Seite her unbesorgt sein. Das giftige Gewächs erscheint in so abschreckender misfarbiger Bildung, daß es Den nur zum Genusse verführen kann, dessen Neugierde man durch Verbot und Warnung geflissentlich reizt.

[1341] Gutzkow hat mit dieser „Wally“ eine vierfache Sünde begangen: zunächst gegen das Christenthum, dem er so viel verdankt; sodann gegen sein Talent, das er forcirt, anschraubt und verrenkt; gegen seine Kenntnisse, die er übel anwendet; gegen seinen Styl, den er misbraucht und in ein plebejisches zerrissenes Kleid zwängt. Gutzkow trifft auch in diesem Buche oft das Rechte, die Wahrheit, das Leben in einzelnen feinen Zügen und mit überraschender Anschaulichkeit, wo es gilt, den Hang unserer Zeit zur Blasphemie und zum gemüthlosen Spott zu schildern; aber eine unsichtbare Macht reißt ihn immer wieder hinab in das nächtliche Chaos seiner fixen, den Umsturz alles Autorisirten anstrebenden Ideen. Einzelne Episoden, wie die vom verliebten Tambour und dem Trompeter, sind mindestens von kostbarer Erfindung.

[…] [1342] […]

Diese feine, vornehme Schreibart [in den Öffentlichen Charakteren] – wie sticht der groblinnene Styl in der „Wally“ dagegen ab, und vollends der plumpe, derbfaserne Winkeladvocatenton in der mir soeben zu Händen gekommenen neuesten Broschüre Gutzkow’s! Sie enthält eine Vertheidigung seiner selbst, und was daran hängt, gegen Menzel. Für uns ist nur von Interesse, was Gutzkow in Bezug auf seine „Wally“ sagt. Den Cäsar gibt er selbst auf als einen verlorenen Posten. „Wird man mir zugestehen“, sagt er, „daß Cäsar vor meinen Blicken dasteht, ein Bild der Scham und Zerknirschung?“ Und bald darauf: „Cäsar, ein Mann wie ich, eigensinnig dem Schmerze hingegeben, reif, um in großen Verhältnissen wirken zu können, Wolken umarmend, die Zukunft anbetend!“ Dieser Cäsar ist also wirklich der leibhaftige Gutzkow, der Wolken umarmt und ein goldenes Kalb, eine goldene Zukunft anbetet. Ich habe mich nicht verrechnet. Auch Wally ist eine lebendige Person, eine Freundin des Verfassers, welche einmal vor Verzweiflung aufsprang und von Religion nichts hören wollte. Seitdem hatte der arme Gutzkow keine Ruhe, bis er sich in sein Buch einsargte. In der That, wir bedauern einen Mann, der mit Frauen von solcher Qualität umgeht; wir bedauern eine Frau, welche in die Hände eines solchen Mannes geräth. Wer ist der Verführte, wer der Verführende? Sie verführen sich wechselsweise; sie sind unsers Mitleids nicht werth.

9. R.: Gutzkow’s Wally (Fragment), Abendzeitung, 21. Dezember 1835#

R.: Gutzkow’s Wally (Fragment). In: Abendzeitung. Dresden u. Leipzig. Nr. 304, 21. Dezember 1835, S. 1215. (Rasch 14/6.35.12.21)

Von allen Seiten erheben sich gewichtige Stimmen gegen dieses aberwitzige Erzeugniß eines jungen Schriftstellers, der auf nichts Geringeres auszugehen scheint, als vom Standpunkte des Novellisten und Kritikers das sociale Leben unserer Zeit nach der Philosophie des sogenannten jungen Deutschlands umzugestalten. Allein meines Erachtens fürchtet man zuviel. Einmal wäre es schmachvoll, wenn die deutsche Nation, die sonst ja ihren Beßten so lange kein Gehör gab, bis sie ihrer Unempfindlichkeit sich schämen mußte, heute gleich auf einen jugendlichen Weltstürmer hören wollte, der bisher einen tibetanischen Roman geschrieben, in der allgemeinen Zeitung einige öffentliche Charaktere besprochen und in dem Literaturblatte zum Phönix mit großer Frechheit geehrte und gelehrte Männer um ihren Ruhm zu bringen versucht hat. Dann aber ist das, was am meisten Unwillen erregt – ich meine die Enthüllungsscene der Wally, eben so wenig als das gegen das Christenthum gerichtete Capitel etwas Neues. Beides ist schon einmal da gewesen und in Wahrheit geistreicher gesagt worden. Gutzkow scheint Deutschlands Voltaire werden zu wollen, nun freilich, dazu ist er auf dem rechten Wege. Sein Witz zwar ist noch ziemlich burschikos, auch die Philosophie in der Wally erinnert an Studentensuiten, allein was schadet ihm das? Er hat doch sogleich Anhang gefunden und wird nun unsere Literatur verjüngen. Dazu bedarf es freilich solcher Mittel, wie sie Medea angewendet und daher darf uns nicht befremden, was er in der nächsten Zeit noch zu Tage fördern wird. Ist es übrigens wirklich seine Absicht, seine Ansichten aus der Heidelberger Zeit in sogenannten Kunstwerken niederzulegen, dann empfehlen wir ihm, nur noch ein wenig natürlicher zu werden, z. B. bei einer solchen Scene, wie die ist, welche Wally ihrem Cäsar gibt, mußte derselbe einige Freunde mitbringen und etwa eine Solopartie oder L’hombre spielen, wie es von einigen lebhaften Vertheidigern des jungen Deutschlands, die ehemals in G. studirten, eines Abends daselbst geschah. Gutzkow gibt in seiner Rechtfertigung zu verstehen, er sey der Cäsar aus diesem Romane, aber wozu dieß? Er ist auch Wally und Jeronimo. Seine Subjectivität verleugnet sich nirgends. Man konnte das loben, wenn etwas dahinter wäre; allein ich frage jeden Unbefangenen, was ist eigentlich Tendenz dieses nur fälschlich sogenannten Romans? Will er zeigen, daß auch eine leichtsinnige, flache Dirne zuweilen Anwandlung von Zweifeln hat, wenn sie über ihr erbärmliches Leben hinaus denkt? Nun ja, eine schöne Aufgabe für Novelle und Roman. Freilich wäre dann Wally besser aus einem Freudenhause in die Welt eingeführt worden, wenn dieß nicht gar damit angedeutet werden soll, daß von ihren Verhältnissen im Allgemeinen nichts gesagt wird. Man könnte sie auch wohl für eine durchaus übersättigte Dirne halten, wenn man die so ganz originelle Ehe bedenkt, welche sie schloß und aus der sie Cäsar nur mit Gewalt reißt. Daß Letzterer sich zuletzt an die warme, glühende, noch jugendfrische Jüdin hält, gehört zu den wahrsten Partieen des ganzen Machwerks. – Ich komme zum Schluß. Merkwürdig ist mir diese Wally allerdings. Sie zeigt, zu welchen Verirrungen Schriftsteller fähig sind, die ohne eine neue glückliche Welt- und Lebensansicht zu haben, doch neu seyn wollen und im Voraus auf die Wechsel der Verleger rechnen dürfen. – Nun, diese Dinge alle sind bald überwunden und hoffentlich führt diese Durchgangperiode der deutschen Literatur uns zu einer bessern Zeit, wo wir auch von Gutzkow, Laube, Wienbarg u. A. nichts mehr hören, nichts mehr reden werden. Sic eunt fata hominum.

10. Ludwig Börne, La Balance, März 1836#

[Ludwig Börne:] Wally la sceptique, roman par C. Gutzkow. (Wally die Zweiflerin). In: La Balance. Revue allemande et française. Paris. Vol. 1, März 1836, S. 93-103. (Rasch 14/6.36.03.1) - Die im Original (Druck in Antiqua-Schrift) vorkommenden Textkursivierungen werden hier abweichend von unseren Editionsrichtlinien ausnahmsweise übernommen.

Par une belle matinée d’été, une superbe amazone souabe se promenait à cheval, suivi d’un nombreux cortége d’adorateurs, dans le bois de Boulogne d’une des petites résidences de l’Allemagne. Un jeune homme, qui était venu à pied pour respirer l’air frais de la forêt romantique, vit passer la cavalcade en soupirant d’envie. Au moment où ses yeux rencontrèrent le regard de l’amazone, celle-ci donna un petit coup de cravache à sa haquenée, et laissa tomber en même temps quelque chose de brillant dans l’herbe. Le jeune piéton se baissa pour le ramasser. Un, deux, trois, quatre, cinq: c’étaient cinq anneaux d’or, ni plus, ni moins. La dame s’arrêta, attendant qu’on lui remît ses anneaux; mais le jeune monsieur, qui n’avait pas plus de conscience qu’une pie voleuse, les mit dans sa poche et s’en alla. L’excellent jeune homme était prédestiné par son nom à voler sans être pendu, c’est-à-dire à être un conquérant. Il s’appelait César, la dame se nommait Wally.

[94] Wally imposait à chacun de ses amans, à tour de rôle, le tribut mensuel d’un anneau d’or, et elle avait l’habitude d’enfiler ces anneaux de redevance dans sa cravache. Elle était athée, aimable créature d’ailleurs, et passablement bête. Elle jouait au pharaon, et n’avait point d’enthousiasme pour la nature, point de sentiment pour les fleurs, qu’elle mâchait sans pitié quand il en tombait dans ses mains. Elle disait: „Religion, immortalité, sottise que tout cela! une robe rouge ou une robe bleue? Une coiffure à la Madeleine ou à la Chinoise? Danser, ou jouer des proverbes? voilà la question!“

César, selon l’expression pittoresque de M. Gutzkow, venait d’entrer dans le second tiers de ses vingtaines, ce qui veut dire en termes d’arithmétique vulgaire, qu’il était âgé de 24 ans, ou à peu près. Mais malgré sa jeunesse, César était un homme accompli. Son front était sillonné de rides où l’expérience et la sagesse avaient jeté leurs semences. Sa vie passée était un cimetière peuplé d’illusions mortes. Il n’espérait et ne craignait plus rien, il n’aimait que lui-mème, et ne haïssait que Dieu.

César et Wally ne tardèrent pas à lier connaissance ensemble, mais de la façon qui convenait à des sages comme eux. Ils se moquaient des six lendemains que Voltaire dans sa Pucelle avait eu l’indulgence d’accorder à l’agonie d’une vertu de femme: ils commencèrent leur semaine d’amour par le samedi. A quoi bon, disaient-ils, toutes ces façons, toutes ces ridicules hésitations? Ne sommes-nous pas l’un et l’autre des êtres humains, nés pour le bonheur? ne suis-je pas ton frère, n’es-tu pas ma sœur? La nature ne nous a-t-elle pas accordé les droits sacrés de la chair? Allons donc! mort à la pudeur, et vive le roi des ribauds!

Mais, hélas! que les femmes les plus courageuses sont encore craintives! combien les esprits forts parmi elles sont encore faibles! Wally elle-même, avec toutes ses excellentes [95] qualités, Wally qui jouait au pharaon, qui ne croyait ni en Dieu ni à la vertu, qui se moquait de la pudeur, l’honneur des femmes, était quelquefois obligée de donner des coups de cravache à sa conscience rétive, et sans le secours de César, peut-être n’aurait-elle pas toujours réussi à la faire avancer. Qu’une femme est heureuse, dans une telle situation, d’avoir auprès d’elle un habile écuyer comme César, qui lui enseigne les subtilités du manége et l’art de mettre au grand galop la vertu la plus quinteuse. Nous donnerons un petit échantillon de l’habileté et du savoir faire du Lovelace allemand.

Wally étant sur le point de partir pour un long voyage, César, à la dernière entrevue qu’il eut avec elle, lui demanda un petit souvenir en signe d’estime et d’amitié. Il existe, dit-il, un charmant poème allemand du moyen-âge, le Titurel, dans lequel on raconte une ravissante tradition de Tschiotulander et de Sigune, deux jeunes personnes de différens sexes, qui s’aiment et qui s’adorent réciproquement. Tschiotulander, un certain jour, avant d’aller en guerre, pria Sigune de se déshabiller devant lui, pour le rendre invulnérable. La douce Sigune consentit avec plaisir à servir de Styx à l’Achille sicambre, et Tschiotulander se plongea dans ses charmes, et partit invulnérable. Lui, César, ne trouvant rien de plus délicieux que d’être invulnérable, parceque cela dispense d’être un héros, et étant précisément dans la situation de Tschiotulander, parcequ’il avait le dessein d’aller aux eaux de Schwalbach, où le danger d’être blessé au cœur est imminent, il osa prier mademoiselle de Wally de se mettre toute nue devant lui, pour réjouir ses yeux et approvisionner son imagination pour tout le temps de la longue séparation.

„Wally regarda fixement César pendant un moment; puis elle se leva fièrement, et quitta la chambre sans dire un mot.

La contenance de César manifesta une expression de [96] douleur. En demandant une chose révoltante avec la belle naïveté et l’innocence touchante d’un enfant, il avait révélé toute la sublimité dont son ame était capable; mais la honte qui l’enflamma d’abord, s’éclipsa devant sa fierté, tant César paraissait noble et pur à ses propres yeux.

Elle est sans poésie, elle est niaise, je la hais! s’écria-t-il avec violence, en trépignant de colère. Ce n’est pas moi, c’est la poésie qu’elle a offensé: elle me donne du dégoût. Et il fit le serment de ne jamais remettre le pied dans sa maison.“

Nous voudrions pouvoir féliciter mademoiselle de Wally d’avoir su échapper à la poésie descamisada du naïf, innocent et sublime César; mais, hélas! elle fut bientôt vaincue. „A peine s’était-elle éloignée, qu’elle jugea avoir été bien bête avec sa vertu. Elle sentait que la véritable poésie est irrésistible, et qu’elle a sa place au-dessus de toutes les lois de la morale et de la convention. Elle sentait combien on est petit quand on résiste à la poésie. L’idée d’être inférieure à la poésie, et au fonds moins innocente qu’elle, l’accablait. Elle paraissait méprisable à sa propre conscience, depuis qu’elle devait s’avouer qu’elle n’était pas faite pour la poésie transcendante.

Combien de fois elle avoit rencontré César! Lui, il avoit le regard fier! il avoit une morale supérieure à celle de Wally. Lui, il pouvait lever ses yeux, que l’idéal ennoblissait! Wally n’avait pas le droit d’être fière, c’était son tour d’éprouver de la honte: elle craignait César. Toute sa vertu lui paraissait mesquine, depuis qu’elle avait déclaré que la vertu ne pouvait subsister qu’habillée, qu’elle ne pouvait pas être nue. Elle avait perdu aux yeux de César ses charmes poétiques.“

Wally, mue par un touchant repentir et par une vraie et sincère contrition, résolut de réparer sa faute, de demander pardon de son offense envers la poésie, et de se débarrasser [97] de sa chemise prosaïque. Elle écrivit donc à César le charmant billet que voici.

„Je vous ai offensé, César. Demain soir à dix heures, venez à l’hôtel de l’ambassadeur de Sardaigne. Vous serez conduit par ma femme de chambre à un lieu que vous ne devrez pas quitter. Jurez-moi de ne pas vous avancer au-delà du rideau que vous aurez la bonté de tirer à dix heures dix minutes! César, jurez-le-moi. Je suis honteuse d’avoir eu de la honte.“

César ne manqua pas au rendez-vous. Le jour des noces de l’ambassadeur de Sardaigne, il se rendit à l’hôtel du diplomate, et à dix heures dix minutes précises, il tira le rideau et eut le bonheur de voir la vertu de Wally sans vilain accoutrement. Le moderne Tschiotulander s’en retourna tout chancelant d’ivresse. Survint alors l’ambassadeur de Sardaigne qui embrassa sa jeune femme sans lui chiffonner le moindre petit ruban: le bonhomme qui n’avait jamais entendu parler du Titurel, ne soupçonna rien du tout. Le secret fut gardé.

Wally après avoir vécu selon la loi de la chair, et assommé d’ennui ses lecteurs, se rend justice à elle-même, en terminant sa vie par un suicide. Ce serait un très-grand bonheur, si le vice n’était jamais plus aimable, ni l’incrédulité jamais plus spirituelle qu’ils ne se manifestent dans les paroles et les opinions de Wally et de César. Cet ennuyeux roman aurait suffi pour changer Voltaire en dévot, et toutes les femmes galantes de l’ancien régime en prudes. A l’exception des critiques qui, comme les vautours et les corbeaux, s’attachent à la charogne, la lecture de Wally dégoûtera tout le monde.

Nous aurions honte d’entrer avec César dans une sérieuse discussion sur ses opinions morales et religieuses. Il est incrédule par forfanterie, et vicieux pour singer les mœurs du grand monde; des miettes tombées de la nappe de Voltaire [98] il s’est composé une petite doctrine du plus mauvais goût; il croit être philosophe, il n’est que ridicule.

Et voilà ce fameux roman qui a servi d’attentat Fieschi à la diète de Francfort, qui lui a fourni un prétexte pour faire exécuter contre la presse des mesures préparées de longue main! Mais ne croyez pas qu’on se soit contenté de singer les lois d’intimidation: la sérénissime diète rougirait de honte, si elle se voyait contester l’originalité’ en matière de despotisme brutal! Elle s’est moquée de ces lois d’intimidation françaises, qu’elle regarde d’un air de pitié comme des lois d’encouragement: elle n’a pas voulu les imiter, mais les rendre ridicules, en montrant combien leurs auteurs ont eu l’esprit pauvre et étroit, et combien ils sont inférieurs aux législateurs de Francfort, qui seuls vis-à-vis du peuple ont cette audace et cette insolence qui caractérisent toul véritable homme d’état.

En France, où la prise de la Bastille et la Marseillaise ont rendu un peu lourde l’intelligence de tout le monde sur de pareilles matières, on aura peine à comprendre à quelles nouvelles persécutions la presse pourrait être exposée dans un pays comme l’Allemagne, où la censure a toujours frappé aussi bien la littérature que la politique, les livres que les journaux. Vous ne sauriez jamais concilier la responsabilité d’un auteur avec la censure préalable de son ouvrage. Ne vous creusez pas le cerveau pour pénétrer cette subtilité de la jurisprudence teutonique: le quartier latin en masse y perdrait son latin. Je me rappelle que moi-même, il y a déjà bien des années, j’ai été condamné à une amende pour un article de journal qui avait été censuré, et qu’on ne s’était avisé de trouver répréhensible que six semaines après sa publication. Comme, en égard à ces circonstances, je déclinais ma responsabilité, on me dit que j’étais doublement coupable: d’abord, pour l’inconvenance de l’article incriminé, [99] ensuite pour avoir induit en tentation l’innocent censeur. Ce mot n’est-il pas joli?

Le cas de l’auteur de Wally était précisément le même. L’ouvrage avait paru avec autorisation de la censure, et il était publié depuis plusieurs mois, lorsque, sur un cri de détresse poussé par M. Menzel, qui vit dans ce roman un terrible remorqueur, capable de faire avancer la révolution française contre vent et marée vers la forêt Noire, le gouvernement du roi de Bavière, ce duc de Modène de l’Allemagne, prit l’alarme et s’adressa à la sagesse et à la vigueur de la diète de Francfort. Celle-ci démasqua aussitôt une de ses batteries législatives réserve, et fit jouer le gros canon pour tuer la pauvre petite Wally et son amant le naïf Tschiotulander. M. Gutzkow, après avoir été arrêté provisoirement, fut condamné à un emprisonnement de trois mois, et son roman fut saisi. Mais la diète ne se contenta pas de cette justice vulgaire. Tous les autres ouvrages de l’auteur de Wally, tant ceux déjà publiés que ceux qu’il pourrait avoir le dessein de publier un jour, ses œuvres posthumes probablement sous-entendues, ont été défendus pour l’éternité. Ces mêmes mesures ont été appliquées à quatre ou cinq autres écrivains, auxquels antérieurement on n’avait jamais pensé à reprocher quelque chose, et dont tous les ouvrages, publiés depuis plusieurs années, avaient paru avec autorisation de le censure. De cette manière, la diète de Francfort a fait de la condition d’écrivain un droit civil et politique, et enrichi le code pénal de la décapitation littéraire. Pends-toi, Figaro, tu n’as pas deviné celui-là!

En vérité, tout étranger, à quelque opinion politique qu’il soit attaché, doit être étonné de cette affaire. Personne ne comprendra comment, aux dix-neuvième siècle, un despotisme aussi ridicule que sauvage ail osé se présenter avec tant d’effronterie en face de la France, de l’Angleterre, de la Suisse et de la Belgique. On se demandera si la diète de [100] Francfort, en refusant aux Allemands la liberté de la presse, même la plus modérée, a voulu leur rappeler par là que ces peuples n’ont pu jouir de la Iiberté de la presse qu’après avoir fait une révolution et chassé leurs rois. On se demandera si la sérénissime diète a perdu la raison. A cela nous répondrons que la passion n’a pas de raison, et qu’entre toutes les passions la peur est la plus déraisonnable. Les héroïques princes de la conféderation Germanique ont tremblé pendant trois ans de la frayeur que leur avait inspirée la colère du peuple français, laquelle cependant n’a duré que trois jours. Depuis que la France ne gronde plus, ils se sont remis de leur frayeur et ont pris leur revanche. Les lâches sont toujours les plus cruels à se venger. Apres la révolution de 1830, il y avait telle cour en Allemagne où l’on s’attendait à toute heure à une insurrection populaire, et où l’on avait fait tous les préparatifs nécessaires pour une émigration éventuelle. Les effets précieux furent emballés pour être transportés hors du pays; les équipages de voyage étaient prêts; d’augustes personnages s’étaient munis à tout événement de passeports sous des noms empruntés: on était jour et nuit sur le qui vive. S’il arrivait en ce temps que des ivrognes fissent un bruit nocturne dans la rue, le souverain et ses conseillers pâlissaient, son épouse et les chambellans tombaient en défaillance, et les princesses se mettaient à pleurer. Ils croyaient que la révolution venait d’éclater et que les piques et les bonnets rouges ne tarderaient pas à se montrer. Ce n’est qu’après la chute de la Pologne que la terreur de ces cours s’apaisa, et depuis lors la diète de Francfort s’épuise en galanteries législatives et pénales, punissant les malencontreux bourgeois de n’avoir fait qu’effrayer les belles princesses et leurs beaux chambellans.

Le reproche qu’on a fait à M. Gutzkow et aux autres écrivains compris sous le nom de la jeune Allemagne, de miner la foi chrétienne et de corrompre les mœurs, n’est qu’un pré-[101]texte et une hypocrisie. Les hommes d’état influens de la confédération Germanique sont juifs de cœur; ils n’ont d’autre Dieu que l’or, et d’autre maître que le roi Salomon: ils se moquent du christianisme. Ils seraient trop heureux de voir les mœurs de la jeunesse se relâcher; la corruption des mœurs serait un gage précieux en faveur de cette servilité qu’on s’efforce de conserver et de perpétuer dans le peuple; elle contribuerait efficacement à propager et établir la religion d’état de l’Autriche, la police secrète, parmi ce grand nombre d’Allemands qui, jusqu’à ce jour, sont encore païens et ne croyent pas à la sainteté des révélations. Mais il ne s’agit ici ni de religion ni de morale; si ce n’était que cela, la censure eût suffi pour supprimer des doctrines dangereuses ou prétendues dangereuses. Les persécutions exercées contre les écrivains de la jeune Allemagne ont un tout autre motif. Il importe à la diète de Francfort de frapper ce qu’aucun censeur du monde n’a jamais pu atteindre: l’esprit. Les auteurs mis en interdit ont de l’esprit, et surtout ils ont un beau style: voilà tout leur crime. Cette explication doit paraître bien ridicule aux étrangers; mais pour les Allemands qui connaissent l’allure de leurs gouvernements, le ridicule de cette explication est une raison de plus pour l’accepter. Voyons ce que c’est.

Au seizième siècle, Luther avait fait pour les princes allemands ce qu’un siècle plus tard le cardinal Richelieu fit pour les rois de France. L’un et l’autre ont été dans leur pays les fondateurs du pouvoir monarchique, en détruisant le contre-poids que le clergé en Allemagne, la noblesse en France, avaient opposé à l’absolutisme des souverains. Richelieu vainquit la noblesse par les supplices et les cachots; Luther vainquit le clergé par la science et la philosophie. Depuis ce temps, l’instruction en Allemagne a été un puissant instrument de gouvernement, et elle a rendu beaucoup plus de services aux princes protestants, que l’igno-[102]rance n’en rendait aux princes catholiques. Il n’y a rien de plus curieux que la véritable rivalité d’artiste qui a toujours existé entre l’Autriche et la Prusse, sur la supériorié de leurs moyens de gouvernement respectif. La Prusse, à la tête du protestantisme, défendait l’excellence de l’instruction; l’Autriche, à la tête du catholicisme, celle de l’ignorance; mais l’une et l’autre avaient le même but: le despotisme. Dans les pays protestants, la science était la seconde force armée: on la mettait en garnison dans les places fortes, appelées universités. Les professeurs étaient les officiers, les étudians les soldats. L’instruction n’avait d’autre but que de former des serviteurs d’états, comme en Allemagne on appelle par politesse les serviteurs des princes.

Antérieurement à Luther, tous les livres étaient écrits en latin; depuis lui, les auteurs commencèrent à se servir de la langue vulgaire, ce qui favorisait grandement les desseins despotiques des princes, en rétrécissant de plus en plus la science et la littérature dans la classe des savans, et en empêchant ainsi leur propagation. Si les auteurs eussent continué d’écrire en latin, il se serait rencontré avec les temps des amis du peuple, qui auraient traduit à son usage les livres latins; mais les professeurs écrivant en allemand, c’est-à-dire en un allemand officiel et détestable, aussi inintelligible que l’hébreu, et que personne ne s’avisait jamais de traduire de l’allemand en allemand, la lecture et l’instruction demeurèrent toujours éloignées du peuple, et les gouvernemens n’eurent plus aucune inquiétude sur la durée de leur omnipotence. garantie par le désarmement général de l’intelligence populaire.

Nous arrivons. De nos jours enfin, des écrivains d’esprit et de cœur, ceux de la jeune Allemagne, s’avisèrent de répandre la science, la philosophie, la morale, la politique, en les traduisant de l’allemand des savans dans l’allemand de tout le monde. Les gouvernemens protestans s’en sont [103] épouvantés; à mesure que l’instruction se propage, ils perdent leur plus puissant instrument de despotisme et en même temps leur prédominence sur les états catholiques, et ils sentent qu’il est trop tard alors de remplacer l’instruction par l’ignorance. La Prusse n’a plus de contre-poids à opposer à la puissance de l’Autriche, que l’ignorance de ses peuples rend formidable, et celle-ci triomphe.

La persécution qu’on exerce envers les auteurs de la jeune Allemagne, a encore un antre motif. Jusqu’aux derniers temps, la littérature périodique, en Allemagne, a été, à peu d’exceptions près, dans les mains des écrivains du dernier ordre. Les auteurs distingués, les véritables savans, dédaignaient de prendre part à la littérature périodique, comme autrefois la noblesse croyait déroger en embrassant l’industrie. Les écrivains de la jeune Allemagne avaient fondé quelques journaux littéraires estimés, et ils avaient le dessein d’en former encore d’autres. Plusieurs professeurs distingués de la Prusse s’étaient laissé séduire par l’esprit de ces jeunes écrivains, au point de s’attacher comme collaborateurs à leurs journaux. Le gouvernement prussien s’est effrayé de cette nouveauté, comme d’un commencement de morcellement des biens-fonds de la science. Voilà pour quelle raison M. Gutzkow et ses complices en beau style, ont été punis de la mort littéraire; je devrais dire, voilà justement ce qui fait que votre fille est muette; car, en vérité, je désespère d’avoir clairement expliqué aux Français le galimatias politique et littéraire de la sérénissime diète de Francfort.

Übersetzung ins Deutsche:#

Ludwig Börne: Wally, die Zweiflerin. Roman von K. Gutzkow. (Aus der Balance, März 1836.) In: L[udwig] Börne: Französische Schriften und Nachtrag. [Übersetzt u. hrsg. von Emil Weller.] Leipzig: Kori, 1847. S. 144-156. (Gesammelte Schriften von Ludwig Börne. Siebzehnter Theil.)

An einem schönen Sommermorgen ritt eine stolze schwäbische Amazone, mit einem zahlreichen Gefolge von Anbetern in dem Lusthölzchen einer kleinen deutschen Residenz spazieren. Ein junger Mann, der zu Fuß durch das romantische Wäldchen ging, um frische Luft zu schöpfen, sah mit neidischen Seufzern den Zug vorübersprengen. In dem Augenblick, wo seine Augen dem Blicke der Amazone begegneten, versetzte diese ihrem Zelter einen kleinen Hieb und ließ zu gleicher Zeit etwas Glänzendes in das Gras herunterfallen. Der junge Wanderer bückte sich und hob es auf. Eins, zwei, drei, vier, fünf: fünf goldne Ringe waren es, nicht mehr und nicht weniger. Die Dame hielt an, in der Erwartung, daß man ihr die Ringe zurückgeben werde; doch der junge Herr, der nicht mehr Gewissen hatte als eine diebische Elster, steckte sie in die Tasche und ging weiter. Der ausgezeichnete junge Mann war durch seinen Namen dazu bestimmt, zu stehlen, ohne gehenkt zu werden, d. h. zum Eroberer. Er hieß Cäsar, die Dame Wally.

[145] Wally legte jedem ihrer Liebhaber der Reihe nach den monatlichen Tribut eines goldnen Ringes auf, und sie hatte die Gewohnheit, diese Zinsringe an ihre Reitgerte anzureihen. Sie war Atheistin, übrigens ein liebenswürdiges Geschöpf und erträglich geistlos. Sie spielte Pharo und hatte keine Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur, kein Gefühl für die Blumen, die sie unbarmherzig zerpflückte, wenn sie ihr in die Hände fielen: Sie sagte: Was Religion! Was Weltschöpfung! Was Unsterblichkeit! Roth oder blau zum Kleide, das ist die Frage. Obs besser ist, die Haare zu tragen à la Madelaine, oder sie zusammenzukämmen zu chinesischem Schopfe?

Cäsar war nach dem malerischen Ausdruck des Herrn Gutzkow in das zweite Drittel seiner Zwanziger getreten, was nach gewöhnlicher arithmetischer Rechnungsweise soviel bedeutet, daß er 24 Jahr alt war, oder doch ziemlich so alt. Aber trotz seiner Jugend war Cäsar ein vollendeter Mann. Seine Stirn war von Runzeln gefurcht, worin Erfahrung und Weisheit ihren Samen ausgestreut. Sein vergangenes Leben war ein mit todten Phantasiegebilden bevölkerter Kirchhof. Er hoffte und fürchtete nichts mehr, er liebte nur sich selbst und haßte nur Gott.

Cäsar und Wally versäumten nicht Bekanntschaft mit einander zu machen, aber auf eine Art, wie sie sich für so Weise schickte. Sie setzten sich über die sechs Tage hinweg, die Voltaire in seiner Pucelle so nachsichtsvoll dem letzten Kampf weiblicher Tugend zugestanden: sie begannen ihre Liebeswoche mit Sonnabend. Wozu, sagten sie, all diese Umstände, all dies lächerliche Zaudern? Sind wir nicht alle mit einander menschliche für das Glück geborne Wesen? bin ich nicht dein Bruder, bist du nicht meine Schwester? Hat uns die Natur nicht die heiligen Rechte [146] des Fleisches verliehen? Wohlan denn! Tod der Scham, es lebe der König der Wüstlinge!

Aber ach! wie furchtsam sind noch die muthigsten Frauen! wie schwach sind noch die starken Geister unter ihnen! Wally selbst mit all ihren trefflichen Eigenschaften, Wally, die Pharo spielte, die weder an Gott noch an Tugend glaubte, die über die Scham, die Ehre der Frauen spöttisch lächelte, sah sich einige Mal genöthigt, ihrem störrigen Gewissen Gertenhiebe zu geben, und ohne Cäsars Hülfe wäre es ihr vielleicht nicht gelungen es in Trab zu setzen. Wie glücklich ist ein Weib in solcher Lage, daß sie einen so gewandten Stallmeister wie Cäsar hat, der ihr die Feinheiten des Reitens und die Kunst lehrt, die eigensinnigste Tugend in Galopp zu bringen. Wir wollen von der Gewandtheit und dem Verfahren des deutschen Lovelace ein Pröbchen mittheilen.

Wally stand im Begriff eine längere Reise zu unternehmen, als Cäsar bei der letzten Zusammenkunft, die er mit ihr hatte, sie um ein kleines Andenken als Zeichen ihrer Achtung und Freundschaft bat. Da gibt es, sagte er, ein reizendes Gedicht des deutschen Mittelalters, den Titurel, in welchem eine bezaubernde Sage erzählt wird, von Tschiotulander und Siguna, zwei jungen Leuten verschiedenen Geschlechts, die sich einander lieben und anbeten. Tschiotulander bat eines Tages, bevor er in den Krieg zog, Siguna, sich vor ihm zu entkleiden, um ihn unverwundbar zu machen. Die sanfte Siguna willigte ohne Widerstreben ein, dem sicambrischen Achilles als Styx zu dienen, und Tschiotulander versenkte sich in ihre Reize und ging unverwundbar von dannen. Da nun Cäsar nichts köstlicher fand, als unverwundbar zu sein, weil man so kein Held zu sein braucht, und genau in derselben Lage war wie Tschiotulander, weil er in das Bad von Schwalbach reisen wollte, wo [147] die Gefahr, im Herzen verwundet zu werden, sehr nahe liegt, so wagte er Fräulein Wally zu bitten, daß sie sich ihm ganz nackt zeige, um seine Augen zu erfreuen und seine Phantasie für die ganze Zeit der langen Trennung mit Vorrath zu versehen.

„Wally betrachtete Cäsar einen Augenblick. Dann erhob sie sich stolz und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer. An ihre Rückkehr war nicht zu denken.

Cäsars Antlitz zeigte einen schmerzhaften Ausdruck. Er hatte das Höchste bewiesen, dessen seine Seele fähig war, die kindlichste Naivetät, eine rührende Unschuld in einer Forderung, die empörend war; aber die Scham, die erst in ihm aufglühte, verschwand vor seinem Stolze, so edel und rein erschien er sich.

Sie ist ohne Poesie, sie ist albern, ich hasse sie, stieß er heftig heraus, trat zornig mit dem Fuße auf, sie hat nicht mich, sie hat die Poesie beleidigt. Sie ekelt mich an. Er schwur ihr Hotel niemals wieder zu betreten.“

Wir möchten Fräulein Wally Glück wünschen, daß sie der Descamisada-Poesie des naiven, unschuldigen, hochherzigen Cäsar zu entfliehen wußte; aber ach, sie wurde bald besiegt.

Kaum hatte sie sich entfernt, als sie sich mit ihrer Tugend recht albern vorkam. „Sie fühlte, daß das wahrhaft Poetische unwiderstehlich ist, daß das Poetische höher steht, als alle Gesetze der Moral und des Herkommens. Sie fühlte auch, wie klein man ist, wenn man der Poesie sich widersetzt. Ach das quälte sie untergeordnet zu sein und weniger unschuldig im Grunde, als die Poesie die Menschen braucht und schildert. Sie erschien sich selber verächtlich, seit sie sich gestehen mußte, daß sie nicht für die höhere Poesie geschaffen war. Wie oft war sie Cäsar’n begegnet! Er blickte [148] stolz! Er hatte eine Moral, die über der ihren war! Er konnte das Auge erheben, das Ideale hub es in ihm! Wally konnte nicht stolz sein. An ihr schien die Reihe der Scham zu sein. Sie fürchtete sich vor Cäsar. Ihre ganze Tugend war armselig, seitdem sie ihm gleichsam gesagt hatte, die Tugend könne nur in Verhüllung bestehen, die Tugend könne nicht nackt sein. Cäsar hatte an ihr den poetischen Reiz verloren.“

Wally von rührender Reue und wahrer aufrichtiger Herzenszerknirschung bewegt, entschloß sich ihren Fehler wieder gut zu machen, wegen ihres Verstoßes gegen die Poesie um Verzeihung zu bitten und sich ihres prosaischen Hemdes zu entledigen. Sie schrieb daher an Cäsar folgendes reizende Billet:

„Ich habe Sie beleidigt, Cäsar. Morgen um zehn Uhr Abends besuchen Sie das Hotel des sardinischen Gesandten. Sie werden von meiner Zofe, die Sie dort erwartet, an einen Ort geführt werden, den sie nicht verlassen dürfen. Schwören Sie mir, hinter dem Vorhang, den Sie zehn Minuten nach Zehn gütigst zurückziehen wollen, nicht hervorzutreten! Cäsar, schwören Sie mir! Ich schäme mich vor Ihnen, daß ich Scham hatte.“

Cäsar verfehlte nicht sich einzustellen. Um Tage der Hochzeit des sardinischen Gesandten begab er sich in das Hotel des Diplomaten, und gerade um 10 Uhr 10 Minuten zog er den Vorhang und hatte das Glück Wally’s Tugend ohne den schlechten Aufputz zu erblicken. Der moderne Tschiotulander wankte ganz trunken von Begeisterung nach Hause. Hierauf kam der sardinische Gesandte, der sein junges Weib umarmte, ohne ihr das kleinste Bändchen zu zerknittern: der gute Mann, der von Titurel nie etwas gehört, hatte von Allem keine Ahnung. Man bewahrte das Geheimniß.

[149] Nachdem Wally nach den Gesetzen des Fleisches gelebt und ihre Leser mit Langeweile fast todtgequält, läßt sie sich selbst Gerechtigkeit widerfahren, indem sie ihr Leben mit einem Selbstmord beschließt. Es wäre ein großes Glück, wenn das Laster nie liebenswürdiger und der Unglaube nie geistreicher wäre, als sie sich in Wally’s und Cäsar’s Worten und Meinungen offenbaren. Dieser langweilige Roman hätte genügt, um Voltaire fromm und alle galanten Frauen des ancien régime zu Spröden zu machen. Mit Ausnahme der Kritiker, welche wie Geier und Raben über das Aas herfallen, wird Wally Jedermann Ekel verursachen.

Wir würden uns schämen uns mit Cäsar in ein ernstes Gespräch über seine moralisch-religiösen Ansichten einzulassen. Er ist ungläubig aus Windbeutelei und lasterhaft um die Sitten der großen Welt nachzuäffen; aus Brosamen, die von Voltaire’s Tafel gefallen, hat er sich eine kleine Lehre vom schlechtesten Geschmack zusammengemengt; er glaubt Philosoph zu sein, er ist nur lächerlich.

Und das ist der berüchtigte Roman, der dem Frankfurter Bundestag als Fieschi-Attentat gedient, der ihm einen Vorwand lieferte, gegen die Presse längst vorbreitete Maßregeln auszuführen! Aber glaubt nicht, daß man sich begnügt hat, die Einschüchterungsgesetze nachzuäffen: der durchlauchtigste Bundestag würde vor Scham erröthen, wenn er seine Originalität in Betreff des rohen Despotismus bestritten sähe! Er hat sich über die französischen Einschüchterungsgesetze hinweggesetzt, die er mitleidig als Aufregungsgesetze betrachtet; er hat sie nicht nachahmen, sondern lächerlich machen wollen, indem er zeigte, wie armen und beschränkten Geistes die Urheber derselben seien und wie sehr sie den Frankfurter Gesetzgebern nachständen, welche allein [150] dem Volke gegenüber jene Kühnheit und Rücksichtslosigkeit besitzen, die den wahren Staatsmann bezeichnen.

In Frankreich, wo der Bastillensturm und die Marseillaise die Menschheit etwas schwerfälliger zum Verständniß solcher Dinge gemacht hat, wird man kaum begreifen, welchen neuen Verfolgungen die Presse in einem Lande wie Deutschland, wo die Censur stets ebenso die Literatur wie die Politik, ebenso die Bücher wie die Journale betroffen, ausgesetzt sein könne. Ihr könnt nie die Verantwortlichkeit eines Verfassers mit der vorhergehenden Censur seines Werkes vereinigen. Zerbrecht Euch den Kopf nicht, um in diese Feinheit teutonischer Rechtsgelehrsamkeit einzubringen: das Quartier latin zusammen würde sein Latein daran verlieren. Ich erinnere mich, daß ich selbst schon vor mehreren Jahren zu einer Geldbuße wegen eines censirten Journalartikels verurtheilt wurde, den man erst sechs Wochen nach seinem Erscheinen strafbar gefunden. Als ich in Betracht dieser Umstände der Verantwortlichkeit zu entgehen suchte, so erwiderte man mir, ich sei doppelt strafbar: erstens wegen der Unangemessenheit des beschuldigten Artikels, und dann noch weil ich den unschuldigen Censor in Versuchung geführt. Ist der Ausdruck nicht allerliebst?

Der Fall mit dem Verfasser der Wally war genau derselbe. Das Werk war mit Bewilligung der Censur erschienen und seit mehreren Monaten im Buchhandel, als auf einen von Herrn Menzel ausgestoßenen Angstschrei, der in diesem Roman einen furchtbaren Brander erblickte, welcher die französische Revolution durch Ebbe und Fluth nach dem Schwarzwald bugsirte, die Regierung des Königs von Baiern, dieses Modeneserherzogs Deutschlands, in Aufruhr gerieth und sich an die Weisheit und Gewalt des Frankfurter Bundestags wandte. Dieser demaskirte alsbald eine [151] seiner gesetzgeberischen Reserve-Batterien und ließ das grobe Geschütz auf die arme kleine Wally und ihren Liebsten, den naiven Tschiotulander, spielen. Herr Gutzkow wurde nach provisorischer Haft zu drei Monaten Gefängniß verurtheilt und sein Roman confiscirt. Doch der Bundestag begnügte sich nicht mit dieser gewöhnlichen Justiz. Alle andern Werke des Verfassers der Wally, sowol die schon veröffentlichten als die, welche er einst zu veröffentlichen die Absicht haben könnte, worunter wahrscheinlich sein Nachlaß mitbegriffen, sind auf ewige Zeit verboten worden. Dieselben Maßregeln wurden auf vier oder fünf andere Schriftsteller ausgedehnt, denen man vorher nie einen Vorwurf zu machen gedacht hatte, und deren seit mehreren Jahren veröffentlichte Werke mit Bewilligung der Censur erschienen waren. Auf diese Weise hat der Frankfurter Bundestag für den Schriftstellerstand ein bürgerlich-politisches Recht fabrizirt und das Strafgesetzbuch mit der literarischen Hinrichtung bereichert. Hänge Dich, Figaro, daran hast du nicht gedacht!

In der That muß jeder Fremde, welcher politischen Ansicht er auch huldigt, über diese Geschichte erstaunt sein. Niemand begreift, wie im neunzehnten Jahrhundert ein eben so lächerlicher als roher Despotismus sich mit dieser Stirn vor Frankreich, England, der Schweiz und Belgien hinzustellen wagt. Man wird fragen, ob der Frankfurter Bundestag, indem er den Deutschen selbst die gemäßigste Preßfreiheit verweigert, sie hat erinnern wollen, daß diese Völker die Preßfreiheit nicht eher genießen können, als bis sie eine Revolution gemacht und ihre Könige verjagt haben. Man wird fragen, ob der durchlauchtigste Bundestag den Verstand verloren. Hierauf erwidern wir, die Leidenschaft hat keine Vernunft, unter allen Leidenschaften ist die Furcht die unvernünftigste. Die heldenmüthigen Fürsten des deutschen [152] Bundes haben drei Jahre lang an dem Schrecken krank gelegen, den ihnen der Zorn des französischen Volkes einflößte, der doch nur drei Tage gedauert. Seit Frankreich nicht mehr grollt, haben sie sich von ihrem Schrecken erholt und das Vergeltungsrecht geübt. Die Feigen sind stets in der Rache am grausamsten. Nach der Revolution von 1830 gab es einen Hof in Deutschland, wo man jede Stunde einen Volksaufstand befürchtete und wo man alle nöthigen Vorbereitungen zu sofortiger Flucht getroffen hatte. Die werthvollen Sachen waren eingepackt zum Transport außer Landes; die Reisekutschen standen bereit; hohe Personen hatten sich auf alle Fälle mit Pässen auf falsche Namen versehen: man war Tag und Nacht auf seinem Posten. Geschah es zu jener Zeit, daß Betrunkene des Nachts auf der Straße Lärm machten, so erzitterten der Fürst und seine Räthe, seine Gemahlin und ihre Kammerherren fielen in Ohnmacht, und die Prinzessinnen fingen an zu weinen. Sie glaubten, die Revolution sei im Anrücken, und Piken und rothe Mützen würden bald zum Vorschein kommen. Erst nach Polens Fall legte sich der Schrecken dieser Höfe, und seitdem erschöpft sich der Frankfurter Bundestag in gesetzgeberischen und strafrechtlichen Galanterieen, indem er die unglücklichen Bürger dafür bestraft, daß sie die schönen Prinzessinnen und ihre zierlichen Kammerherren in Schrecken versetzt haben.

Der Vorwurf, den man Herrn Gutzkow und den übrigen unter dem Namen des jungen Deutschlands begriffenen Schriftstellern macht, daß sie den christlichen Glauben untergraben und die Sitten verderben, ist nur ein Vorwand und eine Maske. Die einflußreichen Staatsmänner des deutschen Bundes sind im Herzen Juden; sie haben keinen andern Gott als das Gold und keinen andern Herrn [153] als den König Salomo: sie machen sich über das Christenthum lustig. Sie wären alle froh, wenn sie die Sitten der Jugend verweichlicht sähen; die Sittenverderbniß wäre ihnen ein kostbares Unterpfand für jene Dienstbeflissenheit, die man im Volke zu bewahren und zu verewigen strebt; sie würde die Staatsreligion Oestreichs, die geheime Polizei, unter jener großen Anzahl Deutscher, welche bis auf den heutigen Tag noch Heiden sind und nicht an die Heiligkeit der Offenbarungen glauben, verbreiten und befestigen. Es handelt sich hier aber weder um Religion noch um Moral; wäre es nur dies, so hätte die Censur hingereicht, um gefährliche oder angeblich gefährliche Lehren zu unterdrücken. Die Verfolgungen gegen die Schriftsteller des jungen Deutschlands haben einen ganz andern Grund. Es liegt dem Frankfurter Bundestag daran das zu erdrücken was kein Censor in der Welt je vernichten konnte: den Geist. Die mit dem Bann belegten Schriftsteller haben Geist und vor Allem einen schönen Stil: das ist ihr ganzes Verbrechen. Diese Erklärung muß den Ausländern sehr lächerlich vorkommen; aber für die Deutschen, welche die Manier ihrer Regierungen kennen, ist das Lächerliche ihrer Erklärung ein Grund mehr, um sie anzunehmen. Sehen wir zu, was dran ist.

Im sechzehnten Jahrhundert hatte Luther für die deutschen Fürsten gethan, was 100 Jahre später der Cardinal Richelieu für die Könige von Frankreich that. Der Eine wie der Andere sind in ihren Ländern die Begründer der monarchischen Gewalt gewesen, dadurch daß sie das Gegengewicht das in Deutschland die Geistlichkeit, in Frankreich der Adel, dem Absolutismus der Fürsten entgegengestellt hatte, vernichteten. Richelieu besiegte den Adel mit Schwert und [154] Kerker, Luther die Geistlichkeit mit der Wissenschaft und Philosophie. Seitdem ist der Unterricht in Deutschland ein mächtiges Werkzeug für die Regierungen geworden, und er hat den protestantischen Fürsten weit bedeutendere Dienste geleistet, als die Unwissenheit den katholischen. Es gibt nichts Seltsameres als die wahre Künstlereifersucht, welche immer zwischen Oestreich und Preußen herrschte, wegen der Uebermacht ihrer resp. Regierungsweise. Preußen an der Spitze des Protestantismus vertheidigte die Vorzüge des Unterrichts, Oestreich an der Spitze des Katholicismus die der Unwissenheit; aber beide hatten denselben Zweck: Despotismus. In den protestantischen Ländern war die Wissenschaft die zweite bewaffnete Macht: man legte sie als Besatzung in die festen Plätze, Universitäten genannt. Die Professoren waren die Offiziere, die Studenten die Soldaten. Der Unterricht hatte keinen andern Zweck als Staatsdiener zu bilden, wie man in Deutschland sehr fein die Diener der Fürsten nennt.

Vor Luther waren alle Bücher lateinisch geschrieben; seitdem begannen die Schriftsteller sich der Landessprache zu bedienen, was die despotischen Absichten der Fürsten sehr begünstigte, indem es die Wissenschaft und die Literatur in die Gelehrtenkaste einzwängte und so ihre Verbreitung hinderte. Hätten die Schriftsteller fortgefahren lateinisch zu schreiben, so wären sie mit der Zeit mit den Freunden des Volkes zusammengetroffen, welche die lateinischen Bücher für dessen Gebrauch übersetzt hätten; doch als die Professoren deutsch, d. h. ein offizielles abscheuliches Deutsch, so unverständlich wie das Hebräische, schrieben, das Niemand aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzen wollte, blieben Lektüre und Unterricht stets dem Volke fern, und die Re-[155]gierungen hatten keine weitere Besorgniß wegen der Fortdauer ihrer Allmacht, welche durch die allgemeine Entwaffnung der Volksbildung gesichert war.

Wir kommen zu unserem Gegenstand. In der neuesten Zeit unternahmen es geist- und gemüthvolle Schriftsteller, die des jungen Deutschlands, die Wissenschaft, Philosophie, Moral, Politik zu verbreiten, indem sie dieselben aus dem Gelehrtendeutsch in das gewöhnliche Deutsch übersetzten. Die protestantischen Regierungen erschraken hierüber; je weiter sich die Aufklärung fortpflanzt, um so mehr verlieren sie ihr mächtigstes Werkzeug des Despotismus und zugleich ihre Uebermacht über die katholischen Staaten, und fühlen, daß es zu spät ist das Wissen mit der Unwissenheit zu vertauschen. Preußen hat der Macht Oesterreichs, das die Unwissenheit seiner Völker furchtbar macht, kein Gegengewicht mehr entgegenzustellen, und dieses gewinnt die Oberhand.

Die Verfolgung, welche man gegen die Schriftsteller des jungen Deutschlands anstellt, hat noch einen zweiten Grund. Bis in die letzte Zeit hat sich die periodische Literatur in Deutschland mit wenigen Ausnahmen in den Händen der Schriftsteller des letzten Ranges befunden. Die ausgezeichneten Schriftsteller, die wahren Gelehrten, hielten es unter ihrer Würde an der periodischen Literatur Antheil zu nehmen, wie ehemals der Adel sich etwas zu vergeben glaubte, wenn er ein Gewerbe trieb. Die Schriftsteller des jungen Deutschlands haben einige geachtete Literaturorgane gegründet, und sie gehen damit um deren noch mehrere zu gründen. Einige ausgezeichnete Professoren hatten sich von dem Geist dieser jungen Schriftsteller verleiten lassen, als Mitarbeiter an ihren Journalen einzutreten. Die preu-[156]ßische Regierung erschrak über diese Neuerung als über den Anfang zu einer Zerstückelung des Grundbesitzes der Wissenschaft. Deshalb wurden Herr Gutzkow und seine des schönen Stiles Mitschuldigen mit dem literarischen Tode bestraft; ich muß gestehen, nun ist es euch erst dunkel, denn in der That verzweifle ich daran, daß ich den Franzosen das politisch-literarische Kauderwelsch des durchlauchtigsten Frankfurter Bundestags deutlich erklärt habe.

11. Robert Bürkner, Unser Planet, 10. Juni 1836#

Robert Bürkner: Noch ein Wort*) über Gutzkow. In: Unser Planet. Leipzig. Nr. 139, 10. Juni 1836, S. 555-556. (Rasch 14/6.36.06.10N)

Gutzkow’s allbekannter Roman ist schnell verdammt, und als unmoralisch verworfen, aber schwerer ist es, die Gründe dieses raschen Urthels anzugeben. – Gründet man dasselbe auf ein natürliches Gefühl der Ehrbarkeit und Sitte, so räumt man den schwankenden Ansichten der Zeit, die gerade in diesem Puncte alle Jahrhunderte, oder in noch kürzerer Zeit, sich änderten und modificirten, den Rang ein über Ideen der Vernunft, die ein solches Forum nicht anerkennen; stützt man es auf die Principien des Christianismus, auf die Grundsätze einer dogmatischen Katechismus-Moral, so bedient man sich einer Autorität, die Gutzkow abherescirt. – Auch ich halte den sog. Roman für unmoralisch, und ich will erklären, warum? – Es sind offenbar zwei Ideen, welche Gutzkow versinnlichen wollte.

Einmal ist es die Idee einer vernunftgemäßen auf Naturbedürfniß gegründeten und durch ästhetische Gefühle veredelten Liebe, die er manifestiren; andernseits die aus desolaten, socialen Lebensverhältnissen entsprungene Zerrissenheit, der aus geistiger und körperlicher Uebersättigung erzeugte negirende Geist der Zeit, den er schildern will.

Dadurch, daß er Cäsar, den Repräsentanten und Träger der letzten Idee, auch zum Propheten der erstern macht, neutralisiren sich beide Ideen, die Tendenz wird ungewiß und verworren, und das ganze Buch, wie gesagt, unmoralisch.

Hier verstehe ich nämlich unter Moral nicht jenes System der Abstinenz, welches sich durch scholastische Mönchsspeculationen in den Christianismus eingeschlichen hat, nicht den Inbegriff jener, gegenseitiger Schwäche und Erbärmlichkeit abgedrungenen Rücksichten, jener Entsagungstugenden, nicht Negation des Willens, sondern im Gegentheil – Freiheit des Willens, verbunden mit der Achtung vor fremder Individualität. Gutzkow will diese Moral in der Liebe geltend machen. Cäsar will an Wally eine Proselytin dieser Grundsätze gewinnen – aber wer ist Cäsar?

Ein Mensch, der nur noch mit Begriffen rechnet, dessen Herz todt ist, und der nur noch durch den Reiz der Situation verführt wird. Was kann ein Mann wie Cäsar in dem Verhältniß, in das er zu jener Wally getreten, dieser für ihre Gewährung bieten? Sein Herz? er hatte keines; seine Leidenschaft? er hat sie todt geschlagen – er ist impotenten Herzens und will sich nur noch durch den Reiz der Situation kitzeln; er will Alles empfangen und nichts geben. Er ist nur ein Lehrer, aber kein Thäter des Worts, und macht solches, als aus unreinem Munde verkündigt – verdächtig! Durch diesen Charakter Cäsar’s wird alle Gegenseitigkeit des Verhältnisses unmöglich, W. ist ihm ein bloßes Instrument der Wollust, und jene Enthüllungsscene – an und für sich in sittlicher Beziehung weder lobens- noch tadelnswerth, unter andern Umständen wahrhaft erhaben – wird hier eine Gemeinheit, denn nur die Liebe konnte fordern, was nur die Liebe gewähren konnte.

Spätere Urteile#
12. Eduard Beurmann, 1837#

[Eduard Beurmann:] Vertraute Briefe über Preußens Hauptstadt. Zweiter Theil. Stuttgart u. Leipzig: Rieger, 1837. S. 237-248. (Rasch 9/2.37.1)

(Anhang zu dem vorstehenden [44.] Brief.)

Ich habe es versäumt, in meinen Briefen auf die mehrgedachte Vorrede Gutzkow’s zu den „Briefen über die Lucinde“ zurückzukommen. Beim Abdruck derselben fiel mir dieses Versehen auf. Es wird hier am rechten Ort seyn, das Versäumte nachzuholen, was ich um so lieber thue, als die neueste Schrift Gutzkow’s, die Angriffe Menzel’s und die Vertheidigung des Verfassers der „Wally“ mehr Licht über diese Sache verbreitet haben.

Wer die Bestrebungen der sogenannten jungen Literatur oberflächlich betrachtet, könnte allerdings auf [238] den Gedanken gerathen, das Zeitalter der Encyklopädisten bedrohe von Neuem das politische, sociale und kirchliche Leben; die Diderot, Voltaire, Daubenton, Marmontel, d’Alembert, Mably u. s. w. vereinen sich in einigen genialen Köpfen unserer heutigen Jugend; es werden dieselben religiösen Zerrissenheiten, welche die französische Revolution des vorigen Jahrhunderts bezeichneten, sich geltend machen. In der That hat denn auch die Kritik bereits auf jene Erscheinungen hingedeutet, man hat die neuesten Speculationen in dieser Hinsicht als denselben Kometen bezeichnet, der der französischen Revolution vorhergegangen, der sich jezt von Neuem wiederum blicken lasse, nachdem er nur auf einige Zeit unseren Augen entzogen gewesen sey.

Ich halte diese Erklärung für zu voreilig. Die Bestrebungen der jungen Literatur, insonderheit die Vorrede Gutzkow’s, wie seine „Wally,“ deuten allerdings in mancher Hinsicht auf die Encyklopädisten hin; aber wir können mit allem Fug und Recht erwarten, daß an die Stelle des vernichtenden Princips in Kürze das Princip der Production treten wird. In der That gewahren wir denn auch keinen Terrorismus in jenen jungen Gemüthern, die sich nicht in Mißbräuche hineinfinden können, unter deren Drucke die Menschheit seufzt. Man hat ihnen, und unter ihnen vorzugsweise Gutzkow, vorgeworfen, daß sie die Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft untergrüben, indem sie heiliges und Ehrwürdiges auf die frechste Weise profanirten und den rohesten Materialismus zum [239] Fundament socialer Verhältnisse zu machen suchten. Gott und die Moral haben von ihnen zu fürchten. Man hat Gutzkow mit Voltaire verglichen und seinen Schriften die giftigsten Folgerungen entnommen. Ich entsinne mich wirklich nur eines Moments der neueren Zeit, das dieser Angst und diesem Weheruf unserer kritischen Autoritäten gleichkömmt, es war jene Cholera-Periode, als man überall Brochuren verbreitete über die ersten Symptome dieser Krankheit, über die Mittel der Rettung, über die Präservative, über Cholera-Binden, Cholera-Schnaps, über Einreibungen, über Eis und Wärme, Contagiosität, oder Nicht-Contagiosität, Absperrungen u. s. w. Es läßt sich nicht läugnen, daß die gewaltigen Vorkehrungen, die vielen Medicinal-Publicate, die poetischen Ausmalungen der Cholera von den ersten Anfällen bis zur entscheidenden Krisis furchtbarer Epidemie mehr wirkte, als die Krankheit selbst. Man hat sich später beruhigt und alle jene entsetzlichen Maßregeln bei Seite gesezt.

Ich glaube, auch in Betreff der Schriften Gutzkow’s plagt man sich viel mit Hirngespinsten. Sind sie wirklich der Art, wie man sie bezeichnet hat, so hat Deutschland vorzüglich von ihnen nichts zu fürchten; denn gewisse Dinge liegen dem deutschen Volke fern. Auch thäte man dann besser, sie zu ignoriren, den großen Haufen nicht auf sie aufmerksam zu machen, nicht handgreifliche Commentare zu ihnen zu liefern, vielleicht einseitige Interpretationen. Die Intelligenz wird sich nicht durch sie bestimmen lassen, für die [240] Einfalt der Menge sind diese Poesieen nicht faßlich genug, an der Nichtswürdigkeit ist endlich nichts zu verführen.

Die „Lucinde“ Schlegels, die „Candide“ Voltaire’s, der „Contract social“ Rousseaus und unzählige andere Schriften der Art haben in Deutschland keine Resultate hervorgerufen, trotz dem, daß man ihre Vorzüge würdigte. Und die meisten jener Schriften waren weit populärer, weit faßlicher für die Menge gehalten, als die „Wally.“ Jezt erst sucht man die Wally zu lesen – schreibt mir ein Freund, und das sieht dem Deutschen ganz ähnlich. Aber Gutzkow’s „Maha-Guru“, der doch im Grunde nichts Anderes, als die „Wally“ enthält: eine Verspottung der socialen Verhältnisse und der Offenbarung ging spurlos an seiner Zeit vorüber, weil die Kritik, statt mit dem Schwerte der Vernichtung diese Erscheinung zu bekämpfen, sie mit dem Lorbeer poetischer Weihe umkränzte. Wolfgang Menzel, der das Anathem über „Wally“ aussprach, war eben jener Kritiker, der dem „Maha-Guru“ nur Preis und Ruhm zu spenden hatte. Dort, oder hier muß Einseitigkeit, oder Persönlichkeit im Spiele gewesen seyn; denn wie lassen sich zwei so entgegengesezte Urtheile über dieselben Tendenzen in Einklang bringen?

Was mich betrifft, so finde ich nun überhaupt in „Wally“ nicht jene Schrecknisse, die man aus diesem Roman heraus interpretirt hat. Einmal müssen wir einer künstlerischen Idee, einer Dichtung kein System [241] unterschieben; die Götter Griechenlands, von Schiller, sind nie als eine anti-christliche Tendenz betrachtet worden, als eine Gotteslästerung; und dann – zugestanden es sey nur Speculation und Kritik im poetischen Gewande, in plastischer Form die Wesentlichkeit dieser „Wally“, ist es der Literatur wirklich nicht gestattet, sich über die geoffenbarte Religion auszusprechen, über sociale Zustände? Die Kritik hat die Entscheidung darüber der Polizei in die Hände gespielt, und die konnte kaum anders entscheiden, als sie entschieden hat. Vielleicht aber hätten sich die Regierungen nie um diese Angelegenheit bekümmert, wenn man ihnen nicht die Sache so nahe gelegt, sie gewissermaßen zur Intervention in eine kritische Erörterung gezwungen hätte. Man machte die Sache der philosophischen Speculation zu einer Gefahr für den Staat; die Kritik machte eine Gewissensfrage zu einer Zwangsgerechtigkeit; die Gerichte, die ungern den Artikel Blasphemie in ihren Gesetzbüchern aufschlugen, sahen sich genöthigt, das Bestehende, welches nicht durch die „Wally“, wohl aber durch die Interpretation dieser „Wally“ von Seiten kritischer Autoritäten, durch alle möglichen Resultate, die man in den gelesensten Blätter[n] an das Raisonnement Gutzkow’s knüpfte, gefährdet wurde, die Regierung sah sich genöthigt, dieses Bestehende in Schutz zu nehmen. Man konnte nicht die Kritiken über die „Wally“ verbieten, man mußte nun die „Wally“ verbieten.

Ich habe Gutzkow’s „Wally“ den Vorwurf zu machen, daß sie zu leicht und obenhin über die [242] wichtigsten Fragen der Gesellschaft discutire; aber Atheismus finde ich nicht in diesem Buche; eben so wenig Gotteslästerung, wollen wir nicht mit diesem Worte jenen Begriff der Caroline verbinden, die unsern Herrgott zu einer irdischen Majestät erhebt, und nun, was in diesem Falle crimen laesae majestatis genannt wird, Gotteslästerung heißt. Es ist wirklich schlimm, daß die Jurisprudenz sich wieder – wie vor alten Zeiten – mit dem Schutz und der Majestät unseres Herrgottes beschäftigen muß. Aber man muß es zu ihrem Lobe sagen, sie hat sich nicht ex officio in diese Angelegenheit gemischt, mit der man sie in unserer aufgeklärten Zeit hätte verschonen sollen. Wie gesagt – ich billige jene Ironie gegen die Offenbarung – wie sie sich in „Wally“ ausspricht – durchaus nicht; aber ich kann nicht umhin, den Ausspruch Gutzkow’s, daß Gott nirgends näher sey, als wo ein Herz an ihm verzweifelte, für Religion zu halten. Was ist Religion? Ist Religion der Indifferentismus jener, die den lieben Gott einen guten Mann seyn lassen, oder der Glaube jener, die die historischen Traditionen über ihn als eine Gewißheit hinnehmen, weil sie zum Zweifel zu wenig speculativ sind. Wo ist hier Ueberzeugung? Gutzkow sagt: „Glaubt mir, ich habe gerade so viel Religion, wie Jeder von Euch. Nur darin sind wir ungleich, daß ich Dasjenige auszusprechen verpflichtet bin, was Ihr durch Zerstreuung, oder Indifferentismus in Euch begrabt.“ Was mich betrifft, ich glaube diesen Worten; ich halte sie für ein [243] aufrichtiges Bekenntniß einer edlen Seele. Aber ich halte noch mehr das für Wahrheit, was Gutzkow in diesem Bekenntniß über seine Nebenmenschen behauptet.

Wenn Gutzkow Gott vergißt, jenen Gott, der auf der Leiter der Kirchengeschichte und Dogmatik, über Blut und Leichen, über Scheiterhaufen, Hexenprocesse und dreißigjährige Kriege, über Menschenopfer und goldene Kälber von dem Himmel zu der Erde herabstieg, jenen Gott, von welchem er behauptet, es sey besser, wenn die Welt nie von ihm Etwas gewußt habe, so vergißt er doch den Gott der Liebe und der Hoffnung keinen Augenblick. Muth und Resignation sind doch offenbar das, was er lehrt. „Wally“ liegt außer ihm; er hat diese Wally erlebt. Der Verfasser steht über seiner Dichtung; Wally gibt sich in einem Irrthum den Tod. Dieser Irrthum ist der, daß die Verzweiflung am Denken eine Verzweiflung am Leben herbeiführt. Aber sie soll gerade das Gegentheil bewirken, sie soll uns kräftigen, den Tod mit einigem Stolze und mit Verachtung unseres irdischen Looses abzuwarten. Gutzkow spricht sich in dieser Beziehung deutlich in der Brochure gegen Menzel aus. Wenn er an seinen Roman ein anderes Resultat knüpfte, so mochte das theilweise durch jenen Vorfall in Berlin, der beinahe die ganze Gesellschaft erschüttert hat, theilweise aber durch die Absicht veranlaßt werden, daß er nicht die Wahrheit, sondern gerade den Irrthum, nicht den Muth, sondern die Verzweiflung, nicht die Resignation und Ausdauer, sondern die Ohnmacht und Schwäche schildern wollte. [244] Aber er erklärte in diesem jenes, in dem Irrthum die Wahrheit, in der Verzweiflung den Muth, in der Ohnmacht die Resignation. Ergebung, das ist ja am Ende das ganze Resultat des Lebens. Wir sollen auf dem Posten ausharren; das ist das schönste Gebet. Gott wird die Weltordnung nie um eines Einzelnen Willen ändern; wenn wir beten: Dein Wille geschehe! so dürfen wir nicht beten: Herr erbarme Dich meiner! Aber die Frage sey uns noch hier erlaubt: geräth nicht unsere Gesellschaft so häufig mit dem wahren, inneren Wesen der Religion in Conflict? Entsteht durch die äußeren Verhältnisse nicht häufig jene Zerrissenheit des Menschen, jene Scheinheiligkeit der Sitte, die das furchtbarste Gift aller wahren Religiosität ist? Und die Humanität, wo bleibt sie in mitten der Sitten und Vorurtheile?

Es haben sich in dem Gewirre der Partheien bereits hie und da partheilose Stimmen vernehmen lassen, die die Bewegung in der Literatur nicht für so unheilvoll erklären wollen. Ich verweise hier auf das Octoberheft der „Minerva“, das sehr vernünftig von allen Neben-Tendenzen einer Parthei abstrahirt, die auch wirklich gar nicht existirt. Der dortige Beurtheiler weiset auf heilsame positive Resultate hin. Eines der ersten Resultate wird immer das seyn, daß man die Ehe mehr in naturrechtlicher und somit auch humanerer Beziehung auffassen soll, als solches bisher geschehen ist. So viel ist gewiß, daß jene Bewegung nur in so fern mit den französischen Encyklopädisten übereinstimmt, als sie die Universalität vor [245] Augen hat, und das ist ihr vorzüglichster Werth. Selbst der Staat kann in seinen Instituten eine Abänderung erleiden, ohne in seinen Wesentlichkeiten zu erliegen. Er wird nicht weniger Staat seyn, wenn man ihn auf die göttliche, als auf die thierische Natur des Menschen gründet. Auf der andern Seite trennt sich die Bewegung in unserer Literatur von den französischen Encyklopädisten dadurch, daß sie sich zur Productivität erhebt. Eben diese Productivität unterscheidet unsere Bewegung von der des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie Byron von Voltaire unterschied. Man kann nie und nimmer – wie einige französische Kritiker solches versucht haben, den Don Juan Jenes mit der Candide Dieses vergleichen. Hier habt Ihr nur Speculation, bei Byron habt Ihr Poesie. Die Encyklopädisten hatten, wie philosophisch, so auch literarisch, nur eine negative Richtung, wie das achtzehnte Jahrhundert nur die Uebergangs-Periode von dem monarchischen Legitimismus, über die Republik, Napoleon, die Restauration zu der liberalen Richtung war, wie sie seit der Julius-Revolution sich bemerkbar macht. Unsere neuesten Revolutionen in Politik und Literatur haben sofort geschaffen, indem sie umgestürzt haben. Unsere jungen Schriftsteller der Bewegung rüsten sich zu großen Werken der Poesie; sie haben uns bereits die Anfänge, die Erstlinge ihres schöpferischen Geistes geliefert, sie haben uns Beweise gegeben, daß sie Besseres werth sind, als was die Einseitigkeit ihnen zugefügt hat. Ihre ärgsten Feinde, die es vorzogen, ihre Irrthümer mit den grellsten [246] Farben auszumalen, die, weniger aus Bosheit, als aus gewissen veralteten nationalen Tendenzen, das Kind mit dem Bade verschütteten, haben ihnen Geist, Talent, Genie zugestanden. Wir müssen auf die Zukunft blicken; auf das, was wir von ihnen zu erwarten, weniger auf das, was wir von ihnen empfangen haben, obwohl uns dasselbe keinen Schaden gebracht, sondern nur ihnen, und auch ihnen nicht in den Augen der Vorurtheilsfreien, sondern nur in den Augen derer, die stets fremder Augen zum Urtheil bedürfen, die ewig stillstehen, die da ausrufen: „Ach! es gibt so viel rohes Volk, wenn das diese Dinge liest.“ Schade! daß es, trotz aller Schulen, so viel rohes Volk gibt. Aber das rohe Volk hätte diese Dinge nie gelesen, so wenig, wie die Lucinde Schlegel’s, die Schleiermacher selbst begeistern konnte.

Ich hoffe, Gutzkow wird diese Krisis bestehen, obwohl man es auf seine persönliche Vernichtung abgesehen hat, obwohl ihm vom politischen Wochenblatt herab bis zur Dorfzeitung alle Winkelblätter nachkläffen. Et vera incessu patuit Dea. Die Phantasie hat nur ihren Pfad fortzuschreiten, um sich als Göttin zu zeigen – bemerkt Victor Hugo über Voltaire, der die Koketterie mit der Humanität der lezteren selbst vorzog. Aber es spricht aus Gutzkow’s Schriften, trotz aller Irrthümer jener heilige Unwille, von dem Juvenal sagt: facit in dignatio versum; und – was man auch sagen mag – es sey Affectation, es sey die Sucht, Aufsehen zu erregen, was Gutzkow leite, ich bin der festen Ueberzeugung, daß [247] seinen poetischen Ausschweifungen vor allen Dingen Begeisterung zum Grunde liege. Daß aber sein rücksichtsloses Auftreten gegen Vorurtheile, oder gegen historische Autoritäten mehr als Spielerei ist, daß dazu insonderheit ein Muth gehört, zu welchem sich die Affectation schwerlich je versteigen würde, ist mir außer Zweifel.

Man hat an „Wally“ hie und da den Styl getadelt. Ich bin der Meinung, daß der Styl dieses Romans Fleisch und Blut, mit einem Worte Leben und Körper hat. Ich möchte ferner behaupten, daß keiner der neueren Schriftsteller, selbst Heine nicht, mit einem lebendigen, ungezwungenen Styl so viel Kunst verbinde. Jede Bewegung und Wendung dieses Styls ist scharf ausgeprägt, ohne steif zu seyn. Und diese eleganten Eigenthümlichkeiten, diese amusanten Capricen, diese transparente Oberfläche, diese bunte, geschmackvolle Färbung, die, wenn auch mitunter grell, doch stets ätherisch, fast regenbogenartig ist, gewährt dieses Alles nicht großen Reiz? Wenn Heine die künstlerische Nonchalance des Styls ist, so ist Gutzkow die höchste künstlerische Präcision des Styls. Heine’s Styl hat geschmackvolle Morgen-Toilette gemacht; Gutzkow’s Styl ist en grande parure. Aber beide Style sind voll Gracie. Vielleicht gibt man mir zu, daß Gutzkow’s Styl mehr Leben hat und klassischer ist, als seine Charaktere, die, wenigstens in der „Wally“ häufig an der Kälte der Speculation leiden. Diese Sprache ist eine meisterhaft ciselirte Sprache, mit unzähligen arabesken und pittoresken [248] Zufälligkeiten verziert, eine ganz neue Sprache, mit dem noblesten Pli und der anmuthigsten Tournure, fast tanzend, aber nie in complicirten, erkünstelten Touren, sondern nach Art der Sylphen. Ich betrachte die „Wally“ als Kunstwerk, und als solches scheint es mir in der Form vollendet. Vielleicht würde es auch in klassischer Beziehung bedeutender geworden seyn, wenn eben nicht die Poesie an der Speculation gescheitert wäre. Die Charaktere sind häufig nur die Puppen dieser.

13. Alexander Jung, 1837#

Alexander Jung: Fragmente über den Ungenannten. In: Alexander Jung: Briefe über die neueste Literatur. Denkmale eines literarischen Verkehrs. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1837. S. 111-123. (Rasch 9/2.37.3)

Was nun das vielbesprochene Buch des erwähnten Verfassers betrifft, es hätte nie in die Welt dürfen. Es ist eine Studie. Es ist eine [112] geistreiche Skizze, eine kühne, nicht für die Menge entworfene. Es ist ein nur zu getroffener Schattenriß eines großen Theils unserer heutigen Salon-Welt. Man verstehe nur von der Spitze zurückzutreiben. – Ja, der Verfasser hat großes Aergerniß gegeben. Er hätte es nicht sollen. Ja, er geht in der Objektivirung eines bodenlosen, wie ein Krebs unter Koketten und Roués um sich fressenden Zweifels oft zu weit, wenigstens was die Veröffentlichung, das Aergerniß betrifft. Aber – wer ihn deßhalb der Irreligiosität beschuldigen, wer aus diesem Buche, selbst bei früherer Lauheit, sich nicht der Religion in die Arme werfen wollte, – ich verstehe ihn nicht. –

Das Christenthum wird unaufhaltsam die Menschheit selbst zu jenem einstweilen für Wenige geforderten Heiligthum reif machen. Sein Reich kommt. Ja es selbst ist schon dieses Heiligthum für die, welche es kennen. Vom Christenthum aus daher ist schon jetzt jede Frage, jeder Zweifel [113] erlaubt. Nur gebet den Schwachen kein Aergerniß! Das Christenthum weiß jede Frage zu beantworten, jeden Zweifel zu heben.

Da überhaupt ist jede Frage, jeder Zweifel erlaubt, wo man schon von vorn herein Gott hat, aus Gott heraus und zu Gott hin fragt und zweifelt. Dieß ist das Ringen mit Gott, wie es die Bibel selbst nennt, dem der Sieg nie ausbleibt. Unser Verfasser hat Gott. Daher weiß er bewundernswürdig bis auf den Schein des Verzweifelns zu fragen, zu zweifeln. –

Wer ist diese Unglückliche? – Ein von der Natur zwar begabtes, aber viel zu schnell aus der Kinderstube in den schillernden Gesellschaftssaal, wo man immer interessant seyn soll, hineingeworfenes Wesen. Die durch Welt verkünstelte Begabung wird nicht ungerächt bleiben. Die tieferen Bedürfnisse, das, des schwersten Verständnisses fähige Gemüth des Weibes wird schon wiederkehren, wird zerstören. Jetzt ist sie befriedigt, [114] geschmeichelt die Kleine. Sie poussirt und wird poussirt. Sie glänzt. Sie ist allerliebst. Sie ist bis auf den bleichen, weichen Teint der Wange entzückend. Eine stets bereite Schaar dienender Cavaliere umschwärmt ihre Wege, wacht beinahe in ihrer Antichambre. Sie ist kalt, aber um so Gluthen erregender. Sie ist grausam, aber welcher Geck apportirte nicht gern ihre Reitgerte? Sie findet bereits Ueberdruß an so hündischen Gesellen. Sie findet alles bereits fad, alles ennuyant, aber – einer nahet sich ihr, der, bei allem Heuchel der Wärme, selber Eis genug besitzt, ein so süßes, lockendes Vanillen-Eis, um das Feuer, die Gluth der Begierde in ihr zu fachen.

Dieser Mensch, einst ein großer Mensch, jetzt ein ungeheurer, ein Ungeheuer, – hat einmal Flammen geworfen. Flammen bei deren nächtlichem Schein er seine Studien gemacht, Welt- und Menschen-Studien. Flammen, bei deren wetterleuchtendem Blitz er alle Genüsse der Erde ge-[115]kostet, bis auf die Hefe geschlürft, und dessen vulkanische Tiefen nun ausgebrannt haben, und der nun, nach dem knirschenden Geständniß: es ist alles eitel, nur noch statt der früheren Lust, die er zu Tode gejagt, aus Langerweile die noch lebende Schwester: Grausamkeit zu sich genommen.

Er ist in alle Intriguen weiblicher Eroberungssucht eingeweiht. Er durchblickt die Spröde, die es nicht mehr gegen ihn ist. Er wird ihr zuvorkommen. Er wird ihr Geschichten erzählen. Er wird sich selbst mit Unschuld belügen, indem er sich einen Augenblick in die Aesthetik flüchtet, zu einem lebenden Bilde. Er wird seines Mädchens Begabung, das Ursprünglichste ihres Naturells längst weg haben, um die Geister des Wissenwollens in ihr zu wecken, um ihr statt der Nahrung – Gift, statt der Wahrheit – Lüge, statt der, mit Gott und der Welt und dem sich hin und her werfenden Ich aussöhnenden Ideen – prunkende, gleißende, tückische, würgende Zweifel [116] zu geben. Er wird ihr die Hand bieten, ihr stets bereiter Seelsorger zu seyn. Er wird sie verlassen – foltern – tödten. Doch genug. – –

Nur dieses noch. Jene Studie, jene kühn hingeworfene Concentrirung einer, unter einem Theil unserer Gebildeten grassirenden Verbildung und Haltlosigkeit bis auf viele Consequenzen hin, ist von Rechtswegen verdrängt worden. Es war eine große Uebereilung, so etwas der Oeffentlichkeit zu übergeben. Aber ein Theologe von der Gedankentiefe etwa eines Daub wird über jener Fabel voll Wahrheit schon den ewigen Triumph des Christenthums erkannt, wird den Verfasser schon verstanden haben. Und so zürne man diesem nicht länger, er hat es wahrlich nicht verdient. Und geht in euch ihr Anderen, die ihr davon gehört, oder selbst eingesehen habt, und verschmähet nicht – die Nutzanwendung.

Es wird selten allerdings zu gerade so gearteten Extremen einer Verzweiflung an Religion [117] in der Wirklichkeit kommen. Aber bedenkt, daß die schleichende Schwindsucht einer gegen alles Religiöse, Kirchliche sich indifferent verhaltenden Genußsucht und Weltfeinheit gerade so gefährlich ist, als die galopirende einer, auf den Genuß und den Ueberdruß folgenden Verzweiflung an der Lösung des Zweifels. Bedenkt, daß da, wo aus Furcht vor Ueberspannung und frömmelnder Schwärmerei, bereits sogar die Frömmigkeit selbst anrüchig geworden, und das Wort: Gott sogar, als nicht mehr von gutem Klange befunden wird, der nämliche, nur länger währende, aber durchaus in dasselbe Verderben führende Proceß eintreten muß, der auch dort ist verzeichnet worden. –

Werdet mißtrauisch gegen die bloße, glatte, marmorkalte Form eurer Conversation, gegen die geschniegelte, hinter dem Flor-Tuch und der Cravate in moderner Selbstgenügsamkeit sich blähende Eitelkeit. Gebt eurer Geselligkeit eine Tendenz, [118] einen Schwung zu höheren Zielen hin, und glaubt, daß nirgend die Gefahr größer ist, als wo sie allmählich naht, und nirgend der Nerv der Religion sicherer ertödtet wird, als wo man im Rausch des Salons nicht Zeit hat, zu sich selbst zu kommen, und zu viel Scham vor der Welt besitzt, als daß man das feste Geständniß ablegen sollte, auch über die Confirmationszeit hinaus noch fortwährend mit göttlichen Dingen sich zu beschäftigen. Die Schminke der Eitelkeit und der Scheinsucht zerfrißt eben so gewiß, nur langsamer die Seele, als das Scheidewasser des Unglaubens und der Zweifelsucht.

Der Schriftsteller nehme die höchste Stelle ein, welcher Ideen hat. Die Idee ist der eigentliche Bildungskeim des Genies. Man kann es bis auf zwanzig Bände gebracht haben, ohne eine Idee nachweisen zu können. Das Talent täuscht oft sich und andere, indem es Ideen nur selbst-[119]ständig verarbeitet, wenn nicht gar in der Copie eines Originals nur eine große Gewandtheit besitzt, woraus denn häufig die schönste Virtuosität in der Form hervorgeht. Ist aber ein Schriftsteller der Idee sich bewußt, so muß es ihn auch hinziehen, sich einer Welt gegenüber zu bilden, ja die Welten, die er schafft, mit jener in irgend einen Contakt zu bringen. Die Nation, die Menschheit wird ihn beschäftigen. Beide, wiefern sie selbst in Ideen wurzeln. Die Nation, als Volk in der Idee des Staates, als Gemeinde in der Idee der Kirche. Die Menschheit endlich in der Idee Gottes.

Und so sehr wird der Geniale am wenigsten, trotz alles Verkanntwerdens, einer Hingebung an die Gesammtheit entbehren können, daß er es nur mit Schmerz über sich gewinnt, ein Produkt, welches eine integrirende Gestalt in der Geschichte seines Werdens ist, wieder in sich zurückzunehmen. Wie vollständig, wie ungenirt haben sich Goethe [120] und Schiller vor den Augen der Nation gebildet. Und doch muß allerdings auch jene Stärke der Entsagung der Genius besitzen. Fehlt er hierin, aus zu großem Drange, wenn auch nur, zu wecken, zu erschüttern, – ihr müßt es vergeben, denn wie viel auch habt ihr ihm zu danken.

Der Schriftsteller, welcher mich hier beschäftigt, verdient durchaus das Zeugniß, in reichem Besitz von Ideen zu seyn. Daher seine Form eine ganz eigenthümliche, ganz ursprüngliche. Sie drängen ihn so diese Ideen, daß die halbe Energie seiner feurigen Jugend dazu gehört, sich nicht zu überstürzen, sondern bei allem kühnen, schaffenden, auflockernden Hinausgreifen in die Zukunft, dennoch ein Maß, einen Rhythmus zu beobachten, der denn auch in dem gebildetsten Style dem Ohre vernehmbar wird. Die andere Hälfte seiner Energie ist freilich immer noch so bedeutend, um da, wo er seine Polemik, seine Ironie walten lassen will, [121] alles was in dieser Richtung liegt, auf’s tiefste zu verletzen.

Von der Poesie aus, als einer höheren Wirklichkeit, der gemeinen den Krieg zu bringen; das durch die Vernunft keiner abstrakten, sondern der gestaltenreichsten Poesie angestammte Besitzthum der Geschichte den Dichtern zu vindiciren, den Neubau zu beginnen; zu diesem Zweck, zu einem solchen Preis auch im Kampf wo möglich sich nur der Schönheit, des Witzes, als Mittels, zu bedienen; – dieß scheint mir die Grund-Idee unsers Autors zu seyn. – Wer bei ihm nicht zwischen den Zeilen zu lesen versteht, der versteht ihn gar nicht. Hier liegen schon meistens die Gestalten, die Werke angedeutet, welche er zu schaffen sich gedrungen fühlt. In der Zeile hat er bis jetzt in der Regel nur Zeit gehabt, gegen das Halbe, das Verschrobene, das Zurückgekommene zu streiten, mit Ausnahme der Werke, welche [122] weniger unmittelbar die Kritik wollten, und die denn auch das Geniale seines eigentlichen Produktionsvermögens auf das erfreulichste bekunden.

Diese feine Ironie, wie sie auf den Blättern seiner meisten Schriften weniger zu lesen steht, als webt, dieses Combinationsvermögen des glänzendsten Verstandes, diese Wärme, die sich nur klug zurückzieht, um nicht mit der weinerlichsten Schlaffheit verwechselt zu werden, und, wo ihr sie erwartet, an die That euch mannhaft mahnt, dieses mit einem reinen Jünglingsherzen lebendige Hingegebenseyn an die Idee, an die Wahrheit, an die Schönheit, an Gott; – wir sollten uns aufmachen, um so viele Gaben nicht ungenossen, ungewürdigt, ohne Dank, daß der Genius uns immer noch besucht, vorüber zu lassen. Vielleicht hat nicht oft das Lockenhaar einer solchen Jugend um eine so sinnige Stirn, um eine durch Ver-[123]stand und durch Lebenseinsicht so geweihete Wölbung gespielt.

Kommentar#

Der weitere wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.