Geflügelte Worte aus dem Leben. Erinnerungen#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
05.12.2019

Text#

5 Geflügelte Worte aus dem Leben.#

Erinnerungen.#

Leben heißt - Nichtreflektiren über das Leben!

Den Tag pflücken, wie Horaz sagt, pflücken, wie er am „feurigen Busch“ des Himmels erblüht; im Strome dahingleiten, ohne an Ruder und Steuer zu denken; im Neuen Jahres Kalender nichts anstreichen, als nur die Geburtstage seiner Lieben: das sollte unsre ganze Lebenskunst sein -! Freilich verliert diese Kunst, wie jede Kunst, ihren Werth, wenn sie nicht Natur ist. Das Leben reißt uns aus Kunst und Natur heraus. Wo die Pflichten anfangen, beginnt auch die Sorge um den morgenden Tag. Das glückliche Heute genießt nur die Jugend. Jung muß man sein, mit allen Poren der Seele noch den Eindrücken der Welt offen stehen, unbewußt handeln, unbewußt schaffen, dann lebt man das Leben und „der Kampf um’s Dasein“ ist ein fröhlicher Kampf.

„Geflügelte Worte!“ In meiner Jugend hatte ich um mich her geflügelte Worte genug. Sie kamen von der Lippe der Weisheit, des Rathes, sogar von der Lippe manches Unsterblichen. Aber die Worte hatten - Flügel. Sie entflatterten, wie die geflügelten Worte, die uns einst Vater und Mutter gesprochen. „Geflügelte Worte“, welche Bezeichnung Homer aller menschlichen Rede gegeben hat, sollen besonders betonte, besonders hervorragende, vorzugsweise im Gedächtniß der Zeitgenossen und der Nachwelt behaltene Aussprüche sein. Ob sie in den Reim gekleidet waren oder in die ungebundene Form des Schriftenthums, oder ob sie nur aus einer schlagenden Anecdote entnommen wurden: „Geflügelte Worte“ sollen von Munde zu Munde gehen und fast zum Sprichwort geworden sein. „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ ist Posa’s „geflügeltes Wort“, das man auch beim Whistspiel einem neugierigen Einblicker in unsre Karten zurufen kann. Die „geflügelten Worte“ können so zum Gemeinplatz werden, daß jene berliner Dame, die zum erstenmal den Don Carlos sah, gewissermaßen zu entschuldigen ist, daß sie nicht begreifen konnte, wie ein so hoher Geist wie Schiller sein Drama mit einer so „abgenutzten Redensart“, dem „Geflügelten Worte“: „Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber!“ beginnen konnte. Ein „geflügeltes Wort“ aus dem Leben, das auf einer Anecdote basirt, können wir alle Tage wiederholen, wenn wir unsere Zeitungen lesen: Oxenstierna’s Geständniß „Es ist kaum glaublich, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.“

Aller Jugendunterricht ist auf eine Thatsache unseres Geistes begründet, das rasche Verlernen der Kinder. Vergessen ist Vergegessen. Kinder sollen alle zwei bis drei Stunden Nahrung zu sich nehmen. Das Vergessen gehört zum Erstarken unseres geistigen Organismus. Wir erinnern uns denn auch in der That nur einzelner Lichtmomente oder auch einzelner schwarzer Punkte aus unserer Jugend, aus unserer Jünglingszeit, unserm ersten Mannesalter. Wir müssen oft erstaunend aufhorchen, wie Andre gleichsam besser über uns Buch geführt haben und mehr von unserer Vergangenheit behielten, als wir selbst. Wie es mit den jungen Jahren geht, so geht es auch mit einem Lebensstande, der uns dem Zweck dieser Zeilen näher führen soll, mit dem gleichen Beruf. Der entgegengesetzte Beruf hat für das Behalten z. B. eines vor Jahren geführten Gespräches alle Vortheile der Contrastwirkung für sich. Der Schriftsteller, der vor einen Polizeiminister, etwa den seligen Rochow, gerufen wird und vertrauliche Warnungen über seinen Freimuth erhält, prägt sich von dem Verfasser des „Geflügelten Worts“ vom „beschränkten Unterthanenverstand“ gewiß jede seiner Aeußerungen auch ohne sofortige Varnhagen’sche Niederschrift ein. Der General, der mit einem Bischof über die Belassung einer Kirche für Altkatholiken verhandelt, der Kaufmann, der bei Knaus ein Gemälde bestellt, die Commerzienräthin, die mit Excellenz Frau Ministerin über eine neue Strumpfsendung an die Missionäre unter den Hottentotten Comité sitzt - aus allen diesen Begegnungen kann man Erinnerungen heimtragen, worunter sich wohl zuweilen eine zum „Geflügelten Worte“ erhebt. Es spricht sich weiter und weiter, wenn ein österreichischer Aristokrat „den Menschen erst vom Baron anfangen“ läßt oder wenn ein anderer auf seinem Ball „keinen bürgerlichen Offizier tanzen“ lassen will. Der gleiche Stand dagegen, Dichter mit Dichter, Künstler mit Künstler, Beamter mit Beamter - vergißt im Handumwenden, wie man mit einander verkehrte, was man mit einander gesprochen hat. Man hat eben die Begegnung - gelebt! Man hat sein eigenes Selbst hingegeben, unbewußt und frei, der andre gab das seinige, die gleichen Berufsarten erzeugten gemeinschaftliche Interessen, die Form des Denkens war beim Einen wie beim Andern, Freiheit oder Gebundenheit, dieselbe. Da verfliegt ein Gespräch von einigen Stunden in - Nichts. Ein Zusammenleben von Monaten wird eine einzige wohlige oder trübe dunkle Erinnerung. Von unsern meisten derartigen Begegnungen haben wir nur ein Gesammturtheil, das sich nach Jahren nicht mehr auf seine zureichenden Gründe zurückführen läßt. So habe ich z. B. mit dem tiefsinnigen edlen Nicolaus Lenau flüchtig in Stuttgart, aber oft längere Zeit in Baden-Baden verkehrt und die Muße am Kursaal wurde damals noch nicht vom Lorgnettiren nach outrirten Damentoiletten in Anspruch genommen (die einzige auffallende weibliche Erscheinung der 30er Jahre am Kursaal in Baden-Baden war in jeder Saison die von ihrem Mann getrennt lebende Frau Romandichterin Karl Spindler; sie rauchte Cigarren), aber nicht ein einziges Wort, nicht einen einzigen Gedanken wüßte ich aus unsern ziemlich lebhaft gewesenen Unterhaltungen wiederzugeben. Jahrelang hatte ich einen innigen Freundesverkehr mit Georg Herwegh. Er lebt noch und mag es hier lesen: Von unserm ganzen Meinungsaustausch, Debattiren und Unterhalten weiß ich nichts mehr, als daß er in Paris, angesteckt von den Vorläufern unserer heutigen Sinnentäuschungsphilosophie, Marx, Heß, Ruge, alle Poesie für jetzt inopportun erklärte und daß er einige Jahre vorher, auf der Höhe des Ruhmes, den ihm seine „Gedichte eines Lebendigen“ einbrachten, auf einer Fahrt von Frankfurt nach Rödelheim, nach dem Schweigen fast einer Stunde, gefragt von den Damen, die uns begleiteten, woran er denn nun seitdem gedacht hätte, die Antwort gab: „Ich suche einen Reim auf Zedlitz“. Zedlitz in Wien, der Sänger der „Todtenkränze“, hatte dem „Lebendigen“ ein geharnischtes Wort in der Allgemeinen Zeitung in’s Gesicht geschleudert, Herwegh mußte erwidern und arbeitete im Stillen daran. So oft uns dann in unserm Kreise die im Leben oft so mundträgen Lyriker begegneten und die Größe ihres Namens durch ihr persönliches Benehmen nicht auszufüllen verstanden, hieß es wohl von einem stundenlangen Schweigen: „Er sucht einen Reim auf Zedlitz.“

Von einzelnen Begegnungen mit Berufsgenossen sind mir von Schlagworten, (zu den „Geflügelten“ rechne ich sie ihrer Apartheit und Kürze wegen,) manche in Erinnerung geblieben. Ich will eine kleine Reihe aufführen.

5 Es war ein schöner Sommernachmittag und vor vielen Jahren. Ich wollte Karl von Holtei besuchen. Der gefeierte Lieder- und Dramendichter hatte bei dem Anfänger, dem um manches Jahr jüngeren Literaturstreber eine Visitenkarte abgegeben. Der Weg führte in idyllische, friedliche Straßen. Da wo jetzt fünf Straßen sich durchkreuzen und ringsum ohrenzerreißende Töne, vom Rollen der Last- und Omnibuswagen hervorgebracht, widerhallen, dicht an der Jannowitzbrücke, die entweder noch nicht existirte oder nur für Geld passirbar war, lag ein Häuschen, bescheiden und klein, in einen Kohlenhof hineingerückt - die Front in die Holzmarktstraße gehend, der Blick nach hinterwärts auf die Spree. Gewiß gab es mit dem hier wohnenden liebenswürdigen Sänger der Schlesischen Gedichte, dem Dramatiker, der damals noch ganz, wie ein zweiter Wilhelm Meister, dem Theater und speciell den Hoffnungen für ein Berliner Volkstheater hingegeben war, die lebhafteste Unterhaltung. Der literarische Status quo von 1833 bot mehr brennende Fragen des Parnaß, als der von 1873. Die jungen eigenen Erfahrungen, eben aus Süddeutschland heimgebracht, wurden ausgetauscht gegen die reifern des um funfzehn Jahre älteren Dichters der „Lenore“ und des „alten Feldherrn.“ Shakespeare, Goethe, Tieck, Heine, Börne, Immermann, Gubitz und Kriegsrath Müchler, die Dramaturgie eines F. L. Schröder in Hamburg und die des Commissionsraths Cerf in Berlin, das Wesen einer Kritik, die um der Sache, und einer solchen, die nur um ihrer selbst willen da ist - (Holtei und der Kreis seiner Freunde hatten durch Saphir und dessen Nachfolger die letztere derb empfinden müssen) - da konnte das Gespräch eine Stunde dauern - und doch - ist mir nach Jahren nicht ein Wort, nicht ein Gedanke davon erinnerlich geblieben. Nur eine einzige Aeußerung blieb mir unvergeßlich. Der blaue Spiegel der vor Kähnen noch nicht wie unsichtbar gewordenen Spree veranlaßte meine Bemerkung, daß es doch angenehm sein müßte, so die Spree und die Badeanstalten nahe zu haben. „Gründlich gewaschen hat sich der Mensch nur durch ein russisches Bad!“ rief der Sänger des Kosciuskoliedes aus. Verflogen sind mir die Aussprüche über die Ideale in Kunst und Literatur, über Göthe und Friedrich Förster, über Raimund und dramatisirte Volksmährchen. Nur wie in Marmor gemeißelt blieb dieser überraschende Beitrag zum: „Erkenne dich selbst!“ über der Schwelle des delphischen Orakels: „Gründlich gewaschen hat sich der Mensch nur durch ein russisches Bad!“ La Rochefoucaulds Maximen, später dem Erzähler lieber geworden, als manche Werke der Naturphilosophie über die Weltseele, waren mir noch unbekannt. Holtei’s Wort aber führte mich in die Mysterien einer neuen Lebensphilosophie ein. Es schien mir möglich, Knigge’s Umgang mit den Menschen mit Brahmanenweisheit vom Ganges in Verbindung zu bringen.

Eine weitere Ausführung des Holtei’schen Ausspruchs gab August Lewald. Jedenfalls konnte man den vor Kurzem Verstorbenen einen originellen Menschen nennen. Geboren in Königsberg in Preußen als Jude, von guter Erziehung und Bildung, im Befreiungskriege durch seine Kenntniß der französischen Sprache in Berührung mit Generalen und Präfekten gekommen, dann Schauspieler, Theaterdirektor, getauft, Schriftsteller, lange in Paris und mit Heine befreundet, zuletzt nach einem längeren Ausbeuten seines buchhändlerischen Faiseurtalents durch stuttgarter Spekulanten katholisch geworden und schlimmkatholisch, Wühler und Hasser alles norddeutschen Wesens, wobei - beinahe hätte ich gesagt - wofür ihm König Wilhelm I. von Würtemberg eine Pension zahlte, gehörte August Lewald, ein Vetter unserer Fanny, zu den „letzten Romantikern.“ Ständig hatte er in frühern Zeiten einen Kreis junger Schriftsteller um sich, die er theils für seine Unternehmungen richtig zu verwenden, theils auszunutzen verstand, alle aber wie ein Weiser vom hohen Dreifuß der Erfahrung in praktischer Lebensphilosophie unterrichtete. Gestritten, gezankt wurde täglich, bei Tambosi in München, auf der Silberburg in Stuttgart, am Kurhause in Baden-Baden. Aber wenn ich mich fragen wollte: Was würdest Du wagen, mit „Gänsefüßen“ als ipsissima verba August Lewald’s anzuführen, so würde meine Feder stocken. Für die Authenticität von Aussprüchen wie: „Gehen Sie weg, junger Mann, Schiller war ein ekliger Kerl!“ oder: „Kommen Sie mir doch nicht so! In Theatersachen war Goethe ein reiner Esel!“ möchte ich am jüngsten Gerichte einstehen. Doch muß ich diese „Geflügelten Worte“, die in unserm Kreise wenig Anklang fanden (nur in Weimar, an Ort und Stelle, versetzte mich das drastische Dictum über Goethe als Dramaturgen zuweilen in nachdenkliche Stimmung) erst aus dem Gedächtniß heraufbeschwören. Immer aber gegenwärtig und wie die reine Urweisheit, begleiteten mich durchs Leben diejenigen Lewald’schen Maximen, die von ihm ertheilt wurden, als wäre er Ceremonienmeister am Hofe der Tuilerien gewesen: „Werden Sie einst dick, so ziehen Sie nie mehr eine weiße Weste an! Sie erscheinen sonst noch dicker!“ Oder: „Ein magerer Mensch muß enge Kleider tragen; einem Korpulenten muß alles wie am Leibe schlottern.“ Oder: „Selbst an der Tafel eines Königs ißt man kleine Pasteten nicht anders als mit den Fingern, nie mit der Gabel!“

Die Bühnenwelt ist besonders reich an Maximen und treffenden Schlagworten. Die drastischen Redewendungen des alten Friedrich Ludwig Schmidt am Hamburger Stadttheater sind allbekannt. Wenn der würdige Verwalter des „Schröder’schen Erbe“ zur Eröffnung einer Leseprobe und zur Empfehlung eines manchmal auf recht schwachen Füßen stehenden neuen Stücks mit gemachtem Enthusiasmus sagte: „Zehn Jahre Zuchthaus nähme ich, wenn ich das Stück geschrieben hätte!“ ist ein Geflügeltes Wort, das in der Theaterwelt von Munde zu Munde geht. „Wenn ich einen Schauspieler brauche, so schneide ich ihn vom Galgen!“ sagte derselbe, um seine Gleichgültigkeit gegen die Antecedentien eines Schauspielers oder Sängers, den er zu engagiren in der Nothwendigkeit war, auszudrücken. „Sie kochen alle mit Wasser!“ rief er gereizt aus, als man ihm die Leistungen der wiener und berliner Hofbühnen rühmen wollte. Eine ganze Gattung von theatralischen Hülfskräften, wie sie leider das Hauptkontingent der Bühne bildet, wurde mir gelegentlich durch zwei Bezeichnungen gegeben, die in der Erinnerung nicht von Ort und Stelle gewichen. Ein im komischen Fach und für Iffland’sche Väter ausgezeichneter Darsteller war Leonhard Meck in Frankfurt am Main. Zufällige Umstände machten ihn zum Direktor. Ein Charakterspieler war zu engagiren, zu dessen endlichem Erwerb ich ihm nach langem Wählenmüssen gratulirte. „Ein Dutzendknopf!“ sagte er mit dem ihm eigenen sardonischen Lächeln und meinte die obere Probe, die bei Knopfpacketen die inwendig vorhandene Sorte anzeigt. Einer dieser Knöpfe ist wie der andere. Und Karl Seydelmann bezeichnete mir einst einen seiner Nachfolger im Engagement mit dem kurzen, aber vielsagenden Worte: „Ein Unteroffizier!“ Das strenge Urtheil traf Karl Grunert. Trotz aller schwäbischen Liederkränze, bei denen Grunert Gastrollen im Vorlesen und Deklamiren der „Glocke“ zu geben pflegte, wofür man ihn in Schwaben den zweiten Talma nannte, kann versichert werden, daß Grunert immer im Bann des Exercitiums blieb, nur die Tradition fortsetzte, ein guter respectabler Acteur war, doch über die rein theatermäßige Wiedergabe der Charaktere nicht hinausgekommen. „Dutzendknopf“ und „Unteroffizier“ -! Kürzeste, einen langen kritischen Sermon ersparende Bezeichnung für eine ganze Gattung von Mimen. Ja man kann, wie jetzt die Dinge an der deutschen Bühne stehen, noch froh sein, daß wenigstens diese Art, die doch nach einem gewissen Modell gesponnen ist oder die Regel innehält, noch ab und zu vertreten ist.

Viele Jahre hatte ich die Gewohnheit, wenn ich in Berlin war, der großen Künstlerin Auguste Crelinger meine Aufwartung zu machen. Es lag ein eigenes Gemisch im Wesen dieser berühmten Frau. Erfahrungen, veranlaßt theilweise durch eigene Schuld, Beschämungen sogar, die sie nach ihrem Verhältniß mit dem Grafen Blücher erlitten, hatten ihr Gemüth verbittert. Ihr Herz war von Hause aus nicht so kalt, wie man nach ihrem Spiel hätte glauben sollen. Diese „gemalten Flammen der Leidenschaft“, die nicht immer in wirkliche Gluth übergehen wollten (wie war das auch beim ewigen Raupachspielenmüssen möglich!), schlossen bei ihr das Bedürfniß wahrer Freundschaft und Hingebung nicht aus. Doch mißtraute sie ständig, wählte, zweifelte. Entschied sie sich dann, so war sie nicht immer glücklich in der Wahl. Lange Zeit hatte sie das Bestreben, ihre liebenswürdigen, reichtalentirten Töchter am königlichen Theater zur Geltung zu bringen, ihnen gleiche Rechte mit Charlotte von Hagn zu sichern, ja zuletzt sich sogar noch in eigener Person zu behaupten, den veränderten Geschmacks- und Direktionsprincipien gegenüber, da der unselige selige Küstner das ganze königliche Schauspiel der Frau Birchpfeiffer zu Füßen gelegt hatte. In dieser Zeit glich sie einer im Käfig auf und niedergehenden Löwin. Ihr Haus war wie im Kriegszustande. Jedes neue Stück, die Austheilung der Rollen erzeugte Aufregungen und Kämpfe. So traf ich sie oft. Nachsichtig und milde war ihr scharfer Verstand für den jungen Bewerber um die Gunst der dramatischen Muse. Sie duldete eine ganze Vorlesung eines Stückes, was der Dünkel und die Spielgeld-Erwerbssucht neuerer Darstellerinnen, die jeden Abend auf der Scene stehen wollen, kaum noch ertrüge. Aber auch hier - eine allgemeine Zusammenfassung vieler von Auguste Crelinger gethanen Aeußerungen könnte ich geben, doch mit sogenannten Gänsefüßen als authentisch richtig nur das einzige mir im Gedächtniß gebliebene Wort: „Jeder tragische Aktschluß, der wirksam sein soll, muß im Buchstaben A endigen.“ Die große Tragödin verlangte also Abgänge beim Fallen des Vorhangs wie: „Und meine Macht, ihr sollt sie bald erfahren!“ Oder Hamlets: „Schnöde Thaten, birgt sie die Erd’ auch, müssen sich verrathen.“

5 Ein anderer Schauspieler, wunderlichster Zusammensetzung, bald mein grimmigster Feind, bald mein hingegebenster Freund, verlangte für den Anfang jedes Stückes „einige gleichgültige Redensarten, die dem Lärm der Zuspätkommenden im Publikum, der ersten Zerstreuung als Ballast hingeworfen werden müßten.“ Der Held dürfte dann auch nie, setzte er hinzu, das Stück eröffnen. „Wie könnte er sonst bei einem Gastspiel oder einem Benefiz „empfangen“ werden“?

Doch kehren wir zur Literatur zurück. Worte des Hasses, Worte des Neides, Worte der Anmaßung klingen mir bei meinen literarischen Erinnerungen genug in’s Ohr. Man war früher rücksichtsloser, ehrlicher. Man gab sich derb und gradeaus. Diplomatisch vorsichtig giebt sich erst die neue Zeit, wo die Erwerbssucht auch in’s Literaturleben eingedrungen ist und große Ausdehnung gewonnen hat. Die Macher, die Faiseurs, die Gründer, meist mittelmäßige mit einiger Routine ausgestattete Köpfe, bald schmeichelnde Schleicher, bald Intriguanten, die dem Bedeutenderen unversehens ein Bein unterschlagen, das sind die, die jetzt die beste Carrière machen. Von mancher literarischen Aufgeblasenheit hätte die Fülle des Stoffs, der „geflügelt“ zu werden verdiente, zu umfangreich werden können. Die reiche Erfahrung an Begegnungen solcher Art legte sich sogenannte - ana über N. N. und N. N. an, wie wir die köstlichen Galettiana aus Gotha haben. Diesen „Faustsack“, um mit Goethe zu reden, dessen Welt- und Menschenbeobachtung in einen solchen Sack alles, was zur Vollendung seines Faust dienen sollte, steckte, schütteln vielleicht einmal „meine Erben“ aus. Nehmen wir Unverfänglicheres.

Ein Wort, das beherzigt zu werden verdient, kann von Adolf Stahr mit Gänsefüßen angeführt werden, obschon es dreißig Jahre alt ist. Der vielseitig gebildete Kritiker, der in seiner Jugend so mannichfach anregend gewirkt hat, war damals noch nicht in die römische Imperatorenwelt verloren, hatte sich noch nicht verirrt in die Kunstgeschichte, wo ihm so oft die Esoteriker „Zurück!“ zugerufen haben, noch konnte man bei ihm einen regen Antheil erwarten, den seine so leicht erregte Empfänglichkeit für alles Gute und Schöne, wie sein leicht entzündeter Zorn gegen alles ihm Antipathische, an den laufenden Erscheinungen der Literatur nehmen würde. So war denn auch damals Begegnung und Gesprächsaustausch mit ihm umsomehr von den anregendsten, geistvollsten Ergebnissen belohnt, als sich zuweilen Karl Stahr, sein zu früh aus dem Leben geschiedener Bruder hinzugesellte, ein nicht minder durch die Schule der classischen Philologie gegangener anerkannt scharfer Denker. Aber mit Anführungszeichen, authentisch, mit körperlichem Eide zu bekräftigen sind bei mir aus diesem Verkehr nur einige dem Privatleben angehörende Dicta vorhanden und - das im Rheinischen Hofe, an der damals noch nicht lebensgefährlichen Friedrichs- und Leipzigerstraßenecke gesprochene, bedeutsame Wort: „Willst Du einen Toast ausbringen, so kannst Du dich ruhig gehen lassen, wenn Du nur den Schluß vorher ganz genau präcisirt und schon fest im Gedächtniß hast!“ Vortrefflicher Biograph Gotthold Ephraim Lessings! Deine Schwärmerei für den damaligen Muster-Intendanten von Gall, für den „großen Charakterspieler und ersten Komiker Deutschlands“ Jenke und unsern armen beklagenswerthen Julius Mosen habe ich in ihrem Wortlaut vergessen! Auch daß Du einst mein „Urbild des Tartüffe“ „das beste deutsche Lustspiel nach Minna von Barnhelm“ genannt hast - („Oldenburger Dramaturgie“) und ein dreißigjähriges Stillschweigen auf diese kühne Behauptung, als sie zur Ehrenrettung Deiner Kritik bei mancher Gelegenheit hätte aufrecht erhalten werden müssen, folgen ließest, ist mir in Wind und Nebel, Vergeben und Vergessen verronnen! Aber für diesen praktischen Wink an alle Toastredner habe ich Dir bei jedem Zweckessen, bei jeder Mahnung einer am Tisch neben mir sitzenden Dame: „Wenn Sie nun nicht Anstalt machen, Herr Doktor, so klopfe ich an’s Glas!“ von Herzen gedankt! Habe auch oft im Stillen bereut, Deine Lehre nicht befolgt zu haben. Kann doch der schönste Toast in’s Wasser fallen, wenn dem Schluß die Praezision fehlt. Fasele hin und her, gaukele, improvisire, stocke, schwimme, lieber Redner, eine Viertelstunde lang, nur am Schluß, da wisse, was Du willst! Den Schluß muß eine scharf abgerundete Form an die entgegengehaltenen Gläser bringen. Ob nun dieser Adolf Stahr’sche Lehrsatz ein Plagiat aus Aristoteles’ Rhetorik oder einem „Buch der Toaste“ (Quedlinburg bei Basse) oder aus andern Quellen ist, das mögen Wilhelm Lübke und Michael Bernays, die allzu strengen Verfolger der Adolf Stahr’schen Studienspuren beurtheilen, aber noch in jeder Gesellschaft hatte ich nach einem gescheiterten oder gelungenen Toaste für das „geflügelte Wort“ des Rathgebers ein Gefühl dankbaren Gedenkens.

Nun will ich ein Wort von dem unglücklichen August von Sternberg anführen. Unglücklich-? Sollte Derjenige nicht unglücklich sein, der es weiß, daß sich über ihn die Gefühle des Mitleids und der Bewunderung mit denen der Verachtung durchkreuzen? Ich kenne nicht viel von Iwan Turgenieff, der neulich in der „Allgemeinen Zeitung“ seinen Respekt vor Deutschland sich hat attestiren lassen, obschon es feststeht, daß er gesagt hat: „Der schlechteste französische Schauspieler ist noch besser als der beste deutsche.“ Als ich kürzlich seinen Roman „Rauch“ lesen wollte, wehte mir aus dem Anfang kein erstickender Qualm oder Dampf, der auf Feuer hätte schließen lassen, entgegen, wohl aber im Gegentheil eine so sibirische Kälte des Herzens, soviel russische Mäkelsucht und Medisance, daß ich vor nichts als Bildern der Häßlichkeit nicht weiter konnte. Doch glaube ich gern an sein großes Talent und vermuthe, daß ihm Sternberg verwandt war, wenn auch an Gestaltungskraft gegen ihn zurückstehend. Sternberg, von Schulden, gesellschaftlichen Mißverhältnissen und Demüthigungen aller Art verfolgt, flüchtete sich von Berlin nach Dresden. Sein Wesen war in solchem Grade geneigt, alles Hergebrachte auf den Kopf zu stellen, daß man auch über ihn - ana hätte anlegen können. Beim ersten Dresdener Besuch sagte er mit weinerlicher Stimme zu mir: „Wissen Sie nicht hier eine alte blinde oder lahme Dame, die des Abends zu Hause bleibt und sich freut, Jemandem, der sie besucht, eine Tasse Thee vorzusetzen?“ Es war ihm mit dieser dringlichen, schmerzbewegten Frage vollkommner Ernst. Er suchte das achtzehnte Jahrhundert. Er suchte einen Winkel, wo die alte gichtbrüchige Marquise d’Urfé am Kamin kauerte oder die Marquise von Graffigny einen Abbé und ein paar Schöngeister mit Anekdoten und etwas Limonade erquickte. Er suchte ein stilles abendliches Plaudern bei Thee und etwas Zwieback ohne Cigarren. Das Wiederkommen oder regelmäßige Erscheinen in einem solchen „Salon“ alten Styls hätte höchstens das allzuhäßliche Bellen eines Lieblingsmopses verhindern können. Die „alte lahme oder blinde Dame“ war ihm die Fee der Conversation, der Conversation ohne Hitze, ohne Politik, ohne Parteistandpunkt. Kunst und Literatur und die Menschen, die jedoch nie mit Namen genannt wurden, hätten diesem Theegespräch genug Material zur Unterhaltung geboten. War die Fee von Adel, desto besser für die Formen. Ein Bedienter, der in Livree empfängt, und ein anderer, der servirt, das würde die Erinnerung an Voltaire und Frau von Chatelet gehoben haben. Aber die alte Dame konnte auch dem Bürgerstande angehören. Nur mußte sie immer zu Hause sein. Es mußte, wenn man an ihrer Thür klingelte, nicht heißen: „Gnädige Frau sind bei der Toilette!“ Oder „Gnädige Frau sind im Theater oder fahren in einen Rout!“ Das ist dies traurige 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der Vergnügungssucht, des Sichumrennens, Stoßens, Drängens - des Biers und Tabacks im „Salon“, das Jahrhundert, wo man nur „zu Hause“ ist, wenn man einladet. - „Suchen Sie noch immer Ihre alte blinde oder lahme Dame?“ rief ich Sternberg oft zu beim Begegnen in Dresdens Straßen. Ach! er fand die Dame nicht, nur Ansätze zu ihr. Konnte die Dame sehen oder gehen und wenn sie achtzigjährig war, so opferte sie sogar ihren jour fixe einem Abend, wo Emil Devrient eine neue Rolle spielte. O, wie verwünschte Sternberg die Schauspieler und gar erst die Sänger! Das 19. Jahrhundert hat keinen „Salon“ mehr. Wir laden entweder zuviel ein, oder wissen nicht, worüber wir reden sollen. Unsere Conversation ist zerstreut, ein Jeder denkt nur an die Herausstellung seiner eigenen Person.

Doch es dürfte Zeit sein, daß ich mich dem Abschluß dieser Erinnerungen nähere, und ich will es thun mit einem Wort, das wenigstens für mich ein geflügeltes geblieben ist, obschon es nur von einem einfachen - Weinreisenden kam. Die Gaben des Bacchus sind ja denen des Apoll verwandt und am Fuß des Parnaß blüht vor allem die Rebe. Freilich - „Gaben des Bacchus“ -? Der Gemeinte ließ sich die seinigen theuer bezahlen. Doch konnte man dabei seinem Frankfurt-Mainzerischen Geplauder mit Interesse folgen. Er hatte die Gewohnheit, das Zeugniß seiner Kunden für diesen Jahrgang oder jenen, für diesen Traminer oder jenen Riesling mit den Worten einzuführen: Sehen Sie, da ist der Herr Geheimrath von Müller (auch eine feine Zunge! schaltete er ein), sie haben von dieser Sorte ein halbes Ohm bestellt! Die Menschen hatten sich bei unserm Musterreiter alle in „Zungen“ verwandelt. Darauf hin fragte ihn eines Tages die Zunge, die er eben bediente: Sagen Sie mir einmal aufrichtig, woran erkennt man nur die wahre Güte, unverfälschte Reinheit und Verläßlichkeit eines Weins? Unvergeßlich ist mir die Miene des ernstesten Nachdenkens, die hochgezogene Augenbraue, der gen Himmel gerichtete Blick des Gefragten und die nach langer Pause gegebene Erklärung: „Guter Wein, mein bester Herr Doktor, ist derjenige, an welchem uns nichts stört.“ Und in der That, auch die tiefsinnigste Aesthetik ist unvermögend, ein Kunstwerk und den Begriff des Schönen zutreffender zu definiren. Rafael, Homer, Beethoven sind groß, weil sie Werke schufen, an denen uns nichts stört.

Möge auch mir das Bewußtsein bleiben, daß die verehrten Leserinnen und Leser an diesen harmlosen Plaudereien nichts gestört hat.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Die feuilletonistische Plauderei Geflügelte Worte aus dem Leben erschien zuerst 1873 in Adolf Glaßbrenners Unterhaltungs- und Satireblatt "Berliner Montags-Zeitung". Nahezu unverändert übernahm Gutzkow den Text zwei Jahre später als Schlussbeitrag in seine erweiterte Neuausgabe der Oeffentlichen Charaktere innerhalb der Ausgabe Gesammelter Werke. In der Buchausgabe wurde der Titelzusatz Erinnerungen gestrichen und durch die Jahresangabe der Erstpublikation 1873 ersetzt.

J Karl Gutzkow: Geflügelte Worte aus dem Leben. Erinnerungen. In: Berliner Montags-Zeitung. Berlin. Nr. 4, 27. Januar 1873, [S. 5], Beilage; Nr. 5, 3. Februar 1873, [S. 5], Beilage; Nr. 6, 10. Februar 1873, [S. 5], Beilage. (Rasch 3.73.01.27)
A2 Geflügelte Worte aus dem Leben. 1873. In: Karl Gutzkow: Oeffentliche Charaktere. (Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 9.) Jena: Costenoble, [1875]. S. 447-460. (Rasch 1.5.9.41)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Kleine autobiographische Schriften und Memorabilien. Hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2018. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 3.)

#
2.1.1. Texteingriffe#

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Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.