Eine Woche in Berlin.#

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  1. Wolfgang Rasch
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04.12.2024
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396 Eine Woche in Berlin.#

I.#

Berlin wächst an Straßen, mehrt sich an Menschen, aber man kann des Abends um neun Uhr doch im Anhaltischen Bahnhofe ankommen und wird, mit einer Droschke von der Wilhelmsstraße zu den Linden fahrend, glauben, in Herculanum und Pompeji zu sein; denn selbst die große Friedrichsstraße gleicht dann schon einer verlängerten Gräberstraße. Auf fünf von der Eisenbahn herwackelnde Droschken zwei Menschen zu Fuß, einer auf dem Trottoir rechts, einer auf dem Trottoir links. Doch es ist eigen mit der Stille einer großen Stadt. Am Gendarmenmarkt feierliche Ruhe und in dem so gespenstisch einsam daliegenden Schauspielhause stürmte vielleicht eben ein vielhundertstimmiges Da capo. In seinem Concertsaale sang wenigstens Jenny Goldschmidt-Lind.

Wenn man nicht in der Lage ist, seine Ankunft in Berlin vermittels telegraphischer Depesche irgend einem Hôtelier unter den Linden anzeigen und sich eine Suite Zimmer im ersten Stock zweckmäßig vorrichten zu lassen, so wird man in der Hauptstadt der Intelligenz immer einige Mühe haben, sich in seinem Absteigequartier mit dem Wahlspruche auszusöhnen: Ländlich, sittlich. Die Rechnungen der Hôtels bleiben gewiß hinter den Fortschritten der Zeit nicht zurück, aber die Aermlichkeit der Zimmerausstattungen, das Ge-397präge der auf allen möglichen Auctionen zusammengekauften Möblirung und die scheinbare Halbeleganz gewisser, durch übermäßige Ausnutzung halbverwitterter Verzierungen, z. B. des unvermeidlichen Wachstuchs auf den Fußböden, stellt immer wieder die Aermlichkeit des berliner Comforts heraus, von den Betten, ihrer Enge, ihren centnerschweren Federpfühlen nicht zu reden. Von Doppelfenstern ist in der lichtliebenden Stadt wenig die Rede. Man erkennt auf diesem Gebiete immer wieder in Berlin seine alten Pappenheimer und läßt sich’s an ihnen genügen, wenn nur dafür die Ausbeute an geistiger Anregung desto belohnender zu werden verspricht.

Regen und Schnee, Sturm und Kälte lassen die großen Schmuzflächen der berliner Plätze und Straßen doppelt schauerlich erscheinen. Unabsehbar sind diese Wasserspiegel. Unter den Linden fegen die Straßenkehrer eine ganz eigenthümliche breiige Masse zusammen, ein fünftes Element, das bekanntlich auch nur in oder doch bei Berlin die Erfindung einer gewissen Plastik aus Straßenkoth möglich gemacht hat. Ob sich nicht auch aus der flüssigen und kaltgewordenen Lava, die von Kranzler bis zum Victoriahôtel stündlich zusammengekehrt wird, wie aus Chausséestaub eine Terra cotta für Eichler’s plastisches Cabinet bilden ließe? An Ordnung in der Handhabung der das Eis, den Schnee und den Schmuz betreffenden polizeilichen Vorschriften fehlt es nicht. An jeder Straßenecke der belebten Gegenden steht ein Constabler, der nach dem Charakter der preußischen Monarchie, als einer vorzugsweise spartanischen, auch nur im Helme des Kriegers für den öffentlichen Frieden sorgt. Man hätte aber die Neuerung des Helms nicht zu weit sollen um sich greifen lassen. Von der Ehre, ihn tragen zu dürfen, hat man jetzt die Droschkenkutscher glücklicherweise wieder ausgeschlossen.

Eine in die Augen springende Verschönerung der Stadt, die sie seit einigen Jahren gewonnen, sind die nun endlich fertiggewordenen Standbilder auf den großen Granitwürfeln der Schloßbrücke. Wol über zwanzig Jahre schon standen diese blanken Quadersteine und harrten ihrer künftigen Bestimmung. Was hatte man nicht anfangs auf ihnen einst zu erblicken gehofft? Heilige und Propheten, Panther und Löwen, berühmte Divisionsgenerale und bewährte wachsame Residenz-Commandanten. Jetzt ist „Das Leben des Kriegers“ daraus geworden in griechischer Auffassung. Ob die vielen Klagen über allzu große Natürlichkeit dieser Gruppen einen Grund haben, läßt sich noch nicht recht von dem heutigen Wanderer beurtheilen. Das Schneegestöber verdeckt alle Aussicht, der durch die einfache Trottoirreihe ohnehin beengte Fußboden ist zu naß, um irgendwo bequem nach dem ionischen Himmel aufblicken zu können, der sich über diesen weißen Marmorgruppen ausspannen sollte. Die armen Krieger, wie es scheint gewöhnt an die Ebenen von Griechenland, wo sie als Ringkämpfer bei den Nemeischen Spielen den Preis gewannen, haben heute dicke Epaulettes von Schnee auf ihren Achseln liegen. Man darf mit ihnen einiges Mitleid haben, man darf annehmen, daß sie frieren; denn zu ersichtlich sind sie nach Modellen der schönsten Grenadiere vom ersten Garderegiment gemeißelt; zu ersichtlich ist ihre Nacktheit keine gewohnte, sondern nur ein zufälliges Ausgezogensein bei einem gutgeheizten berliner Atelierofen; zu ersichtlich ist ihre nur auf die allgemeine Militärpflicht, die ein- und dreijährige Dienstzeit, die Manoeuvrezeit und ein mobilisirtes Ausrücken nebst endlicher Errungenschaft eines ehrenvollen Ordens oder einer Anstellung gehende Allegorie. Die übergroßen Flügel der Victorien sind schon für die Harmlosigkeit einer Beziehung auf Griechenland zu verdächtig. Man hat diese Flügel der Victorien hier in neuerer Zeit schon zu stereotyp neupreußisch, d. h. als Cherubimsschmuck, ausgebildet: es sind dieselben christlichen Victorien, die auf Wach’schen Bildern das Grab des Heilands hüten, die den Eingang in die Kuppeldachkapelle des Schlosses bewachen und auch sonst schon in die gewöhnlichen Verzierungen der Stadt übergegangen sind, selbst bei gewerblichen Zwecken. Diese mehr christlichen als antiken Cherubim wecken in der Bekränzung der Krieger immer nur die Vorstel-398lung eines seine Pflicht erfüllenden modernen jungen Landesvertheidigers und darum scheint das berliner Mitleid um die erfrierenden jungen Conscriptionspflichtigen und der mehrfach geäußerte Wunsch, ihnen warmhaltende Mäntel und Beinkleider zu schenken, nicht ganz unmotivirt. Nur über die allzu natürliche Wiedergabe der Natur hat man sich mit Unrecht beklagt. Die jungen Grenadiere stehen so hoch, die Granitwürfel haben erst noch einen so ansehnlichen Ueberbau erhalten, daß eine junge Dame schon sehr neugierig sein muß, wenn sie, aus einer Predigt im Dom kommend, an dem modernen Griechenthum auf der Schloßbrücke ein Aergerniß nehmen will.

Wie praktisch sich unsere Zeit zum alten Griechenthum und sogar zu dem sonst so beliebten unverfälschten Mittelalter bewährt, zeigt die erste, wirklich zweckmäßig verbesserte gothische Kirche, die man hier kürzlich eröffnet hat. Die unglückliche, so oft vom Feuer zerstörte Petrikirche hat in ihrem Neubau mit dem Feuer einen andern Vertrag geschlossen; sie wird geheizt. Der geschickte Baumeister Dieckhoff brachte in die versteinerte Palmenwelt der christlichen Architektur eine Versöhnung mit dem nordischen Klima, die unsere Erwin von Steinbach vergessen hatten. Kirchen, für das Bedürfniß Italiens und Spaniens erbaut, hatte man Jahrhunderte lang auf deutschem Boden nachgeahmt zum Kummer aller Christen, die auch im Winter fromm sein wollen. Manchem Christabend von zwanzig Grad Réaumur unter Null mußte, um die andächtige Phantasie in eine Sternennacht von Palästina zu versetzen, der Kohlentopf nachhelfen. Jetzt aber ist in eine schnell emporgewachsene schöne gothische Kirche vom ehrwürdigsten augsburger und nürnberger Aussehen ein heißer Fußboden von Ziegelsteinen mit einer Art von Dampfdrainage (Röhren sind vom unterirdischen Kessel in tausendfacher Zahl durch das ganze Gewölbe verbreitet) gekommen und schon beeifern sich andere Kirchen, deren Geistliche auch im Winter Zuhörer haben wollen, die Gothik mit der amerikanischen Nützlichkeitstheorie zu verbinden. Der Architekt Dieckhoff soll jetzt schon einer Menge Kirchen warme Fußböden legen, eine zu beachtende Neuerung, die vielleicht auf die gesunde Vernunft nicht ohne vortheilhaften Einfluß ist. Denn kalte Füße treiben bekanntlich das Blut empor und erzeugen nicht selten Ansichten, die ein behaglicheres Gleichgewicht der Körperfunctionen berichtigen kann.

Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen Unternehmungen aller Art ist außerordentlich. Auf Stellen, wo ich mich entsinne, mit Gespielen im Grase gelegen und an einer Drachenschnur gebändelt zu haben, sitzt man jetzt mit irgend einer Dame des Hauses, trinkt Thee und unterhält sich über eine wissenschaftliche Vorlesung aus der Singakademie. Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte, stehen jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schornsteinen. Die Fabrik- und Gewerbsthätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewunderung erregt es z. B., einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den Maschinenbauer Borsig, eine imponirende, behäbige Gestalt, in seinem runden Quäkerhut in einer kleinen Droschke hin und her fahren zu sehen, um seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig beschäftigt 3000 Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große Eisenwalzwerk bei Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulcan zu sein scheint. Es kommen dort Walzen von 120 Pferdekraft vor. Borsig baut gegenwärtig an der fünfhundertsten Locomotive. Man berechnet ein Capital von sechs Millionen Thalern, das allein durch Borsig’s Locomotivenbau in Umsatz gekommen ist. Es macht dem reichen Manne Ehre, daß er sich von den glücklichen Erfolgen seiner Unternehmungen auch zu derjenigen Förderung der Kunst gedrungen gefühlt hat, die im Geschmacke Berlins liegt und dem Könige in seinen artistischen Unternehmungen secundirt. Er hat sich eine prächtige Villa gebaut und pflegt einen Kunstgarten, der schon ganz Berlin einladen konnte, die Victoria regia in ihm blühen zu sehen.

Für gewisse industrielle Specialitäten gibt es in Berlin Betriebsformen, die wenig-399stens auf dem Continente ihres Gleichen suchen. Vor dem Schlesischen Thore liegen die Kupferwerke von Heckmann. Hier werden jene riesigen Vacuumpfannen geschmiedet, die man in den Rübenzuckerfabriken nöthig hat; hier werden die Kupferdrähte für die elektrischen Telegraphen gezogen. Heckmann bezieht sein Material direct aus England, Schweden und vorzugsweise Rußland. Ebenso großartig ist Ravené’s Handel mit Schmiedeeisen, Blei, Messing, Zinn und allen metallischen Rohproducten. Es charakterisirt den berliner Großkaufmann, der seine ursprünglichen naiv-bürgerlichen Triebe nicht lassen kann, daß Ravené in einem Anfall guter Laune sämmtliche verkäufliche Weine in Bordeaux aufkaufte und sich das Privatvergnügen machte, das Modell einer großartigen, aber soliden Weinhandlung aufzustellen, an der es ihm in Berlin sehr nöthig schien. Goldschmidt und Dannenberger haben Kattunfabriken im Gange, die Tausende von Menschen, die Bevölkerung kleiner Stadtbezirke, beschäftigen, überdies ein pauperistisches Element enthalten, das eine umsichtige Behandlung erfordert.

Suchen wir nun in einigen weitern Artikeln die Eindrücke eines kurzen Carnevalbesuchs in Berlin ausführlicher festzuhalten.

409 II.#

Es gibt ein Wort, das man nur in Berlin versteht. Aber auch nur in Berlin finden sich Erscheinungen, die man damit bezeichnen muß. Es ist dies der Ausdruck: Quatsch.

Quatsch ist der Anlauf zum Witz, der, auf dem halben Wege stehen bleibend, dann natürlich noch hinter dem halben Verstande zurückbleibt. Denn man kann eine halbwegs 410 vernünftige Meinung, ein halbwegs ernstes Urtheil noch immer als eine leidliche Manifestation gesunder Vernunft gelten lassen. Der halbe Verstand gehört oft der Mystik an, die bis auf einen gewissen Punkt auch gewöhnlich eine Art Logik für sich hat. Der halbe Witz aber ist schrecklich. Er ist das absolut Leere. Er macht die Voraussetzung, etwas Apartes bringen zu wollen und bleibt in der Grimasse stecken. Er schneidet ein pfiffiges Gesicht und sagt eine Dummheit. Quatsch ist nicht etwa der Unsinn. Es lebe unter Umständen der Unsinn! Den Unsinn haben Aesthetiker göttlich genannt, den echten, wahren, natürlichen Unsinn, der die Hälfte z. B. des wiener Witzes ausmacht. „Ein vollkommener Widerspruch fesselt Weise und Thoren“, sagt Goethe; aber der relative Widerspruch ist das ewig Gesuchte, das niemals Zutreffende, das herren- und ziellos Herumtaumelnde und Faselnde, mit einem Wort das Quatsche.

Berlin ist groß im Quatschen. Es kichert über jede Grimasse zum Witz, wenn auch der Witz ausbleibt. Irgend eine zwei mal wiederholte absonderliche Redensart findet unverzüglich ihr Publicum. Man findet hier Menschen, die für witzig gelten, weil sie keinen Satz enden wie andere Menschen, jedes Ding mit einem andern Namen nennen, Begriffe verwechseln und das Ernsteste im Tone der Ironie sagen. Es herrscht bei ihnen ein ewiges Vermeiden der geraden Linie, die andere Menschen gehen; sie fallen, sie stolpern über sich selbst; die Berliner nennen das Alles witzig, während ein Vernünftiger es quatsch nennen muß. Ich sah „Müller und Schultze bei den Zuluh-Kaffern“. Der Gegensatz war burlesk genug. Die wilden Hottentotten mit ihrem rasenden Tanze, ihrem Kriegsgeschrei, ihrem gellenden Pfeifen, mit Geberden, die eine Hetze wahnsinniger Affen zu zeigen schienen und im Grunde Furcht und Entsetzen, Grauen und Mitleid, solches Gebahren menschlich nennen zu müssen, einflößte, und unter ihnen die beiden Stereotypen des „Kladderadatsch“, zwar ziemlich treu im Aeußern, aber in jedem Worte, das sie sprachen, Vertreter des absolut Quatschen bis zum Ekel. „Schultze!“ „Müller!“ „Müller!“ „Schultze!“ „Bist du et?“ „Ja, ik bin et.“ „Hurrjeh!“ u. s. w. Man denke sich einen solchen Scherz auf dem Palais-Royal-Théâtre in Paris, wir wollen nicht einmal sagen mit Levassor und Ravel, sondern nur mit Sainville und Kalekaire! Das Kroll’sche Theater mag die Mittel nicht besitzen, gute Komiker zu bezahlen, aber der Text von Cormon, Clairville, Dennery und wie die Fabrikanten solcher Gelegenheitsscherze in den kleinern pariser Theatern heißen, würde nicht so unbedingt nur fade sein. Man muß das pariser Oh! Oh! gehört haben bei jedem abblitzenden Einfall eines solchen Unsinn-Textes, um zu verstehen, wie die Franzosen auch bei solchen Veranlassungen witzig und geistreich sein können. Diese berliner Dramatisirung der Zuluh-Kaffern war aber so widerwärtig, als wenn man sich vorstellen wollte, der Naturgeist selbst erhübe einmal seine gewaltige Stimme, finge zu reden an und verwechselte dabei Mir und Mich.

Das Quatsche ist doch wol in den Berliner dadurch gekommen, daß sein ursprünglich einfacher, sogar naiver und kindlicher Sinn den Anforderungen einer immer mehr anwachsenden und über seine geistige Kraft hinausgehenden Stadt nicht gleichkommt. Schon das verdorbene Plattdeutsch, das den Volksjargon bildet, trägt den Stempel der Unzulänglichkeit an sich. Es ist die absolute Sprache der Unterordnung, der Beschränktheit; es ist die Sprache der Hausknechte, Hökerinnen, kleinen Rentiers, der Kinder, des in die Stadt versetzten Bauers. Die Sprechweise der Gebildeten trägt so sehr noch die Spuren vom Tonfall des Volksdialekts, daß es zu einer ganz freien Sprachbehandlung im Sinne des reinen Oberdeutschen hier nur bei sehr Wenigen kommt. Wird nun ein so beschränktes und in seiner Art doch wieder sehr scharf ausgeprägtes Sprachmaterial bestimmt, dem großen Ideenkreise einer Stadt, die eine Hauptstadt der deutschen Intelligenz sein will, zum Ausdruck zu dienen, so entsteht dadurch jenes absolut Alberne, das man eine Art Geistespatois nennen möchte. Diese Misgeburt entstand erst mit der Zeit, wo Berlins Trieb 411 nach öffentlicher Bewährung wuchs. Seine Bevölkerung emancipirte sich zum Großstädtischen. Die Schusterjungen machten wol die öffentliche Meinung schon zu Friedrich’s des Großen Zeit; der König sagte den Katholiken, die das Fronleichnamsfest öffentlich feiern wollten: Er hätte nichts dagegen, wenn die Schusterjungen es nicht hinderten. Allein die literarische Vertretung des Schusterjungenthums ist neu und schreibt sich von den bekannten Eckensteherwitzen her. Dieser Fortschritt war an sich nicht unwichtig. Es ist mit diesem Neu-Berlinerthum viel gesunde Vernunft zur Geltung gekommen und wer würde verkennen, daß „Kladderadatsch“ ganz Deutschland, von Saarlouis bis Tilsit, vorm Einschlafen geschützt hat? Aber die „Gelehrten des Kladderadatsch“ sind witzige Ausländer, die sich nur berlinischer Formen bedienen. Ohne die Schärfe dieses Blattes würden diese Formen, wie die Erfahrungen auf den neueröffneten hiesigen Bühnen zeigen, ganz ins Quatsche zurückfallen.

Die Art, wie hier in neuerer Zeit Bühnen eröffnet worden sind (um diese Fährte des Geschmacklosen weiter zu verfolgen), ist eine der unglaublichsten Inconsequenzen einer Regierung, die in allen andern geistigen Fächern so außerordentlich schwierig ist. Das Ministerium Ladenberg ging auf eine so gewissenhafte Revision der Theaterconcessionen aus und in Berlin durften Kaffeehäuser und Tanzlocale sich in Theater verwandeln! Es ist noch ein wahres Glück, daß unser Schauspielerstand durch die sogenannten Tivolitheater nicht ganz verwildert ist, was freilich in einigen Jahren immer mehr der Fall sein wird; es finden sich immer noch einzelne Darsteller, die den Ehrgeiz besitzen, mit ihrer Kunst nicht ganz zu Grunde zu gehen. Kaum ist die nächste materielle Noth befriedigt, so werden sie bestrebt sein, den glücklicher gestellten Collegen an den Hof- und großen Stadttheatern gleichzukommen und Besseres und Edleres zu spielen. So hat sich das hiesige Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, besonders durch die Bemühungen der trefflichen HH. Görner und Ascher, zu einer überraschenden Geschmacksrichtung, die sich in den schwierigsten ästhetischen Aufgaben versucht, emporgearbeitet, allein im Sommer verwandelt es sich wieder in ein Parktheater und noch ist die Bevölkerung zu sehr geneigt, an dem Ton Freude zu haben, der auf einigen andern Theatern im Sinne des Quatsch angeschlagen wird. Theater über Theater! Hier gehen Menschen herum, die, ohne die geringste geistige Bildung, ohne Geldmittel sogar, eine Theaterconcession in der Tasche haben; Andere glauben sie ohne weiteres durch ein geeignetes Fürwort an hoher Stelle erlangen zu können. Einen Circus zu eröffnen oder eine Bühne scheint nach den Gesetzen der Gewerbefreiheit einerlei und allerdings hat jeder Speculant Recht, wenn er sich auf seine Vorgänger beruft und z. B. frägt: wie kommt der Cafétier Kroll zu einer Bühne, wie kommen zwei Gebrüder Cerf, Handlungsbeflissene, dazu, wie kommt jener einst zum Gespött der Vorstädte declamatorische Vorstellungen gebende Rhetor Gräbert dazu? Wer ist Herr Carli Callenbach, der auch ein Theater besitzt? Diese Anarchie auf dem dramatischen Gebiete macht dem Freunde der Literatur ganz denselben Eindruck, wie es dem Freunde militärischer Ordnung peinlich war, sogenannte Bürgerwehr in rundem Hut und Ueberrock die Armatur der königlichen Zeughäuser tragen zu sehen. Nicht daß die Bürgerwehr als solche zu verwerfen war, aber sie bedurfte der Organisation, sie bedurfte jener Haltung, die dem Waffendienste geziemt; ebenso verletzt wendet sich die dramatische Muse ab, wenn man ihr opfert wie dem Gambrinus in bairischen Bierstuben. Man kann die treffliche Organisation der pariser Theater mit diesen Polkawirthschaften Thaliens in keine Vergleichung bringen, man vergleiche wenigstens die Theater der wiener Vorstädte. Die Josephstädter Bühne ist vielleicht diejenige unter ihnen, die am tiefsten steht und doch hat sie eine bestimmte Specialität; manches Talent, z. B. Mosenthal’s, entwickelte sich zuerst auf ihr, „Deborah“ erschien zuerst auf der Josephstädter Bühne.

Das Repertoire des Königlichen Theaters fand ich im Schauspiel sehr wenig anziehend, 412 „Waise von Lowood“, „Deutsche Kleinstädter“, „Geheimer Agent“ u. s. w. Es herrscht hier eine Unsitte, mit der sich kein noch so wohlmeinender ästhetischer Sinn vereinbaren läßt, nämlich die Befolgung der Specialbefehle, welche die einheimischen und fremden höchsten Herrschaften über die Stücke aussprechen dürfen, die sie zu sehen wünschen. Es ist dies eine Form des Royalismus, die in der That etwas auffallend Veraltetes hat und in dieser Form in keiner Monarchie der Welt vorkommt. Bald heißt es: „Auf höchstes Begehren“, bald: „Auf hohes Begehren“, bald: „Auf Allerhöchsten Befehl“, bald nur einfach: „Auf Befehl“, unter welcher bescheidenern und auch seltener vorkommenden Form sich die Wünsche des Königs zu erkennen geben. Was ist das aber für eine Unsitte, daß die Kammerherren auch jeder durchreisenden, prinzlichen Herrschaft die Stücke bestellen, welche diese zu sehen wünschen! Die geistigen Armuthszeugnisse, die sich Prinzen, Prinzessinnen, ab- und zureisende kleine Dynasten und Dynastinnen mit ihren Wünschen um dieses Ballet, um jene Oper, um eine kleine Posse geben dürfen, sind schon an sich kläglich und fallen ganz aus der Rolle, welche die Monarchie heutiges Tags zu spielen hat; aber der Gang der Geschäfte wird dadurch auch auf eine Art unterbrochen, unter welcher Kunst und Publicum leiden. Hat eine Prinzessin eine Empfehlung von auswärts bekommen, die ihr eine Schauspielerin oder Sängerin überbrachte, so bestellt sie die Stücke, in denen sie auftreten soll. Kommt der Hof aus Mecklenburg-Strelitz, so legt man ihm die Stücke vor, die gerade leicht anzurichten sind, er streicht sich einige an und man liest: „Auf höchstes Begehren: «Der geheime Agent»“, ein Stück, das jetzt auf jedem Liebhabertheater gesehen werden kann. Der König besitzt so viel Geist, daß ihm diese Manifestationen des Privatgeschmacks seiner Brüder oder Neffen oder Vettern ohne Zweifel viel Heiterkeit verursachen; er sollte aber einen Schritt weitergehen und diesen Misbrauch der von den Kammerherren veränderten Repertoires im Interesse der Kunst und des Publicums verbieten. Es macht sich dies öffentlich kundgegebene Denken und Mitreden der „Herrschaften“ in einem Staate, der ja doch wol ein constitutioneller sein soll, sehr wenig nach dem Geiste der in ihm allein anständigen Oeffentlichkeit.

Natürlich ergibt sich unter solchen Umständen, wo die Großen und Mächtigen öffentliche Fingerzeige über ihren eigenen Geschmack geben dürfen, die Förderung des Gedankenvollen und Nothwendigen an einer Bühne weit schwieriger. Wenn sich die Großen „Satanella“ oder „Aladin’s Wunderlampe“ commandiren, wenn Pferde auf dem Königsstädter Theater agiren, Klischnigg, der Affenspieler, und die Zuluh-Kaffern auf dem Kroll’schen Theater ihr Wesen treiben, kann eine erste Aufführung eines neuen Dramas im Schauspielhause nur ein kleines Publicum finden; vor einem halbbesetzten Hause sah ich die erste Aufführung des „Demetrius“ von Hermann Grimm. Es war ein kleines Geheimrathspublicum aus der gothaer Richtung; ein paar Offiziere, einige Professoren, wenig Studenten, auf zehn Menschen immer ein bestallter Recensent. Die Darstellung war ebenso warm wie die Ausstattung glänzend. Das funkelte von Farbenpracht, Frische und Neuheit der Costümstoffe, überall, in den kleinsten Ausschmückungen der Wände zeigte sich ein vorhergegangenes Studium der betreffenden Geschichte, Sitten und Kleidertrachten der Zeit, in welcher die Handlung spielte. Das Stück war eine Anfängerarbeit, die kaum Talent verrieth (nur aus Ueberfülle sprudelt der Quell einer geistigen Zukunft, nicht aus einer Dürftigkeit, wo sich Armuth den Schein der Einfachheit geben will), aber die Darstellung ging von einem schönen Glauben an den Werth des Stückes aus; nirgends sah man ihr eine Misstimmung über die aufgebürdete, undankbare und für die Zeit der besten Saison verlorene Aufgabe an und mit dem halbunbewußten Pflichtgefühl verband sich die noch immer außerordentlich ansprechende Natürlichkeit der Hendrichs’schen Spielweise. Rollen, die keine Schwierigkeiten der Dialektik bieten, wird Hendrichs immer vorzüglich spielen. Dieser Künstler ist ein schwacher Hamlet, aber ein liebenswürdiger und überredender Romeo. 413 In seiner Passivität liegt Poesie und da er nur die Contouren ausfüllt, die der Dichter ihm vorzeichnet, so nimmt er durch die Treue und Einfachheit, mit der er sich seinen Aufgaben unterzieht, überall für sich ein, wo einmal die Macht der Gewöhnung ein Publicum für ihn gewonnen hat, wie in Berlin, Frankfurt und Hamburg, wo er gewohnte Triumphe feiert.

Ich bedauerte, Dessoir nicht beschäftigter zu finden. Dieser geistvolle Schauspieler leidet hier an der üblichen Abgrenzung unserer Rollenfächer. Der Begriff eines Charakterspielers, den er zu vertreten hat, ist so vieldeutig. Man kann Hamlet als Liebhaber spielen, man kann ihn aber auch, wie Dawison und Dessoir thun, als Charakterzeichnung geben. Dessoir ist einer jener Schauspieler, die zwar in jedem Ensemble eine Zierde sein werden, selbst wenn sie nur zweite Rollen spielen, aber Dessoir hat den ganzen Beruf, eine Stellung einzunehmen, die ihn zum Matador einer Bühne macht und jede bedeutende Aufgabe, die nicht ganz dem Liebhaberfache angehört, ihm zuweist. Alle die Rollen indessen, auf die ihn sein künstlerischer Trieb hinführen muß, sind noch im Besitze der Herren Rott und Döring. Es spricht für die geistige Anregung, die Berlin bietet, für die Belohnung, die man im Beifall eines natürlich sich hingebenden Publicums findet, daß Dessoir darum doch seinen hiesigen, höchst ehrenvoll behaupteten Platz mit keinem andern vertauschen möchte.

Vom Schauspiel sagt man an der Verwaltungsstelle, es würde keineswegs vernachlässigt und es hat sich seit Düringer’s Mitwirkung sehr gehoben; dennoch muß man bei dem Vergleiche der unverhältnißmäßigen Pracht, die das Opernhaus umgibt, wünschen, es würde doch endlich ganz von der Musik und dem Ballet getrennt, es verfolgte seine ernste und schwierige Aufgabe für sich allein. Das Schauspiel kann nur ein Stiefkind erscheinen gegen die Art, wie die Leistungen des Opernhauses nicht etwa von der Verwaltung geboten, sondern vom Publicum empfangen werden. Neun glänzende Prosceniumslogen ziehen fast ebenso viel Aufmerksamkeit auf sich wie die Leistungen der Scene. Das Opernhaus ist das Stelldichein der höhern und mittlern Gesellschaft, der stete Besuchsort der Fremden, die Sehnsucht der allgemeinen Schaulust und ein Tempel des Genusses. Nicht Paris und Wien finden im Ballet ihre speciellsten sinnlichen Bedürfnisse so befriedigt wie Berlin. „Satanella“ und „Aladin’s Wunderlampe“ sind die Ballete des Tags, die Jeder gesehen haben muß und die Derjenige, der die Mittel besitzt, nicht oft genug sehen kann. Welche Fülle von Licht, Farbe, Glanz aller Art, von Jugend, Schönheit und Gefallsucht! Die musikalischen Kräfte sind hier so groß, daß z. B. an Einem Abend im Opernhause der „Prophet“ gegeben werden kann, im Schauspielhause die Zwischenaktmusik zu „Egmont“ vollständig da ist und noch in der Singakademie ein Concert mit der königl. Kapelle begleitet werden kann. Es ist dies nur möglich durch die Unzahl von Accessisten und Exspectanten, die zwar nicht die Leistungen vorzüglich, aber alle Fächer, auch die des Chors und des Balletcorps so vollständig machen. Auf dreißig Tänzerinnen, welche die Verwaltung besoldet, kommen ebenso viel junge, hübsche, talentvolle Mädchen, die unentgeltlich mitwirken, nur um der Anstalt anzugehören und vielleicht einmal in die besoldeten Stellen einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Aeltern und Angehörige „um Gotteswillen“ der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum retten. Daher auf der Scene die überraschendste Massenentfaltung. Die Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Costüms, der Geschmack der Decorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische Grotten von Edelsteinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der Scene ist ganz und vollständig. Nirgendwo erblickt man die Hülfsmittel der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; 414 hier ist die Schere der Oekonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von vorn an. Kein Costümier und Decorateur ist an die Wiederaufstutzung alter Vorräthe gewiesen; hier regieren jene Waarenmagazine, wo es immer wieder neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvollsten Maler neue Leinwand gibt.

Ein Ballet in Berlin zu sehen wie „Satanella“ ist in vieler Hinsicht lehrreich. Dem Aesthetiker macht vielleicht die Grazie und herausfodernde Keckheit z. B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die Vorstellung im Großen und Ganzen mit Allem, was dazu auch von Seiten des Publicums gehört, ist culturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre Himmel des Publicums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende, übermüthige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem durchsichtigen Tricot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich unter den ehrwürdigen Thatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie des berliner Ballets und das berliner Ballet ist das enfant chéri der Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel, Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere Mission - was ist das Alles gegen einen Sonntag Abend, wenn Berlin in „Satanella“ seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen sind anwesend. Hinten auf der Scene funkelt ein Ordensstern neben dem andern, jede Coulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt die Generale und Minister, das Parket den reichen Bürgerstand, die Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die arbeitenden Mittelclassen und selbst die halbe Armuth, der man sonst nur Tractätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivolste aller Textbücher mühsam nachzustudiren, um die stumme Handlung der Scene zu verstehen. Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte berliner, in der Treibhauswärme der speciellsten, königlich preußischen Haus-Traditionen großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr besternten Herren, eure Masken ab! Verrathet doch nur, daß euer Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht etwa hier der Cultus des Schönen, sondern draußen euer officielles System eine Komödie ist!

Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetiren seiner Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine Verlobte, die vielleicht Geibel und „Amaranth“ liest, aber Niemand wird zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser thut, sich an Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur Anstands halber holt! Kann das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem reizendsten Château d’eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Consistorialräthe Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne „Teufelinne“, die Antiken des Vatican überhaupt, wie Tholuck gethan, „schöne Götzen“ 415 nennen? Verwandelt sich all’ diese Lust und Liebe, all’ diese Freude und Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein „Anstands halber“, d. h. um dem Vorurtheil zu genügen, in Pech und Schwefel und wird irgend Jemand eine solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der: Ich fühle wol, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen Mittelweg zwischen den Concerten des Domchors und Satanella geben? Diese berliner Balletabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft und dem fashionablen Büßerthum, dessen neupreußische Früchte wir hinlänglich kennen.

Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander. Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Carriere miethet sich einen „Stuhl“ in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde desselben zu lesen ist: „Herr Assessor N. N.“ und die stille Sehnsucht des wahren innern Menschen ist hier doch allein - der Genuß. Dem Genuß bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten Altäre baut z. B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse Alles bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht wieder sieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle entschädigt. Dies berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte. Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetirens geworden, nirgends wird man z. B. den Begriff „Bowle machen“ jetzt so schleckerhaft ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wol eine Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend Thalern muthet man sich die Stellung eines Capitalisten zu. Der Credit gibt nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Muthigen. Die Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste. Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde niedergehen, wo in den Schaufenstern der Boutiken die fabelhafteste Scheinfülle des Vorraths mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.

Es ist mannichfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der socialen Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen ergeben müssen, nachzuspüren. Der Todtenwagen rasselt still und ernst durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische Beleuchtung. Erschütternd war mir z. B. die Nachricht, daß der Philosoph Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat, seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Thalern begnügen mußte! Zweihundert Thaler jährlich für einen Denker, während es hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Thaler bringen! 416 Beneke war ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen. Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines göttinger Professors nach Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doctrinäre Schwindel etwas gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der Jahre lang die trivialsten Köpfe, die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakspearen auf den Knieen zu dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: „Ich leide am Mangel der Beförderung.“

442 III.#

Eine derjenigen Schöpfungen des Königs, in denen man unbehindert von irgend einer drückenden Nebenempfindung athmet, ist und bleibt das Neue Museum. Der Fremde wird es bei jedem Besuche wiederzusehen sich beeilen, er wird sich der Fortschritte freuen, die die Vollendung des Ganzen inzwischen gemacht hat, er wird sich in diesen Räumen aller lästigen Beziehungen auf locale Absichten und Einbildungen erwehrt fühlen und im Zusammenhange wissen nur mit jenen allgemeinen deutschen Kunstbestrebungen, die uns die Schönheit und Pracht von München, die Ausschmückung des königlichen Schlosses in Dresden, die neuen Pläne für Weimar und Eisenach, unsere neuen Denkmäler, Kunstausstellungen, Kunstvereine und den Aufschwung unserer Akademieen geschaffen haben. Das Neue Museum liegt in einem versteckten, zur Stunde noch beengten, unfreundlichen Winkel der Stadt, aber es ist die traulichste Stätte der Begrüßung, das heiterste Stelldichein des Geschmacks und der prüfenden, immer mehr wachsenden Neugier der Einheimischen und der Fremden, die sogleich hierher eilen. Es entwickelt sich langsam, aber reich und gefällig. Es entwickelt sich unter Auffassungen, die uns wahlverwandt sind. Wir sind in Italien und in München vorbereitet auf Das, was wir hier wiederfinden. Diese Räume hat mit den Eingebungen seines Genius vorzugsweise eine große, freie Künstlernatur zu beleben, ein Dichter mit dem Pinsel, ein Denker nach Voraussetzungen, die nicht aus dem märkischen Sande stammen. So stört uns denn auch hier kein beliebter byzantinischer Schwulst, keine russischen Pferdebändiger, oder Athleten oder Amazonen erfüllen uns, während wir an Athen denken wollen, mit lacedämonischen Vorstellungen; selbst die hier in Berlin überall aushängende Devise: „Nach einem Schinkel’schen Entwurf“, stört uns nicht. Man muß Schinkel einen erfindungsreichen und sinnigen Formendichter nennen, aber er schuf doch wahrlich zu viel auf dem Papiere, er zeichnete zu viel Abends bei der Lampe; es waren geniale Studien und Ideen, die er ersann von Palastentwürfen an bis zu Verzierungen von Feilner’schen Oefen; aber es fehlte ihm doch wol eine gewisse Kraft, Reinheit und Einfachheit des Stils.

Es findet sich auch im Neuen Museum Manches, was so nicht sein sollte. Es hat eine ägyptische Abtheilung, die eine Spielerei geworden ist. Um ja den Charakter der alten Hieroglyphenzeit zu treffen, hat man die Wände mit Inschriften bedeckt, die Herr Lepsius erfand, hat man falsche Mumien unter die echten gemengt, Pyramideneingänge gebaut und ähnlichen Spaß getrieben, der eines Museums, das vor allen Dingen instructiv sein soll, nicht würdig ist. Man muß beim dritten der hier vorgeführten Symbole fragen: Ist dieser Gegenstand echt oder nachgeahmt? Schon die Malerei der Wände mußte in einem Stile gehalten sein, der dem aufgesammelten echten ägyptischen Vorrathe als Folie diente und nicht im mindesten die Aufmerksamkeit, die jenem gebührt, ablenkt und theilt. Es ist hier, wie wenn man Theaterdecorationen mit menschlichen Figuren bemalen wollte. Die Marmorsäle für die Plastik sind etwas gedrückt und beengt und kommen der traulichen Heiterkeit der unübertrefflichen Glyptothek in München nicht gleich. Aber das Treppenhaus söhnt mit Misständen aus, von denen mancher ohnehin noch bei weiterer Befreiung des Gebäudes 443 von seinen alten Nachbarschaften fallen wird. Bedauerlich wird unter allen Umständen die Schwierigkeit bleiben, mit Bequemlichkeit die Hauptzierde des Treppenhauses zu genießen, die Kaulbach’schen Wandgemälde. Früher auf den Gerüsten war das eine leichte Aufnahme der wachsenden Arbeit, jetzt aber hat das Auge gewaltige Distanzen zu überwinden und, was noch schlimmer ist, durch die Perspective rücken die großen Gemälde zu nahe aneinander. Die drei fertigen Hauptstücke der einen Wand scheiden sich zu wenig und „Die Blüte Griechenlands“, das dritte, seither enthüllte Bild leidet unter den dunkeln Tönen seiner beiden unruhigen Nachbarn. Die Völkerscheidung und die Zerstörung Jerusalems haben außerdem zu viel von ihrem Farbencharakter an die Griechenzeit abgegeben, die mit ihrem auf einem Kahne schwimmenden Sänger, ihren Schwänen und Wassernixen etwas Nordisches, an die Seejungfern, an die Rheinnixen und den Schwanenritter Erinnerndes hat. Wenn die große schlanke Gestalt mit der Leier Homer sein soll, so erinnert sie zu sehr an das übliche Modell der Kaulbach’schen Helden, an seine Christus, seinen Wittekind, an die Michel-Angelo-Gestalten, wie er sie liebt, Figuren, die zu lang und zu hager für den Sänger der „Iliade“ sind, der nichts von dem Reckenhaften des nordischen Wuchses gehabt haben kann. Die neben ihm sitzende Sibylle ist für Griechenland vollends fremdartig und Thetis erscheint in solcher Umgebung mehr wie die Helena aus dem zweiten Theile des „Faust“. Das ganze Bild ist etwas ungeordnet und einheitlos. Es erklärt sich nicht natürlich. Seine Vorgänge sind getheilt und die Gruppen haben, scheint es, nicht bequem Platz, so vortrefflich gedacht und nur bei Kaulbach’s Natürlichkeit wiederzufinden z. B. die Art ist, wie sein Achilles, wenn er es sein soll, sich’s im Sitzen bequem macht. Der Tanz um den Altar im Hintergrunde erinnert an ähnliche Kampfspiele und Balletkünste auf alten Bildern, Tapeten und Theatervorhängen und scheint uns mehr ein sinnloses Rasen um die oben dargestellte, wunderbar herrlich ausgeführte Göttergruppe auszudrücken als den entsprechenden reinen Cultus und am wenigstens das Wesen etwa der alten Waffenspiele und Ringkämpfe. Die Färbung des Bildes ist zu dämonisch innerlich und zu dunkel äußerlich. Es sollte seinem Gegenstande gemäß gegen seine beiden Nachbarn durch die lichtesten hellblauen, grünen, lichtgelben und Rosa-Farben abstechen und schon dadurch sogleich eine ganz andere Welt vergegenwärtigen als das Heiden- und Judenthum.

Weit mehr befriedigt wird man sich von den inzwischen aufgestellten Fortsetzungen der Cartons zu dem berühmten Fries finden. Diese Arabesken zur Geschichte sind hier ganz besonders beliebt und zufälligerweise auch in dem Geschmack gehalten, den die Berliner so gern haben. Es findet da Jeder seine Erinnerungen aus Becker’s „Weltgeschichte“ wieder und zwar in Form eines „Witzes“. Ich habe mich nie darüber freuen können, daß gewaltige Thatsachen der Geschichte hier von kleinen Kindern carikirt werden: eine Handlung wie die des Mucius Scävola ist zu ernst gewesen, als daß sie ein seine Hand ins Feuer steckender und vor Schmerz greinender Knabe persifliren könnte. Vieles kommt fast auf den Geist der „Jobsiade“ und der travestierten „Aeneïde“ von Blumauer heraus. Doch nur anstreifend berührt diese Sphäre der Humor der Malers. Er weiß sich immer wieder auf das reine Schönheitsgebiet zurückzuziehen, er weiß immer wieder einzulenken aus der Caricatur in die Grazie und sinnige Idealität. Die jetzt fertigen Momente des Mittelalters enthalten ganz ausgezeichnete Gedanken und die vollgültigsten Belege von ebenso viel Bildung im Wissen wie Freimuth in der Gesinnung dieses Künstlers. Es thut wohl, unendlich wohl, einen Künstler hier walten zu sehen, der sich losgerungen hat von den traditionellen Auffassungen unserer Künstlerwelt, von diesem nur akademischen Andeuten, diesem nichtssagenden und jede scharfe Sprache vermeidenden Allegorisiren. In diesem erfindungsreichen Kopfe nistet nichts Reactionäres, wie bei den meisten Künstlern, die ihn um seine Erfolge anfeinden und beneiden. Er wird die Würde der Tradition nicht opfern, er wird den Heiligenschein da 444 nicht profaniren, wo er hingehört, er wird das Märchen, die Sage, die lyrische Empfindung ehren, aber er benutzt die schöne Vergangenheit nur als ein edles Hülfsmittel zum Aufbau der Zukunft. Gesättigt, gekräftigt von dem Marke der alten Kunstzustände führt er den Griffel des Zeichners mit einer seit Rubens nicht mehr dagewesenen Meisterschaft, nur um die vorurtheilsfreie Anschauung der Gegenwart, die er nicht, wie Overbeck, Cornelius, Schnorr u. s. w., haßt, sondern an die er glaubt, geltend zu machen. Er kann sich irren, er kann in dem Streben nach Charakteristik über die Schönheitsgesetze hinausgehen, wie er in einem Theile seiner münchener Fresken gethan hat, aber er schläft nicht mit unter dieser allgemeinen fürchterlichen Schlafmütze, die sich die neuere deutsche Kunst, als wenn es eine Elfenkrone wäre, über die Ohren gezogen hat. Man findet ihn auf der Seite des Lichts und der Vernunft und deshalb thut mir eigentlich leid, daß er in dem letzten Verlaufe seiner in den mittlern Partieen so trefflichen Arabesken das Zeitalter der modernen Wissenschaft wiederum etwas zu carikirt auffaßte. Ein Kaulbach soll an Kant, an Herschel, an Volta und Wollaston nicht die Perücken sehen, die sie zufällig trugen, er soll nicht verweilen an der komischen Unschönheit der galvanischen Batterieen, der Locomotiven oder auch nur des Tintenfasses und der nächtlichen Studierlampe; ein Kaulbach soll in allen diesen Apparaten nur die gewaltige Seele entdecken und diese Seele wie einen geflügelten Genius auch echter Schönheit darstellen, einen Genius von weltbezwingender Poesie, gegen den die Nymphen und Nixen des Baums und der Welle sich nur wie andächtige und staubgeborene Sterbliche zu verhalten haben. Solchen Genien des Gedankens nur die grüne Brille der Pedanterei aufsetzen, ist schwach und ziemt allenfalls einem jungen Maler aus Düsseldorf oder München zweiter oder dritter Studienclasse. Für Kaulbach muß Kant, der die Kritik der reinen Vernunft schrieb, etwas mehr als nur Homunculusse hervorgebracht haben. Zur Symbolik der Kant’schen „Kritik der reinen Vernunft“ gehört keine Retorte und kein Destillirkolben an einem aufgespaltenen Schädel angebracht, sondern ein flammendes Michaels-Schwert, bei dessen Streichen Throne beben und die Altäre zittern.

Wie dem auch sei, man muß den Künstler verehren. Man verläßt das Neue Museum mit Gefühlen des Dankes, daß seine Ausschmückung gerade an ihn gekommen ist. Man wünscht sich in die Lage, sich das kostbare Werk aneignen zu können, das hier der Hofbuchhändler Alexander Duncker herausgibt, die im Stahlstich wiedergegebene ganze künstlerische Arbeit der Wände des Treppenhauses. Es wird dies ein Prachtwerk, wie nur England solche Unternehmungen aufzuweisen hat. Zwei Lieferungen, jede im Preise von etwa neun Thalern, sind erschienen und bringen die Anfänge des Frieses und die Zwischenbilder der Geschichte, des Solon, des Moses und die wunderbare, Kaulbach ganz eigenthümliche Gruppe der Sage, diese Nornengestalt mit den beiden, ihr das Grauenhafte und Unerhörte zuraunenden Raben, diese erhabene Versinnlichung von Juno’s und Chriemhildens Rache, vom Schmerz der Niobe und dem letzten Gericht durch das Schwert des alten Hildebrand. Die Stiche werden von den ersten Künstlern, Jacoby, Eichens, Thäter, ausgeführt. Manches davon wird sich in der Zeichnung vielleicht noch gefälliger machen als in der Farbe.

Eine zweite große Schöpfung des Königs ist die Kuppeldachkapelle des Schlosses. Sie hat eine halbe Million gekostet und ist unstreitig eine Zierde des Schlosses nach dem ihm eigenthümlichen Geschmack, wenn auch eben keine Bereicherung der Kunst. Der Baumeister Schadow errichtete die gewaltige Wölbung auf einem Platze, der bisher im Schlosse unbeachtet gewesen war, verfallene Wasserwerke enthielt, altem Gerümpel, freilich aber auch den vortrefflichen Schlüter’schen Basreliefs, die jetzt die Treppe zieren, als Aufbewahrungsort diente. Die Spannung des mehr ovalen als runden Bogens ist meisterhaft ausgeführt. Einen überraschenden Eindruck wird der Eintritt in diesen Tempel Jedem gewähren, der sich erst im Weißen Saale an den schönen Formen der Rauch’schen Victoria geweidet hat und 445 zu ihm dann auf Stiegen emporsteigt, die mit lebenden Blumen geschmückt sind und mit Kronleuchtern, die nur etwas zu salonmäßig durch Milchglasglocken ihre Flammen dämpfen sollen. Man erwartet in der Kapelle weder diese Größe noch diese Pracht. Bei längerer Betrachtung schwindet freilich der erste Eindruck. Das steinerne, mit Marmor und Bildern auf Goldgrund überladene Gebäude wird dem Auge kälter und kälter. Der Altar, wenn auch mit einem aus den kostbarsten Edelsteinen zusammengesetzten Kreuze geziert, die Kanzel, der Fußboden, Alles erscheint dann plötzlich so nur für die Schwüle der südlichen Luft berechnet, daß man das lebendige Wort Gottes hier weder recht innerlich vorgetragen noch recht innerlich empfangen sich denken kann. Das Auge ist zerstreut durch das Spiel aller hier zur Verzierung der Wände aufgebrachten Marmorarten. Da gibt es keine Farbe, keine Zeichnung des kostbarsten Bausteins, von der nicht eine Platte sich hier vorfände wie in einer mineralogischen Sammlung. Zu dieser durch die Steine hervorgerufenen Unruhe gesellt sich die Ungleichartigkeit der Bilder. Sie scheinen alle nach dem Gedanken zusammengestellt, die Förderer der Religion und des Christenthums zu feiern. Aber auch dies ist ein Galerie- oder Museumsgedanke, kein reiner Kirchengedanke. Huß, Luther, die Kurfürsten von Brandenburg stehen vis-à-vis den Patriarchen und den Evangelisten. Da muß es an der einigen Stimmung fehlen, die Andacht hebt sich nicht auf reinen Schwingen, man kann in einem solchen Salon nur einen conventionellen Gottesdienst halten. Ach, und dieser Fanatismus für das conventionell Religiöse sitzt ja wie Mehlthau auf all’ unsern Geistesblüten! Man denkt nicht mehr, man prüft nicht mehr, man übt Religion nur um der Religion willen. Man ehrt sie um ihre Ehrwürdigkeit, man ehrt sie wie man Aeltern ehrt, deren graues Haar unsere Kritik über die Schwächen, die sie besitzen, entwaffnen soll. Das ist der Standpunkt der Salon-Religion. Man will nicht prüfen, man will nicht forschen, man umrahmt mit Gold und Edelstein die Tradition, die man auf sich beruhen läßt. Man schlägt sein rauschendes Seidenkleid in künstlerische Falten, wenn man im Gebetstuhl niederkniet; man schlägt sein goldenes Gebetbuch auf, liest halb gedankenlos, was alte Zeiten dachten, denkt vielleicht mit Rührung dieser Zeiten, wo der Glaube von so vielem Blute mußte besiegelt werden, gesteht wol auch seine eigenen sündigen Einfälle und Neigungen ein, gibt sich den Klängen einer vom Chor einfallenden Musik mit einigen quillenden Thränen der Nervenschwäche und Rührung hin und verläßt die Stätte der Andacht mit dem Gefühl, doch dem Alten Rechnung getragen, doch eine Demonstration gegeben zu haben gegen die anstößige und in allen Stücken gefährliche neue Welt! Das ist die Religions-Mode des Tags. Für diese Richtung eines vornehmen Dilettirens auf Religion kann man sich keinen zweckentsprechendern Tempel denken als die neue berliner Schloßkapelle. Sie erleichtert vollkommen die manchmal auch wol lästig werdenden Rücksichten einer solchen Art von Pietät.

Weitentlegen vom Geräusch der Stadt und nur leider in einer zu kahlen, baumlosen Gegend liegt Bethanien, die seit einigen Jahren errichtete Diakonissenanstalt. Man fährt an einer neuen, im Bau begriffenen katholischen Kirche vorüber und bewundert die großartige Anlage dieses vielbesprochenen Krankenhauses, das sich bekanntlich hoher Protection zu erfreuen hat. Dennoch soll die Stiftung eine städtische sein und ab und zu wird man von Bitten in den Zeitungen überrascht, die Bethanien zu unterstützen auffodern, Bitten, die wiederum dies Institut fast wie ein privates hinstellen. Zweihundert Kranke ist die gewöhnliche Zahl, für welche die nöthigen Einrichtungen vorhanden sind. Dem fast zu luxuriös gespendeten Raume nach könnten noch einmal soviel untergebracht werden. Man hat hier ein Vorhaus, eine Kirche, einen Speisesaal, Wohnungen der Diakonissen und Corridore von einer Ausdehnung, die fast den Glauben erweckt, als wäre die nächste Bestimmung der Anstalt die, eine Art Pensionat, oder Stift oder Kloster zu sein, das sich nebenbei mit Krankenpflege beschäftigt. Ohne Zweifel ist auch die Anlage des Unternehmens auf eine ähnliche Voraussetzung begründet. Bethanien soll eine Demonstration der 446 werkthätigen christlichen Liebe sein; die Kranken, mag auch für sie noch so vortrefflich gesorgt werden, nehmen gewissermaßen die zweite Stelle ein.

Die Oberin der Diakonissen ist ein Fräulein von Rantzau. Unter ihr stehen etwa zwanzig „ordinirte“ Diakonissen und eine vielleicht gleiche Anzahl von Schwestern, die erst in der Vorbereitung sind. Einige der ordinirten sind auf Reisen begriffen, um auswärts ähnliche Anstalten begründen zu helfen. Die Tracht der größtentheils jungen und dem gebildeten Stande angehörigen Damen ist blau, mit einem Häubchen und einer weißen, über die Schulter gehenden Schürze. Wie gründliche Vorkenntnisse hier vorausgesetzt werden, ersah ich in der Apotheke, die von zwei Diakonissen allein bedient wird. Auch ein Lehrzimmer findet sich zu theoretischen Anleitungen. Die groben Arbeiten verrichten gemiethete Mägde, die im Souterrain an den höchst entsprechenden praktischen Waschhaus- und Küchenvorrichtungen beschäftigt sind. Auch Männer fehlen nicht. Die Diakonissen sind überhaupt mehr bei den weiblichen Kranken beschäftigt und müssen die schwerere Dienstleistung, die besonders im Heben und Umbetten der Kranken besteht, dem stärkern Geschlechte überlassen. Man bekommt auch hierdurch wieder die Vorstellung von einem gewissen Luxus, der im Charakter der ganzen Anstalt zu liegen scheint. Man kann den damit verbundenen Tendenzbeigeschmack nicht gut offen bekämpfen, da unfehlbar ein zwangloses Behagen in der Nähe von Kranken und Sterbenden die ganze Stimmung unsers Herzens für sich hat. Die Sauberkeit der Erhaltung, die reine Luft, das Gefühl von Comfort und Eleganz kommt doch auch den Kranken selbst zugute.

Einen Freund der Diakonissenanstalten frug ich: Aus welchem Geiste erklären diese Frauen und Mädchen sich bereit, den Leidenden mit ihrer Pflege beizustehen? Er erwiderte: Um der Liebe Gottes willen. Unstreitig bedarf der Mensch, um sich zu seltenen Thaten anzuspornen, des Hinblicks auf einen höhern sittlichen Zweck. Dennoch hätt’ ich lieber gehört: Diese Institution wäre von der Menschenliebe hervorgerufen. Ich glaube, der Ton würde inniger, die Haltung weniger kaltvornehm sein. Ein Zusammenhalt bei gemeinschaftlichem Wirken ist nötig, eine gleiche Stimmung muß Alle verbinden. Ob aber dazu eine Kirche, ob Gesang und Gebet beim Essen, ob das herrnhuter, in „Gnadau“ gedruckte Liederbuch, das ich auf dem Piano aufgeschlagen fand, dazu gehört, möcht’ ich bezweifeln. Ein Anderes ist der katholische Cultus von Barmherzigen Schwestern, die sich für Lebenszeit diesem Berufe hingeben und von der Welt für immer getrennt haben; ein Anderes diese vorübergehende Wirksamkeit einer Diakonissin, die nach vorhergegangener rechtzeitiger Anzeige ihren Beruf wieder aufgeben und immer noch eine Frau Professorin oder Assessorin. Der Titel oder die Berufsbezeichnung des Ehemannes wurde auf die Gattin übertragen. werden kann. Für einen solchen Beruf reicht Herzensgüte, Menschenliebe und eine, durch äußere Umstände hervorgerufene Neigung, einen so schwierigen Platz anzutreten, vollkommen aus. Und sollte denn wirklich im 19. Jahrhundert die Bildung der Gesellschaft, die Humanität der Gesinnung, die Liebe zum Gemeinwohl, die Sorge für die gemeinschaftlichen Glieder Einer Stadt, Eines Staats und Einer Nation noch nicht so weit als werkthätiges Princip durchgedrungen sein, daß man, um hier dreißig Frauen in einem Geiste der Hingebung und Liebe zu verbinden, nöthig hat, nach dem Gnadauer herrnhuter Gesangbuche zu greifen?

Man wird ein jedes Krankenhaus mit Rührung verlassen. Auch in Bethanien sieht man des Wehmüthigen genug. Ich trat in ein Krankenzimmer von Kindern. Abgezehrte oder aufgedunsene kleine Gestalten lagen in ihren Bettchen und spielten auf einem vor ihnen aufgelegten Brete mit bleiernen Soldaten und hölzernen Häuserchen. Ein blasser Knabe, der an der Zehrung litt und vielleicht in einigen Wochen stirbt, reichte freundlich grüßend die Hand. Einen andern hatt’ ich gut auf den Sonnenschein, der lachend in die Fenster fiel, auf die Lerchen, die schon draußen wirbelten, auf ein baldiges freies Tummeln im erwachenden Frühling vertrösten, der Kleine litt am Rückenmark und wird nie wieder 447 gehen können. Ein Krankenhausbesuch ist eine Lehre, die nach „Satanella“ und Aladin’s „Wunderlampe“ sehr nützlich, sehr heilsam sein kann. Aber Bethanien verläßt man doch mit dem Gefühl, daß hier, wie in unserer Zeit überhaupt, noch mehr Menschen krank sind, als die da offen eingestehen, des Arztes bedürftig zu sein.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Gutzkows Beitrag Eine Woche in Berlin wurde zuerst in den "Unterhaltungen am häuslichen Herd" veröffentlicht und zweiundzwanzig Jahre später weitestgehend unverändert in die zweite Ausgabe der Gesammelten Werke aufgenommen. Weitere Drucke oder Teildrucke zu Lebzeiten Gutzkows sind nicht bekannt.

J. Eine Woche in Berlin. Vom Herausgeber. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 2, Nr. 25, [18. März] 1854, S. 396-399; Bd. 2, Nr. 26, [25. März] 1854, S. 409-416; Bd. 2, [8. April] 1854, S. 442-447. (Rasch 3.54.03.18)
A2. Eine Woche in Berlin. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammtausgabe. Erste Serie. Bd. 11. Jena: Costenoble, [1876]. S. 208-235. (Rasch 1.5.11.6)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von dem Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Stellenerläuterungen#