Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Der Zauberer von Rom. Drittes Buch#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
  2. Stephan Landshuter
  3. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2: TEI-Auszeichnung
Letzte Bearbeitung
18.09.2021

Text#

Drittes Buch.#

3 l.#

Von einer Handwerkerfamilie, die nach einem dunkeln Hofe hinaus arbeitete, hatte Benno drei auf einen kleinen, von einem belebten Brunnen geschmückten Winkelplatz hinausgehende Vorderzimmer gemiethet.

Eines davon, einfenstrig, war sein Schlaf-, die andern, zweifenstrig, waren Wohn-, Arbeits-, Empfangszimmer, je nachdem.

In einem derselben stand ein Repositorium mit einer Anzahl von Schubfächern, in denen sich theils die Acten der ihm von Dominicus Nück zugewiesenen Processe aufhäuften, theils schon manches Fascikelchen lag der auch ihm schon aufblühenden, freilich noch an den schützenden Namen und die Unterschrift seines Principals gebundenen ersten Frühlingskeime einer eigenen Praxis … Im unbestreitbaren Wohnzimmer ließ Benno schon zuweilen in den Früh- und Nachmittagsstunden manche Partei warten, die über ein paar empfangene Ohrfeigen oder ein paar unbezahlt gebliebene Beinkleider seinen Rath begehrte und von ihm nach Abfertigung eines „pressantern“ Clienten mit staatsmännisch bedeutsamer Miene gebeten wurde, 4 sich auf einem Sopha von ehrwürdig altem schwarzen „geflammten“ Merino (zu diesen Flammen war hier und da schon der entschiedenere Brand einer etwas vergeßlich gerauchten Cigarre gekommen) oder einem wirklich prachtvoll glänzenden rothsaffianen Sessel auszuruhen, welchen Phönix seines ihm theilweise persönlich angehörenden Mobiliars ihm Thiebold de Jonge verehrt hatte. Oder man könnte, da dieser Sessel klein, zierlich, auf einer Rolle gehend und wie luftig war, ihn unter dem bescheidenen Hausrath, der altmodischen Kommode von Nußbaumholz, dem Schreibsecretär von Birken-, den lackirten Stühlen von Tannenholz, auch einen prächtigen Kolibri nennen in einem solchen gewöhnlichen Drahtbauer, wie der war, in dem Benno bereits eine Art Familie zu ernähren hatte, zwei Canarienvögel seiner Wirthsleute, die er von ihnen in Pflege genommen zur Erzielung einer Hecke, bis sich freilich herausstellte, daß die frisch aus dem Nest genommenen kleinen Thierchen „Sieen“ waren, was Benno leider erst entdeckte, als er sich an beide Geschwister so gewöhnt hatte, daß er sie auch ohne Gesang und Hecke vor seiner Wirthin rettete, die von einem pflichtschuldigen Tode derselben durch irgendeine nachbarliche Katze sprach. Jetzt prangte dieser Lehnsessel vollends, seitdem Benno bei seiner Zurückkunft von Kocher am Fall wieder zu seinem höchsten Verdrusse eine neue Gabe seines manchmal unerträglich aufmerksamen Freundes vorfand, einen in sämmtlichen drei Zimmern gelegten bunten prachtvollen Teppich für den Winter … Gegen diese Zuvorkommenheiten des jungen Halb-Millionärs ließ sich gar nicht angehen. Thiebold zerbrach, statt des Gottes der Zeit, lieber zufällig selbst einen 5 Stuhl und erklärte dann mit gemachtem Schreck, seinem Freunde oder den Wirthsleuten einen Ersatz dafür schuldig zu sein, als daß er sich die Gelegenheit hätte nehmen lassen, Benno statt nur durch Zank auch einmal auf diese Art seine Freundschaft zu beweisen. Den alten in Ruhestand versetzten Lehnsessel, der mit dem Sopha, in Rücksicht auf geflammtes Muster und Ehrwürdigkeit des Ueberzugs, harmonirte, hatte er schon vor längerer Zeit einmal, wie er entschuldigend sagte, in Gedanken mit dem Federmesser, das er wie zufällig von dem Tische Benno’s genommen, in der Armlehne zerschnitten und den neuen Teppich motivirte er auf Benno’s Vorwürfe, die ihn deshalb heute in der Frühe gleich beim Eintreten und in medias res gehend empfingen, mit folgenden Worten:

Bester Freund, das bitt’ ich mir denn doch aus! Seitdem ich einmal das Unglück gehabt habe, beinahe in den St.-Moritz zu fallen, bin ich gegen alles Kalte von einer merkwürdigen Empfindlichkeit! Im Winter hier bei Ihnen zu sitzen und über den offenherzigen Dielen Ihrer Baracke mich zu erkälten – das werden Sie nicht verlangen können!

Und bei alledem, erwiderte Benno, sieht es nun erst recht bei mir aus wie bei Bagage, die gern möchte und kann nicht! Der Teppich und der Sessel führen jetzt das große Wort und haben die Oberhand! Jedermann wird jetzt glauben, daß ich statt heraufzukommen ein Heruntergekommener bin!

Himmel! unterbrach Thiebold, zog seine Cigarrentasche und betrachtete ein auf dem Tische neben dem 6 Terminkalender liegendes kleines Octavbüchelchen, worüber Benno zierlichst „Verläge“ geschrieben hatte; Asselyn, ist das Ihr Einnahmebuch? Sie haben ja einen Bogen mehr hinten angeheftet? Sind das die Einnahmen von dem großen Proceß der Dorste-Camphausen, in dem Sie auch, hör’ ich, zu thun bekommen werden?

Und schon las er, eine Seite aufschlagend:

„7 Groschen 6 Pfennige Concept – 2 Groschen 6 Pfennige Copiatur –“

Wahrscheinlich, erwiderte Benno, ihm trotz des Spottes das Büchelchen sanft aus der Hand nehmend, wahrscheinlich haben Sie in Mainz einen ganzen schwäbischen Urwald in Empfang genommen, daß Sie heute schon frühmorgens so übermüthig Geldseele sind! Kommen Sie jetzt erst mit Ihrem Holzfloß angeschwommen? Oder hatten Sie die Nacht Geschäfte mit einer vaterländischen Tabacksfabrik? Ich versichere Sie, Ihre Atmosphäre versetzt die Phantasie keineswegs in die Havanna!

Merkwürdig, gab Thiebold zu und hatte bereits die Büchse mit gemahlenem Kaffee aus Benno’s Schreibsecretär von verblaßtem Birkenmaser genommen, indem er leicht und leise den Besitzer, der dabei eine vorwitzige Untersuchung seiner Kasse befürchtete, bei Seite drängte, ihm auch die auf dem Secretär stehende Maschine aus und unter der Hand wegescamotirte und das heute, der noch nicht „bei Wege“ befindlichen Wirthin wegen, eigne Sieden des Wassers zum Kaffee sich allein aneignete; merkwürdig, wie geistesabwesend ich gestern gewesen sein muß! Die ganze Nacht hab’ ich von Piter’s vermaledeiten 7 Cigarren geraucht! Der Mensch will jetzt in der Stadt den Ton angeben!

So! So! sagte Benno. Waren Sie also wieder auf Ihrer amerikanischen Akademie! Dann nehmen Sie den Kaffee allerdings, bitt’ ich, ein Loth stärker! Welche große That ist denn diese Nacht an der wahrscheinlich für permanent erklärten Bowle beschlossen worden?

Die Caricatur auf die Gebrüder Fuld und die Drusenheimer Sonntagspartie jetzt so ohne weiteres zu nennen, nahm Thiebold de Jonge, der, wie es schien, im Crescendo begriffenen Satire seines Freundes gegenüber Anstand. Gab es doch auch zunächst Dinge, die ohne zu spaßen mit bitterm Ernste verdienten abgemacht zu werden! Die Versöhnungen machte zwar Benno immer nur so scheinbar und ohne Gefühl und „links um die Ecke herum“, wie Thiebold sagte, der, „wenn er einmal gefühlvoll wurde“ – er wurde dies viel öfter als er zugab – dann auch gern von allen Kirchthürmen mit Zinken und Posaunen wie zur Weihnacht dazu geblasen und mit allen Glocken geläutet haben wollte. Auch heute, war es der entbehrte Schlaf oder welche sonstige „lyrische“ Stimmung, auch heute hätte er gern die Versöhnung etwas feierlicher gewünscht …

Er ließ deshalb zunächst Benno, der sich vollständiger ankleidete, allein reden, was sonst in seiner Gegenwart selten geschah.

Ohne Zweifel, ließ sich Benno von der Schlafkammer aus vernehmen, ohne Zweifel haben Sie Ihren Freunden Bericht erstattet von unserm Manöver! Von dem Sturm auf die große Lehmschanze, wo der alte Pritzelwitz 8 leibhaftig die Franzosen vor sich sah, bis es von uns allen hieß: „Und Roß und Reiter sah man niemals wieder!“

Thiebold schwieg … Er braute Kaffee und Versöhnung.

Ein Glück, fuhr Benno fort, daß drüben nicht wirkliche Augereaus oder Dürocs commandirten! General Klebern hatten wir diesmal auf unserer Seite!

Thiebold schwieg, selbst in Erinnerung auf ein ganzes Bataillon, das im Lehm stecken geblieben war.

Meine Stiefeln gingen am dritten Tage vollständig aus der Naht! fuhr Benno fort; und die Reserve, die Hedemann in meinem Mantel trug, paßte nicht, denn von dem siebenmaligen Sturm auf die Lehmschanze hatt’ ich Elefantenfüße bekommen, daß mir die Stiefel zu eng wurden! Und nun reisen Sie mir mit Ihrem Stiefelmagazin ab! Ich glaube, Sie hatten in Rücksicht auf das Trottoir in Kocher und Ihre Hühneraugen sechs Paar mit! So schnell waren Sie über alle Berge, daß man glauben konnte, Sie hätten sie alle auf einmal angezogen! Haben Sie denn Ihren Freunden heute Nacht auch erzählt, wie Sie mich auf dem Weinberg beim Obersten von Hülleshoven abschilderten?

Nun verzog Thiebold ein wenig die Miene … er merkte eine Geneigtheit des Freundes, auf seine „lyrische“ Stimmung einzugehen.

Unsereins ist freilich zu unbedeutend, fuhr Benno, immer von der Kammer aus, fort, Gegenstand so hochmögender Discussionen zu werden. Was wurde denn erörtert? Das nächste Fastnachtsprogramm? Ich wäre für Mercur’s Triumphzug! Alle neun Musen müßten hinter dem 9 Handelsgott hergehen und ihm die schmeichelhaftesten Opfer bringen! In der Mitte ein großer Wagen ganz mit Rosinen gefüllt und Alexander von Humboldt davor als ein ganz gewöhnlicher Kutscher in eurer Livree! Dann eine Heringstonne, Schelling und Hegel dahinter mit Löschpapier in der Hand, Fichte im grauen Rock mit der Ladenschürze! Dann eure heiligen drei Könige hier als Importeurs von Thee, Taback und Indigo – Melchior, der schwarze, noch mit einem Zuckerhut in der Hand – oder sind Sie für Runkelrübe?

Ohne im mindesten sich reizen zu lassen von Benno’s „lateinischem Stolze“, unterbrach Thiebold nur mit den einfachen und höchst gelassen geseufzten Worten:

Nicht einmal kleinen Zucker im Vorrath!

Damit holte er tief wehmuthsvoll einen Stiefelknecht aus dem Zimmer, in dem Benno’s jugendlich knospende Praxis in dem Repositorium lag und wo er des Abends nach Hause kommend immer zuerst musterte, was etwa neu eingetroffen von seinem Schreiber in die kleine Baumschule künftiger fruchttragender Proceß-Obstgärten gelegt war, während er sich dabei die Stiefeln auszog.

Thiebold zerklopfte ein großes Stück Zucker, das er gleichfalls aus Benno’s offenem Schreibsecretär, Kassa und Speisekammer zu gleicher Zeit enthaltend, genommen hatte …

Nun, erzählen Sie doch von Ihrer Reise! sagte Benno und setzte, dies jedoch etwas kleinlauter, hinzu:

Waren Sie denn auch in Lindenwerth?

Thiebold klopfte am Fenstersims Zucker; Benno trat im Hauskleide an den Kaffeetisch … Sein geschornes 10 Militär-Haar war schon wieder voller gewachsen und setzte auch seine gewohnte natürliche Kräuselung an. Sein Teint, immer etwas bleich, war heute von einer milden Röthe angehaucht. Sein Hals lag offen, wie die Brust, die die ganze bräunliche Schönheit hatte, die von den Alten am Manne so gerühmt wird. Beide Freunde hätten sich ganz wohl zu einem Modell der Dioskuren stellen können; vorausgesetzt daß der Künstler sowol eine kleine Neigung Thiebold’s, mit seinen lichten Milchblutformen und dem sozusagen blonden Habitus seiner ganzen Constitution etwas ins Allzuvolle überzugehen, und bei Benno im Gegentheil eine gewisse brennende und an die mit phrygischer Mütze geschmückten Gestalten neapolitanischer Fischer erinnernde Magerkeit weise gemildert hätte.

Auf die Frage: Waren Sie denn auch in Lindenwerth? war die Thiebold’sche Gegenfrage: Gestern ist ja wol Ihr Vetter angekommen? gewissermaßen Blödsinn und doch lag eine Antwort darin.

Beide nämlich, Benno und Thiebold, waren von dem Zwiespalt in Armgart’s Familie unterrichtet; beide wußten, daß Armgart’s Lehrerin, Angelika Müller, an den Dechanten etwas Entscheidendes in dieser Angelegenheit geschrieben hatte; doch kannten sie den nähern Inhalt der Erklärungen Armgart’s nicht und mochten den Obersten am wenigsten drängen, ihnen mitzutheilen, was Bonaventura in der Morgenstunde, wo sie noch nicht die Lehmschanze erstürmt hatten, doch schon früh genug aus waren, um einen forcirten Marsch zu unternehmen, bei ihm gewollt hatte. In Armgart’s Angelegenheiten war etwas 11 vorgefallen, das hatten sie, als sie Abends spät todmüde zurückkamen, schon gemerkt; aber selbst Benno wußte von der Wanderung vom Hüneneck an bis zur Maximinuskapelle aus Armgart’s eigenem Munde über ihre heimlichen Gesinnungen gegen den Vater nichts weiter, als daß sie vor Sehnsucht brannte, ihm ein paar selbstgefertigte Tragbänder zu schenken … Nun ließ sich fast annehmen, daß Bonaventura auch mit Aufträgen des Obersten und Dechanten für Lindenwerth erschienen war und darin lag denn doch eine gewisse Logik der Thiebold’schen Gegenfrage.

Was soll ihm denn hier werden? fragte dann Thiebold und klopfte Zucker in Hoffnung, von Armgart zu hören.

Er ist auf heute früh zum Kirchenfürsten bestellt … sagte Benno und hob den Deckel der Maschine auf, die stark genug war, Wasser zum Sieden zu bringen. Man vermuthet eine Berufung an den Dom …

Sieh! Sieh! … Blieben Sie denn noch in Kocher lange nach mir?

Ein paar Stunden! steuerte Benno auf die feierlichere Beilegung der Differenz zu. Ich hatte Eile zu meinen Arbeiten zurück! Und Nück schrieb mir Aufträge für die Reise noch bei einigen Gutsbesitzern und Bauern … ich kann alle Stunden gewärtig sein, wieder auf ein paar Commissionen hinaus zu müssen …

Ich hoffe, daß Sie Ihren Vetter bei uns einführen! ließ Thiebold fallen. Wann wollen Sie mit ihm bei uns speisen?

Mein Vetter ist höchst einfach und liebt die Gesellschaft nicht … Auch will er schnell nach St.-Wolfgang zurück, obgleich ich höre, daß der Kirchenfürst unpäßlich ist 12 und ihn vielleicht gar noch nicht einmal empfangen kann … Die reizbare Eminenz ist, wie mir Enckefuß erzählte, in einer gewaltigen Aufregung, die ihn um so mehr erschüttern mag, als er sie äußerlich nicht verräth.

Nun war der verhängnißvolle Name Enckefuß gefallen … Thiebold wich aber noch aus und sagte:

Daß ich von der Dechanei so kurzen Abschied nahm! … Ich bereu’ es fast … Hat sich das Verhältniß mit der Dame nicht ausgeglichen?

Wissen Sie denn nicht? fiel Benno ein.

Was soll ich wissen?

Während ich noch mit Frau von Gülpen zu ihren Gunsten parlamentirte, war sie ja abgereist … Aber erfuhren Sie denn nicht, im Kattendyk’schen Hause –?

Was?

Mit Ihrem Zauberweibe haben Sie Ihre schlechten Cigarren unter Einem Dache geraucht!

Ich weiß kein Wort …

„Zauberweib“ war ein Ausdruck gewesen in Thiebold’s großer Apostrophe an Benno’s Herzlosigkeit. Dies Wort wirkte jetzt auf ihn wie die beschämende Erinnerung an einen Rausch …

Er wollte etwas erwidern, verschluckte es jedoch wegen nicht ausreichender Stimmmittel …

Himmel! fuhr Benno fort. Wenn diese scharfen Augen und Ohren das Négligé Ihres tapfern Herzens und besonders Ihrer Zunge belauscht hätten!

Welche denn?

Diese neue Bewohnerin des Kattendyk’schen Hauses! Lucinde Schwarz!

13 Gott sei Dank! Ich schwieg den ganzen Abend –

Schnuphase vermittelte das Engagement! Auf die Folgen bin ich begierig!

Deshalb war Piter so geheimnißvoll. – Noch im Bahnhofe –

Wo –?

Wir brachten Pitern vor einer Stunde auf den Bahnhof! Er ist nach Witoborn, um eine Liegenschaft anzukaufen …

Aus der Enckefuß’schen Schuldenmasse? Sieh! Sieh! Das nenn’ ich rasch bei der Hand!

Wie so, Enckefuß’sche –? Ich habe am Ende Pitern noch das Geleit gegeben, ein Angebot auf die Grundstücke zu machen, die der Oberst und Hedemann kaufen wollten?

Beruhigen Sie sich! … Indessen –

Eben wollte Benno seinem Freunde auseinandersetzen, daß sich der Assessor von Enckefuß auf seine, Benno’s, Verwendung an den Procurator Nück gewandt hätte, ihm in der Befreiung seines überschuldeten Vaters von den bittersten Verlegenheiten behülflich zu sein … Eben gab er eine Schilderung der Verhältnisse des Rittmeisters, die ganz den Erinnerungen, die von diesem Lucinde haben mußte, entsprach … Eben mußte er zugleich sein Erstaunen ausdrücken, daß, wenn Piter Kattendyk wirklich die Enckefuß’sche Masse erstehen wollte, dies nur im Auftrage seines Schwagers geschehen sein könnte, jedoch in einer Eile, die ihn wahrhaft überrasche – als Thiebold vom Fenster aus eine ungewöhnliche Aufregung auf dem kleinen Platze bemerkte.

14 Was gibt es denn da? unterbrach Thiebold in plötzlichem Ausruf Benno’s und seine eigene Besorgniß, die er für Hedemann’s Mühle aussprechen wollte, die einen Theil der überschuldeten Enckefuß’schen Besitzthümer bildete …

Auch Benno hatte schon lange ein ungewohntes Treppenlaufen in seinem kleinen Hause bemerkt, war auch ans andere Fenster getreten und bestätigte schon, daß an einem ganz in einen Winkel des kleinen Platzes gedrückten Hause ein starker Zusammenlauf von Menschen stattfand, ja eben bestieg sogar ein Polizeicommissar eine nach der Straße offen liegende Treppe des von den Menschen aufgeregt umstandenen Hauses … Die Menschen drängten nach … Der Commissar wandte sich und verbot jedem, nur auch einen Schritt weiter zu folgen … Damit schloß er die Treppenthür hinter sich zu und verschwand.

Thiebold hatte in seiner raschen Art schon zum Fenster hinausgesprochen, was denn da wäre?

Es ist die Nacht einer ermordet worden! hieß es.

Wie? Wer? riefen beide Freunde zugleich.

Eine Frau!

Die sanguinische Natur Thiebold’s hatte schon den Hut in der Hand und stürzte die Stiege hinunter, um wenn nicht für sich, doch für seinen Freund Benno eine für so nahe Nachbarschaft beunruhigende Thatsache festzustellen.

Indem kamen bereits die Wirthsleute Benno’s und berichteten ihm, daß in dem Hause drüben eine alte stadtbekannte geizige und nach allgemeiner Vermuthung reiche Frau diese Nacht wäre ermordet worden … Die Milchfrau hätte die Thür ihrer Wohnung offen gefunden … 15 wäre hineingegangen und hätte die alte Dame mit einer Schlinge um den Hals erwürgt gefunden, dicht am Küchenherde.

Eine Frau Hauptmännin – hieß es; der Name ging Benno verloren, zumal in der Eile, mit der man auf jeden aussein mußte, der neue Mittheilungen brachte.

Benno, inzwischen vollends angekleidet, wollte gleichfalls seinen Hut holen. Ohnehin bekümmerte ihn, da ihn gestern Nachmittag ausschließlich Bonaventura in Anspruch genommen und er Nück nicht gesprochen hatte, die plötzliche Ahnung einer Gefahr, in die sowol Hedemann’s und des Obersten Ankauf als selbst die momentane Schuldenbefreiung des Landraths und Rittmeisters von Enckefuß gerieth. Der „schöne Enckefuß“ besaß daheim, soweit Benno wußte, keinen einzigen Beistand, keine einzige Hülfsquelle mehr. Die Gläubiger konnten sein Eigenthum, ein größeres Anwesen vor und in Witoborn, in Anspruch nehmen und schon hatte Hedemann davon eine Mühle und deren Gerechtsame für sich erstehen wollen von einem der Witoborner Juden, der darauf eine Hypothek hatte, die dem ganzen Werthe des Grundstücks fast gleichkam … Kaufte Hedemann sie von dem Gläubiger, so erstand er sie zu geringerem Preise. Trat aber ein Gesammtkäufer ein, der die Schuldner befriedigte und – wie der Assessor für seinen Vater hoffte – sich mit diesem, der ohne Besitzthum nicht mehr Landrath sein konnte, arrangirte, so fielen vielleicht Hedemann’s Hoffnungen nicht nur auf einen wohlfeilen Preis, sondern vielleicht überhaupt die für den Ankauf und eine neue Begründung seiner Existenz vorhandene Möglichkeit 16 dieser Erwerbung fort. Ließ Nück, ohne seinem Hülfsarbeiter davon etwas zu sagen, diesen Ankauf in solcher Eile und hinter seinem Rücken vollziehen – noch gestern früh war kaum die allgemeine Bereitwilligkeit des oft gar seltsamen Procurators gewonnen gewesen –, so fiel zwar die Hoffnung gerade nicht fort, daß Hedemann seine Mühle bekam, doch jedenfalls wurde der Preis größer, als durch den Ankauf von jenem Einzelnen, der seine Hypotheken retten wollte. Und noch war seiner schnellen Combination sogleich etwas Anderes räthselhaft gewesen. Nück’s Neigung, dem bedrängten Enckefuß zu helfen, schien ihm keine aufrichtige. Er hatte es sogar anfangs ganz unbedingt abgelehnt. Und sogar von Hedemann und dem Obersten hatte er die Worte fallen lassen: Bester, was ist denn nur das? Ich höre ja, diese beiden Leute sind aus Amerika zurückgekommen und noch nicht ein einziges mal hat einer von ihnen hier oder in Kocher am Fall oder in Witoborn einer Messe beigewohnt? … Benno wollte aufs schleunigste zu Nück oder Enckefuß.

Ein Glück aber zunächst für den Kaffee, daß eben auch Thiebold wieder zurückkam …

Rasch zuspringend auf das übersiedende Wasser und ohne die Bereitung des Frühstücks aus dem Auge zu verlieren, erzählte er:

Ja das ist schön! Ein richtiger completer Mord! Ich bin von der Wache hinaufgelassen worden und habe mir die Geschichte angesehen! Hinter den Vorhängen im zweiten Stock drüben … Schauerlich! … Braun und blau … In der Küche dicht am Feuerherd liegt eine alte Person … mit 17 ’nem gräßlich entstellten Angesicht … und gerade als wollte sie in Todesangst hinunterkriechen unter den Verschlag, wo das Holz liegt … Der Mörder faßte sie dabei von hinten … erwürgt ist sie … darüber kann kein Zweifel sein … alle Schränke und Kommoden in den Vorzimmern sind erbrochen … ringsum liegen Papiere zerstreut und durchwühlt … und wie bei einer completten Hexe sieht’s aus … ausgestopfte fürchterliche Vögel und Fußdecken von wilden Thierfellen und lange indianische Lanzen mit Pfeilspitzen und Köchern. … Die Milchfrau klingelte und klopfte heute früh, findet die Thür offen, geht hinein und sieht die alte Person auf dem Pflaster der Küche liegen, wie gesagt, gerade am Feuerherd.

Keine Vermuthung auf den Mörder? rief ein Chor von Hausbewohnern, der sich die Resultate der Thiebold’schen Erkundigungen nicht entgehen lassen wollte und das Vorrecht der Wirthsleute, einzutreten, durch Nachdrängen mitbenutzt hatte.

Ich hörte nichts! … sagte Thiebold.

War sie denn ohne Bedienung –? stotterte ein alter zum Tod erblaßter Garçon aus der Dachstube, der sich im Nachtkamisol sein Frühstück eben selbst geholt und die Milchkanne zitternd in der Hand hielt.

Ihr letztes Mädchen, erzählte man, war schon vor Wochen abgezogen – sie wartete auf ein neues – die Person war berüchtigt, daß kein Dienstbote bei ihr länger als vier Wochen aushielt … Erst in neuerer Zeit blieben manche etwas länger … Das waren Mädchen, die aus den Klöstern oder von Vereinen geschickt wurden …

Da bei alledem dennoch die Frau Wirthin frisches 18 Weißbrot, Milch und die im Keller aufbewahrte Butter brachte, so kam der Name der Hauptmännin von Buschbeck noch einmal an Benno’s Ohr und jetzt erst war es ihm, als hätte er diesen doch kürzlich von jemand nennen hören …

Erst, wie die Wirthsfrau erzählte, die Frau wohnte dort oben schon seit sieben oder acht Jahren, wäre steinalt gewesen, nie mehr ausgegangen und schon von andern Städten wäre sie um ihrer Bosheit willen hierher gekommen … und der, der sie umgebracht hätte, der müßte Bescheid gewußt haben … erst wie das alles allmählich auf Benno einwirkte und ihm plötzlich die Erinnerung kam, daß er einen übel berüchtigten, leider mit seinem Principal, dem Procurator Nück, vertrauten Mann, einen gewissen Jodocus Hammaker, einen verdorbenen Advocaten, Winkelagenten und Makler verdächtiger Geschäfte zuweilen Abends von jener Stiege herabkommen gesehen hatte … erst da fiel ihm ein: Auf jener Fahrt von St.-Wolfgang fragte ja Lucinde Schwarz nach einem solchen Namen und nannte ihn geradezu eine Schwester der Frau von Gülpen!

Benno stand so in Nachsinnen vertieft, daß er Thiebold’s Bemerkung, eben käme der Assessor von Enckefuß mit einem Schreiber daher und ginge auf das Haus des Frevels zu und nähme wahrscheinlich das Protokoll auf, überhörte … Die Grauengestalt jenes Hammaker verließ ihn nicht … Und Frau von Gülpen! … Seine Empfindungen für die Freundin seines Adoptivonkels waren die dankbarsten! … Seine frühesten Knabenerinnerungen bewahrten der wunderlichen, an sich respectabeln Frau ein 19 mannichfach verpflichtetes Andenken! … Seine frühesten Lebenseindrücke … welche waren es denn? … Das lächelnde Antlitz einer schönen vornehmen Frau, die einst wie unter Harfenklängen und Engelstimmen und gerade wie selbst bei der grimmigsten Nordlandskälte sich die Kindheit in der geweihten Nacht um der duftenden Aepfel, Nüsse und Wachskerzen willen die sternenhellen, eisigen Lüfte draußen nur vom Lobgesang der Hirten und dem Flügelrauschen himmlischer Heerscharen erfüllt denkt, aus einer glänzenden Kutsche stieg, sich über ihn beugte und ihn küßte … eine weite Reise dann, die sich ihm unter dem Bilde einer endlosen Reihe von Bäumen eingeprägt hatte, solchen, wie sie bei nürnberger Schäfereien krausköpfig von Holz geschnitten sind und ebenso rasch umfallen, wie die langen Schwadronen bleierner Soldaten … das Blitzen dann der Epaulettes des französischen Offiziers Max von Asselyn, der ihn adoptirt hatte … nicht, daß diese Epaulettes noch auf des Adoptivvaters Schultern saßen, sondern er spielte mit ihnen, mit den abgelegten, ausgedienten … dann klangen ihm im Gedächtniß die dumpfen Glocken, die das Begräbniß Maxens von Asselyn bedeuteten; den Sarg hatte er nicht gesehen, nur den vom Kirchhof zurückkehrenden Geistlichen, eine hohe mächtige Figur in weißem Ornat mit goldstarrendem Besatz, den Pfarrer Perl zu Borkenhagen … dann tummelte er sich mit Hedemann auf dem Gehöft der Aeltern desselben, ritt nach Witoborn, Westerkamp und sah im Geiste immer die Leute aus der alten Libori-Kapelle bei Stift Heiligenkreuz kommen mit Gesangbüchern, von denen sich, wie das so ist in unserm wunder-20lichen Vorrathshause, dem Gedächtnisse, gerade vorzugsweise der blitzende goldene Schnitt eingeprägt hatte … auch die vierspännige Kutsche des Grafen Joseph von Dorste-Camphausen, des letzten seines Stammes, Vaters der Gräfin Paula, sah er oft … dann wurde er in Pensionen gegeben, hierher an den schönen Strom, erst in die Residenz des Kirchenfürsten, dann unter Bonaventura’s, des schon etwas Aelteren Aufsicht nach der nahe gelegenen Universität, wo er die Vorbereitungsschulen und dann die Hochschule selbst besuchte – alles das hatte der Dechant möglich gemacht und Frau von Gülpen spielte bei diesen Phantasmagorieen der Erinnerung die freundlichste und mütterlichste Rolle … er wie Bonaventura wurden versorgt von ihr mit allem, was nur zu des Leibes Pflege und Nothdurft gehörte, Ausstattung an Wäsche und wohlwollenden Rathschlägen aus ihrem bekannten reichen Schatz medicinischer und diätetischer Erfahrungen … Zwischen alles das aber hindurch hatte er nie von einer Schwester der Freundin seines Oheims gehört, nie nur den Namen früher nennen hören als zum ersten male durch Lucinden … Und jetzt sollte dieser sich so grauenvoll in Erinnerung bringen? Sollte in eine Verbindung treten mit dem stillen Frieden der Dechanei? Sollte in jene leidenschaftslose, nur der Ruhe und dem Behagen gewidmete Welt die düstersten Schatten werfen?

Die Schonung und die Scheu vor Menschen, denen Benno so dankbar verpflichtet war, hinderte ihn selbst gegen Thiebold sein Erstaunen und seine tieferschütterte Ueberraschung auszusprechen.

21 Unruhig und bewegt stand er auf und schritt in seinem Zimmer, dessen Thüren er öffnete, auf und nieder …

Thiebold nahm, während sie dann von den Leuten frei wurden, die Thür schlossen und frühstückten, seine Bemerkung, daß der Assessor von Enckefuß drüben im Hause der Ermordeten wäre, dann Piter’s Reise und die Gefahr des Hedemann’schen Ankaufes wieder auf. Letztere stellte jedoch Benno entschieden in Abrede.

Nur staun’ ich, sagte er, wie das seit gestern so rasch gegangen! Schon in Kocher am Fall theilte ich Hedemann und dem Obersten mit, daß ich, wenn etwa Nück der Gesammtgläubiger des Herrn von Enckefuß würde, dafür Sorge tragen wollte, daß Hedemann die Mühle um den Preis bekäme, den er an den auf sie angewiesenen Hypothekengläubiger zahlen wollte. Alle diese Gläubiger lassen mit Freuden ihre Hypotheken mit einem Verluste ab, wenn sie nur überhaupt die Subhastation vermeiden können, bei der sie verlieren; denn auf diese Besitzungen wurde mehr Geld aufgenommen, als sie jetzt Werth haben. Kauft Nück durch seinen Schwager die Hypotheken auf, so wird er der alleinige Gläubiger des Verschuldeten und ich hoffe – indessen wünscht’ ich doch zu wissen, ob der Assessor lange drüben verweilt und ob er vielleicht –

Herüber kommt? unterbrach Thiebold, sehr befriedigt von der dann nothwendigerweise eintretenden vollständigen Aussöhnung. Und dieser Aussöhnung schon gewiß sagte er: Es ist einzig, welchen Nachdruck der Oberst und Hedemann auf diese Erwerbung bei Witoborn legen!

22 Beide haben, erklärte Benno und fixirte die Fenster, wo die Ermordung stattgefunden – die Küche selbst lag nach hinten auf eine düstere und einsame Brandmauer hinaus – beide haben den Stolz, da, wo sie zu Hause sind, mit dem gebührenden Nachdruck ihrer ganzen alten Lebensstellung wieder auftreten zu wollen!

Hm! grübelte Thiebold und setzte kleinlaut hinzu: Wie viel anders könnte das alles sein – wenn – Glauben Sie wol, Asselyn, unterbrach er sich, daß ich einmal, ich will nicht sagen jetzt, aber in einem Jahre oder zwei, einen – Korb bekomme, falls ich als Bürgerlicher –

Benno verstand vollkommen, daß Thiebold von einer Werbung um Armgart und den Vortheilen einer Verbindung des Vaters mit seinem Vermögen sprechen wollte.

Bürgerlicher? De Jonge! sagte er scheinbar ironisch, während ihm alle Nerven zuckten und Thiebold’s auch nur angedeutete Werbung einen Stich durchs Herz gab.

De – de –? Ach so, Sie meinen – sagte Thiebold verlegen …

De Jonge –! Wer wird Ihnen einen alten niederländischen Adel abstreiten können!

Einen Adel, der viel Mesalliancen durchgemacht hat! Wir handeln jetzt mit Brenn- und Nutzholz, aber kein Baum hat uns je so morsch auf Lager gelegen wie unser Stammbaum!

Das De sagt immer etwas –

Hören Sie ’mal, meine sel’ge Mutter war sogar eine geborne Tor – Tor Möhlen!

23 Zur Mühlen! Sie sehen, wie alles zusammenkommt, um das Wasser auf Ihre Mühle zu treiben!

Aber Joseph Tor Möhlen – Twist und Baumwolle –

Haben Sie denn nicht gehört, daß der Oberst von Hülleshoven nicht übel Lust hat, mit Hedemann die Mühle ganz einfach in eine Papierfabrik zu verwandeln?

Nach dem Dechanten, als die Rede davon war, ein bloßer Scherz …

Scherz, den der Oberst ernst zu nehmen der Mann ist! Oder haben Sie nicht bemerkt, daß in diesem Sonderling ein Gelüsten lebt, dem ganzen Geiste seiner Provinz gleichsam einen Fehdehandschuh hinzuwerfen?

St! unterbrach Thiebold, der bei alledem so in Gedanken verloren war, daß er seine Absicht ganz vergessen hatte, die Rückkehr des Herrn von Enckefuß aufs Fenster blickend abzupassen und ihn gemüthlich, als wäre nichts zwischen seinem geliebten Hedemann und dem Assessor im Garten des Wirthshauses am Kreuzwege vorgefallen, anzurufen. Aufhorchend fuhr er fort: Sie bekommen Besuch!

Man hörte auch das gleichmäßige und sichere Ersteigen der Treppe durch einen festen Schritt, der an der Thür Benno’s Halt machte … Es klopfte und ohne erst lange ein Herein! abzuwarten trat der Assessor von Enckefuß ins Zimmer.

Vom Schauplatz eines Mordes zu kommen wird den Ruhigsten in Aufregung bringen. Der Assessor war sonst ein Mann von einer seltenen Bestimmtheit und Fassung; heute, in aller Frühe schon vom Lager gerufen, um den Thatbestand eines seltenen Verbrechens 24 aufzunehmen und den Eifer und Scharfsinn seiner Beigeordneten zur Entdeckung des Urhebers in Bewegung zu setzen, fehlte ihm fast jene Selbstbeherrschung, die ihn nie und nur dann verließ, wenn er sich einmal von einem im Grunde heftigen Temperamente fortreißen ließ. Aus dem Scherze, den er sich im Behagen, von seinem täglichen Amtsverdruß auf einige Tage einmal ausgespannt zu sein, gegen Porzia Biancchi erlaubt hatte, würde ohne Benno’s Dazwischenkunft leicht gegen Hedemann eine rasche und schwer zu bereuende That geworden sein.

Die gewohnte Kaltblütigkeit des etwa im Anfang der Dreißiger befindlichen, wohlgewachsenen und imponirenden Mannes kehrte zurück, als er Thiebold de Jonge sah, der ihn seit dem Zusammenstoß mit Hedemann vermieden und in Kocher ganz an Benno überlassen hatte. In jeder Lage, wo ein anderer durch eine unerwartete Störung in Verlegenheit gebracht wird, knöpft ein Charakter wie der Assessor sozusagen einen Knopf noch mehr zu und wird noch kühler werden, als ohnehin schon in seinem Wesen und Benehmen liegt. Nun also schon wieder in dem gewohnten Tone einer vor nichts erstaunenden Ruhe und Kälte sagte der in seinem Amte gewiegte, in seinen Unternehmungen von guten Erfolgen begleitete Beamte:

Herr von Asselyn! Ich suchte Sie gestern Abend überall vergebens – mein Vater ist angekommen – in dem Drang seiner Angelegenheiten begaben wir uns sofort zu Nück – eine Viertelstunde und die Verständigung war gemacht – ich danke das ohne Zweifel Ihrer Vorbereitung! Machen Sie meinem Vater das Vergnügen, heute im Englischen Hofe mit uns ein Frühstück 25 einzunehmen – Auch Sie, Herr de Jonge, sind vielleicht zugegen – obgleich Sie die Nacht nicht geschlafen haben! setzte er nach einer leichten Verbeugung lächelnd hinzu.

Woher wissen Sie das? fragte Thiebold mit nicht erkünstelter Kälte.

Benno, um Reibungen zu vermeiden, hielt sich an die Ueberraschung, die ihm die Ankunft des Rittmeisters und Landraths von Enckefuß verursachte. Er wiederholte einigemal: Ich war bei meinem Vetter – im Schnuphase’schen Hause – sieh, sieh –nun ist mir das schnelle Arrangement erklärlich!

Thiebold bereute indeß seine Aufwallung …

Um eine Coalition der Hypothekengläubiger zu sprengen, fuhr der Assessor fort, reiste Herr Kattendyk noch in dieser Nacht nach Witoborn ab – man hat Sie in aller Frühe im Bahnhof gesehen, Herr de Jonge – also vermuth’ ich, daß ich richtig errieth – indessen bis zwölf Uhr, wo uns mein guter Alter erwartet, könnten Sie noch ausgeschlafen haben und es wird Sie freuen, Herr de Jonge, ich habe ausdrücklich die Käuflichkeit der Mühle für meinen intimen Feind, Herrn Remigius Hedemann, beim Vater und bei Nück ausbedungen – auch zu dem Preise, für den sie der Gläubiger ablassen wollte! Daß diese Sorgen hinter mir liegen, dank’ ich Ihnen, Herr von Asselyn! Also ich hoffe, Sie kommen!

Benno schützte, wenn er ausbleiben sollte, die Abhängigkeit von Bonaventura vor.

Thiebold, rasch jetzt erwärmt und versöhnt, rückte mit seinem Stuhle dem Assessor näher, zeigte ihm das auf dem Platz so zunehmende Gewühl, daß schon Mi-26litärwache berufen wurde, die Leute vom Eindringen in das Haus, wo die That begangen war, zurückzuhalten, und fragte nach seiner Ansicht über den Vorfall.

Das ist eine traurige Affaire! sagte der Assessor. Die Alte wurde mit einer Schlinge erwürgt, gerade wie man einem Stier den Hals zuschnürt und ihn dann niederzieht! Sie muß von ihrer Stube bis hinten in die Küche geflüchtet sein, wo der Mörder sie am Feuerherd festhielt und so vollends –

Und keine Vermuthung? fragten beide Hörer zu gleicher Zeit.

Gesindel haben wir genug in der Stadt! sagte der Assessor und lehnte die angebotene Theilnahme am bescheidenen Frühstück nicht ab. Sie wissen ja von dem Knecht aus dem Weißen Roß, der in St.-Wolfgang den Sarg erbrochen! Der Mensch soll hier in der Stadt gesehen worden sein! Uebrigens war diese Frau berüchtigt durch ihren Geiz. Seit Jahren ging sie nicht mehr aus. Dennoch fehlte es um sie her nicht an Verkehr. Sie nannte sich eine Frau Hauptmann von Buschbeck, während ihr nur ein anderer Name gebührt – er steht in den Acten. Geldmittel erhielt sie mit großer Regelmäßigkeit von unserer Freiherrlich Wittekind-Neuhof’schen Kameral-Verwaltung bei Witoborn. Vor vielen Jahren war sie in Diensten des alten Freiherrn von Wittekind!

Benno hörte mit beklommenem Herzen die Bestätigung der Beziehungen der Ermordeten zu Schloß Neuhof …

Die Alte, fuhr der Assessor fort, kam vor sieben oder acht Jahren hieher und brachte bald die Polizei mit 27 sich in Berührung. Kein Dienstbote blieb länger als einige Wochen bei ihr, mancher kaum einige Tage. Sie quälte und mishandelte sie so lange, bis niemand mehr zu ihr ziehen wollte. Bei dem Geiz ihrer Lebensweise hätte sie für sich allein auskommen können, ohne Bedienung, aber wahrscheinlich hatte sie das Bedürfniß der Gesellschaft. Sie half sich zuletzt, wie ich gehört habe, durch einen Rath Ihres in allem kundigen Procurators!

Nück’s? fragte Benno sinnend und keineswegs erstaunt … Die Klugheit desselben war ihm geläufig.

Sie deponirte ein Testament mit Nück’s Hülfe und bekam von ihm oder von seinem damaligen Gehülfen Hammaker –

Benno bemerkte ein momentan aufblitzendes, wenn auch nur ganz kurzes Leuchten in den Augen des Assessors –

Von Hammaker, glaub’ ich, den Rath, einer geistlichen Schwesterschaft ein Legat auszusetzen und sich von dieser dann die Dienstboten besorgen zu lassen. Der Vermittler ist Schnuphase – Sie kennen ihn ja –! Daß unser gefälliger und so zartfühlender Herr Maria die Auszahlung des Legats durch eine am Halse der Alten angebrachte Schlinge hat befördern wollen, ist nicht anzunehmen …

Ebenso wenig wie von einer der durch die Schwesterschaft zugeführten Mägde … ergänzte Thiebold mit jener aufwallenden Empfindlichkeit, die hier zu Lande bei der geringsten Reizung religiöser Beziehungen üblich ist.

Meine Herren, sagte der Assessor lächelnd, ich werde Sie schonen und Ihr Ohr auch nicht mit der Ansicht 28 beleidigen, daß die bekannte Schwesterschaft zu den Nothhelfern die Alte hat umbringen lassen …

Und fast verdrießlich lehnte er eine zweite Tasse Kaffee ab und wollte sich entfernen. Ihm genügte, die Einladung gemacht zu haben zum Frühstück mit seinem lebensfrohen und jetzt, wie es schien, ganz sorglos gewordenen Vater.

Benno versicherte, daß Thiebold ohne Vorurtheile und vollkommen neugierig genug wäre zu vernehmen, welche Rolle bei diesem tragischen Vorgang die Schwesterschaft zu den Nothhelfern spielte.

Meine Herren, sagte der Assessor, ich gehöre Ihrer Kirche nicht an, aber wenn Sie es hören wollen, so versichere ich Sie, daß Hamlet’s Wort zu Horatio: „Es gibt Dinge unter dem Monde, die unsere Schulweisheit sich nicht träumen läßt!“ hier am Platze ist. Diese Frau bekam vor drei Jahren keinen Dienstboten mehr; seitdem sie aber mit Hammaker, wollt’ ich sagen mit Nück gesprochen, geht alles. Die Schwesterschaft beauftragt Schnuphase, die Mädchen vom Lande zu holen. Lebensfrohe passen natürlich für diese Stellung nicht und solche, die zuletzt in ein Kloster gehen, entdeckt schon ein so kundiger Blick wie der des Herrn Wachslichterfabrikanten. Die Aufgabe, die Klöster zu bevölkern, ist von Rom gestellt. Wir haben der Klöster noch immer mehr, als mit der Richtung und dem Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts im Einklang steht. Was ist zu thun? Man muß ihnen einen Zuwachs künstlich erwerben. So werden die Wallfahrten in Aufnahme gebracht, so fangen die wunderthätigen Heiligenbilder an Blut zu schwitzen und Thrä-29nen zu weinen, so werden Vereine gestiftet, Gesellen-, Meister-, Lehrlingsvereine, Vereine für Erkrankung und Beerdigung, Vereine für Bildung und Unterhaltung, Nähvereine für die Mädchen, alles unter kirchlichen Formen und mit geistlicher Assistenz und vor allem hat Rom den Beweis zu führen, daß wirklich für die Klöster eine nicht mehr zu hemmende Sehnsucht im Volke vorhanden wäre. So lockt man die Gemüther in die Bahn der Entsagung, fesselt sie durch entsprechende Vorbereitungen, macht sie mit den auch dem Klosterleben nicht fehlenden Annehmlichkeiten vertraut und die Folge ist, daß –

Doch nicht etwa, fiel ungeduldig Thiebold ein, die Person da drüben von Jesuiten oder sonst einem Eurer Gespenster umgebracht ist?

Der Assessor erhob sich und nahm zwar nur die Miene an, als wenn ihn der zunehmende Lärm auf dem Platze zwänge zu seinen Amtsgeschäften zurückzukehren, aber es vertrieb ihn eine unverkennbare Aufwallung und Entrüstung.

Rasch abbrechend und aufs neue an die Hoffnung erinnernd, beide Freunde um zwölf Uhr im Englischen Hof bei seinem Vater zu finden, verließ er ohne viel Förmlichkeit das Zimmer.

Und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Freund, wenn Sie sich doch nicht in Dinge mischten, die Sie nicht verstehen! begann nun Benno:

Da haben Sie jetzt die Antwort auf Ihren Witz und Ihren gewohnten Scharfsinn!

Nein aber auch unglaublich, was diese Menschen herausspioniren! polterte Thiebold.

30 Seien Sie versichert, mein Bester, sagte Benno, daß der Assessor von Enckefuß die Jesuiten für keine Gespenster zu halten vollkommen berechtigt ist! Die Bewegung auf diesem Gebiete ist für den, der im Dunkeln sehen kann, die eines Ameisenhaufens! Ich habe, wie Sie wissen, an und für sich meine Freude daran. Nicht weil ich dieser Pfafferei und dem römischen Wesen den Sieg gönne, sondern weil in die dumpfe Stille unserer Zustände, in die Stagnation jedes politischen Lebens, in die niedergehaltene patriotische Kraft und nationale Gesinnung denn doch irgendetwas hereinbricht und der geistigen Sklaverei, der Bureaukratie, dem in allen Maßnahmen vorausgesetzten „beschränkten Unterthanenverstande“ ein Ende macht! Ich gehe nicht so weit wie Nück, dem die Religion Bagatelle ist und der sich nur vergnüglichst die Hände reibt, weil die Minister, die z. B. so erbittert seine Assisen und seinen Rechtscodex hassen und verfolgen, nun doch einmal von der sonst loyalsten Seite aus und innerhalb einer gar nicht zu bestreitenden Berechtigung jetzt in die ärgsten Verlegenheiten gerathen – diesen Cynismus der Gesinnung besitz’ ich nicht – wie Sie denn überhaupt in Kocher am Fall, bester Freund, meine Verehrung vor dem verbitterten und die Sackträger um ihr Kegelschieben beneidenden Mann unerlaubt übertrieben haben! Von Ihrer ganzen Auffassung meines Herzens und meiner Lebensansichten werd’ ich überdies die Ehre haben, Ihnen einfach zu sagen, daß Sie sich irren, lieber alter Freund! Ich habe einen unverwüstlichen Trieb zur Gerechtigkeit und wer den hat, der 31 wird andern immer kalt erscheinen! Seine Prüfung, niemanden Unrecht zu thun, wird immer länger dauern als der flackernde Enthusiasmus der minder Bedenklichen. Von meiner persönlichen und Privat-Lebensstimmung will ich gar nicht reden, aber die Zeit selbst wird so ernst, lieber Freund, die Umstände, die uns umgeben, wachsen zu solcher Bedeutung heran, daß wir mit unserm blos so dreinfahrenden natürlichen Instinct die größten Thorheiten und sogar Sünden gegen den Heiligen Geist begehen können! Lassen Sie mir nur mein Sibirien im Herzen, lieber Freund! Es ist so kalt nicht, daß ich nur mit Pelzhandschuhen zu tractiren wäre! Aber auch wenn es drin Sommer werden sollte, wird eine gemildertere Temperatur immer gut sein Ihren Extremen gegenüber, Ihren Aufwallungen, Ihren unbedachten, frevelhaften, höchst maliciösen –

Benno mußte sich schon zurückziehen …

Denn Thiebold war so vollkommen aufgelöst vor Zerknirschung, Reue, Seligkeit, Stolz, einen solchen Freund zu haben, vor so merkwürdiger Ueberraschung, „dergleichen zu hören“, vor so aufrichtiger Dankbarkeit, „dergleichen zu lernen“, daß ihm schon mit beiden zur Versöhnung ausgestreckten Händen das Schrecklichste der Schrecken, eine Umarmung, drohte …

Benno fuhr sich retirirend fort:

Ihre Extreme sind immer das Echo des letzten energischen Eindrucks, den Sie irgendwo empfangen haben! Wettert der Oberst gegen die Misbräuche unserer Kirche, so sind Sie zum Ketzer reif! Hier dem Assessor gegen-32über sehen Sie keine Jesuiten und rennen vielleicht heute noch vor Ekstase in einen Beichtstuhl!

Nie! Nie! Seit neun Jahren nicht! Auf Ehre! versicherte Thiebold, nun wieder wie ein zweiter Huß und Wiclef.

Dann schämen Sie sich, fuhr Benno fort, daß Sie dem vernünftigen Mann seine Fährte durchkreuzten, die gerade doch auf einen Menschen hinauszukommen scheint, der sich dem bösen Weibe unter gewissen religiösen Vorspiegelungen und Intriguen zu nähern wußte …

Indem trat Benno’s Schreiber ein, ganz erfüllt von dem Vorfall, dem die Bewegung schon der halben Stadt galt …

Benno nahm von Thiebold’s sich selbst anklagenden lyrisch-sentimentalen Vorwürfen Abstand und sagte:

Ich will arbeiten, wenn der verdammte Lärm mich dazu kommen läßt! Sie aber, de Jonge, gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus und lassen Sie sich Punkt halb zwölf Uhr wecken! Ich bin begierig, den alten Haudegen, den Rittmeister von Enckefuß, kennen zu lernen! Ja Sie müssen schon deshalb dabei sein, um sogleich an Hedemann schreiben zu können! Vielleicht erzählt uns auch des Assessors Vater, was Hedemann gegen ihn so speciell auf dem Herzen hat!

Damit wurde denn Thiebold fast gewaltsam von Benno zur Thür hinausgedrückt, und er ging, im Hochgefühl, seinen starken und festen Freund wieder ganz so zu haben, wie er seiner bedurfte. Zwar knirschte er an seiner Kette, lag aber doch mit solcher Wonne an ihr, daß er jetzt jedem, der ihm etwa auf der Straße und bis zu den Holzhöfen seines Vaters hinauf von Bekannten begegnete, die „Ideen“ 33 (freilich als die seinigen) wiederholt haben würde, die er soeben von Benno gehört hatte. Ja er würde jetzt keinen Anstand genommen haben, anzudeuten, daß die Frau Hauptmännin von Buschbeck ein „nächtliches Opfer der Jesuiten“ war.

Für Benno, der sich zur sofortigen Abfassung erst eines discret vorbereitenden Briefes an den Onkel in der Dechanei und dann zum Arbeiten setzen wollte und von dem Schreiber die wirren Gerüchte, die er theilweise schon kannte, wiederholt erhielt, war es ein seltsamer Eindruck, beim nochmaligen Hinunterblicken auf die Straße, wo jetzt der Zudrang der Menschen von einem Piket Soldaten abgesperrt wurde, den Assessor von Enckefuß über die leergewordene Mitte des Platzes, allgemein sichtlich, dahinschreiten zu sehen mit jenem Manne, den er einige male in nächtlicher Weile von der Treppe des Hauses gegenüber hatte herniedersteigen sehen, Jodocus Hammaker …

Er kämpfte mit sich, nicht den Verdacht auf diesen Mann irgend jemanden schon auszusprechen … Denn Hammaker war der Vertraute seines Principals in einem Grade, der schon seit einer Reihe von Jahren um so mehr das Erstaunen der Stadt war, als sich gegen die Rechtlichkeit des vielbewunderten, vielgesuchten und so außerordentlich reichen, deshalb auf Umtriebe nicht im mindesten angewiesenen Schwagers Piter Kattendyk’s, Dominicus Nück, nicht das Mindeste einwenden ließ.

34 2.#

Zur selben Stunde klopfte es im Kattendyk’schen Hause auf das allerheftigste an jene Thür, hinter welcher Treudchen Ley heute nur zwei Stunden hatte schlafen können.

Denn schon um sechs Uhr glaubte sie aufstehen zu müssen. Gut und gern hätte sie sich bei dem Befinden ihrer Herrschaft und der Freiheit ihrer Mitdienenden noch eine Stunde gönnen dürfen, um die durch ein Misverständniß verlorene Nachtruhe wenigstens um einen Traum mehr nachholen zu können.

Freilich war sie mit einem Traum erwacht, nach dem sie nie mehr wieder anders hätte träumen mögen.

Sie hatte geträumt leibhaftig ihre Mutter zu sehen … nicht etwa als Lebende, wie sonst, sondern als Todte, Erstandene, als seliger Geist und wirklich vom Jenseits her sie anredend und begrüßend …

Eben, wie sie der Thurmschlag der sechsten Stunde, wie sonst die Thurmuhr der alten braunen Stadtkirche 35 in Kocher am Fall weckte, sprach doch gerade die Mutter mit ihr wie aus einer sie verklärenden Wolke heraus, streckte förmlich ihr die Arme dar und lachte fast, unter Thränen und vor Wonne, sie nun gleich mit einer einzigen nur noch ein wenig weiter auszudehnenden Bewegung umfangen zu können …

Und sie selbst hatte das Wort: Mutter! wie einen Jubelton gerade auf den Lippen … wollte gerade in dem ganzen Ueberschwall des Herzens mit den Armen die geliebte, seltsamerweise nur im Oberkörper sichtbare Gestalt umfangen, den freundlichen, lebenswarmen Mund an ihre Lippen drücken, da gerade erwachte sie und sie erwachte auch vielleicht nicht … sie war vielleicht vorher schon wach und dieser Traum war die ganz wirkliche Erscheinung eines seligen Geistes gewesen.

Glücklich durch diese immer mehr sich befestigende Ueberzeugung, glaubte Treudchen nun, daß die Mutter in irgendeiner Form leben könnte und wach sein und ganz dicht um sie und über sie und ihre Geschwister, die im Waisenhause der Stadt waren, schweben … Die Pein des Fegfeuers mußte sie also glücklich und schnell überstanden haben, dank der gründlichen Versehung mit den letzten Heilsmitteln durch den geliebten Priester, der täglich und stündlich von ihr und ihrer hochverehrten Freundin und Beschützerin Lucinde Schwarz erwartet wurde. Nachdem sie sich eben aus ihrem Danae-Zustande – Danae muß blond gewesen sein, weil ihre Schönheit Jupitern auf den Gedanken brachte, sie gerade in ihrer eigenen Gestalt zu überraschen – in die erste nothwendigste Kleidung geworfen und ihr 36 auch Jupiter-Piter’s Zudringlichkeit dabei nicht mit allzu grellem Schrecken eingefallen war, fuhr sie nur zusammen bei dem schnellen Ersteigen der Treppe draußen, das sie hörte, und bei dem Klopfen an ihre Thür.

Sie öffnete …

Es war das so liebe gute herzige Fräulein Lucinde! Sie kam in ihrer täglich jetzt an ihr gewohnten schwarzseidenen vornehmen Tracht, die ihr doch gerade stand als wollte und könnte sie alle Tage Aebtissin werden.

Kind! rief Lucinde, heute in einem ganz weltlichen Tone, den sie noch gar nicht an ihr vernommen hatte; das Aller-Allerneueste … ich komme schon aus der Frühmette …

Treudchen konnte nichts Schlimmes erwarten; denn Lucinde war zwar erglüht vor Aufregung, aber nicht gerade wie über einen Unglücksfall …

Die ganze Stadt ist in Bewegung – fuhr jedoch Lucinde, sich erst etwas erholend, fort; diese Nacht ist ja die Frau, Kind, bei der du dienen solltest, ermordet worden!

Nun stand sie freilich starr … Daß das ein ängstlicher Dienst gewesen wäre, wußte Treudchen schon von dem Stadtpfarrer Hunnius, der unbedingt auf Lucindens Verlangen die Aenderung des Schnuphase’schen Engagements getroffen hatte … Schnuphase hatte auf dem Lande ein anderes Opfer suchen müssen, ein Opfer, bei dem immer sozusagen zwei Fliegen, ja oft drei mit Einer Klappe getroffen wurden: Eine Magd für die gottselige 37 Testatorin, die Frau Hauptmännin von Buschbeck; eine Nähterin entweder für die Schwesterschaft zu den Nothhelfern oder für seine eigenen heiligen Gewand-Stickereien oder für einen mysteriösen Weißwäsch-Handel seiner Töchter; und zuletzt drittens, da alle diese Institute ohnehin schon über die Sprachgitter der Klöster hinausführten, manchmal auch noch eine der von Rom so dringend verlangten Bräute des Himmels für diese Klöster selbst … Aber die Freude, die Genugthuung, die Lucinde über dies traurige Ende zu empfinden schien, konnte sie ihr denn doch nicht nachfühlen.

Ich komme die Straße daher, erzählte Lucinde und raffte sich aus ihren wie jetzt ganz lebendig gewordenen und um sie her just wie in einem Krebskorb drängenden Kindheitserinnerungen, den Zwetschenkernen, den Tauben, den Mäusen auf; ich komme die Straße daher und will zur Kathedrale! Da hör’ ich ja das lebhafte Reden der Menschen, das Rennen nach einer bestimmten Gegend hin, und an einem Platz, wo ich, seitdem ich hier bin, täglich zu den Fenstern habe aufschauen müssen, weil ich wußte, da wohnt der schlimme Drache, erfahr’ ich, was ihm begegnet ist! Es hat sie einer umgebracht! Hinauf durft’ ich nicht, aber ich höre, sie liegt – kalt in der Küche am Feuerherd …

Lucinde erzählte das mit sichtlichem Behagen. Aber jetzt bekam sie doch einen Schauer, als überliefe sie Eisesluft … Da, wo sie einst meinen Tauben den Hals umdrehte! rief ein ganzer Chor von schadenfrohen Dämonen in ihrer Brust und die schüttelten sie.

38 Wer es gewesen ist, fuhr sie fort, weiß man noch nicht! Schildwache und Polizei stehen am Hause! Treudchen! Treudchen! Wenn du bei ihr gedient hättest!

All ihr Heiligen! So würd’ es vielleicht nicht geschehen sein! sagte die Kleine und klagte sich nun gar selber an …

Was? Es hätte dich mittreffen können! berichtigte Lucinde und streichelte die Fülle des goldenen Haares, die Treudchen sich bei alledem ihr Anziehen nicht vergessend mit einer kühnen Schwenkung um den weißen Nacken warf.

Treudchen fand sich in die Auffassung ihrer Gönnerin.

Und was wirst du nun heute beginnen? Wie war die Nacht? Ist dein Nachbar fort, der junge Herr? fragte Lucinde in Eile und den Tod der Buschbeck gleichsam wie ein fertiges und bereits eingebundenes Buch in die Bibliothek ihres Lebens stellend.

Ich will sehen, daß ich meine Geschwister im Waisenhause besuchen kann –! erwiderte Treudchen, die über die Erwähnung der Nacht und des Nachbars über und über erröthete …

Lucinde bemerkte aus den hervorgestotterten Antworten nichts Besonderes und es drängte sie ja auch mit Macht, jetzt zu sagen:

Der Pfarrer von St.-Wolfgang ist angekommen!

Auf den freudigen Ausruf Treudchens fuhr sie fort:

Ich erfuhr es schon gestern Abend bei der Commerzienräthin … die Domherren sprachen davon … Wirst du hingehen, ihn zu begrüßen? … Ich dächte doch! … Thu’ es ja!

39 Ich hoffe, Madame Delring läßt mich ein Stündchen ausgehen!

Indem klingelte es einige Zimmer weiter und sogar zweimal …

Lucinde war schon auf dem Sprunge zu gehen …

Aber Treudchen sagte:

Nein, das gilt dem Bedienten! Einmal geklingelt das bin ich! Dreimal ist unten die Kathrine, die Köchin! Die Herrschaft will jedoch von jetzt an allein zu Mittag speisen! Das Treppensteigen wird der Madame zu beschwerlich!

Lucinde schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Nein, das ist nicht der Grund! …

Sie hielt aber an sich und ließ dadurch Treudchen Zeit aufs neue zu dem Erlebniß mit der ermordeten alten Frau zurückzukommen. Ihrem größten Triumphe konnte Lucinde gar nicht einmal Worte geben; denn wem gönnte sie mehr diese Demüthigung als der Herrin der Dechanei zu Kocher am Fall, Petronella von Gülpen? Hätte sie nur die Verwandtschaft noch ein wenig bestimmter gewußt! Der Name „Fräulein von Gülpen“ für die Hauptmännin von Buschbeck schien hier niemanden geläufig wie einst ihrem Stadtamtmann damals in der Stadt, wo sie bei ihr gedient hatte. Selbst Schnuphase, durch den doch die gewiß erst von der äußersten Noth und Verzweiflung abgerungenen frommen Spenden der Ermordeten gingen und den die Schwesterschaft zu den Nothhelfern in Bewegung setzte, um mitzuhelfen das ausgesetzte Legat zu erwerben, selbst Herr Maria hatte nichts gewußt von dieser ursprünglichen Herkunft und so nahen Ver-40wandtschaft seiner Schutzbefohlenen mit der hochverehrten Dame in der Dechanei.

Doch selbst wenn Lucinde über die Verwandtschaft ganz sicher gewesen wäre, hätte sie vielleicht ihren innern Jubel, der jede Leidenschaft natürlich, Liebe wie Liebe und Rache wie Rache nahm, gemäßigt. War doch ihr fester Vorsatz, in diesem Hause, das ohnehin so wirr und geräuschvoll auf sie einstürmte, und überhaupt in ihrem ganzen Benehmen sich auf ein Nichts zu stellen … Dein bischen Verstand willst du an die Kette legen! Das hatte sie sich schon gesagt, als ihr Schnuphase zur Seite saß und in seinem von ihm selbst gefahrenen Wägelchen genugsam ihre Satire herausforderte. Du willst nicht lachen über die Devotion des Mannes, nicht über seine Sprechweise, nicht über den Durst seines Gaules, der immer auch den seinigen involvirte, wenn er auf ihrer fast einen Tag dauernden Reise abstieg! Sie ließ ihn erzählen von den Bienen, von seinen Töchtern, von allen offenen und geheimen Schwester- und Bruderschaften, von Gespenstern und Geistern und Wundern, von Rückkehrenden aus dem Jenseits, die berichteten, welchen Vorzug dort oben die Rechtgläubigen genössen, von den Nonnen, die wieder die blutenden Male des Erlösers zu zeigen anfingen, von allem ließ sie ihn reden und staunen und hütete sich wohl ihrer Art so den Zügel schießen zu lassen, wie etwa an der Maximinuskapelle über die Heiligenbilder Napoleone Biancchi’s oder die alten Münzen und die seltsame Production der Jahrhunderte beim Wirthe zum Weißen Roß. Sie glaubte alles, selbst an 41 die Frömmigkeit der Frau Hauptmännin und an die andächtigen Lieder, die diese zu ihrer Guitarre mit zwei Saiten abendlich singen sollte. Sie glaubte an das Glück aller der Mädchen und jungen Männer, die Herr Maria schon überredet hatte in die Klöster zu gehen. Sie glaubte an einen Krieg, den Oesterreich erklären würde, wenn dem Kirchenfürsten nur irgendein Härchen gekrümmt würde … Immer nur hörte sie und blinzelte mit den Augen und nahm sich vor, durch Denken, Urtheilen, Aufblicken niemanden in der Welt mehr aufzureizen. Auch im Hause der Kattendyks, vor der unruhigen, ewig agitirten Frau Commerzienräthin, vor der anspruchsvollen noch ledigen Tochter, vor der eiteln Frau Procurator Nück, vor den Hausfreunden blieb sie sich in dem System, ungefährlich zu erscheinen, gleich. Sie antwortete nur, wenn sie gefragt wurde. Und gewiß war das ein eigener Eindruck, die hoch aufgeschossene Gestalt mit dem so ausdrucksvollen schwarzäugigen Kopfe, der vorgeneigten Stirn, den behenden ebenmäßigen Gliedern, weltkundiger Art des Benehmens, doch in dem Hause so an den Wänden entlang schleichen zu sehen, jedem ausweichend, niemanden ansehend. Und diese Rolle war nicht einmal ganz Verstellung. Sie hatte wirklich in tiefster Ueberzeugung die Ansicht gewonnen, daß in ihr besonders für die Frauen etwas Herausforderndes und Verletzendes läge und daß sie es jetzt ganz gut, ganz klug treffen würde, wenn sie sich um jeden nur irgendwie auffallenden Effect lieber gleich selbst brächte.

Ihr Bangen dabei war Bonaventura’s Ankunft und – 42 seine mögliche Begegnung mit dem Mönche Sebastus! … Diese Furcht mehrte nicht wenig die Angst und Sorge ihres in der That eingeschüchterten und bitter vergrämelten Gemüths.

Den Mönch hatte sie noch nicht entdecken können, aber täglich hörte sie von ihm reden und seine Flugschriften und die Aufsätze bewundern, die er in die Welt streute. Mit dem Wandeln, den Topf in der Hand, wie Beda Hunnius geschildert, mag es doch wol nicht so weit her sein! hatte sie sich schon spottend gesagt; aber kaum entdeckte sie, daß sie am Abendtisch der Commerzienräthin, vor dem silbernen Theeservice, bei einem solchen Einfall über des Mönches Heiligkeit die Miene verzog, unterdrückte sie auch schon den Zweifel und horchte und lauschte nur und schien überhaupt immer nur still vor sich hin zu beten … Die Gesellschaft der Commerzienräthin staunte über so viel Frömmigkeit. So oft von dem Domvicariate, das zu besetzen war (von Bonaventura’s möglicher Designation schien man noch keine Ahnung zu haben), die Rede ging, ergoß sich über ihr ganzes Sein ein warmer Strom, in ihren Adern fing es an zu rinnen und merkte das denn doch z. B. der alte Ex-Schauspieler Pötzl, der eigentlich nur die Aufsicht über zwei Bologneserhündchen der Commerzienräthin zur einzigen Lebensaufgabe hatte, und sagte dergleichen, so war es nur ihre Theilnahme für den neuen Glauben gewesen. Ach, ihr neuer Glaube war: Hier in dieser großen Stadt erhört dich Bonaventura doch noch und nennt dich seine einzige und wahre Liebe! Als sie den Domherrn Taube und sogar zweifelnd berichten hörte, die Gräfin Paula von Dorste-43Camphausen zu Westerhof bei Witoborn hätte neuerdings wieder Visionen gehabt und verrichtete sozusagen Wunder und als im Gegentheil der Medicinalrath Goldfinger vom Standpunkte einer gotterleuchteten Naturwissenschaft an dieser Möglichkeit gar nicht im mindesten zweifelte und auch die Commerzienräthin schon die Hände faltete und alle Schäden ihres Leibes und ihrer Seele überlegte, die sie vielleicht der „Seherin von Westerhof“, wie man sogleich den Titel feststellte, zur Begutachtung und Heilung vortragen könnte (von Piter’s Reise gerade dorthin auf Witoborn zu konnte nicht gesprochen werden, da Piter nicht mehr „der Mann“ war über seine Schritte im Hause irgendjemanden Rechenschaft zu geben), da erwachte schon wieder die alte glühende Eifersucht in Lucinden und ihr, der Aufgeklärten, ihr, die z. B. zu Treudchen’s Erzählung, sie hätte eben ihre Mutter gesehen und ordentlich mit ihr gesprochen, tief überzeugt entgegnen konnte: Kind, die Todten sind todt! stand fest, daß Paula bereits die Annäherung Bonaventura’s in ihren Lebenskreis merkte und in Ekstase gerathe nur durch das von ihr geahnte Näherkommen dessen, mit dem sie im magnetischen Rapporte stand.

Auch Treudchen gegenüber blieb Lucinde bei den Schleiern, die sie über ihr ganzes Wesen deshalb ziehen zu müssen glaubte, um nicht neue Dolche in ein Herz gestoßen zu bekommen, das ihr für neue Täuschungen keine Kraft mehr zu haben schien.

Und als es nun unten im ersten Stocke lebendiger zu werden anfing und sie leise auf den Corridor hinaustrat, um lieber gleich über Piter’s luftige Treppe auf 44 den Schauplatz ihres Wirkens zurückzukehren, sagte sie noch:

Kind! Die Commerzienräthin möchte gern manches wissen, was Madame Delring thut! In welchen Büchern sie läse? Ob sie betete? Ob sie lange mit ihrem Mann allein spräche? Die Frau will ihr Kind im Glauben ihres Mannes, der Protestant ist, taufen lassen! Das ist ein großer Kummer für die ganze Familie! Gib darauf Acht, was dir etwa ketzerisch erscheint! Sag’ es immer erst mir, damit ich sehe, ob man es wieder berichten muß! Auch verlange fest und bestimmt, daß du alle drei Tage in die Messe gehen müßtest! Die Commerzienräthin will das! Sage nur, du wärst’s einmal so gewohnt und hättest sonst keine Ruhe! Hörst du? Ich soll es dir sagen!

Treudchen, die diese Anleitung zur Rechtgläubigkeit ganz in der Ordnung fand, hätte gern auch einige Winke gehabt für ihr Verhältniß zu ihrer so nahen Nachbarschaft, zu Pitern und seinen Freunden, und sie hätte, wenn Lucinde ihre schüchterne Andeutung hätte nicht verstehen wollen, das Erlebte selbst erzählt; aber Lucinde huschte schon davon und flüsterte nur noch, indem sie Treudchen über das Geländer etwas Geld in die Hand steckte:

Da! Wenn du den Pfarrer besuchst, kauf’ ihm Blumen! Hörst du? Am Dom stehen so wunderschöne! Ist er nicht zu Hause, so stelle sie selbst ins Zimmer! Hörst du? Nicht etwa durch die Damen Schnuphase – verlang’ es, daß du es selbst thust! Sie gönnen dir’s nicht und geben sie ihm nicht! Einen großen 45 vollen mächtigen Strauß kaufe und mit Orangenblüten – hörst du? Man verkauft sie so! Vergiß es nicht! Aber um Himmels willen, sprich nicht von mir!

Treudchen war nun schon allein und beeilte sich, die Windungen ihres Haares zu befestigen – ihr schwarzes Merinokleid hatte ihr schon vorher Lucinde hinten geschlossen – und die selbstgestickten Pantoffeln vertauschte sie mit Schuhen vom besten, freilich etwas derben kocherer Leder.

So beim Ueberbeugen zur Erde – was machte da nicht alles die Brust eines so jungen Lebens schon so schwer! Die gestrige Scene mit dem „jungen Herrn“! Nun der Mord der Frau, bei der sie hatte dienen sollen! Die Ankunft des Pfarrers und die Blumenspende! Die Aufsicht über die ketzerischen Gesinnungen ihrer Herrschaft! Ihre Geschwister unter den Waisen! … Wäre nicht der volle Nachhall der Erscheinung ihrer Mutter gewesen und es noch so in ihr lebendig, als hörte sie deutlich das Jubelwort: Treudchen! das die Mutter sprach, und ihr eigenes angstvoll seliges: Mutter! sie würde jetzt nicht so ruhig hier am Spiegel haben stehen und ihren übergelegten Kragen ordnen können … In Lucindens Blumengruß an den Pfarrer konnte sie nichts Auffallendes finden. Gute katholische Seelen wissen es, daß sie nichts zu verabsäumen suchen sollen, was nur irgend dazu dienen kann, einem Geistlichen Freude zu machen. Sind die Geistlichen ausgeschlossen von den gewöhnlichen Freuden des Lebens, haben sie das zu entbehren, was andern Trost und Erhebung gewähren kann, eine Familie, Gattin, Kinder, Liebe und 46 Hingebung, so ist es Pflicht aller derer, für welche sie diesen heiligen Lebenswandel führen, ihnen eine stete Aufmerksamkeit zu widmen und ihnen den vollen Genuß alles dessen zu gewähren, was es außerhalb des Glücks der Hingebung, besonders eines weiblichen Herzens, sonst noch Wohlthuendes in der Welt geben kann. Dies Lieben mit der Seele, dies Umwerben und Umschmeicheln eines Geistlichen mit steter Huldigung soll, sagt man, zu den besondern Glückseligkeiten derselben gehören.

Und Treudchen war so aufgeregt, daß es ihr jetzt vorm Spiegel war, als spräche die Hasen-Jette hinter ihr: Nun, was ist, Treudchen! Bist alle halbe Jahre einmal hübscher geworden! Wirst auch jetzt um die Trauer nicht zurückgehen! Kinder von Metzgern, Treudchen, sind immer schön! … Eine Ansicht, die die Hasen-Jette am wenigsten um ihren David zurücknahm … Und auch Nachbar Grützmacher’s Stimme hörte sie: Ei, potz Blitz! Hätt’ ich nicht schon mein Bündel da – (er bekam dabei von diesem Bündel, seiner Ehehälfte, einen vertraulichen Schlag auf den breiten Rücken), so würdest du noch die Frau Wachtmeisterin werden können, Treudchen!

Treudchen wartete auf das einmalige Klingeln …

Es erfolgte nicht …

Sie trank ihren Kaffee … Er war so stark, daß ihre ganze Familie an der Verdünnung ein Sonntagsfrühstück gehabt hätte.

Die Mitmägde, die Bediente musterten sie … Es gibt zweierlei Blondinen … Solche, die wie eine Maiblume blühen und duften können, aber auch ebenso schnell 47 mit einem einzigen wunderholden Mai wieder verwelken; und solche gibt es, die man Kern- oder Dauerblondinen nennen sollte, weil sie noch als Greisinnen so anmuthig sind wie herbstlich geröthete Aepfel. Treudchen gehörte zu letztern. Wie schön stand ihr das schwarze Merinokleid zu der hellen Farbe ihrer Haut! Fast zu schmuck machte sich der Florbesatz in den goldgelben Windungen ihres Haares! Und nun lag gar zum Ausgehen schon da der von ihr selbst zum Begräbniß gefertigt gewesene schwarze Sammthut, in den sich ihr Kopf zurücklehnte, wie auf eine Folie, die den Glanz noch erhöht! Und die kostbare schwarzseidene Mantille, die ihr schon gestern gleich bei der Ankunft Madame Delring als eine „abgelegte“ geschenkt hatte! Eine abgelegte und noch so neu und glanzvoll! … Madame Delring war eine eigene, vielleicht sehr reizbare, vielleicht höchst wunderliche Frau; sehr vornehm, sehr stolz … aber gegen Treudchen war sie weich und milde. Lucinde hatte das Treudchen gleich vorausgesagt. „Die Frau Delring wird dich in ihr Herz schließen!“ Nach zehnjähriger kinderloser Ehe war Frau Delring plötzlich in die Hoffnung gekommen. Wenn Treudchen die Augen ihrer Herrin so eigenthümlich umflort sah, so wußte sie erst jetzt, daß vielleicht die ernste blasse Dame, die in Glück und Glanz zu leben schien, an die Kämpfe dachte, die mit dem theuern Keime ihres Herzens ihr würden mitgeboren werden. Es handelte sich schon seit Monden im täglichen Gespräche nicht nur ihres Hauses, sondern der ganzen Gesellschaft um die „Religion“ des erwarteten Kindes …

Nun, da nicht geklingelt wurde, ging Treudchen von 48 selbst an ihre Aufgabe, die vordern Zimmer zu putzen und in ihnen aufzuräumen und abzustäuben.

Da gab es so viel des Kostbaren und Zerbrechlichen zu schonen, daß sie ihre Gedanken zusammennehmen mußte!

Inzwischen vermißte sie etwas … In dem kleinsten, fast wohnlichsten der reich ausgestatteten Gemächer hatte doch gestern Abend noch, wie sie flüchtig vorübergehend und sich doch dabei tief verneigend gesehen, mitten in einer kleinen Laube von Epheu ein kleiner Altar mit einer Mutter Gottes von Gold, Silber und Edelsteinen gestanden. Heute fand sie das Bild nicht an der Stelle, wo sie es suchte, um in aller Stille und noch von niemanden belauscht, zu ihm ein Gebet zu verrichten.

Sie suchte und suchte – das Bild war nicht zu finden. Vielleicht war es so kostbar, daß es des Nachts verschlossen wurde, dachte sie erst. Sie stand am Eingang der Laube, in der Hand den Staubwedel. Der kleine Altar mit einem Weihbecken, das aber völlig wasserleer und sogar ein Stecknadelbehälter geworden war, war derselbe, wie gestern; die Gottesmutter aber fehlte …

Nun sah sie sich darauf um im Gemach. Da stand ein schwellender Divan, mit grünem und in Streifen gesticktem Sammt bezogen, darüber her wie zu einem Throne erhob sich ein Baldachin von demselben kostbaren Stoffe und mit schweren goldenen Fransen besetzt. Da standen kleine Fußschemel von demselben Aussehen. Auf einem Tische mit langer grüner golddurchwirkter Decke lagen Bücher und Musikalien, Näharbeiten, ein angefangenes kleines Kinderhemd mit köstlichen Spitzen besetzt …

49 Sie sollte sich nach den Büchern erkundigen, hatte sie soeben von Lucinden vernommen … sie konnte aber nicht glauben, daß es ketzerische waren. Noch gestern Abend hatte ja Madame Delring hier mit ihrem Gatten so traulich, so lieb gesessen … er hatte ihr vorgelesen … sie horchte zu und nähte dabei … und darüber her gab ein bronzener Kronleuchter von drei gedämpften Flammen in Glasglocken ein so eigenthümlich schönes Licht … und in einem Winkel, mehr dem von Vorhängen ganz verdeckten einzigen Fenster des Zimmerchens zu, stand aufgeschlagen ein Pianino … noch lagen die Noten auf dem Pulte und seltsam genug erschien ihr schon gestern dies Instrument, das mit dem in der Dechanei keine Aehnlichkeit hatte, denn hier gingen die Saiten in die Höhe … und so klein das Instrument war, doch hatte Frau Delring, kurz vor dem daß sie zu Bette ging, gestern noch einige Minuten lang darauf so sanft, so zart, so volltönend gespielt … nirgends fand sie aber das Muttergottesbild.

Endlich – da entdeckte sie es beim Abstäuben – auf dem Fußboden! In einem Winkel stand es, das kostbare Heiligthum! Wie entthront und von seinem Altar gestürzt! Es stand in einem Winkel, an einer kleinen Etagère, die mit bunterlei Dingen besetzt war, kleinen Spinnrädchen von Elfenbein, kleinen Bauerhäuschen von Holz, kleinen goldenen Papagaien in Ringen und mit Edelsteinaugen, ja mit einem niedlichen ausgestopften bunten Vögelchen, das sie vollkommen für einen Kolibri erkannte … da stand die Mutter Gottes mit dem Kinde auf dem Teppich des Fußbodens! Gerade, als gehörte auch sie zu dem Spielzeug auf diesen Mahagonibretchen!

50 Letztern Gedanken faßte ihre bescheidene, von ihrer Herrschaft nur das Beste voraussetzende Seele gar nicht in voller Klarheit … Sie wußte nun aber doch nicht, sollte sie das Bild jetzt erheben und wieder auf den Altar setzen oder durfte sie das nicht … Es war ganz still um sie her … nur auf der Straße lärmten und rasselten die Wagen … Kirchenglocken läuteten … sie beugte sich still zu dem Bilde nieder, kniete und betete zu ihm.

So manche Anrufung kannte sie, so manche Umschreibung des Englischen Grußes … was sie aber auch leise jetzt so vor sich hinmurmelte, alles sollte Dank, Bitte, Hoffnung für sich und ihre kleinen Geschwister sein.

Wie sie einige Minuten so gelegen und geflüstert hatte, ganz unbekümmert die Hände sogar mit dem gar nicht fortgelegten Staubwischer faltend, da hörte sie ein leises Geräusch hinter sich …

Erschrocken wandte sie den Kopf und ließ vor Ueberraschung den Staubwischer fallen, als sie im Morgenkleide und großer spitzenreicher Haube mit fliegend hängenden Rosabändern Madame Delring hinter sich sahe.

Auf den Teppichen, die durch alle Zimmer gingen, war die Herrin eingetreten, während sie sich in ihrem Gebete verloren hatte.

Statt aber, daß sich Treudchen jetzt rasch erheben wollte, hielt sie Madame Delring nieder und bedeutete sie fortzufahren … Ja als Treudchen verlegen zögerte und dennoch aufstehen wollte, rückte Madame Delring mit dem Fuße selbst eines der kleinen Bänkchen näher, fuhr mit der Hand über ihre weiten und bauschigen schönen gestreiften Musselinkleider, die ihre Gestalt einhüllten, und 51 versuchte, sich nun auch selbst niederzulassen. Diese Bewegung war so schwer, so ängstlich, daß sich Treudchen nicht hielt, sondern aufsprang und ihre Herrin unterstützte …

Langsam ging es, aber doch ganz bequem. Madame Delring kniete auf dem niedrigen Fußschemel. Mit stummer, leidverklärter, durchgeistigter Miene bedeutete sie Treudchen, in ihre frühere Stellung zurückzukehren, neben ihr zu knieen und im Gebete fortzufahren.

Als dies Treudchen mit klopfendem Herzen und voll Verlegenheit nicht wagte, sagte ihre Herrschaft leise und fast unhörbar:

So bete doch!

Treudchen begann nun aufs neue den Englischen Gruß, aber für sich.

Laut! sprach Madame Delring sanft …

Treudchen betete lauter, aber noch mit zitternder Stimme.

Recht, recht laut! … sagte Madame Delring und hatte die Hände gefaltet und schien der Vorbetenden wörtlich zu folgen.

Als Treudchen zu Ende war und schwieg, sagte die tief in Gedanken Verlorene und wie von einem unendlichen Leid Gedrückte und als wenn sie noch wenig von all den Worten gehört hätte:

Bete!

Nun wandte sich Treudchen erstaunt und bemerkte, daß die Augen ihrer Herrin feucht waren. Eine große und schwere Thräne rollte eben von den Wangen der nicht schönen, aber höchst würdevollen und durch Haltung und Wuchs einnehmenden Frau.

52 Da ergriff es denn Treudchen wie mit geisterhafter Ermuthigung. Alles, was ihr von ihrer Firmelung und ersten Beichte und ersten Communion her an wohlgefügten Sprüchen und Versen in Erinnerung geblieben war, sprach sie jetzt ungeordnet durcheinander und mit lauter Stimme. Sah sie sich um und fand, daß die Mitbetende ganz mit Entäußerung ihres Standes wie eine Schwester, wie eine Mutter ihr folgte, so begann sie aufs neue und betete inbrünstig den Himmel auf die Erde herab. Alle nur möglichen Sünden, Eitelkeit, Hoffart, Unglaube, Geiz, Falschheit, wurden, weil die einmal in den Gebeten so formulirt sind, von ihr auch bekannt. Auch die einzelnen Fürsprecher unter den Heiligen wurden namentlich aufgerufen, sodaß jeder auch gerade den Fehler dargebracht bekam, auf den er gleichsam das Vorrecht hatte, daß ihn Gott gerade nur durch seine Vermittelung vergab … der Gottesmutter dabei ganz zu geschweigen, die zuletzt wie mit ihrer Zauberhand Schloß und Riegel am Schatz der Gnaden sprengte und das Kind Jesu auf ihrem Arm nur immer so hineinlangen ließ und Juwelen und Blumen und alle himmlischen Freuden der Vergebung auf die vor ihnen Knieenden niederwerfen.

Erschöpft schwieg endlich Treudchen in ihrem sie wunderbar überkommenen Priesteramte, das sie vollzog, als hätte sie eine Ahnung von dem Streit der „gemischten Ehen“…

Madame Delring erhob sich, indem das junge Mädchen aufsprang und ihr dabei behülflich war.

Daß Treudchen das kostbare und schwere Metall-53bild wieder auf den Altar unter die Epheulaube setzte, schien sich ihr jetzt von selbst zu verstehen. Es wurde auch von Madame Delring nichts dagegen eingewandt, als was die Schwere betraf … Treudchen brachte es vollkommen und wie triumphirend zu Stande.

Madame Delring sammelte sich jetzt von ihrer Aufregung. Sie verbarg ihr feuchtes Taschentuch von köstlich duftenden Spitzen. Sie sah sich um, klingelte zweimal und bestellte mit gelassener Stimme ihr Frühstück … Sie wußte, daß ihr Gatte schon unten im Comptoir war.

Mein Bruder ist ja verreist? fragte sie dann beklommen, sich auf den Divan zum Frühstück setzend …

Treudchen sprach ein verlegenes: Ja! Sie kehrte dabei zum Ordnen der Nebenzimmer in diese zurück … Die Thüren standen offen.

Du wirst zu deinen Geschwistern gehen wollen! sagte Madame Delring.

Ich wollte darum bitten …

Und in die Messe! Wie oft hörst du sie? Außer Sonntags!

Treudchen sollte sagen: Alle drei Tage! Aber sie konnte jetzt nicht, vielleicht niemals lügen … Nur Sonntags! sagte sie.

Immer, wenn du ausgehst, komm’ erst zu mir und frage, ob ich Bestellungen habe!

Ja, gnädige Frau!

Was ist die Uhr?

Halb neun!

Um neun kannst du gehen! …

54 Die Empfindungen Treudchens, als sie dann ging und bis neun in ihrem Zimmer allein blieb, ließen sich nur mit denen einer freudig sich dahingebenden und sieggekrönten Aufopferung vergleichen. Sie fühlte, wie man für jemanden sterben könnte, nur um ihn vom Uebel zu erlösen. Die Gottesmutter war die Siegerin geblieben! Es war ihr so leicht, so himmlisch beschwingt, daß sie dem ganzen Hause hätte zurufen mögen: Ich habe eine abtrünnige Seele gewonnen!

Um neun Uhr kehrte sie dann zurück, um sich, wie sie sollte, ihrer Herrschaft noch einmal vorzustellen …

Sie hatte nachgedacht, ob sie die so wieder in Gedanken verlorene und noch tief betrübt scheinende Frau nicht durch die Mittheilung des in der Nacht geschehenen Mordes unterhalten sollte und von dem Glück sprechen, daß sie nicht in diesem grauenhaften Hause, sondern hier bei ihr leben könnte; doch überlegte sie, und mit Zustimmung der andern Dienstboten, die Trepp auf Trepp ab liefen, daß Eröffnungen dieser Art bei dem Zustande der Gebieterin nur von ihrer Familie kommen müßten.

Wie Treudchen wieder in die vordern Zimmer eintrat, lag Madame Delring auf dem Kanapee ihres kleinen Boudoirs … von rechts und links waren noch die Thüren offen und brachten das Licht, das durch das noch immer verhangene Fenster nicht einfallen konnte …

Sie stützte träumerisch das Haupt und hatte in der andern Hand ihr kleines Kinderhemdchen …

Willst du ausgehen? sagte sie gelassen, als hätte sie das Besprochene schon vergessen …

Treudchen trat näher … sie hatte ihren schwarzen Hut 55 auf und fürchtete fast, nicht genug einem Dienstboten ähnlich zu sehen.

Freundlich aber zog Madame Delring sie näher …

Sie lobte den Hut, band ihn jedoch dem hocherröthenden Mädchen ab, weil sie meinte, er säße nicht genug im Nacken …

Nun deutete sie auf den Fußschemel von vorhin und ließ Treudchen vor ihr niederknieen, um ihr selbst den Hut aufzusetzen …

Dann begann sie noch an Treudchen’s Haar zu ordnen …

Wie schön dein Haar ist! sagte sie sanft und löste einige der Flechten und hielt sie lange in der Hand, fast ihre Schwere wiegend und dann gegen das Licht haltend …

Wie Gold glänzt es! … fuhr sie fort.

Nun band sie die Flechten anders …

Halt nur still! sagte sie. Ich selbst darf mir ja nicht das Haar machen, – wenn du zurückkommst, ist es Zeit genug dafür – aber dir darf ich’s schon … Geh’ doch an den Dom! In das Gewölbe von Schnuphase! Ich lasse die Damen bitten – meine Aussteuer nicht zu vergessen … es währt eine Ewigkeit –

Treudchen wußte, daß die Aussteuer für das erwartete Kind gemeint war, und auch das wußte sie, daß sich ihre Mutter, als sie mit dem jüngsten ihrer Geschwister ging, sich beim Haarmachen und sonst vor allem Binden und Verknüpfen in Acht nahm –

Weißt du denn auch das Gewölbe? fragte Madame Delring.

Ich finde es schon … ich suche das Haus ohnehin, weil ich den Pfarrer von St.-Wolfgang, Herrn von Asselyn, 56 begrüßen will … er hat meine Mutter „versehen“ und wohnt dort …

Möglich, Kind, fuhr Madame Delring fort, daß dich die Schnuphases in die Klostergasse schicken, wo die Schwesterschaft zu den Nothhelfern eine Nähanstalt hat! Sage da nicht, daß du so gut beten kannst! … Oder könntest du in ein Kloster gehen?

Treudchen warf ihre großen blauen Augen zu der seltsamen Fragerin empor und blieb die Antwort schuldig.

Madame Delring kam von ihrer Frage wieder ab, wie sie diese lichten, hellen, reinen Augen sah, die allerdings denen einer Heiligen glichen … Sie fuhr mit den Fingern über Treudchens nicht zu volle, etwas röthliche Augenbrauen und zeichnete sie gleichsam in ihrer Länge über die Stirne hinweg nach …

Dann kam sie auf die Schwestern zu den Nothhelfern zurück und sagte:

Es ist ein Verein, der junge Mädchen zum Nähen anhält und Gutes thun soll! Ich weiß nicht – manche von den Mädchen, die dort arbeiteten, gingen ins Kloster … Laß dich nur in keines verlocken, Kind! Sie wissen es so geschickt zu machen und so prächtig erst drin einzurichten, daß manche Novize anfangs glaubte, in Ewigkeit keinen Mann nöthig zu haben, und um alles in der Welt lieber den Schleier nahm – hernach aber … Besonders wissen die Damen da von der Gasse – wie heißt sie?

Doch schon unterbrach sich Madame Delring selbst und zog aus dem nächststehenden Tisch ein Kästchen hervor, das über und über mit Schmuckgegenständen gefüllt war, und nahm nach kurzem Suchen eine Rosette 57 von schwarzem Stein an einer goldenen Nadel hervor, um sie in Treudchens Haar zu stecken …

Wie Treudchen diese Freundlichkeit, die sie noch kaum für ein Geschenk halten konnte, bemerkte, wollte sie sie ablehnen; Madame Delring sagte aber:

Kind, da schenk’ ich dir einen ganz werthlosen Stein! Es ist geschnittene Lava!

Aber die Nadel – sagte Treudchen hocherglüht …

Die ist gut! Laß aber nur – es steht dir ja! … So! … Jetzt – und sieh – du trägst Ohrringe –! Weißt du wol, daß man keine Ohrringe mehr trägt? Und doch hab’ ich dafür auch noch die Löcher und weiß wie heute, wie mich’s schmerzte, als sie gestochen wurden – ich war schon fünf Jahre – das sind jetzt fünfundzwanzig! … Eigentlich aber lieb’ ich Ohrringe und mag sie leiden! Weißt du, warum? Man sagt, es sähe unnatürlich aus; lieber Himmel, was ist an unserer Tracht natürlich? Im Ohr ist noch lange nicht in der Nase, wie die Wilden die Ringe tragen …

Nun lachten beide Frauen ganz herzlich um die Wette …

Madame Delring nahm die kleinen allerdings echten, aber unscheinbar und dünn gewordenen Ringelchen aus Treudchen’s Ohren und suchte, ob sie nicht zwei andere kleine, nicht zu auffallende und mit einem Stein geschmückte Berlocquen fände.

Die Frauen, sagte sie, wollen gar nicht mehr Sklavinnen sein, was diese Ohrringe bedeutet haben mögen! Aber ich denke mir das gerade schön, seinem Manne zu – dienen! Warum denn ihm ganz gleich sein wol-58len! Wenn man die Sorgen und Noth bedenkt, die die Männer haben! Wär’ ich hübscher, ich würde mich ganz gern schmücken, um meinem Mann recht als seine Sklavin zu erscheinen! Die meisten Frauen haben genug Zeit, das Gefallen zu bedenken, das ihr Mann an ihnen haben sollte! Lieber Himmel, die Männer in der Türkei dürfen immer jung bleiben und sich so viel Frauen nehmen, wie sie wollen! Wir sagen freilich: Wir gehören dir auch mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele! Kind, wie oft thun wir’s auch nicht!

Treudchen hätte von der Geduld sprechen mögen, die auch umgekehrt die Frau wieder mit dem Manne haben müsse; doch verlor sie die Besinnung über die Freundlichkeit ihrer Herrschaft, die jetzt in der That zwei kleine goldene Ringe gefunden hatte, die sie Treudchen einhängte. Sie gehörten zu einem größern alten Ohrschmuck, den sie als zu auffallend in zwei Theile zerlegte.

Deine alten Ringe, sagte sie dabei ganz gemüthlich, ei, die kann man noch angeben!

Treudchen’s vornehmste Bekanntschaften waren bis jetzt Frau von Gülpen in der Dechanei und die Majorin Schulzendorf gewesen. Wenn diese Frauen je nur so mit ihr geredet hätten! Von den Geschenken zu schweigen, die nur von einer reichern Frau kommen konnten … Sie verstummte ganz vor Glückseligkeit und konnte nur der freundlichen, immer leidend gelassenen Frau die Hände küssen.

Diese wickelte die alten Ringe in ein zerrissenes Briefcouvert und sagte:

Auf der Mühlenstraße wohnt unser Juwelier – Modes heißt er – geh’ bei ihm vor – oder besser, 59 ich lass’ es sagen, er soll ein paar einfache Brochen schicken, da such’ ich dir eine aus –

Gnäd’ge Frau! rief Treudchen und schlug die Hände wie ablehnend und bittend zusammen …

Nein, nein, sagte Madame Delring, wir geben ja deine alten Ohrringe an! Herr Modes gibt schon etwas dafür! Solche kleine Handelsgeschäfte müssen Frauen immer machen!

Sie griff nun nach dem kostbar gestickten Schellenzuge dicht neben ihr und zog zweimal.

Der Bediente kam und erhielt in Gegenwart des vor Erstaunen fast bewußtlosen Mädchens den Auftrag, der Juwelier Modes möchte eine Anzahl einfacher Brochen zur Auswahl schicken.

Der Diener ließ Morgenblätter und den heutigen Theaterzettel zurück und meldete schon einen Besuch:

Herr Medicinalrath Goldfinger!

Ich bin ganz wohl! sagte Madame Delring plötzlich streng …

Sie lehnte den Empfang des Arztes ab.

Während Treudchen sich erhoben und kaum den Muth hatte, in einen gerade dicht vor ihr hängenden viereckigen Spiegel mit goldenem Rahmen zu blicken und von Madame Delring gewinkt bekam, sie wollte ihr auch noch den Hut aufsetzen, sah die Herrin zugleich in den vor ihr aufgeschlagenen Theaterzettel und las halblaut und ganz nur wie mechanisch:

„Gastvorstellung von Madame Serlo-Leonhardi. «Das letzte Mittel.» Madame Serlo-Leonhardi: Frau von Waldhüll. Im Zwischenacte Tanz: Cracovienne von Emmy und Flora Serlo“ …

60 Kinderballet! sagte sie. Ich mag die kleinen Affenkomödien nicht leiden …

Und dabei band sie die Schleife an Treudchen’s Hut, strich ihr noch einmal die Wange, zog und drückte den Hut ihr recht in den Nacken und gab, als sie sich überzeugt hatte, daß die schwarzen Trauerhandschuhe Treudchen’s noch ganz neue waren, ihr die Hand, die diese mit überströmender Innigkeit an ihr Herz drückte und wiederholt küßte.

Inzwischen kam der Bediente zurück und meldete:

Herr Pötzl!

Madame Delring schüttelte den Kopf und sagte:

Nein!

Herr Kanonikus Taube!

Finster blickend ließ sie für alle Erkundigungen danken.

Auch diesen Besuch nahm sie nicht an.

Wol aber war ihr, als hörte sie einige Secunden später die Stimme ihres Gatten –

Der war es denn auch. Herr Delring kam, weil der Medicinalrath und jetzt auch der Schauspieler und der Kanonikus nicht waren angenommen worden – alle drei hatten ihre Meldung von dem Zimmer der Mutter aus, wo er selbst den Morgengruß gebracht, nach oben ankündigen lassen –; er besorgte, daß seine Gattin vielleicht nicht wohl, nicht guter Laune wäre … Schon hörte man draußen seine Fragen nach dem Befinden seiner Gattin …

Da aber, ehe er noch dasein konnte, erhob sich Madame Delring plötzlich und fuhr auf wie aus einem Traume. Ihre weitgeöffneten Augen schauten ringsum. Ihr Blick suchte irgendetwas, was sie beängstigte … da – auf dem wieder hergerichteten Hausaltar unter der Epheulaube stand 61 die Störung. Schnell deutete sie auf einen in den Zweigen und Holzverzierungen der Laube hängenden Gegenstand und winkte Treudchen, diesen ihr zu reichen …

Treudchen, die so an den Mienen der freundlichen Herrin hing und sich in ihre Art schon gefunden hatte, daß sie jeden ihrer Winke verstand, reichte ihr das Bedeutete dar –

Es war ein durchsichtiger großer, langer Silberflor, wie man ihn über werthvolle Gegenstände zu breiten pflegt, um sie vorm Staube zu schützen …

Schnell! rief Madame Delring …

Diesen Silberflor ließ sie Treudchen jetzt anfassen und bedeckte rasch damit die Madonna auf dem Altare.

Inzwischen trat Herr Delring ein …

Er war, wie immer, schon in weißer Halsbinde und schwarzem Frack, gleichsam als Repräsentant des großen Hauses, der er früher auch gewesen war, ehe ihn Piter entthront hatte, – ein ernster, fast vornehmer Mann.

Nun die plötzlich ausbrechenden zärtlichen Grüße, den Kuß, die liebevollen Wechselreden der beiden Gatten hörte Treudchen nicht.

Sie eilte mit klopfendem Herzen von dannen.

Hinter ihr blieb ein Weib zurück, das ihren Himmel im Manne ihrer Liebe fand.

62 3.#

Im Hause unten, an dem Treppengeländer fand Treudchen Lucinden stehen, die ein Papier in der Hand hielt und ganz in ihm versunken schien.

Es war ein großer grauer Zettel.

Treudchen erkannte, daß es derselbe Theaterzettel war, der heute wie jeden Morgen oben wie unten abgegeben wurde …

Es war schon spät geworden, aber gern hätte Treudchen sich in dem überströmenden Gefühl ihres Glückes und ihrer Dankbarkeit noch zu Lucinden ausgesprochen …

Sie trat auch zu ihr heran …

Lucinde aber stand, als weilte sie gar nicht auf dieser Erde … Sie bemerkte Treudchen nicht, so versunken war sie in die Angabe der heutigen Theatervorstellung …

Treudchen wollte keine Zeit verlieren, störte Lucinden nicht länger und sprang die Stiege hinunter.

Unten in der Hausflur sah man recht, daß „der junge Herr“ auf Reisen war!

63 Es war schon neun Uhr, alle Räume unten waren vom Geschäftsverkehr belebt, Makler kamen und gingen, in den auf den Treckkamp, Aschenkötter und Heiligenpütz hinausgehenden Hinterhöfen war das rührigste Leben hörbar, aber der Portier grüßte noch aus seiner unterirdischen Loge, stand noch nicht mit Dreimaster, Stab und Bandelier, wie Piter seit einem halben Jahre eingeführt und im Modell mit Aquarell selbst vorgemalt hatte, in der Hausflur und wies die Ankommenden mit Inquisitormiene zurecht.

Aber auch aus dem Keller heraus ließ sich Treudchen die beste Richtung beschreiben, in der sie zum Waisenhause und von dort zur Kathedrale kommen konnte.

Es war ein Markttag.

Das Gewühl in den Straßen kaum zum Ausweichen. Die Straßen dabei so eng; die Lastwagen drängten sich … zu ihnen kamen heute noch die Bauerwagen mit ihrem Stroh, ihrem Heu, Holz, Kartoffeln für den Winter … alles, wie Treudchen das ganz wie aus Kocher am Fall wiedererkannte.

Sie war nie in einer großen Stadt gewesen und übertrug jetzt fast auf den stehenden Charakter einer solchen die Möglichkeit, jedes Gesicht auf die Vermuthung hin betrachten zu müssen, daß es dem Mörder der Frau Hauptmännin von Buschbeck angehören könnte. An Trotz, Verwegenheit und Rücksichtslosigkeit jeder Art fehlte es auch nirgends und bald hatte sie in dem beengenden Eindruck des Ganzen ihre so genau angegeben gewesene Spur verloren.

Sie stand rathlos an einer Ecke, wo mehrere Straßen einmündeten …

64 Da sah sie sich plötzlich von jemand gegrüßt und angeredet!

Es war ja ein alter Bekannter aus Kocher am Fall!

Herr Löb Seligmann, der vielgeliebte Bruder der Hasen-Jette!

Er, der seither noch immer nicht daheim gewesen war, der noch immer in Gütern schlachtete, noch immer bei Grafen und Baronen hüben und drüben die Vortheile des ihm geschenkten intimsten Vertrauens derselben genoß!

Den Todesfall der Frau Ley wußte Löb Seligmann durch die Briefe David Lippschützens, seines Neveus und Augapfels, für dessen Fortkommen durchs Leben bei „so schwachen Beinen“ gerade er sparte, gerade er sich kein Geschäft verdrießen ließ, selbst die Lieferungen der Bettfedern und Decken für Kasernen und andere öffentliche Anstalten nicht …

Treudchen konnte im Augenblick gar kein besseres Geschick haben als diese Begegnung mit dem so artigen, so gefälligen kleinen Herrn Löb Seligmann, der vollkommen vergessen hatte, daß die böse kocherer Jugend einst hinter ihm her gesungen wie sie noch jetzt hinter seinem geliebten Adoptivsohn in übermüthig christlich-germanischer Nichtanerkennung orientalischer Schönheit sang:

Hast nicht gesehen Schmulche?
Mit dem scheppe Muulche?
En Aagelche zu,
En schlockrig Händelche dazu,
En wacklig Beinche dazu …?

Löb Seligmann war edle, erhabene und schöne Seele. Seine Gefühle glichen seinen Vatermördern, die wie 65 bei Herrn Schnuphase immer in die höchste Höhe gingen. Sein Blick auf Treudchen, seine Rührung über ihre Freude, sein Andeuten: „er wisse alles“ – er meinte den Tod der Mutter – sein Ausweis über die Lage des Waisenhauses – alles das war von einer so stummberedten Theilnahme, von einer so erdenleidverklärten Tröstung und allessagenden Prophezeiung für jedes, was die kleine Landsmännin, vielleicht Geld ausgenommen, von ihm begehren konnte, daß es nur an der Unruhe und dem Lärm der Straße lag, wenn Gertrud Ley nicht wieder alle ihre Wunden aufs neue aus Seligmann’s und ihren eigenen Augen aufbrechen und fließen fühlte … „Treudchen!“ … Das eine Wort nur … Löb Seligmann sprach es aber aus, wie den ganzen fünften Act eines Trauerspiels.

Und bei alledem hatte doch jedermann, der nur in Kocher vom Wasser des Fall getauft oder nicht getauft war, einen Anflug von Heiterkeit, so oft er nur den Herrn Löb Seligmann sah. Er hatte wunderliche Eigenschaften. Ein nicht zu entfernter Verwandter der reichen Fulds, ob er gleich nur unten für das Comptoir derselben existirte und dort wie jeder andere Sensal vierten oder fünften Ranges betrachtet wurde, besaß er eine gewisse Vornehmheit. Von seinem Verkehr mit der großen Welt hatte er sogar die Manieren der Adeligen angenommen, soweit sie niemanden beleidigten; wenigstens glaubte er selbst an eine höchst ersichtliche Vornehmheit seines Wesens. Im Oberkleide war 66 er zwar einfach, aber desto gewählter in der Wäsche und vorzugsweise in der Weste. Aus dem manchmal etwas hohem Kragen der letztern und den zu steifen Vatermördern sah der kleine Kopf mit der niedern, breiten Stirn und dem kurzgeschnittenen krausen Negerhaar etwa heraus wie eine Kirche, deren Dach höher ist als der Thurm. Löb Seligmann, bereits weitaus vierzigjährig und Garçon, war zudem durch Schmeicheleien verwöhnt, die zwar nur von Wenigen, aber von diesen desto enthusiastischer kamen, vorzugsweise von seiner Schwester, deren Einzigster sein Erbe sein sollte. Zu Kocher am Fall wohnte er im obern Stock des Hauses, in welchem einst der Mann der Hasen-Jette die Kundschaft der Leys ohne alle Böswilligkeit an sich gezogen hatte, sie leider nicht lange genießend. Löb Seligmann arbeitete nur für David. Er ließ ihn bilden, ließ ihn fein erziehen. Nur in der Musik schlug David noch nicht ganz nach dem Wunsch des Onkels ein, der in diesem Fache ein Kenner war. Löb Seligmann glaubte eine schöne Stimme zu besitzen. Wenn er in Kocher am Fall Toilette machte, sang er dazu am offenen Fenster. Wenn er sich an einem kleinen Spiegel der Lichtung des Fensters selbst rasirte, intonirte er mit einem schönen Tenor, der nur auf eine vielleicht etwas zu leichte und bequeme Weise in die Fistel überging, eine Opernarie nach der andern. Die Schwester stand indessen unten in der Hausthür und machte die Leute aufmerksam auf die wunderschönen Melodieen, die ihr Löb wieder aus den großen Städten mitgebracht hatte. Nie hat sich auch jemand mit mehr Behagen selbst rasirt, als Löb Seligmann. „So kannst du mich 67 betrüben, Othello kannst du lieben?“ Jetzt die Seife eingestrichen. „Treibt der Champagner das Blut in die Kreise, da ist’s ein Leben herrlich und frei!“ Das Messer wird geschärft. „Auf, singt die Barcarole!“ Erster Strich über die Oberlippe, während die linke Hand die Nase festgeklemmt hält … jetzt läßt sie die Nase los und „Gnade, Gnade für die arme Seele!“ Zweiter Strich, die Nase wird wiederum festgeklemmt; Luft und – „Mein Hüon, mein Gatte, Geliebter, wo weilst du?“ Jetzt ein großes Orchestersolo mit Pauken, mit Trompeten, mit Summen und Brummen, Pruhsten, Gurgeln, Zungenschnalzen oder – Lied ohne Worte … sanft die Seife wieder aufgestrichen – Adagio – Schlummerarie – erneuter Ansatz zum Rasiren – und so fort mit dem auf der Reise arg verwilderten Barte eine Stunde lang. Immer dazwischen das kunstvollste Talent der musikalischen Reproduction und Paraphrase, das Messer am Streichriemen und in der Kehle die Arien sanft hinübergeschliffen. Ist dann die Bartabnahme vollendet, dann fällt eine Arie wild in die andere, Desdemona in die Klagen Rodrigo’s, die Nachtwandlerin in die Verzweiflung Elwino’s, „O welches Glück, Soldat zu sein!“ jodelt sich in „Gold ist nur Chimäre!“ hinüber – und alles das empfindet Löb Seligmann ebenso musikalisch wie moralisch nach, soweit der Text und die Situation es vorschreiben. Auch kritisch ist er mit ergriffen, soweit ihm nämlich alle größeren und kleineren Talente einfallen, die er schon in allen diesen Opern auf verschiedenen Stadttheatern hatte debutiren sehen.

68 Löb’s seelenvolle Erörterungen über die Vortrefflichkeit der Dahingeschiedenen, über die Bettdecken des Waisenhauses, das erstaunliche Glück, bei den Kattendyks zu dienen, unterbrach Treudchen mit der Erzählung von der Mordthat und dem nahen Zusammenhang derselben mit ihrem eigenen Lebensschicksal. Löb Seligmann wußte schon den Vorfall, konnte schon weitere Details über den Geiz der Ermordeten, nur über den Thäter nicht, geben, erstaunte über die unschuldige Betheiligung Treudchens und bat sie, zwei Minuten – „hier an diesem prächtigen Palais“ – zu warten … er käme sofort wieder zurück – er würde jedenfalls, das ließe er sich nicht nehmen, sie bis ans Waisenhaus begleiten –

Da Treudchen einen Band- und Zwirnladen bemerkte und bei all ihrem Herzeleid doch ihrer Nadeln und ihres Fingerhutes eingedenk blieb, so nahm sie auf zwei Minuten um so lieber Abschied, als sie hier gelegentlich nützliche Einkäufe machen konnte.

Statt nach zwei, nach zehn Minuten war sie mit ihrem Geschäft fertig und nach zwanzig kam Löb Seligmann wieder …

Er hatte hier in dem Comptoir seiner, wie er sagte, Vettern Moritz und Bernhard Fuld zwar keinen Zutritt zu den innern Gemächern, wo die Ritter der Ehrenlegion saßen, aber einige alte Buchhalter aus den Zeiten des seligen „Man weiß schon!“ hielten ihm denn doch Stand, wenn er sie um eine Prise bat und ihnen mittheilte, daß merkwürdigerweise ein Mädchen aus Kocher am Fall bei der heute Nacht ermordeten alten Dame „beinahe hätte können im Dienst gestanden haben“ …

69 Es sind Vettern zu uns! wiederholte er mehrmals von den Fulds und auf das Palais deutend …

Indem Löb Seligmann seine Vatermörder jetzt stolz über die durch beständige Reibung von ihnen gerötheten Ohrläppchen hinaufzog, ergab sich seltsamerweise, daß ein riesengroßer, wunderbarer, schöner Bau, in dessen Nähe sie waren, schon die Kathedrale war und daß Treudchen ihre Commissionen im „steinernen Hause“ jetzt hätte schon ausführen können, wenn nicht gerade nur um zehn Uhr die Sprechstunde im Waisenhause gewesen wäre. Aber nun war auch der Blumenmarkt ganz nahe … derselbe Markt, der Löb Seligmann mit ähnlichen Empfindungen zu erfüllen schien, wie sie jetzt auf Treudchen’s von allen diesen mächtigen Eindrücken bestürmtes Herz zuschossen …

Einen Augenblick, Mamsell Treudchen! rief er und berechnete schon mit einer Gärtnersfrau, wie viel von Orangenblüten und Myrten in einen großen Blumenstrauß hineinkonnten, den er mit 7½ Silbergroschen bezahlen wollte. Treudchen wunderte sich nicht über seine poetische Regung, da sie selbst von dieser Fülle von Eriken, Fuchsien, hochragenden Gummibäumen, buschigen Rhododendren und blühenden Myrten wie berauscht war. Auch sie würde sich sofort in ihren Einkauf eingelassen haben, wenn nicht von der Kathedrale herab drei mächtige Schläge den ganzen Domplatz, vorzugsweise aber sie selbst, erschüttert hätten.

Schon drei Viertel auf zehn! rief sie. Herr Seligmann, um Gottes willen, bitte! Kommen Sie!

Ein einziger Rundblick rings auf die Häuser, wo 70 Herr Maria Schnuphase wohnen konnte, der sie in einen so schlimmen Dienst hatte empfehlen wollen, eine blitzschnelle Musterung der Blumen, die sie wol hernach zu ihrem Bouquet für den Pfarrer von Asselyn wählen konnte, und nun fort nach der Richtung hin, die sie Herrn Löb Seligmann dringend bat, durch nichts mehr zu unterbrechen. Ich bitte Sie! sagte sie. Ich habe noch so viel Commissionen! Aber jetzt muß ich wissen, wie meine Geschwister die erste Nacht hier zugebracht haben!

Dann setzte sie, und fast neckend im Ton der kocherer Christenjugend, hinzu:

Für wen ist denn aber der schöne Blumenstrauß, Herr Seligmann?

Wenn Sie im Waisenhause sind, – sagte Seligmann, hielt aber sinnend inne und wickelte sein Bouquet in eine Anzahl Theaterzettel, die er aus der Tasche zog, und summte dazu einige Noten aus dem im Spohr’schen „Faust“ irgendwo an einem Stadttheater eingelegt gewesenen „Liede an die Rose“ – wenn Sie im Waisenhause sind, geh’ ich solange in die Nachbarschaft, auf die Rumpelgasse, wo mein Bruder Nathan Seligmann wohnt – Sie müssen sich sein Geschäft ansehen – alte Kleider, Möbel, Glaswaaren, Bilder, Masken, Theateranzüge – was Ihr Herz begehrt – die ganze Welt hat Nathan zum Verkauf oder zum Verleihen – nur muß sie alt und abgelegt sein!

Ist das die Judengasse? sagte Treudchen unbefangen und eilends dahinschreitend und so laufend, daß Löb fast nicht mitkonnte.

71 Was? Denken Sie, daß wir hier noch in einer einzigen Gasse wohnen? Haben Sie nicht das Palais von unsern Vettern gesehen?

Sind das die Vettern, um die der David immer sagt, er würde nur eine Prinzessin heirathen?

Das Kind! betonte Seligmann ganz wie seine Schwester und vergaß vor Entzücken über David’s naive Erklärung eine Antwort auf Treudchen’s Frage.

Diesen Blumenstrauß, fuhr er dann nach dem glückseligsten Sinnen über David’s Geist und große Zukunft fort, will ich in seinem Namen an Tante Veilchen abgeben, an die er schon seit drei Jahren alle Vierteljahre einen französischen Brief schreibt. Sie werden bei Herrn Delring und bei Madame Kattendyk viele vornehme Damen kennen lernen, aber ich versichere Sie, wenn Sie wollen gebildet werden, liebes Kind, gehen Sie nur in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer, die meinem Bruder Nathan Seligmann, der ein Witwer und ohne Kinder ist, seit dreißig Jahren das Geschäft und die Wirthschaft führt. Sie ist schon funfzig Jahre alt, aber ich könnte heute um ihre Hand freien, – so viel Schönheit hat sie – im Geist – und wenn ich nicht versprochen hätte, für den David zu sorgen. Ja, Treudchen, Sie sollten Veilchen Igelsheimer sehen! Sie können viel Bücher lesen und Sie finden drin nicht gedruckt, was in Veilchen steht!

Treudchen ließ ihn so forterzählen und folgte nur immer seinen stumm gegebenen Winken über die Richtung, die sie einzuschlagen hatten …

Veilchen, fuhr der von seinen Familienbeziehungen nicht weniger wie seine Schwester bezauberte Mann fort, Veilchen 72 hätte in einem Palais wohnen können, wie die jungen Fulds, wo der eine sich kürzlich verheirathet hat mit einer reichen und wunderschönen Dame aus Wien – ja Veilchen hätte Barone haben können und einen Grafen – aber da sie den nicht bekommen konnte, den sie allein gemocht – es war ihr Vetter – unser Onkel Doctor Leo Perl – da hat sie für ihr ganzes Leben gesagt: Ich entsage!

Und wäre Herr Löb Seligmann jetzt allein gewesen und etwa daheim, auf seiner Stube in Kocher am Fall und im Rasiren begriffen, so hätte er sich jetzt unfehlbar durch die wehmutherweckende Ideenverbindung dieser Mittheilungen bestimmen lassen, aus Bellini’s „Unbekannter“ oder dessen „Nachtwandlerin“ ein schmelzendes Adagio zu intoniren …

Treudchen sah nur immer auf die Straßennamen an den Ecken, auf die Menschen, die Soldaten, die Fuhrwerke, die hohen Häuser, alten Kirchen und hörte um so mehr nur halb auf den freundlichen Begleiter, als er seine Mittheilungen auch seinerseits bald durch das Lesen eines Anschlagzettels, bald einer Firma, bald durch ein Stillstehen und Erklären einer städtischen Merkwürdigkeit unterbrach.

Den heutigen Theaterzettel ließ er nach kurzem Anblick unbeachtet … „Das letzte Mittel“ … „Tanz“ … Das war nichts für den Schmelz seiner Gefühle und seine nur im Meer der Töne sich wohlbefindende Seele.

Auf Veilchen Igelsheimer, die Entsagende und jetzt in der Rumpelgasse das Geschäft seines Bruders Führende, kam er wieder zurück, als er vor einem Zinn-73gießerladen still stand und behauptete, bei Herrn Xaver Klingelpeter eine Minute zu thun zu haben …

Nein, nein! nein! rief Treudchen …

Eine Minute, Treudchen!

Adieu, Herr Seligmann!

Zwei Worte! Sehen Sie die wunderschönen Arbeiten am Fenster –

Treudchen zog ihn von dem Schaufenster des Zinngießers weiter …

Herr Xaver Klingelpeter, sagte er dann, sich ergebend und nachstolpernd, ist ein ansehnlicher Mann, der sich ein Gütchen kaufen will, das ich ihm empfohlen habe! Haben Sie wol die Herrlichkeiten in seinem Laden gesehen? Alles nur von Zinn, aber so kunstvoll, wie von Gold und Silber!

Treudchen hatte den Eindruck der silbernen Monstranzen für arme Dorfkirchen, Patenen, Kelche, Crucifixe wohl empfangen, auch durch das Fenster einen Mönch erblickt, der drinnen im Laden mit dem Meister Zinngießer in lebhafter Demonstration begriffen schien, aber sie zog es vorwärts, vorwärts, und Seligmann mußte folgen …

Auch solche heilige Gefäße, fuhr er bei alledem fort, kommen im Geschäft meines Bruders vor! Sie werden eingeschmolzen und manchmal mit sehr unheiligen Dingen zusammen! Veilchen macht das alles wie ein Professor der Chemie. Ja, mein Bruder läßt sogar Münzen schlagen, aus Kupfer – es ist ein Artikel zum Spaß – Sie sollten sehen, wie Veilchen lateinische Inschriften macht und die Bilder dazu zeichnet – rö-74mische Könige und türkische Kaiser! Veilchen könnte Bücher schreiben!

Ihr also bringen Sie den Blumenstrauß? warf Treudchen in der Eile und nur so zerstreut dazwischen …

Sie macht sich aus nichts mehr im Leben was! Sie liest blos, sie schreibt blos, sie führt blos das Geschäft … Ach, ihr Kummer war zu groß! Es war das schönste Mädchen – ein Bild – sie ist noch jetzt wie eine Wachskerze so weiß – aber der, den sie liebte, den bekam sie nicht – es war unser Oheim – ihr eigener Vetter – er taufte sich – katholisch – mehr – er wurde ein Priester …

Treudchen hörte nur halb. Aber sie kannte ja schon diese Klagen aus so vielen stillen Abendgesprächen der redseligen Hasen-Jette mit ihrer Mutter! Leo Perl war für diese ganze Familie der verheißene Messias gewesen! Als es aber dazu kam, sich als der Löwe vom Stamm Juda zu offenbaren, täuschte er alle, wurde zum Verräther, ging zum Feinde über und schien von alledem doch keinen Segen gehabt zu haben. Treudchen wußte sogar, daß regelmäßig zwei Männer genannt wurden, die Leo Perl’s Seelenruhe auf dem Gewissen haben sollten, der gute Dechant zu Kocher am Fall und ein anderer vornehmer und großmächtiger Herr auf einem fernen Schloß bei Witoborn. Ihnen sollte der Doctor Leo Perl mit seinem Uebertritt, ja mit dem Entschluß, Priester zu werden – wider Willen sogar – ein geheimnißvolles und bis zur Stunde wenigstens selbst der Hasen-Jette noch unenträthseltes Opfer gebracht haben …

75 Endlich standen beide vor einem freundlichen, mit einer Inschrift gezierten Hause.

Löb Seligmann versprach mit dem holdseligsten Nicken aus den Palissaden seiner Vatermörder und dem schwarzwolligen Wulst seines üppigen Haarwuchses und einem seit einigen Tagen nicht besonders gründlich rasirten Barte heraus, in spätestens einer Viertelstunde hier wieder an der Thür zu stehen und auf Treudchen’s Rückkehr zu warten …

Er selbst zog die Klingel. Einem öffnenden Knaben trug er das Anliegen Treudchens vor. Er traf den Ton für alles, was sich hier schickte; er kannte jeden Weg, wie er betreten werden und jede Thür, wie man an sie klopfen mußte. Selbst die deutsche Sprache handhabte er seiner Meinung nach in diesem Augenblick vollkommener als Treudchen, deren Rede er unterbrach und ihre Berechtigung, hier eingelassen zu werden, gleichsam in die Sprache übersetzte, die derjenige nicht kennen konnte, der noch nie aus Kocher am Fall so herausgekommen war, wie er.

Der Knabe führte Treudchen zum Inspector … der Inspector führte sie zu ihren drei Geschwistern, zwei Knaben und einem Mädchen …

Alle drei sprangen ihr herzlich und heiter entgegen … Wie rasch entflieht dem Kindersinn ein herbes Leid! Weckten wir es nicht durch unser eigenes Bedauern und fragten einen solchen kleinen Nachlaß: Weißt du auch, was du verloren hast und denkst daran und weißt wo deine Mutter ist? solche nach Luft und Licht und Wachsthum strebenden Keime vergäßen bald nach unserm 76 Gefühl zu antworten … Wie tummelte sich das schon im Hof und lärmte und regierte schon die Welt im Soldatenspiel … Und drüben bei den Mädchen war das ein Murmeln und Summen und Plaudern beim Stricken … und wie bewährten sich die angebornen Gattungstriebe! Liebe und Abneigung schon nach vierundzwanzig Stunden, Verschwörungen schon und Bundesgenossenschaften … neckte die, so hatte sie an jener einen Widerpart und diese wieder eine Gegnerin an einer andern … Nichts blieb ohne Angriff, nichts ohne Beistand … Ja, Treudchen fand, daß die Geschwister in ihr neues Dasein schon wie eingeboren waren … Läutete es, dann wußte jedes, was es bedeutete … bald rief die Glocke zum Frühstück, bald zum Mittagessen, bald in die Kapelle, bald auf die Schulbank … ein geregeltes und in sich begnügtes Leben das! Lucinde sagte Treudchen und den Kindern gleich: „Bliebe es euch nur immer so, ihr Armen! Und läge der Nachtheil der Waisenhauserziehung nicht gerade in der Unmöglichkeit, im Leben künftig dieselbe Regelmäßigkeit zu haben! Dem Dasein gegenüber, wie es ist, ist sogar schon solche Ordnung eurer Jugend – ein vollständiger Luxus! Wer auch nur alle Tage das hat, was er begehrt und bedarf, wird selbst bei Wasser und Brot wie ein Prinz erzogen! …“ Lucinde gedachte ihrer verkommenen Brüder.

Schon wollte Treudchen, da die Freistunde vorüber war, nach herzlichen Mahnungen und Danksagungen an den Herrn Inspector wieder gehen …

Da kam auf sie zu eine der Nonnen, die hier die Erziehung leiten helfen. Es war eine Karmeliterin in 77 braunem Rock und schwarzem Ledergürtel. Sie war in mittlern Jahren, sehr sauber, sehr rührsam. Daß ihr Treudchen die Hand küßte, lehnte sie fast ab und ergriff theilnehmend die ihrige.

Sahen Sie denn auch alles? fragte sie und führte Treudchen in den Räumen auf und nieder und zeigte ihr die Plätze, wo die Kinder ihre mitgebrachten Habseligkeiten untergebracht hatten. Sie versicherte, daß diese Geschwister ihr schon fast die Liebsten wären und daß auch sie Mutter Beaten schon in ihre Herzen eingeschlossen hätten.

„Mutter Beate“ war der Name der Schwester …

Treudchen’s Herz klopfte hörbar. Nach den Reden der Frau Delring überkam sie fast eine Furcht, sich offen auszusprechen oder zu lange im Gespräch zu verharren mit dieser so zuthulichen Klosterjungfrau … Und wahrhaft überrascht war sie, als Schwester Beate von ihrem Dienst bei den Kattendyks und ihrer frühern Bestimmung für die Frau Hauptmännin von Buschbeck schon wußte.

Diese Unglückliche, sagte sie, ist auf so ruchlose Weise ums Leben gekommen! Aber die ewige Gerechtigkeit wird den Mörder gewiß schon der zeitlichen überliefern! Sie wird den Elenden auffinden lassen, der auch den Armen und Nothleidenden eine Freundin raubte! Ei! Wie können Sie sagen, Kind, daß es ein Glück war, daß der Himmel Ihnen eine andere Bestimmung gab! Vielleicht hätte Ihre Anwesenheit die That ungeschehen gemacht! Verlassen von aller Welt, mußte die Aermste wol ein Opfer 78 der Habsucht und Mordlust werden! Kind, Kind, fürchten Sie sich denn vor einer Gefahr, die im Gefolge einer Pflicht liegt?

Treudchen sah verwirrt zur Erde. Ihre Wangen erglühten. Sie, die schon im Leben so viel erduldet, stand jetzt, wie sie gleich heute früh geahnt hatte, wie ein Wesen da, das nur an ihre eigene Sicherheit zu denken vermochte. Es war ein Feuerbrand in ihr Herz geworfen, sich sagen zu müssen: Wärst du weniger furchtsam gewesen, weniger gläubig den Versicherungen deiner Gönnerin Lucinde gefolgt, diese unglückliche Frau lebte vielleicht noch!

Freundlicher jedoch geworden, als sie die Wirkung ihrer harten Worte bemerkte, unterhielt sich Schwester Beate jetzt wieder im Wandeln mit Treudchen, fragte nach ihren sonstigen Lebensverhältnissen und vervollständigte das, was sie alles sonderbarerweise bereits wußte.

Als Treudchen schon gehen wollte und die Hand der Nonne ergriff, sie aufs neue zu küssen, forderte Schwester Beate sie auf, in ihrem Kloster sie zu besuchen … es läge dicht am Waisenhaus nebenan und wäre mit ihm durch einen geschlossenen Gang verbunden und sähe mit der Vorderfronte der zum Kloster gehörigen Kirche auf den Römerweg hinaus.

Treudchen gedachte an ihre Herrin, wie sie vorhin den Namen einer gewissen Straße gesucht hatte …

Wir haben gerade morgen einen Geburtstag! sagte die Nonne. Kommen Sie doch morgen Nachmittag!

Ich weiß nicht …

79 Ihre Herrin erlaubt es … In ein Kloster läßt eine gläubige Seele jeden gehen!

Einen Geburtstag? … fragte Treudchen bebend und ausweichend …

Ein Geburtstag ist ein Einkleidungstag!

Die Nonne blickte auf das Ende eines Corridors, in welchem eine zweite Nonne erschien. Sie schwieg, bis diese herangekommen und mit einem freundlichen Gruße vorübergegangen war. Dies war eine fast vornehme Erscheinung gewesen …

Das war das Geburtstagkind! sagte Schwester Beate mit einem Lächeln, bei welchem eine ihr Antlitz entstellende Zahnlücke zum Vorschein kam. Schwester Therese ist heute sozusagen drei Jahre alt! Vor drei Jahren nahm sie den Schleier und wurde eine Braut des Himmels! Sie ist sehr vornehmer Abkunft! Ein Freifräulein Therese von Seefelden! Schon hatte sie einen Grafen zum Verlobten, der aber sein ganzes Vermögen lieber zu einem wohlthätigen Zwecke bestimmte und ins Kloster gehen wollte! Er ist im Franciscaner-Kloster Himmelpfort bei Witoborn; leider wurde er krank und hat, der Aermste, seinen Verstand verloren! Fräulein von Seefelden nahm nun auch den Schleier und wurde Karmeliterin! Ich bin nicht so hoher Abkunft. Mir ging es wie Ihnen, Kind! Hat man keine Aeltern und Verwandte mehr, keine Freunde und muß sich mühsam durchs Leben schlagen und immer in Gefahr leben, an seiner Seele beschädigt zu werden, so ist das Kloster die beste Versorgung! Niemand hat da noch eine Entbehrung, als nur für anderer Wohl! Wir kümmern uns nicht: Was 80 wird aus uns? Was essen, was trinken wir? Unsere Kleidung, unser Unterhalt sind da – so leben wir nur mit unserm Innern beschäftigt. Kommen Sie morgen, liebes Kind! Wir feiern unsere Geburtstage immer so froh, wie nur irgend erlaubt ist! Es fehlt an Gebacknem nicht, nicht an Blumen, Sie sollen sehen, wir sind sogar ganz guter Dinge und können lachen wie andere auch!

Der Schall einer Glocke rief die Schwester Beate ab in die Säle, wo sie die weiblichen Handarbeiten leitete.

Treudchen fühlte, daß sie morgen an dem Geburtstag der Schwester Therese nicht fehlen durfte. Ja es war ihr fast, als würden es ihre Geschwister zu entgelten haben, wenn sie einer so ausdrücklichen Einladung nicht Folge leistete …

Dennoch überfiel sie ein unaussprechliches Bangen … Sie verließ das Waisenhaus zitternd, wie wenn sie in Lüften schwebte. Ihre Pulse flogen. Es war ihr, als sähe sie immer die Augen der Nonne sie anlächeln, sie durchbohren mit einer Freundlichkeit, die keine natürliche war, sondern dem Blicke der Schlange glich, die ihr Opfer erst erstarren macht … Ach und dazu läuteten Glocken draußen und in ihrem Innern! Allen ihren Leiden, zu denen Beängstigungen kamen, wie sogar solche, die in der Erinnerung an Piter lagen, bot sich eine himmlische Tröstung und ein Ausweg. Auch zu einem Geistlichen flog sie ja jetzt, der ewig entsagen mußte, der nur sich grüßen lassen durfte mit Blumen, die die Verehrung brachte und die nichts dafür begehrende Liebe … Auf der Straße, wo sie sich wieder befand, hätte sie 81 unter allen Menschen wie über eine Ahnung laut aufweinen mögen …

Wenn nur Löb Seligmann da war – sein Plaudern hoffte sie, würde ihr Beruhigung geben!

Sie fand ihn aber nicht und sie konnte kaum auf ihn warten. Auch konnte er vielleicht schon fort sein, denn sie war fast eine halbe Stunde geblieben. Dennoch suchte sie und suchte und stand und ging und ging und stand – Eins konnte ihr Auge nicht fortbannen: Die beiden Nonnen – und Schwester Therese und ihr feierlich ernstes Dahinwandeln und das braune wollene Kleid, das beide trugen und den groben Ledergürtel – und ihr Geliebter wurde Mönch, angethan wie der, den sie vorhin gesehen in dem Laden des Meisters Zinngießer!

Fast war sie im Auf- und Niedergehen schon dicht an diesem Laden angekommen. Sie sah ihn in der Ferne, sie sah, daß sie sich auf dem Rückwege zur Kathedrale leicht zurecht finden würde. Doch kehrte sie wieder zum Waisenhause um …

Nirgends fand sich aber Löb Seligmann …

Jetzt schlug es von den Thürmen halb elf Uhr …

Wie durfte sie länger zögern! Frau Delring wird ihre Toilette machen wollen! sagte sie sich. Sie eilte von dannen und geradeswegs der Kathedrale zu.

Nach einer Viertelstunde war auch diese erreicht und mit ihr der Blumenmarkt. Rasch erhandelte sie zwei große Bouquets von Georginen, Levkoien, Nelken. Seligmann’s Beispiel ermuthigte sie, sich einbinden zu lassen, was ihr nur irgend noch von den andern Vorräthen 82 gefiel, vor allem Orangenblüten. Damit eilte sie dann zu dem Laden des Herrn Maria hinüber.

Ein Schaufenster mit den auch nach außen sichtbaren innern Herrlichkeiten, die hier verkauft wurden, fehlte. Ja selbst im innern Laden, so groß und geräumig er war, hatte alles ein Ansehen, wie wenn diese Schränke und Kisten und Kasten nur zum Privatgebrauche einer hier für immer wohnenden Familie bestimmt waren. Herrn Maria’s feiner Takt bewährte sich in diesem Geheimnißvollen des Verkehrs mit heiligen Dingen. Selbst die Lebkuchen ziemte sich nicht so offen neben den Meßgewändern liegen zu lassen …

Treudchen sah sich aber kaum um. In Eile sagte sie zu einer von einem versteckten Stehpult fragend aufblickenden nicht mehr in erster Jugendblüte befindlichen, aber doch durch Haltung und eine gewählte Toilette wol noch Jugendlichkeit in Anspruch nehmenden Dame:

Eine Empfehlung von Madame Delring! Ob nicht bald ihre Ausstattung fertig wäre?

Madame Delring –? Ah –!

Die gestrenge Miene der schlanken, dunkeläugigen Dame verklärte sich …

Sie sind –? fragte sie und hocherröthend und nachfühlend, daß dies Mädchen ihr allenfalls auch hätte sagen dürfen: Ja, ich bin die von Ihrem Vater für den Dienst bei der diese Nacht Ermordeten Bestimmte!

Aber Treudchen war so in der Hast ihres Auftrags, so im Drang ihrer Rückkehr, so im Bangen, jetzt nach dem Pfarrer von St.-Wolfgang fragen zu müssen, daß 83 Demoiselle Schnuphase (es war die Aelteste – Eva) über Vorwürfe nicht viel Besorgnisse zu hegen brauchte.

Ihre Freundlichkeit, ihr Verweisen auf das Nähinstitut der Schwesterschaft zu den Nothhelfern waren für ihre Verlegenheit bezeichnend genug …

Diese wunderschönen Bouquets –! sagte Demoiselle Schnuphase dann holdseligst …

Ich wollte sie Herrn von Asselyn bringen –

Wem?

Dem Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang –

Der wohnt bei uns –

Treff’ ich ihn zu Hause?

Sie kennen ihn –?

Aus meiner Vaterstadt –

Ganz recht! Er ist nicht gegenwärtig!

O –

Er ist im Palais Sr. Eminenz des Kirchenfürsten –

Könnt’ ich ihm nicht die Blumen auf sein Zimmer stellen?

Gewiß! Kommen Sie!

Fräulein Schnuphase nahm lächelnd einen Schlüssel, der über ihrem Stehpult hing, entfernte sich in ein Nebenzimmer, kehrte zurück, ließ Treudchen vorantreten und öffnete eine andere nach hinten gehende Thür.

Wie Treudchen den Laden mit ihren Blumen verließ, sah ihr aus der geöffneten Nebenthür eine zweite, elegante und wie es schien jüngere Dame nach, ohne Zweifel Demoiselle Apollonia …

In dem alterthümlichen Hause ging es eine dunkle steinerne Treppe hinauf. Die Führerin öffnete im ersten 84 Stock ein geräumiges Zimmer und ließ Treudchen eintreten.

Hier wohnt der Herr Pfarrer von St.-Wolfgang! sagte sie.

Aber schon schlug es elf Uhr … Treudchen hörte und sah kaum noch etwas … Sie rief nur:

Elf! O Gott –!

Demoiselle Schnuphase verstand vollkommen, wie ein gutes Kammermädchen sich nicht beim ersten Ausgange verspäten durfte …

Und doch fehlten für die Blumen die Gläser und sie erbot sich, diese erst zu holen –

Treudchen machte es anders.

Sie löste beide Sträuße auseinander und vertheilte die Blumen …

Einen Theil warf sie auf ein offen auf dem Tische liegendes großes Buch – vielleicht die lateinische Bibel – einen andern streute sie auf ein großes Schreibzeug, mochten auch einige Nelken in die Dinte fallen. Eine andere Handvoll drückte sie bei einem Crucifix, das im Schatten des Spiegelpfeilers stand, zwischen die Arme des Erlösers, die eine Lücke an dem obern Querholz des Balkens offen ließen. Den Rest streute sie geradezu hierhin und dorthin, sodaß das Zimmer dem Wege des Herrn nach Jerusalem glich, ihre Huldigung einem jubelnden Hosianna.

Demoiselle Schnuphase lachte. Treudchen aber, über die der Geist Lucindens gekommen schien, sprach weiter kein Wort, sondern sah sich nur noch einmal um und lief rasch von dannen.

85 Auf dem Platze suchte sie eben die Straße, in die sie wußte einbiegen zu müssen, als sie gerade auf Löb Seligmann und wie Kopf an Kopf und Nase an Nase gegen ihn stieß. Er war ihrer Spur gefolgt, hatte sich ihr nacherkundigt und nachgefragt und entschuldigte sein Ausbleiben durch ein Abenteuer, das ihn bestimmte sie sogleich zu fragen, ob er nicht so blaß und so weiß aussähe wie Kreide? …

Sie fand ihn aber im Gegentheil sehr erröthet. Doch hielt sie sich mit näherer Beweisführung nicht auf, sondern drängte nur ihres sprachlosen Führers Fingerzeigen auf die Straße nach, die sie einschlagen mußten.

Ich bin in meinem Leben ein einziges mal herausgeschmissen worden, keuchte Seligmann, endlich zu einigem Athem gekommen, hinter ihr her und bürstete an seinem Hute, der offenbar eine gewaltsame Beschädigung erlitten hatte; herausgeschmissen aus bloßem Scherz – und jetzt –

Wer hat Ihnen denn etwas gethan? fragte Treudchen in hastiger Eile den noch ganz Ungesammelten …

Jetzt, wo kein Gensdarm mehr zu einem mosaischen Glaubensgenossen: Zaruck! sagt, wenn blos die andern gedrängelt haben …

Aber was geschah Ihnen denn?

Ein Mönch, der ein Mann Gottes sein will …!

Treudchen konnte trotz ihrer Eile nicht umhin, eine Secunde still zu stehen und auf ihren kaum nachkommenden Begleiter einen staunenden Blick zu werfen …

Der mich einmal herausgeschmissen hat – das ist ein Student gewesen, fuhr Seligmann fort; in kurzen 86 Pausen, Herr Benno von Asselyn war’s – den Sie kennen müssen – Neveu vom Herrn Dechanten –

Ja wohl! Ja wohl! Der hat Sie jetzt –

Nein! Vor fünf Jahren! Und blos aus Spaß schmiß mich Herr von Asselyn ’mal heraus im Roland am Hüneneck, eine Stunde von der Universität, wo ich eine Verhandlung mit einer Partie Bauern hatte, die ihre Güter wollten parcelliren! Kam der damalige Student Herr von Asselyn dazu mit fünf andern, machte die Stube auf und hörte, was wir discourirten, und fing an: Seligmann – er kannte mich von Kocher – sind Sie denn das Verderben des Landes! Schlachten Sie Rinder und Kälber mit Ihrem Schwager Lippschütz, aber ruiniren Sie uns hier den Weltstand der Bauern nicht durch diese verfluchte Parcellirung! … Und so faßt mich Herr von Asselyn an dem Rockkragen und führt mich volens nolens in die Nebenstube und alle Bauern lachten dazu. Es war aber blos ein Scherz, die Studenten wollten nur unsere Stube haben, um besser ihren Wein zu trinken wegen der Aussicht! Aber heute – straf’ mich Gott! bin ich wirklich herausgeschmissen worden mit einer Grobheit wie von Joseph Zapf, dem Wirth im Roland selbst! Und das von einem Mönch – einem Priester Gottes! „Jüd“! So hab’ ich das Wort seit zwanzig Jahren nicht gehört, seitdem die Buben dazumal, wie das deutsche Vaterland vorm Napoleon ist gerettet gewesen, überall „Hepp, Hepp!“ geschrieen!

Noch mochte Treudchen bis zu ihrer Ankunft an dem in der innern Stadt liegenden Kattendyk’schen Hause fünf Minuten Zeit haben …

87 Herr Seligmann erzählte ein Zusammentreffen, das er im Laden des Herrn Xaver Klingelpeter mit einem Mönche gehabt hätte. Und trotz seiner Aufregung und trotz Treudchen’s Eile nahm er sich die Zeit, noch eine Huldigung für Veilchen Igelsheimer einzuflechten und Treudchen zu ermuntern, die Weiseste ihres Geschlechts zu besuchen …

Als ich ihr den Blumenstrauß in die Rumpelgasse brachte, sagte er, wollt’ ich fort, um Sie nicht warten zu lassen! Ich erzählte Ihre Leiden, Treudchen! Ich erzählte auch Ihre Liebe und Ihre Anhänglichkeit! Wissen Sie, was es gesagt hat, das Veilchen? Was dankbar! Kinder dankbar! hat es gesagt. Die besten Kinder sind gegen ihre Aeltern nur Lumpen! Sie zahlen! Womit zahlen sie? Gerade von dem zahlen sie, was sie schuldig sind! Frag’ ich sie: Veilchen wie so schuldig? … Sind die Kinder, antwortete das Mädchen, ihren Aeltern nicht das Leben schuldig? Und zahlen sie nun wieder mit ihrem Leben, was thun sie? Sie machen’s wie die Fürsten mit ihren Völkern und mit ihren Schulden und wie alle, die bankrott sind! Sie zahlen ihre Gläubiger gerade von dem, was sie eben ihnen schuldig sind!

Weder Treudchen’s Gemüthsstimmung noch ihre Bildung gestattete ihr, diese talmudische Dialektik so überraschend geistvoll zu finden, wie sie Löb Seligmann fand …

Aber trotz seiner Bewunderung vor dem scharfen Geiste Veilchen’s verlor er den Faden seiner Erzählung nicht. Er berichtete, daß er beim vergeblichen Warten auf Treudchen, die noch im Waisenhause war, einen 88 Sprung zu dem Zinngießer hätte machen wollen. Dort hätte er den Laden verschlossen gefunden und wäre nun als alter Bekannter von hinterwärts durch die Werkstatt und in ein Nebenzimmerchen gegangen. Dieses wäre leer gewesen. Wohl aber hätte er durch ein Schiebfensterchen in die Stube des Meisters sehen und mit Staunen auf dem Tische an die Tausende von kleinen zinnernen Münzen erblicken können. Es wäre ihm doch gewesen, als hätte er in eine Falschmünzerei gesehen. Ein Mönch hatte über die Münzen mit dem Meister disputirt und wie ein Advocat wäre er dabei herumgesprungen und hätte dies getadelt und jenes und die Münzen geworfen, daß sie auf den Tisch hinrollten … und als er dann geklopft und den Kopf durch die Thür gesteckt hätte und hereintreten wollen, da hätte ihn der Mann Gottes in einer Art wieder hinausgeführt, die über alle Zweideutigkeit erhaben gewesen wäre … Zwar müsse er bekennen, daß er, noch von Veilchen’s Geiste angesteckt, den Scherz gemacht: „Sind das Wundermedaillen?“ – aber so dicht heran an den Scheiterhaufen und an die heilige Inquisition hätt’ er sich in seinem Leben nicht gefühlt, wie bei dieser Behandlung an einem Orte, wo ihm Meister Klingelpeter doch auch schon mit manchem Scherze gesagt hätte, es wäre ihm ganz egal, wo sein Bruder Nathan Seligmann das Zinn herbekäme, das er ihm geschmolzen zum Verkauf bringe, ob von alten Kelchen oder –

Die Blasphemie, die auf Löb Seligmann’s zornesbleichen Lippen schwebte, hörte Treudchen nicht.

Sie war jetzt am Portal des Kattendyk’schen Hauses.

Nun stand der Portier in voller Gala unter den, 89 während der Geschäftszeit, seit Piter befehligte, weitgeöffneten Thorflügeln.

Löb Seligmann warf ihr noch einen letzten Ausdruck der Theilnahme zu auf die herzlichen Dankesbezeugungen für seine Begleitung und heute bewiesene Freundlichkeit.

Im Verdruß seines gekränkten Stolzes, im Verdruß seiner nur mit Zerstreuung und halber Theilnahme aufgenommenen Erzählung und doch unfähig, sich zu rächen (und hätte er alle Mittel dazu gehabt, sein Gemüth war doch nur geneigt zum Dulden), auch unfähig, Treudchen Vorwürfe zu machen und überhaupt anders als gefühlvoll von ihr Abschied zu nehmen, sagte er:

Leben Sie glücklich, mein Kind!

Er sprach diese Worte langsam und melodisch betonend. Er sprach sie, wie wenn einmal jemand: Leben Sie glücklich, mein Kind! zu David Lippschütz hätte sagen können, falls diesem plötzlich auch so seine Mutter oder gar der Onkel selbst mit Tode abgegangen wäre … Wir Menschen sind ja so … Eine Mutter liebkost dann am herzigsten ein fremdes Kind, wenn sie aus dessen Zügen ihr eigenes herausfindet.

Treudchen war längst in dem stattlichen Hause verschwunden, als Löb Seligmann noch im Gemisch von Zorn und Wehmuth dastand, dann in die Kattendyk’schen Comptoire schaute, eine Weile den Gedanken faßte: Wer hier Geschäfte machen könnte! darauf seinen Hut, der eine unvertilgbare Beule bekommen hatte, aufsetzte und sich im Geist auf die Scene mit dem Mönche zurückversetzte, der ohne Zweifel Pater Sebastus gewesen war …

90 Aus diesen Träumen weckte aber, „den Störer der Passage“, glücklicherweise noch vor dem Portier ein freundlicherer Anruf:

Guten Morgen, Seligmann!

Diese Worte kamen von einem Manne, dessen Anblick dem Gütermakler im Nu den Hut vom Kopfe riß …

Herr Fuld! Ihr gehorsamster Diener, sprach er fast tonlos …

Es war sein vornehmer leiblicher Vetter – es war der Enkel eines Cousins seiner Mutter, der Löb Seligmann gegrüßt hatte, Herr Bernhard Fuld, der Besitzer der Villa zu Drusenheim im Enneper Thale.

Und was geschah? Alle Stämme Israels gaben ihre Rangunterschiede auf!

Bernhard Fuld blieb zwar nicht stehen, aber er forderte Löb Seligmann auf, ihn zu begleiten …

Setzen Sie nur den Hut auf, Seligmann! bedeutete ihn der Vetter, den Weigenand Maus und Alois Effingh heute zum Gegenstand einer Caricatur machten, die vielleicht schon in Arbeit war. Wird es denn nichts mit dem Weinberg hinter meiner Villa?

Er fragte dies im Gehen und den Vetter in Bewegung setzend, der vor Verehrung immer zum Stillstand tendirte.

Leider nein, Herr Fuld! …

Aber ich bot doch siebenhundert Thaler!

Ich machte die Offerte …

Das ist ein Heidengeld!

Unerbittlich ist der Mensch …

Versuchen Sie es doch noch einmal –

91 Sie befehlen …

Meine Frau vermißt diesen Besitz, der in der That meine Villa erst arrondirt! Neunhundert Thaler, wenn Sie’s machen!

Bei Gott! Eine ansehnliche Summe! Ich will es noch einmal –

Und kommen Sie dann nächsten Sonntag nach Drusenheim und berichten mir’s –

Ganz wohl!

Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!

Mit diesem Worte, das Löb Seligmann geradezu versteinerte, war Herr Bernhard Fuld kurzweg um eine Ecke verschwunden und ließ den Vetter stehen.

Sie können ja bei uns speisen, Seligmann!

War das Wort wirklich gesprochen worden?

War es von Bernhard Fuld gesprochen worden, dem Mann, den dort der vierte, fünfte Vorübergehende grüßt? Dem Mann mit dem schwarzen Frack und dem rothen Bändchen im Knopfloche? Dem Mann in dem herbstlich gelben Ueberzieher, mit dem Bart à la mécontent, im weißen Castorhute, dem vornehmen Gange, der fast die Steine, auf die er trat, erst auswählte und des Gehens auf gemeiner Erde gar nicht gewohnt schien?

Es war von ihm gesprochen worden!

Und so obenhin war es gesprochen worden, wie wenn alle Tage Sabbat wäre und die Erde nie den Winter kennte sondern ein ewiger Frühling in der Natur und dem Herzen ihrer Bewohner blühte und wie wenn die gebratenen Gänse mit duftender Aepfelfüllung nur so mit den Tranchirmessern durch die Lüfte flögen und die Menschen am 92 Tage geputzt gingen mit Veilchen Igelsheimer’s Garderobe oder wie die Ballgäste in der neuen Oper „Gustav oder der Maskenball“ …

Löb Seligmann wuchs in diesem Augenblicke bis an die Kuppel einer nahe liegenden wirklich alt byzantinischen Kirche.

Er vergaß die vorahnende Erinnerung an die Todesanzeige: „Gestern starb mein geliebter Onkel –!“

Er vergaß die Erinnerung an die Scheiterhaufen der Inquisition und die bürgerliche Gleichstellung der Glaubensbekenntnisse wenigstens vor dem Bagatellhofe wegen Injurien …

Sie können ja Sonntag bei uns speisen, Seligmann!

Ja es gibt noch Wunder und liebliche Märchen und was wird Veilchen sagen und was Henriette und was David?

Mit diesen, bis in die höchsten Bergeskuppen gipfelnden Empfindungen mußte Löb Seligmann freilich jetzt in einen Keller steigen.

Der Besitzer des um keinen Preis käuflichen Weinberges hinter Drusenheim hieß Stephan Lengenich.

Es war dies der aus hiesiger Gegend gebürtige Küfer und ehemalige Freund der Beschließerin Lisabeth auf Schloß Neuhof, der um den Tod des Deichgrafen ein Jahr hatte sitzen müssen, bis ihn die Gerichte aus Mangel an Beweis freisprachen.

Stephan Lengenich war in seine Heimat zurückgekehrt und stand als erster Küfer dem großen Weingeschäfte von Joseph Moppes vor.

93 In diese berühmten, mit unterirdischen Gängen weit sich hinziehenden Keller ging es zwanzig Stufen hinunter.

Löb Seligmann stieg sie nieder, als führten sie um das Dreidoppelte empor.

Nächsten Sonntag! – In Drusenheim! – Speisen bei Bernhard Fuld!

Die heitersten Melodieen aus „Fra Diavolo“, mehr aber noch das lustige „Kommt fröhliche Gäste!“ aus den „Wienern in Berlin“ fielen in sein überraschtes und bereits versöhntes Gemüth wie mit rauschenden Orchesterklängen.

Selbst Thiebold de Jonge und die Freunde Piter’s konnten mit soviel Wonne nicht an die von ihnen beschlossene drusenheimer Partie des nächsten Sonntags denken.

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Seit jenem verhängnißvollen Augenblick, wo die wenigen Zeilen, welche Eduard Michahelles, der Secretär des Kirchenfürsten Grafen Truchseß-Gallenberg, an Bonaventura geschrieben, in den Händen desselben wie glühende Kohlen brannten, sprach es mahnend und zur Eile drängend aus jedem Baumeswipfel, aus jedem Windeswehen, aus jedem Menschenauge um ihn her mit den Worten des Herrn: „Siehe, ich habe dich gerufen und du hast dein Ohr verstopfet!“

Von dem Dechanten, den Bonaventura für einen verlorenen Sohn der Kirche halten mußte, hatte er sich losgerissen wie von einer jener Versuchungen, die zu unterdrücken nun schon fast neun Jahre seine tägliche Uebung war. Er hatte die Aufträge an den Obersten überbracht, ohne diesen strengen und ernsten Mann vermögen zu können, Armgart’s Wünschen zu folgen und sich sofort mit seiner Gattin Monika auszusöhnen. Wie er als Bote des Dechanten Gründe der Billigkeit geltend machte, wie er sagte: Die meisten Ehen haben ihren wahren Grund erst dann noch zu legen, wenn sie schon längst geschlos-95sen sind! wie er die Tugenden der Gattin des Obersten schilderte, den starren Sinn der gemeinschaftlichen Heimat, die Härte der Verwandten, die ihr das einzige geliebte Kind rauben konnten, wie er rühmte, daß sich die verbitterte, ermüdete junge Frau, um allen Schein einer weltlichen und eitlen Gesinnung zu vermeiden, in ein Kloster geflüchtet hatte, wurde seine Beredsamkeit wieder gelähmt durch das soeben noch schmerzlich lebendig heraufbeschworen gewesene Andenken an seine eigenen Aeltern. Er schied vom Obersten unverrichteter Sache und reiste nach St.-Wolfgang zurück, ohne auch von Lucindens Bruch mit der Dechanei vernommen zu haben. Die Freundin des Dechanten, der in der Stadt war, verbot förmlich, ihn damit bekannt zu machen; sie fürchtete einen Versuch der Vermittelung und Aussöhnung.

Erst in seinem Pfarrhause, wo die alte Dienerin seiner Aeltern, die wie Joseph Mevissen zu ihm gehalten hatte, vor der Mittheilung, ihr Pflegling müßte sofort in die Residenz des Kirchenfürsten, nicht wenig erschrocken und doch auch wieder darob geistig hoch erhoben war, erfuhr er gelegentlich von dem durchreitenden und immer noch vergebens nach dem Knecht aus dem Weißen Roß suchenden, in seinem damaligen Verdacht so glänzend gerechtfertigten Grützmacher, wie die Dinge in der Dechanei Hals über Kopf gegangen. Bonaventura hörte sie voll Mitleid, er vertheidigte sogar Lucinden gegen die Anklagen Renatens und nur die Besorgniß, dieser peinlichen Neigung nun gar in der Residenz des Kirchenfürsten wieder zu begegnen, ließ ihn verstummen in seiner aufrichtig theilnehmenden Anwaltschaft.

96 Der Kirchenfürst hatte ihn innerhalb so kurzer Frist zu sprechen begehrt! Und doch fesselte ihn in seiner Gemeinde so vieles, was zu erledigen war. Es kam ihm vor, als gliche er denen, die im Evangelium zur Hochzeit geladen werden und die dem göttlichen Gastgeber soviel geringfügige und alltägliche Dinge vorzuschützen wissen …

Und es bildet sich auch im katholischen Leben eine Gemeinsamkeit des Geistlichen mit dem Leben seiner Gemeinde, die eine ganz persönliche und dies in der Liebe sowol wie im Hasse werden kann. Denn auch der Haß findet seine Nahrung. Zu eng ist fast der Verkehr der Kirchenaufsicht, Kirchenbuße und Kirchenzucht. Und eben deshalb, weil der Geistliche sich selbst in alles mischen darf, unterliegt auch er einer strengen Kritik. Vom Gutsherrn bis zur untersten Magd herab wird seine Art beurtheilt. Dem einen sieht der Pfarrer zu traurig, dem andern zu heiter aus; den grüßt er zu stolz, jenen zu herablassend; diese alte Frau wirft ihm vor, daß er den Kindern nicht oft genug die Hand gebe und Heiligenbilder an sie austheile; jenem Bauer ist er zu freigebig und spendet aus dem kleinen ledernen Beutel, den er immer bei sich tragen soll, zu viel an die Bettler, die sich so durch ihn in den Ort gezogen fühlen. Ganz altmodisch mögen sie auch keinen haben und doch beurtheilen sie den Schnitt des Rockes, ob der auch nicht zu kurz, der Stiefeln, ob die auch geziemendermaßen bis an die Schäfte hinauf nach außen sichtbar sind, den Hut, ob dieser, wenn er auch billigerweise die Form des Dreiecks bei uns abgelegt hat, doch nicht zu modern und stadt-97mäßig wäre. Die Beurtheilung der Gemeinde sieht ihrem Seelsorger bis in das Innerste des Hauses, bis in den Topf, der für ihn am Feuer siedet, bis in das Polster seines Sitzes, ob es nicht zu weich ist, bis auf die Farbe der Decken, die auf seinem Tische liegen, ob sie nicht zu bunt. Und daran gewöhnt sich denn auch der Geistliche selbst. Die Beaufsichtigung wird ihm Bedürfniß. Die Gemeinde ersetzt ihm die Familie. Er lebt mit allen, lebt für alle. Jedes Vorkommniß des innern und äußern Lebens seiner Ortsangehörigen will er kennen und was er nicht sieht mit eigenen Augen, erfährt dann doch sein Ohr im Beichtstuhl. Da, in diesem räthselhaften Flüsterstübchen, wandeln diese Menschen dann alle um ihn her fast wie aufgedeckt und durchsichtig und wie mit gläsernen Fenstern vor ihren Herzen. Niemand kann nun noch an ihm vorübergehen und unbefangen grüßen. So mancher schlägt die Augen nieder, so mancher Knecht, der allen trotzig ist, ist ihm demüthig, so manche Magd erröthet und athmet erst auf, wenn sie an ihm wieder vorüber ist. Wären es nur immer die rechten Warner und Richter, wer hätte Bonaventura nicht recht gegeben, wenn er auf die Feindschaft des Dechanten gegen die Beichte gewöhnlich erwiderte: Unsere Kirche ist eben eine Heilsanstalt!

Denn nicht eben alle wissen den Beichtstuhl so zu behandeln, wie Bonaventura seit seiner ersten Sitzung in dem „Holz der Buße“. Nur zu sehr nimmt die meist aus dem Bauernstande hervorgegangene niedere Geistlichkeit die Art und Bildung der Scholle an, von der sie herstammt und auf die sie zurückkehrt. Heftige 98 Naturen toben sich selbst im Meßgewande aus und will man wahr sein, so gefällt es sogar dem Landmann, wenn sein geistlicher Führer Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist. Der Dechant, in seiner Gletscherbildungstheorie, sagte oft: „Darin etwas ändern ist auf theoretischem und discutirendem oder befehlendem Wege nicht möglich! Nur große Geschichtsepochen, die den ganzen Menschen ergreifen, die allein reformiren! Geschichtsepochen, denen wir hoffen auf irgendeine Art wieder entgegenzugehen und ganz nahe zu sein, Geschichtsepochen, die wir 1815, als das deutsche Vaterland in seiner Einheit wiederhergestellt wurde, leider so unbenutzt vorüberziehen ließen!“

Bonaventura kannte vollkommen den Landmann und seine Bedürfnisse. Sein unglücklicher Vater hatte allerdings dem höhern Beamtenstande, zuletzt als Regierungsrath, angehört; aber seine beiden Oheime lebten auf dem Lande, der Dechant wenigstens in einer kleinen Stadt; er selbst war in Borkenhagen geboren, einem kleinen Gute, das der ganzen Familie gehörte und vor der Rückkehr des Onkels Max aus dem spanischen Kriege verpachtet gewesen war, ohne daß seine junge Mutter sich behindern ließ, dann und wann das kleine, der Familie gebliebene Herrenhaus zu besuchen und auf dem Lande die Sommerfrische zu halten. Bonaventura war keine zerflossene Natur oder von übermäßiger Milde; er konnte streng und in manchem vielleicht zu entschieden sein. Aber immer umgab ihn eine gewisse Vornehmheit, eine edle, ja adelige Besonderheit. Der längliche Schnitt seines Antlitzes, die braunen Augen in dunkelschattigen 99 Höhlen, die Feinheit derjenigen Organe, die die Kennzeichen einer höhern geistigen Natur tragen, Mund, Nase, weiße längliche Hände, alles das hob seine Erscheinung. Dazu kam der schlanke Wuchs, das schwarze Haar, dessen Tonsur nur wie die natürliche Folge der Anstrengung des Denkers aussah und vollkommen mit dem lichtern Haarwuchse an den Schläfen und Stirnecken zusammenzugehören schien. Beseelt war all dies Aeußerliche von einer weichen, in der mittlern Tonlage sich haltenden und zur Höhe und Tiefe gleich klangvoll sich erhebenden und senkenden Stimme.

Bonaventura besaß den ganzen Eifer, den wir immer finden bei einem selbstgewählten Berufe. Damals, als ihn der schauervolle Tod des Vaters und die Verheirathung seiner Mutter in eine tiefe Betrübniß, die an Schwermuth grenzte, versetzte, ging ihm die Mahnung zum geistlichen Beruf wie eine Vision auf. Schon studirte er auf der Universität, um nach einiger Zeit und mit dem gesetzlichen Alter als Freiwilliger in die Armee zu treten und bei ihr auf Avancement zu dienen. Der Fall trat ein; er verblieb in den Reihen des Militärs bis zur Vollendung seines Offizierexamens. Dann trat er als Fähnrich aus. Es ergriff ihn ein solcher Ueberdruß an weltlichen Dingen, daß er nicht fassen konnte, wie er dem Waffendienste sich mit ganzer Hingebung hätte weihen können. Das Vaterland lag im tiefsten Frieden, eine Lockung des Ehrgeizes oder des Pflichtgefühls, dem Allgemeinen sich zu opfern, sprach nirgends aus der todten oder träumerisch schlummernden Zeit; was hätte ihn hindern können, dem Zuge zu folgen, der ihn so mächtig ergriff 100 und der ihn aus einer Art geistiger Vernichtung wieder emporzuheben versprach?

Es gibt eine Schwarmzeit im Gemüthe des Jünglings, eine heilige Zeit der Dämmerung und des sehnsüchtigen Träumens. Nicht immer hin an das Herz eines weiblichen Wesens, das man dann allerdings in den meisten Fällen unter Athemzügen wie von Feuergluten lieben muß, oft auch an einen Freund zieht es in dieser Zeit des Jünglings Seele. Diese Stunden sind die der Geburt unsers geistigen Menschen. In diesen Stunden werden die Bücher unsers Schicksals angelegt. In ihnen öffnen sich feierlich und schwer diese großen leeren Blätter, auf welche unser Schutzgeist das Größte, Erhabenste, Glücklichste schreiben möchte, wenn nur nicht die stärkern Dämonen der Weltregierung und die noch stärkern unserer eigenen Leidenschaft ihn von dem Buche hinwegdrängten, ihm die Feder aus der Hand rissen, thörichte Hieroglyphen, Fratzen oft hineinzeichneten, von denen wir in unsern spätern Tagen mit verhülltem Angesicht uns abwenden, mögen sie auch in einem einzigen großen, uns unbekannten, allmächtigen Weltenplane irgendwie auch ihre Schönheit haben und diese Schönheit schon durch die Leiden, mit denen wir sie büßen mußten! In einer solchen Dämmerstunde, wo wir nichts sind als Gefühl, nichts wollen als die liebende Umarmung des Alls, nichts fürchten und wär’ es die eigene Vernichtung, da ergriff es auch den zwanzigjährigen Jüngling, der über ein Jahr schon auf der Hochschule gewesen, dann schon die Liebe militärischer Kameraden, die Achtung der Vorgesetzten gewonnen hatte, sich loszureißen ganz von der Welt, von dem 101 Staat, von der Gesellschaft und ein Priester zu werden. Das Bild des im Alpenschnee versunkenen Vaters winkte ihm, gleichsam ein Dankopfer darzubringen an die Augustinermönche, die ihn gefunden und begraben hatten. Die plötzliche Heirath der Mutter mit einem Manne, über dessen Stellung zu seinem väterlichen Hause er erst nach und nach die volle Wahrheit ahnte, diese vollends erfüllte ihn so mit Wehmuth und Schmerz und Opferfreudigkeit an das Höchste, daß er ein Kloster aufgesucht haben würde, wenn er nicht vom Dechanten mit der ernstesten Rüge davon wäre abgehalten worden. Drei Jahre verbrachte Bonaventura im Convict einer mitteldeutschen Universität. Er erhielt nach und nach die mehreren Weihen des Priesters. Er war ein Jahr Kaplan zu Kocher am Fall gewesen; dann seit zwei Jahren Pfarrer zu St.-Wolfgang, Nachfolger eines wenig rühmenswerthen Priesters, Cajetanus Rother. Bonaventura fühlte und füllte die Lücken seines Wissens. Die Ausdehnung auf dem Gebiet aller der je gehegten Meinungen und Irrthümer über jenseitige Dinge ist so groß, die Zahl der Schriften, die gelesen zu haben zur Beruhigung wenn nicht des Herzens, doch der Bildung gereicht, mehrte ihm sich von Tage zu Tage, wie sie sich dem größten Gelehrten mehrt, je länger er forscht … Da hatte er denn daheim so viel Angefangenes, so viel zog ihn in seine kleine Bibliothek und an seinen Studirtisch zurück, daß er nicht sofort zum Aufbruch kam, als er jetzt in die große Stadt hinunterkommen sollte … zu dem Kirchenfürsten, mit dem er schon einmal in seinem Leben unter schmerzlichen Umständen zusammengetroffen war.

102 Diese Stadt selbst hatte für Bonaventura immer etwas Beklemmendes gehabt, theils weil sie so unschön, wirr und wild in der Anlage, hier und da sogar wüst im Zurückgebliebensein gegen frühere Macht und Bildung war, theils weil sie neugeboren wurde aus einem ihm nicht sympathischen Geiste, dem protestantischen; aber am unheimlichsten erschien sie Bonaventura durch die Erinnerung an eine Abschiedsscene, die er vor sieben Jahren hier erlebt, die Trennung von seiner Mutter. Schon seit seinem zwölften Jahre lebte er von ihr entfernt, theils in Kocher, theils auf der lateinischen Schule der Universität. Von seiner Mutter hatte er immer nur die Erinnerung einer Frau gehabt, die er wol mit seinem Vater in ruhiger Einigkeit gesehen und doch nie ganz mit ihm und in ihm aufgegangen. Es war eine große Regierungsstadt mehr nach dem Westen zu, in der Vater und Mutter gelebt hatten. Der Vater hatte einen Freund, der erst der Assessor, dann der Rath von Wittekind-Neuhof hieß, jetzt schon seit lange der Präsident. Dieser war der unzertrennliche Gefährte aller Erinnerungen, die ihm aus seiner ersten Knabenzeit geblieben. Herr von Wittekind-Neuhof war ein lebhafter, feuriger Weltmann, beweglich, anschlägig, geistvoll, selbst vor dem Tode seines Bruders Jérôme doch schon der Erbe großer Güter, die Seele der Gesellschaft und, sonderbar genug, der Freund seines Vaters. Bonaventura kannte jetzt das Leben genug, um sich zu erklären, wie drei Menschen, von denen einer, sein Vater, ein edler, aber unpraktischer, in seiner bürgerlichen Existenz wenig geordneter Charakter war, der Freund dagegen ein an allen Gütern gesegneter Weltmann, und 103 dazwischen ein junges Weib, seine Mutter, in Conflicte kommen konnten, unter denen alle drei litten und alle drei scheiterten. Er sah seinen Vater immer noch im Geiste langsam dahinschreiten, das Haupt nachdenklich gesenkt, – er erinnerte sich der abgeschlossenen Thüren – der verweinten Augen – vieles Murmelns und Flüsterns – dann der väterlichen Todesnachricht – mit ihren seltsam besprochenen Folgerungen – damals schon lebte er nicht mehr im Hause – zum Bruder hatte ihn der Vater entfernt, als sollte er nicht Zeuge der Vorgänge des älterlichen Hauses sein – nicht einmal Abschied hatte er, als er nach der Schweiz reiste, von ihm genommen, – alles traf ihn wie aus wolkenloser Höhe. Die Bewilligung zur neuen Heirath der Mutter hing von dem damaligen Generalvicar, dem jetzigen Kirchenfürsten ab. Ein Zusammentreffen wurde veranstaltet in dieser Stadt. Sein Stiefvater war zugegen. Die Freundlichkeit desselben war Bonaventura noch jetzt in der Erinnerung beklemmend. Die Mutter und der Präsident kamen erhitzt und erregt von dem Generalvicar. Man hatte lange Anstand genommen, eine Ehe zu gestatten, die zwar gleiche Religionsverwandte schlossen, aber wer durfte die Todesnachrichten über den Regierungsrath Friedrich von Asselyn nicht anzweifeln? Wer mußte nicht von der Schweiz und vom St.-Bernhard aus erst die gründlichsten Ausweise der Register und der Erkennungsprotokolle verlangen? Auch das erfuhr Bonaventura später, daß Graf Truchseß seinen neuen Vater nicht mochte, ihn haßte als einen ganz in das jenseitige Lager Uebergegangenen, als eine „Bureaukratenseele“, einen Abtrünnigen vom alten Adel 104 des Landes und das aus einem Geschlechte, aus dessen Vorfahren mancher schon hohe geistliche Würden bekleidet hatte … Der Kronsyndikus hatte seinen Sohn ja schon Lucinden einen neuen Segestes genannt … Damals wiederkehrend aus dem Domkapitel, warf sich die Mutter dem Sohne an die Brust und schilderte ihm den Charakter seines neuen Vaters als eines der edelsten und besten Menschen, eines Mannes, der dem Sohne schon um deswillen lieb und werth sein müsse, weil er der innigste, wärmste und wahrste Freund seines Vaters gewesen. Die Thränen einer Mutter hätten vielleicht jeden in dieser Lage gerührt, aber Bonaventura’s Augen feuchteten sich nicht. Das Wort des Erlösers, das schroffe, unenträthselte Wort: „Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen?“ kam ihm wie mit einem plötzlichen Begreifen zu Gemüthe. Hatte er je eine wie weltstürmende Regung in seinem Innern empfunden, so war es in diesem Augenblicke. Eine prophetische, apostolische Glut war es, die ihn durchloderte. Die Mutter hätte er von sich drängen mögen, sprechend: „Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen?“ Und dabei gedachte er in der That des Sündenfalls, gedachte Eva’s, der Schlange, des Apfels, der geistigen Wiedergeburt, der Erlösung, auch der Erlösung aus den Banden des Natürlichen, Sinnlichen, Angeborenen, wenn auch noch so Theuern. Erstarken fühlte er sich zum Helden. Als ihm keine Thräne über diese weinende Mutter kam, fühlte er sich zum ersten mal – als Priester.

Seine Hand zitterte wol, als er die der Mutter hielt, aber nur aus Mitleid. Die Mutter hatte eine Confrontation mit dem Sohne noch vor dem General-105vicar haben sollen mit dem künftigen Stiefvater; es handelte sich schon um dessen Zustimmung zu dem Entschlusse Bonaventura’s, in den geistlichen Stand zu treten, die natürlich sogleich von Friedrich von Wittekind gegeben wurde. Die Dauer des Namens Asselyn wurde durch die frühe Adoption Benno’s verbürgt. Nun stand die Mutter wie eine Schuldige gar schon vor dem künftigen Geistlichen. Sie bat ihn, ihrer oft im künftigen Altargebet zu gedenken; sie bat ihn, auch dem neuen Vater Heil zu erflehen. Sie konnte versichern, daß auch den neuen Gatten genugsam geheimer Kummer drückte … obgleich die Zeit, wo sein Vater für den Mörder des Deichgrafen gelten durfte, noch nicht da war und nur die ältere trübe Vergangenheit des Kronsyndikus schwer auch auf den Lebensbeziehungen des Sohnes lag. Dennoch ließ Herr von Wittekind damals nach den Thränen der Mutter im Hotel beim Diner Champagner bringen, fuhr in bequemer Equipage in scheinbar heiterstem Gespräche mit ihnen beiden spazieren, bis sie freilich, nach dem Hotel zurückgekehrt, eine Botschaft von Schloß Neuhof empfingen, der Bruder des Herrn von Wittekind würde demnächst zu einer Heirath schreiten mit einem Fräulein Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen. Sofort reisten die nun unzertrennlich Verbundenen ab und seither lebten jene in ihren durch den Tod des Deichgrafen, Jérôme’s und die über den Kronsyndikus ausgesprochene Curatel sich immer mehr verwirrenden Verhältnissen und Bonaventura in den seinigen … Oft schon hatte er sich bei spätern Kunden über die nur äußerlich glänzenden Lebensverhältnisse seiner Mutter Vorwürfe gemacht, daß sein Herz 106 damals so lieblos gewesen. Dann aber durfte er sich sagen: Ist nicht dein ganzes Leben ein Kampf gegen dein Herz? Die Kirche ist deine Mutter, der Glaube deine Liebe … „Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen!“

Von St.-Wolfgang nahm Bonaventura endlich in einer Morgenfrühe Abschied. Er ging über die Maximinuskapelle auf eines der vielen vorüberrauschenden Dampfboote. Im Weißen Roß besuchte er den Wirth, der sich und „eine durchreisende Fremde“ als Ursache des an dem Kirchhof zu St.-Wolfgang begangenen Frevels angab, indem er von der Vermuthung jener Dame seinem Knechte gesprochen, einem ihm als pferdekundig gut Empfohlengewesenen, von dem er keine Ahnung gehabt, daß er ein schon bestrafter Verbrecher und Angehöriger der noch immer nicht ganz ausgerotteten hierländischen alten Gaunerfamilien der Picard, Bosbeck und der Schinderhannes wäre … Noch war der Flüchtling, der sich statt Picard Bickert genannt und mit falschen Zeugnissen versehen gewesen war, nirgends wieder aufgefunden.

Bonaventura’s erste Regung war, sich zu sagen:

Also alles Unheil wieder von Lucinden!

Er veränderte mit der Zeit diese Vorstellung dahin, ob nicht hier das erste Unheil in seinem Schoose eine Reihe guter Folgen tragen könnte?

Auf dem Dampfschiff erfreute ihn dann nichts Besonderes mehr, selbst Lindenwerth nicht, bei der festgehaltenen Vorstellung: Wie wirst du dem Kirchenfürsten begegnen? Jetzt nach der Warnung des Oheims? Jetzt, wo in der That das Vorschreiten des vielleicht bald mit dem Purpur 107 eines Cardinals bekleideten Priesters das ganze deutsche Vaterland in Erregung gebracht hat?

Sind die katholischen Priester entweder Söhne von Landleuten oder Söhne von Adeligen, so vertrat Graf Truchseß von Gallenberg gleichsam beide Ursprünge zu gleicher Zeit. Die Tage der großen geistlichen Pfründen sind in den Staaten, über welche die eiserne Pflugschar der großen Revolutionskriege ging, vorüber; nur wenige solcher Stellen mag es auf diesem Boden noch geben, in denen man sich wie zu St.-Zeno in Kocher am Fall die „feisten“ Aebte und „Pfaffen“ alter Zeit auch auf unsere Tage überkommen denken darf; die Mittel sind geringer, die Verpflichtungen ernstere geworden. Graf Truchseß war ein Angehöriger jenes Adels auf dem jenseitigen Ufer, den man einen Bauernadel nennen möchte. Wenn er nicht in pontificalibus sich zeigte, trug er grobe Stiefeln mit starken Absätzen, waschlederne Handschuhe, die ein halbes Jahr lang vorhalten mußten, eine hoch hinaufgehende grobe Tuchweste mit großen Knöpfen, einen Hut, der nur deshalb nicht zu sehr abgegriffen war, weil er beim Spazierengehen um die Alleen der Stadt und am Ufer des Stromes niemanden mit ihm grüßte, sondern kurzweg nur nickte. Seine Wäsche war von Hausleinen und nicht besonders reinlich, denn er rauchte und schnupfte. Er schnupfte nicht etwa wie ein Abbé mit zierlicher Fingerhaltung; er schnupfte wie ein ungeduldiger Advocat, der seinen Eifer, zu Worte zu kommen, durch ein häufiges Handhaben seiner goldenen Dose unterdrücken muß, nur daß der Graf eine gewöhnliche Holzdose führte, ganz wie ein alter Waldhüter, 108 der sich aus herbstlichen, duftenden Buchenblättern seinen eigenen Lotzbeck schrotet. Des Grafen Mittagsmahl bestand aus Linsen, Bohnen, Erbsen, gelben Rüben; seine Erholung war das Billardspiel. Denke man sich dazu seine starkknochigen Züge … diese hellblauen, tiefliegenden Augen … dies jetzt noch gelblich rothe, bei fünfundfünfzig Jahren nirgends gebleichte Haar … diese markigen Schultern auf einer ebenso lang hagern, wie wieder doch stämmigen Gestalt … dieses wuchtige Auftreten … diese kurze, befehlende Sprechweise aus einem an sich wohlgeformten Munde, dessen Lippen aber nie in unbedachter Ruhe, sondern immer wie ein Geheimniß bewahrend fest zusammengepreßt lagen … Die Farbe des Antlitzes war fast grau, konnte aber bei der geringsten Erregung sich röthen bis in die Zipfel des Ohres. Das Geistliche am Grafen lag nur in dem schwarzen langen Oberrock, in der von einem Sammtkäppchen bedeckten Tonsur und in einem gewissen Etwas von Unstetigkeit und allzu sichtlich beherrschter Reserve, diesem allgemeinen katholischen Priestertypus mangelnder Ruhe und Harmlosigkeit, einem Typus, den auch Graf Truchseß, ein so fester Charakter er sonst war, nie ganz hatte überwinden können.

Schon dämmerte der Abend, als das Dampfschiff landete. Bonaventura fuhr mit seinem kleinen Koffer bei Herrn Maria vor und trat in den Laden desselben ganz unter den von Gebhard Schmitz geschilderten Umständen ein, nur daß er von Moritz Fuld weder eine Visitenkarte noch eine Einladung nach Drusenheim erhielt. Eva Schnuphase zeigte ihm das schon vorgerich-109tete Zimmer und entschuldigte den Vater, der in Geschäften schon wieder auf dem Lande reiste.

Sofort begab sich Bonaventura in das Palais des Kirchenfürsten und meldete seine Ankunft.

Er erfuhr, daß Se. Eminenz unpäßlich waren und ihn auf morgen bescheiden ließen. Auch sein Secretär war im Augenblick nicht anwesend.

Nun suchte Bonaventura Benno auf und fand den lieben Freund hinterm Schreibtisch. Er hatte die durch seine Militärübung entstandenen Rückstände aufzuarbeiten.

Bonaventura’s Herbescheidung hatte er schon in der Dechanei vernommen.

Der Kirchenfürst unpäßlich? sagte Benno. Ein seltener Fall, daß dieser Hünennatur einmal etwas vom allgemeinen Menschenloose ankommen kann!

Die Spannung, welche Veranlassung es sein konnte, die Bonaventura von einer Landpfarre unmittelbar und persönlich zum Kirchenfürsten beschied, war bei Benno ebenso groß wie bei Bonaventura. Benno konnte ohnehin die lebhafteste Schilderung von der gegenwärtigen Lage des Kirchenfürsten geben, von seinem Kampfe gegen die gemischten Ehen, gegen die auf der benachbarten Universität gelehrte Philosophie, gegen die Einrichtung der Priesterseminare. Er versicherte, daß alles das zu einem gewaltigen Conflicte führen müsse, weil sich der Kirchenfürst bei seiner Inthronisation auf dem hohen Erzstuhle gegen die Regierung sollte verpflichtet haben, keinen Erlaß von Rom unmittelbar entgegenzunehmen, sondern in so hochwichtigen, mit den Einrichtungen des Staates, mit den Lebensformen der Gesellschaft, mit 110 den Bedingungen der Zeit und der Sitte in Berührung kommenden Verhältnissen erst das Placet oder Transeat der landesherrlichen Genehmigung abzuwarten. Die Mahnung, daß man „Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen“, wäre aber dem Kirchenfürsten jetzt mit einer so flammenden Ueberredung, ob nun von außen oder von innen ließ Benno unentschieden, gekommen, daß, wenn nicht ein offener Bruch seiner Versprechungen, doch eine gefährliche Deutung derselben seinerseits zu erwarten stünde und man zunächst nur hoffen müßte, daß der in Aussicht gestellte Vermittler dieser Streitigkeiten, der in außerordentlicher Sendung angekündigte Gubernialpräsident von Wittekind-Neuhof durch seine Gewandtheit und seinen Takt den Frieden wiederherstellte.

Wie! Mein – Vater? rief Bonaventura heftig erschreckend.

Benno wiederholte, davon gehört zu haben. Ja, er vermuthete, daß Bonaventura’s Berufung mit dem Wunsche des Kirchenfürsten zusammenhängen könnte, in seiner schwierigen Lage einen zur jenseitigen Partei in näherer Beziehung stehenden Beistand zu haben.

Das wäre ein bitterer Kelch! sagte Bonaventura und bezweifelte diese Deutung.

Der Kirchenfürst, sagte er, wird handeln wie sein Gewissen ihm räth!

In den streitigen Punkten des Tages empfanden beide Freunde ziemlich gleich, nur daß Benno mehr die politischen Gesichtspunkte seines Principals, des Procurators Nück, theilte, ohne jedoch diesem in der Anhänglichkeit an das alte Napoleonische Regiment zu folgen. 111 Benno haßte das herrschende Regierungssystem, das sich damals dem Geiste der Zeit völlig abgewandt und feindlich zeigte. Wo die von demselben vertreten sein wollende Vernunft und Aufklärung in Formen sich ankündigte, die selbst schon wieder etwas Verbindliches hatten, wo, wie damals, ein großer, den besten Kern des deutschen Volkes einschließender Staat unter dem Aushängeschilde der patriarchalischen Beglückung die Erfüllung aller Verheißungen entbehren mußte, die erst mit dem Jahre 1840 in langsamem Fortschritt und wie versuchsweise gewährt wurden, da erlebte man die für alle Zeiten lehrreich bleibende und immer wiederkehrende Erfahrung, daß man dem Besten mistraut, wenn es nicht in dem Geist gegeben wird, der unser ganzes Vertrauen für sich hat. Friedrich’s II. Aufklärung, die anzunehmen möglichenfalls der Stock gebot, Kaiser Joseph’s Reformen, die aus dem Hörsaal der Theorieen kamen und scharf wie eine blanke Pflugschar in ein Erdreich schnitten, in welchem eine schonende Hand zuvor das Unkraut der Vorurtheile nicht ausgejätet hatte, die Schulverbesserungen späterer Regierungen, die Unionsversuche auf kirchlichem Gebiete, ja die geordnetste Verwaltung, die musterhafteste Gerechtigkeitspflege, nichts, nichts entschädigt für die Misachtung der persönlichen Freiheit, für die Unterdrückung des unerschrockenen Wortes, für die Ablehnung derjenigen Institutionen, die zuletzt jeder Individualität Gelegenheit geben müssen, mit ihrer Meinung, auch der verkehrtesten, mit ihren Interessen, auch den einseitigsten, mit ihren Ansprüchen auf Kraft und thatsächliche Bewährung, auch den haltlosesten, sich in der einmal uns zur Freiheit des 112 Denkens und Handelns geschenkten Gotteswelt gesund und mannhaft auszuleben.

Der schöne Abend lockte beide Freunde noch zu einem Spaziergange. Sie gingen in den Hafen, wo jetzt Dampfschiff auf Dampfschiff vor Anker legte und wol auch das, auf welchem Thiebold de Jonge später angekommen. Sie beide zog es in eine stillere Gegend. Seit dem Morgen auf dem Friedhof von St.-Wolfgang hatten sie sich nicht ausgesprochen. Bonaventura erzählte Benno alles, was zwischen ihm und dem Onkel war besprochen worden über die im Sarge vorgefundenen Reliquien und Benno benutzte die ihm von seinem Freunde gegebene volle Erlaubniß, ja erfüllte den ausdrücklichen Wunsch desselben, wenn er offen sagte:

Sicher lebt noch dein Vater! Die Recognition des Onkels in dem Leichenhause des St.-Bernhard genügt mir nicht. Ihm kam bei seiner Weichlichkeit schon beim Betreten der grauenhaften Schwelle ein Schrecken; er sah in einer fremden Leiche seinen Bruder und untersuchte nichts mehr! Mevissen war mit deinem Vater im Einverständniß. Dein Vater wollte annehmen lassen, als wäre er in den Alpen umgekommen. Einen zerschmetterten Leichnam, den man mit seinen Kleidern und Habseligkeiten behängen konnte, die sich später im Leichenhause fanden, erwarb man sich durch Zufall oder durch Bestechung … das, was allenfalls noch nicht geborgen war, bewahrte Mevissen und nahm das mit in sein Grab … Daß er es nicht zerstörte, ist überraschend … Vielleicht, daß dein Vater es so wollte und dabei an dich dachte … Er verließ dich ohne Abschied – er hoffte vielleicht auf eine Zeit, 113 wo deine Mutter nicht mehr lebte und er dir sich vielleicht noch einmal entdecken konnte – wer weiß, ob nicht in dem Sarg viel mehr gelegen, als du gefunden!

Diese Gedanken unterwühlen die Ruhe meines Lebens! sagte Bonaventura auf diese aufrichtige Deutung und blickte in den Strom, an dessen Ufer sie hingingen …

Benno’s Empfindungen waren fast die nämlichen. Auch ihm floß ja das Leben dahin wie die Welle, von fernher kommend, in die Ferne gehend, einmal gesehen, verschwunden dann für immer, räthselhaft und wie ein Traum …

Bonaventura verstand diese Stimmung und fragte nach des Freundes Leben, seiner Thätigkeit, seinen Hoffnungen für die Zukunft.

Ich bin, erwiderte Benno, in Verhältnissen, die mir wie der sausende Webstuhl der Zeit erscheinen! Ich höre täglich in zehn Zimmern dreißig Federn kritzeln! Allen dictirt Dominicus Nück seine Finten, seine Quarten, seine Terzen! Das ist bei St.-Peter und Paul ein ganzer Kerl! Wenn man ihn sieht, im schlechten grauen Ueberrock, schmuzig, falls nicht einmal seine Frau Generalrevision mit ihm gehalten hat, oder wenn er in der Beichte sich schämt, zu viel Schnupftaback auf dem Vorhemd liegen zu haben oder das Beichttuch des Priesters zu verunreinigen – wer möchte dann glauben, daß hier diesseit und jenseit des Wassers alle Ritterbürtigen mit ihm verkehren, alle Domstifte, alle Ordensgesellschaften und Gotteskastenpfleger! Er hat gelobt, nicht früher wieder einen schwarzen Frack anzuziehen, bis er nicht den Orden 114 vom goldenen Sporen, den er vor Jahren aus Rom erhielt, wirklich im Knopfloch befestigen kann! Sie haben’s ihm abgeschlagen, ihn tragen zu dürfen! Nun liegt ein ganz neuer schwarzer Frack, im Knopfloch ein rothes Band mit einem goldenen, weiß emaillirten Malteserkreuz, an dessen beiden Spitzen des untern Flügels ein kleiner goldener Sporen hängt, immer an seinem Pulte auf der Sophalehne neben ihm ausgebreitet, sodaß jeder Graf, jeder Bischof, jeder Regierungspräsident, mit dem er Conferenz hält, die Geschichte zu hören bekommt und Entschuldigung gewähren muß, daß er Se. Excellenz oder Se. Erlaucht nicht würdiger empfangen könnte, er hätte zwar allerdings einen neuen schönen Frack, da läge er, aber da er ihn so, wie er ihm und dem Stellvertreter Christi gefalle, nicht tragen dürfe, so müsse er sich schon hier in diesem grauen Alltagskittel zeigen. Und diese Komödie spielt er mit einer Gewandtheit, daß sie Ludwig Devrient nicht besser getroffen haben könnte! Nück ist ein seltener Mensch, dem man nur leider nicht so nahe kommen kann, wie man möchte, um von ihm alles zu lernen. Nicht nur, daß er sich mit einem eigenen, fast mystischen Dunkel umgibt, sich öfters einschließt und auf seine nächsten Vertrauten beschränkt – auch wir alle, die wir mit ihm arbeiten, bekommen immer nur einen kleinen Theil des großen Ganzen zu sehen, in dem er die belebende Seele ist. Es scheint, mir schenkt er Vertrauen. Fast hätte er mich schon bei meinem ersten Eintritt in seine Praxis beauftragt, an der Camphausen’schen Verlassenschaft zu arbeiten und nach Schloß Westerhof zu reisen …

115 Zu Paula! sprach es still im Herzen des Priesters und Benno fühlte dies Wort nach und hielt zurück, etwa von Lucinden zu beginnen, von ihrem Eindruck an jenem Abend im Pfarrhause, von dem völlig andern und günstigern auf der Reise nach Kocher und von ihrer jetzigen Nähe in dieser Stadt, wo Benno schon seit einigen Tagen wünschte, ihr irgendwie und wo gelegentlich zu begegnen. Denn sie aufzusuchen hielt ihn die Rücksicht auf die Dechanei und sein stiller Cultus für Armgart zurück.

Bonaventura erkundigte sich nach der Lage der immer mehr sich verwickelnden Erbschaftsangelegenheiten der Dorstes.

Das gibt einen neuen spanischen Erbfolgekrieg! sagte Benno. Zwei Grafen von Camphausen sind im sechzehnten Jahrhundert, wie damals so viele andere Städte und Herren um Münster und Osnabrück, lutherisch geworden; ja als die Greuel der Wiedertäufer mit gleichen Greueln ausgerottet, bestraft und die Bedingungen des dortigen Lebens wieder katholische geworden waren, blieben einige ihrer neuen Ueberzeugung treu und die Bischöfe sogar, die die Wiedertäufer bändigten, waren theilweise halb und halb selbst Lutheraner. Der jüngere der beiden Brüder Camphausen, vom ältern, der schon damals ein großes Besitzthum verwaltete, nicht rechtlich abgefunden, sondern nach gerade vorhandenen Mitteln unterstützt, zog abenteuerlustig, wie damals die ganze Welt war, gen Oesterreich, um, wie so viele jener Geschlechter damals gethan, in dem an der Donau, in Italien und Ungarn nicht ruhenden Waffentanz dem fehdelustigen Sinne aufspielen zu lassen und vielleicht sogar manche in der Hoffnung, 116 Maximilian II. würde auch Oesterreich vom Papste trennen. Viele der ersten Geschlechter der österreichischen Monarchie entstammen diesen Einwanderungen von einfachen Reitern wie Martin Spork an bis zu Grafen und Fürstensöhnen. Die meisten wurden indessen mit der Zeit wieder katholisch, entweder aus Ueberzeugung oder zwangsweise. Martin Camphausen blieb bei seinem Patrone Martin Luther und erwarb außer ungarischen Besitzungen das Schloß Salem bei Wien. Seine Nachkommen bewährten die Tapferkeit ihres Ahnen und zu glänzend waren die Verdienste der Camphausen im Türkenkriege und auf dem italienischen Boden, ihr Glaube stand ihrem Glück nicht hindernd im Wege. Die ältere Linie aber, die des Grafen Philipp, wurde ihrem Patrone Philipp Melanchthon mit der Zeit untreu. In jenen Zeiten, wo bis in das Herz Sachsens hinein katholische Neigung sich wieder geregt hatte und kein Fürst Italien bereisen konnte, ohne mit dem Verdacht, seine Confession geändert zu haben, in seine Lande zurückzukehren, war auch die Linie der Dorste-Camphausen – die Dorstes fügten dem Reichthum Philipp Camphausen’s durch Verheirathung neuen Besitz hinzu – in den Schoos der katholischen Kirche zurückgekehrt. Ueber hundert Jahre bestand aber damals ein Statut, das einst Philipp und Martin dahin lautend geschlossen hatten, daß nach Aussterben des Mannsstammes einer Linie die andere in die Besitzthümer derselben eintreten sollte, vorausgesetzt, daß die Erben von gleicher Religion mit der der Stifter des Fideicommisses wären … eine etwa vorhandene weibliche Nachfolge sollte entweder nur durch Verheirathung 117 mit der andern Linie im Besitz bleiben oder standesmäßig abgefunden werden. Nach fast drei Jahrhunderten tritt nun der vorhergesehene Fall ein und unter Umständen, die die Ausführung des Statuts zum Gegenstande eines Streites machen. Paula’s Vater kanntest du?

Bonaventura verneinte es.

Ich entsinne mich nur des vornehmen Herrn, sagte Benno, von seiner vierspännigen Kutsche bei feierlichen Gelegenheiten her. Graf Joseph, der letzte des ältern Stammes, war früh Witwer geworden. Da er von einer Wittekind, der Tante deines Stiefvaters, einer Schwester des Kronsyndikus von Wittekind auf Neuhof, nur eine Tochter besaß, so bestürmte ihn das ganze Land wieder zu heirathen. So fromm sein Inneres, so gern er die Gefahr, fünfzehn Quadratmeilen Landes mit 60000 katholischen Seelen lutherischen Gebietigern übergeben zu sollen, abgewandt hätte, so konnte er sich doch nicht entschließen, seine Erinnerung an eine Frau zu trüben, die unter der Herrschaft ihres Bruders, des Kronsyndikus, qualvoll gelitten haben muß, ja von diesem eigentlich ums Leben gebracht wurde.

Bonaventura kannte den schauerlichen Ruf des Kronsyndikus. Er kannte auch Paula’s Geburtsstunde. Man schrieb derselben die Folgen ihres gestörten Nervenlebens zu. Jakobe von Wittekind wurde von ihrem leidenschaftlichen ältern Bruder bis zum zwanzigsten Jahre erzogen. Als sie dann den Grafen Joseph heirathete, zerfiel dieser mit dem Bruder, was jedoch letztern nie hinderte, dann und wann, begleitet von zwei gewaltigen Jagdhunden, in hohen Stiefeln und Sporen, die Reitpeitsche in der 118 Hand, auf Schloß Westerhof zu erscheinen und in irgendeinem Anlaß, wie er ja sonst auch sagte, „Ordnung zu stiften“ oder „den Nagel auf den Kopf zu treffen“. An den Folgen einer der dann entstandenen Scenen erkrankte die hochschwangere Frau, kam zu früh nieder und starb. Oft schon hatte Bonaventura erklärt, daß auf dem Hause der Wittekinds der Geist des Unsegens ruhe …

Nun aber eure wunderliche Heimat! fuhr Benno, die trüben Gedanken vermeidend, fort und zeigte über den breiten Strom hinüber in die dunkelnde Ferne. Liegt es nicht fast wie ein Geheimniß über allem, was die Sitte und der Sinn der Menschen dort hervorbringt? Nicht fester sitzt das Horn an der Stirn des Pflugstiers, als ein Vorurtheil oder eine Uebereinkunft in diesen Köpfen! Graf Joseph heirathete nicht, sah nicht den Kronsyndikus, seinen Schwager mehr; seine Güter verwaltete Onkel Levinus, der Bruder des Obersten von Hülleshoven, die Wirthschaft die Tante Benigna, die Schwester der Gemahlin desselben, Monika’s von Ubbelohde, der Mutter Armgart’s in Lindenwerth dort oben; aber daß der Kronsyndikus als Oheim Paula’s gewisse Rechte auf sie behielt, daß er nach des Grafen Joseph Tode ihr rechtmäßiger Vormund werden mußte, daran änderten die Jagdhunde, die Sporen und die Reitpeitsche des gewalttätigen Mannes nichts. Ebenso wenig, wie die Frömmigkeit des Grafen Joseph diesen hinderte, das Familienstatut in Ehren zu halten.

Nun? sagte Bonaventura und lenkte damit auf manchen Streit zwischen den Freunden hinüber. Ist es denn also nicht schön, wenn sich die Zeiten einander so Wort 119 halten? Ist es denn nicht erhebend, wenn so durch die Jahrhunderte hindurch die Hände sich ergreifen, festhalten und in allem, was da welken und vergehen muß, doch ein ewig Bleibendes sich erhält und wär’ es nur das Gemeingefühl wenigstens eines Stammes, wenigstens einer Familie und besäße sie kein anderes Wappen und keinen andern Stammbaum, als nur ein altes Gebetbuch, das vom Großvater auf den Enkel erbt und in dem die Geburten der Söhne und Enkel, die Pathen und die Priester verzeichnet sind, die sie tauften?

Bonaventura sprach diese Worte in seiner Begeisterung so hin und überlegte erst, als sie gesprochen waren und Benno schwieg, daß sie gerade an das streiften, was Benno tief unmuthig an seinem dunkeln Dasein sein Zigeunerthum nannte.

Beide schwiegen … An einer einsamen Stelle, schon ziemlich entlegen von den Thoren der Stadt, auf einer Bank am Ufer des Stromes hatten sie sich niedergelassen … Ein stilles nächtliches Landschaftsbild lag vor ihnen … Der Mond stand an der fernen Bergkette, an deren Fuß Lindenwerth wie in den Wellen schwamm … Die mächtigen Holzflöße, die wie kleine Niederlassungen so wohnlich angethan sind und hinuntergleiten zum Niederlande, lagen still jetzt am Ufer … Im blauen Mondlicht, das wie Phosphor um die alten Eichenstämme leuchtete, glühte das Feuer einer Küche, rings saßen im Kreise die Passagiere, Handwerksbursche, Auswanderer, ihr Nachtmahl haltend, ehe sie sich auf der mittlern Diele, den Ranzen als Kopfkissen benutzend, unterm freien Himmel streckten; ein Hund bellte auf dem 120 Floß, wie nur daheim ein Nachbarhund in St.-Wolfgang bellen mochte, wo eben jetzt Frau Renate schon zur Ruhe ging … Es war ein Stillleben von den Sternen an bis zu den im Grase auffliegenden Insekten, von dem fernen Brausen einer sich zur Ruhe begebenden Dampfesse bis zu den Knaben, die hochaufgeschürzt leise am Ufer noch im Schilfe schlichen und im Abenddunkel den Fischen mit der Angelruthe sicherer beizukommen hofften als am Tage… Und einer Welle gleich, die gerade der Mond in seinen ganzen Goldglanz taucht, blitzte ein gefangener weißleuchtender Fisch auf, den die Knaben vom Hamen lösten und in ihren Sack warfen, sich umschauend, ob dem verbotenen Fange ein anderer lauschte, als da oben unter der einsamen Pappel am Muttergottesbilde ein junger Priester und sein plaudernder Freund. … Nun huschte mit schaukelndem, schnellem Fluge auch eine Fledermaus dem Lichte eines einsamen Häuschens zu … In der leichten, weichen Luft war alles wie verklärt und jeder Schatten barg Ahnungsvolleres, als vielleicht die Wirklichkeit wahr gemacht hätte …

Wie die Wellen so ruhig ziehen! hatte Benno gesagt. Möchte man nicht glauben, eine solche Abendstille spottete aller menschlichen Entwürfe, aller Anstrengungen, alles ohnmächtigen Verstandes!

Bonaventura erwiderte lächelnd:

Denkst du an die Weisheit deines Sporenritters in partibus? Welches sind denn nun die Anschläge, um unserm Glauben 60000 Seelen zu erhalten?

Paula, sagte Benno, steht wie Helena da, um die sich die Parteien bekämpfen! Und es sind ihrer mehr, 121 als nur die der Griechen und Trojaner. Der Kronsyndikus sammelte seit Jahren Kämpfer um die Parole: Eine Heirath zwischen beiden Linien! Onkel Levinus und Tante Benigna, die Paula regieren, wie sie Armgart regierten, wollen Paula’s Freiheit, die standesmäßige Abfindung, stören aber sonst den Antritt der Erbschaft nicht – das alte Fiat justitia der rothen Erde! Eine dritte Partei ist die Regierung. Sie ließe am liebsten den fremden, wenn auch protestantischen Grafen in seiner fernen Heimat, kaufte ihm vielleicht die Verlassenschaft ab und zerschlüge sie, wie sie schon oft gethan, in einzelne Theile an diejenigen Adeligen, die der Centralisation geneigt sind. Die vierte Partei ist die der Landschaft. Sie bestreitet die Gültigkeit des Familienstatuts und will der Gräfin Paula die volle Freiheit erhalten, ihre Hand zu vergeben, wem sie wolle, und ihm außerdem auch noch die guten 60000 Seelen ganz so zuzubringen, wie diese dermaleinst in Abraham’s Schoose zu sitzen hoffen. Denn – nun kommen die Spitzfindigkeiten unsers Sporenritters – die in dem Familienstatut vorgesehene Bedingung erfülle sich nicht; die ältere Linie hätte, als sie katholisch wurde, die Bedingung dahin abgeändert, daß die verlangte Religion auch der andern Linie die katholische sein müßte. Obgleich nun erstens der Beweis für diese Aenderung schwer zu führen ist, im Gegentheil von der jüngern Linie nur ein den Verhältnissen sich fügendes stilles Geschehenlassen und Dulden des Religionswechsels behauptet wird, zweitens der Staat Religionsbedingungen überhaupt bei Testamentsvollstreckungen für unzulässig erklärt, so will die fünfte Partei, die 122 der Geistlichkeit, noch weiter gehen. Sie will nicht nur jene 60000 Seelen, sondern auch noch Paula dazu gewinnen. Sie hofft, Paula würde den Schleier nehmen, vielleicht ein Kloster stiften und den Rest ihrer Güter der Kirche vermachen …

Wie kommt man zu dieser Voraussetzung? loderte Bonaventura fast unwillig auf …

Benno, ohne auf die Parteinahme des Priesters für seine Mitleviten zu hören, fuhr fort:

Ja auch der Kirchenfürst ist betheiligt! Die Erzdiöcese hat in ihrer geistlichen Obhut hier und da versprengte Stifte; zu ihnen gehört in jener Gegend das Stift Heiligenkreuz, ursprünglich eine Jesuitenbesitzung. Als die Jesuiten aufgehoben wurden, verblieb Heiligenkreuz dem Staate zu provinziellen Zwecken. Er begründete ein adeliges Fräuleinstift, das dem Lande als solches sehr willkommen wäre, wenn nur die Verleihung der Stellen in den Händen des Adels geblieben wäre. Es ist aber nicht so gekommen. Die Confessionen werden nicht mehr berücksichtigt und die Schwester eines Erzbischofs kann dort ruhig neben der Tochter eines lutherischen Pfarrers sitzen, wenn dieser, wie jetzt schon drüben in den Fabrikgegenden vorkommt, zufällig von Adel ist. Rings um Heiligenkreuz ist Feld und Wald camphausisch. Um diese Einfriedigung von Heiligenkreuz wird der Kampf entbrennen und wer weiß, ob ich nicht nächstens dort mit Nück’schen Vollmachten auf dem Schauplatze erscheinen muß! Um sein Recht zu zeigen, hat Graf Hugo von Salem-Camphausen vorläufig schon den Verkauf der Güter um Heiligenkreuz angeordnet; der Kronsyndikus 123 und dessen Sohn, dein Stiefvater, haben die Berechtigung dazu ebenso wenig beanstandet wie die Regierung, die selbst darauf bietet zum Wiederverkauf an ihre Angehörigen oder zu Staatszwecken. Graf Hugo hat einen gewissen Wenzel von Terschka angekündigt, seinen Chargé d'affaires. Paula erklärt er schon um deswillen für erbunberechtigt, weil sie – katholisch wäre, und Nück wieder bekämpft den Grafen, weil er Lutheraner ist. Eine Urkunde, nach welcher der katholisch gewordene Graf Franz Dorste-Camphausen Anno 1648 die Urkunde des Familienstatuts zu Gunsten nur der katholischen Religion geändert haben soll, fehlt bisjetzt, doch behauptet Nück, daß sie sich finden würde. Auf Schloß Westerhof ist sie nicht, Nück versichert aber, sie wäre auf Schloß Salem bei Wien oder auf Schloß Castellungo im Piemontesischen. Ich wünschte einigen Italienern zu begegnen, die aus letzterer Gegend gebürtig sind und mir vielleicht die Gelegenheit angeben, wie wir jene Urkunde dort ins gräfliche Archiv – einschmuggeln – Ja, ja! Lache nicht! Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt vortrefflich im Gange!

Welch feindseliges Chaos! rief Bonaventura aus nach dieser scherzenden Wendung, die wieder doch so viel Ernst enthielt, daß Benno tief aufseufzend hinzufügen konnte:

Es ist wahr, daß man am Guten keine reine Freude haben kann, wenn die Vermittler und Förderer desselben mehr List als Kraft einsetzen müssen, um ihm den Sieg zu verschaffen! Und doch – geht’s allen menschlichen Bestrebungen nicht so? Auch eurer Kirche?

Eurer? sprach Bonaventura fast vorwurfsvoll.

124 Der Hierarchie mein’ ich! verbesserte Benno. Ist sie nicht recht eigentlich ein reiner Gedanke in oft – wie unreiner Form!

Nein! unterbrach Bonaventura. Die große Thorheit unserer Gegner besteht nur darin, unser schwaches Streben verantwortlich zu machen für unser Ziel. Daß wir der Priester unwürdige genug haben, sollten wir getrost täglich bekennen dürfen. Schon daß ein Frommer wieder zuweilen in die Sünde zurückfällt, entscheidet ja an und für sich nichts gegen seinen bessern Sinn. Wie wir die Begriffe von der Erscheinung trennen müssen, sah ich recht, als ich in St.-Wolfgang mein Amt antrat. In dem Patron meiner Kirche, dem heiligen Wolfgang, hatt’ ich einen Spiegel der Nacheiferung für die Kraft und Würde des Priesterthums. Der heilige Wolfgang ist ein Deutscher, ein Graf von Pfullingen-Waltenburg gewesen. Mit einem innig geliebten Freunde, dem Bruder des Bischofs von Würzburg, studirte er in Würzburg, schlug alle geistlichen Aemter aus, folgte immer nur diesem Freunde, ward Mönch und wurde zuletzt fast nur gewaltsam gezwungen, das Erzbisthum Regensburg zu übernehmen. Wie aber hat er dann den Tempel von den Wechslern rein gefegt! Ihm sonst in allem unähnlich, hatte ich einen Vorgänger, der noch jetzt, hieher in diese Gegend versetzt, mehr dem Spiel und Vergnügen, als seinem Berufe ergeben sein mag. Wie der Herr, so der Diener. Den Meßner fand ich bei meinem Antritt von derselben Vernachlässigung. Als ich zum ersten male die Messe lesen will und gewöhnt war, die schöne Ordnung der St.-Zenokirche zu Kocher am 125 Fall vorauszusetzen und mich auf die Geräthschaften des Sakraments verlasse, entsetze ich mich über die Unsauberkeit der Corporalien, Pallen, Purificatorien. Nicht nur, daß sie, dem Gebot zuwider, von Baumwolle statt von Leinen waren, auch seit lange gewaschen waren sie nicht. Die Ciborien, Patenen völlig ungeputzt und der Vergoldung beraubt, ja das Entsetzlichste – ich öffne die Monstranz und finde den Leib des Herrn geschändet, finde das Brot zernagt von Würmern! Dies Bild: Das heilige Brot in Würmern! wurde mir zum Symbol meines ganzen Lebens! Seitdem ich damals die heilige Handlung unterbrechen und das Opfer unvollzogen lassen mußte, muß ich im Geist und in der äußern Erscheinung alles ursprünglich als göttlich Gedachten und in der Wirklichkeit doch nur Menschlichen, immer vor mir jenes Brot in Würmern sehen! Immer muß ich eingedenk bleiben, daß selbst das Grauenvollste des Misverstandes uns doch an sich nichts von dem entweihen kann, was seinem Ursprunge nach von Gott stammt!

Cajetan Rother lebt hier in der Stadt?

An der Kirche vom Berge Karmel und als Beichtvater der Karmeliterinnen!

Da verdank’ ich dem allwissenden Nück noch eine andere Bekanntschaft mit der irdischen Schale eines heiligen Kernes und eine, die dich näher angeht! Du hast von dem hier außer Clausur lebenden Pater Sebastus gehört?

Ein Convertit! Er schreibt eine Feder, die wie in Feuergluten getaucht ist!

Mit der Fackel der Eumeniden schreibt er!

Bonaventura kannte das frühere Leben des Mönches 126 Sebastus theilweise aus den Mittheilungen Grützmacher’s, der ihm Aufklärungen über Lucinden gegeben … Aufklärungen, die ihn für diese mehr mit Mitleid, als mit Abscheu erfüllten …

In der Erörterung dieser Lebensbeziehungen fuhr Benno fort:

Als damals Jérôme von Wittekind, von Klingsohr’s Kugel getroffen, zusammenbrach, minderte sich vielleicht in der Wagschale des ewigen Gerichts eines der schweren Gewichte, die gegen diesen Mönch, den Verräther seines Vaters, einst zeugen müssen! Ich sehe ihn zuweilen in unsern Straßen daherrennen! Wie der Derwische einer, wie ein Schamane des Orients hat er den stieren Blick des Auges, die krampfhafte Beweglichkeit der Glieder, den Trotz und die Sicherheit des Benehmens, verbunden wieder mit der gemachten Demuth, die sich an jeder Kirchenthür verbeugt! O wie oft ich doch erbeben muß vor den nächtlichen Schauern, die über unserm Geistesleben wie mit dem Gefieder des Fürsten der Unterwelt dahinrauschen! An meinem eigenen Leben erfahr’ ich es ja! Mich bringt in einer Zeit, die keine Nachforschung hat lichten können, dein Oheim Max von Asselyn aus Spanien mit sich, wie man sagte, als die Frucht einer Verbindung mit einer Spanierin, die er geliebt haben sollte und die ihm gestorben. Ein Märchen, das wissen wir alle! Aber irgendeinen Kern hat diese Erfindung! Nie jedoch konnte dieser von einer Menge Einhüllungen befreit werden, die mit den uns theuersten Personen auf eine Weise zusammenhängen, deren oberflächliche Besprechung schon Mismuth und düstere Erinne-127rungen bei ihnen allen heraufbeschwört. Nun hab’ ich für ganz gewiß die Ueberzeugung, daß das, was mir allein so dunkel ist, in den Beichtstühlen licht und hell und deutlich aufgedeckt lebt! Priester, Klostergeistliche kannten meinen Ursprung und nahmen ihn mit sich ins Grab. Jener Geistliche in Borkenhagen, Leo Perl, ein getaufter Jude, soll eine Schrift hinterlassen haben, die er in seinen letzten Lebenstagen an die bischöfliche Curie von Witoborn schickte. Sie ist so spurlos verschwunden wie jene andere, die Dominicus Nück sucht. Schließ’ ich von dem einzelnen Fall, der mich selbst betrifft und der vielleicht nur von meinem unerlaubten Stolz so empfindlich geschürt wird, schließ’ ich von jenem Mönche, wie ist nicht unser ganzes Leben innerhalb unserer Kirche durch den Beichtstuhl so vermessen geheimnißvoll! Wir suchen einen Mörder, einen Dieb – der Priester kennt ihn schon und läßt die Gerechtigkeit ihr Haupt verhüllen und beutet das Geheimniß nur aus – zum Besten seiner persönlichen Würde!

Zum Besten des Gottesreiches! unterbrach Bonaventura.

Ich will den alten Streit nicht erneuern, sprach Benno, ich will heute nur von den Schauern sprechen, die die Schritte dieses Mönches begleiten. Ihm ermordet der Kronsyndikus seinen Vater! Es war ein Todtschlag nach unserer Definition, kein berechneter Mord. Einem langgenährten Hasse bietet sich die Gelegenheit einsamer Begegnung, es entsteht ein Wortwechsel, es kommt zu einem Angriff, zu einer Gegenwehr, der gezogene Hirschfänger fährt aus und trifft eine Stelle, die sogleich tödlich ist. 128 Schrecken und Reue jagen den Thäter von dannen. Die Gerichte, in jener Gegend auf verschiedene Souveränetäten vertheilt, halten sich an einen muthmaßlichen Schuldigen, der Proceß verschleppt sich, der Kronsyndikus findet, wie man sagt, mit Hülfe eines ihm nahe stehenden Freundes, der die Beweisaufnahme in Händen hatte, Mittel, die Gerüchte zu zerstreuen, das Verfahren stockt, der Kronsyndikus, unmittelbar darauf seinen Sohn verlierend, bricht in der Rolle eines Gewaltthätigen, die er bis in sein siebzigstes Jahr durchführte, zusammen, wird nach langem Geiz als plötzlicher Verschwender unter Curatel gestellt und wer möchte den hinfälligen Schatten aus der Nacht noch aufstören, die ihn seit der Reise zum Begräbniß seines Sohnes umgeben soll! Einer aber hätte es thun müssen, nach allen Gesetzen alter und ewiger Zeit! Einer hätte das Blut eines Vaters nicht in den Sand sollen rinnen sehen, ohne durch alle Lande um Vergeltung zu rufen! Ein Sohn, ein Sohn opfert seinen Vater! Bestochen von dem Mörder, nimmt er dessen Wohlthaten an, unterschlägt ein vom Jagdrock des Kronsyndikus gerissenes Stück, das diesen hätte überführen müssen, reitet, fährt, bechert mit ihm, feiert Bacchanale mit einem jungen Mädchen, das durch einen Zufall auf Schloß Neuhof lebt und mit dessen Liebe ihn der Mörder wie umstrickt und bezaubert … und so umgaukelt der Wahn die verlorne Seele dieses Mannes, daß er den Kammerherrn mit allen Anzeichen der tiefsten Verzweiflung eines schuldbedeckten Gewissens niederschießt, von Tage zu Tage dahintaumelt im wüsten Ersticken seiner mahnenden innern Stimmen, bis ihn nur noch 129 der Becher, zuletzt das Opium heilen! Dann brach er ganz zusammen!

Er erhebt sich wunderbar! fiel Bonaventura ein. Wie kannst du den Lebensgang dieses Mannes beurtheilen, ohne die Geheimnisse seiner physischen und geistigen Wiedergeburt zu kennen?

Ihm kann nur wohl sein in der Flamme! entgegnete Benno ablehnend. Frieden und Betäubung kann er nur finden im Kriege! Wenn ich ihn sehe, wie er auf den Straßen dahinschreitet mit dem Korbe oder dem Topf oder einem Buch in der Hand, dann ist’s mir doch, als sollt’ ich das Leben seines Vaters von ihm fordern! Denn der Kronsyndikus ist längst entlastet. Wer eine solche Schuld auf die Schultern eines Sohnes werfen kann, der geht selbst vor Gott frei aus. In jeder Zeile, die ich vom Pater Sebastus lese, find’ ich – ich bin ein Fremdling eurem Volke und doch wurde mir Deutschland zur Mutter – Muttermord – Rom segnet die Thaten – so liebevoller Söhne!

Beide waren erregt schon lange aufgestanden, wandelten schon lange den Thoren zu …

Bonaventura, in den Abschied vom Dechanten zurückversetzt, verfiel in ein ernstes Schweigen … Selbst sein gewöhnliches Wort zu Benno: Was ist denn dir das alles, dir, dem jede Offenbarung Täuschung, jeder Glaube, das Wissen selbst eine bloße Befangenheit der Sinne, eine Tradition ist von den Blinden an die Blinden über die Farbe, von den Tauben an die Tauben über den Ton? selbst das behielt er heute zurück …

130 In dem engen Gewirr der Straßen wurde es dunkler und dunkler.

Die Menschen strömten heimwärts von manchem Ausflug, zu dem der schöne Abend verlockt hatte.

Schon lange wollte Bonaventura, der aus seinen Träumen früher erwachte als der seltsam ergriffene Benno, diesen aufmerksam machen, daß ihn seit dem einsamen Häuschen oben am Strome jemand umkreiste, der offenbar darauf aus schien ihn anzureden und schon mehrere male gegrüßt hatte, ohne daß Benno davon Notiz nahm.

Wie der Zudringliche sich immer wieder hinter ihnen hielt, dann wieder etwas schneller ging, um nur grüßen und sich bemerkbar machen zu können, machte Bonaventura den Freund zuletzt auf eine vielleicht ihm willkommene Bekanntschaft aufmerksam.

Ich sah ihn schon! sagte Benno halblaut. Ich mag ihn nicht grüßen! …

Jetzt aber war der Begleiter zu dicht herangekommen und seinem tiefgezogenen Hute und der Anrede: Guten Abend, Herr von Asselyn! mußte ein Wort der Berücksichtigung folgen.

Guten Abend, Herr Hammaker! sagte Benno kalt.

Nach dem Gedräng an einer der innern Thorpforten kam eine ruhigere Straße.

Gerade hier schritt der durch Ton und Geberde von Benno kurz Abgewiesene vor ihnen noch lange her.

Es war eine kurze, dicke, breitschulterige Gestalt mit einem weißen Sommerhut und grauem kurzen Rocke. Jetzt, wo er endlich bemerkt worden war, ging er schlot-131ternden, langsamen Ganges und die Hände hinten in den Rocktaschen zusammengehalten, während sie zugleich wie von der Tasche heraus einen zu seiner nicht ungewählten Kleidung fast im Widerspruch stehenden Knotenstock auf dem Pflaster nachklappern ließen. Das ganze Wesen des vielleicht den Fünfzigen nahen Mannes war eine gemachte Festigkeit und bewußte Sicherheit, die an Frechheit streifte. Noch einige male grüßte er – dahin und dorthin – gewöhnlich ohne eine besonders freundliche Erwiderung zu erhalten … Mancher dankte gar nicht, wie fast auch Benno gethan.

Am falben Scheine des Mondlichts und dem fortwährenden Umblick nach Benno hin wurde ersichtlich, daß breite wulstige Gesichtsformen dem Wuchse entsprachen; des Mannes Haar war weißer, als mit seinen scheinbar noch nicht zu weit vorgeschrittenen Jahren im Einklang stand.

Als diese Persönlichkeit endlich in eine enge Gasse eingebogen, sagte Benno:

Wieder einer von deinen Würmern, die man in heiligen Dingen ertragen und nicht sehen soll! Wenigstens, wenn ich mir die Unbefangenheit der Beurtheilung meines Procurators über ihn erhalten soll!

Benno schilderte jetzt den Mann, den er Jodocus Hammaker genannt, als einen Agenten, der, wie man sagte, mit Nück in engster Verbindung stand. Was Nück nicht auf eigene Hand vollführe, übernähme Hammaker. Früher, in seiner Heimat, drüben in der Kette der Sieben Berge, selbst Advocat, hätte er Wuchergeschäfte getrieben. Diese hätten ihn zum Verbot der eigenen Praxis geführt und doch hätte er sich nach mancherlei Irr-132fahrten wieder aufschwingen können, da ihn Nück, jedenfalls anfangs nur aus Mitleid, hier in der Stadt beschäftigte. Allmählich wäre er Nück’s Vertrauter geworden in solchem Grade, daß sie selbst noch jetzt, wo sie sich offenbar haßten, zusammenhalten müßten. Ihr Haß sollte auf dunkeln Dingen beruhen. Ja man spräche von einem Mordanfall Hammaker’s auf Nück. Eines Tages, erzählte Benno, hatte Nück sich eingeschlossen … Das wäre sonst bei ihm nichts Seltenes gewesen, sagt man, kam aber immer nur vor, wenn Hammaker in der Nähe war. Nachdem Hammaker im Garten, in den das Arbeitszimmer des Procurators hinausgeht, an jenem Tage eilenden Schrittes war gesehen worden, pochte man an Nück’s von innen verschlossene Thür. Daß er sich drinnen befinden mußte, wußte man durch seinen Hut und Stock, die im Vorzimmer lagen. Man pochte, niemand öffnete. Nun ließ man einen Schlosser kommen, öffnete mit Mühe und fand den erschreckendsten Anblick. Nück lag halb bewußtlos am Boden – in einiger Entfernung von ihm – das ist die Streitfrage – ein Klingelzug oder ein Strick, sonderbarerweise ein elegantester, grünseidener, aus dreißig kleinen Schnuren verfertigter. An dem einen Ende soll ein vergoldeter Haken angebracht gewesen sein, mit welchem die Hängemaschine oben am Haken eines nicht anwesenden Kronleuchters befestigt gewesen sein mußte; am andern Ende befand sich eine reichwattirte seidene Binde über einem halsbreiten Gurte. Anfangs mußte man von dieser eleganten Form des Mordmaterials annehmen, Nück hätte sich, mit Grazie, selbst erdrosseln wollen. 133 An den ringsum aufgeschlossenen Geld- und Documentenschränken aber sah man den Diebstahl. Das Fenster stand auf. Ein ungeheures Schlüsselbund, das zu allen unter Nück’s Verschluß befindlichen Repositorien gehörte, lag auf einem beweglichen eleganten Rollsopha von rothem Saffian. Nück kam langsam zum Bewußtsein zurück, blieb jedoch jede nähere Bezeichnung über den Vorfall schuldig. Die einen glauben, daß Nück von Hammaker erst gehängt, dann beraubt worden; andere sagen wieder: Wozu die grünseidene Schnur, die Halsbinde, der vergoldete Haken? Noch mehr: Wie konnte Nück ins Leben zurückkehren, wenn er so lange hing, bis der Mörder die Schränke aufgeschlossen, sie beraubt hatte und dann entflohen war? Man schloß auf einen Ueberfall im Schlafe. Hammaker wurde verhaftet, als er eben im Begriff war mit Extrapost und dreißigtausend Thalern in Werthpapieren zu entfliehen; aber Nück lachte und fragte, ob die Welt toll wäre? Hammaker wäre von ihm selbst in Commissionen versandt, ihn selbst hätte nur eine Ohnmacht angewandelt, er hätte nach dem Klingelzuge gegriffen, ihn abgerissen und gab ähnliche Erläuterungen mehr … Was konnte man einwenden? Ein Kläger, ein Beschädigter, ein Gehängter fehlte. Hammaker wurde frei und machte plötzlich Geschäfte, die bewiesen, daß er sogar einen Theil der 30000 Thaler wirklich hatte behalten dürfen! Eines Tages kam er zu Nück zurück, beide schlossen sich ein, schlossen sogar die Vorthüren ab, hielten eine lange Conferenz und seitdem sind beide zwar auf einem kältern Fuße und ceremoniell gegeneinander, aber sie machen dieselben Geschäfte wie 134 sonst. Die Gesichtszüge dieses Menschen lassen sich nur mit einer Blumenlese von Physiognomieen einer ganzen Bande von Spitzbuben vergleichen und doch hab’ ich schon manche Beweisaufnahme oder Terminabhaltung in der Umgegend, besonders in den gründlich von ihm gekannten Sieben Bergen drüben, in seinem Beisein machen müssen.

Unter diesen Mittheilungen waren Bonaventura und Benno an dem kleinen Häuschen angekommen, in dessen Gegenüber in der Nacht eine That vollbracht werden sollte, die Benno’s erste Ahnung sofort, wie wir wissen, mit diesem übelberufenen Hammaker in Verbindung brachte; denn noch vor wenig Tagen hatte er ihn, wie schon öfter, in später Abendstunde aus dem Hause der Ermordeten kommen sehen und während Thiebold und Enckefuß bei ihm frühstückten, kam ihm auch sofort der Gedanke: War der aufdringliche gestrige Gruß nicht wie ein: Betrachte mich und überzeuge dich von meinem – Alibi?

Als Bonaventura dann im „steinernen Hause“ zur Ruhe gehen wollte und bei seiner Rückkehr nicht wenig Noth hatte, sich der allzu großen Sorgfalt der Damen Schnuphase und ihrer Mägde zu erwehren, erhielt er noch ein kleines Billet von der Hand des Kaplans Eduard Michahelles.

Es lautete:

„Mein hochwürdiger Herr Pfarrer! Obgleich das Befinden Seiner Eminenz auf dem Wege der Besserung ist, so nehmen ihn doch die dringendsten Geschäfte für den Augenblick so in Anspruch, daß er sich auch wahrscheinlich morgen noch das Vergnügen versagen muß, sich 135 Ihnen so ausführlich, wie er wünscht, mitzutheilen. Ich bin daher beauftragt Sie aufzufordern, noch einige Tage länger zu verweilen. Bis dahin ist der Wunsch Seiner Eminenz, daß Sie sich zu Erholungen oder bei etwaiger Absicht, sich über die kirchlichen Einrichtungen der Stadt durch den Augenschein unterrichten zu wollen, des Paters Sebastus, eines Franciscaners, als Gesellschafters und Begleiters bedienen mögen. Der Ruf des ebenso geistvollen wie frommen Convertiten, der von seinem Provinzial die Erlaubniß hat, eine Zeit lang außer Clausur zu leben, wird Ihnen bekannt sein. Ich habe die Ehre mich zu nennen Eurer Hochwürden ganz gehorsamster Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.“

Die Empfindungen, von denen Bonaventura beim Lesen dieser Zeilen bestürmt werden mußte, raubten ihm fast die Nachtruhe. Wie vortheilhaft er auch von dem Mönche, dem Lucinde ohne Zweifel ihre erste Bildung verdankte, und von seiner gegenwärtigen glorreichen Erhebung aus einem tiefen Jammer der Seele dachte, er wurde vor Erwartung über dies Zusammentreffen von den aufregendsten Träumen erschreckt.

136 5.#

Die Messe, die ein Priester jeden Morgen entweder lesen oder hören soll, mochte Bonaventura mit einem bangen Vorgefühl nicht in einer der vielen Kapellen der großen Kathedrale besuchen, die vielleicht bald von seiner eigenen Stimme widerhallen sollten …

In eine kleine abseits gelegene dunkle Kirche ging er und verfehlte auf diese Art die sonst leicht möglich gewesene und von ihr gesuchte Begegnung mit Lucinden.

Dann begab er sich zu Benno, der, von Thiebold und Enckefuß eben verlassen, zu seinen Arbeiten zurückgekehrt war und mit Hindeutung auf einen bereits fertig liegenden Brief an den Onkel Dechanten ihm den grauenhaften Vorfall der Nacht erzählte und auf die geöffneten Fenster des Hauses gegenüber zeigte, aus welchem man inzwischen in einem verdeckten Korbe die Leiche der Ermordeten hinweggetragen hatte.

Eine Schwester der Frau von Gülpen! rief auch Bonaventura erstaunend aus.

Auch er wußte nichts von dieser Verwandtschaft. Doch mußte er Benno Recht geben, als dieser an seine 137 gestrigen Aeußerungen über die so dunkeln Anfänge im Leben des Dechanten und den Zusammenhang derselben sogar mit dem Kronsyndikus erinnerte. Und trotz seines gleichfalls gestern wie schon oft geäußerten Gefühls, daß ihm die geheime Welt des Beichtstuhls, mit besonderer Rücksicht auf sein eigenes Leben, eine gefährliche Ueberhebung der Kirche erschien, hätte Benno dennoch fast mit dem Zusatz: Unter dem Siegel der Beichte! von dem Agenten Hammaker sprechen mögen und von seiner gestrigen so aufdringlichen Begegnung. Er that es nicht. Er nahm sich vor, ehe er zu irgendjemand seinen Verdacht äußerte, sich genauer nach den Beziehungen zu erkundigen, die zwischen diesem und der alten geizigen, fast der ganzen Welt sich verschließenden Frau hätten stattfinden können.

Das durch diese Eröffnung gemehrte Unbehagen der Stimmung Bonaventura’s verminderte sich nicht, als er nun auch bei einer von dem Freunde gestellten Aufforderung, er sollte sich dem geselligen Kreise bei dem Rittmeister von Enckefuß anschließen, die Worte hören mußte: Von diesem leichten und fröhlichen Lebemenschen kann ich mir denken, wie er damals bei dem Tode des Deichgrafen voll Schauder und Mitleid die Augen zudrückte und nur die gemeinschaftliche Standesehre zu wahren suchte! Nicht einmal glaub’ ich, daß den Rittmeister dabei die Rücksicht auf seine Verschuldung beim Kronsyndikus bestimmte. Seitdem freilich diesem eine Curatel gestellt ist, seitdem dein Stiefvater die Oberaufsicht über sein künftiges Erbe bereits factisch besitzt, hätten diese Rücksichtsnahmen wol auch aufgehört. Und dennoch bin ich überzeugt, 138 daß der Landrath eher seinem Pferde die Sporen gibt und in einen Abgrund jagt, als daß er sich auf einer gegen befreundet gewesene Familien gerichteten Drohung betreffen ließe …

Bonaventura mußte von dem Begleiter sprechen, der ihn vielleicht schon in seiner Wohnung erwartete …

Pater Sebastus! rief Benno staunend. Nun siehst du die Läuterung bis – zum Aufpasser!

Eile, eile, fuhr der Zweifelnde dann fort, dir von den Damen Schnuphase dein Frühstück credenzen zu lassen! Rüste dich aber mit allen deinen Gelübden, ihrer Liebenswürdigkeit Widerstand zu leisten, besonders ihrer Frömmigkeit!

Bonaventura fand, als er gegangen war und sein Zimmer betrat, beide Töchter des Herrn Maria in großer Aufregung … Benno von Asselyn, den sie sehr wohl kannten, wohnte ja dem Morde so nahe – Bonaventura erzählte ihnen, was er wußte.

Da der Pater Sebastus nicht kam, hielt es der so gezwungen in ihm verhaßte Unthätigkeit Versetzte für seine Pflicht, sich im Palais des Kirchenfürsten theils nach dem Befinden desselben, theils nach der Wohnung des Paters zu erkundigen.

Im Palais erfuhr er, der Kirchenfürst wäre zwar wieder wohlauf, doch mit Geschäften außerordentlich überhäuft und eben arbeite sein Secretär mit ihm. Bei der Lebhaftigkeit des Verkehrs in den Vorgemächern mußte Bonaventura natürlich finden, daß er nicht die Aufforderung zum Warten erhielt. Vom Pater Sebastus hieß es, dieser würde ihn in seiner Wohnung in Herrn Maria’s steinernem Hause unfehlbar selbst aufsuchen.

139 Hieher zurückgekehrt fand Bonaventura die Blumen der kleinen Gertrud Ley und hatte seine innigste Freude daran …

Und doch bei alledem wie ein Gefangener sich fühlend ging er an eine Lectüre, die er sich aus St.-Wolfgang mitgebracht hatte. Das große, von Treudchen mit Blumen bestreute Buch, das sie aufgeschlagen gefunden hatte auf dem Schreibtisch, war eine Sammlung alter lateinischer geistlicher Gedichte gewesen, ein Erholungsstudium, zu dem Bonaventura zurückkehrte.

Nach einer Weile klopfte es.

Ein Franciscaner trat herein … blaß, lang, hager, bloßen Halses, nackt an den nur durch Sandalen geschützten Füßen, das Haupt geschoren, der Blick eine Weile scharf, dann sogleich unstet, wie auch das ganze Wesen erst eine kurze elastische Spannung bot, dann sogleich sich wie träumerisch nachlässig gleichsam gehen ließ. Der Kopf war scharf geschnitten und sah sozusagen eher chinesisch aus als germanisch … beim Sprechen öffneten sich kaum die Lippen, die Worte kamen flüsternd zu Gehör, aber mit außerordentlicher Bestimmtheit und Sicherheit.

Der Mönch nannte sich kurzweg den Pater Sebastus aus dem Kloster Himmelpfort, auf Urlaub befindlich, „einen Mönch in partibus infidelium.

Bei diesem einen Worte schon, das er nur so in erster Anrede an Bonaventura hinwarf, schien es fast, als wollte er sich damit aus der Sphäre herausheben, in die ihn seine Tracht drückte. Er glich so fast jenen Zurückgekommenen, die der Zufall in untergeordnete Lebensstellungen drängte und die dann nie unterlassen werden, 140 in Gegenwart der Stände, denen sie früher angehörten, sich durch ein hingeworfenes gewählteres Wort, eine französische Phrase in ihrem eigentlichen Werthe kenntlicher zu machen oder auch jenen lateinischen alten Studenten, die mit einem: Vir doctissime, illustrissime! auf dem Lande hospitiren und sich bei dem, der studirt hat, durch ein romantisches Anklingenlassen schönerer Jugendzeit ein Viaticum erbitten.

Und hätte der Pater nun nicht wünschen sollen, daß Bonaventura aufsprang und in ihm den berühmten Convertiten, den Streiter in den Zeitschriften, den Redner auf den Conferenztagen, den Sendboten des Kirchenfürsten begrüßte?

Bonaventura war befangen. Den Pater konnte diese Zögerung nicht die Folge einer Bekanntschaft dünken mit seinen Beziehungen zu Schloß Neuhof. Bei dem Geiste der Selbstvernichtung und gänzlichen Ertödtung jeder Beziehung zur Außenwelt, außer der kirchlichen, wußte Sebastus nichts von des Pfarrers Verwandtschaft mit dem Kronsyndikus. Es gibt Naturen von einer solchen Spontaneität, von einer solchen Unfähigkeit, sich durch andere bestimmen zu lassen, daß sie wenn auch nicht ganz das Gehör, doch fast die Fähigkeit verloren zu haben scheinen, an andere Menschen über irgendetwas auch nur eine Frage zu stellen.

Sie haben hier schon Bekannte! sagte der Pater gleich für fest und bestimmt, lehnte den Sitz auf einem der Polstersessel ab und blätterte in Bonaventura’s Brevier, so fast als wenn dieser gar nicht anwesend war.

Alles das mußte dieser seltsam finden und erwiderte nichts …

141 Gestern ging ich an diesem Hause vorüber, fuhr der Mönch fort, und sah Sie im Laden unten im Gespräch mit Herrn Moritz Fuld, dem Bruder eines Mannes, der im Enneper Thale eine byzantinische Kirche gebaut hat. Ja, also dahin mußte es kommen! Oft mache ich mir Vorwürfe, daß ich mich noch immer praktisch in die Juden nicht finden kann, während ich sie theoretisch schätzen muß!

Und auch jetzt noch fand Bonaventura keine Möglichkeit, im Gespräch mit irgendeiner Bemerkung einzuspringen.

Eine Art Reue über die Behandlung, die soeben Löb Seligmann wahrscheinlich doch nur von ihm erfahren, schien sich in diesen seinen Worten auszusprechen:

Die Juden gleichen dem Speer des Achilles! Der verwundete, wie Sie wissen, und heilte! Die Juden, von Spinoza bis Heine und Börne herab, untergraben den Glauben und doch sind sie im Großen und Ganzen wieder dessen Sauerteig, die Bürgschaft des Festhaltens am Einen Gott, die Wächter der Lehre von der Selbstheiligung, ja sogar vom Schatz der guten Werke und jedenfalls der Lehre vom Opfer und den Reinigungen! Unser alter Rector in Detmold mühte sich mit Horazens Credat Judaeus Apella! „Das glaube der Jude Apella!“ War der Jude Apella in Rom so bekannt für seine Leichtgläubigkeit? Zupften die jungen Adeligen des neuen Augusteischen Zeitalters ihm vielleicht am Bart und creditirte er ihnen vielleicht allzu gläubig auf ihre langsichtigen Wechsel als römischer Bankier und Vorläufer des Fürsten Torlonia in Rom? … Oder wie war das mit dem Juden Apella?

142 Bonaventura stand diesem scurrilen Durcheinander nur staunend und lauschend und fast angezogen.

Apella, fuhr der Pater fort und nahm jetzt eine von Treudchen’s Blumen auf, sie allmählich langsam mit einem elegischen Blicke vorn an dem seine Kutte zusammenhaltenden Strick befestigend, Apella war ein jüdischer Philosoph mit griechischem Bildungszuschnitt, der in Rom Vorlesungen hielt über Kirche, Staat, Religion, Glauben und Wissen und zwar mit dem für einen Juden unerlaßlichen Systeme: Es gibt nur Einen Gott und keine andern Götter neben ihm! Dem römischen gelehrten Pöbel, den Denkern und Sophisten, erschien der vielleicht ein wenig ins Lächerliche gräcisirende Rabbiner ein Narr, ein Diogenes, der am hellen Tage mit der Laterne ging! Nur Ein Gott! Kein belvederischer Apoll, keine mediceische Venus, kein farnesischer Hercules neben ihm! Armer, armer jüdischer Credo-Lehrer! Was glaubte wol dieser erste verspottete Märtyrer des Glaubens? Er glaubte jedenfalls Jehovah, den Herrn des Himmels und der Erden, aber vielleicht auch schon den Messias vom Stamme David’s. Apella ist mir der dreizehnte Prophet! Er war nicht so groß wie Elias, dessen Größe besonders darin bestand, daß er nur sprach und nichts hat drucken lassen, aber auch nicht der Kleinste unter den Kleinen! Da lachten die Römer denn: Ein Glaubender! Ein Glaubensvirtuose! Ein Denker, der den Glauben in Vorrath und wie auf Lager liegen hat! O, ein seltsamer Gast dieser Apella und ich möchte ein Buch schreiben: „Apella oder der Rothschild im Glau-143ben. Eine Kritik der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel.“

Die Wirkung dieser Weise auf Bonaventura war gar nicht abstoßend. Er mußte sogar der Vorstellung nachhängen: Findest du nicht aus dem, was du da zu hören bekommst, etwas von Lucinden heraus?

Da der Mönch sich nicht setzte und von einem Gelübde sprach, das ihm Polstersessel verbot, forderte ihn Bonaventura zu einem Spaziergang auf und hatte schon den Hut in der Hand … Es beeinträchtigt aber unsere Kraft, auf anderer Fragen zu hören, wie nach Shakspeare der Vornehmseinwollende anderer Namen nicht behält. Nichts „duckt“ einen andern mehr, als wenn man ihn in die Lage bringt, eine Bemerkung wiederholen zu müssen … Und so hörte der Pater nichts vom Ausgehenwollen. Er sprach nur zu den Blumen, die ringsum fast so, wie sie Bonaventura gefunden, noch geblieben waren:

Wie müßt ihr so verbleichen
Im funkelnden Farbenschein!
Ihr jungen Blumenleichen,
Wer segnet und senkt euch ein!

Da waren Sie ja, fuhr er plötzlich gleichgültig abspringend fort und auf die Sammlung, in der Bonaventura gelesen hatte, deutend, bei Dante’s Vorbild in der Architektur der Welten, dem Aurelius Prudentius! Nicht wahr, die schöne bunte Rose, die Dante im Himmel sah von unermeßlicher Größe und die dort aus dem Strahlenglanz der Märtyrer und Heiligen aller Zeiten zusammengesetzt war, ist hier auf Erden schon die aus den Blüten und Perlen der heiligen Poesie zusammengesetzte?

144 Gewiß! fand Bonaventura endlich eine Gelegenheit einzufallen. Sie schmückt den unsichtbaren Dom unserer Kirche!

Das heißt, die „Purpurviolen“ und „Saaronsrosen“ aus Kocher am Fall ausgenommen!

Mit diesem Spott auf Beda Hunnius war das Gespräch abgebrochen …

Der Pater folgte dem Pfarrer, der ihn an der Thür vergebens bat voranzutreten … Plötzlich zog sich Sebastus in Demuth zurück, verbeugte sich und ließ Bonaventura vorausgehen.

Sie verließen das Zimmer und das Haus.

Wie sie so dahinschritten, sahen ihnen die Menschen nach … die Fremden blieben stehen … der Pater schlug die Augen nieder …

Sie betraten Kirchen und Kapellen …

Viele fanden sie leer …

Der Pater verurtheilte die Lauheit der Gemüther und wiederholte einiges von seiner in Kocher am Fall gehaltenen Rede.

Sehen Sie denn aber nicht, erwiderte gelassen Bonaventura in einer dieser Kirchen, die beiden Kerzen da am Altare? Ist das nicht so schön an unserer Kirche, daß Sie, wenn Sie in unsere Gotteshäuser treten, immer finden werden, daß irgendetwas in ihnen vorgeht? Ist es auch nur eine einzige Seele, die irgendwo in einem Stuhl knieet und gegen die Hoheit des Gebäudes, gegen die Macht der Wölbungen und Säulen mit ihrem armen schwachen Aufseufzen wie ein Sandkorn am Meer verschwindet, doch belebt es einen 145 ganzen Bau! Und brennen auch nur zwei kleine Kerzen an einem irgendwo versteckten Seitenaltar, immer sagt das, es ist da irgendein Gebet im Werke, eines, das schon gehalten worden ist, oder eines, das erst gehalten werden soll; irgendeine Seele, die vielleicht in der Ferne auf dem Krankenlager liegt, hat diese Lichter anzünden lassen und bald wird ein Priester nur mit einem einzigen Knaben kommen und, ohne Rücksicht auf Zuhörer, unhörbar nur und still hinmurmelnd die Messe lesen. Dann wieder findet man an einem Tage, wo alles werkeltägig in der Stadt und in den Gemüthern hergeht, doch in der Kirche den Hochaltar geschmückt, Blumen liegen an seinen Stufen, das Wort des Priesters schallt fast wie ein einsames Selbstgespräch und kaum bis über die Brüstung des Chores hinaus; ein Erinnerungstag ist’s an einen Heiligen, irgendein Vorgang aus der Geschichte der Kirche wird gefeiert, ohne Geräusch, ohne allgemein verständlichen Ausdruck; nur einzelne Seelen, die gerade diesen Heiligen zu ihrem Schutzpatron wählten, sind gleichsam mit in das stille Geheimniß gezogen und geben dies einfach zu erkennen durch ihre Spenden, durch ihre Anwesenheit in den Kirchenstühlen, durch das Nachlesen in ihren Brevieren.

Der Mönch schlug die Augen hellauf und erwiderte nach einer langen Pause des Schweigens mit fast unhörbarer Stimme:

Wäre das nicht, wie sähen Sie mich in dieser Tracht!

Beide waren jetzt in einer fast sich schon annähernden, 146 wärmern Uebereinstimmung in die Kathedrale getreten, die einem großen heiligen Walde glich von vielen tausendjährigen Eichenstämmen. Die Ueberfülle mit neugierigen Fremden vertrieb sie jedoch. Sie traten in einen stillern, schön erhaltenen Kreuzgang, der zur Seite lag. In der Mitte desselben sprudelte über grünem Rasen ein Springquell – es war still ringsum, friedlich, „poetisch“, wie der Mönch sagte …

Der Reiz sich persönlicher zu ergründen, nahm zu und Bonaventura hatte sogar das Bedürfniß, einem Convertiten und einem Mönche vollends sein schweres Lebensgefühl zu erleichtern, und suchte dafür nach Anknüpfungen.

Der Pater gab sie bald selbst, indem er dem Priester, der ihm fast zu imponiren anfing, die Worte sprach:

Lieber doch noch die herumlorgnettirenden Engländer und um Trinkgelder handelnden Lohnbediente in unsern Kathedralen, als sich Kirchen nur erfüllt zu denken von Superintendenten- und Consistorialrathsweisheit! Gott! Gott! Darum zerriß man 1517 die zarten Verbindungsfäden des Ueberlieferten mit dem Gemüthe, nur damit in den Kirchen ewig geredet und das Echo der alten zum Redewiderhall gar nicht geschaffenen Wände mit tausendfach persönlich bedingter Weisheit gequält werde! Man spricht von dem Protestantismus als dem Bundesgenossen der Freiheit!

Nichts will die Freiheit des Volkes mehr, als die katholische Kirche! fiel Bonaventura ein.

Der Mönch stand still und betrachtete eigentlich jetzt erst zum ersten mal den Sprecher …

147 Aber die Fortsetzung dieser Gedankenreihen unterbrach plötzlich ein Geräusch in einer Kapelle, die den zuletzt dunkler gewordenen Kreuzgang schloß … Diese Kapelle lag völlig einsam und diente zur Aushülfe für die Winterszeit, wenn allzu schneidende Kälte die vorgeschriebenen Gebete und Messen in der Kathedrale besonders den ältern Priestern, den oft kränklichen und hinfälligen Domherren unmöglich machte.

Beim Verharren in der Kühle dieses entlegenen Winkels, über den Leichensteinen und Wappen der hier seit Jahrhunderten begrabenen Priester wollte eben der Pater beginnen: Der Stab Aaron’s ist ein mächtiger, ein grünender und blühender in unserer Hand – als ihn jenes Geräusch unterbrach …

Bonaventura ging näher, sah in die offene Thür, stieg einige dunkle Stufen nieder und zeigte dem Nachfolgenden, der von einer Eule oder einer Fledermaus sprach, einen großen Vogel, der aus den hundert Nestern an den Spitzgiebeln und Thürmen der Kathedrale sich hierher verirrt hatte, scheu in dem dunkeln Innern hin- und herflog und den Ausgang nach den hochliegenden kleinen Fenstern suchte, die auf der andern Langseite der Kapelle in die Straße gingen. Der Vogel umflog den Altar, riß die Leuchter um, verschob die Altardecke und warf einige Schalen nieder …

Der Anblick hatte etwas Düsteres, ja bei der Dunkelheit und Einsamkeit des Ortes etwas Schauerliches. Zuletzt sah man den Vogel sich zwischen zwei der kleinern Säulen an der sogenannten Evangelienseite des Altars 148 festklammern und wild und starr die Augen auf die Ankommenden richten …

Greifen Sie das Thier! sagte Bonaventura. Ich will den Altar wieder herrichten …

Der Pater stand in der Ferne und erbot sich zu der umgekehrten Hülfsleistung. Er ordnete den Altar und so langte Bonaventura den großen Vogel nieder, einen Habicht mit gekrümmtem Schnabel und spitzen Krallen.

Die Unheimlichkeit der Scene mehrte sich durch das Erscheinen eines rasch draußen auf dem einsamen dunkeln Kreuzgange daherkommenden Priesters, der kaum in die Kapelle geblickt hatte, auch schon zurückkehrte, fast erschreckend, sie nicht leer zu finden …

Noch mehr … Bonaventura erkannte den hier plötzlich Auftauchenden und wieder Verschwindenden auf den ersten Blick … Es war Cajetanus Rother gewesen, sein Vorgänger im Amte zu St.-Wolfgang …

Da lag das Ordnen des verstörten Altars seltsam nahe …

Bonaventura betrachtete den Vogel, den er an beiden zurückgebogenen Flügeln rückwärts auf die Hand gebreitet hielt und der ihn wild und trotzig und wieder doch furchtsam und scheu ansah, fast wie die unbekehrte Seele eines Menschen, sprach er …

Der Pater war bereits wieder voraus auf den sonnigen Rasenplatz des innern Geviertes der Gänge zurück und Cajetanus Rother war gleichfalls verschwunden. Daß er nicht zum Gebete gekommen, ersah man alsbald aus einer ihm begegnenden, ihn anredenden und mit ihm zurückkehrenden Dame. Und in dieser erkannte 149 Bonaventura trotz des von ihr, als sie hier Beobachter sahe, plötzlich übergeworfenen Schleiers zu seinem Erstaunen sogar eine der Töchter des Herrn Schnuphase.

Alles das währte nur einige Minuten, hinterließ aber auf lange und tief einschneidend einen Eindruck, dem der Mönch, als ihm das freiere und leichtere Aufathmen selbst Bedürfniß wurde, das Wort der Erklärung gab:

Lassen Sie den Vogel fliegen! Das Thier ist ein Bote des Satans! Nur deshalb scheint es so grimmig auf uns, weil wir ihm ein Rendezvous gestört haben!

Bonaventura warf den Vogel in die Höhe. Dieser schoß auf und verschwand auf dem grauen Schieferdache des Langhauses der Kathedrale.

Schweigend verließen beide den Kreuzgang und das Gebiet überhaupt. Man wollte noch einige andere Kirchen besuchen …

Es konnte Bonaventura nicht entgehen, daß der Mönch in seltsame Aufregung versetzt war, die ihn seine bisherige bewußte und selbstgefällige Weise fast aufgeben ließ. Wie über irgendetwas Gespenstisches hatte sich sein Auge vergrößert, die Runzeln, die schon über der Stirn des kaum Dreißigjährigen lagen, zogen sich in die Höhe, er zupfte an dem Strick, der ihn umgürtete, um die Kutte höher zu ziehen; so fast, als fröre ihn …

Endlich, an einem großen alterthümlichen Hause, schien sich der Mönch wieder erholt zu haben von dem Eindruck, den ihm die Scene in der Kapelle gemacht hatte. Am Sonnenlichte athmete er wieder auf und ließ halb mit einem, wie es schien vom tiefsten Innern kom-150menden Seufzer, halb aber auch wieder hinblinzelnd auf Bonaventura, die Worte der Schrift fallen:

„Wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, da werdet ihr leben!“

Bonaventura kannte, schwer genug (wie er sich zu gestehen nie schämte), diese allein erst wahrhaft lebendig machende Kraft des Geistes und nickte Beifall.

Der Pater fühlte sich nun ermuthigt, zur frühern Schärfe seiner Aeußerungen zurückzukehren. Er klagte die Priester an, denen er vorzugsweise den Verfall des großen Kirchengebäudes schuld gab.

Kennen Sie dies Haus hier? fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er schon fort: Der Sitz des Capitels ist’s! In dem Hause hier mit seinen zahllosen Fenstern, langen Gängen und auf die Ewigkeit angelegten Oefen kommen aus vierundzwanzig Gegenden auf ihre alten Tage vierundzwanzig Menschen zusammen, zwei auf jeden Jünger Christi, und – ja, das ist ihr Unterschied – einer spricht und geht und raucht und schnupft anders als der andere. Und noch sind Greise darunter, die einst auch unsern Herrgott abgesetzt haben in der französischen Revolution! Domherren, die mit Hontheim von Trier eine deutschbischöfliche Kirche gründen wollten, frei vom Papst, eine constitutionelle, die in den emser Punktationen schon ihre Charte-Vérité hatte … Alle haben sie noch über Voltaire gelacht und davon sind ihnen die Runzeln nun so stehen geblieben wie lachenden Porzellanmännern; denn sie lachen auch bei Erlebnissen, die ihnen das Weinen nahe bringen sollten, ja sie wissen nichts von diesen stehen gebliebenen Mienen, sie weinen wirklich 151 mit diesem alten Voltairelächeln! Und gerade, als wenn sie wüßten, daß sie den Feuertod verwirkt haben, so heizen sie ihre Oefen ein in ihren großen kaltgründigen Stuben! Wälder stecken sie in die Flammen und doch erwärmen sie nicht den innerlich schauernden Frost! Furchtsam verrichten sie ihre Aemter am Hochaltar, wo sie kaum noch die Stufen des Chores ersteigen können, und bei den großen römischen Missalen, die neben ihnen aufgeschlagen liegen, bei den durchgestrichenen Noten des Antiphonales werden sie gespenstisch nur an die Todtenköpfe des Beinhauses erinnert. Ach, aus Angst der Seele wirft sich dann einer oder der andere auf das Studium eines alten Kirchenvaters! Da drüben, wo Sie die grünen Vorhänge am Fenster zugezogen sehen, wohnt einer, der sein ganzes erspartes Vermögen an eine Herausgabe des Origenes hingegeben und hinterher bedeutet worden ist, daß Origenes nicht zu unsern Heiligen gehört und den Protestanten zu überlassen ist. Der Arme wird dieser Tage sterben, ist vielleicht schon todt, und seine aus theuer erstandenen Manuscripten gesammelten verschiedenen Lesarten werden ihm ins Grab folgen! Dort – da wohnt der Kanonikus Martinus Taube! Krank kann er werden, wenn im Kattendyk’schen Hause jemand dreimal hintereinander zum Diner eingeladen wurde und Frau Commerzienräthin ihn einen angenehmen Gesellschafter genannt hat, an den sie sich gewöhnen könnte! Nebenan – da wohnt einer, der mit dem Hause Kattendyk selbst Geldgeschäfte macht … Dort dem andern da ist das Dasein ganz in Whist und Boston aufgegangen! Und fragen Sie ihn, ob Sanct-Goar in Trier 152 seine Einsiedlerkutte wirklich an einem Sonnenstrahl aufhängen konnte, er wird es mit einem lauten und deutlichen: Ja! versichern, nur um nicht aufgehalten zu werden, ein glückliches à tout zu machen. Ha diese Priester! Sie können wie junge Mädchen eifersüchtig sein auf die Cirkel, wo nur ihre Hände geküßt werden, nur ihre Scherze belacht! Entschuldigen Sie nichts! Es ist gut, daß es einen großen Geistessturm gibt! Die faule Ruhe des Friedens hat Ungeziefer selbst im Rock des Herrn nisten lassen! Ausgeklopft muß auch der werden, nicht blos der Wams der Kriegsknechte! Tüchtig! Tüchtig! Und von uns selbst! Hören Sie, unsere Trommel wirbelt –

Der Pater wurde in seiner wilden Rede unterbrochen. Eben zog eine Militärcolonne mit kriegerischem Spiel über den Platz, wo sie einsam gestanden …

Als es stiller geworden, sprach Bonaventura:

Pater! Ich meine, je höher ein Priester steht, desto mehr wachsen seine Sorgen, die Ansprüche seiner Verwandten, die Zumuthungen seiner Bedürftigen! Werden wir alt, so suchen ja gerade wir nach Augen, von denen uns doch ein klein wenig Liebe und Sehnsucht bewahrt werden möchte, auch wenn wir todt sind! Keine Familie zu haben, es bewahrt uns lange vor Sorge und Kummer, und doch wird Familie zuletzt unsers Herzens ganze Sehnsucht! Nun sparen wir für andere, schenken, opfern, wollen Menschen haben, die irgendwie die unserigen sind! Das wird zuletzt eine Krankheit, die ebenso ihre Symptome, den Geiz, die Geldbegierde hat, wie unser schon in jungen Jahren sich meldendes Verlangen nach – Bequemlichkeit!

153 Bonaventura sprach das so hin, wie wenn er es ebenso auf der Kanzel hätte sagen können, ohne Menschenfurcht. Sein Auge glänzte, seine Stirn umzog sich mit dem lichten Schein der edelsten Unbefangenheit.

Sie sind ein milder Versöhner! sprach der Mönch … Wissen Sie denn, warum Sie herberufen sind?

Ich hoffe es zu erfahren, erwiderte Bonaventura.

Ich will es Ihnen sagen! Irgendeiner dieser Priester alten Stils hat Sie irgendwo gesehen, hat Sie predigen hören, und da geht es wie in Göttingen, wo ich die Rechte studirte. Die alten Professoren wehren jede Neuerung ab, lassen kein neues System, keinen jungen Docenten oder Außerordentlichen aufkommen. Plötzlich merken sie, daß die Frequenz der Universität abnimmt. Des Goldes, das von der Quästur kommen soll, wird immer weniger, die Doctorhüte bleiben auf dem Lager liegen, die gelehrte Jugend Deutschlands, die Gott sei Dank! doch noch nicht ganz aus Freitischseelen besteht, drängt sich in jene Städte, wo die Lehrstühle der in Göttingen verurtheilten Systeme stehen. Nun wird den Geheimenräthen Angst! Jetzt halten sie einen großen Rathschlag, und siehe da! Sie senden eine Deputation gen Hannover und erklären, die Facultät böte eine Lücke, man müßte die Vertreter eines neuen Systems berufen. Ministerielles Erstaunen – Stühle, auf die sich die Excellenz vor Ueberraschung niederlassen muß … Sie meinen, meine Herren? Sie befürworten –? In den „Gelehrten-Anzeigen“ hackten Sie ja regelmäßig die Vertreter dieses Systems zu göttinger Wurst zusammen? – Thut nichts, Excellenz! 154 Mangel an doppelläufigen Pistolen – Und nun errichtet man einen neuen Lehrstuhl, beruft denselben jungen früher verfemten Irrlehrer und die akademische Jugend des heiligen römischen Reichs findet wieder den alten Weg an – die „Leine“, die Honorare kommen in Gang, die Doctorhüte fabricirt wieder „Vater Bethmann“ nach wie vor, die alten Herren frischen sich mit dem jungen Blute wieder auf, wie in Arnim’s „Kronenwächtern“ die Transfusion des Blutes in praxi ausgeführt wird und ebenso denk’ ich mir: Wenn in Städten, wie diese, die Gesinnungen zu weltlich werden, die Beichtstühle zu leer stehen, die Büchsen und Becken beim Opfern zu viel Kupfer abwerfen, die zweischlächtigen Bastarde der gemischten Ehen nur in den Taufbecken der Protestanten Stolgebühren zurücklassen, dann müssen frische, fromme, freudige Gemüther –

Wiederum aber konnte diese dem Eindruck, den Bonaventura dem Mönche machte, dargebrachte Huldigung nicht weiter kommen. Eine Volksmenge brauste daher, Vorläufer eines neuen Soldatentrupps, diesmal der großen Wachparade. Es war schon die Mittagszeit. Wie eine rauschende Flut stürzten sich die Accorde einer Janitscharenmusik über die Worte des Sprechers …

Der Mönch schwieg; beide Wanderer standen still und ließen die Truppen an sich vorüberziehen …

Kennen Sie den Kirchenfürsten? verstand sich der Mönch wiederholt zu einer – Frage, als es ruhiger geworden.

Aus der Zeit, als er noch Generalvicar war!

155 Reden Sie mit ihm, so bitt’ ich, sprechen Sie Gutes von mir!

Bonaventura sah den Mönch erstaunend an.

Ich habe die Weihen nicht! Ich bin nicht Priester! sagte der Pater.

Auf Bonaventura machte dies Geständniß einen tiefen Eindruck. Es war ihm, als fiele ihm eine Last vom Herzen. Pater Sebastus war kein Priester! Diese Hand, die Jérôme von Wittekind erschoß, die einen Vater ungerächt gelassen, war so nicht entsühnt, daß sie Segen austheilen, das Brot des Lebens spenden konnte – und jetzt verstand Bonaventura die Widersprüche in dem Wesen seines Begleiters – die Demuth schien ihm noch nicht zur neuen Natur geworden – sie erstrebte vielleicht nur das letzte Ziel des neuen Ehrgeizes – die Weihen – und Stolz und Leidenschaft schienen die alten geblieben … In seltsamen Wirbeln ging sein schwankendes Urtheil.

Da kamen jetzt vier Männer daher … Sie grüßten, standen still und es fanden gegenseitige Vorstellungen statt.

Benno war es mit seinem Freunde Thiebold, mit dem Assessor von Enckefuß und einer seltsamen Erscheinung, die sich zwischen dem Arm des letztern und dem Arme Thiebold’s hielt … ein jugendlich aufgefrischter Greis, von jenen selbst beim Weinen lachenden Gesichtszügen, wie sie der Mönch eben bei den alten gezähmten Voltairianern stereotypirt fand, den Bart, die Haare gefärbt, ein seltsames Bild unter drei jungen Männern, von denen 156 wenigstens Benno und Thiebold die Lebensfrische selbst waren …

Herr Rittmeister von Enckefuß! … Herr Pfarrer von Asselyn! … hieß es.

Der Mönch stand starr …

Die Gruppe wagte ihn nicht ganz in ihren Kreis zu ziehen …

Herr Doctor! sagte ihn erkennend der Rittmeister – in leichter und fröhlicher Anrede … Es gab eine Zeit, wo Sie’s gar nicht abgeschlagen hätten, mit uns auf den Hahnenkamp zu gehen und ein Glas Champagner zu trinken! Wir haben ihn da besser als im Englischen Hof! Jetzt freilich –

Der Mönch sah den Sprecher an, als irrte er sich in der Person. Ja es war ein Blick voll Größe und als wollte er sagen: Ich spreche armenisch und komme vom Libanon!

Benno fixirte den Pater von oben bis unten und würde den vor Verlegenheit verstummenden Rittmeister in der Erkennung unterstützt haben, wenn nicht Thiebold Bonaventura’s Bekanntschaft zum ersten mal gemacht hätte. Da gab es denn ein Bestürmen mit dem ganzen Feuer des Antheils, ein Aufrufen zur Vergleichung der Aehnlichkeit mit dem Onkel Dechanten, ein lärmendes Erörtern der unangenehmen Nachrichten für Frau von Gülpen, daß nun eine andere Conversation gar nicht mehr aufkommen konnte.

Der Mönch, wie nicht im mindesten berührt von der Begegnung mit einem Manne, der ihm die trübsten Erinnerungen des Lebens zurückrief, wandte sich inzwischen 157 und richtete, wie wenn nichts wäre, den Blick auf die Straßenecke, die mit Anschlagzetteln bedeckt war … Man befand sich auf einem der vielen kleinen Plätze der Stadt, in der Nähe eines Gasthofs mittlern Ranges.

In Bonaventura’s Klagen über die Verzögerung seines Aufenthalts mußte sich sein Bedauern mischen, von Benno hören zu müssen, daß diesen jede Stunde eine Weisung seines Principals über Land zu schicken drohte und, wie er sagte, sein halb schon immer gepackter Koffer ihn vielleicht heute Abend bereits wieder aufs Dampfboot begleiten könnte.

Ich hoffe morgen empfangen und verabschiedet zu werden! sagte Bonaventura und drückte damit für Benno eine Bürde aus, die er an dem lesend der Mauer zugewandten Begleiter zu tragen hätte … Und in dem Rittmeister von Enckefuß sah denn nun Bonaventura eine Persönlichkeit, die vielfach genannt wurde, sprach man von den Zerwürfnissen des Kirchenfürsten mit der Regierung und einer schon uralten Verfeindung des Domherrn Grafen von Truchseß-Gallenberg mit dem herrschenden Systeme … In seiner Heimat drüben erfolgte nach geistlicher, dann westfälischer Herrschaft die Uebernahme der Zügel des Regiments 1815 schroff und im Geiste solcher Sieger, die von der Demüthigung des Corsen triumphirend heimkehrten und in den neugewonnenen Ländern und Städten als Wächter die wilden Söhne des Heerlagers zurückließen. Kurze Zeit hatte der Corse auch die Söhne dieser Länder in Waffen den übrigen deutschen Brüdern gegenübergestellt 158 und nun trat unter Verhältnisse, wo aus jedem nur erdenklichen Grunde der Politik die Versöhnung hätte herrschen sollen, doch, wie einmal die menschliche Natur ist, die Vergeltung. Ein tüchtiger Heerführer befehligte in der Hauptstadt des neuerworbenen Landes. Milderte an ihm sein Verdienst die Wildheit und konnte eine gewisse barsche Treuherzigkeit, der man im rechten Augenblicke sogar Gemüthvolles abgewinnen konnte, ihm manche gute Wirkung sichern, so verdarben das, was seine Oberleitung noch allenfalls gut machte, die Untergebenen. Sein eigener Sohn war es, ein junger Offizier, der auf dem so gänzlich verschiedenartigen Boden die Sitten der Heimat einführen wollte. Der Husarensäbel des Rittmeisters von Enckefuß zerhieb alle Schwierigkeiten, deren sich für den alten General, seinen Vater, immer zahlreichere fanden. Verhältnisse, Vorurtheile, Meinungen, Gewohnheiten wurden verletzt, mit ihnen die Personen. Die Reizbarkeit erhöhte sich. Zu Kränkungen kam es, die niemand mehr mit der dem dortigen Menschenschlage eigenen Selbstbeherrschung, die man auch Trägheit nennen mag, verwinden mochte; bald standen sich die höhern Stände gegenüber. Einige der jüngern Domherren, Geistliche aus den ersten Geschlechtern des Landes, wurden von dem Militärgeist, der seinen Säbel auf dem Straßenpflaster nachschleppen ließ, auch auf dem neutralen Boden der Geselligkeit, vorzugsweise im Casino der Stadt, geneckt und, als sie es ihrem Amte gemäß schweigend hinnehmen mußten, mit spottenden Worten bezeichnet. Es kam zu einem Ehrenstreite, an dem die Stadt, die ganze Provinz theilnahmen. Zwei 159 junge Domherren waren durch wiederholte Beleidigung in der Nothwendigkeit, sich von den Offizieren Genugthuung zu erwirken. Welche konnten sie erlangen? Als Priester durften sie die Waffe nicht führen. Ihren Stand zu verlassen verhinderte eigene Neigung und der durch Familienstatut gebundene Wille. Sie klagten vor Gericht. Dies konnten sie nur da thun, wo der Rechtsspruch vom jenseitigen Feldlager kam. Nach langem Processiren kam es zu einem Austrag, der ihrer Ehre allerdings einen dürftigen Strohhalm bot. Vor den Gegnern hatten sie einen zweifelhaften Sieg gewonnen. Neue Verwickelung, neuer Hader. Da tritt der einzige Bruder des Domherrn, der Träger des Geschlechts, in die Schranken, und wird, sowie später in unedlerer Veranlassung Jérôme von Wittekind, im Duell von jenem Rittmeister der Husaren erschossen … An des Bruders Grabe soll Priester Immanuel, der Domherr Graf von Truchseß-Gallenberg, damals einen nur stillen Schwur gesprochen haben, vollkommen aber vernehmbar den Geistern Innocenz’ III. und Gregor’s VII.

Nun der Anlaß dieser Irrung, der alte Husar da, sorglos seinen gefärbten Schnurrbart drehend und unterhaltend sein „junges Volk“ von der „Witwe Clicquot“ – und das sogar in einer Weise, der Bonaventura, um seine eigene ehemalige Fähnrichschaft von ihm angegangen, gar nicht gram sein konnte … Ihm waren diese ghibellinischen adeligen Landsknechte geläufig, die mit unendlichstem Leichtsinn Hab’ und Gut im Würfelspiel in einer Nacht verknöcheln konnten und dennoch, wenn die Drommete gerufen hätte zur Schlacht, sich aufs Roß 160 geschwungen haben würden und Leib und Leben nicht minder leicht aufs Spiel gesetzt.

Die fröhliche Gesellschaft wollte weiter gehen und sah auf den unter fast ähnlichen Lebensbedingungen, wie der fröhliche Rittmeister, stehenden Mönch, um Abschied zu nehmen.

Dieser stand abgewandt und las …

Die Männer gingen …

Bonaventura wartete, bis sich Pater Sebastus wenden würde …

Endlich that er es …

Leichenblaß …

Bonaventura redete ihn um die Bekanntschaft mit dem Rittmeister an.

Der Mönch erwiderte nichts …

Bonaventura sprach von einer Fortsetzung des Spaziergangs am Nachmittage …

Kein Wort der Entgegnung …

Nur mit seinen magern Händen zeigte er jetzt über den Platz hin …

Bonaventura sah einen Gasthof, an dessen Einfahrt ein Schwarm von Krüppeln und Bettlern sich drängte. Barfüßige Kinder, Greise, Blinde und Lahme, Frauen mit verbundenem Kopf, Hexen nicht unähnlich, eine Zunft von Menschen, die den Spruch, wir wären nach Gottes Ebenbild geschaffen, zur Satire machten, alles das drängte sich mit halbzerbrochenen Scherben am Eingang – ein Kellner hielt alle noch zurück –

In dem Blicke des Mönches auf jenes Gewühl erkannte Bonaventura, daß er sich den Armen anzuschließen im Begriff war …

161 Mein Donnerstagstisch! sagte er und brach ebenso rasch ab, wie er vor einigen Stunden zu Bonaventura gekommen war.

Bonaventura sah ihm lange – lange – und mit Rührung nach …

Sein Herz sagte ihm: Warum sollen es nicht die Kranken und die Armen sehen, daß ein Genius in den Fragen des Lebens vor ihnen nichts voraushaben will? Warum soll nicht ein einzelner unter sie treten und ihnen zeigen dürfen, daß Entbehrung jedem wehethut und daß Hunger, Durst und Frost nicht das Lebensloos der Armen allein sind, ja daß es eine Glorie höherer Genüsse gibt, die selbst ein Gebildeter allem vorzieht, wonach die Entbehrenden mit neidischem Herzen schielen! … Und selbst der Einwand, der sich ihm aufdrängte, daß ein Mönch nicht arbeite und darum mit seinen Entbehrungen denen nicht gleichstehe, die in geringen Verhältnissen leben trotz ihres Fleißes, widerlegte sich seine noch unerschütterte Begeisterung für die Kirche durch eine eigene Auslegung der Schrift. Wenn wir nicht vom Brote allein leben, sondern auch vom Geiste Gottes, so darf zu diesem lebendigen Odem, der uns erfüllt und erhebt, auch ein festgehaltener äußerer Ausdruck des Uebersinnlichen gehören. Wie man die Kirchen schmückt, statt daß auch in schmucklosen derselbe Gott erkannt und gepredigt werden könnte, wie man seine Liebe durch ein Symbol ausdrückt, eine Blume, einen Ring, statt daß Worte ganz dieselbe Bedeutung haben könnten, so sollte nicht auch die äußerlich ersichtliche und vor der Welt festgehaltene Demuth, das Kleid und die Entbehrung des Klostergelübdes die immer bereite 162 Vergegenwärtigung der Begriffe sein, die sie dem weltlichen Leben vorhalten und ihm gleichsam einbilden möchten? Edler, als der Spartaner sich Heloten hielt, um seinem Sohne die Niedrigkeit dienender Seelen zu zeigen, schien dem sinnend Nachblickenden der Christ sich Mönche und Nonnen halten zu dürfen, um in der Fülle der Ungebundenheit und des leidenschaftlichen Lebensgenusses auch die reinen Typen zu bewahren der Selbstbeschränkung und Nur-Auf-Gottbezogenheit.

Bonaventura speiste dann auf seinem Zimmer, bedient von einem ungeschickten Mädchen, durch dessen Unerfahrenheit hätte entschuldigt sein können, daß lieber, wie heute in der Frühe, eines der Fräulein Schnuphase mit schweigsamer Ehrerbietung, einer Martha gleich, erschienen wäre und das Serviren unterstützt hätte. Doch die seltsame Begegnung im Kreuzgange hielt wol die beschämten Heuchlerinnen fern. Daß Bonaventura nicht zu lange bei dieser Erfahrung verweilte, lag in der traurigen Gewöhnung seines Standes, derartige Eindrücke an Priestern wie an Laien fast täglich bedenken und in sich verwischen zu müssen.

Um einen katholischen Priester ist es einsam. Friede soll über sein Gemüth hinwehen, die Leidenschaften sollen schweigen, immer soll er innerlich beschäftigt sein. So wollte es Hildebrand, als er, um aus ihnen die Gnomen der römischen Zauberkunst zu schaffen, ihnen die Ehe verbot, die Verbindung mit der Welt und mit dem gemeinen Leben.

Von der Begegnung mit dem Mönche Sebastus war Bonaventura tief aufgeregt; doch wußte er den Gefühlen, 163 die ihn bestürmten, keinen Namen zu geben. Er forschte ihnen auch nicht zu lange nach …

Mahnen dann aber zuletzt die Geister zu gewaltig, stürmt es doch in der Brust, so haben die Lehrer der Kirche, unter ihnen tiefe Kenner des menschlichen Gemüths, dafür gesorgt, den Sinn zu heiligen, das Herz zu stillen, es zu bewahren – vor der Phantasie. Denn die Phantasie ist die gefährlichste Feindin des Einsamen …

Mannichfaltige Rathschläge gaben die Seelenmeister, ihren Lockungen zu widerstehen …

Bonaventura floh die Phantasie nicht, aber er dachte sich nie Zukünftiges, sondern nur Vergangenes … Im Vergangenen – da konnte er schwelgen! Aber wie rang er auch, nur allein das Einst festzuhalten! Nur die Grenze zu wahren, wo nicht plötzlich ein rosiger Zukunftsschimmer in die Seele einbrechen konnte! Mit Zukunftsträumen beginnen die Irrpfade der Einbildungskraft. Ihrem goldenen Glanze verschließe das geistige Auge! Erwache aus jedem Traume, den es dich gelüsten könnte dir auf Zukünftiges zu deuten! Mögliches, Gehofftes ist ein Arom der Geister, das die Sinne betäubt, ein Zaubertrank, der in Paradiese versetzen kann, selbst unter den Schrecken der Wüste … Schreit dann die Seele inbrünstig „wie der Hirsch nach frischem Wasser“, so gibt ihm die römische Magie eine vom Munde man möchte glauben der schäumenden Wuth des leidenschaftlichsten Seelenschmerzes gesammelte Aqua toffana … Auch Bonaventura kannte sie …

Wurde dem jungen Priester das Blut von einer plötzlichen Wallung durchglüht, rang er in der Noth des Auf-164schreis seiner gesunden Lebensgeister, so griff auch er nach jenen mechanischen Hülfsmitteln, die im Rosenkranzgebet den ersten Wassersturz der Besinnungslosigkeit zu suchen lehrten … Auch er zählte dann die Buchstaben der Evangelien und Episteln … auch er rechnete, wie oft ein Wort sich auf einer Seite wiederholte … Und wenn Paula’s Name und ihre liebliche Erscheinung über seinen Geist wie eine sanfte Sphärenmusik sich senkte, so konnte auch er, um sich vor dem Vergehen in einem Meer von Sehnsucht zu retten, das liebliche Gedicht in Spee’s Trutznachtigall:

Wenn Morgenröth’ sich zieret
Mit zartem Rosenglanz –

statt vorwärts – rückwärts lesen. Half auch das nicht und klangen die Sphären zu berauschend, die Lockungen zu süß, so konnte er zählen, wie oft in einem solchen Gedichte ein einziger Buchstabe vorkam – und vielleicht nicht einmal der Buchstabe P!

Lacht nicht, ihr Feinde des Christenthums! Ihr am wenigsten, die besten Freunde desselben nach dem Mönch Sebastus, ihr Juden! Das eben brachte vielleicht schon Apella nach Rom. Mit solchen Glaubensspielen erfüllten schon am Jordan die Rabbinen das Wort des Psalmisten:

„Wie hab’ ich dein Gesetz so lieb, o Herr! Den ganzen Tag ist es meine Betrachtung!“

Jeden Augenblick horchte dann Bonaventuva voll Bangen, ob es klopfen würde und der Mönch zum zweiten mal einträte, ihn zu einem Nachmittagsgange abzuholen.

165 6.#

Die Wirthin zum „Goldenen Lamm“ war eine der rührigsten Frauen der Stadt.

Und wäre sie nicht auch die gutherzigste und wohlthätigste ihres Geschlechts schon von Natur gewesen, die kleine dicke, rundliche, noch immer hübsche Frau, die Beichtväter hätten sie dazu gemacht. Sie hätten ihr diese Lust am Spenden schon als Strafe auferlegt, da die gute Frau das gesundeste Leben liebte und ein leicht in den Adern rollendes Blut hatte … Ja, sie wechselte viel mit ihren Oberkellnern – sie wechselte auch viel mit den Vertrauten ihres Herzens … sie betrachtete aber dann die „Religion“ wie ein Bad, mit dem man allen schlimmen Staub der Seele wieder wegspült und immer wieder frisch und gefallsam in die Abwechselungen der schönen Erde, in Landpartieen, kleine Badereisen, Theater und Concerte zurückkehrt.

„Die Tochter aus dem goldenen Lamm“ einst genannt, hatte sie einen Sänger geheirathet, der sich bei ihren Aeltern, wie man zu sagen pflegt, „festgekneipt“ hatte. Sie hatte dann diesen zum Wirth gemacht. Nachmals war er gestorben. Dann folgte unter gleichen Um-166ständen ein Schauspieler. Auch von diesem wurde sie Witwe. Nun nahm sie das Leben ganz wie Semiramis, groß und frei, vom luftigsten Standpunkte. Aber gut war sie, unendlich gut, mildthätig bis zum Exceß, und dabei so stark und wohlgenährt, daß die Juweliere das Doppelte verdienten an den Ketten, die sie kaufte, dann ihren Verehrern heimlich zusteckte und sie sich, zur Genugthuung vor dem ganzen Dienstpersonal und den Stammgästen der Table-d’hôte und des abendlichen Schoppens, scheinbar wieder von diesen zurückschenken ließ … Und niemand hatte dies Manöver mit größerer Gewandtheit ausgeführt als seinerzeit Jodocus Hammaker, der einige Jahre lang, vor der ominösen Hängegeschichte mit Dominicus Nück, auch der Vertraute ihres Herzens und ihrer Kasse gewesen war.

Mundet’s euch heute nicht? rief die Frau aus einem Fenster, das in die Einfahrt ihres großen und geräumigen Gasthauses ging. Denkt Ihr an die Karmeliterinnen, wo morgen Nachmittag groß Tractament sein soll, wie bei einer Kindtaufe! Wird ja bei Euer Gnaden eingeladen, als käm’ eine Prinzessin ins Spital und wollte die Suppe kosten, die dann auch einmal aus Fleisch gekocht wird!

Damit reichte sie dem „gnädigen“ Bettelvolk aus der mit ihrem Fenster in Verbindung stehenden Küche in die dargereichten Scherben Gemüse und Fleisch und füllte selbst die Gefäße, die oft so defect waren, daß sie ihr unter der Hand zerbrachen. Jeden Montag und Donnerstag fand diese Austheilung statt, die Tage ausgenommen, die noch etwaige Vergehen und die Gebote des Beichtstuhls hinzufügten.

Diese „Abfütterung“, wie der Herr Oberkellner mit 167 goldenem Siegelringe apathisch und seiner Stellung bewußt, sie benannte, mußte rasch geschehen, damit die Ordnung des frequenten Gasthauses nicht gestört wurde. Die Lahmen und die Blinden, die alten Frauen und barfüßigen Kinder durften sich nicht zu lange aufhalten und etwa die Gabe unter der Einfahrt oder im Hofe schon verspeisen, manche gar ohne Messer und Gabel wie die Wilden.

Die Wirthin schöpfte dabei immer aus, warf zuweilen ein schlechtes Stück mit einem derben Kraftworte an die Köchinnen hinter sich zurück und ruhte nicht einen Augenblick im Nutzen ihres Mundwerks.

Das Stück geb’ ich ja keinem Hund, viel weniger einem Menschen! … O die Metzger! … Die bringen’s aus! … „Kaufe keinen Ochsen ohne Knochen, Madame!“ sagte der neulich am Rothenthurm … Nun? Steht mir nicht so lange! Marsch! … Jesus Marie, was ist das für ein Topf? Ein halber Henkel kaum! … Ich glaube, erst vorige Woche gab ich einen neuen!… Riekeschen! … hörst du! Mach’ mir mal den Rock hinten ein bissel loser! Zwei Haken! … So! … s’ist mir heut ganz schlecht, denk’ ich an die Frau, die sie die Nacht umgebracht haben! … Weiß man denn immer noch nicht, Leute, wer’s gethan hat? … Wozu ist nun die wohllöbliche Polizei! … Jeden vergessenen Nachtzettel straft sie, von jedem Fremden, der von auswärts kommt, will sie wissen, was er für eine Nase hat, aber was drinnen in der Stadt vorgeht unter den Spitzbuben und Räubern und Mördern –

Der Oberkellner rief den Aufhorchenden, die auf diese 168 Art auch noch die Zukost publicistischer Neuigkeiten und über Welt und Zeit allerlei freisinnige Ansichten erhielten:

Marsch! Fort! Es kommen Fremde!

Nun, nun! rief nun wieder den Oberkellner verweisend die Wirthin. Geduldige Schafe gehen viel in einen Stall! Dann aber polterte sie doch wieder dem Oberkellner zu Liebe: Riekeschen, mach’ fort, daß die Bagag’ hinauskommt! Ihr Trampelthiere! Laßt doch erst die Kinder vor!

Vom Lärm des Bettlervolks und der Straße wurde die Rede der guten Lammwirthin übertäubt. Wagen kamen und gingen, Omnibus rollten, die Glockenzüge, die den Hausknechten schellten, wurden gezogen und jetzt bekam auch die Lachlust ein Schauspiel durch ein komisches Intermezzo.

Zwei Italiener begrüßten sich, wie es schien, nach jahrelanger Trennung …

Der eine kam eben mit dem Omnibus, der andere empfing den Aussteigenden unter der Hausthür. Neben letzterm standen zwei jüngere, die auf ihren Häuptern Breter mit Gipsfiguren hielten und in dem Augenblick, als die beiden ältern die Zeichen der höchsten Freude austauschten, das Gleichgewicht verloren. Eine mit Strahlenkronen geschmückte Madonna fiel und zerbrach. Der ältere in grauem Kittel und Manchesterbeinkleidern, unser Napoleone, hatte jetzt mindestens fünf Dinge zu gleicher Zeit zu erledigen … Einmal seinen aus London kommenden Bruder zu begrüßen, Marco Biancchi, einen scharfblickenden, schon graubehaarten Italienerkopf, dann ihm seine Söhne vorzustellen, dann wieder diesen ihre Unachtsamkeit vorzuhalten, nun wieder auf ein Fenster im fünf-169ten Stock zu zeigen, wo ein weiblicher Kopf herausschaute, ohne Zweifel Porzia, und dann doch wieder staunend auf die große Bagage seines Bruders Marco zu zeigen, die nun abgeladen wurde, und bei alledem auch noch die Umstehenden zum Kaufen zu ermuntern!

E questo possibile! rief er. Dopo quindici anni rivedersi encora! … Asino, dove ai gli occhi! … Questo e mio figlio! Il mio segundo! Questo il terzo! La sopra mia figlia … Fa attenzione, asino! Di non dimenticare, quello che tu ai sopra la testa! … Fratello! Caro fratello! … Ma tu mi sembre un cavaliere! Cielo! Quel gran baulo! Attenzione cocchieri! … Buon albergo! Proprio et buon mercato! … Figuri kauf!

Alles das ging bunt durcheinander.

Bei allen diesen Vorgängen sitzt auf der dritten oder vierten Stufe der Treppe des Hotels Pater Sebastus und verzehrt mit Gabel und Messer, die ihm zur besondern Auszeichnung die Wirthin dargereicht, sein Gemüse und sein Fleisch …

Er thut es sonst so hell umschauend, heute aber wie ein völlig Abwesender …

Erbebend schon von der Begegnung mit dem Rittmeister und Landrath von Enckefuß, dem dritten in dem unheimlichen Bunde von damals, als man sich das Wort gegeben zu haben schien, einen Mann wie den Kronsyndikus, Sprossen der alten Sachsenherzoge, nicht die Folgen einer Uebereilung erleiden zu lassen – war sein Auge, irrend auf der mit Zetteln beklebten Wand, zu der er sich abgewendet, – auf Serlo’s Weib und seine Kinder gefallen …

170 Wenn man sonst von ihm sagte: Da ist ein Mönch, der sich wie die Heiligen in Dornen wälzen könnte! so hätte man es heute wol glauben mögen. Das Reden der Wirthin, das Durcheinander der Bettler, die Begrüßungen und die Ankunft der Italiener hörte er nicht … Mechanisch verzehrte er seine karge Mahlzeit … Schon war er mit ihr zu Ende, saß ermüdet, versunken und starr vor sich niederblickend, die leere Schüssel in der Hand, dicht an die Mauer gedrückt, um niemanden auf der lebhaften Passage der Treppe zu stören …

Da kommt eine schon bejahrte, aber stattlich aufgeputzte Dame mit zwei leicht und behend die Stufen hinaufhüpfenden halbwüchsigen Mädchen …

Plötzlich hielt die Frau inne, betrachtete ihn und redete ihn mit dem Gruße an:

Aber, Herr Doctor! Sind Sie es denn wirklich? Ja, kennen Sie mich denn nicht mehr, Herr Doctor Klingsohr?

Der Bruder Sebastus springt auf, stellt seine Schüssel zur Seite, betrachtet Madame Serlo-Leonhardi und Serlo’s herangewachsene Kinder wie ein Irrsinniger, den jemand auf seine frühere Vernunft anredet und der sich darauf von ihm wie taub abwendet, während doch ein gewisser trauriger Blick der Befremdung auszudrücken scheint, daß ihm eine Ahnung nicht ganz fern läge von dem, was der Anredende meinen möchte und was er einst wirklich gewesen sein könnte … Er sieht die erhitzt aus der zu ihrer abendlichen Vorstellung abgehaltenen Probe Zurückgekommenen mit zusammengedrückten Augen wie zwei-171felnd und in Furcht an und geht von dannen, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben.

Wer die Scene beobachtete und der in Erstaunen und in den lauten Ausruf ihrer Ueberraschung ausbrechenden Schauspielerin den vollen Glauben schenkte, daß dieser Mönch ein ehemaliger Bekannter von ihr, ein Doctor Klingsohr wäre, konnte in der That hinzufügen: Jetzt aber ist es ein Heiliger! Denn Pater Sebastus war vor ihr zurückgewichen, wie vor einer Bewohnerin einer ihm völlig fremden Welt; er hatte ihrer Annäherung sich entzogen, wie einer Unreinen … Der Schein der völligen Entfremdung von seiner Vergangenheit hob und verklärte ihn fast.

Dennoch schoß er an den Häusern dahin wie ein Besinnungsloser … Erst, als ihm jener Dämon, der im menschlichen Innern hockt und der selbst unserm tiefsten Schmerze höhnende Geberden machen kann, sagte: Siehst ja aus, als gehörtest du auch zum Mummenschanz! merkte er auf sich … In dem kleinen Schatten der Mittagssonne sah er sich wie einen verhutzelten Gnomen durch die schattenlosen Gassen schreiten, in einer ihm wie jetzt erst auffallenden Kutte, barhaupt, barfuß … Das ist deine Angst, mit Komödianten verwechselt zu werden, daß du so entliefst! sagten ihm jene innern Stimmen, die er schon sonst „Ironieen des Satan“ genannt hatte und schon damals, noch ehe er an den Satan glaubte … Irrend wankte er dahin … Kindern hätte er sich anschmiegen mögen mit einem: Nehmt mich mit! … In seine Wohnung wollt’ er und fand sie nicht – es war eine kleine Zelle in einem ehemaligen Profeßhause 172 der Jesuiten – dort gab es lange Gänge, selbst unterirdische aus den Zeiten her, wo die Kirchenfürsten diese Stadt als Regenten beherrschten und oft vor dem Trotz und dem Freiheitssinn der Bürger sich flüchten mußten – in eines dieser Verließe wieder, wo er schon öfter dahingetastet, dort mochte er sich verbergen, nur um die innern Stimmen, diese quälenden, zum Schweigen zu bringen … An jeder Kirchthür verbeugt er sich … an jedem steinernen Kreuze schlägt er eines auch auf seiner Brust … die Momente der klarsten Anschauungen, des Witzes, der Unbefangenheit, der schärfsten Kritik über sich und andere, die er heute gehabt, weichen dem Paroxysmus, der schon damals im Mondenschein im Park von Schloß Neuhof die Gespenster Heinrich Heine’s leibhaftig sehen konnte und von den alten Stammers redete, wie wenn sie säßen und Schön Hedwig beweinten, ihr Kind, das ihnen der wilde Jäger geraubt … oder wie er seine Mutter sehen konnte, eine verschleierte Nachtwandlerin, mit der Lampe in der Hand und durch die Ahnensäle der Wittekinds schreiten … oder wie er oft ganz deutlich am Strande der Ostsee Lucinden im nächtlichen Nebel den Klabautermann auf einem Schiffe zeigte … oder wie er später, als er den Saft der Mohnblume wie alles erproben wollte, sich dem Gangesgott im Kelche der Lotosblume verglich … Wie hätte ihn noch der Mord der Buschbeck schütteln müssen, wenn er den in Erfahrung gebracht! Nur war er nicht der Mann des Hörens, sonst hätte er längst davon vernehmen müssen … Der Geist, der jetzt ihn jagte, war – die Erinnerung an Lucinden.

Immer tiefer kommt er in das Labyrinth der engsten 173 Gassen … Nichts will er sehen von den lichteren Straßen, selbst die nicht, wo die Zeitungsexpeditionen liegen, die seine neuesten Artikel verkaufen – dem Laden Klingelpeter’s, wo eben die zinnernen Athanasiusmedaillen in die Welt gehen, schießt er vorüber … Alte Frauen plötzlich, in seltsamen Trachten, den Kopf mit grellfarbigen Tüchern umwunden, sitzen vor verfallenen Häusern und zupfen Werg aus alten Matratzen … Der Staub wirbelt auf … Fremdartig gesprochene Laute wecken ihn … Nichts von den Heiligen, nichts mehr von der Gottesmutter … Bei den Juden ist er … in der Rumpelgasse … Hier wohnen ihrer Hunderte dicht beisammen, Kleider hängen an den Häusern, alte Möbel versperren die Wege, Flaschen und Gläser stehen an den Fenstern und nun erst findet sich der Taumelnde zurecht.

Vor einem der rothbraunen Häuser, gebaut aus Steinen, die vielleicht übrig geblieben von damals, als die Vorvordern der Einwohner dieser Gasse sich einst selbst verbrannten, um der zu Zeiten im Mittelalter epidemischen Verfolgungswuth zu entgehen, stand der wie im Kreise Getriebene plötzlich still und betrachtete den Geschäftsreichthum einer Trödelfirma, die sich „Nathan Seligmann“ nannte …

Hinter ihm aber steht ein Mann, der ihn beobachtet. Es ist nicht unser Löb, der von ihm trotz des Judaeus Apella so altburschikos behandelte Anbeter der heute mit einem Blumenstrauß gefeierten jüdischen Druide Veilchen Igelsheimer, die dem Geschäfte ihres Verwandten vorsteht mit einer Kenntniß des Alterthums und des Gerümpels der Jahrhunderte, die Lucinde an der Maximinuskapelle 174 geahnt zu haben schien, als sie dem Wirth zum „Weißen Roß“ als den eigentlichen Wardein der von dem Knaben verkauften alten römischen Münzen den Ahasver selbst genannt hatte.

Eine andere Persönlichkeit war es, die den Mönch daherkommen und vor dem Trödelhause Nathan Seligmann’s sinnend halten sah …

Den Rücken auf einen Stock stemmend, der fast zusammenbricht von der weniger schweren, als vielleicht ermüdeten Last, denkt das etwa vorhandene Menschenstudium desselben beim Anblick eines in den Trödelkram verlorenen Franciscanerpaters: Pater Sebastus? Der Franciscaner? Will der Juden bekehren? Mit Veilchen Igelsheimer den Anfang machen? Fehlt ihm in seiner Klause ein Luxusgegenstand, den er dort einzuschmuggeln gedenkt unter der Kutte? Eine Lichtputze, eine Lampe zum Studiren, eine Laterne für die unterirdischen Gänge, wenn er die geheimnißvolle alte Pforte im Gewölbe des Profeßhauses finden sollte? … Wie er die Kleider betrachtet! … Doch nicht etwa den alten rostigen Ritterhelm? … Doch nicht den Dreimaster und den Galanteriedegen dazu? … Oder den Frack mit ellenlangen Schösen und die carrirten engen Beinkleider, die ihm vor Jahren ganz gut mögen gepaßt haben?

Der Späher, der selbst wie ein Irrender bald da, bald dort still gestanden und fast die Spalten der Thüren, die Risse der alten Häuser betrachtet hatte, als könnte er sich in sie verkriechen, ja als suchte er nur allein dem Sonnenstrahl auszuweichen, wie weiland der allein in der Nacht lebende Held Trojan, ein Vampyr der serbi-175schen Sage – der Späher tritt in ein Haus zurück … Der Mönch macht eine Bewegung, als wollte er weiter gehen …

Bald aber erkennt der Späher, daß dies Weitergehen nur die bekannte Bewegung ist, die einen andern Entschluß maskirt. Einigemal wendet sich der Mönch, als hätte er sich im Wege geirrt, wäre unschlüssig, sich links oder rechts zu wenden, und ehe er noch darüber von jemand beobachtet zu sein glaubt, ist er verschwunden. Selbst für den Späher ist er es, der in eines der alten Häuser getreten … Scheint dieser doch selber zu fürchten, belauscht zu werden.

Nach einer Weile tritt der Späher wieder hervor und sieht sich vorsichtig um. Die heiße Mittagszeit macht die Gasse menschenleerer als sonst. Dann an den niedrigen Fenstern Nathan Seligmann’s vorüberstreifend, erkennt er den Pater durch die Trödelvorräthe hindurch … Er befindet sich unter ihnen … Was kann der Mönch dort wollen? Er scheint zu handeln? Um was? Er zeigt auf seine Kutte … sieht er dich? Vorübergleitend entschlüpft der Lauscher.

Sein sonst so elastischer Spürsinn ist heute frei von aller Unternehmungslust.

Wankend schreitet auch er dahin … nimmt einen Weg, er weiß es selbst nicht wohin … an den Straßenecken wird ein Anschlag der Polizei angeheftet … Hundert Thaler dem, der eine Spur zur Entdeckung des Mörders der Frau Hauptmann von Buschbeck angibt … Sonst war er so flink, solche Summen zu verdienen, er, der alle Spelunken der Stadt, die Herbergen der Freude und des Raubes kennt … Weiter wankt er, grüßt und 176 achtet nicht des ausbleibenden Gegengrußes … Gewohnt scheint er das … Sonst studirt er jedem, den er grüßt, eine Frage nach seiner Lage, nach seinem Thun und Treiben und eine selbstgegebene Antwort an … Auch heute hätte er Gelegenheit gehabt, seine gewohnten Glossen zu machen.

Da fährt Herr Bernhard Fuld in einem eleganten Coupé mit seinem jungen Weibchen neben sich in ihre Villa hinaus nach Drusenheim …

Der Späher scheint zu denken: Sie fahren wie mit Extrapost! Man glaubt wegen des europäischen Gleichgewichts und vielleicht ist nur eine neue Toilette aus Paris gekommen, die sich vor Ungeduld Madame selber abgeholt hat!

In einem Gig fuhr sich hinter ihm her der Freund der Fulds, Herr Gebhard Schmitz; ein Groom sitzt neben ihm, die Hände ineinander geschlagen, wie wenn er der Herr wäre …

Der Späher sieht ihm nach und weiß vielleicht schon: Ist die bestellte Caricatur am nächsten Sonntag fertig, wenn ihr eure Landpartie macht?

Ein offen zurückgeschlagener großer Wagen mit zwei Damen und einem Herrn biegt um eine Straßenecke …

Der Späher erschrickt im ersten Augenblick, zieht tief den Hut und blickt dem Wagen nach: Madame Hendrika Delring! Sie fährt vor dem Fünfuhr-Diner noch mit ihrem Mann aufs Land, weil sie von einer Gelegenheit gehört haben, für den ersten – gemischten – Enkel des Hauses Kattendyk eine vortreffliche Amme zu bekommen … Die neue Gesellschafterin wol bei ihr? … Nein! Die 177 schreibt an ihren Freund Hunnius, daß im Domstift immermehr Platz wird … Oder ist es die Kleine –

Aufschreckend wankt der Beobachter dahin … immer weiter und weiter … allmählich ermannt er sich und tritt in eine Weinschenke, sich in der Hitze eines Nachsommertages zu stärken …

Doch des Redens über den Mord auch hier kein Ende …

Man klagt die Frau Hauptmännin an und sagt fast, ihr wäre recht geschehen, und schon setzt er an, sie zu vertheidigen und eine ganze Rede wickelt sich in ihm auf: Sehr wohl kannt’ ich die Aermste, aber glauben Sie mir, meine verehrtesten Herrschaften, sie war mehr krank als böse! Die Vortrefflichste glaubte an die Seelenwanderung und war in Fledermäuse verliebt, weil sie hoffte, die würden sie einst durch die Lüfte ins Jenseits tragen! … Für den König der Fledermäuse sparte sie gefangene Mäuse und Batzen und Coupons … O wie oft habe ich sie gebeten, ihre Guitarre neu beziehen zu lassen! Aber nur zwei Saiten wollte sie auf ihr dulden; die eine war sie, die andere Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort, genannt der „Abtödter“ … Wie oft pfiff sie mir sein Leiblied, als er noch schmuck und grün durch die Wälder daherkam aus Holland und Java, wo ihn die Indier gelehrt hatten, wie man Menschen so weit bringen kann, nur noch dreißig Pfund zu wiegen, die Hälfte vom Nettogewichte meines Bauches vor dem Mittagessen! … O ihr hättet sie sehen sollen, die Frau „Baronin“, wenn sie die Thür verschlossen hatte und durch das Schlüsselloch mit mir über den Stand der Zinsen und die Leiden der westfälischen Domänenkäufer 178 sprach, deren Obligationen so werthloses Papier geworden sind! … Das Schluchzen dann hinterm Schlüsselloch hätte euch gerührt und ihr hättet ein Gemüth bewundert, das dreißig giftige Pfeilspitzen liegen hatte und doch allen denen vergab, die sie beschuldigten, ihre Dienstboten nur aus bösem Herzen zu quälen, während es nur ihr unglückseliges Loos war, daß sie in der Nacht Mitgefühl bedurfte, zufällig zu einer Stunde, wo frische und gesunde junge Mädchen zu schlafen pflegen! … Eine, ja Eine, die ist ihr einmal zu Dank gewesen! Das hat sie mir oft erzählt! Die blieb ein Jahr, neun Monate, funfzehn Tage, drei Stunden bei ihr! Die hat sie dann aber auch, so sagte sie oft, ausgestattet wie eine Prinzessin! Auf ein vornehmes Schloß hat sie sie gegeben, wo sie wie eine Prinzessin gehalten wurde; nur seidene Kleider und goldene Spangen mit Juwelen durfte sie da tragen; aber sie war ja selber schuld, kicherte die gute Baronin hinterher, daß sie’s nicht lange genoß … der Nickel wollte auch die Krone haben! sagte sie. Und dann hustete die Edle wie aus feuchten Kellern heraus die liebreichen Worte: Na aber, da haben wir sie schön abgeführt!

Möglich, daß der wirkliche Vortrag dieser Erzählung durch die Erinnerung an das grelle Lachen gehindert wurde, in welches die Hingeopferte nach solchen und ähnlichen vertrauten Mittheilungen sich in Gegenwart ihres guten Freundes und Rathgebers zu verlieren pflegte … Oder was ist es, daß er die Weinschenke verläßt? … Es ist drei Uhr … am Hahnenkamp begegnen ihm vier fröhliche Menschen, unter ihnen sein wärmster Beschützer 179 nächst Dominicus Nück, der Assessor von Enckefuß … Aber ha! Auch Benno von Asselyn, dem er noch gestern Abend so dicht unter die Augen getreten, als wollte er sagen: Sieh mich genau an! Ich bin’s! Unglücksmensch, du, du, den ich möchte – warum sahst du mich so oft Abends von Rendezvous kommen, wo eine siebzigjährige Eule, getrennt von mir durch eine verschlossene Thür, mir ihre Gefühle und ihre stolzesten Hoffnungen auf die Beschämung eines gewissen Ungetreuen, des grünen Jägers, erzählte … Warum blickst du mich so forschend an? Mensch! Was wendest du so den Kopf zum Assessor? Dich, dich möcht’ ich –

Ganz gehorsamster Diener! … Tief verbeugt er sich bei alledem und lächelt …

In fröhlichster Champagnerlaune grüßt Thiebold de Jonge und macht sich den gewohnten „Witz“ mit ihm, im Gespräche Anspielungen zu machen auf das unenträthselt gebliebene Hängen des Sporenritters in partibus, diesen „Witz“, der ihn seit Jahren verfolgt, der ihn so martert, so quält, daß er im Begriff ist, nach Amerika auszuwandern – für immer …

Aber bei alledem zieht der Erbebende seine weiße Halsbinde in die Höhe und sagt, im Stil eines Belesenen, zu Thiebold de Jonge:

Herr de Jonge! Ein Wald! Ein Wald! Ein Königreich für diesen Wald! Bei Witoborn! Wann kann ich aufwarten?

Ihre Eichenwälder sind zu jung! Nicht ein Ast, an dem sich eine rechtschaffene Seele aufhängen kann! Hahahaha! …

So lachte der Spötter und die andern gingen gleichfalls lachend oder fragend und die Köpfe zusammensteckend an ihm vorüber …

180 Daß aber auch der Assessor lachen konnte! knirscht es in seiner Seele …

Er überlegt sich aber alles … Er wohnt in dieser Stadt mit dem Damoklesschwert überm Haupte und sollt’ es eigentlich gern haben, wenn ihn zwar nicht heimlich, doch offen die Polizei fallen läßt. Er muß sich’s ja sauer verdienen, daß man ihn schont und damals auf Nück’s Lachen Rücksicht nahm, als er nach Aachen wollte, nach „Spaa“, wo er später sein „ihm gehörendes“ Geld wirklich verspielt hatte … er mußte sich’s verdienen durch die doppelte Tragfähigkeit seiner Schultern, die linke geistlich, die rechte weltlich … und in der Mitte ein Herz voll Ehrgeiz sogar und ein Mensch, der studirt hat! Sieh! Dieser Herr von Asselyn … Außer Nück und Schnuphase weiß niemand in der Welt als er, daß er in Abendstunden mit Hexen schwärmen kann … Wie er sich vorbeugt zum Ohr der andern und wie sie auf mich zurückschielen! Mensch – dich schleudr’ ich aus dem Wege!

Ein Kieselstein flog vor seinem Knotenstock, daß davon beinahe Herr Joseph Moppes getroffen wurde …

Dieser kam wie immer mit Noten unterm Arm und probirte im Gehen seine Quartette …

Selbst Joseph Moppes, der als halber Virtuose doch Beifall und Popularität nöthig hatte, dankte nur halb dem schnell gebotenen Gruße …

Nun wankt der fast zusammenbrechende Fuß durch die Marcebillenstraße … dicht vor dem Hause des Mannes, den er sollte aufgehängt haben, vorüber … Es ist dasselbe neue stattliche Haus, in dem jetzt bis vier Uhr Nachmittags die Arbeit des Procurators ruhte … nebenan 181 säuselnd sind’s die schönen Linden des Gartens, der zum Hause gehörte, Bäume, die noch gerade so grün und stillbewegt standen wie damals, als er um die Mittagszeit aus dem Fenster gesprungen und das in Gedanken mitgenommene Schlüsselbund zurückgeworfen haben sollte, die Tasche mit 30000 Thalern beschwert … In diesen Garten blickte niemand, als die Zöglinge des daranstoßenden Convicts, die gerade eine Freistunde hatten und an dem Gartengrün die müdegearbeiteten Augen stärkten und ihn nun sehen, ihn verrathen mußten … Fünf Jahre war es her, Hammaker war durch Nück’s Zeugniß von jedem Verdacht freigesprochen, er durfte zu jeder Zeit in das Haus des Mannes eintreten, den er aufgehängt haben sollte; aber wer erträgt die Qual des Verdachts, den Spott, die Anspielungen auf die Procedur des Hängens, wenn die Menschen mit ihm redeten und vom Binden, Schnüren sprachen, ja auch nur von einer „verwickelten“ oder „kurzabzuschneidenden“ Verhandlung … Konnte Er nicht den Kopf erheben? … Noch heute früh nach der Aufnahme des Thatbestandes und der Rückkehr des Assessors vom Frühstück bei Benno von Asselyn … was war nicht alles, als er zitternd unter den Menschen weilte und, zum Tode erblassend, den Assessor auf sich zukommen sah, zwischen ihnen besprochen worden! Die drohende Zunahme der Aufregung, die Stiftung von Gesellen- und Meisterbündnissen, manche Verbrüderung zu Rath und That, die man nicht hemmen konnte und die doch auszuarten drohte im Hinblick auf die Zeit und die schlimmen Ausbeuter der Leidenschaften … Die Gemüther auf dem Lande und in der Stadt von den kirchlichen 182 Fragen aufgeregt … zwei Richtungen sich kreuzend, die politische und die hierarchische, eine der andern zur Seite gehend, solange das nächste Ziel dasselbe … Schon Berathungen hier, Versammlungen dort … Stürmer und Dränger, wie sie in Kocher am Fall geredet, überall … unter dem Landvolk Wortführer, die schon anfangen bei verschlossenen Thüren zu sprechen … Die Regierung von anonymen Warnungen aufgeregt … Winke von den Gutgesinnten, Drohungen von den Feigen … Namen genannt, die die Häupter einer Erhebung werden sollen, wenn es dem Lande an die Kränkung seines Theuersten gehen sollte … Sogar Schnuphase auf den gefahrvollsten Bahnen; denn darin, daß er nur hin- und herreiste zur „Beruhigung“, gerade darin lag die Aufregung … Im Hüneneck, an der Insel Lindenwerth, war der Herd des Ganzen bei einem großsprecherischen Wirthe Namens Joseph Zapf … und der neue John Hampden, der neue Bürger Lafayette, der Sohn des Volkes, der einer möglichen Bewegung zum Haupte dienen konnte … eben kommt er daher …

Ein Mann mit kühnen Schultern und von freier Rede, ein Fürsprech im neubegründeten Severinus- oder Handwerkerverein … Eine große, stattliche Figur von herculischem Körperbau, über die Vierzig hinaus, gerötheten Antlitzes, mit dem Ausdruck gutmüthiger, aber reizbarer Beschränktheit … An dem unter einem langen Oberrock getragenen Schurzfell erkennt man den Küfer …

Wie geht es Ihnen, mein lieber Herr Lengenich?

Ei, Herr Hammaker!

183 Endlich ein Mann, der sich über die Begegnung mit ihm zu freuen schien …

Haben Sie endlich den Proceß gewonnen?

Welchen?

Den Drusenheimer! Schlagen Sie den Blutacker los? Sechshundert Thaler ja wol?

Neunhundert, Herr Hammaker! Ich schlag’ ihn nicht los!

Eigensinniger Mann! Neunhundert Thaler! Viel Moos!

Die Ehre, Herr Hammaker! Die Ehre! Die Ehre! Was ist der Mensch ohne Ehre!

Ein wahres Wort!

Wir, denk’ ich, wir beide wissen es!

Braver Mann! Aber was nützt Ihnen die drusenheimer Ehre?

Wo ich geboren bin, Herr! Bin in die Welt mit Ehren hinausgezogen! Der Acker soll wüst und leer bleiben, bis die Gemeinde und mein Bruder nicht mehr hinter mir rufen: Ab instantia!

Erhaben! Aber –

Verkannt, Herr Hammaker!

Aber –

Ein Ehrgefühl muß der Mensch haben, wo ein Nadelstich ans Leben geht!

Wie fühl’ ich mit Ihnen!

Ab instantia – Wegen Mangel an Beweis! Alle glauben und wissen meine Unschuld! Nur ein Bruder und die drusenheimer Gemeinde sagen: Laß hier deinen Acker! Sagen’s so zweideutig, als wenn ich –

Ruchlos! Ruchlos!

184 Dornen und Disteln und Steine sollen drauf wachsen – ich bin Bürger in Drusenheim und bleib’ es!

Wenn nur – Seligmann nicht Auftrag hätte – Ihnen zu bieten, was Sie wollen! Fuld’s junges Weibchen will einen Pavillon hinter ihrer Villa haben! Es ist so prächtig draußen! Waren Sie lange nicht dort? Ach, meine Heimat! … Ach, meine alte Mutter! …

Guter Herr Hammaker! Auch Sie verkannt! Um diesen Acker hab’ ich Thränen vergossen, mehr, als in Drusenheim Wasser fließt!

Das ist kein Wort, Herr Lengenich! In Drusenheim ist der Bach das ganze Jahr trocken und nur der Saft der Rebe fließt … Eine Prise?

Zitternd wird sie dargereicht … freudig angenommen. Lengenich und Hammaker, wie dieser ihm aufgeredet, sind die Opfer des Ab instantia-Absolvirens. Lengenich lebte in der Dunkelheit der Moppes’schen Weinkeller, wußte nichts von der Oberwelt, nicht einmal etwas von dem Mönche Sebastus, dessen Vater er beschuldigt worden ermordet zu haben, er sah nur immer, wenn es Licht um ihn wurde und er im Severinusverein präsidirte, den Himmel offen und die heilige Jungfrau mit der Wagschale der Themis in der Hand, wie sie ihm zuwinkte und alle Kronen der jenseitigen Gerechtigkeit an ihn austheilte. Seine Stimmung war die des geblendeten Simson, der zuletzt die Säulen der Paläste zusammenreißt … Einen Proceß gegen den Kronsyndikus zu beginnen hatten ihm Nück und Hammaker entschieden widerrathen – fehlte doch vor allem jenes im ersten Augenblick von ihm an der 185 Leiche gefundene Stück eines grünen Tuches, das so plötzlich damals abhanden gekommen …

Glauben Sie Gespenster, Herr Hammaker? fragte Lengenich jetzt und wie heimlich.

Entschieden! sagte Hammaker und zitterte, obgleich er nur scherzen wollte …

Ich sah den Mann, den ich soll erschlagen haben, neulich deutlich und als Mönch sah ich ihn, aber hager und lang – das Gesicht war es –

Der Deichgraf?

Stephan Lengenich erzählte, daß er kürzlich in den großen Weinkellern seines Principals, des Herrn Moppes, einsam gearbeitet hätte. Düster hätte die Lampe neben ihm gebrannt, mehrmals wäre sie ihm ausgegangen, wie zuweilen geschähe, wenn er gerade an den Fässern arbeitete, die an einem der kleinen vergitterten Fenster stünden, die in einen alten unterirdischen Gang einigen Lichtschimmer fallen ließen. Seit Jahren galt dieser Gang für verschüttet oder zum Aufbewahrungsort für Geräthschaften dienend, die zu den noch in der Nähe befindlichen geistlichen Häusern gehörten. Von seiner Arbeit aufblickend, erzählte Stephan Lengenich, hätte er durch das Gitter das volle Gesicht des Deichgrafen erblickt …

Ich glaube Gespenster, Herr Lengenich! Aber manchmal ist es auch blos der Dunst von altem Nierensteiner!

Meinen Sie? In dem Gang steht ein altes Marienbild, nicht weit von einem der Fenster … Halt’ ich die Lampe drüberher oder thun’s die Grubenräumer, die zuweilen durchziehen –

186 So lebendig geht’s da unten her?

Das meiste Leben geben die Ratten, Herr! … Aber das uralte Marienbild, das muß ich mir alle Tage betrachten, obgleich ich eigentlich – die Gnadenreiche vergeb’ es mir –

Ihre alte verrätherische Geliebte in ihr erkennen?

Die nicht! Die andere! Die Geliebte von dem Doctor!

Die gegen Sie aussagte!

Wie aus den Augen geschnitten! Obgleich das Bild schwarz ist – sie hieß auch Schwarz –

Wer? fragte Hammaker zerstreut folgend …

Lucinde Schwarz –!

Lucinde Schwarz! … Hammaker wußte doch sonst alles in seinem Gedächtniß unterzubringen, er hatte auch ein Schubfach für diesen Namen, er wußte das, er konnte es jetzt nicht sogleich wiederfinden, obgleich er erst vor einer Stunde sie zu sehen geglaubt hatte … er grübelte auch: Sollte der Küfer nichts von dem Mönche Sebastus wissen?

Gerne hätte er alles das gesagt, aber Wichtigeres wälzte sein Inneres …

Sie sind zu fromm! sagte er …

Statt aller Antwort greift Lengenich in sein Schurzfell, zieht zwei blinkende zinnerne Medaillen hervor und will eine davon dem Manne darreichen … Dann zieht er sie wieder zurück und sagt: Sie sind ein Studirter!

Herr Lengenich! Ich bin ein Studirter, aber ich habe eine alte Mutter! Drüben in den Sieben Bergen wohnt sie! Ich besuche sie oft! … Ihr zu Liebe lieb’ ich – Gott – und ich – ich kann Ihnen zeigen – was ich auf dem Leib trage …

187 Er deutete auf seine Brust und lüftete ein wenig das Oberhemd, um einige Amulete zu zeigen …

Dann nehmen und behalten Sie! sagte Lengenich. Es ist die – wie heißt der Name?

Hammaker, aufhorchend, liest die Umschrift und spricht das schwierige Wort aus:

Athanasiusmedaille!

Kommt von Rom! … Was ist der Mensch ohne diesen Beistand! Da, Herr, konnt’ ich beichten! Da, Herr, glaubte man mir! Wenn hier etwas an unsern Rechten, an unsern Gesetzen gerüttelt würde –

St!

Vor wem sollen wir uns fürchten?

Nächsten Sonntag – hm! – auch in Drusenheim?

Jeden Sonntag bin ich in Drusenheim!

Ich meine – am Abend – am andern Ufer – am Hüneneck?

Sie wissen –?

Zu Joseph Zapf ?

Ich sollte fehlen?

Würdiger Mann!

Lengenich sah, daß Hammaker über alles unterrichtet war, was vom Rolandswirth Joseph Zapf in dem Drang der Umstände zum Besten der großen Sache des Landes vorbereitet wurde.

Stumm schütteln sich beide die Hände – der Küfer die weiche und zarte des Agenten, dieser die rauhe des, wie es schien, von den geheimen Leitern für die Stunde der Gefahr ausersehenen Vorkämpfers.

Stephan Lengenich ging jetzt …

188 Esel! – lag zwar in dem ihm nachschauenden Blicke Hammaker’s, als der Küfer mit dem an die mächtigen Lenden schlagenden Schurzfell von dannen schritt … aber sein Muth zum Humor verläßt ihn … er sieht die Menschen an den Straßenecken … Hundert Thaler! … Er liest es jetzt selbst: „Besonders ist es wünschenswerth Auskunft zu erhalten über einen Unbekannten, der an einigen Abenden in der Dunkelheit die Ermordete besucht haben soll“ …

Nun hält er sich an einem Mitleser, um nicht umzusinken …

Die Zähne klappern … die Lippen beben und rechnen:

Freitag, Sonnabend, Sonntag! … Dreimal vierundzwanzig Stunden noch bis zu dem Augenblick, wo – Einer am Hüneneck sich den Hals brechen muß! „Unbekannter“! … Einer muß ausgehoben werden aus dem Neste – mit allen! … Ein Bote Nück’s – ist er! Ein Vorredner – ist er! Ein Freisinniger – ist er! Diese tödlichen drei Tage … wenn nur Sonntags neun Uhr alles beisammen! … Wer kann das wissen? … Hier! Dort drüben! Jean Baptiste Maria Schnuphase …

Man fürchtet sich zwar drüben auch vor ihm, wie überall … Er greift aber zu einem Mittel der Demuth …

Weg mit dem Blick von den hundert Thalern an der Straßenecke – da ist ein elegantes Aushängefenster eines Schusters – die glänzenden Schuhe und Stiefel gestatten ihm, in ihrem Spiegel Toilette zu machen … Sein Rock ist gewöhnlich, wenn auch nicht so diogenesartig, wie der bei seinem Gönner Nück … aber seine Wäsche ist sauber, der Hut von derselben grauen Farbe wie der 189 Sommerrock, aber vom feinsten Velpel … Eine weiße Halsbinde legt sich leicht und lose um sein wohlgenährtes Kinn … Nicht nur ist er so sauber rasirt, daß man fast hätte annehmen mögen, Jodocus Hammaker hätte überhaupt keinen Bart, sondern die ganze Hautfarbe des Gesichts ist von einer Weiche, die nur durch die seiner Hände übertroffen wird … Die dunkelblauen Augen haben einen schielenden Glanz, die Nase ist stumpf, dem Munde fehlen einige Zähne … schweigt aber Jodocus oder blinzelt und lächelt süß oder affectirt eine treuherzige Sicherheit, die wieder mit geschäftlichem Eifer verbunden scheint, so liegt nichts Abstoßendes in dem nächsten Eindruck, dem sogar der des Schmachtenden nicht fehlt … Dabei ist die Stimme leise, flüstert und lispelt und steht mit der Höflichkeit des Benehmens in Einklang … Tiefauf seufzt er, sich Muth zu holen … Denn daß sogleich von der gemeinschaftlichen Freundin, dem Opfer dieser Nacht, würde gesprochen werden, weiß er schon … er überlegt, daß er sein Gespräch beginnen will mit einer Verlegenheit für ihn, für die Damen … er weiß, daß dem Anlaß zum Eintreten, den er nehmen will, auch der fünfjährige Spott auf Binden und Knüpfen nahe liegt – dieser Spott, der ihn in acht Tagen nach Amerika führen wird – er wagt aber dies Mittel der Einführung und gibt sich eine Haltung.

Hammaker findet das hohe lichthelle „Gewölbe“ des steinernen Hauses wie immer in seinem saubersten Glanz.

Er findet, umflossen von Weihrauchduft, beide Schwestern zugleich anwesend. Die Nebenthür eines et-190was dunkeln Zimmers, das einen Ausgang zum Vorplatz des Hauses hat, ist offen. Vor Hammaker hat Eva nicht nöthig die Thür zu schließen. Vollkommen weiß er, was drinnen zu sehen ist … Die Schwestern haben dort noch ein Extrageschäft von Herrenhemden … Diese Geschäftsthätigkeit des „Herrn Maria“ war eine willkürliche Ausdehnung seiner Privilegien und brachte ihn mit den Schneidern der Stadt in Collision; allein er nahm nur die Aufträge verschwiegener Herren an und diese gleichsam nur als Vertrauens- und Freundschaftsaufträge.

Auf einem Drehsessel, hochthronend, sitzt da aber auch Herr Maria. Erst vor wenig Stunden ist er angekommen von einer seiner vielen Ausfahrten und schon wieder schreibt er, eine bläulich angelaufene Brille auf der Nase, hochachtungsvollst und tiefergebenst Worte der Mittheilung, die mit allen Feinheiten des Stils und der Interpunktion gerade jetzt – es war für Beda Hunnius – an folgender Stelle angekommen waren:

– – „ohne Zweifel keine andere Bestimmung haben dürfte als, in des hochbetagten, eben verschiedenen Greises Stelle, einzurücken, derowegen eine Verzögerung der Audienz, nicht unwahrscheinlich eingetreten sein möchte, nun aber auch kein Zweifel sein dürfte, daß das Vicariat an einen Candidaten, verliehen werden könnte, welcher, lediglich die kleineren Aemter zu versehen hätte, mittlerweilen die großen dürften, dem jungen Domherrn zugeschlagen werden, worüber, indessen nicht zu zweifeln sein dürfte, daß Ew. Hochwürden zwar keine Berufung dürften zu gewärtigen haben, ohne jedoch 191 nicht unwahrscheinlich sein zu lassen eine schmeichelhafte Erhebung zum Ehren-Kanonikus, falls nämlich, die bevorstehende Visitation durch den Gubernial-Präsidenten von Wittekind-Neuhof, Excellenz, die Hände dem hohen Kirchenfürsten, Eminenz, so ungebunden lassen dürften, als Hochdessen feste Willensmeinung und Geneigtheit für Ew. Hochwürden Wirken über allen Zweifel erhaben sein lassen dürfen und, wenn ich gewogentlichst um Entschuldigung bitten dürfte, daß ich die laufende Mittheilung an Wohldieselben für heute abzubrechen wage, so muß ich die schaudervoll ergebenste Anzeige auch noch eines Mordes anfügen, welcher diese Nacht unbekannterweise einer Dame zugestoßen ist, welche“ –

„Vöter!“ lautete eben an dieser Stelle durch Unisono die Mahnung der Töchter, auf den eben eingetretenen Besuch zu achten …

Aus den tiefsten Labyrinthen des Periodenbaues, aus den Geheimnissen der Curie und einer sich eben in die Reproduction einer Mordscene verlierenden Phantasie erwacht Schnuphase und wendet die blaue Brille nach der Rechten und zu gleicher Zeit auch dem Drehsessel einen nur ganz harmlos gedachten Ruck gebend …

Da aber des Agenten Hammaker ansichtig werdend bekommt sein Schrecken eine Elasticität, die ihn im Nu um die Achse des Drehsessels herumwirbelt, sodaß er gerade mit dem verfänglichen Nacken einem Manne gegenübersitzt, von dem bekannt war, daß er die Menschen an Kronleuchterhaken aufhängte.

Was – „verschöfft“ – uns – die Ehre? stammelt er und windet seine glücklicherweise leichten Beine 192 aus der Umklammerung der Drehschraube des Sessels los und sucht aus seiner schwebenden Lage auf ebenen Boden zu kommen.

Die Töchter stehen minder erschrocken. Herr Hammaker war von jeher gegen sie die Huldigung und Süßigkeit selbst.

Er nähert sich ihnen und äußert mit Artigkeit und einem sich tief unterwerfenden Tone seinen gerührtesten Dank für die ihm gewordene Aufforderung der Fräulein, sich der Erzbruder- und Schwesterschaft zum schwarzledernen Gürtel einverleiben zu wollen, deren Embleme sie vertheilten …

Beide junonische Gestalten sehen sich mit erstaunten Blicken an. Ihre dunkeln Augen rollen, die Augenbrauen senken sich tief niederwärts und ein ersichtlicher Aerger macht sie in dem Augenblicke jede um zehn Jahre älter, d. h. gerade so alt, als sie waren.

„Schwörzlöderner“ Gürtel? fragt Schnuphase zur Besinnung gekommen und ergreift den Brief, den ihm Hammaker als Ausweis entgegenhält …

Es war ein lithographirter und demnach eine an viele Einwohner der Stadt abgesandte Einladung der Fräulein Eva und Apollonia Schnuphase, sich der Gnaden und Ablässe theilhaftig zu machen, die jeden erwarteten, der in die Erzbruder- oder Erzschwesterschaft vom schwarzledernen Gürtel des heiligen Nikolaus von Tolentino eintreten würde.

Sofort erkannte man, daß hier ein Falsum vorlag …

Die Aufregung, die diese Entdeckung hervorbrachte, war nicht gering. Die Damen betrachteten den Brief von 193 allen Seiten, der Vater bat um die Erlaubniß, ihn sämmtlichen geistlichen Herren zeigen zu dürfen, was jedoch entschieden von seinen Töchtern abgelehnt wurde.

Ein „Extrös–tückchen“ der „Pörtei“, rief er, die nicht genug hat, die Kirche zu hindern, nach ihren Gesetzen zu leben, „söndern“ die auch noch –

Ein vollkommen gerechtfertigter Zorn erstickte seine Stimme.

Die Schwestern traten mit dem Briefe bei Seite und flüsterten, von welchem Lieutenant oder Referendar wol dieser ghibellinische Spott herrühren konnte …

Der jetzt aber vertraulichst Eingeführte erhielt alle die Mittheilungen, die er nur über die Versammlung beim Rolandswirth zu hören wünschte.

Das Einverständniß war vollständig … Hammaker seufzte tief auf und zog die eben empfangene zinnerne Medaille, um sie mit Verklärung zu zeigen …

Wie auf ebenso viel Legionen des Himmels hoffend, öffnete Schnuphase eine Schublade des Schreibepults, in der einige Hundert dieser Medaillen lagen.

Dann noch ein Austausch des gemeinschaftlichen Schmerzes über die hingeopferte Dame …

Noch keine „S–pur“? war die dreifache Frage im Unisono.

Mit einem Blick gen Himmel, als wenn allen diesen Leiden nur von oben geholfen werden könnte, empfahl sich Hammaker …

Eine Stunde darauf fand Benno beim Eintreten in Nück’s „Schreibstube“ unter einem Dutzend Pulten auf 194 dem seinigen einen Zettel mit den eben erst rasch hingekritzelten, frisch mit Sand bestreuten Worten:

„Die Erben des Riedbauern Kipp in Euskirchen wünschen über ihres Erblassers Passiva, ehe sie das Beneficium inventarii antreten, eine vertrauliche Recherche – citissime! – Freitag früh Termin in Overladen Fasc. 1310a. – Sonnabend in Sachen ca Fiscum bei Zapf am Hüneneck die Vermessung der Ufergrenze – Ich spreche Sie aber noch um sechs – das Dampfboot geht, glaub’ ich, um acht.“

Es war die Hand des Procurators.

Der Name des Hünenecks war für Benno ein Klang, der ihm auf Augenblicke die Besinnung nahm …

Eine so schnelle Trennung von Bonaventura! Aber drei – drei volle – selige Tage in Armgart’s Nähe – vielleicht eine Begegnung mit ihr!

Zum Arbeiten fehlte ihm alle Sammlung. Er zählte nur die Minuten, bis es sechs schlug. An sein Ohr tönte nur die Glocke im Hafen und das Brausen und Rauschen im Dampfrohr, die mahnenden Zeichen zur Abfahrt.

195 7.#

Bis sechs Uhr hatte Bonaventura auf die Rückkehr des Mönchs gewartet und er hätte dann lieber wünschen mögen, er wäre nicht gekommen …

Der Pater kam in einer Aufregung, die ihm wahrhaft beängstigend wurde.

Gleich die Art, wie er von den mit ins Grab genommenen Lesarten des Origines, dem wirklich erfolgten Tode des bewußten Domherrn, dann von Bonaventura’s Aussichten auf dessen Stelle sprach, war für sein Gefühl verletzend… .

Dann führte er ihn wie in blinder Wahl einem Thore zu … Er versprach ihm den angenehmsten Eindruck von einer Promenade um die alten Wälle der Stadt. Einige der letztern waren zu öffentlichen Vergnügungen bestimmt. In mäßiger Entfernung von einem solchen, den man den Apostelgarten nannte, beredete er Bonaventura, sich mit ihm auf eine im Gebüsch versteckte Bank zu setzen und durch eine Oeffnung der Gesträuche dem Treiben in dem überfüllten Lokale zuzusehen. Da und dort standen Tische und Lauben, die immermehr sich besetzten und füllten; Kellner und Kellnerinnen schritten 196 hin und wieder von einem nach außen angebrachten Büffet eines einstöckigen langen Hauses. Rings hatte das Auge die Aussicht auf Häuser und Gärten, auf alte zerklüftete Mauerreste, hier auf einen wohlerhaltenen epheuumwundenen Thurm, dort auf eine baumbeschattete Kapelle, in weiterer Entfernung auf eine neue Ringmauer, Theile neuer Befestigungen, dann über sie hinweg auf die Kette der Sieben Berge – alles das vermochte auf einige Zeit zu fesseln … Sogar eine Nachtigall schlug plötzlich und der Mönch lachte über seinen Begleiter, der nicht sogleich entdeckte, daß dieser nach der Jahreszeit völlig unmögliche Ruf von einem Künstler kam, der drüben die Vogelstimmen nachahmte.

Hören Sie nur! rief der Pater, als Bonaventura die Kunst des Mannes bewundern mußte, der bald auch die Lerche steigen und die Amsel singen ließ, die halbe, nicht fertig gewordene Nachtigall, wie Sebastus sie nannte. Sehen Sie nur den Menschen! fuhr er fort. Ist es nicht ganz ein Affe! Und doch hat er so sein Ohr erzogen! Wie er den kleinen Nachschleifer trifft, wenn Hans Kanarienvogel mit der Roulade fertig ist und ganz armselig hintennach noch ein kindisch Tönchen gibt, als wäre der große, mächtige Triller vorher gar nicht so majestätisch gemeint gewesen! Wie dumm sieht der Mensch aus und alles das hat er belauscht im Walde und auf dem Vogelmarkt! Auf Noten steht das nirgends geschrieben! Ich wünschte, daß Sie ihm für diesen Blick in die Natur einen Groschen schenkten; ich habe kein Geld …

Der Vogelmensch kam jedoch nicht. Er sah die beiden Geistlichen, verbeugte sich in der Ferne und ging …

197 Nun spielten drei Mädchen zugleich mit einem Alten ein Concert. Eins spielte die Harfe, zwei die Geige, der Alte strich das Violoncell …

Bonaventura wollte gehen; aber der Mönch, der sein geistlich Kleid ganz vergessen zu haben schien, sagte:

Wie das toll ist, wenn Mädchen die Geige streichen!

Die Spielerinnen waren keine Kinder mehr. Aufgenestelten Haares, mit versilberten Pfeilen in den Flechten, in blauen Kleidern mit rothen Shawls, die sie vor ihrer Production abgelegt hatten, strichen sie die Geige, herausfordernd, sicher und trotzig. Vorher hatten sie Handschuhe ausgezogen …

In alten Tagen, sagte der Mönch, konnt’ ich nun einer solchen Vagabunden-Romantik nicht widerstehen! An solches Volk mußt’ ich herantreten, mußt’ es nach seiner Heimat fragen und aus ihm heraus mir Poesie des Lebens locken … Nur hölzerne und lackirte Sirenenköpfe sind’s! Ganz, wie sie auf der hamburger Rhede auf die Brust der Dreidecker gestellt werden!

Und als weilte des Mönches Phantasie jetzt auf dem Hamburger Berge, so summte er für sich hin und sinnend im Heine’schen Tone:

Es kichern und lachen die Geigen
Wie Mädchen, trunken vom Wein,
Die Clarinetten meckern
Wie Böcke und Satyrn hinein;
Die Flöte schluchzt, wie wenn dem Monde
Des Schneiders Herz klagt, was es litt!
Der Baß und die Pauke, die Alten,
Die reiten zum Blocksberg mit!

198 Bonaventura erhob sich. Der Mönch folgte wie in taumelndem Schritte …

Wol eine halbe Stunde gingen beide völlig lautlos nebeneinander … Bonaventura, erschreckt von der noch so offenbaren Unfertigkeit des neuen Gebäudes im Innern seines Begleiters, dessen Gerüst Pater Sebastus doch mit soviel weithin in die Welt hinausschallenden Axtschlägen gezimmert hatte … Dieser selbst mit ersichtlich sich hebender Brust, kämpfend und ringend mit Dämonen der Erinnerung …

Ja, Sie Glücklicher! sagte er nach einer Weile zu Bonaventura, obgleich kein Wort des Vorwurfs von dessen Lippen gekommen …

Wieder ein langes Schweigen … Dann blieb in einer Straße, auf dem Römerwege, der Mönch stehen und sagte:

Das da ist das Karmeliterinnenkloster! Ich kann es nicht sehen, ohne zu ahnen, daß auch mein Lebensloos einst … Du guter Pater Ivo! … Lang und hager schreitet unser Pater Ivo dahin, grüßt niemanden, ist immer nur mit sich selbst beschäftigt … Morgens, Mittags, Abends vollführt er das Amt unseres Tafeldeckers … Er hütet streng seinen alten Wandschrank, in dem unsere hölzernen Teller, unsere Krüge, unsere Brotmesser liegen … Sorgsam deckt er den Tisch … Nie wird er den Teller des einen mit dem des andern vertauschen … redet man ihn aber an, so hört er nicht … Tief ist er mit sich, mit seinen Tellern und mit seinen Geistern beschäftigt … Früher waren es Fliegen, die er so in Gedanken haschte … Ivo hatte ein schönes Schloß, in 199 unsern Bergen … er erklärte es verkaufen zu müssen, weil es von Fliegen wimmelte … Niemand sah diese Fliegen; nur Er war Tag und Nacht hinter ihnen her und jagte sie sogar im Winter und im Frühjahr … Bald bekamen die Fliegen eine andere Gestalt … Sie verwandelten sich in schöne Frauen … Alle die Bilder, gemalte und lebendige, die mein Freund – Jérôme von Wittekind – (Sebastus hielt eine Weile inne) und Graf Johannes von Zeesen auf ihren Reisen in Frankreich und Italien gesehen, umschweben wieder den Pater Ivo, aber er betrachtet sie wie ein unschuldiges Kind … Er kennt die ganze Gefahr dieser Erscheinungen … Es sind schlimme Meerweiber, Melusinen, Helenen, um die Paris wirklich und Faust nur gespenstisch freite – ihm selbst sind sie längst unschädlich geworden, schon seitdem er Therese von Seefelden kennen lernte und sich mit ihr verlobte, leider nur auch diese zu bald verwechselnd mit der einzigen Frau, die ihm von allen persönlich bekannt geblieben, dem „Ewig Weiblichen“ genannt Maria … Dem Dienste der Gottgebärerin widmete er sich, sammelte alle Lieder, die je auf sie gedichtet und gesungen wurden, gab sein Vermögen für eine Stiftung der Krankenpflege, die seine Familie schon seit einem Jahrhundert begründen sollte – der Irre einem Irrenhause! – und verjagt nun in unserm Kloster, das er in noch zuweilen lichten Momenten betrat, die Bilder, die – nur zu lebhaft noch vor anderer Augen schweben! … Husch! Husch! ist sein stetes, leise vor sich hingesprochenes Wort und sein Singen im Gehen das Lob Mariä … Diesen Gesängen, die er vor sich hinmurmelt, schreibt er eine 200 große Kraft zu; selbst am Hochaltar flüstert er: Husch! Nicht für sich, sondern für uns verjagt er die Melusinen … Ich sehne mich nach seinem Husch! … Hier in dem Kloster betet Schwester Therese für ihn – und um die Verzeihung der Gottesmutter, daß sie eine Zeit lang eifersüchtig auf sie war.

Wenn auch diese Erzählung wie etwa das Adagio einer auf einer Straße spielenden Musikantentruppe vom Wagengerassel übertönt wurde, klang sie doch in Bonaventura’s Innern tief schmerzvoll nach. Die Fülle sah er jener krankhaften Erscheinungen, die von ihm nicht geahnt wurden, so oft man von Wiedererweckung des alten kirchlichen Lebens sprach. Oder sollte er der Stimme seines Innern Gehör geben, die ihm mit seltsamer Erregung zuflüsterte: Ist dem Mönche – Lucinde begegnet?

Es war Abend geworden … Das Angelus läutete … Arbeiter drängten sich in den staubigen Straßen … Das Gewühl nahm so zu, daß Bonaventura von des wie träumenden Mönches Seite abkam und dieser ihn entweder plötzlich verlassen oder aus den Augen verloren hatte … Den Eindruck des fast Gespenstischen, den ihm der Mönch machte, nährte auch der Umstand, daß er so harmlos Jérôme’s als seines Freundes erwähnen konnte, gar nicht wissend, wie es schien, daß Bonaventura mit Jérôme verwandt war … Wie ein Lebendigbegrabener erschien ihm der Mönch, wie ein Todter, der anfing sich seinen Leichentüchern zu entwinden.

Bonaventura suchte Benno auf und fand ihn in seiner Wohnung mit dem Vervollständigen seines Koffers beschäftigt.

201 Ich muß abreisen, sagte Benno aufgeregt; noch heute, guter Freund! Morgen früh schon hab’ ich am Hüneneck einen Termin abzuhalten! Das Dampfschiff geht in einer halben Stunde!

Wie gern hätte sich Bonaventura ihm angeschlossen! Morgen sprech’ ich wol den Kirchenfürsten! sagte er.

In drei Tagen seh’ ich dich wieder als designirten Domherrn, den jüngsten aller Kirchenprovinzen germanischer Zunge!

So hohe Erwartungen ablehnend, half Bonaventura dem Freunde und begleitete ihn in einem Wagen in den Hafen, in kurzer Erzählung alles zusammenfassend, was ihm der Tag an Erlebnissen und schmerzlichen Bereicherungen seiner Seelenkunde eingetragen.

Benno empfahl dem Freunde aufs dringendste eine Anknüpfung mit dem „guten Kerl“, dem Thiebold de Jonge, von dem er keinen Abschied hatte nehmen können.

In die Beziehungen beider Freunde zu Armgart war Bonaventura nicht eingeweiht.

Auch blieb kaum noch die Zeit, der Meldungen an den Oheim in der Dechanei zu gedenken und Benno’s Worte zu vernehmen:

Bei Nück erfuhr ich’s, es ist kein Zweifel, die Ermordete ist eine Schwester unserer guten Tante! Seit Jahren sind sie getrennt! Was ihr Geiz zusammenscharrte, hat sie dem Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort vermacht! Das Meiste davon fehlt aber, da der Mörder die Gelegenheit kannte und die werthvollsten Papiere und Gold und Silber an sich raffte! Wer die That vollbracht hat – ich glaube die teuflische Hand 202 zu kennen! Noch aber hab’ ich meinen Verdacht gegen niemand auszusprechen gewagt, denn ich fürchte den Zusammenhang mit Personen, die zu schonen sind. Komm’ ich zurück, so soll mich nichts hindern, meine Vermuthungen auszusprechen, wo die rechte Stelle ist.

So, fast nur von Einem Gedanken beherrscht, fuhr Benno von dannen. Bonaventura mußte eilen, das Dampfboot zu verlassen …

Ein banger, erwartungsvoller Abend dann … er fand die Berufung zum Kirchenfürsten für morgen vor.

Der Mönch kehrte nicht wieder und Bonaventura war dessen froh … Er sann und sann:

Ist hier Christus oder Belial?

Er mochte nicht richten … ja er gestand zu, Gott schenkt jedem Menschen besondere und nur für ihn berechnete Offenbarungen. Diese stehen in keiner Bibel, in keinem Buche, sind überhaupt nicht mit Worten zu fassen und zu bezeichnen. Sie sind ein einziger Klang, den wir aus dem Sphärenall wie herausgefallen zu vernehmen glauben, ein Glanz wie von einer Sternschnuppe, wenn diese eine Störung genannt werden kann in der ewig gleichen Harmonie der Weltbewegung … Solche Offenbarungen gibt der stille Wald, das Murmeln der Quelle, auch der leise Schlag einer Uhr, die wir auf dem Tische vor uns liegen haben. Da sickert so Tropfen an Tropfen hinunter in den großen Zeitenstrom und macht uns sorgloser durch das Gefühl, daß alle Dinge irgend an einer Grenze ankommen müssen … Er mochte nicht richten.

Eine starke Waffe in allem Leid und aller Anfechtung 203 der Seele ist dann reine Liebe. Die reicht einen ehernen Schild dem Arm zum Kampfe gegen Leidenschaft und Ungeduld. Ihr Visir schützt das Auge, nichts zu sehen von den Lockungen der Welt. Reine Liebe hütet selbst die Träume. Ohne Kampf entwaffnet sie die Gedanken und verklärt sie mit himmlischem Lichte, daß nur das Gute und Edle in uns lebt … Pflanze, Jüngling, reine Liebe schon auf den ersten Ringplatz deiner Berührung mit der Welt! Reine Liebe im Herzen, wirst du im Alltäglichsten dich vom Duft des Schönen, vom Palmenfächeln des Großen, vom Hosianna innerer Siege umweht fühlen!

So lebte in Bonaventura ein Name, der alles Chaos in ihm ordnete … Paula … und ein ferner Männergesangchor sang dazu durch die stille Nacht: Das ist der Tag des Herrn!

Am folgenden Morgen mit dem Schlage Zehn trat er in den kirchenfürstlichen Palast.

Sein Herz klopfte, als er durch die langen Corridore des Hauses dahinschritt.

Verblaßte Malereien zierten zuweilen das Stuckgetäfel der Decken; an den Wänden hing hier und da eine alte Schilderei in schwarzem, wurmstichigem Holzrahmen, ein alter Städteprospect von Merian, eine alte Landkarte von Homann; in vereinzelten Nischen standen Heiligenbilder, mit frischer, lichter Oelfarbe überzogen, im dürftigen und selbst beim Heiligen weltlichen und koketten Geschmack der Zopfzeit, Engel auf Stellungen berechnet, Marieen auf Faltenwurf …

In einem düstern Eckwinkel lagen die Wohnzimmer des Kirchenfürsten. Im Gegensatz zu den auf den fri-204volen Luxus des vorigen Jahrhunderts deutenden Corridoren waren diese Zimmer so dürftig ausgestattet, wie Actenstuben oder Sessionssäle.

An der Unruhe eines zuerst kommenden großen Wartezimmers hätte man eher glauben mögen, sich bei einem Minister, als bei einem hohen Geistlichen zu befinden …

Eine der hohen Thüren führte in das General-Vicariat …

Hier klirrten sogar die Sporen der Gensdarmen, die Säbel der Ordonnanzen. Man brachte vom Gouvernement und von der Militärverwaltung Fragen und Antworten, holte und gab Bescheide. Kanzleiboten trugen Acten ab und zu. Dazwischen gingen und kamen Geistliche und Ordensfrauen. Wer nicht beim Generalvicariat oder beim Kirchenfürsten sofort Einlaß bekommen konnte, saß harrend und mußte nach neukirchlicher Sitte jeden unbeschäftigten Augenblick zum Heile seiner Seele nutzen. Man grüßte mit neugierig aufblitzenden Augen und warf den Blick sogleich wieder in das Brevier, das man aufgeschlagen auf dem Schoose liegen hatte. Ein schwerer Druck lag auf allen, nur auf denen nicht, die als Sendboten oder Vertreter der weltlichen Gewalt kamen.

Der junge von Enckefuß fehlte nicht. Er setzte einem jungen, hagern, lächelnd, doch aufmerksam zuhörenden Geistlichen mit lauter Stimme auseinander, daß die einen nahen Wallfahrtsort besuchenden Züge nicht durch die Stadt gehen dürften; er beschrieb die Route, die sie zu machen hätten, und wünschte, da er eine Auswahl anbot, in Kürze die Wege zu wissen, die der Kirchenfürst gewählt 205 wünschte, da es an Aufsicht dabei nicht fehlen sollte. Des jungen Beamten Haltung und Rede war fest und bestimmt, scharf und kalt, wie dies der Ghibellinen Weise.

Auch Civilpersonen aus dem Volke sah man. Es mochten Dorfvorstände und städtische Abgeordnete sein. Ihnen setzte der junge schlanke Priester, meist mit Achselzucken und einer gewissen Duldermiene, auseinander, daß die von ihnen erwarteten höhern Bescheide immer noch nicht eingetroffen. Es galt dies ohne Zweifel jenen Pfarrstellen, die allein besetzen zu dürfen die Kirche so dringend begehrte und die sie die weltliche Gewalt beschuldigte, wenn die Stellen gut waren, so lange offen zu halten, bis nur diejenigen damit belohnt würden, die darauf hin eine entsprechende Gesinnung zeigten.

Der Schlanke, etwas niedergebeugt gehende junge Geistliche trat auf Bonaventura zu und sprach, als er dessen Namen vernommen, ein freudiges:

Ah, Herr von Asselyn!

Sogleich fügte er hinzu, er würde alles versuchen, den Herrn Pfarrer von St.-Wolfgang sobald als möglich an die Reihe der Vorgelassenen zu bringen.

Bonaventura sah, daß er mit dem vielgenannten Secretär, Kaplan Michahelles gesprochen.

Dieser war in die innern Räume eiligst wieder zurückgekehrt …

Das Wesen des jungen Mannes zeigte sich charakteristisch genug. Seine Gesichtszüge waren scharf, geistvoll und von einer eigenthümlich lächelnden Ironie, die auf ein zwar zurückgehaltenes, aber doch sich ganz so stark, ganz so berechtigt, mindestens so muthig fühlendes Bewußtsein schließen 206 ließ, wie es allen katholischen Priestern, von Seiner Heiligkeit, dem „Knechte der Knechte“ an bis zum untersten Dorfpfarrer, eigen ist.

Auch Bonaventura zog sein Brevier und setzte sich an ein Fenster des großen Zimmers, das auf die jenseitige Straße ging.

Wenn hohe Würdenträger kamen, standen die Geistlichen und Klosterfrauen auf …

So vor dem Generalvicar, der eben aufgeregt und verstimmt von dem Kirchenfürsten zurückkehrte …

Man wußte, daß mit jenem sowol der Letztere, wie der Syndikus der Curie und diejenigen einflußreichen Glieder des Kapitels, die sein „gewaltiges Vorschreiten“ misbilligten, im Streite lebten.

Auch vor dem Regens des Seminars erhob man sich, der gleichfalls wie nach einem Wortwechsel vom Kirchenfürsten zurückkam …

Bonaventura erfuhr die Namen. Einige der streitigen Punkte kannte er. Die Seminaristen, angesteckt von dem neuen Geiste der römischen Opposition, hatten an dem Kirchenfürsten Vorschub gefunden in gewissen Auflehnungen gegen die vom Staat beliebte und vom Regens vertretene Ordnung des Seminars.

Einige Professoren der Universität, die eine von Rom verurtheilte Dogmatik gelehrt hatten, kamen in besonders gedrückter Stimmung und stellten die Bitte, den Kirchenfürsten sprechen zu dürfen. Bonaventura kannte sie und war fast der einzige, der sie grüßte. Einige von ihnen waren zugleich Lehrer eines Seminars und ihnen war es geschehen, daß sie plötzlich keine 207 Schüler mehr hatten. Im Beichtstuhl hatten alle Alumnen auf Befehl des Kirchenfürsten geloben müssen, ihre Vorträge nicht mehr zu besuchen.

Michahelles kam zurück, trat verbindlichst zu Bonaventura und zog ihn zu sich an eine Fensterbrüstung …

Sie werden sogleich vorkommen! flüsterte er und setzte mit leiserer Stimme hinzu: Ich freue mich, von Eminenz schon die Erlaubniß zu haben, Sie mit seinem Vorhaben bekannt zu machen! Wenn Sie die angenehme Erinnerung, die er seit lange an Sie nährt, wieder erneuern und Sie noch einige Tage der nähern Prüfung und Verständigung werden zu Ihren Gunsten überstanden haben, so ist es seine Absicht, Sie ganz und mit wichtigen Aufgaben an uns zu fesseln!

So stand das Gefürchtete wirklich in Aussicht …

Ein Diakonat an der Kathedrale und eine Domherrenstelle sind offen; fuhr Michahelles fort und setzte mit noch gedämpfterer Stimme hinzu: So könnten Sie auch Hoffnung gewinnen, sich wieder Ihrer Heimat zu nähern, denn das wechselnde Besetzungsrecht des Archipresbyteriums St.-Libori bei Witoborn, das mit dem erledigten Vicariate eine jeweilige Visitation der dortigen Pfarrei verbindet, fällt diesmal an uns, d. h. an unsern Vorschlag. Die Lutheraner haben, wie immer, die Entscheidung …

Diese mit einer seltsamen Schärfe vorgetragene Mittheilung erschütterte Bonaventura.

Er mußte nach dem angedeuteten, ihm unbekannten Verhältniß noch einmal fragen …

Michahelles erklärte es:

208 In die alte Kirche St.-Libori bei Witoborn sind fast sämmtliche Dorste’schen Besitzungen eingepfarrt. Seit urdenklichen Zeiten steht über dem Pfarrer derselben ein Archipresbyter, der bald von der diesseitigen, bald von der jenseitigen Kirchenprovinz bestimmt wird. Sie würden sicher zuweilen gern bei Westerhof leben, wo gegenwärtig die Gräfin Paula in so schwierige Verhältnisse verwickelt wird! Daß sie auch seit kurzem wieder von ekstatischen Zuständen begnadet ist, wird Ihnen bekannt sein! Es würde zu den erfreulichsten Zeichen unserer Tage gehören, wenn sich das Beispiel der gottseligen Emmerich wiederholte und auch uns wieder eine Seherin und Prophetin erstünde!

Und mit einer nicht mehr zu bewältigenden Macht drängten sich auf Bonaventura’s Herz die Gedanken: Deshalb beruft man dich! Du, du sollst es sein, der wieder eine „Nonne von Dülmen“ ins Leben rufen hilft! In deiner Nähe sieht Paula den Himmel offen, in deiner Nähe heilt sie Kranke und sagt die Zukunft voraus! …

Und noch ehe der lächelnde, aber die wohlwollendste Ermuthigung sprechende Blick des Kaplans diese Ahnung bestätigt hatte, mußte er abbrechen und zu einem eben Eintretenden eilen …

Dies war die oberste Persönlichkeit der weltlichen Behörden der Stadt selbst, ein mit Orden bedeckter Präsident. Er kam feierlich, in erregter Haltung und, wie es schien, mit einem officiellen Auftrage.

Von einem Wartenlassen war da keine Rede. Sogleich öffneten sich zum Kirchenfürsten alle Thüren …

209 Michahelles flüsterte im Vorübergehen in Bonaventura’s Ohr:

Der längst angekündigte eigenhändige Brief des Königs!

Michahelles folgte erwartungsvoll …

Alles war vor dem Präsidenten aufgestanden. Auch aus dem Generalvicariate waren Geistliche und Weltliche getreten, die ohne Zweifel die feierliche Auffahrt des Präsidenten beobachtet hatten. Alles schien in höchster Spannung. Bonaventura wußte, daß es eine Entscheidung über die gemischten Ehen galt. Sein Sinn war getheilt, sein Herz im Kampfe … Ihn hatte man ausersehen, den Kampf um Paula’s Erbe mitzukämpfen! Ihn wollte man in die Nähe eines Wesens senden, das ihm unendlich theuer war, wie ohne Zweifel von früher her Manche wußten … Dem Kloster, der Kirche, dem Kampfe der Parteien sollte er eine große Eroberung gewinnen!

Die Gedankenreihe auszuführen in allen ihren Folgerungen – in ihren seligen, in ihren tiefschmerzlichen – behielt er nicht Zeit …

Der Präsident kehrte nach kurzer Weile zurück, ebenso feierlich und bestimmt, wie er gekommen …

Er grüßte die sämmtlich sich Verneigenden. Dem Generalvicar drückte er die Hand …

Diesem entschlüpfte ein bedeutungsvoll aufgeschlagener Frageblick – jenem ein Achselzucken …

Alles das war ein Moment …

Bonaventura mußte voraussetzen, daß der Brief des Königs kurz und bündig übergeben und ebenso von dem 210 Priester Immanuel entgegengenommen war und daß der täglich erörterte Streit heute von beiden Seiten ohne weitere Wiederaufnahme blieb.

Wie sehr mußte er annehmen, den Empfänger in einer Aufregung zu finden, die seine kleine Sache in den Hintergrund drängte!

Michahelles kam, fertigte die Professoren ab, sagte laut und fast verletzend, daß sie Seine Eminenz vor völliger Unterwerfung unter das Breve Roms, das ihre Lehre verwarf, nie empfangen würde, winkte Bonaventura und ließ diesen eintreten.

Bonaventura mußte zwei Zimmer durchschreiten …

An einer kleinen Thür stand ein greiser Diener in alter verschossener grau und grüner Livree …

Er öffnete …

Bonaventura stand vor dem Kirchenfürsten.

Nicht mit einer leisesten Bewegung verrieth der Priester Immanuel, wie es ihn aufregte, eben von seinem Landesherrn ein eigenhändiges Schreiben empfangen zu haben. Ja, auf einem grünen Tische lag dies Schreiben noch … Es trug die blaue Farbe der Cabinetsbriefe … Mehr noch! Das Siegel war uneröffnet.

Priester Immanuel war derselbe, der als Graf Truchseß-Gallenberg, als Generalvicar und Domherr in Bonaventura’s Erinnerung lebte … Mager, starkknochig, länglichen Antlitzes, hart, ernst. Kein Strahl einer besondern Freude, den jungen Mann, den er als Studenten und Soldaten gesehen, nun als Priester des vorzüglichsten Rufes zu begrüßen, brach aus seinen Augen. In einfachen Worten erinnerte er sich der Scenen von 211 früher. Er freute sich zu hören, daß Bonaventura von seiner Mutter wenig wußte und über die Lebensverhältnisse des Stiefvaters nur ganz oberflächlich unterrichtet war. Bonaventura sah, daß Benno’s Voraussetzung, er sollte zur Vermittelung bei der erwarteten außerordentlichen Mission seines Stiefvaters gebraucht werden, eine unbegründete war.

Der Kirchenfürst rauchte aus einer kurzen Meerschaumpfeife. Er machte den Eindruck eines Oberjägermeisters alten Stils oder, wenn man erwog, daß er den Brief eines Königs unerbrochen lassen konnte, eines jener Fürsten, die wenn auch nur über wenig Quadratmeilen gebietend doch um Kaiser und Reich sich wenig kümmern, wenn sie auf irgendeinem in ihrer Souveränetät begründeten Rechte glauben verharren zu dürfen.

Wir müssen aus dem Geiste leben! sagte er im Anknüpfen der ersten Begrüßung an die frühere Begegnung und in den Intervallen des Rauchens. Jede Geburt und Wiedergeburt bringt Schmerzen! Ist eine Mutter ein großes Wort, ist der Geist ein größeres! Unsere Mutter ist die Kirche!

Und dann, als wäre die ganze Welt in Frieden mit ihm und keine andere Wolke für ihn zu zerstreuen, als die aus seiner Meerschaumpfeife, erkundigte er sich nach Bonaventura’s Bildungsgang.

Auf- und abgehend, wünschte er von den Ergebnissen seiner Seelsorge zu hören, kam auf das nahe gelegene Kocher am Fall, vermied des Dechanten zu erwähnen, rühmte aber den dortigen Aufschwung der Ge-212müther und deutete offenbar die Bestrebungen des Stadtpfarrers an, wenn er sagte:

Nur ist es unsere Pflicht, bei solchem Festhalten an dem Felsen, auf dem der Herr seine Kirche gegründet wissen wollte, Seltsames und Auffallendes zu vermeiden! Es sind mancherlei Gaben und mancherlei Aemter. Nur pflege und warte man jener ebenso im Geiste der Mäßigung, wie dieser nur im apostolischen Sinne! Die Grenzlinie erlaubter Bewährung eines Talentes, wo sie plötzlich Ruhmsucht wird, ist bald überschritten. Ich sag’ es nicht zuerst: Selig sind die Armen am Geist!

Mit diesem Seitenblick auf Hunnius’ schriftstellerische Thätigkeit forderte er Bonaventura auf, sich zu setzen.

Da er es selbst nicht that, verhielt sich Bonaventura zögernd …

Der Kirchenfürst eröffnete ihm jetzt, daß er ihn an die Kathedrale zunächst als ersten Vicar berufen, demnächst aber auch für die erledigte Domherrenstelle vorschlagen wolle.

Von Widerspruch konnte nicht die Rede sein.

Er hoffe, fuhr der Kirchenfürst fort, daß Herr von Asselyn den Geist besäße, den jetzt die Kirche brauche, nicht Hirten allein, auch Reisige …

Wir haben schon Großes errungen und werden mehr erringen! sagte er und blickte dabei ruhig auf das rothe Siegel des uneröffneten Königsbriefs.

Bald bemerkte Bonaventura, daß der Kirchenfürst noch mehr auf dem Herzen zu haben schien, irgendetwas, das er noch Anstand nahm sofort auszusprechen. Offenbar wollte er erst den Geist ergründen oder bestärken, 213 der seine weitern Aufträge vernehmen und ausführen sollte.

Wenn ich zurückdenke an meine Jugend! begann er, ruhig fortrauchend und dabei auf- und abgehend, während Bonaventura stehen blieb und nur auf die Lehne des von ihm ergriffenen Sessels sich stützte … Als ich in Ihrem Alter war, Herr von Asselyn, welche Zeit, welche Welt damals! Bonaparte haßte die Kirche! Er haßte sie mit dem Ingrimm eines tückischen Italieners, für den das Heilige seinen Zauber verloren hat, da er diesem Zauber zu nahe steht! Bonaparte trug alle Merkmale des Antichrists! Aus der Revolution und dem Atheismus hervorgegangen, hatte er den ganzen Hochmuth der Vernunft gegen die Lehren des Christenthums geerbt! Hervorgegangen aus der Schule Robespierre’s besaß er dann auch wieder die tolle Neigung dieses Scheusals, aus dem Zerstörten etwas Neues aufbauen zu wollen! Das Fest des höchsten Wesens, das man wieder einsetzte mit Fahnen und Trommelpyramiden, Janitscharenmusik und Kanonensalven, das war so ganz schon im Charakter seines Schülers Bonaparte! Beide besaßen diesen gefährlichen Aberglauben des Atheismus, der zuletzt, weil der Mangel aller Religion im Menschenherzen eine Unmöglichkeit ist, irgend wieder doch etwas zum Halte haben, zum Gott machen muß, seinen eigenen Schatten, ein goldenes Kalb, ein geschmücktes Nichts, ein Philosophem. Diese Ironieen des Satan, wie sie neulich eine schriftstellernde Feder nicht unpassend nannte, sind deshalb gefährlich, weil sie sich wie der erhabene Ernst Gottes geberden. Wäre dem babylonischen Ty-214rannen zuletzt nicht das Bedürfniß nach Ruhe gekommen, noch hätte er den ganzen Voltaire, der in ihm lebte, ausgetobt in seinen mit den Waffen gestützten Institutionen. Bonaparte war das im Großen, was Friedrich der sogenannte Große nur auf kleinem Gebiete, mit Bonmots und Epigrammen war. Bonaparte würde, hätte er sich zuletzt nicht elend und krank gefühlt und den Bruch mit den Franzosen, die ihr Blut und ihr Vermögen nicht länger opfern konnten und mochten, klug gewittert, den Krieg mit Rom viel länger und lieber geführt haben als den mit den Königen. Er brauchte Verbündete und so schloß er mit heuchlerischer Freundschaft Frieden mit einer Religion, die er erst mit Füßen getreten und dann in armselige, vom Theater erborgte Lumpen kleiden wollte! Das aber, mein lieber Herr von Asselyn, das war nun das Beispiel, das damals der Gewaltigste seiner Zeit den andern Gewaltigen gab! Diese Späßchen ahmten diese Menschen ihm nach! Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts hatte ja die Kirchen entvölkert; der Beichtstuhl stand ja leer; die äußere Veranstaltung, die noch vom kirchlichen Leben vorhanden war, war so auf den Schein gerichtet, daß selbst die Priester mit dem Geiste der Verneinung buhlten, selbst die sich schämten, den ewigen Gott und die große Veranstaltung des Erlösungswerkes in schuldiger Ehrfurcht zu bekennen. Auf der Kanzel und in ihren Schriften schmückten sie sich mit dem dem Protestantismus und der Philosophie abgeborgten Schaugepränge. Und vorzugsweise war es unser Deutschland, wo die Kirche am Abgrunde des Verderbens stand! Eine Literatur, die man zur 215 classischen gestempelt noch bei Lebzeiten jener maßlos vergötterten Herren von Goethe und Schiller, drang bis tief in die untersten Volksschichten und erzeugte dies noch immer andauernde Doppelleben unserer Nation, politisch und kirchlich sowol wie moralisch, letzteres in einer mühsam behaupteten positiven Welt und einem sogenannten idealen Weltbürgerthum. Ueberall sah man auf diese Art unsere Entwürdigung! Und der Staat, mit Verzweiflung kaum sich selbst behauptend in dem großen Revolutionssturm Bonaparte’s, der rächte sich dann auch wieder seinerseits bis zur Schamlosigkeit gegen die schwachen Untergebenen, zunächst die Diener Gottes. Die kleinen Fürstenthümer, die entweder selbst unter geistlicher Obhut standen oder nur unsern Glauben bekannten, waren an sich schon leider dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen. Wilde, zerstörende, neuernde Gedanken, die von Aufbau sprachen und den Riß ihrer Pläne nach Modellen der Phantasie entwarfen, blieben damals ohne alle Rücksicht auf das Gegebene. Nichts galt für geistvoll, nichts für schön, nichts für groß, was nicht dem Wesen des Freimaurerthums entsprach. Ich will von dem Elend nicht sprechen, das bekenntnißtreue französische Bischöfe in der Verbannung auf englischem Boden zu Bettlern machte; im eigenen Vaterland konnte man erleben, daß die Mittel fehlten, dem äußern Gottesdienst den letzten Rest seiner erhabenen Würde zu erhalten. Ja, aber wie ist das nun alles mit Gottes Beistand so wunderbar anders geworden! So groß, so herrlich, mein lieber Herr von Asselyn, und kaum nach einem einzigen Menschenalter! Lediglich durch die gewaltige Wider-216standskraft und firmamentfeste Vis inertiae des zuwartenden und seine rechte Zeit erkennenden römischen Princips!

Bonaventura wagte auf die herablassende Vertraulichkeit des Sprechers zu erwidern … Er wagte den in die Tiefe gehenden deutschen Geist selbst zu nennen als den, der hier dem römischen Princip die stärkste Hülfe gebracht hätte. Ja er wagte, da der Kirchenfürst schwieg und ruhig seine Pfeife ausklopfte und sie aus einer gewöhnlichen, mit grüner Schnur besetzten Tabacksblase neu füllte, die Literatur und die Kunst zu nennen und ließ die Namen einiger Geister fallen, die man in dieser Verbindung zu nennen pflegt …

Der Graf hörte ruhig zu, rauchte wieder und ermunterte durch sein Schweigen fortzufahren. Ob vielleicht im Vorzimmer noch jemand wartete, ob ein Brief seines Königs unerbrochen lag, alles das schien ihm jetzt völlig unwesentlich …

Das gedemüthigte deutsche Vaterland, sagte Bonaventura, mußte sich aus seiner Gegenwart flüchten und neue Kraft sammeln in der Erinnerung an seine Vergangenheit! Fehlende deutsche Treue, Tapferkeit und Muth lagen nur noch in den Beispielen unserer alten deutschen Tage! Aus den gebrochenen Burgen auf unsern Bergesspitzen erhoben sich im Dämmerschein der Dichtung die Geister der abgeschiedenen Zeiten, aber zur glücklichsten Vorbedeutung; die Nebel fielen dann, und die Welt, die wir vergessen wollten, ja die wir vergessen mußten, diese lag nun nicht mehr vor uns; eine neue hatte sich aufgethan, es war die Welt, die uns die Forschung errungen hatte. Die Rosen in den bunten Domesfenstern 217 fingen wieder an zu glühen; die steinernen Bilder an den Kreuzwegen sprachen wieder dem ermüdeten Wanderer mit lebendigem Munde; eine Pilgerschar, die mit einer Fahne voraus und dem Bilde des geopferten Lamms durch goldene Saatfluren auf einen Berg mit einer wunderthätigen Erinnerung zog, war kein Zug von Narren mehr, die man verspottete. Künstler folgten und setzten sich auf einen Vorsprung dieses Berges und zeichneten die Scene voll Andacht und Hingebung. Kunst und Poesie verjüngten den abgestorbenen Glauben. Die Zeit war es, wo man um jene Marieen, die mit dem Lilienstengel in der Hand, mit Myrte und Maßlieb im Haar der Verkündigung sich neigen, um Bilder alter Meister, die man früher verlacht hatte, jetzt goldene Rahmen zog, größere und prachtvollere, als die einfachen kleinen Bilder selbst waren!

Der Kirchenfürst ging auf und nieder und ließ eine Pause beiderseitigen Stillschweigens …

Dann erwiderte er:

Sie waren gestern in Begleitung des Franciscanermönchs, Pater Sebastus?

Ein: Ja, Eminenz! erstarb auf Bonaventura’s Lippen, der diese Erwiderung nicht erwartet hatte, aber ahnte, was sie als Antwort sagen konnte.

Ich ließ den Pater durch Michahelles rufen! fuhr der Graf fort. Er wird jetzt, denk’ ich, da sein! Ja, ich wünschte, daß Ihr berühmter Name, Ihr edler Geist, Ihre großen Talente sich zum Heil der Kirche bewährten, Herr von Asselyn! Aber das Gebiet auch Ihrer Anschauungen muß sich erweitern oder vielleicht verengern, 218 je nachdem. Das Leben des Volkes ist der wahre Tummelplatz eines Priesters, der dem Reiche Gottes dienen will. In dem gesunden Gefühl der Völker – Doch treten Sie dort hinüber! Hören Sie eine nothwendige Verhandlung mit dem Pater! Eine Scene wird uns mehr verständigen, als eine Debatte, und Sie wissen, die Zucht des Priesters beruht auf Gegenseitigkeit.

Bonaventura begriff nicht, was der Kirchenfürst beginnen konnte …

Priester Immanuel aber hob einen Vorhang, der sich in dem Winkel befand, auf den er gedeutet hatte, und sagte:

Ich mache Sie nicht zum Lauscher! Der Mönch wird später selbst erfahren, daß Sie zugegen waren und gehört haben, was ich mit ihm verhandelte! Es sei ein Exercitium! Und eines für uns – alle drei!

Perinde ac cadaver essetis! Gehorsam, als wenn ihr Leichname wäret! sagte eine Stimme in Bonaventura’s Innern und sie klang wie aus dem Munde des Onkel Dechanten.

Er trat hinter den Vorhang.

219 8.#

Ein kleines Gemach war es, in dem sich Bonaventura befand, das Schlafcabinet des Kirchenfürsten.

Einfach wie eine Klosterzelle enthielt es einen hohen, alterthümlichen Kleiderschrank; das Bett war einer Pritsche ähnlich, schmal und hart. Ringsum standen einige Stühle, die Vorrichtung eines Tropfbades hing an der Decke. An der Wand über dem Bett hing ein einfaches Crucifix von schwarzem Holze, darauf ein Christus von einer metallenen Composition.

Der einzige Schmuck des Gemaches war ein Brustbild, einen jungen Mann darstellend, dessen Aehnlichkeit mit dem Kirchenfürsten wol darauf schließen ließ, daß es seinen durch des Rittmeisters von Enckefuß Hand im Duell gefallenen Bruder darstellte.

Nebenan hing noch eine Wandkarte Europas und ein großer Stammbaum der Truchseß, der zurückführte in die Zeiten Karl’s des Großen. Am äußersten Ende, da, wo alle Zweige einander näher sich rückten und das Ende des einst so reich entfalteten Geschlechts andeu-220teten, verlief er sich in welken Blättern. Die Spitze bildete der Name des Kirchenfürsten selbst. Auf dem dazu gehörenden Blatte saß ein Käfer, auf dessen goldener Flügeldecke ein schwarzer und ein weißer Todtenkopf abgebildet waren.

Bonaventura konnte, ehe er mit beklommenem Herzen unter diesen Stammbaum sich setzte, die Umschau ruhig anstellen, denn es währte einige Zeit, bis der Kirchenfürst den Mönch einließ. Er schien entweder erst in seinem Bureau unter Papieren gesucht oder endlich den Brief seines Monarchen gelesen zu haben.

Jetzt hörte man das leise Rauschen eines auf dem Fußboden anstreifenden Gewandes …

Mit lauter und deutlicher Stimme, sodaß dem gezwungenen Hörer kein Wort verloren gehen konnte, begann der Kirchenfürst:

Setzen Sie sich, Pater!

Als dies geschehen sein konnte, hörte Bonaventura die Anrede:

Ich habe Sie rufen lassen, um einige Worte mit Ihnen zu sprechen, Pater; Worte, die sowol das Ihnen geschenkte Vertrauen betreffen, wie Ihr Seelenheil! Ihr Provinzial hat mir Vollmacht dazu gegeben …

Keine Antwort …

Haben Sie hier einen Beichtvater? begann der Kirchenfürst mit erhöhter Stimme …

Sebastus nannte jenen Domherrn, der sich in der Herausgabe des Origenes so vergriffen hatte und „mit seinen gesammelten Lesarten“ in diesen Tagen beerdigt wurde …

221 Bei dem Rauschen eines Papieres durfte sich Bonaventura vorstellen, daß dem Mönche vom Kirchenfürsten ein Brief überreicht wurde …

Sie haben Unglück mit denen, denen Sie Ihr Vertrauen schenken! sagte der Kirchenfürst. Auch der Provinzial Henricus, der Ihnen so innig zugethan war, lebt nicht mehr … Vor einem Jahre, kurz vor seinem Ende, erhielt ich einen Brief von ihm, den Sie lesen sollen! Zur Ermuthigung! Ich hör’ ihn gern zum zweiten male!

Der Mönch las leise … Seine Stimme lag hoch und hatte die norddeutsche Schärfe. Sie war für Bonaventura vollkommen vernehmlich. Er hörte:

„Seit lange bin ich nicht in der Lage gewesen, Eurer Eminenz außer den Berichten, die über den Stand unseres Klosters an unsern P. General in Rom abgehen, auch eine gelegentliche Mittheilung über die Erlebnisse zu machen, die Ihrer hohen Fürsorge für die vaterländische Kirche in Erfahrung zu bringen von Werth sein könnte. Mein Wirken für die Ausbreitung der Mäßigkeitsvereine, die der Heilige Stuhl mit so besondern Gnaden gewürdigt hat, greift immer segensreicher um sich. Ist auch unsere Bevölkerung nicht so verkommen wie die Irlands, wo Pater Matthew den Geist der Mäßigung predigt, so stehen wir doch hinter dem, was Pastor Schläger auf dem protestantischen Gebiete leistet, nicht zurück. Ja, wir reichen uns auf diesem Gebiete die Hände …“

Hatte der Mönch schon bei Erwähnung einer bekannten Wirksamkeit des verstorbenen Provinzials Hen-222ricus, Verbreitung der Mäßigkeitsvereine, gestockt, so konnte der Kirchenfürst jetzt Zeit gewinnen, einzuschalten:

Obgleich auch hier der Geist, aus dem beide Bekenntnisse zu wirken haben, ein völlig verschiedener sein sollte … Der gute Henricus gehörte noch zu sehr den Freimaurern an und starb sogar, seltsam genug für einen Mönch, mit einem weltlichen und protestantischen Orden auf der Brust! Was man früher nicht alles erlebt hat! … Lesen Sie aber!

Mit jenem Gehorsam, der zu seinen Gelübden gehörte und den von ihm zu fordern der jetzige Provinzial, auch Guardian, des Klosters Himmelpfort, des Pater Henricus Nachfolger, für die Zeit seines Verweilens außer Clausur auf die Curie dieser Stadt und den Kirchenfürsten übertragen hatte, las der Mönch weiter:

„Heute möcht’ ich eine Bitte erheben zu Gunsten eines unserer Brüder, des Paters Sebastus! Unser General hat mir gestattet, ihm eine Weile die Freiheit des außerklösterlichen Lebens zu gewähren. Aber daß sie die Regierung, die in diesem Punkte so streng ist, auch genehmigt, dafür kann nur Eurer Eminenz hohe Bürgschaft eintreten.“

Ich schlug damals sein Anliegen ab! ergänzte der Kirchenfürst.

Der Mönch fuhr fort:

„Freiherr von Wittekind-Neuhof war es, der uns diesen Novizen, einen ehemaligen Docenten der Rechte in Göttingen, zuführte, aufs dringendste anempfahl, ja väterlich beschützte, obgleich der zweite Sohn des Freiherrn im Duell von ihm erschossen war … Nach einer 223 Reihe von Unglücksfällen, innern und äußern Erschütterungen wandte sich der greise Freiherr mit besonderm Verlangen den Gnadenmitteln der Kirche zu, besuchte uns oft, schenkte Kirchen und unsern verschiedenen Stationen höchst werthvolle Gaben und überraschte uns eines Tages durch diesen jungen Mann, der an seiner Hand mit heiserer Stimme, hinfälligen Ganges, zerrüttet an Seele und Leib, an mein Kämmerlein pochte und vor Entkräftung auf meinem Lager zusammensank …“

Bonaventura hörte voll Schmerz die lauten Athemzüge des Gefolterten. Er kam sich vor, als stünde er vor einem Käfig, in dem die ruhige Gefaßtheit eines Wärters den Fuß auf einen Panther setzt, den er abrichtete. Kam ihm der Gedanke, daß es Frevel wäre, wenn Menschen so an Menschen ihre innersten Seelenzustände durchwühlen? Oder erschien es ihm groß, um eines Gedankens willen, schon wenn dieser Gedanke ein Irrthum wäre, wie der Gedanke des Dalai-Lama oder der Sonnenanbetung, wie viel mehr dem des Dreieinigen Gottes, das Geheimste der menschlichen Ichwelt zu opfern? Doch wich er, wie er das gelernt hatte, dem Urtheilen aus und hörte, weil er hören mußte …

Mit gedämpfter Stimme las der Mönch:

„Der Freiherr führte uns den jungen Mann als Bewerber um das Noviziat zu. Er verschwieg nichts von dem, was wir selber sahen. Heinrich Klingsohr’s Sittenzeugnisse fehlten. Er wollte und mußte in allem und jedem von neuem geboren werden. Allererst zeugte gegen ihn der Todtschlag in einem Duell“…

Der Kirchenfürst schaltete ein:

224 Von Ihrer räthselhaften Beziehung zu einem Manne, der in seltsamer Verbindung mit dem Tode Ihres Vaters genannt wird, schreibt der Provinzial nichts …

Er war nicht mein Beichtvater! sagte der Mönch mit der ihm eigenen kalten, fast verletzenden Bestimmtheit. Kurz schnitt er damit die Rede des Kirchenfürsten ab, der nicht abgeneigt schien, von dem Mönche eine Aufhellung dieser Widersprüche um so mehr zu verlangen, als auch Bonaventura auf diese Art in die geheimern Beziehungen seiner dem Kirchenfürsten verhaßten und wie dieser wußte, auch ihm wenig willkommenen Verwandtschaft eingeweiht wurde.

„Die Gewohnheiten des Bruders“ – setzte der Mönch aufs neue an zu lesen, aber seine Kraft verließ ihn … Die Erinnerung an seinen Vater schien ihn mehr erschüttert zu haben, als das Bild seiner Vergangenheit, das er selbst hier aufzurollen hatte.

In schmerzlicher Folter, ungewiß, welches das endliche Ziel dieser Strenge sein sollte, seufzte Bonaventura tiefauf und fast hörbar …

„Die Gewohnheiten des Bruders“ – wiederholte der Kirchenfürst …

„Waren so eingerissen, daß sie so plötzlich und so schnell nicht gebrochen werden konnten. Das Beschwören der Mäßigung vor dem Altare, das in Irland Wunder wirken soll, genügt nicht bei uns“ –

Weil wir nicht nach unsern eigenen Gesetzen leben! schaltete der Kirchenfürst ein; weil eine offene und freie Schaustellung unserer seelsorglichen Handlungen und Strafen vor einer gemischten Bevölkerung nicht möglich ist!

225 „Auch fehlt uns ein O’Connell“, schrieb der Provinzial Henricus, „der zu der Enthaltsamkeit von jenem Gifte, das in Irland die Verzweiflung zu nehmen scheint, um ihr Elend zu vergessen, die geistige Nahrung der Erhebung im Staatsleben gibt. Das Gefühl errungener Freiheiten wird dort ein edler Ersatz für das Gift, das bisher durch das Land der Armuth und Entwürdigung geflossen. Denn es ist nicht genug hervorzuheben – und auch mein Nachbar in gleichem Wirken, Pastor Schläger, bezeugt es – daß zugleich zum Ersatz die geistliche Quelle der Aufklärung geboten werden muß, wie bereits Ephes. 5, 18 die Schrift sagt: …“

Ueberschlagen Sie das! unterbrach der Kirchenfürst.

Bonaventura gedachte des Onkel Dechanten … Es war ihm, als spräche dieser: Die Römlinge wollen nichts Deutsches, nichts Nationales, nichts aus unserm Schoose Geborenes, nichts die Brüderstämme und die Confessionen durch die gemeinsamen Bedürfnisse des natürlichen Volkslebens und des Geistes Versöhnendes –

„Unserm Zögling hatte sich mit seinen Untugenden der Genius verbündet“ … las der Mönch und nun sein Lob vernehmend in dem pflichtschuldigen Tone der Demuth, die eines der ersten Erfordernisse seiner Wiedergeburt sein mußte. „Er kam aus einer Welt, wo man ihn um seiner Sünden willen angestaunt hatte. Er kam aus dem trotzigen Leben einer Universität, aus einer großen reichen Handelsstadt, in die ihn das Geschick verschlagen, er war der Matador des akademischen Wort-Fechtsaales, man bewunderte ihn um seiner Vorzüge willen und seine Schwächen gereichten jenen nur zu verschönern-226den Schattenlinien. Tief hülfsbedürftig war der zerknirschte, des Lebens, der ganzen Welt, seiner selbst, glücklicherweise noch nicht Gottes überdrüßige Sinn des Zöglings. Eure Eminenz kennen unsern Laienbruder, den Bruder Hubertus … Mindestens ist in vielen Klöstern Deutschlands der „Bruder Abtödter“ bekannt, wie die Brüder ihn nennen in Anerkennung seiner wunderbaren Gabe, es den ersten Heiligen unserer Kirche, den Säulenstehern, den Eremiten der thebaischen Wüste gleichzuthun, wenn nicht im gleichen gottergebenen Sinn, doch in der seltsamsten Kunst, sein Fleisch zu tödten –“

Wie schaudernd vor Erinnerungen stockte der Mönch …

Aufs neue setzte er an:

„Bruder Hubertus war einst der erste Jäger des wilden Nimrod Wittekind, damals ein unternehmender Bursch, der sein ganzes Vertrauen genoß. Aus holländischen Diensten und aus Java zurückgekommen, umgab ihn auf dem Schlosse Neuhof der Reiz der Fremde. Alle Herzen flogen ihm zu und keines mehr als das eines Fräuleins von Gülpen …“

Der Mönch kannte alles, was sich auf diesen Namen und die Verbindung bezog, und hielt im Lesen inne, sicher voll Erstaunen, weil der Kirchenfürst ihn mit den Worten unterbrach:

Sie nannte sich später nach diesem Hubertus, früher einem Buschbeck, die Frau Hauptmännin von Buschbeck und wurde nur deshalb siebzig Jahre, um in voriger Nacht in dieser Stadt hier ermordet zu werden!

In dem Innern des Mönchs konnte eine so über-227raschende Mittheilung nur Töne seltsamster Musik wecken … Des Abends gedachte er auf dem Schlosse Neuhof, wo er Lucindens Frage nach jener Gülpen beantwortete und die Speisen, die ihm der Kronsyndikus vorsetzen ließ, für vergiftete erklärte, wie solche, von denen aus den jungen Zeiten des Fräuleins die Sage berichtete …

Bruder Hubertus, fuhr der Kirchenfürst fort, ist mir wohl bekannt! Doch muß man die Ruhmsucht tadeln, die mir in seiner Kunst, sich tagelang der Speise zu enthalten, zu liegen scheint …

Der Mönch kannte das Leben seines Zähmers und Bändigers … Ohne Zweifel antwortete er dem Tadler mit dem Nachhall eines seiner alten Lieder:

Frage im Walde die Raben,
Wenn Sturm durch die Tannen weht,
Wer unter ihnen begraben,
Da, wo das Kreuzlein steht! …

Doch auch Bonaventura fühlte sich wie in einen Wald versetzt, wo Hörnerklang zu einem erlegten Hirsche rief … Wild sprengen die Herren und Damen zu Roß heran; der erste der Jäger tritt auf das verendende Thier, weidet es aus und die schnobernden Hunde, die ihren rauchenden Antheil begehren und gierig zufahren wollen, müssen zurück und – entbehren … So nur konnte ein Jäger das menschliche Abtödten gelernt und gelehrt haben … Wie mehrte sich sein Bangen, das schöne Bild zu verlieren – von seinen Augustinerchorherren im Schnee des St.-Bernhard!

Der Mönch las:

„Die Besserung des Novizen gelang durch Hubertus vollständig. Selbst die Art, wie sich die Malaien von den Zerstö-228rungen des Opiumrauchens heilen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Freilich mußten wir gestatten, daß in einer Klosterzelle ein Noviz auf dem Lager lag und statt des Mohnsamens den Samen erst des Hanfes, dann aus langem Rohr entzündetes Naphtha, zuletzt nur das glühende Bernstein rauchte. Die starke Natur, schmeichelnd zurückgelockt, blieb Siegerin. Die unreinen Geister wichen, die Phantasie verlor ihre Bilder, sie wurden reiner und blieben ganz aus. Hubertus übergab uns einen Geretteten. Aber noch galt es, ihn sanft und linde einzuführen in die Erfüllung seiner Absicht, für immer der Welt zu entsagen. Aufrichtig war diese Absicht. Er liebte die Religion. Er fand seinen Trost und seine Erhebung in ausschließlicher Contemplation. Da ihm keine Wissenschaft unbekannt geblieben, so wußte er bei Tisch stets etwas vorzubringen, was uns fesselte. Doch verblendete uns ein zuweilen noch aufschimmernder falscher Glanz seines Geistes keineswegs. Wir verharrten in einem strengen und ernsten Erziehungsplan. Nichts wurde unterlassen, was seinen Willen, die Gelübde abzulegen, brechen konnte. Die Gebete, die Wachen, die untergeordneten Dienste, mühevolle Arbeiten aller Art, Betteln, das seinen Stolz prüfte, scheinbare Willkürlichkeiten, die seine Ergebung auf die Probe stellten, die Züchtigungen mit der Geißel und dem Cilicium, alles das waren nur geringere Grade der Hülfsmittel, ihm die Rauheit und Härte unsers Gewandes fühlbar zu machen. Die Ergebung, die er zeigte, war keine Stumpfsinnigkeit. Er ertrug, was ihm aufgebürdet wurde, um seiner neuen Geburt willen, ja wir mußten seinen Eifer 229 zurückhalten, denn er begehrte zu zeigen, daß der Mensch den Schlaf ganz entbehren, von Wasser allein leben könne und Aehnliches, was wider die Natur geht, wenn es auch vom Bruder Hubertus fast zu ertragen gelehrt wird. Nach zwei Jahren endlich legte Sebastus sein Bekenntniß ab und erhielt die Tonsur. Die Priesterweihe ihm zu geben, wagte ich dem P. General nicht ans Herz zu legen. Immer ist noch ein dunkler Grund in seinem Innern, ja es war mir, als gäb’ es Proben, in denen Pater Sebastus nicht bestehen könnte. Eure Eminenz mögen selbst entscheiden. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich von den Stätten des Friedens, an denen wir leben, den Vorwurf der Unthätigkeit entfernen möchte. Wie der heilige Basilius die Nähe der Städte suchte, um sein Einsiedlerleben dem Ausbreiten des Glaubens nützlich zu machen, wie die Söhne des heiligen Benedict unser deutsches Vaterland von düstern Wäldern gelichtet haben und auf unsere Hügel die Traube pflanzten, während auch das Feuer des geistigen Lebens aus ihrer Pflege der Wissenschaft und der Schreibekunst flammte, so wird ein jeder Bekenner des heiligen Franciscus auch noch jetzt darauf bedacht sein müssen, in einer sittenverderbten Zeit Hand anzulegen im Kampfe gegen den Uebergenuß des Lebens. Dann dacht’ ich: Wie kann die letzte Prüfung des Gewonnenen besser stattfinden, als wenn er noch einmal ins Leben zurückkehrt? Wie heilt man ein Heimweh gründlicher, als wenn man dem Verlangen der Seele nach der geliebten Muttererde einmal noch folgt, dem Herzen einen starken, vollen, sättigenden Trunk des Wiedersehens gönnt und damit dann mei-230stentheils gerade das andere Verlangen weckt, dahin wieder zurückzukehren, von wo uns zwar die Sehnsucht vertrieb, inzwischen aber doch sich die Gewohnheit, sie wußte es nur selbst nicht, bereits wieder eine liebliche Traulichkeit schuf. Und so erbat ich von meinem Obern in Rom die Erlaubniß, den jungen Pater, dessen heißersehntes Ziel die Weihen sind, zurückzulassen auf kurze Zeit in die Welt. Da kam die Aufforderung des Secretärs Eurer Eminenz. Freilich auf den Grund, weshalb sein Brief Klosterbrüder zu haben wünscht: «weil sie ihm nicht nur als Sendboten dienen könnten, sondern weil sie auch in einer Zeit, wo wir nur zu sehr beklagen müßten, uns auf der großen Straße des Weltverkehrs so wenig zeigen zu dürfen, gerade ebendaselbst, wo es nur irgend möglich zu machen, aufzutreten hätten», … ferner auf den Rath «ärztlichen Befehl vorzuschützen für kranke Brüder» … darauf hin mocht’ ich es nicht wagen –“

Genug! unterbrach der Kirchenfürst, machte eine Pause, die ohne Zweifel die Rücknahme des hier gegen die Lehre vom Zweck, der die Mittel heilige, protestirenden Briefs ausfüllte und sagte:

Als ich vor einem Jahr diesen Brief erhielt, verweigerte ich die Unterstützung der Bitte des Provinzials. Seitdem erschienen aus dem Kloster einige Ihrer polemischen Artikel. Der Geist und Ton derselben überraschte mich. Ich wünschte Sie kennen zu lernen. Ihre Hieherreise erfolgte. Als ich Sie sah, war ich angezogen. Ich behielt Sie bei mir zu dem großen Kampfe, den die Kirche zu kämpfen hat. So manches Ziel unserer Mühen haben wir erreicht; aber die Streiter kön-231nen sich nicht dicht genug scharen. Ich erkenne an, was Sie geleistet haben. Ich lese Ihre Aufsätze mit Befriedigung. Ich wünschte jedoch mehr – viel mehr! Ich finde in dem, was Pater Henricus von Ihrer Erziehung sagt, nicht den Geist wahrer Heiligung. Der Grund, aus dem Sie wirken, ist gefahrvoll für Sie, ist es auch für uns! Für Sie – ich will es Ihnen aufrichtig sagen – für Sie und für wie viele Ihres Gleichen! – ist die Kirche nur der Schlußstein Ihrer irrenden Abenteuerlust auf dem Felde der Philosopheme! Sie ist nur der Ruhepunkt Ihres von allerlei Donquixoterieen ermüdeten Denkens! Sie streiten jetzt für die Kirche, weil Ihre angeborene Streitsucht hier endlich einen festen Gegenstand und eine sichere Anlehnung findet! Das scheint leider unser trauriges Loos mit euch Uebergetretenen allen! Aller Zorn, der in euch wurmte, alles Gefallen am Besondern und Seltsamen, alle Ungeduld, daß man auf euch bisher nicht achtete oder euch wiederum zu rasch vergaß, diese unreinen Geister der Rache, der Vergeltung, der nie zu sättigenden Gier nach dem Reiz der Neuheit treiben Euch auf den Kampfplatz! Was es auch sein möge, das Sie dem Vater eines Unglücklichen, den Ihre Hand tödtete, so nahe verbinden konnte, ich glaube es gern, daß Sie ermattet an der Pforte des Klosters Himmelpfort niedergesunken sind. In dieser Stimmung verlangten Sie nach dem Trost der Religion und rühmten die Einfalt derselben. In alles aber, was man Ihnen bot, legten Sie, als Sie es empfingen, Ihren eigenen Sinn, nahmen es nicht in dem unsrigen. In diesem immer nur Ihr Ich verherrlichenden Geiste vollzogen Sie die Liebesopfer, 232 die Ihnen Ihr Guardian und Provinzial übertrug. Sie duldeten, entbehrten und was Sie zu den harten Proben des Bruder Hubertus ermuthigte, war nur der geistige Hochmuth auf Menschenkraft. Weder Ihr Verstand noch Ihr Herz liebt das Christenthum, nur Ihre Phantasie liebt es! Die Dienste, die Ihr Poeten und Künstler dem römischen Glauben geleistet habt, verkenn’ ich nicht, doch waren und bleiben sie gefahrvoll! Sie entbehren nachhaltiger Wirkung. Oder glauben Sie, daß alle die Fortschritte, die wir in diesen Tagen in Frankreich, Deutschland, Spanien gemacht haben, gemacht haben mitten unter den Stürmen der politischen Bewegungen, nur die Folgen der wiedergeborenen schönen Künste sind? Diese Fortschritte verdanken wir nur dem bei so vielem Flitter der Bildung gerade zum wahrhaften Herzensbedürfniß gewordenen Bekenntniß der geistigen Armuth! Armuth, Armuth! Nüchternheit, Entbehrung, Gefangengabe unserer Ueberzeugungen an ein Gegebenes, Wiedererweckung der Würde des Beichtstuhls, der geregelte Kirchgang, die Wiederherstellung alles dessen, was über religiöse und politische Dinge in dem gesundesten Theile des Volks, im Bauernstande, diesem plötzlich nun ja auch von eurer Poesie verklärten, lebte, Ascese, Wallfahrten, wiederhergestellte Bruder- und Schwesterschaften, das ist der Geist der Stetigkeit, der allein die Kraft zum Glauben wecken und darin die Ausdauer bestärken kann …

Der Kirchenfürst schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:

Jetzt, Pater, ein ernstes Wort! Ich ließ Sie beobachten, Pater! Wissen Sie, daß ich Sie monatelang in Ihr Strafkloster zu Altenbüren verweisen könnte? 233 Sie wurden gestern Mittag im Hause eines jüdischen Trödlers gesehen, wo Sie mit Ihrem Ordensgewand eintraten und es auch Mittags im Ordensgewand verließen. Abends jedoch um acht Uhr – Unglücklicher! – kehrten Sie wiederum unter dem Dache des Juden ein –

Bonaventura, ahnend, entsetzte sich, mehr noch erschütterte ihn der unfehlbare Schrecken des Mönches …

Mitleidenswerther, bejammernswürdiger Mann! fuhr der Kirchenfürst fort. In dem von jenem Juden geborgten Kleide, mit einem Hut, der Ihre Tonsur verbarg, sah man Sie, Sie, den Pater Sebastus, den Michael mit der zweischneidigen Feder, den Mönch, der ein Gefallen darin findet, einen Sack zu tragen mit den Eiern, die ihm die Bauern der Umgegend schenken, Sie, Sie, einen Sohn des heiligen Franciscus – auf der Galerie des Theaters!

Bonaventura stand auf, des dadurch entstehenden Geräusches nicht achtend …

Dumpfe Stille nebenan …

Und noch nicht genug! fuhr der Kirchenfürst fort. In dieser falschen Tracht gingen Sie die Nacht in einen Gasthof der Stadt, in „das goldene Lamm“! Was thaten Sie dort?

Bonaventura gedachte der Geigenspielerinnen, der ganzen Aufregung des gestrigen Abends …

Kein Laut der Erwiderung von dem Mönche …

Was können Sie auf Ihrem frevelhaften Pfade dort gewollt haben? In einem der Zimmer waren Sie zwei Stunden bis um Mitternacht, wo Sie dann von dem Juden Ihr Kleid zurückgeholt haben! Pater! Pater! Ich beschwöre Sie, um der Wunden unsers Heilands willen! 234 Fühlen Sie denn nicht, daß Sie den Erlöser, den Sie in diesem Kleide bekennen, zum zweiten male verkauft haben? Die Nachricht von Ihrem Judasverrath kam uns glücklicherweise von einem Beobachter, der unsere Kirche liebt und unsere heilige Sache bewahren wird vor Bekanntmachung solches Aergernisses! Weitere Nachforschung hinderte ich, um nur Ihr Unglück nicht zu mehren und nicht die Schande Ihres Fehltritts zu grell für uns alle aufzudecken! Pater! Was würde aus Ihnen werden, wenn mich keine Rücksicht auf Ihr Talent, keine Rücksicht auf die nützliche Bewährung desselben in unsern gegenwärtigen Kämpfen abhielte, Sie nach Altenbüren zu verweisen, wo Sie in Gesellschaft anderer meineidiger Priester für immer, für immer, Unglücklicher, Ihren Ruf im weiten Reiche unserer Kirche verloren haben würden!

Dumpfes Schweigen auf diese fast weich gesprochenen Worte …

Eingetreten sind Sie in eine große Heilsanstalt gegenseitiger Erziehung! fuhr Priester Immanuel fort. Ich möchte Sie nicht aufgeben; ich möchte Sie dem Wirken erhalten, für welches Sie so rühmenswerthe Proben Ihrer Befähigung abgelegt haben! Pater! Daß sich der Geist, in dem Sie allein außerhalb der Zelle leben dürfen, heilige, daß Sie sicher sind vor den Anfechtungen und dem Rückfall in die Reize dieses Lebens, denen Sie abgeschworen haben, muß ich Ihrem Wandel von jetzt an die bestimmtesten Grenzen ziehen! Sie verlassen nie mehr diese Stadt ohne eine hier von meinem Kaplan eingeholte Erlaubniß! Sie meiden jeden öffentlichen Versammlungsort! Sie rüsten sich, daß Sie 235 jeden Abend von sieben Uhr an in Ihrer Wohnung, dem Profeßhause, angetroffen werden! In jeder Stunde, wo vom Kloster Himmelpfort Ihnen bekannt ist, daß Ihr würdiger Guardian eben die Thür seiner Zelle öffnet, Miserere ruft und die Patres, seinem Beispiele folgend, sämmtlich sich mit der Disciplin dreimal den Rücken geißeln, sollen auch Sie das Confiteor sprechen, wo Sie sich irgend befinden. Und daß Sie es thun, wirklich thun, Pater, erinnere ich Sie an das Wort jenes Mönches, zu dem ein Zweifler sagte: Geißeln Sie sich denn auch wirklich in Ihrer geschlossenen Zelle, wenn der Guardian in der seinigen Miserere! ruft? „Herr! Man hat Ehre!“ sprach er.

Der Kirchenfürst stand eine Weile und schwieg …

Bonaventura erwartete eine Entgegnung des Mönches …

Nur die lauten Athemzüge desselben hörte er …

Was führte Sie auf die Galerie des Theaters? begann der Kirchenfürst aufs neue. Was suchten Sie in der Nacht in jenem Gasthause?

Nach einer langen Pause hörte Bonaventura die Worte:

Nichts so Unedles, als Sie denken, Eminenz … Doch … ich verlor meinen Beichtvater –

Diese Worte wurden mit großer Schärfe betont.

Wen wollen Sie wählen?

Wenn Herr von Asselyn hierher versetzt würde und ich dann noch – hier weile –

Der Mönch stockte …

Wohlan! sagte der Kirchenfürst und wie aufs angenehmste überrascht. Es war Ihnen von mir aufgegeben worden, den edeln und gotterleuchteten Pfarrer von St.-Wolfgang, Bonaventura von Asselyn, auf die kurze Zeit hier 236 zu begleiten, bis ich im Stande sein würde, mich so ausführlich wie ich mußte, mit diesem Werkzeug Gottes zu verständigen. Im Umgang mit demselben, den Sie von Stund’ an fortsetzen sollen, verbiet’ ich Ihnen kraft der mir übertragenen Ordensgewalt Ihres Provinzials, jemals aus eigenem Triebe irgendein Wort mit ihm zu reden! Nie sollen Sie selbst das Wort ergreifen! Nie sollen Sie anders als nur ein Ja und ein Nein für ihn haben! Der Priester Bonaventura weiß es, daß ihm die Rede gestattet ist, ihm die Unterhaltung, er weiß aber auch, daß er Ihnen keine einzige Frage stellen darf, als eine solche, der die kurze Antwort: Ja oder Nein gebührt! Denn warum verhäng’ ich gerade Ihnen diese Strafe? Weil Ihre größte Aufgabe die sein soll, den Drang zu tödten Ihrer geisthaschenden Mittheilung! Absterben muß Ihre Neigung, durch Ihre Vergangenheit Ihre Gegenwart Lügen strafen oder über Ihr Kleid hinaus sich immer noch verklären zu wollen. Durch Ihren Geist, Ihre Kenntnisse wollen Sie das Vorurtheil Ihres Standes widerlegen. Aber wenn Sie das Gelübde der Armuth ablegten, stand an der Spitze der Entbehrungen, die Sie sich vorzuschreiben hatten, die Armuth am Geiste! Diese bekennen Sie und dann wird Ihr Sinn sich läutern! Nichts hat die Verführung zum Laster mehr im Gefolge als jene Gedanken, die schimmernde Ausdrücke suchen, jener Reiz, der Sie verführt, sich in der Vielseitigkeit Ihrer Auffassungen, in der Fülle von Gesichtspunkten, auf dem schwindelnden Wege der Contraste und Paradoxen zu ergehen; derselbe Reiz stumpft das Gefallen an dem Einfachen und Charaktervollen ab. Ihnen, Pater, Ihnen ist, wie der ganzen 237 Richtung des Jahrhunderts, vor allem das „Wort zur unrechten Stunde“ zu nehmen! Rancé – der kannte diese Gefahr, als er nach einem Leben geistreicher Frivolität den Orden der Trappisten stiftete! Ich verlange keinen Dank für meine Schonung – ich werde mir selber ein Gebet um die Vergebung Gottes auferlegen, daß ich so milde war – ich strafe Sie, wie mir scheint, daß es Ihnen heilsam ist! Und die in dieser Form meiner Verzeihung liegende gegenseitige Erziehung wird auch andern gut thun! Treten Sie näher, mein Herr von Asselyn!

Damit trat der Kirchenfürst an den Vorhang, zog diesen zurück und Bonaventura stand mit dargereichter Rechten, wie um Verzeihung bittend, vor dem in Staunen und tiefster Scham halb aufwallenden, halb vernichteten Mönche …

Mit unerschrockener Miene sprach Priester Immanuel:

Deshalb hab’ ich Bonaventura von Asselyn zum Zeugen dieser Scene gemacht, weil ich auch ihn in den Ernst unsers geistlichen Lebens und in unsere wahre kirchliche Schule einführen wollte! Schon Ihre Ungeduld zu bekämpfen, daß Sie noch einige Tage hier zu warten hatten und ferner warten sollen, Herr von Asselyn, mußte Ihnen nützlich sein! Nützlich wird Ihnen auch werden, das aufgedeckte Leben des Paters zu sehen und es doch so nur zu berühren, als wenn Sie es nicht kennten! Ja und nein, nein und ja! Bis zu dem Tage, wo Ihnen Sebastus vielleicht – die Beichte spricht … Lasset euch beide das, was ihr heute erlebtet, eine Uebung sein, die Gefahren – des Geistes kennen zu lernen! Helfen Sie sich einander redlich beim Straucheln! Bestärken Sie sich in der Geringschätzung 238 des Gedankenaustausches! Da liegt der Thomas a Kempis; das goldene Buch der bewußten, ja mit Stolz bekannten Geisteseinfalt! Oder lesen wir eine Stelle des heiligen Gregor …

Der Kirchenfürst nahm ein Gebetbuch und las mit lauter Stimme:

„Wenn ich mir die Büßerin Magdalena vergegenwärtige, so möcht’ ich eher weinen, als reden und bekennen! … Denn sind nicht die Thränen dieser Sünderin mächtig genug, auch ein steinern Herz zur Buße zu erweichen? Sie bedachte ihren vergangenen Lebenswandel und konnte sich in ihrem reuevollen Thränenbekenntniß kein Maß vorschreiben. In das Gastzimmer trat sie zur Zeit des Mahls, sie kam ungerufen, und während des Mahls brachte sie ein Thränenopfer. Lernet, von welchem Schmerz sie gefoltert ward, daß sie auch während der Zeit des fröhlichen Mahls der Thränen sich nicht schämte! Siehe! Weil dies Weib ihre Befleckungen und Laster erkannte, eilte sie in glühender Sehnsucht nach Reinigung zum Urquell der Barmherzigkeit und scheute nicht die Gegenwart der Gäste. Da sie vor ihrer eigenen Häßlichkeit erröthete, konnte die Scham von außen sie nicht entmuthigen. Was, meine Brüder, sollen wir nun mehr bewundern, die im Gastzimmer erscheinende Magdalena oder den Herrn, der sie gnädig aufnahm? Soll ich sagen: aufnahm? – nicht vielmehr: durch seine Gnade an sich zog? Ich will am liebsten beides sagen. Es ist derselbe, der sie innerlich anzog durch seine Barmherzigkeit und derselbe, der sie äußerlich mit aller Sanftmuth aufnahm.“

Jetzt legte der Kirchenfürst das Buch zur Seite, neben 239 sein inzwischen erkaltetes Tabacksrohr, neben den noch unerbrochenen Brief seines Königs, dann entließ er beide mit einer Handbewegung, die ausdrückte, daß er ihnen den Segen ertheilte und den Gewinn zweier Seelen für sein Gottesreich höher hielt, als alles Reden und Handeln und Drohen der Mächtigsten der Erde.

Im Vorzimmer war es still geworden … Der Kaplan begleitete den Mönch und den Pfarrer bis an die Ausgangsthür. In seinem demüthigen Gruße lagen die Worte:

Was auch zwischen euch dreien soeben drinnen geschehen ist – Alles – zur größern Ehre Gottes! …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wohl hätte Heinrich Klingsohr draußen in freier Luft aufschreien mögen wie mit wiedererwachtem Titanentrotz.

Seine Brust hob sich, seine Augen standen starr aus den Höhlen, er hatte auf der Zunge Worte nicht der Verwünschung seines Geschickes, nicht der Anklage seines Berufes, nicht der Anklage des Kirchenfürsten, – nur dem Jammer seines Innern hätte er Worte leihen mögen, sich vergleichen mit dem gefangenen, an seinen Flügeln niedergehaltenen, auf dem Rücken liegenden Vogel vom gestrigen Morgen, sich rechtfertigen gegen den falschen Schein, der sich um ihn breitete in Gegenwart eines Mannes, den er zu schätzen anfing, er, der niemanden anerkannte außer dem, der ihm durch etwas imponirte, etwa – die Kunst, eine Nachtigall nachzuahmen!

Aber nicht einmal zu der Auseinandersetzung war ihm Gelegenheit gegeben, zu sagen: Warum bleiben Sie nicht 240 sogleich in dieser Stadt? Warum haben Sie nicht schon jetzt die Erlaubniß des Beichtstuhls! Alles, alles möcht’ ich Ihnen bekennen! …

Fiebernd lief es durch seine Seele:

Ich möchte sagen, wie mich gestern die unwiderstehlichste Sehnsucht ergriff, nach dem Leben und den Schicksalen eines Mädchens zu fragen, das einst mir das Leben und dann den Tod gegeben! Ich wechselte mein Kleid, ich wurde ermuntert dazu von einer Jüdin, die mir unser ganzes Dasein als einen einzigen großen Mummenschanz darstellte, wurde ermuntert dazu durch einen Schwur „bei dem Gotte Spinoza’s“ und durch die Versicherung, ich dürfte auf die Verschwiegenheit dieses Mädchens bauen … Wer war der Verräther! … Wer war es, der des Nachts, so ruhelos wie ich, dahin irren konnte? … Ja, ich war auf der obersten Galerie des Theaters! Dort, in eine Ecke gedrückt sah ich jene Frau spielen, die einen edeln Menschen auf ihrer Seele hat – sah die Kinder springen, die ich oft auf dem Schoose gehalten und für welche Lucinde arbeitete, sich mühte und entbehrte, wie eine zum Magddienst sich verurtheilende Königin … Das Haus war menschenleer … aber nicht so öde war es, als das Gefühl meines Daseins … ich irrte in den Straßen, sah nicht die Spione, die mich verfolgten, vergaß die Ordnung des Hauses, das ich mit vielen andern bewohne, bestieg die Stufen des Gasthauses zum Lamm, kehre schaudernd um, aber um mich her sah ich nichts als Lucinden, sah sie mit phantastischen Blumen bekränzt, sah sie im langen Kleide hoch zu Roß – mir winken – Himmel und Erde! Ich wage Ehre und Freiheit und mein ganzes Leben, um nur fragen zu können: 241 Wo ist Sie? Was wurde aus Ihr? … Zitternd steig’ ich zu der Frau empor, an deren Herz zu glauben ich nicht die mindeste Berechtigung hatte, aber ich zwinge mich dazu … Aber auch sie verrieth mich nicht! Sie schwur’s mir bei dem Andenken Serlo’s, obgleich der, wie sie sonst und jetzt sagte, schuld gewesen wäre an ihrem ganzen verfehlten Dasein … Ich finde diese Menschen, klein wie immer, geringfühlend wie immer, voll Zorn über die Leere des Theaters, voll Hohn über das Ausbleiben des Beifalls … aber vor ihnen steht dennoch ein köstliches Mahl, liegt eine Rolle Geld … eine Sendung war es von Lucinden … Sie ist hier! Hier in dieser selben Stadt … Und da sollt’ ich nun auf und davon? Sollte nicht verweilen, lauschen, horchen – aus meiner begrabenen Welt! … Sollte nicht vertrauen, daß Menschen, die durch die Schule des Geschicks so tief gedemüthigt waren, daß sie sogar Konstanzen Huber, wie sich Lucinde genannt, das Wort gaben, sie nirgends zu kennen und sofort diese Stadt zu verlassen und auf die Woge des Lebens zurückzukehren (was sie hätte und erwürbe und theilen könnte, hatte sie geschrieben, sollte ihnen, wenn sie wollten und wo sie wollten, gehören) … sollte nicht vertrauen, daß durch Geld und Mitleid gewonnen, diese Menschen mich nicht verriethen … Ich wäre geblieben bis zum Hahnenschrei! Ich hätte geredet und geträumt, wenn mich nicht die Erzählung von unserm Abschied einst in Lüneburg zur Besinnung gebracht und an das Portefeuille erinnert hätte, das ich plötzlich mich erinnere, in meinem Ordenskleide gelassen zu haben … Nun, wie zerschmettert schon von einer Strafe des Himmels, wank’ ich davon … Rings die 242 stille Nacht – bis ich zurückkäme versprach mir die jüdische Sibylle zu wachen … ich finde sie … lesend – im Spinoza, einem Geschenk eines Priesters Namens Leo Perl … wir suchen und suchen das Portefeuille – es findet sich nicht … Mitternacht ist vorüber … die Jüdin gibt mir Geld, um den Wächter des Profeßhauses bestechen zu können … einen neuen, noch willfährigen Knecht … Wie sie das Geld klingen läßt und sagt: Pater, Ihr wißt nicht, welche Freude ich habe, der Kirche einen Heiligen zu stehlen und Gott einen Menschen zu schenken! da wank’ ich dahin, komme in meine Wohnung, glaube unbemerkt geblieben zu sein, werde in der Frühe zum Kirchenfürsten gerufen, ahne die Kunde von meinem Vergehen und kam, bereit zu sagen: Tödtet mich, wenn ihr wollt! Ich konnte nicht anders!

Wie beide Leviten so dahinschritten, näherten sie sich der Kathedrale. Sie traten in den majestätischen Bau, unter Menschen, die nichts von ihrem Seelenleid ahnten, nichts von der Gebundenheit ihres Willens und ihrer Sinne …

Da entdeckte Bonaventura in einiger Entfernung, in einer Nische, die vom hellsten Sonnenlicht, das durch die bunten Fenster brach, beschienen war, in einer Gruppe, die sich laut und wie es schien in fremder Sprache unterhielt, eine Gestalt, die ihn jetzt im erhöhten Grade erschrecken mußte …

Nur ihren Rücken sah er. Sie stand in schwarzseidenem Kleide, dunkelm Hute, sprach mit den Fremden, die dem Volk anzugehören schienen; es war ihm, als könnte es nur Lucinde sein …

243 Der Mönch las mechanisch die Inschriften der Leichensteine …

Bonaventura hätte ihn aus dem Wege zu jener Fensternische fortziehen mögen …

Der Mönch schritt in sich versunken und lesend an den Leichensteinen weiter und zu jener Gegend hin, ohne auf ihn zu hören …

Schon waren sie der Nische so nahe, daß die drinnen geführte Unterhaltung gehört werden konnte …

Sie wurde in italienischer Sprache geführt …

Zwei Männer, der eine in kurzer Jacke, der andere wohlangethan, mit einigen jungen Leuten, einem Mädchen darunter, sprachen bald zu den Bildern des Fensters gewandt, bald zu jener Dame in dem schwarzen Kleide …

Es war Lucinde …

Bonaventura hörte es an ihrer Stimme … er hatte auch neulich von den Italienern, von dem Gipsfigurenhändler und seinen Kindern gehört …

Der Mönch schreitet näher, hält einen Augenblick inne, horcht den italienischen Lauten und saugt sie voll Begierde ein, wie Duft aus dem Lande der Palmen …

Jetzt wendet sich Lucinde und wird auch seiner ansichtig …

Wir wissen, daß sie zum Tod erschrecken kann ohne das mindeste Zucken der Augenwimpern …

Blaß und marmorkalt mustert sie die beiden Daherkommenden: den Mönch, den sie schon um der Seltsamkeit seiner Tracht willen erkennen mußte; Bonaventura, vor dem sie in diesem Augenblick durch die Enthüllung ihrer Beziehung zu seinem Begleiter glauben durfte, alles zu verlieren …

244 Der Mönch hört seinen Anruf nicht und liest nur die Inschriften der Leichensteine …

Auf den jetzt ihn treffenden Blick und den sich verneigenden Gruß Lucindens hatte sich Bonaventura sammeln können. Sonderbar, auch die Tochter des Italieners schien ihn zu kennen, die ihm doch fremd war … Mit einer hastigen Geberde deutete sie auf ihn und flüsterte mit dem Vater und mit den Brüdern …

Bei alledem hatte Lucinde den Pfarrer gegrüßt, ganz ehrerbietig zu ihm aufblickend. Vor dem Mönche aber schlug sie die Wimpern nieder …

Eine Italienerin vermuthet dieser … ohnehin mühsam dahinschreitend, hält er einen Augenblick inne … und jetzt wie festgewurzelt steht er und sicher hätte er durch einen lauten Ruf sein Erschrecken kund gegeben, wenn nicht Bonaventura, die Wirkung dieser Wiederbegegnung vorahnend, seinen Arm ergriffen und ihn von dannen geführt hätte.

Mühsam folgt Klingsohr. Das lange weite Gewand schleift an der Erde nach. Die Knie brechen dem Gefolterten. Glücklicherweise sind beide einer Kapelle nahe, in der eben Messe gelesen wird.

Beide knieen und mögen schwerlich beten können … falls nicht das Gebet ein Zwiegespräch der Seele mit sich selber ist.

Als sie sich erhoben und Bonaventura draußen im Freien fragt: Sie kannten jene Dame? darf der Mönch nur erwidern: Nein oder ja! Er erwidert: Ja! – Es war ein Wort wie ein Menschenleben.

Auf seinem Zimmer fand dann Bonaventura, als er nach dem seltsamsten Selbander von der Welt gegen Mittag 245 nach Hause gekommen, gleich beim Eintreten auf seinem Schreibtisch einen Brief, den ihm Renate aus St.-Wolfgang nachgesandt.

Er hatte ihr wol das Ansehen einer großen Wichtigkeit gehabt, denn er war mit Poststempeln über und über bedeckt.

Bonaventura erbrach und las:

Sub sigillo confessionis.

Quando quis tibi occurrit fidei romanae sacerdos …

Wir kennen die räthselhafte Einladung, die auch an den Dechanten ergangen war.

Wer weiß, ob dieser jetzt, wie er über die Berufung des geliebten Neffen durch die Römlinge zitterte, nicht ebenso von Bangen wäre ergriffen gewesen, hätte er das leuchtende Auge gesehen, mit dem Bonaventura diese Zeilen las und wieder las und sich nicht trennen konnte von den Worten: „Der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um die Kirche von ihren Fehlern zu reinigen!“

Freiheit! Freiheit! riefen tausend Stimmen in seiner Brust. Alle Creatur schien ihm zu schmachten nach Erlösung. Die gefesselte Zunge der ganzen Menschheit schien ihm nach Sprache zu ringen …

Er bewunderte den Kirchenfürsten; aber seine Ideale wankten. Er verzweifelte an der Kraft, in den großen Vorstellungen von seinem Beruf, die ihn sonst wie mit Cherubsflügeln emporgehalten, ein ganzes Leben lang noch mit seinem innersten Menschen aufzugehen.

246 9.#

Düster brannte die Lampe in einem kleinen, engen, doch behaglich eingerichteten Zimmer.

Die weißen Vorhänge zweier Fenster waren niedergelassen … Tiefe Ruhe … nur zuweilen das Schnobern von Rossen wurde hörbar in dem Hofe, auf den sie hinausgingen.

Elf Uhr schon …

Im Nachtgewande sitzt Lucinde auf einem weiß überzogenen kleinen Kanapee … vor ihr steht ein blinkender Mahagonitisch mit Zeitungen und Büchern bedeckt … in einem Winkel des Zimmers, hinter einem Schirm, steht ein Bett … Im kleinen weißen Ofen prasselt eine behagliche Flamme.

Endlich war sie frei von ihrem Tagewerk der Verstellung, hatte sich entkleidet, konnte noch nicht zur Ruhe gehen und wollte wachen.

Die dunkeln Haare hängen, halb schon aufgelöst, über Nacken und Stirn herab … diese Stirn, die seit einigen Jahren erst sich so mächtig über die Augen vorgedrängt … sie stützt sie mit der durch das Emporhalten fast blutlos gewordenen, schneeweißen Hand …

247 Auch das lange bauschige Kleid, das sie umhüllt, ist weiß … wie mußte die Schwärze ihrer Locken, das Feuer ihrer Augen dagegen abstechen! … Die Unruhe ihres Geistes zeigte sich in den Lippen, an denen die weißen Zähne zuweilen sichtbar werden; sie drückt und schneidet in sie fast mit ihnen ein.

Schon oft hatte sie begonnen, die Haare zur Nachtruhe zu flechten und zusammenzulegen … immer war sie von der Arbeit abgekommen, hatte die Hände sinken und dann den Kopf in so schräger Lage beharren lassen, als wenn sie noch flocht, noch ordnete … Wurde er ihr zu schwer, so stützte sie ihn … Darüber hatte sich der kleine Messinglampendocht verzehrt, aber lange währte es, bis sie die Düsterkeit merkte; dann griff sie zu und schraubte ihn höher und das weiße Licht verbreitete sich heller auf die weißen Vorhänge, die Gestalt im weißen Nachtgewande …

Lucinde gedachte des Gestern und Heute … Der leuchtendste Punkt war die Begegnung am Morgen.

Porzia Biancchi hatte in dem daherkommenden Geistlichen eine Aehnlichkeit entdeckt, die sie dem Vater und den Brüdern mittheilte, diese dann wieder dem Onkel Marco, der ein Maler war und die Kunst übte, alte Bilder zu restauriren und der dafür in diese an alten Bildern so reiche Stadt berufen war …

Wohl schlug das Wort an Lucindens Ohr, daß der daherkommende Geistliche dem Eremiten Federigo von Castellungo wie aus den Augen geschnitten ähnlich sähe; wohl nannte sie des von ihr, trotzdem, daß sie Klingsohrn sah, so ehrerbietig Begrüßten Namen, den freilich 248 nur Porzia’s Vater kannte von dem Dechanten, seiner buona pratica her … aber sie hörte nur das verhallende Knistern auf dem steinernen Estrich von Bonaventura’s Schritten, staunte nur dem leisen Gange eines mit Sandalen und nackten Füßen dahinschreitenden Mönches, hörte dessen Lieder und dithyrambischen Sprüche, die ihr aus dem einzigen starren Schreck seines sie erkennenden Blicks wie tausend Raketen aufschossen … sie sah nur noch dann, wie sie beide niederknieten und zu beten schienen …

Aus dem Dome schritt sie, heute die Segnung mit dem Weihwasser vergessend.

Sie war im Kattendyk’schen Hause wieder, nahm die Abschiedszeilen der Serlo-Leonhardi (die schon den Wortbruch enthielten, doch von des Mönches nächtlichem Besuch zu erzählen – glücklicherweise war sie mit ihren Kindern wirklich abgereist –) und sammelte sich erst nach den Anstrengungen des Zusammenlebens mit einer sanguinisch erregten, das Wichtigste leicht, das Leichteste wichtig nehmenden Familie, Abends spät, in diesem Zimmer, das in den Hof gehend ihr als das ihrige war angewiesen worden.

Serlo’s Kinder! Auch bei ihnen verweilte sie … Klingsohr’s Verrath an seinem Gelübde … um ihretwillen! … Sie lächelte befriedigt, doch sprach sie zu sich:

Mäßige dich nur! Sei nur still! Nur still! Lächle nicht, weder vor Freude, noch vor Schmerz! Laß alles über dich ergehen! Laß den Wolkenwagen des Geschicks dahinrollen wie im Gewitter! Zuck’ im Weltbrand nicht mit der Wimper! Ertrage, was auch komme, selbst das Seligste, mit Gleichmuth! Gib Gehör jedem Befehl, den die 249 Menschen hier, lieblos genug und ewig von Liebe sprechend und eigentlich liebevoll nur gegen zwei Bologneserhündchen, dir ertheilen! Sprich schon nichts! In deinem Ton liegt etwas, was der Ohrnerv der Eitelkeit nicht ertragen kann! Du willst ganz so sein, wie sie’s wollen! Todt! Du willst beten wie sie, denken wie sie, ihre Reden bewundern, ihre Einfälle überraschend finden! Tuschelt dir die Frömmigkeit der Commerzienräthin eines Tages ins Ohr: Liebste, ich habe einen Sack gekauft, kommen Sie, wir bestreuen das Haupt mit Asche und beten in den Sack hinein! … auch das thu’ ich! Will Johanna, daß ich an dem kleinen Professor extraordinarius die kleinen Nägel seiner Finger bewundere, ich thu’ es! Ich will leben wie die Wanderer in den Schneealpen sich zu unterreden aufhören, wenn sie hoch oben hinaufkommen und fürchten müssen, durch ein zu scharf ausgesprochenes Wort die tödliche Lavine zu wecken!

Dann bei der zweiten Toilette der Commerzienräthin und Johannens, bei dem nur Putz und Vergnügen erörternden Besuche der Frau Procurator Nück, bei dem Geflüster über die immer enger und enger sich schließende gefahrvolle Einheit des Ehepaars im zweiten Stock, bei dem gerühmten Behagen an der Ruhe im Hause, seit Piter nicht anwesend, bei den Mittheilungen über die Hauptmännin von Buschbeck, ihren Tod, ihre Frömmigkeit, ihr Testament an den Bruder Hubertus im Kloster Himmelpfort und die fehlenden Werthpapiere, diese Kapitalien, die sie als Kind so angestaunt hatte, weil sie ihr wirklich „rings auf den Feldern zu liegen“ schienen – zu allem 250 schwieg sie, ergänzte nichts, berichtigte nichts; sie wollte alles in sich verschließen und nur – ihre Zeit abwarten.

Gegen Abend war auch Treudchen auf einen Sprung gekommen und erzählte vom Kloster, wohin sie wirklich gegangen war ihren Geschwistern zu Lieb. Wie hatte man sie gefeiert! Selbst mit ihren Geschwistern hatte man sie überrascht, die aus dem Waisenhause waren abgeholt worden! Alle hatten Geschenke bekommen! Von Cajetan Rother, dem ehrwürdigen Beichtvater der Schwestern, für den das Sprachgitter nicht vorhanden war, hatte sie selbst ein zierliches Büchlein mit goldenem Schnitt empfangen, das Leben einiger besonders vorzüglicher Heiligen und Heiliginnen darstellend … Die Kinder trugen eine Last Confect mit sich heim, wie dergleichen auch nur in Klöstern gebacken wird … Sie zeigte ein von Schwester Beate erhaltenes Nadelkissen in Form eines Ostereis, ganz von Seide, vergoldet und in jenem Geschmack, der so eigenthümlich der frommen Kunstfertigkeit hinter Klostermauern angehört … Schwester Therese hatte dann vorgelesen, Marienlieder, deren einige man im Chore gesungen im Refectorium, vor und nach – dem Kaffee – und dieser Kaffee wäre so gewesen, wie nur je einer in der Dechanei zu Kocher am Fall, wenn etwa der Geburtstag des die „lieben Freundinnen“ bereisenden Fräuleins von Minnerich oder der Frau Majorin Schulzendorf gefeiert wurde oder eine jener Kindergesellschaften, zu denen der gute Dechant (früher, ehe der Geist der Kirche so streng wurde) alle kleinen Kinder in Kocher am Fall ordentlich durch Visitenkärtchen einzuladen pflegte.

251 Die frohen Mittheilungen kamen dann auch hier, auf Veranlassung der Dechanei, bei dem Morde der Frau Hauptmännin wieder an, bis dann Treudchen zu Madame Delring, ihrer nachsichtigen Herrin, wieder hinaufsprang …

Am Abend war auch die zweite, wie es schien quecksilberne Tochter der Commerzienräthin, Frau Procurator Nück, wieder erschienen, eine kinderlose, nur dem Putz und ihrer Eitelkeit lebende Frau. Lucinde hatte sich sogleich ihr Herz gewonnen durch einige Bemerkungen über ein neues Kleid, das sie trug. Sie war gestern im Theater gewesen und häufte das Allernachtheiligste auf die Darstellerin der Frau von Waldhüll und die kleinen „Fratzen“, die Lucinde so gern wiedergesehen hätte, wenn sie nicht das System gehabt, auch bei Genüssen des Gemüths, sie sich versagend, zu sprechen: „Wozu?“ Das war das kalte Wort, das ihr eigen geworden, mehr Worte eines herben Behagens am Entbehren und der Selbstqual als der Herzlosigkeit. Im Geiste Serlo’s hätte sie der Frau Procurator sagen mögen: „Liebste Frau, wäre das Haus voll gewesen, so hätte Ihnen alles gefallen! Da es aber leer war, übertrug sich Ihre Verstimmung über die geringe Bewunderung Ihrer Toilette auf die Leistungen der Mutter, der Töchter, auf alles …“ Sie behielt das, wie jedes dergleichen, zurück, horchte nur dem Gespräch, bei welchem auch Benno genannt wurde, „meines Mannes bester Arbeiter“, der „von ihm nach dem Hüneneck geschickt worden ist“ … und auch den Reiz, Benno’s Weise gegen den Schein eines Sich-so-nur-schicken-lassens zu befreien, unterdrückte sie … Sie sagte 252 nur immer ihren Leibspruch, ein Wort des heiligen Augustinus: Trahimur! Trahimur!)*)

Um sich zu beruhigen, hatte sie einmal wieder in Serlo’s Papieren zu lesen angefangen und hatte auch wieder aufgehört …

Endlich begann sie aufs neue:

„Ist es denn möglich“, schrieb Serlo einst vor Jahren, „was ich gestern erleben mußte! … Eine junge Frau war in dem Hause, wo ich wohne, gestorben und sollte heute in der Frühe beerdigt werden … Eine alte Schauspielerin, die zu unserer Truppe gehört, klopfte, wie ich schon im Bette liege, an meine Thür, nennt ihren Namen und wünscht mich zu sprechen. Ich staune und fürchte – eine Anleihe. Nachdem ich mich angekleidet, öffne ich die Thür und in ihrem besten, elegantesten Anzug erschien die Darstellerin – der Zigeunermütter und Hexen mit einer augenblinzelnden und doch beklommenen Artigkeit. Nie hatt’ ich mit ihr viel Worte gewechselt und erstaunen mußt’ ich über die Wahl ihrer Ausdrücke, die Artigkeit ihres Benehmens, die Feinheit ihres ganzen, mit ihrem Rollenfache im vollkommenen Widerspruch stehenden Wesens. Verzeihen Sie! sagte sie nach einer Weile, wo ich das gefürchtete Anliegen erwartete, verzeihen Sie, in diesem Hause ist eine Leiche? … Ja, sagte ich, eine junge Frau, die an einem Herzfehler starb! … Sind die Leute wohlhabend? … Sehr arm! war meine Antwort … Würde der Mann gestatten, wenn ich ihm zwei Thaler schenkte – … Sie stockte … Gestatten? 253 Was? fragt’ ich erstaunt … Mutter Viarda lächelte seltsam … Sie werden mich für eine Närrin erklären, begann sie aufs neue, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich eine – Liebhaberei habe, die keine andere ist als die, – Todte zu schmücken! … Wie? sagte ich und zog mich erschrocken zurück; ich glaubte mit einer Verrückten zu reden … Sie sind erstaunt, fuhr mein Besuch fort, Sie zweifeln an meinem Verstande, und doch bitt’ ich Sie wirklich, führen Sie mich zu dem Manne und erlauben Sie mir, seine Frau so zu schmücken, wie ich ein ganz unwiderstehliches Verlangen trage, wenn ich irgendwo eine Leiche sehe … So traurig die Veranlassung dieser Bitte war, ich mußte doch über sie lächeln … Da Sie zu Ihrem Liebeswerk noch zwei Thaler dazugeben wollen, sagte ich, so will ich mit dem Manne reden … Ich ging in der Dunkelheit die Stiege hinunter und fand den armen Handwerker mit seinen Kindern um die schon im Sarge befindliche, nur mit einem einfachen weißen Hemde bekleidete Leiche seiner Frau, der Mutter seiner trauernden Kinder … Mein Anerbieten konnte als ein Werk der Barmherzigkeit gelten und die Annahme fand keinen Anstand … Ich kehrte zu meiner Auftraggeberin zurück und begleitete sie hinunter … Mit allen Zeichen der Theilnahme trat sie an den Sarg, fuhr mit der Hand über die kalte Stirn und sagte dann: Hier, lieber Mann, da sind zwei Thaler, aber lassen Sie mich mit der Leiche allein! … Der Mann ging arglos, wenn auch überrascht, mit den Kindern auf den Vorplatz … ich wollte bleiben … Auch Sie, Herr Neumeister! sagte sie (ich führte damals noch meinen alten Namen) … Als ich zögerte und etwas 254 befürchtete, das nicht in der Ordnung war, sagte sie: Herr Neumeister, wenn Sie schweigen und mich nicht stören wollen, können Sie bleiben … Ich blieb und sah voll Grauen, was die Darstellerin der Zauberinnen, Hexen und Zigeunermütter begann … Sie stellte einen Beutel, den sie unter ihrem Mantel verborgen hatte, zur Erde, zog eine Anzahl frischer Blumen hervor, legte sie der Leiche auf die Brust, in die Hände, ums Haupt. Dann ergriff sie ein kleines Döschen, das ich sofort als Schminktopf erkannte, tupfte hinein mit etwas Baumwolle und schminkte die Wangen der Leiche, daß sie wie volles blühendes Leben aussahen … Jetzt, meines Grauens und meiner Ausrufungen nicht achtend, ergriff sie gierig die kleine zinnerne Lampe und beleuchtete ihr Werk … es war ein Anblick, das Haar sträuben zu machen … Sie redete mit der von ihr geschminkten Leiche und wie mit einem ihr bekannten Wesen, redete voll Theilnahme, voll Herzlichkeit, beklagte die Leiden derselben, tröstete sie, eröffnete ihr ein Reich der seligsten Hoffnungen und ging zuletzt von dannen, wie wenn ihr ganzes Sein sich einmal aufgelöst hätte wieder in Andacht, Poesie und längstentbehrter Liebe … ich sah sie dahinschreiten wie ein Gespenst … Als ich allein war, bekämpfte ich mein Grauen, tauchte den Finger in das Oel der Lampe und entfernte die trügerische Lüge des Lebens von den todten Wangen … Der Gatte und die Kinder kamen zurück … sie fanden nur die Blumen und stockend erzählte ich, der Alten wäre es ein Bedürfniß, in dieser Art stille Liebesopfer zu vollziehen … Diese Frau, mit der ich täglich verkehren mußte, konnte ich nie mehr ansehen, schwieg auch von dem Vorgefallenen zu jedermann, bis 255 ich von andern erfuhr, daß diese Manie allgemein an ihr bekannt war und daß sie, um sie zu befriedigen und vor den Folgen ihres dadurch erlangten Rufes, der sie die Leichenschminkerin nannte, sicher zu sein, schon seit Jahren ein traurig irrendes Wanderleben führte.“

Oft hatte Lucinde diese Stelle gelesen … mit Lachen sogar … heute erschien sie ihr in einem seltsam andern Lichte …

Sie überschlug jedoch einige Betrachtungen über das, was man ein Leichenschminken in der Geschichte nennen könnte, und fuhr fort:

„Wie mich dann diese Erfahrung auch wieder zurückversetzt hat in meine erste Erziehung zum Priester, in die klösterliche Einsamkeit meines Jugendlebens im Convict!

„Ja, wer nennt euch alle, ihr Verirrungen, die unausbleiblich sind, wenn man die Grundnatur des Menschen eine verdorbene nennt und das Leben daran gesetzt wissen will, diese Natur zu bekämpfen, auszurotten und mit einer geläuterten, einem Kleide voll Glanz und Durchsichtigkeit zu vertauschen! «Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus!» war Jahrtausenden und ist noch jetzt Millionen nicht im Bilde gesprochen! Wirklich reißen sie sich – und andern den edelsten Theil des schönen menschlichen Baues aus! In dem protestantischen Wesen findet die Lehre von der Erbsünde doch wenigstens nur noch im allgemeinen eine Pflege; aber bei uns, den Treugebliebenen, uns, den in duldender Ergebung das große geschichtliche Vermächtniß Forttragenden, bei uns ist darauf die ganze Heilslehre begründet und der Teufel eine Macht, die man schon von dem Kinde wegbläst und wegkreuzigt, wenn es getauft wird. Jeden 256 ruhig prüfenden Seelenarzt frag’ ich, wie er es nennt, wenn das Mistrauen und der Haß vor der eigenen Person sich so steigert, daß man sein Ich einer fortwährenden Züchtigung unterwirft? Die Manie hört darum nicht auf eine Manie zu sein, wenn sie auch geheiligt erscheint durch Millionen, die von ihr befallen wurden. Oft kann uns schaudern vor einem Wahn, der die ganze Majestät der Gewohnheit und der Gesetze für sich hat. Und doch ist dem so und wir sehen es mit Wehmuth.

„Ich bekenne von mir, daß ich in meiner Erziehung zum Priester unter dem Druck einer steten Beängstigung vor dem Uebersinnlichen und Gespenstischen lebte. Die Fasten, die methodisch geregelten Lebensweisen machten uns Knaben bei allem sonstigen Leichtsinn den Kopf so wirbeln, wie eine immerfort angeschlagene eintönige Trommel zuletzt zur Verzweiflung bringt. Wir überboten uns, und nicht aus Eitelkeit und Liebedienerei, in der Schaustellung des Kampfes gegen Anfechtungen; wir wollten Visionen haben, wie Antonius in der Wüste und Franz von Assisi. Einen meiner Mitschüler fand man eines Tages mit verletzten Gliedern ohnmächtig in seinem Zimmer am Boden. Die Gewohnheit hatte er gehabt, in jedem Augenblick, wo er allein war, an einem Querholz, das er nach langen geheimen Mühen so über einen in der Mauer hervorstehenden Balken befestigen konnte, daß es sich auch ebenso wieder abnehmen ließ, ohne daß man die Anstalt bemerkte, sich anzuklammern und für sich ganz allein wie Christus am Kreuze zu schweben. In dieser Selbstmarter würde er immer weiter gegangen sein, wenn man ihn so nicht eines Tages besinnungslos gefunden hätte.

257 „Empfindung hab’ ich für alles Poetische, das einem solchen Wahn und einem darauf begründeten Glauben und Leben zum Grunde liegen kann; ein Schauer überrieselt mich aber doch, wenn ich mir eine solche, damals nicht etwa bestrafte, sondern eher noch bewunderte und belobigte Gesinnung in ihrer spätern Entwickelung, im weißen Gewande des Dominicaners, als Großinquisitor, als Beichtvater eines Fürsten denke und an solcher Stelle dann die Loose gemischt und gezogen, die über das geistige Wohl der Jahrhunderte entscheiden wollen. O du edler Gekreuzigter, den ich so innig liebe, was geht auf deinen Namen! … Einst fragte ich einen Arzt nach meiner Leichenschminkerin. Solche Dinge entstehen aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens! sagte er … Nun wohl, dann will ich einen Schleier fallen lassen, so groß wie der sternenlose, schneeverhüllende Nachthimmel des Novembers, über euch Kirchen und Kapellen und Klöster und Schulen, in denen die Priester im Geiste Hildebrand’s erzogen werden und wirken! …

„Ich sah auch vielerlei Wahn, der nicht aus den Störungen des geschlechtlichen Lebens kam. Die beleidigten Geister der Freiheit und Natur rächen sich. Sie jagen wie mit Furienfackeln die Feinde der Menschheit, die Verbrecher gegen den Heiligen Geist rund um sich selbst, daß sie keinen Ausweg mehr wissen vor ihrem eigenen Schatten und mitten in ihren Siegen, mitten in ihren Triumphen eine Verzweiflung sie ergreift, die ihnen zuletzt nicht den geistigen Tod als die höchste Lebenswonne vorspiegelt, sondern sogar den physischen –

„Wir hatten unter unsern Lehrern einige ehemalige Benedictiner, in ihrer Art höchst gelehrte und an sich vortreffliche 258 Männer. Sie gehörten Klöstern an, die man aufgehoben, Klöstern, in denen sie mit großer Bequemlichkeit gelebt hatten. Einer davon verschmerzte die Versetzung in den Stand des Weltgeistlichen sehr leicht. Es war ein Mann jovialer Natur, plauderhaft und nicht reinen Geistes. Ihm hätte des alten Römers Wort: Vor Kindern habe Scheu! vorzugsweise gerufen werden können. Seine behäbige und immer lächelnde Art war die der unerlaubten Vertraulichkeit im Reden. Wie ein leckes Faß war er, das aus allen Ritzen quillt. Seine Lust war die, Geschichten aus seinem Kloster zu erzählen, alles durcheinander, Heiliges und Weltliches, Verbürgtes und Unverbürgtes – später hab’ ich oft solche unwürdige Greise gefunden, die ein Gefallen daran finden, gerade vor der Jugend geistig entblößt zu gehen. Was hat uns nicht dieser alte Professor, Pater Sylvester, von seinem und allen Klöstern und Pfarreien der Welt erzählt! Nichts etwa, was gegen sie zeugen sollte, nein, das Frommste, das Andächtigste, aber gemischt mit dem Unmöglichsten und sich eben deshalb dem Spott von selbst Anheimgebenden! Die Geschichten von einer Pfarrersköchin, die mit dem Teufel zu thun gehabt hatte, erzählte er ebenso für bestimmt, wie er die Versicherung gab, daß im Fegefeuer die Männer und Frauen getrennt sind. Dies bewies er aus der schlechtern Natur der Weiber, die durch Aussprüche der Concilien erhärtet wurde. Die Entziehung des Kelches schrieb er dem Ueberhandnehmen der Bärte zu und der Gefahr des Weines vor dem Ungeziefer – Kein Bienenschwarm, sagte er wie mit Schwuresbetheuerung, der in eine Kirche käme, rühre die Hostie an – Zwei Leichen hätten in einem Grabe 259 gelegen, als man sie aber ausgrub, hätte man die eine über der andern gefunden und als man näher sich erkundigt, war die untere ohne Beichte gestorben – Dem Pfarrer gebühre eigentlich von allem der Zehnten, auch von der Ehe; diesen könnte er aber den Neuvermählten schenken, da er jede Ehe schon vollständig allein genösse, nämlich am Altare im Sakrament (man denke sich, wie uns reifende Knaben diese Worte aufregten!) – Die Kirchenglocken wären die Zungen der Lüfte, folglich müßten sie auch wie jede Zunge fasten; das geschähe am Grünen Donnerstage – Im Beichtstuhl müßte man vorzugsweise nach den Träumen fragen; eben in diesen läge der wahre Schlüssel zur beichtenden Seele, die oft selbst nicht wisse, was ihre wahre Sünde sei – Beim Lesen einer Todtenmesse erkenne man daran, wenn dem Priester das Kind Jesu in der Hostie erschiene, daß die Seele nicht mehr im Fegefeuer wäre – Und so gingen diese Belehrungen des Paters Sylvester fort bis zur Exaltation über den Werth eines Priesters, daß dieser uns geradezu Gott gleichzukommen schien. Zwischendurch liefen in aller Harmlosigkeit Berichte über ein Nonnenkloster, wo die Schwestern im Klostergarten bei Mondschein wandelten und unter den Blumen das Kind Jesu suchten und oft schon hätten sie’s gefunden, sagte er, und hätten’s in die Kirche an den Hochaltar getragen, geputzt und lieblich angesungen und allerlei Spaß mit ihm gehabt – oder von einem Mönche, der in einem Büchschen den Staub sammelte, der sich am Hochaltar auf den Marienbildern anlegte, und damit Zahnweh vertrieb und Aehnliches.

„Was aber auch Pater Sylvester uns in Mußestunden 260 und beim Spazierengehen mit ernster Miene an solcher Narretheidung zuflüsterte – man schickte ihn endlich in ein Versorgungshaus – nichts kam dem gleich, was wir in unserm düstern Gebäude mit seinen langen Gängen, finstern Zellen, durchräucherten Winkeln und gefängnißartigen, vergitterten Fenstern endlich selbst erlebten.

„Ein anderer Benedictiner, Pater Fulgentius, war ein Mann von großen Kenntnissen und strenger Disciplin. Cholerischen, oft aber auch wieder tiefmelancholischen Temperaments und wie von Schwermuth über die ganze Erdenschöpfung ergriffen, flammte er bald in Ausbrüchen der Leidenschaft auf, bald versank er in ein fast menschenscheues Umherirren und Suchen nach einer Ruhe, die er nicht finden konnte. Er brachte es dahin, daß Pater Sylvester endlich entfernt wurde. Von zelotischer Strenge in seiner Lehre strafte er, ließ züchtigen und verbreitete Furcht und Schrecken. Dieser Gesinnung wegen hatte man ihn zum Rector ernannt. Erst schloß er sich ein, um diese Würde abzulehnen – zwei Tage lang! Als er endlich, von Hunger und Durst getrieben, nachgeben mußte und öffnete und die Würde annahm, war er eine Zeit lang die Milde selbst; bald aber kam die alte wie aus Feindschaft gegen Gott und die Welt hervorgehende Strenge, die indessen den Ruf der Gottseligkeit der Anstalt mehrte. Endlich verbreitete sich das Gerücht, daß es mit dem Pater Fulgentius nicht geheuer wäre. Nachts hörten wir Kleinern zuweilen ein plötzliches Laufen auf den Corridoren, ein Schellen wie nach Hülfe – am folgenden Morgen erfuhr man, der Rector wäre krank gewesen. Erst nach einigen Tagen erschien er dann 261 wieder, düster und verfallen, mit dem Ausdruck des tiefsten Seelenschmerzes und so, als läge das ganze Leid der Welt auf seinen Schultern. Diese nächtlichen Begebenheiten wiederholten sich, ja am Tage kamen sie schon vor und allmählich verlautete die grauenhafte Kunde, daß der Rector, gefoltert von Seelenleiden, unzufrieden mit allem und mit sich selbst zumeist, eben noch die gleichgültigsten Dinge reden, dann aber in seine Zelle gehen konnte und Versuche machen, sich zu entleiben. In der ersten Nacht hatten ihn einige Schüler der ersten Klasse gerettet, die um Mitternacht in den Chor mußten, um zu singen. Sie klopften, um den Rector, der sich zuweilen auch diese Unterbrechung des Schlafes auferlegte, abzurufen, traten, da niemand sein Zimmer verschließen darf, selbst ein Lehrer nicht, ein und hatten den Anblick eines Erhängten. Die rasche Entschlossenheit eines der stärksten Alumnen schnitt ihn los und allmählich kam er zu sich. Man verschwieg den Vorfall, mußte ihn verschweigen; aber er wiederholte sich. Man suchte die Ehre der Anstalt zu wahren; die Verbindung mit der Außenwelt war so lose, so locker, die Intervalle der Selbstzerstörungsanfälle wurden zuweilen länger; man bewachte den Unglücklichen, nahm ihm weg, was ihm die Ausführung seines Gelüstens erleichtern konnte – und so wurden diese Dinge vertuscht. Als jedoch immer und immer die Scenen wiederkehrten, beriefen die Professoren, die größtentheils durch Pater Fulgentius berufen und angestellt waren, einen Mann, den wir, als wir davon erfuhren, nicht anders als für einen Exorcisten halten konnten. Denn es stand uns fest, daß eigentlich an dem Pater Fulgen-262tius sich eine besondere Absicht der Vorsehung offenbarte. Wir sahen ihn um seines gottseligen Lebens und seiner Lehre willen nur unter den Anfechtungen des Teufels. Ihn dem Himmel zu erhalten schien uns der Zweck eines Besuches zu sein von einem durch seine Ascese berühmten Mönche, einem Laienbruder der Franciscaner, der aus ferner Gegend angemeldet wurde.

„Ein Bruder Hubertus erschien. Eine hagere, fast skeletartige Gestalt, mit einem Kopfe, der schon dem Beinhause anzugehören schien. Angekommen, verneigte er sich freundlich nach rechts und links und begrüßte den Rector scheinbar nur im Auftrage seiner Obern mit dem Ausrichten einer ihm anvertraut gewesenen Commission in Sachen eines Processes; denn auch ein Advocat begleitete ihn. Pater Fulgentius wußte nichts von dem Vorhaben seiner Freunde, die eine Heilung durch den Bruder Hubertus nach dessen Rufe für möglich hielten. Auch ich erfuhr erst viel später den ganzen Zusammenhang aller dieser Vorgänge. Auf meinen künstlerischen Irrpfaden begegnete ich einem meiner frühern Mitschüler, einem inzwischen angestellten Pfarrer, der damals den obern Klassen angehört hatte, die den Rector bewachten. Man denke sich Vorlesungen über den Glauben und die Liebe, die unter solchen Umständen gehalten wurden! Jener berühmte Rechtslehrer, der in Berlin auf die vernünftigste Art seine Pandekten las und dennoch sich einbildete, Kaiser Justinian zu sein, hat mich oft an diese Collegien in unserm Convict erinnert. Von diesem alten Mitschüler erfuhr ich erst, daß Bruder Hubertus, der gleichsam zum Ausruhen von seiner Fußwanderung einige 263 Tage länger unter uns verblieb, eines Tages den Befehl gab, die Werkzeuge der Selbstzerstörung in des Paters Nähe – nicht wegzunehmen. Es geschah dies …“

Lucinde hörte die zwölfte Stunde schlagen …

Sie legte die Blätter zusammen …

Sie kannte ihren ganzen Inhalt …

Sie hatte alles das schon so oft gelesen und nahm es nur dann wieder vor, wenn sie sich für den Zwiespalt, in dem sie mit den Auffassungen Serlo’s lebte, eine Beruhigung suchte, eine Brücke der Vermittelung …

Hätte Serlo noch gelebt und neben ihr gestanden – mit seiner elegischen Ironie, der lässigen Ergebenheit, der sichern Zuversicht, daß dies ganze Dasein der Mühe des Lebens nicht lohne – sie würde vielleicht über Religion und Kirche gedacht haben wie er. Bonaventura aber glaubte anders … Das zog sie, sich nicht den Anschauungen Serlo’s gefangen zu geben … Wie sie schon den Beda Hunnius anders beurtheilte als Serlo, so hätte sie auch getrost den ganzen Bau, der sich um sie her durch ihr neues Bekenntniß wölbte, vollkommen anerkannt und an seiner Vollendung mitgearbeitet, hätte nur Bonaventura irgendwie ermuthigend und beifalllächelnd zu ihr herabgesehen … und das stand überdies in ihr fest: Wahn ist ja alles! Für den Glauben aber, es wäre kein Wahn (und der ist nothwendig, wenn nicht alles zusammenfallen soll), kann es mancherlei Formen geben, von denen dann allerdings die eine vielleicht eine Kleinigkeit besser ist als die andere …

Der Name des Mönches Hubertus durchschauerte sie 264 jedesmal, wenn sie von ihm las. Sie hatte ihn nie gesehen – aber in ihrer Jugend oft von ihm reden hören. Was knüpfte sich nicht alles an ihn an! An diese alte Liebe der wie einst ihre Tauben gestern so am Küchenherd Erwürgten! … Die Nächte im Pavillon des Parks vom Schloß Neuhof, wenn die Ulmen rauschten und der Mond mit seinem so klugen, aller Dinge der Erde kundigen Antlitz in ihre Kammer schien, nachdem sie das Licht ausgelöscht und sich auf ihr Lager geworfen …

Auch jetzt ging sie zur Ruhe … die Lampe auslöschend und hinter ihrem Schirm verschwindend wie ein Schatten …

Sie hatte die Ahnung, daß sie noch durch viel Untergang und Zerstörung gehen würde – Dann war es ihr immer, als stünde alles um sie her in Flammen … Und auch heute war ihr erster Traum eine Feuersbrunst …

Allmählich wurden die Bilder ruhiger … Noch zeigten sie wol die alte Frau Hauptmännin auf der Todtenbahre … Hubertus trat zu ihr ein wie zu Pater Fulgentius … Doch was sind Träume! … Der „Advocat“, der hinter ihm stand, war erst Lucifer selbst – dann milderten sich die Schrecken – die Gestalten wurden bleicher und bleicher – zuletzt blieben nur die beiden Bologneserhündchen übrig und Herr Maria mit seiner saubergefältelten Wäsche und mit Deutschlands feinstem Dialekte.

265 10.#

Hoiho! … Hoiho! … Hoiho!

So rief es hellauf hinter einer lieblichen Gruppe von Birken und Hängeweiden und von einer weiblichen Stimme, rein, metallen, wie Silberton.

Die Ruferin war ein junges Mädchen in blauem Kleide, einem leichten runden Strohhut auf dem einfach gescheitelten Haare –

Ein Ruder in der Hand stand sie in einem leichtgebauten Kahn, ihn hin- und herwiegend mit herausforderndem Muthe. Noch lag der Kahn an einer Kette, die ihn am Ufer festhielt; noch stieß und rauschte sein Vordertheil an den Sand und die Steine des Strandes der Insel Lindenwerth. Ein Schifferknabe saß an der entgegengesetzten Seite; das Steuerruder schon in der einen Hand und auf den erwarteten Befehl bereit, die Kette mit der andern zu lösen.

Die Ruferin winkte jetzt durch die Hängeweiden und Birken hindurch einem alten, von Linden umstandenen Gebäude zu, das klosterähnlich dicht in der Nähe, in der Mitte der kleinen Insel lag. Sie schien es auf ein Fenster 266 abgesehen zu haben, an dem auch eben eine andere, ältere weibliche Gestalt sichtbar wurde.

Der Seemannsruf Hoiho! Hoiho! schien aber dort nicht die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen.

Armgart von Hülleshoven – sie nur ist es – befahl mit einem kurzen vertraulichen Winke dem Schifferknaben, weiter ins Wasser hinauszustechen und lehnte sich selbst über Bord, um die Kette vom Pflocke, der sie festhielt, abzunehmen. Als zu dem Ende der Knabe sein zweites Ruder ergriffen hatte, nahm sie ihren Hut ab und setzte sich ans Steuer statt seiner. Der Knabe wußte schon, sie wollte, um von der Dame am Fenster gesehen zu werden, mehr die Höhe der kleinen Hafenbucht gewinnen.

Nun mußte doch gewiß das Winken mit dem großen Hute sichtbar werden an dem Fenster des Klostergebäudes!

Aber jetzt war die daselbst ersichtlich gewesene Dame vollends verschwunden.

Armgart harrte erst, ob die Gerufene inzwischen vielleicht herabkäme … Da sie aber ausblieb, forderte Armgart den Knaben auf, einige hörbare und kräftige Zeichen von sich zu geben.

Hast ja dem geistlichen Herrn neulich um deine Stimme so gefallen, sagte sie, und sprichst als Ministrant dein „Saecla Saeclum“ so prächtig laut, daß sie dich hören muß, Tönneschen! Ruf’ einmal recht Juhu!

Und Antonius, genannt Tönneschen, rief denn auch, immer auf ihr Auge sehend, ein Juhu um das andere lautschallend in die Weite hinaus. Freilich mußte er dazu von Armgart erst wieder aufs neue ermuthigt 267 werden, denn es ging gar still her um die Insel Lindenwerth und wirklich war er von jenem geistlichen Herrn um seines schönen Aussehens und seiner sanften Augenwimpern willen in allem Ernst zur Verfolgung der kirchlichen Laufbahn ermuntert worden, als er ihn beim Ueberfahren zu den Englischen Fräulein in einem Büchlein schon vor Wochen auf den Thuriferar studiren sah, den er am morgenden Sonntag drüben in der Kirche zu Drusenheim – noch nicht in der byzantinischen des Herrn Bernhard Fuld, sondern in der alten – beim Hochamt übernehmen sollte.

Ei, Tönneschen! Lauter! Lauter! Was schadt’s! rief Armgart.

Nun ließ Tönneschen ganz den Schifferknaben los und wagte einen Naturlaut von einer solchen Kraft, daß man das Echo vom jenseitigen Ufer drüben im Enneper Thale, wie hüben vom vielbesungenen Hüneneck zurückschallen hörte.

Dann sah er Armgart an, als wollt’ er sagen: Nun, war’s so recht? Aber dir überlass’ ich die Verantwortung!

Die Dame erschien wieder am Fenster …

Sie machte jedoch die entschiedensten Zeichen der Ablehnung der ihr offenbar zum Mitfahren gestellten Aufforderung.

Mit zärtlich winkender Geberde wiederholte Armgart ihr Anliegen. Sie zeigte ringsum in die Gegend, deutete mit dem Hut auf die wundervolle Luft und beschrieb mit dem einen Arm, den sie frei hatte, einen Kreis, als wollte sie sagen: Gibt es denn etwas Schöneres in der 268 Welt, als so auf dem schönsten Strom der Erde an einem Sonnabend Nachmittag im Kahne durch die Wellen zu kreuzen! Gibt es denn etwas Vernünftigeres, da du doch immer die Vernunft im Munde hast, als eine Erlaubniß zu benutzen, die die gestrengen Englischen Fräulein mir Unverbesserlichen zugestanden haben! Ist denn der Antonius Hilgers trotz seiner unverkennbaren Bestimmung zum Priester nicht der beste und kundigste Ruderer der Insel? Meiden wir denn nicht sorglichst die Dampfschiffe, obgleich, im Vertrauen gesagt, nichts über das Schaukeln geht, wenn sie vorüber sind und der Nachen in ihre zurückgelassenen Furchen geräth? Hüten wir uns denn nicht vor Thiebold de Jonge’s großen Holzflößen, mit denen nicht zu spaßen ist? Und ist denn nicht jetzt die Stunde, wo wir möglicherweise drüben –

Alles das sagte ihre Geberdensprache und ihr Blick, aber die grausame Dame zeigte auf eine Näharbeit, die sie hoch emporhielt …

Ach was! war Armgart’s Geberdenantwort. Sonnabend Nachmittag! Die seligste Zeit im Leben lernensgeplagter Jugend! Sonnabend Nachmittag mit seinem Stillstand aller theoretischen und praktischen Lehrcurse, mit seinem Wonnegefühl vollbrachter geographischer und linguistischer Anstrengungen, mit seinem erhebenden Rückblick auf wenig Lob und viel Tadel, mit seiner zurecht gelegten Sonntagswäsche, seinem erquickendsten Reinigungsbehagen, auch dem geistigen, dem abgelegten Sündenbekenntniß in der Beichte; Sonnabend, Sonnabend mit seinen Ahnungen und Hoffnungen auf Sonntag, auf die Extramehlspeise, Nachmittags auf die Landpartieen der 269 Philister, denen diese schöne Natur Feiertagskuchen ist, uns das tägliche Brot! … Alles das wurde durch Deuten auf Himmel, Wasser, Erde, Luft, Ohr, Auge, Herz und ähnliche erfinderische Mimoplastik ausgedrückt. Und zuletzt stand sie sogar ganz still, bat nur mit den Augen und ließ die an ihr jetzt sogar seit dem Abend bei Piter Kattendyk stadtbekannten zwei weißen Zahnperlen unter den vor Ungeduld und Schmerz halbgeöffneten Lippen sichtbar werden. Die Dame oben – es war Angelika Müller – sollte daraus entnehmen: Meine drei Aves, die ich für meine heute gebeichtete bekannte Ungeduld und Verzweiflung um das lange Schweigen des Dechanten und meiner angebeteten Paula und mein Herzpochen um die Antworten auf die Briefe nach Kocher am Fall und nach Wien zur Buße zu beten vom Pastor Engeltraut drüben aufbekam, hab’ ich bereits hinter den ausgenaschten Brombeerhecken und beim Auflesen der auf den Boden gefallenen ersten reifen Mirabellen in aller Stille hinter mir … also so komm’ doch, so komm’ doch, so komm’ doch!

Da nun aber bei alledem die Grausame hartnäckig und lächelnd ablehnend verblieb, da es auf der Insel sogar schon lebendig wurde über den Lärm des sonst so still sittsamen Tönneschen, da die Mitbewohnerinnen der Pension sich aus den Fenstern, ja sogar schon im Gemüsegarten meldeten und zwei davon, die kein Deutsch konnten, in französischer Sprache sich vom Ufer aus über Nautik und den Atlantischen Ocean mit Armgart zu unterhalten anfingen, was leicht damit enden konnte, daß ihrer mehrere mitfahren wollten, und als vollends von 270 dem Ufer am Hüneneck her schon ein Kahn voll natur- und romantiktrunkener Engländer und Engländerinnen angefahren kam, so wandte Armgart ihr letztes und stärkstes Beschwörungsmittel an.

Tönneschen riß die Augen auf über die Geberden, die plötzlich das Fräulein von Hülleshoven machte. Sie ließ das Steuer fahren, hob noch einmal das zweite schwere Ruder in die Luft und beschrieb mit ihm allerlei wunderliche Zeichen. Erst einen großen Kreis, dem sie gleichsam zuletzt in der Mitte einen Punkt gab. Dann ein Dreieck, in das sie wieder ein Dreieck hineinzeichnete. Dann ein Viereck, durch dessen vier Winkel sie einen Kreis beschrieb … So, eine mathematische Figur nach der andern, und wie die Hand müde wurde, legte sie das Ruder nieder und drehte mit dem Finger Spirallinien und Wellenlinien und machte Schnörkel über Schnörkel in die Luft.

Da schüttelte denn endlich Angelika Müller am Fenster lächelnd den Kopf. Sie schüttelte ihn wie über ein Wesen, mit dem man die unsäglichste Geduld haben müßte … Wir wissen aber schon, daß dies jene Zeichen sind, auf welche Dr. Laurenz Püttmeyer, Angelika’s Freund und funfzehnjähriger Verlobter (Hegel lebte nicht mehr, aber sein vom Staate respectirtes Testament duldete keinen neuen Lehrstuhl neben dem von ihm selbst bestimmten Nachfolger) seine rechtgläubige Philosophie begründet hatte.

Jetzt kam denn Angelika …

Rasch war Armgart bei der Hand, setzte ihr Ruder wieder ein und wies auf den Punkt, wo Angelika immer 271 vorzog, zu einer Stromfahrt einzusteigen … Und es war die höchste Zeit. Junge Mitpensionärinnen machten schon Miene, mitfahren zu wollen „nach Amerika“, wie es hieß, „nach Canada“ … Alle hatten seit einiger Zeit nur Amerika und Canada im Munde; Thiebold de Jonge hatte zwar keine Verwandte im Stifte und durfte es deshalb nicht betreten, trug aber doch die Verehrung für die Tochter seines Lebensretters nicht wenig zur Schau. Stundenlang in einem gelben Nankinghabit, das ihm mit rothseidenem Sacktuch auf der Brust und gelbem Strohhut allerliebst stand, in der Gegend der Insel allein herumzusteuern war seiner Schwärmerei „eine Kleinigkeit“. Ja, alle wußten schon, daß morgen im Enneper Thale Thiebold de Jonge und seine Freunde, Piter Kattendyk ausgenommen, zu den Hunderten von Gästen gehören würden, die sich Sonntags hier regelmäßig drängten, ja sie wußten schon durch Briefe aus der Stadt von Gebhard Schmitz, daß es ganz ausdrücklich auf eine Begegnung mit den Stiftlerinnen abgesehen war.

Angelika Müller kam, einen mächtig großen runden Hut auf dem Kopf, mit einem Shawl in Reserve für etwaige Zugluft, mit einem Regenschirm in Reserve für etwaiges Gewitter, mit einem Sonnenschirm in Reserve für etwaige zu stechende Sonnenhitze, mit einem Proviantbeutel in Reserve für etwaigen Schiffbruch und eintretende Hungersnoth.

Trotz der nicht erfüllten äußerlichen Erwartungen, die einst Frau von Gülpen auf die Dame setzte, die ihr diese „Nichte“ anempfahl, hatte sie ein überströmendes Herz voll Güte und Antheil. Sie lehrte in der Anstalt Rechnen 272 und Mathematik, ohne jedoch irgendwie geistig so abstract zu sein, wie sie es allerdings zum damaligen Schrecken des Dechanten äußerlich war.

Als die allverehrte Docentin der Mathematik, nicht ohne ein leises Kichern der Aengstlichkeit, über einige große Steine, unterstützt von dem hülfreichen Beistande der mürrisch zurückbleibenden Pensionärinnen, eingestiegen war, rief Armgart ein im Grunde des Herzens tief vorwurfsvolles: Gott sei Dank! und war über die Sprödigkeit ihrer besondern Freundin und Gönnerin fast dem Weinen nahe.

Du weißt doch, sagte sie und setzte sich wieder ans Steuerbord, während am Backbord Tönneschen jetzt beide Ruder zugleich mit kräftig ausholenden Armen in Bewegung setzte, du weißt doch, wie mein Herz bekümmert ist und wie ich ohne Beistand geradezu vergehen muß!

Angelika breitete im Kahn ihre Sachen aus und prüfte vor allem erst des Fahrzeuges Gleichgewicht. Da sie die unruhigen Bewegungen Armgart’s, ihr Aufstehen und Aehnliches voraussah, legte sie alles, was sie bei sich führte, sich gegenüber, um, so leicht sie war, doch Gegengewicht zu haben. Dann spähte sie rundum. Gefahr von größern Schiffen war nicht vorhanden. Die große Strömung des Flusses geht auf der entgegengesetzten Seite der Insel nach dem Enneper Thale zu. Tönneschen wußte schon, er hatte nach dem Hüneneck zu fahren. Prächtig ging es mit dem Strome; nur laviren mußte man, um nicht zu weit unten zu landen, sondern mehr nach oben, womöglich an des Herrn Joseph Zapfs stattlichem Wirthshause Zum Roland.

273 Das Kummervollste bleibt immer unsere baldige Trennung! sagte Angelika. Tante Benigna und Onkel Levinus machen jetzt Ernst mit Heiligenkreuz!

Armgart’s Ausdruck nahm den eines Schmerzes an, der den Blick, den Mund, die Bewegung der Arme, alles ergriff und sie einer jener leidenden, stillergebenen Heiligen ähnlich sehen ließ, die Murillo und Carlo Dolce gemalt haben.

Angelika! Was soll ich in Heiligenkreuz! sagte sie.

Erst nur die Stelle einnehmen; das Uebrige findet sich! Hunderte beneiden dich um das Glück, eine Stiftsdame zu werden!

Ein Jahr zur Probe, wie eine Nonne! Wie werden die alten Fräulein mich zurecht setzen in dem düstern Hause! Jetzt, wo ich Flügel haben möchte, um ans Ende der Welt zu fliegen!

Angelika vermied es auf diese Wünsche und Klagen zustimmend einzugehen …

Liebes Kind, sagte sie, eine Stiftsdame zu Heiligenkreuz schon in seinem sechzehnten Jahre zu werden, ist eine Auszeichnung, die man nur Familien vom ältesten Adel und von besonderer Distinction zuwendet. Nach einem Jahre kannst du dann mit deiner Pension wohnen, wo du willst, vorausgesetzt, daß du alle zwei Jahre einige Monate unter den Damen zubringst, die es vorgezogen haben sich im Stift für immer anzusiedeln. Und ist denn Westerhof so entfernt von Heiligenkreuz? Ein schöner Waldspaziergang und du hörst schon die großen Hunde von dem Kamp her bellen, aus dem Schloß Westerhof wie eine alte Gluckhenne heraussieht!

274 Angelika lachte, scheinbar über ihren eigenen Einfall; aber sie lachte eigentlich nur vor Behagen, weil Armgart sich so ruhig verhielt … auch sah die kleine Träumerin in ihrem Leid gar komisch aus.

Das ist noch mein Trost! sagte Armgart, setzte aber seufzend hinzu: Wer weiß, was aus Paula wird!

Das kann noch lange währen, liebes Kind! Rechnet man z. B. …

Nur nicht rechnen! rief Armgart.

Nicht rechnen? Als Stiftsdame wirst du den ganzen Tag rechnen! fuhr Angelika fort. Die Einkünfte bestehen in Naturalien und die vornehmen Fräulein müssen ihre Butter, ihre Eier, ihre Hühner, ihr Korn und ihr Stroh selbst verkaufen!

Also ewig – dividiren! sagte Armgart träumerisch seufzend. 16 Jahre in 1111 – so viel Jahre mögen im Stift beisammen sein – wie viel kommt da auf mich?

Du meinst, die Einkünfte werden insgesammt verkauft und jedem wird dann je nach seinem Alter sein Antheil gegeben? Bewahre, Kind! Früher war das so! Aber einige alte Fräulein kamen, die sehr geizig waren, andere trauten sich viel Kenntnisse von Handel und Wandel zu, jede hoffte für sich allein bessere Preise zu gewinnen, als der Verwalter, und nun verkauft jede ihre Einkünfte apart auf ihrem Zimmer für sich und hält alle vier Wochen bei sich Markt …

Nun gut! ergab sich Armgart. Wenn ich also auch Fische bekommen sollte aus unserm berühmten Lago Maggiore, dem Ententeich, so soll sie immer durch die neue Eisenbahn hier unser Tönneschen da kriegen und auf die Tables d’hote 275 am Hüneneck verkaufen! Nicht wahr, lieb Tönneschen? Bis du nach Belgien gehst?

Tönneschen lachte über die schmachtend elegische Huldigung und lachte nicht ohne Pfiffigkeit. Er gehörte zu den Knaben, die der Kaplan Michahelles vorhatte auswärts von den Jesuiten erziehen zu lassen …

Dem kleinen Kahne begegneten andere mit Fremden, die diesen schönen Punkt nach allen Richtungen hin genießen wollten …

Zur Belohnung für das von Armgart dabei heute so ruhig eingehaltene Gleichgewicht zog Angelika aus ihrer Provianttasche einen Brief …

Da rief Armgart: Wie? und sprang nun auf …

Jesus Marie! entsetzte sich Angelika. Das hatte sie nicht bedacht. Der Anblick eines Briefes ließ Armgart sofort alle Schrecken eines umstürzenden Kahnes heraufbeschwören. Vom Dechanten! rief Armgart und wollte den Brief haben.

Diese Worte hörte Angelika kaum vor verzweifelnder praktischer Anwendung der von ihr so oft vorgetragenen Theorie des Gleichgewichts.

Als die Bewegungen Armgart’s und des Kahnes sich beruhigt hatten, sagte Angelika:

Nein, wie du bist, Armgart! Es ist ein Brief aus Eschede! Der Herr Doctor ist mit deinem Vorschlage, die Seelen der Abgeschiedenen mit einem kurzen Symbol zu bezeichnen, überraschend einverstanden …

Armgart setzte sich mit einem tief geseufzten: So? Das! und voll bitterer Täuschung.

Angelika jedoch, der offenbaren Geringschätzung des „Herrn Doctors“ nicht achtend, rückte ihr zärtlich und mit 276 einer seit funfzehn Jahren auf die Sparkasse der Hoffnung gelegten Herzensinnigkeit näher und las:

„Ja, meine theure Freundin, daß … (die Liebenden nannten sich seit funfzehn Jahren noch „Sie“) Sie auch in den Ihrer geistigen Pflege anvertrauten Gemüthern Bekenner für meine Wissenschaft gewinnen, verpflichtet mich zum wärmsten Danke! Wie sehr Ihre Empfehlung meiner schwachen, von Gott sicher noch mit größern Erfolgen als bisher bedachten Bemühungen um das ewig Eine, ewig Viele und ewig Besondere in Ihrer Nähe Wurzel faßt, erseh’ ich allerdings aus dem Gedanken der holden Armgart, den abgeschiedenen Seelen, wenn sie zunächst dem Fegefeuer zufliegen, tiefbedeutungsvolle Abkürzungszeichen zu geben. Ja gewiß, es gibt Semikolon-Seelen, die ihr Dasein auf Erden fast zweifelhaft und unbeendet gelassen haben und dem Himmel nur ganz unfertig, vollkommen noch weltlich und fast leichtsinnig zufliegen:

[Abbildung Semikolon-Herz]

es gibt Fragezeichen-Seelen, die ganz nur im Jenseits von der Gnade Gottes abhängig sein werden und etwas noch ordentlich sich Aufbäumendes, Eulen-, ja Fledermaus- und Drachenartiges im Aufflug haben:

[Abbildung Fragezeichen-Herz]

Und daß dann Fräulein von Hülleshoven ihre Freundin 277 Comtesse Paula in der Betrübniß, die junge Gräfin könnte ihrem wieder recht nervenkrank gewordenen Zustande erliegen, gar schon innerhalb des großen Gottesherzens, das die Welt bedeutet, dem Fegefeuer in dieser Gestalt zufliegen sieht:

[Abbildung Kreuz-Herz]

das hat wirklich in allen Bewohnern von Eschede, denen ich dieses Symbol mittheilte, in der Frau Steuerinspectorin Emminghaus, in der Frau Geometer Schmedding, in der Frau Hofräthin Tübbecke und allen meinen treuen Anhängern und Anhängerinnen den Wunsch erweckt, auch einst nur in dieser Gestalt das Zeitliche zu segnen. Aufwärts die Flamme der Läuterung, das große Herz die das Universum zusammenhaltende göttliche Liebe und die Seele drinnen in Gestalt des geflügelten Kreuzes feierlich senkrecht emporsteigend“ …

Was schreibt er von Paula? unterbrach Armgart, durch das Wort „recht nervenkrank“ geängstigt …

Angelika hörte aber nicht, wollte nur fortfahren und las mit der Phantasie tief versunken in die kleine escheder Gemeinde ihres Freundes, die sie ihm ohne alle Eifersucht als Ersatz für einen Lehrstuhl in Berlin oder München gönnte:

„Frau Emminghaus“ –

Nein, nein! unterbrach Armgart. Schreibe deinem Freunde, daß die alle nicht so ins Fegefeuer auffliegen werden, wie Paula! Frau Emminghaus muß als geflügelte Kaffeekanne hinauf, Frau Tübbecke als geflügel-278ter Strickstrumpf und dein Doctor, der auch als schwarzes großes geflügeltes Dintenfaß –

Armgart! verwies Angelika aufs heftigste und wäre nun fast selber aufgestanden. Da jedoch suchte Armgart sofort ihre Unart durch eine Umarmung wieder gut zu machen und nun hätte selbst die ruhige Nachhülfe Tönneschen’s nichts gefruchtet, ein Unglück zu verhüten, wenn nicht glücklicherweise der Kahn schon dicht an das Uferschilf angekommen gewesen wäre … Der ausgestoßene Schrei der Lehrerin erstickte in einem Vergib mir, das Armgart schmeichelnd mit einem ihrer süßesten Töne sprach.

Von der gewaltigen Flut fortgetrieben, landete der Kahn weit unterhalb des Roland und mitten im Schilfe … Dem Tönneschen war dieser Landungsplatz gerade recht, denn er wollte im Kahne verbleiben, um noch zu morgen sein Latein zu lernen, das keineswegs blos aus Spiritu tuo und Saecula saeculorum bestand … Pfarrer Engeltraut ließ alle Knaben seiner Gemeinde, die sich durch Bravheit auszeichneten und solche Aeltern hatten, die ein glattgekämmtes Haar, ein sonntäglich Gewaschensein von Kopf bis zu Fuß, Schuhe und ein weißes, sauberes „Röchel“ über den rothen Talar, den die Kirche gab, verbürgten, nacheinander dem heiligen Meßdienst administriren. Tönneschen war zum ersten male zum Schwingen des Weihrauchfasses bestimmt und beide Mädchen lobten ihn und versprachen ihm, an dieser Stelle sich wieder einzufinden und bestiegen das Ufer.

Armgart wollte Angelika helfen … Diese lehnte es jedoch ab …

279 In ihrem, wenn auch in allen Literaturzeitungen ver-spotteten, doch von ihr und seiner Stadt und seiner Provinz hochverehrten Freunde war sie denn doch aufs tiefste gekränkt worden.

Ernstlich schmollend erwehrte sie sich eine Weile jeder Annäherung an ihr schwer verletztes Herz …

Armgart’s Anmuth aber trug den Sieg davon. Während Angelika erst die Lehre von den Curven zu befragen schien, bis sie den Ansatz machte, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, sprang jene schon voraus und machte den von Angelika endlich gewählten Weg zweimal und da gab es denn bald wieder Heiterkeit, Lachen, Kuß und Umarmung.

Das gewohnte Ziel ihrer stillbeschaulichen Wanderungen lag auf der Anhöhe. Angelika wäre heute lieber in die schönen, eleganten Wirthschaften und Gasthöfe gegangen, die am Fuße des Hüneneck liegen oder in den dem Wasser näheren, wenn auch weniger comfortablen Roland.

Doch dahin brachte Armgart nichts. Sie wies zu Hecken und Obstgärten hinauf und umschmeichelte die Freundin so lange, bis diese zuletzt zu den bekannten drei Birnbäumen folgte. Das waren drei einsame Birnbäume auf einem terrassenartigen Vorsprung der hohen Berglehne am Fuße des Hüneneck mit einer kleinen Bank und einer ganz himmlischen Aussicht.

Hier oben pflegte sich Armgart, wenn sie etwas athemlos von der steilen Anhöhe angekommen war, gleich in das rings wachsende Gras zu werfen und sich manchmal noch ganz wie ein fünfjähriges Kind zu kugeln, manchmal 280 aber auch von hundert Sorgen, von denen sie bedrückt zu sein vorgab, sich auszuklagen und auszuweinen …

So heute … Und heute nicht einmal vor Sorgen allein, sondern nur vor Ungeduld und Unruhe. Sie wußte, daß Benno in der Gegend war … Er hatte ihr durch Tönneschen’s Vater, der ihn gestern oberhalb der Insel übergesetzt hatte, sagen lassen, er hätte zwar bald in diesem, bald in jenem Dorfe ringsum zu thun, aber auch am Hüneneck, und vielleicht könnte er sie am Sonnabend Nachmittag irgendwo flüchtig begrüßen, am liebsten da, wo nicht die ganze Pension dabei wäre und jedenfalls nicht auf der Insel. Nun denke man sich die Unruhe, als die Beichte und das Mittagessen vorüber waren! Und sagen wollte sie es Angelika auch nicht, was sie von Tönneschen’s Vater wußte, den sie mit ganzen fünf Silbergroschen für seine Mittheilung belohnt hatte.

Kind! sprach Angelika, die noch immer nicht ganz die Kränkung ihres funfzehnjährigen Geliebten vergessen konnte, mit ernstem Verweise. Ich bewundere die Nachsicht, die Pfarrer Engeltraut mit dir hat!

Er kennt mich immer noch besser als du! antwortete Armgart mit klagender Stimme …

Weil er so nachsichtig ist, dir alles zu glauben! Freilich, wo soll auch der gute Mann all’ die Geduld herbekommen, von so vielen jungen, zur Hälfte erst gefirmelten Mädchen sich ihre Unarten erzählen zu lassen! Sprach der Pfarrer heute von deinen abgeschickten beiden Briefen?

Wovon nur sonst!

Was sagte er?

281 Ich würde die Mutter doch nicht sehen können, ohne ihr nicht gleich ans Herz zu fliegen!

Das denk’ ich auch! Und du gelobtest es?

Nein!

Armgart!

Ich werde die Mutter umarmen, wenn ich dabei die Hand des Vaters halte! Bisjetzt war Onkel Levinus mein Vater; Tante Benigna meine Mutter! Ich will Aeltern haben, aber Aeltern, die sich lieben! Lieben sie sich nicht, so will ich sie nicht hassen, aber –

Der Hufschlag eines Reiters aus der Gegend von der Universitätsstadt her unterbrach sie …

Nun merkte Angelika etwas an dem Aufblicken und dem Abbrechen und Vergessen der Rede und wurde ängstlich. Sie schlug vor, am Gelände des Berges weiter zu wandern und dann in den Garten der „Vier Jahreszeiten“ niederzusteigen. Dort hätte sie, wenn wie sie ahnte, Benno oder Thiebold kommen sollte, den lebhaften Verkehr vorschützen können. Sie sagte:

In den Vier Jahreszeiten ist immer so auserlesene Gesellschaft! Und ihr jungen Mädchen könnt euch nicht früh genug abschleifen! Komm, Armgart!

Damit ging sie schon.

Armgart lachte hinter ihr her.

„Abschleifen!“ rief sie …

Es war ein Lieblingsausdruck Angelika’s … eines von den klugen Lebensworten, zu denen auch das „Sichherausreißen“ der Madame Serlo-Leonhardi einst gehört hatte. Schon manche der Pensionärinnen hatte die boshafte Bemerkung gemacht: Fräulein Angelika Müller 282 ist allerdings vom Leben schon so abgeschliffen, daß nichts mehr an ihr übrig geblieben ist! – eine böse Anspielung auf die allerdings nicht unbedeutende Abstraction ihrer äußern Erscheinung.

Als Angelika nach Armgart’s Ausdruck „consequent wie eine gerade Linie“ weiter ging, um durch die Baumwege von hinten her in den Garten der Vier Jahreszeiten zu kommen, folgte Armgart ihr erst leise auf den Zehen nach und wollte sie rasch mit der Schleife ihres Strohhutes an einen Baum binden.

Hier ist unsere Jahreszeit! sagte sie. Siehst du! Trauriger, düsterer Herbst! Wie die Blätter fallen! Und die Birnen sind noch nicht einmal reif –

Dabei hatte sie eine gepflückt und versuchte sie trotz alles Weinens und aller Ungeduld des Herzens …

Die Erzieherin zankte jetzt wieder in allem Ernst, band sich frei, behauptete ihre Autorität und ging. Sie ängstigte sich wahrhaft, Benno von Asselyn oder der dreiste Thiebold de Jonge könnten hier so plötzlich hinter einem Busch hervortreten …

Armgart folgte und sagte:

Ich habe keine Kraft! Wie eine Binse könnt ihr mich biegen!

Als aber Angelika immer mehr eilte, erhob sie die Stimme zu feierlichem Ernst und rief laut hinter ihr her:

Das aber sag’ ich euch, wenn ich Furcht bekomme vor mir selbst und gegen euch alle nicht mehr aufkommen kann, dann flieg’ ich davon und sollt’ es in die Flamme des großen Gottesherzens selber sein!

283 All’ ihr Heiligen! wandte sich Angelika jetzt und sagte mit ängstlich schmeichelnder Geberde:

Aber Kind, so beruhige dich doch! Der Dechant ist ja nur so lässig! Er wird ja schreiben! Auch hört man ja aus der Stadt, daß die da kürzlich ermordete Frau eine Schwester der Frau von Gülpen gewesen ist! Das alles wird die Antwort gehindert haben! Und dein Vater wird wol selber kommen!

Nein! rief Armgart, wild mit dem Fuß auftretend, und entfloh dann und schoß den Weg hinunter.

Künstlich angelegte und wohlunterhaltene Wege führten niederwärts und zuletzt in den erwähnten Garten, in welchem Durchreisende unter einer langen Veranda die hochberühmte Aussicht genossen.

Armgart war bereits lange unten, als Angelika ihr nachkam …

Die Menschen hier! jammerte Armgart ihr entgegen und sah dabei doch über alle Tische hinweg, über Engländer, Maler, Studenten, berliner Hofräthe und Hofräthinnen und wer alles in Naturandacht hier beisammensaß …

Sie suchte Benno, der nicht zu sehen war …

Angelika bestellte zwei Gläser Milch.

Wenn das da deine Mutter wäre! flüsterte die Erzieherin neckend und zeigte auf eine junge Dame, die mit der Lorgnette die Gegend und die beiden Ankömmlinge musterte …

Sie wollte nur Armgart durch den Scherz beruhigen …

Armgart blickte rasch hinüber, dann wandte sie sich ab …

284 Du zweifelst wol, schmeichelte Angelika, weil die Dame so jung ist? Ei, deine Mutter ist eine ganz junge Frau, die nur zu lebendig, zu rührsam noch sein soll! Dein Vater mag ein vortrefflicher Jäger und Schwimmer und was sonst noch alles sein, aber mürrisch und kalt ist er! Das hast du doch schon an dem einsilbigen Hedemann gesehen!

Armgart sagte, Hedemann gefiele ihr ganz wohl …

Eines nur hat deine Mutter, fuhr Angelika flüsternd fort, was sonst nur dem Alter gehört … ganz silbergraue Haare soll sie haben …

Armgart wandte den Kopf …

Sie ist nicht vierunddreißig Jahre, hab’ ich gehört, und doch hat sie ganz silbergraue Haare! Sie trägt sie vorn in langen Locken und soll bei ihrer Jugendlichkeit und Schönheit damit so auffallen, daß alles still steht und ihr nachsieht!

Armgart gerieth in die größte Aufregung. Sie fand den Ursprung dieser Locken nur im Kummer … die Augen umflorten sich ihr, wie wenn ihnen Thränen zuströmen wollten …

Nun aber ertönte in nächster Nähe ein Posthorn …

Armgart lehnte sich rasch über die Brüstung des Gartens. Von der Universität her kam eben die Post angefahren …

Hüben schon seit fünf Tagen konnte Armgart das Posthorn nicht hören, ohne sich aus Kocher, und drüben seit gestern nicht, ohne sich schon aus Wien eine Antwort zu denken …

Der gelbe große „Rumpelkasten“ (Pensionsausdruck) 285 hielt am Roland und heraussprang – seligste Freude belohnter Erwartung! – in der That Benno …

Die Post selbst fuhr weiter … Aber Benno war sogleich in den Roland getreten und nun hielt die Post vor den Vier Jahreszeiten. Hier sprang ein zweiter Passagier heraus …

Alles das sah Angelika, aber nicht Armgart mehr. Armgart zog die Freundin mit sich fort – ohne daß die Milch bezahlt war! Benno könnte ja so leicht zu den drei Birnbäumen hinaufgehen wollen – „unnützerweise“, sagte sie – sie müßten also zu ihm. Der Weg ging durch das Haus; nun – „schliff sie sich ab“ in ihrer Art, an jedem, der ihr in den Weg kam, an Kellnern, die Kaffeegeschirr trugen, am Wirth, der dem neuangekommenen Fremden die besten Zimmer seines Hotels zeigen wollte, an diesem Fremden selbst, der sie mit neugieriger Theilnahme musterte. Sie flog voraus zum Roland und nicht etwa in dem Ueberwallen eines durch das Wiedersehen beglückten liebenden Herzens, sondern weil der „gute Mensch und Vetter sie ja möglicherweise irgendwo suchen könnte, wo sie gar nicht war“ …

Alles das sah Angelika mit Entsetzen, zahlte, ließ ganz gegen ihre Gewohnheit einige herauszubekommende Pfennige im Stich und kam nur eilends nach und gerade noch zur rechten Zeit, um die schon über die ersten freudigen Begrüßungen Hinausgekommenen zu trennen mit den Worten:

Halt Armgart! Was soll das? Der Brief ist an mich!

Die Adresse eines von Armgart schon halb erbrochenen Briefes war allerdings an „Demoiselle Angelika Müller“ …

286 Aber vom Onkel Dechanten ist doch der Brief! rief Armgart und mit wiederholtem: Was schreibt er denn? folgte sie Angelika, die zur Seite abgewandt schon mitten auf der Landstraße zu lesen begann … Und im Grunde besaß Angelika ganz die Spannung, wie Armgart, wenn sie dieselbe auch nicht eingestand.

Benno stand inzwischen in bestäubten Reisekleidern vor dem Wirthshause zum Roland und sprach mit dem Wirth, der ganz besonders erwartungsvoll seinem Eintritt entgegengeharrt zu haben schien. Als Armgart gleich mit ihrem Taschentuch ihn abzustäuben begonnen, hatte Herr Zapf mit mächtiger Stimme dem Hausknecht gerufen. In Kurzem war Benno befähigt, die Damen begleiten zu können.

Im Lesen vertieft und sogar des Chausseegrabens nicht achtend, schob sich Angelika querwärts in die Anhöhen hinauf. Armgart mit der Linken zurückdrängend, hielt sie mit der Rechten den Brief versteckt und lehnte jetzt schon eine Mittheilung zu machen ab. Müßte sie doch selbst erst ganz orientirt sein, sagte sie, und dann noch hinge jede Entscheidung von dem Pfarrer Engeltraut ab und von den Englischen Fräulein … und sie wisse ja das alles, was Anstand und Hausregel in Lindenwerth mit sich brächten!

Armgart faltete die Hände gen Himmel …

Benno suchte von dem Wirth loszukommen, der ihn in emsigem Gespräch begleitete …

Das wußte schon Armgart von der ersten Begrüßung her, auf ihr laut gerufenes: Hier! Hier! der Brief war an Benno aus der Residenz des Kirchenfürsten nach-287geschickt worden, der Dechant hatte ihm diese Zeilen übersandt als Einschluß einer umgehenden Antwort auf die Mittheilung über den Tod der der Dechanei seit Jahren fremd gewordenen Hauptmännin von Buschbeck … Er hatte geschrieben, daß er einige Tage lang suchen würde die Zeitungen zu verbergen, um die Tante auf eine nur allmähliche Art mit einer Begebenheit bekannt zu machen, die bei ihrem „zartfühlenden Herzen“ eine gewaltige Erschütterung und „allerlei Hausjammer“ in Aussicht stellte … Den Brief an „Demoiselle Angelika Müller“ hatte er ihm zu zweckmäßigster Besorgung beigelegt, weil er die Regel solcher Pensionate zu kennen erklärte, daß die Vorsteherinnen alle Briefe, die kämen und gingen, erst selbst zu lesen begehrten … Daß er dabei die Lage einer Leiterin mit derjenigen einer Schülerin verwechselte, bewies die wirkliche Aufregung, in der sich der alte Herr befand.

Armgart bat und bat:

Was schreibt der Dechant? Reist der Vater nach Wien? Wenn er mir verspricht, mich mit nach Wien zu nehmen …

Dabei suchte sie mit plötzlicher List den Brief zu erhaschen …

Armgart, nun kein Wort weiter! sagte Angelika und verbarg den Brief sorgfältigst. Ich habe geloben müssen, dich von keinem Schritt der Deinigen einseitig in Kenntniß zu setzen! Deine ganze Familie ist betheiligt! Alle sind sie es, die dich lieben! Morgen das Weitere nach der Messe! Und nun genug davon!

Jetzt war es doch für Armgart ein Gefühl, als 288 hätte sie sich auf die abschüssige Anhöhe werfen müssen und sagen: Nun, guter Gott, so laß mich sinken, sinken immer abwärts – bis in die Tiefen des Meers!

Benno hatte Mitleid mit dem lieblichen Kinde, dessen Natürlichkeit sich in keiner Regung ihres Gemüthes verleugnete. Sie sah wie eine von den bittersten Leiden der Seele Gefolterte und sich nun wirklich Ergebende so verklärt, so durchgeistigt aus, daß der von ihr mit einem ihr unbewußten Aufschlag der schönen Augen auf ihn gerichtete wehmüthige Bitteblick ihm das Herz mit Schmerz und Wonne zugleich erfüllte.

Um den Ton zur Heiterkeit zurückzuführen, hätte er von diesen und jenen Dingen beginnen dürfen. Doch war er zartfühlend und Menschenkenner genug, die Richtung der Gedanken, die in Armgart’s Seele lebten, nicht zu verlassen.

Von Wien sprechen Sie? sagte er. Vielleicht ist der fremde Herr da, mit dem ich fuhr, schon der Kurier Ihrer lieben Mutter!

Armgart blickte mit lächelnder Ergebung auf die Vier Jahreszeiten …

Wirklich! Wirklich! Er wollte nach Drusenheim zu Herrn Bernhard Fuld hinüber! Wo eine Dame in den Gasthöfen da am besten aufgehoben wäre, fragte er. Sein Accent war wienerisch.

Angelika flüsterte schmeichelnd:

Beruhige dich! Es wird alles gut werden, Armgart! Morgen, nach der Messe in Drusenheim, da sprech’ ich mit dem Pfarrer und dann sollst du sehen, du bist zufrieden – Gedulde dich!

289 Geduld! seufzte Armgart, sich ergebend. Sie überwand sich, nicht dem Fremden nachzueilen, der in behender Weise in der That in einen Nachen sprang, um zum jenseitigen Ufer überzusetzen.

Benno’s Ruhe, Angelika’s Festigkeit mußten Armgart zuletzt zur Besinnung bringen.

Man stieg höher und wieder in die Anlagen hinauf.

Benno mußte erzählen, was ihm alles seit dem Abschied an der Maximinuskapelle – dort weithin in blauer Ferne waren ihre schlanken Thürme sichtbar – und seit dem Zusammentreffen mit jener Lucinde Schwarz begegnet wäre? Wo diese hingewollt hätte? Wie die Manöver abgelaufen wären? Wie dem Thiebold de Jonge die Uniform gestanden hätte? Ob Hedemann nach Witoborn zöge? Was der Vater überhaupt beginnen würde?

Benno, der seine Cigarren trotz alles Schmerzes von Armgart selbst ausgesucht und fast angeraucht bekam – sie lernte „Unarten“ dieser Art von den Mitpensionärinnen, wenn diese den Besuch ihrer Brüder empfingen – und wenigstens die Spitze der von ihr ausgewählten biß sie noch dem „Vetter“ in mechanischer Anschmiegsamkeit an all sein Thun und Lassen ab –, Benno erzählte von dem Ersteigen des St.-Wolfgangberges, von der wirklich angeknüpften Bekanntschaft mit Lucinden, von dem Zusammentreffen im Pfarrhause zu St.-Wolfgang, von dem Begräbniß des alten Mevissen, von der Entweihung des Friedhofs …

Alle diese noch nicht auf die Insel Lindenwerth gedrungenen und doch so überraschenden Thatsachen hörte Angelika voll Staunen, Armgart, da sie den Pfarrer 290 von St.-Wolfgang betrafen, mit dem Gefühl, wie wenn sie nicht Armgart, sondern Paula wäre. Benno mußte unausgesetzt erzählen. Einen so langen, so inhaltreichen Brief hatte sie noch nie nach Westerhof geschrieben wie diesen, den sie jetzt schon couvertirt und adressirt im Geiste vor sich liegen sah; sie betrübte sich bereits um die Vorsteherin Schwester Aloysia, die bei ihrer Censur – alle wenn auch nicht ankommenden, doch aus dem Pensionat abgehenden Briefe las in der That erst Schwester Aloysia – gewiß wieder das Schönste davon für sich genoß, dann aber eine nochmalige Abschrift zu verlangen pflegte, lorsque vous aurez supprimé les choses inconvenantes.

Aber auch für Angelika waren die Mittheilungen, die Benno in glückseliger Behaglichkeit gab, vorzugsweise überraschend. Diese ihr wohlbekannte Lucinde Schwarz, von der sie seit Hamburg nichts mehr gehört hatte, sie war bei Frau von Gülpen „Nichte“ gewesen! Einen Tag, länger nicht! Wie konnte das anders sein, nach dem Wenigen, das sie von dieser „Abenteurerin“ wußte und das sie dem Pensionate an der Maximinuskapelle wohlweislich verschwiegen hatte! Und man müßte dann die Menschen wenig kennen, wollte man Angelika’s eigenthümlich gezogenem und erstaunendem: Ist’s denn möglich? nicht eine gewisse Genugthuung anmerken, daß auch diese Gesellschafterin, wie so viele andere und vorzugsweise sie selbst, den Anforderungen der Dechanei nicht entsprochen hatte. Sie lag in den Worten: Der Dechant ist ein so lieber guter Mann! Zugleich sollte dies Zeugniß von Frau von Gülpen das 291 Gegentheil ausdrücken. Und so gutherzig Angelika war, die Verbindung, in die Benno die neueste Zeitungskunde von dem Mord in der Stadt mit dem Stolze der Frau von Gülpen brachte, verbreitete selbst über ihre, freilich von Staunen und Schreck überschauerten Gesichtszüge doch zuletzt ein gewisses Aufleuchten schadenfrohen Behagens.

Alledem hörte Armgart nur sinnend zu. Benno hatte in seinem Wesen etwas Milderndes und Beruhigendes wie für andere so auch für sie. Sie hätte seine Hand ergreifen und sie wie die eines Bruders halten können … Seine Mittheilungen über Bonaventura’s Anwesenheit in der Residenz des Kirchenfürsten, die wahrscheinliche Beförderung und Ansiedelung desselben in dieser Stadt, alles das waren Thatsachen, die ihr Ohr buchstabenweise aufnahm, nur um die für Paula bestimmte Depesche so inhaltreich wie möglich zu machen.

Erzählen Sie mir jetzt von meinem Vater! sagte sie dann, als Angelika etwas zurückblieb. Wie fanden Sie ihn? Ist er so, wie ihn Hedemann schilderte?

Ohne Zweifel … antwortete Benno zerstreut …

Mit Armgart allein zu sein, ließ ihn erhöhter den ganzen Reiz ihrer Erscheinung fühlen.

Ist er groß, so etwa wie – wie Hedemann?

Hedemann war untersetzt, sie hatte „wie Sie“ sagen wollen …

Um einen halben Kopf höher, sagte Benno; aber ebenso wetterbraun, ebenso breitschultrig und – wie soll ich sagen – ganz so englisch! Ist Hedemann Schiffssteuermann, so ist Ihr Vater Kapitän oder Commodore! 292 Unsere vaterländische Art von drüben hat die passendste Anwendung gefunden …

Wie so?

Unser Land ist ja drüben fast wie ein Meer! Die unermeßliche Heide, das Ackerfeld, der Torfmoor – alles das ist ein Meer des Landes. Auf dem schwimmen wir mit unsern Höfen wüst und einsam. Nicht einmal ordentliche Städte haben wir. Nicht einmal ordentliche Dörfer. Ein Fahrzeug segelt auf gut Glück am andern vorüber. Unser Volk ist ein seefahrend Volk der Heide …

So! So! … sagte Armgart. Seltsam! Ich hasse alles Englische …

Benno erwiderte lachend:

Ja die englische Aussprache ist schwer!

Die Asche seiner Cigarre drückte er jetzt schon an einem der drei Birnbäume ab …

Nein – darum nicht –! fuhr Armgart ohne alle Reizbarkeit fort …

Aber das Englische hassen? Und das sagen Sie bei Englischen Fräulein?

Die verließen schon vor hundert Jahren England, um in Deutschland unserm Gott besser dienen zu können! Sehen Sie, alle diese Engländerinnen hier ringsum jetzt, die blieben am liebsten auch wie Mary Ward in Rom und bei uns, um katholisch zu sein! Ich weiß das!

Sie wissen das?

Benno verließ den verfänglichen Gegenstand und regte die Phantasie seiner Begleiterin lieber mit allen Abenteuern an, die ihr Vater und sein Freund oder Diener ihm erzählt hatten. Sie hätten Seltenes erlebt, 293 Tapferes geleistet, auch Pensionen dafür gewonnen und stünden unter dem kleinen, beschränkten Volk in Kocher am Fall wie zwei Riesen da, die man auf Jahrmärkten zeigte …

Benno wollte bei diesen Berichten vielleicht nur hören, ob Armgart nicht nach Thiebold de Jonge fragen würde …

Angelika kam inzwischen näher … Sie hatte auf ein Ausruhen gerechnet und fand nun die Wandelnden bereits schon wieder über die Birnbäume hinaus.

Ei, was ist denn das da unten? Sehen Sie! Im Fluß! Da taucht’s auf! Nun ist’s wieder fort! Geben Sie Acht, da unten kommt’s wieder!

Mit jener Sorglosigkeit, die der Jugend auch eben nur dann eigen ist, wenn sie gleichsam ahnt, daß es zu Geständnissen des Herzens noch lange, lange Zeit bleibt und nichts ihm verloren geht, verlangte Armgart plötzlich die Anerkennung ihrer Sehkraft …

Unten im Kahne hatte sich auch Tönneschen aus dem Schilf aufgerafft und warf mit Steinen vom Uferrande über den Wasserspiegel hinweg …

Das seh’ ich wol! Der wirft Butterstollen! sagte Benno und erinnerte Armgart an den Ententeich zwischen Schloß Westerhof und Borkenhagen …

Den kennen Sie noch? … Es ist ja eine wilde Ente! … Unsern Ententeich? … Sehen Sie doch nur, wie sie den Kopf aufwirft! Rasch duckt sie ihn nieder und unterm Wasser geht’s fort! Sassa! Da ist sie! Im Nu hundert Schritte! Wieder blickt sie auf, dreht den Kopf! Da, da! Guten Tag! … Adieu! Glückliche 294 Reise! … Nein, auf unserm Ententeich gibt’s keine so wilde!

Mit dem Verfolgen der Wasserente, die sich Tönneschen zu treffen vergeblich bemühte und die Benno jetzt erkannte, waren beide bei Angelika wieder vorübergekommen, die sich nachdenklich gesetzt hatte und nun ernstlich zum Aufbruch und zur Rückkehr auf die Insel mahnte.

Die Sonne sank schon über die westliche Bergwand …

Und nun, wie wenn Himmel und Erde in bester Ordnung und nichts auf dem Herzen wäre, weder bei ihm noch bei Armgart, durfte Benno scherzen:

Ja, so gehen die Lügen durch die Welt! Von so einer Wasserente kommen ja die Zeitungsenten …

Angelika, die über Benno’s Erscheinen überhaupt an ihre vielgeprüfte, treue Liebe erinnert wurde, gedachte der vielen Angriffe, die Doctor Püttmeyer erleiden mußte, gedachte der Macht der Lüge in so vielen Literaturzeitungen und fiel mit einem Seufzer ein:

O wohl! O wohl! O wohl!

Dann stellte sie einige Erkundigungen nach Büchern an, wollte von den Ereignissen der Politik hören, von der Burschenschaft, um die Dr. Püttmeyer auch ein Jahr „Köpenick“ erduldet hatte, von Benno’s bekannten freisinnigen Meinungen und vom Kirchenstreit, bis Armgart, beide unterbrechend, ausrief:

Laßt doch das alles! Kann man jetzt von anderer Aufklärung sprechen als vom Himmel und von seinem Licht! Seht doch nur! Wie der Abend kommt! Ist’s nicht, als leuchtete alles in Verklärung! Diese gerippten Wölkchen 295 da oben! Diese leichten Federbüschelchen! Fächer sind’s doch wie von Eiderdunen! Nein, wie von großen Perlmuttermuscheln! Wer solchen Staat hätte, wie die Himmelskönigin!

Alles das kam unbefangen und kindlich von ihren Lippen … Daß sie nichts von einer Absicht dabei wußte, bewies die leise Oeffnung der Lippen und der Schmelz der hervorschimmernden kleinen Zähne, cette grimace, die sie nach Anweisung der Englischen Fräulein sich durchaus abzugewöhnen hatte.

Ja, man möchte hier predigen! fiel Angelika in merkwürdig freigesinnter und tief gefühlvoller Zustimmung ein. Diese Berge sind wie Kanzeln!

Ihr treues Herz dachte an Püttmeyer’s fehlenden Lehrstuhl …

Kanzeln? rief jedoch Armgart, in der sich jenes Fliegen zur Flamme des großen Gottesherzens zu regen begann. Die Berge sind ja selbst wie Prediger! Wie Redner stehen sie da! Nein, Angelika, wie klein müßte das sein, wenn da drüben einer auf dem Geierfelsen stünde und so zu allen Lügnern der Erde sprechen wollte! Der Geierfels und hinter ihm die sechs andern Riesen, die sind ja selbst die Propheten! Ich höre alles, was sie sprechen!

Was sprechen sie denn? fragte Benno und hatte eben die Cigarre weggeworfen …

Im Tone seiner Frage, im Leuchten seines blauen Auges lag eine so ausdrucksvolle Schwere, daß plötzlich Armgart wie etwas Unsichtbares sich auf sie niedersenken fühlte …

296 Ja, wie konnte Benno nur in das einfache „Was sprechen sie denn?“ soviel Ausdruck legen? Was konnte diese Wendung seines Hauptes, diese Glut seiner Augen bedeuten? So wenig Worte und so viel seltsamer Ton in ihnen!

Es ist doch wol Zeit, zu gehen! sagte sie zaghaft. Sie hätte plötzlich vor irgendetwas entfliehen mögen.

Benno lüftete seinen Hut. Sein kurzes, lockiges, schwarzes Haar war von dem „garstigen Cylinder“, wie es sonst bei Armgart hieß, festgedrückt. Und sonst hätte Armgart gar keinen Anstand genommen, ihm in sein Haar es lockernd zu fahren, wie sie so oft den grauen Locken des Onkel Levinus gethan. Heute hätte sie um alles in der Welt dergleichen nicht mehr wagen können …

Angelika’s Geplauder über all den vernommenen und zu verarbeitenden Thatsachenreichthum löste die gedrückte Stimmung. Auch fand sich Benno wieder, auch Armgart. Ja sie schien heiterer und ausgelassener, als sie hörte, was alles Benno in der Gegend hier zu thun hätte und daß er mindestens auch noch morgen da wäre … Aber an seinen Handschuhen sah sie eine aufgesprungene Naht und sonst hatte Angelika für dergleichen Unglücksfälle immer Seide, Zwirn, Nadelbüchse und Schere bei sich in ihrem Beutel, aber heute griff sie nicht, was sie sonst hätte thun können, nach seiner Hand, wagte nicht, ihm den Handschuh abzuziehen … Es trieb sie wie im Wirbel, sie mußte fliehen wie vor sich selbst.

Die Berglehne endete mit einem schroffen Abhang. Den schoß sie hinunter. Die Kanten waren hier eckig; an 297 andern Stellen gerundet, von uralten Moosrunen beschrieben; hier und da stand eine verkümmerte Zwergbirke, dort schwankte eine Distel, hier eine hohe Doldenstaude mit braunrothen, schweren Samenkolben … Ein schwacher Halt hier, ein nachgebender dort … Armgart schoß so hinunter, daß sie plötzlich an einem Gebüsch niedersank.

Nun war aber auch Benno schon längst gefolgt. Wie er an der Stelle ankam, wo sie niedergeglitten, hatte sie von Kamillen mit weißem Blätterrande einige Blumen gepflückt und fing an, einer davon die Blätter abzuzupfen.

Was fragen Sie die Blume? rief Benno …

Und in dieser Frage lag wieder eine solche Glut, in dem Nachfolgen, als sie sich erhob und jetzt ruhiger niederwärts stieg, eine solche Hast und ein so ganz persönlich auf sie gerichteter Entschluß, daß sie der Gedanke überrieselte: Was glaubt er denn? … Den Faust, den kannte sie nicht (wo wird in dieser Erziehung Goethe zugelassen!), aber doch schob blitzschnell ein geheimer Zauber in ihrem Innern der Frage „Vater oder Mutter“ (sie wollte nur sehen, welchem Namen das Blumenorakel sein letztes Blättchen ließ) nicht etwa die Frage unter: „Liebt er mich, liebt er mich nicht?“ wol aber die: „Kommt auch Benno morgen nach Drusenheim, kommt er nicht?“ und als sie sah, wie er nun ihren Arm ergreifen wollte, ihre Schulter berühren, den Ausschlag ihres Zählens so ganz dringend wissen, da unterbrach sie ihn, als wenn er sie nur im Zählen irre machte, mit einem fortgesetzten St! St! Sie bekam aber den plötzlichen Einfall – und welcher innere Schalk des 298 Gemüths hatte ihr das zugeraunt! – schadenfroh und übermüthig laut zu rufen:

Kommt morgen Thiebold de Jonge nach Lindenwerth oder kommt Thiebold de Jonge nicht? Kommt Thiebold de Jonge? Kommt Thiebold de Jonge nicht?

So schoß sie bergab.

Sie können ja die nachgemachten Engländer nicht leiden! rief hinter ihr her Benno …

Sie aber glitt bald an einem Steine aus, ließ bald eine Pflanze mitgehen, schoß und rannte und war endlich unten, aber – aufgefangen von Benno’s Armen.

Ein junges weibliches Leben, dessen Athemzüge vergangen sind, dessen Brust hämmert, im Arme zu halten! Kennt ihr das Gefühl, wenn ein junger Vogel in unserer verschlossenen Hand gefangen ist, sich duckt, auffliegen will und nicht kann und jetzt ganz nur zu einem einzigen zagen, warmen Herzchen wird, das unter den weichen Federchen klopft und sich fast wie in den Pulsschlag unserer eigenen Hand verwandelt?

So fühlte es Benno eine Weile und länger als eine Secunde und vielleicht den fünften Theil einer Minute nur und doch eine Ewigkeit.

Angelika kam inzwischen den geebneten Weg daher, schalt und rief und machte allen beiden die bittersten Vorwürfe. Armgart aber umarmte sie und erstickte ihre Rede mit Küssen.

Das Thema des Anstandes brachte den Neckkampf aller auf die Würde, auf die Pflichten, die Haltung einer baldigen Stiftsdame von Heiligenkreuz. Diese „Pre-299digt“ währte so lange, bis Tönneschen erreicht war am Schilfrohr im sanftgeborgenen Nachen.

Sind Sie denn morgen wirklich noch in der Gegend? fragte Armgart beim Abschied den halb besinnungslosen Benno halblaut.

Benno wollte beiden noch in den Kahn helfen, that es auch erst, wie sich geziemte, mit Angelika, und als er hoffte, Armgart’s Hand zu erfassen und aus voller Seele diese zur Antwort wie mit einem Ja! zu drücken, da war sie schon in den Kahn gesprungen.

Deshalb schmollte er und rief O! O!, das Angelika sehr wohl verstand …

Armgart saß aber schon da, glühend wie das Abendroth.

Angelika, die gerade so viel zu „ahnen“ sich die Miene gab, als sie schon wußte, war trotz aller Angst liebevoll genug und sagte vor dem Abfahren:

Richtig! Richtig! Sind Sie denn auch morgen im Enneper Thale? Es ist ja Sonntag! Alle Welt hat sich ankündigen lassen …

Thiebold de Jonge! seufzte Benno und Angelika fiel ganz so, als müßte sie nun für die verstummende Armgart auch in deren Art sprechen, ein:

Alle nachgemachten Engländer! Und wenn Sie etwa kommen, Herr von Asselyn, kneifen Sie nur ja nicht auch so eine Lorgnette ein!

Ehe noch Benno antworten konnte – zum Scherz fehlte ihm jeder Uebergang – rauschte es im Schilfe dahin und der Kahn war im Entschwinden.

Eine Weile noch stand Benno, lüftete den Hut, sah lange den Entgleitenden nach und ging landein dem Roland zu.

300 Das Ufer ist hügelig … zuweilen verschwindet, zuweilen taucht Benno den Mädchen wieder auf … Und je höher sie auf den Spiegel kommen, desto länger noch können sie ihn sehen …

Gern hätte Armgart gewinkt mit ihrem Hute und mit ihrem Taschentuch …

Angelika, die heute so viel erlaubt hatte, verbot es …

Bekam die Gute auch nicht Angst, Armgart würde am Ende noch „tiefsinnig“ werden und wol gar sich für unwürdig erklären, morgen in Drusenheim zur Communion zu gehen – dergleichen war vorgekommen – bekam sie auch nicht Angst, daß dann noch obenein die Gutmüthigkeit und Toleranz einer Lehrerin compromittirt werden konnte, die gegen die Englischen Fräulein als Hülfsarbeiterin nur einen zweiten Rang einnahm, so lächelte sie doch und sagte:

Armgart, Armgart! Sprüche Salomonis 14, 29!

Diese Bibelstelle hatte Armgart einst von Tante Benigna in Westerhof aufbekommen, auf ein Weihtüchlein zum Kirchendienst zu sticken. „Wer aber ungeduldig ist, der offenbaret seine Thorheit!“ lautete sie. Die Ungeduld galt für Armgart’s Erbfehler.

Sonst wäre Armgart über diese einzige Partie in der Religion, wo sie ketzerisch, ja ganz ungläubig fühlte, aufgefahren, aber wir sehen sie still, ergeben und schweigsam …

Selbst von dem Briefe aus Kocher frägt sie nichts mehr, sondern sieht nur auf die Welle, gegen deren ganze Macht Tönneschen rudern muß …

301 So kamen sie – Benno war verschwunden – am nördlichen Ende der Insel an.

Eine ältliche Dame, in schwarzem Kleide, mit einer weißen, mit Bandschleifen am Hals und über die Brust herab besetzten Halbtunica, ein weißes geflügeltes Häubchen auf, begrüßt sie … Es ist Schwester Aloysia, die Vorsteherin.

Und unter ihrem „Mozzeto“ zieht auch sie einen Brief hervor.

Auch er war an Angelika gerichtet und kam aus Wien und kam von Armgart’s Mutter!

Ein Herr hatte ihn abgegeben, jener Fremde, der ganz nach Benno’s Vermuthung in den „Vier Jahreszeiten“ drüben für eine Dame Zimmer bestellt hatte und wirklich von hier, wo ihn die zerstreuten Wanderer am Hüneneck nicht landen gesehen hatten, hinüber nach Drusenheim gefahren war …

Armgart bebte zusammen …

Es war ihr, als zitterte um sie her die ganze Welt …

Angelika nahm, von der Vorsteherin beobachtet, den Brief und ging damit in scheinbar kalter Ruhe auf ihr Zimmer.

Armgart folgte, drängte aber nicht mehr und fragte nicht mehr. Fast war ihr wirklich wie einer Sünderin und als sie sich über die düstern Gänge in ihren Wohnsaal geschlichen, als sie mit einem tiefen Seufzer dort ihren Hut, ihren Shawl abgelegt hatte, als alle Mädchen jetzt zum einfachen nächtlichen Mahle gingen und Angelika erst kam – solange hatte sie gelesen! – als Schwester Aloysia schon vorbetete und Armgart so ab-302wesend, so ernst dasaß, da bekam Angelika wieder Angst, sie wäre wirklich im Stande, alles das morgen noch in erster Frühe und vor der Communion dem Pastor Engeltraut zu beichten, was heute vorgekommen! … Schwester Aloysia betete dabei und zwar französisch … Sie war aus Strasburg und verband mit allem Guten und Frommen, dem hier fürs Leben der Grund gelegt wird, eine leidliche Aussprache und einen ziemlich richtigen Accent. Man hatte alles hier auf Gott, auf die heilige Jungfrau, den heiligen Joseph und die Engel und Erzengel gebaut, sogar den Subjonctiv und die schweren Beugungen der Verbes irrégulaires, den delicaten Gebrauch der Formen que vous parlassiez und que nous parlassions und die Participialconstructionen, die an dieser Sprache für jeden so fremdartig sind, der nicht wie Tönneschen Latein kann … Und wenn Schwester Aloysia vom besten pariser Französisch dann in das beste strasburger Deutsch übersprang, war’s dann freilich immer wie der Uebergang vom Rauschen eines seidenen Kleides zum Klappern von Holzschuhen, vom Gesange eines Canarienvogels zum Gekoller eines Truthahns; denn ihre strasburgisch-deutsche Muttersprache sprach sie, als wäre sie hier eigens dafür angestellt, einige Irländerinnen und Französinnen in der Anstalt vom Erlernen des Deutschen abzuschrecken. Und das zweite, vom Muttersitz der Soeurs angéliques hierher beurlaubte Englische Fräulein (der der Erziehung sich widmende Orden ist nicht an strenge Clausur gebunden), Schwester Gertrudis, sorgte für Eintheilung der Speisen und rühmte das Wetter für den mor-303genden Sonntag, an den sich allgesammt die schönsten Hoffnungen knüpften.

Immer mehr brach zuletzt ein stillverhaltener Jubel aus. Das Pensionat wußte von den zu erwartenden „nachgemachten Engländern“, – aber darüber gab es nur Flüstern, leises Necken und Kichern, laut wurde nur besprochen eine Einladung der jungen Madame Bernhard Fuld. Die Nachbarinnen waren aufgefordert worden, morgen Nachmittag die berühmte Villa und den Garten drüben in Augenschein zu nehmen und Pastor Engeltraut hatte dazu die Erlaubniß gegeben!

Armgart hörte das alles nur halb. Erst als der germanische Uebermuth eines Theils auch dieser Jugend sich in allerlei Spott über die Besitzer von Drusenheim erging und ganz wie die Freunde Piter Kattendyk’s, mit denen einige bis zur unmittelbaren Geschwisterschaft verwandt waren, die bekannte christliche Rache für den einst von den Juden Gekreuzigten nahm, thaute auch sie auf und erklärte, daß sie den Herrn Bernhard Fuld zum Generaleinnehmer und Finanzminister ihrer Einkünfte als Stiftsdame von Heiligenkreuz ernennen wolle.

Armgart’sche Einfälle elektrisirten dann gewohntermaßen alles …

Es wurde nun so laut, so ausgelassen unter dem jungen Volke, daß die vier Erzieherinnen (die vierte lehrte nur Musik) dafür waren, lieber jetzt aufzustehen und de se promener encore dix minutes sous les tilleuils et dans le jardin

Aber auch das geschah so wild – es ist Sonnabend! – daß die Schwestern Aloysia und Gertrudis Ruhe gebieten 304 mußten und das ganze Personal in die Corridore und auf die Schlafsäle schickten.

Auch Angelika war, sie wußte selbst nicht worüber, ins Lachen gekommen – aus Nervenschwäche, sagte die Gute – raunte aber beim Gutenachtsagen ihrer geliebten Armgart, ihrer besondern Schutzbefohlenen (die indessen nicht mit ihr, sondern mit fünf andern in einem Saale zusammenschlief) neckisch zu:

„Wer aber ungeduldig ist, offenbaret seine Thorheit!“

Armgart nickte und hatte sich heute in der That auch zur Anerkennung dieses Spruches bekehrt.

305 11.#

Und am folgenden Tage lag denn doch im Geschmeide der ganzen sonnenbeschienenen Gegend die Insel Lindenwerth da geradezu wie ein Juwel.

Das große blaue Gottesauge des Himmels drüberher schien an ihm selbst seine Freude zu haben. Und die schimmerndweißen Birken, die Hängeweiden, die Buchen, Akazien-, Nuß- und Kastanienbäume, die Büsche, die Pflanzen des Gartens, alles, alles hat in einer solchen Morgenfrühe des Sonntags und besonders, „wenn man etwas vorhat“, ohnehin schon ein ganz anderes Aussehen als sonst. Unser Auge zieht dann schon von selbst allem Festkleider an. Die Welle plätschert an die Uferränder anders als sonst. Und schweigen auch Septembers in den Bäumen, weil sie in ihren Nestern mit ihren Jungen und mit ihren neuen Kleidern für den Winter zu thun haben, die Singvögel, so hört man doch ihr Aufflattern und ihr Aufschwirren, sieht die Spatzen in so räuberischer Thätigkeit, daß man nur zu huschen braucht und überall schießt Diebsvolk wie mit bösem Gewissen auf, sieht goldene Käfer und summende Wespen 306 in voller Thätigkeit, um mitzuherbsten und mitzuernten an dem reichen sonnenglänzenden Segen.

Noch aber hängen um die fernerweit liegenden Schönheiten eines solchen Sonntagsmorgens allerlei Toilettenschleier. Die hohen Berge und grünen Waldlehnen hinter ihnen putzen sich erst langsam aus dem Nebel heraus zu dem Sonntagsstaat, dessen Annäherung in aller Frühe schon und von allen Richtungen her die Glocken verkündigen. Die Geschäftsglocke der Dampfschiffe mit ihrem kurzen groben Mahnruf hat heute fast etwas Störendes; man gedenkt gleich der Ueberzahl von Städtern und Städterinnen, die nun auch bald kommen und sich oft störend genug überall hin ausbreiten werden.

Um neun Uhr schiffte die ganze Pension, neunundzwanzig junge Mädchen – eins blieb ein wenig unpäßlich daheim – und vier Erzieherinnen in zwei Kähnen zur Messe nach der Drusenheimer Kirche hinüber ins Enneper Thal. Tönneschen’s Vater und Mutter ruderten heute und ein anderer alter Schiffer, Tönneschen’s Großvater. Und noch ein paar Vettern, Gevattern und Kinder und Kindeskinder aus einem Halbdutzend baumversteckter Hütten der Insel begleiteten die Fahrt. Heute galt es, das Tönneschen mit dem Rauchfaß zu sehen, im Beginn seiner von Michahelles eingeleiteten Carrière zum künftigen Vater der Gesellschaft Jesu. Tönneschen war schon lange voraus, um beim Meßner die Toilette zu machen. Das ganze Stift fühlte den Stolz der Mutter nach, die ihre beste Haube aufhatte und mit einem Streifen so lang, so lang, daß er ihr fast über die Nase fiel.

Die jungen Pensionärinnen mit ihren goldgeschnitte-307nen Brevieren und dem Einerlei ihrer heute am Sonntag weiß-roth oder weiß-blau gesprenkelten Kleider und den einfachen runden Strohhüten, durften nicht zu laut ihre Wonne über den Sonntag aussprechen. Es ging jetzt in die Kirche, ja, für die schon gefirmelten, an den Tisch des Herrn.

Die Glocke der alten, nächstens in Ruhestand zu versetzenden baufälligen Dorfkirche, die die Maler gut zeichnen hatten, wenn sie nur gesehen hätten, wie ihre Wände schon morsch geworden und die Sakristei bedenkliche Risse zeigte, hatte schon zweimal ihr, wie die Mädchen ihr immer nachsummten: „Ei, so komm’ doch! Ei, so komm’ doch!“ durch die Lüfte gerufen; aber man wußte, es ging beim Pfarrer Engeltraut, der sonst ein gar trefflicher Diener Gottes war, mit seinen Messen nicht eben besonders präcis. Ausgestiegen am Ufer, konnten die Mädchen immer noch einen Rundweg machen, ehe sie zur Kirche gingen. Sie sahen in der Ferne wie dicht am Waldesrand liegend das aus gelbem Sandstein gebaute, hellleuchtende Landhaus des Bankiers, umschlossen von hohen an den Spitzen vergoldeten Eisengittern. Mehr in der Nähe lag die neue hochragende byzantinische Kirche. Alles winkte geheimnißvoll und gastlich und zu allerlei heimlichem Spaß für den Nachmittag.

Nun stieg man aus … Durch Feld und Flur, über Wiese und Stoppeln, am Hagebucheneck und die Weingärten entlang, da war’s doch noch ein anderes Wandeln, als drüben auf der schönen, aber engen Insel, auf der man sich zuweilen wie ein Gefangener vorkommen konnte.

Schwester Aloysia corrigirte auch jetzt auf dem Wege 308 zur Kirche die Subjonctifs und Angelika lehrte auch jetzt Mathematik und Naturwissenschaften, denn eine sandige Stelle findet sich in der schönsten Gegend, eine Heide von zwanzig Fuß, wo eine Immortelle blühen kann oder das Blümlein Mannstreu, über das gleich ihrer sieben oder acht neugieriger Mädchen wissen wollten, woher dieser Name käme? Die Lehrerin wußte keinen Rath. Armgart kannte schon vom Walde bei Westerhof den Spottnamen des kleinen zierlichen Pflänzchens und sagte:

Es ist ja Vogelfuß, Angelika!

Nun sagte diese:

Ach, Ornithopus? Hülsenblume! Geschlecht der Heuhechel!

Die jungen Mädchen lachten, als Armgart ganz treuherzig und ohne alle Anklage fortfuhr:

Mannstreu und Vogelfuß sind eins und dasselbe!

Die größern Mädchen deuteten sich das harmlose Wort satirisch.

Beide Englische Fräulein wandten sich und geboten Ruhe und Sammlung.

Wann sprichst du den Pfarrer? flüsterte Armgart und drückte den linken Arm der Freundin an ihre Brust.

Ich sprech’ ihn nicht allein! sagte diese. Die Vorsteherin wird dabei sein! Ich denke, nach der Predigt!

Heute auch noch eine Predigt!

Geduld!

Das Wort, mit dem man Armgart bereits wieder auf zehn Schritt verjagen konnte …

Sie entschlüpfte und sah nach Westen hinüber, dorthin, wo die weiß-blauen Wassernebel noch am dichtesten schwam-309men. Den Roland, wo Benno vielleicht übernachtet hatte, sah man gar nicht vor dem dichten, wenn auch goldsonnigen Nebelflimmer.

Die endlich nicht mehr umgangene und nun wirklich im Zuströmen der Landleute mitbetretene Kirche war wahrhaft überfüllt. Man erkannte recht, welches Verdienst sich Bernhard Fuld erworben durch die Erbauung einer neuen. Das Pensionat der Englischen Fräulein genoß aber eine Auszeichnung. Jeden Sonntag blieben ihm die vordern Stühle reservirt.

Es ging dann alles bei der Messe, wie es gehen soll und überall bei ihr geht. Vielleicht nicht ganz nach der Schnur, die die Kanoniker in Rom vor tausend Jahren gewunden haben, aber doch auch ohne besondere Verwickelung. Pfarrer Engeltraut war, wie die römischen Priester sein sollen, keine viel mit sich allein beschäftigte Persönlichkeit. Er verrichtete ein Opfer, das ganz von ihm unabhängig war. Hätte es einem strengen Kenner des Ritus auch nicht entgehen können, daß sich mancherlei Fehler einschlichen, so sah das doch so obenhin niemand von den Versammelten. War der Blick, mit dem der Priester aus der Sakristei trat, gesenkt genug? War die Haltung des Körpers gerade und hübsch aufrecht? Trug der Opferer eine Brille, von der Gregor der Heilige freilich noch nichts vorzuschreiben wußte, als der sein Oremus sang, und Abraham und Melchisedek, die Voropferer der Messe, noch weniger? … Pastor Engeltraut trug eine Brille, und sonderbar, er legte sie gerade beim Lesen ab, auf sein Taschentuch. Dann war er ganz einfach im Vortrag und ebenso einfach in der Geberde. Er machte 310 die Kreuzeszeichen allerdings nicht, wie wenn er sie heute zum ersten male machte, aber auch nicht so, wie z. B. vornehme Damen am Weihbecken beim Betreten der Kirche, die zum Jammer frommer Seelen und wie Beda Hunnius einmal in einer seiner Predigten zum Dank der gerade damals zuhörenden Angelika und in seinem Abraham a Sancta Clara-Stil sagte: „sich beim Benetzen einen Schnörkel angewöhnt haben, als wenn unser Herr und Heiland auf irgendeiner runden Drehscheibe oder einem andern Zickzack, nur nicht an dem so tief sinnvoll von ihm gewählten Kreuze gestorben wäre.“ Nichts auch verwirrte er von dem, was laut und was leise zu sprechen, was zu singen oder nur zu sagen war. Auch jagte er nicht in seinen Abschnitten und ging dann nicht wieder wie eine Schnecke. Auswendig auch wußte er, was er nur zu lesen schien.

Und wenn dann irgendetwas vorhanden war, was den würdigen Gang des Opfers anfangs hätte unterbrechen können, so war es freilich des Priesters Hinblick auf den heutigen Thuriferar Antonius Hilgers, der nebst zwei andern Knaben zum ersten male diesem schwierigen Geschäfte des Administrirens vorstand. Aber gerade Antonius hielt sich vorzugsweise wacker zum Stolz seiner Angehörigen, zum Wohlgefallen des englischen Instituts. Wenigstens dünkte er sich ebenso kundiger Lootse durch die Untiefen und Schwierigkeiten des lateinischen Missales, wie er es unbestreitbarer durch die Strudel und Schnellen des herrlichen Stromes drüben war. Nie stand er auf der Epistelseite des Altars, der linken, wenn er auf der Evangelienseite, der rechten, stehen 311 sollte. Mit Ruhe, ohne sich vor Angst zu übereilen, reichte er dem Priester das Gefäß mit dem Weihrauch, hielt ihm das geöffnete Thuribulum dar, und wenn der Opferer Weihrauch eingelegt hatte, reichte er ihm das Gefäß, indem er es vorsichtig und behutsam mit der rechten Hand unter dem Ring, mit der linken in der Mitte der Kette anfaßte. Das dabei von ihm gesprochene Latein war allerdings mehr als welsch und nicht im mindesten ciceronianisch. Doch niemand der Anwesenden, selbst der Schullehrer nicht, war im Stande, die Correctheit nach Zumpt’s Grammatik zu prüfen. Mit seinen stehenden Fehlern – spiritus immer nach der zweiten Declination und tuus nach der vierten – klang es ganz so hoch und hehr und fremdartig, wie das Volk es hören will. So wie so blieb es die richtige Sprache der Engel, die Sprache, in der Gott und seine Heiligen sich unterhalten, die Hof- und Kanzleisprache des Himmels.

Als dann der Augenblick des Allerheiligsten kam, als alle dann knieeten, als alle Schauer der persönlichen Anwesenheit des Heilandes in der Wandlung durch die Gemeinde rieselten – die Kinder und alten Frauen und in großen Kirchen eine gewaltige musikalische Note sorgen schon dafür, daß das ganz so wie in mächtigster Bezauberung hingenommen und empfunden wird, wie es Innocenz III. aller Welt und aller Zeit hinzunehmen und zu empfinden geboten hat – wie dann die Erwählten und in der gestrigen Beichte Bestandenen herantreten durften und von dem Gottesleibe mitgenossen, während der Priester von dem Gottesblut für alle trank, – da vergaß denn auch Armgart für einige Zeit das 312 Träumen und Sinnen und es legte sich ihr die Fülle von Sünden, die sie dem neuen westerhofer Geistlichen, Norbert Müllenhof, wer weiß in wie kurzer Zeit, oder wem sonst und in welcher Ferne würde beichten müssen, schwer aufs Herz! Sie sah, daß Zerstreutheit während des heiligen Hochamts, Abwesenheit der Gedanken beim Lesen im Brevier nicht mehr allein die nagenden Vorwürfe ihres Innern waren, mit denen sich ihr Gewissen gewöhnlich aufs allertiefste belastet fühlte.

Nach dem Hochamte hielt der Pfarrer richtig noch eine „Application“. Er sprach diese von der Kanzel herab und über die bevorstehende Einweihung der neuen Kirche und äußerte im allerlöblichsten Volkston, daß auch im innern Menschen täglich die Sakristeien Risse hätten, täglich die Glockenstühle faulten und den Regen durchließen, ja daß mindestens auch viermal des Jahres im Menschen ein echtes und rechtes Kirchweihfest müßte gehalten werden, nicht etwa nur zu Ostern, wo „ihr glaubt, euch für ein ganzes Jahr reinigen zu müssen, sowie die Schwelger, die Ueppigen und Reichen alle Jahre einmal ins Bad reisen und sich ihren sterblichen Leib reinfegen vom Schlamm ihrer Sünden“! „Das wird dann“, fuhr er fort, „jährlich auch so ein Kirchweihfest, wie ihr’s allüblich zu feiern pflegt mit Essen, Trinken, Jubeln, Fluchen, Würfelspielen, Tanzen, Todtschlagen der Zeit und allen denen Sünden, die ihr dann voll Verzweiflung angerennt kommt im Beichtstuhl loszuwerden, wo sich oft das todte Holz erbarmen möchte über den Kummer, den ihr euerm grundgütigen himmlischen Vater und unserer gnadenreichen Mutter bereitet! – “ Doch sagen wir nur, er 313 fegte die Herzen, wie man soll, nicht mit Staubwedeln, sondern mit Besemen. Und manches sprach er wie Beda Hunnius geradezu in eine Ecke hinein oder auf einen Pfeiler, wo der stand oder die saß oder wem es sonst, ohne darum die Beichte zu verletzen, persönlich zu Nutze kommen konnte.

Wie der dabei von Hunnius sich nur durch den Mangel an Eitelkeit und an theils forcirtem, theils natürlichem Cynismus unterscheidende treffliche Redner zuletzt von diesem unendlich süßen Gnadenzustande, von einer wahren Liebeswonne im Bunde mit dem Gekreuzigten, von der sogenannten Rechtfertigung durch den Glauben sprach, da kamen ihm die folgenden sonderbaren und für die ganze Gemeinde höchst überraschenden Worte:

Was ist das nun? Gerechtfertigt sein durch den Glauben! Ich will es euch sagen. Sehet euch um! Hier in dieser Kirche! In eurem Kreise weilt ein nur auf Erden Gerechtfertigter! Ein Kind dieser Gemeinde, dem hier der Weg der Gnadenmittel von früher Jugend gezeigt wurde, setzte einst mein Herz in Trauer und euch alle in Bestürzung, als man vor Jahren von ihm hören mußte, seine Hand wäre ruchlos genug gewesen und hätte sich in ferner Gegend, wo er weilte, gegen das Leben eines seiner Mitmenschen erhoben und ihn getödtet! Ein Jahr lag er, da alle Anzeigen eines Mordes gegen ihn sprachen, in Ketten und Banden, bis seine Unschuld erkannt wurde und er im lichten Gewande der Gerechtigkeit aus seinem Kerker hervortreten konnte! Voll Scham und Schmerz kam er damals über Nacht zu mir, dem Seelsorger seiner schon reiferen Jahre, und weinte seine bekümmerte Seele aus! Er mochte nicht bleiben in dem 314 Ort, wo das Mistrauen ihn dennoch verfolgte, wo sogar ein Bruder ihm den treuen Handschlag der Liebe versagte! Durch meine Hand ging der kaum zu nennende Ertrag seines kleinen väterlichen Erbes; nun ist der brave Herr, der diese Gemeindemarkungen hier ringsum an sich gekauft hat, – zu hohen Preisen, weil unsere Gegend ihren Werth hat, doch auch Männer, ehrenwerthe Männer, die diesen Werth zu schätzen wissen, – (in der Kirche war wol nicht einer, der diese Captatio benevolentiae zu Gunsten der neuen Gutsherrschaft ganz so zu würdigen verstand, wie es das Verfahren des klugen Geistlichen verdiente), aber ich sage euch, nun ist der Antrag gekommen, sein Erbe mit den Besitzungen der Herrschaft des Ortes zu vereinigen, und vielleicht zur Erhebung des Kaufschillings befindet er sich heute in dem Orte seiner Geburt! Nicht, daß ihr glauben sollt, er wiche vor euch! Nicht, daß eure Zunge sich unterstünde, zu sagen, sein Fuß wäre hier endlich dennoch wankend geworden! Ruchlose Anschuldigung, daß euer jetzt ausscheidender Mitbürger den Vater jenes frommen Mönches erschlagen hätte, der im Gewand der Ordensregeln St.-Francisci schon zu öftern malen in diesen Markungen begrüßt worden ist. Seht euch die Glorie eines Gerechtfertigten an! Das ist der glückliche, frohe, von euch allen zu ehrende und mehrende und nicht länger anzuzweifelnde und bei ernster Strafe von eurer Mutter, der Kirche, zu respectirende Zustand eines vor Menschen Gerechtfertigten! Nun aber – (der Nachhall dieser Worte und das allgemeine Schauen auf den in diesem Augenblick wie mit Krone und Purpur bekleideten Stephan Lengenich bedingte ein 315 mehrmaliges Hervorheben des Ueberganges zum Zusammenhange). Nun aber (noch murmelte alles und konnte sich nicht fassen) nun aber – hört jetzt und macht ein Ende! – nun aber, wie viel größer ist der Stolz, mit dem wir einst, durch die Fürbitte seiner Heiligen, vor den Thron des Allmächtigen werden treten können, falls wir sagen dürfen: „Herr, wir sind keineswegs Könige auf Erden gewesen, keineswegs Helden und Gewaltige der Reiche, wir haben nichts gethan, was den Namen des Außerordentlichen verdiente, aber – wir erfüllten deine Gebote, wir gingen die Wege, die deine heilige Kirche uns zu unserer künftigen Seligkeit gezeigt hat, nun gib uns auch den Lohn, den du allen denen versprochen hast, die deinen Willen thun!“

Das war ein kräftiges, elektrisirendes Wort! So verweist ein richtiger Seelenhirt die Gläubigen an den Zahltisch Gottes! So will der Bauer dereinst mit Gott stehen, als brächte er ihm einmal keinen Pacht, sondern holte sich welchen …

Die Erwähnung des allbekannten Küfers Stephan Lengenich, der in der Residenz des Kirchenfürsten Meister geworden war und hier „in seinem Orte“, besonders auf Anstiften eines feindlichen Bruders nicht einen Gruß bekommen konnte, ließ zu keiner Sammlung mehr kommen. Auch das Institut sah mit allen nach der Kirchthür, wo vielleicht der „Gerechtfertigte“ stand, der jeden Sonntag nach Drusenheim kam, nie aber so früh wie heute, daß er schon beim Herrn Pfarrer Empfehlungen aus den Umgebungen des Kirchenfürsten abgeben konnte und nur nach der Gewährleistung des Ortsgeist-316lichen sich plötzlich durch irgendeine Begebenheit, vielleicht auf Löb Seligmann’s feurige und sonntagsfreudige Ueberredung hin, entschloß, seinen „Blutacker“ herzugeben.

Halb elf war es … und die Kirche war nun aus … und so heilig das Debut des Tönneschen gewesen war, dem Gebrauche, dann auf einen Trunk Drusenheimer, womit keineswegs das alldortige Wasser gemeint war, herzhaften Bescheid zu thun, entzog man den jungen Novizen, der sich so brav und tapfer gehalten und dafür allgemein belobigt wurde, nicht im mindesten. Alles strömte ins Wirthshaus. Und mag auch die Frau Baronin von Cepeda (bekannter unter dem Namen der heiligen Therese) noch so schön und gewohntermaßen geistreich und höchst vornehm gesagt haben: „Verlieren wir doch nicht die gute Gelegenheit, die wir nach der heiligen Communion haben, uns Schätze zu erwerben! Nicht mit geringem bezahlt Seine göttliche Majestät die Herberge, in welcher sie eine gute Aufnahme gefunden!“ – dennoch auch wol in dem brennend heißen Hispanien, dem Vaterlande der liebeglühenden Therese entschuldigt man nach der Messe das Verlangen nach dem kühlen Labsal einer Posada. Die Schiffer von Lindenwerth, Tönneschen’s Alte und Großalte, tranken trotz aller Warnungen der „Application“ zur Osterzeit, den eben genossenen Leib des Herrn in ungestörter Wirkung zu erhalten, im „Hahnen“ auf des Debutanten Wohl und der halbe Ort war dabei lebendigst durcheinander und unter ihnen der „Gerechtfertigte“, dem alles die Hand schüttelte, verwundert über sein Abziehen, den nunmehr niemand gekränkt haben wollte und der dann schon in der 317 Stimmung sein durfte, Athanasiusmedaillen auszutheilen und durch bald hohe, bald seltsam tiefe Reden die Bedeutung und Wunderkraft derselben zu erläutern.

Das Pensionat machte noch einen weiter den Bergen zugewandten Spaziergang, während Angelika und Schwester Aloysia zurückblieben, um womöglich den Pfarrer zu sprechen in Angelegenheiten der wie in den Lüften schwebenden Armgart, die nun aber auch den Roland glänzen sah, so hell, so deutlich, als müßte sie jeden erkennen, der drüben aus den Fenstern desselben und etwa unter den schönen herabgelassenen, roth und grau gestreiften Markisen hervorsah.

Ja, der heutige Sonntag wird viele Menschen glücklich machen …

Wir brauchen nur an Thiebold de Jonge, an die Partie der Freunde Piter Kattendyk’s zu erinnern …

Wir brauchen nur an Benno zu denken, der sich ihnen anzuschließen hofft, wenn ihn eine Wanderung in die Kette der Sieben Berge, wohin ihn Nück’s Aufträge verschickten (gerade des Sonntags ist der Bauer am zugänglichsten für Dinge, deren Erörterung ihn dann keine Arbeit versäumen läßt), Nachmittags und auf alle Fälle des Abends nach dem Roland wieder zurückkehren läßt …

Aber den Hoffnungen, den Erwartungen, mit welchen schon um neun Uhr mit dem ersten Dampfboot im Enneper Thale ein gewisser Mann in schwarzem langschösigem Frack, in Nankingpantalons, in kameelgarner Weste, in hellgelbseidnen Handschuhen gelandet war, denen kommt die Erwartung keines andern gleich, selbst die seines 318 Begleiters nicht, Stephan Lengenich, der sich heute unter gewissen Bedingungen von Drusenheim losreißen wollte.

„Speisen Sie nächsten Sonntag bei mir in Drusenheim!“

Diese Worte waren auf dieser Erde am Donnerstag Vormittags elf Uhr jemanden gesprochen worden in der Residenz des Kirchenfürsten. Sie wurden dann wiederholt in den Moppes’schen Kellern, dann bei Veilchen Igelsheimer in der Rumpelgasse; sie waren hinübergeschrieben worden gen Kocher am Fall, wo David Lippschütz mit seiner lebhaften Phantasie gewiß bereits der Mutter auseinandersetzte, was wol alles der Onkel zu essen bekommen würde bei den reichen „Vettern“, den Millionären, auf ihrem feenhaften Lustschlosse im Enneper Thale … Löb Seligmann sang bereits seit Donnerstag keine Arie lieber, als die des Leporello im „Don Juan“: „Ihr Herr Koch, der kocht ganz vortrefflich!“ Selbst das Zwischenspiel der Violinen begleitete er mit den feurigst eingeworfenen Sechszehntelnoten: „Ganz vortrefflich, ganz vortrefflich, ganz vortrefflich!“

Nicht, daß er nicht allmählich einem gewissen innern Flüstern gewisser innerer Stimmen Gehör gegeben hätte, die ihm sagten: Seligmann, bilde dir doch nichts ein! An seine eigene Tafel wird dich wahrhaftig der Ritter Bernhard Fuld nicht placiren unter die Grafen und die Barone! Du wirst lediglich in der Küche beim französischen Koch oder bei der alten Regine, die Madame Bernhard Fuld aus Wien als orthodoxe Köchin mitbekommen hat von ihren Aeltern, vor oder nach dem Diner abgespeist werden! Aber – der Schwung der Seele, 319 der blieb denn doch! Man hatte ihn einer Ehre gewürdigt! Man hatte ihm Erlaubniß gegeben, sich verwandtschaftlicher Annäherungen zu rühmen! Man hatte nicht hindern können, daß von Donnerstag bis zum Sonntag jeder, der geschäftlich oder nichtgeschäftlich einige Worte mit Löb Seligmann wechselte, von ihm die nur so fallen gelassenen Worte zu hören bekam: „Nächsten Sonntag, ja – richtig – aha, Sonntag, ganz recht, wo ich bei Fulds in Drusenheim speisen werde –.“ Nie wurde dann den Staunenden, die das Fallengelassene überrascht aufhoben, eine Genealogie gründlicher vorgetragen, als die Abstammung und Verwandtschaft, in welcher seit Abraham, Isaak und Jakob die Seligmanns, die Lippschützens, die Igelsheimers und die Perls zu den Fulds standen.

Am Samstag sah Löb Seligmann im Stadttheater noch den „Zampa“. Diese wilde Räuberoper mit ihrer rauschenden Musik, mit ihren üppigen Trinkgelagen und Tafelschwelgereien weckte ihm wieder den ganzen Humor der sonntäglichen Erwartung, den er infolge eines Streites mit Veilchen fast verloren hätte. Dieser Streit betraf einen Gegenstand, der ihn, wie wir sogleich hören werden, in die Lage versetzen konnte, sich seinem Gastgeber, Herrn Bernhard Fuld in einer Weise zu Tisch einzuführen, die diesen selbst fast dafür belohnte, so einmal seinen bescheidenen Vetter ausgezeichnet zu haben.

Auf dem Dampfschiffe hielt sich Löb mit Stephan Lengenich so herausfordernd und kühn, wie der wilde Held der gestrigen Oper. Wäre er auch beim Landen, 320 als er inzwischen, angeregt durch die Schifferkähne, zur „Stummen von Portici“ übergegangen war und nicht achtend des schmalen Steges und des Menschengedränges trällerte: „Auf, singt die Barcarole!“ fast in den Fluß gefallen, so kehrte doch nach dem ersten Schrecken seine ganze Erwartungsfreudigkeit zurück. Während Lengenich zum Pfarrer ging, umkreiste er die stolze Villa seines Vetters und rüstete sich zum Eintritt.

Bernhard Fuld inzwischen finden wir in der behaglichsten Stimmung eines geschäftsfreien Sonntagvormittags.

Jeune homme von einigen dreißig Jahren hat er seinen hie und da schon grauenden Bart mit großer Kunst übermalt und à la mécontent geordnet. Auf seine Veranda begibt er sich in türkischem Schlafrock mit Fes auf dem Haupte und ungarischem Tschibuk in der mit einem goldenen Siegelring geschmückten feinen etwas magern Hand … Er ist nicht allein. Seine Gesellschaft ist ein gestern angekommener Gast, Baron Wenzel von Terschka, ein ihm geschäftlich Empfohlener von einem Freunde der Familie seiner Frau … Und während diese sich noch hinter einem blumengeschmückten Fenster oben bei ihrer Toilette befindet, die heute eine neu aus Paris gekommene war, da sie ein größeres Diner, Nachmittags großen Kaffee hatte, ergingen sich der Wirth und Herr von Terschka (dieser schon in vollständigster Mise) in Naturbewunderung, Börsencursen, Louis Philippistischer Politik und Pferdezucht. Der neue Stall war besehen worden, Terschka’s Kennerwort vernommen, Homburger und Baden-Badener Grafen und Barone, 321 die sich vielleicht als Traineurs auszeichneten und von zwei alten magern Pferden, d. h. Wettrennern, mit denen sie Preise gewannen, lebten, waren mannichfach als Autoritäten für diese oder jene Fütterungsmethode citirt worden, kurz, man konnte sich jetzt mit Behaglichkeit dem Blumenduft und der zauberischen Aussicht hingeben in zwei allerliebst geformten gußeisernen Lehnstühlen.

Die Besitzung hatte schon beim Ankauf, wie heute auch von der Kanzel bemerkt worden, viel Geld gekostet und mehr noch hatte man in sie hineingesteckt. Das Landhaus war, wie Terschka sagte, würdig am Comersee zu stehen … Die nahe Kirche, die ebenfalls neu, hatte dem Erbauer allerdings in erster Frühe vor seinem Schreibtisch einige „unangenehme Viertelstunden“ verursacht. Sie bot nämlich die Unbequemlichkeit, daß sie nie fertig wurde. Immer noch gab es etwas zu vervollständigen an ihr und zu ergänzen. Bald fehlten noch Chor- und Beichtstühle, Schränke in der Sakristei, allerlei von jenen Mechanismen, von denen man bei Aufbewahrung der heiligen Geräthschaften, der praktikablen Benutzung z. B. nur der Leuchter als Laie kaum eine Vorstellung hat. Was hatte der israelitische Patron der Kirche des St.-Dionysius nicht schon für unheilige Sacrebleus in die Holzschnitzereien, die Vergoldungen, die Stickereien und die Gelbgießerrechnung allein für die beiden Glocken gewettert! Wir wollen nicht wünschen, daß die mehreren Goddams, die auch heute auf die in frühester Morgenstunde schon wieder vor dem fleißigen Rechner ausgebreiteten Noten und vorzugsweise die des Gelb-322gießers fielen, irgendeinen Einfluß auf die hehren Ruferinnen der Lüfte ausüben mögen. Bernhard Fuld unterwarf sogar die Inschriften der Glocken einer Kritik, denn der Bildner der Form ließ sie sich buchstabenweise bezahlen und Pfarrer Engeltraut hatte großen Werth darauf gelegt, die Worte des Psalmisten: „Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar, Sela!“ auf die große Glocke und die Worte des Propheten: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Boten, die da Frieden verkündigen!“ auf die kleine zu setzen. Der von ihm sogar noch beantragt gewesenen, aber von Fuld gestrichenen dritten Glocke hätte er hingehen lassen, daß sie nur einfach die Jahreszahl brachte.

Bernhard’s Gast, der die Cigarren seines tschibukrauchenden Wirthes ebenso zu würdigen versteht, wie die pittoreske Lage der Veranda, ist kein Jüngling mehr und doch besitzt Herr von Terschka etwas außerordentlich Jugendliches. Von sechsunddreißig Jahren, die man ihm nach dem untrüglichen Merkmal aller Jahre, den Runzeln, die von den Schläfen nach den Augen zulaufen, geben mußte, hatte er noch ganz das Wesen eines Jünglings, jedenfalls noch immer das aus der Zeit, als er mit seinem Freunde Grafen Hugo von Salem-Camphausen unter den Offizieren zu Kiel saß, damals, als des Kronsyndikus Trauer selbst beim Weine von diesen feierlich geehrt wurde und gerade Terschka es war, der bei Gelegenheit der Nase Lucindens und eines Bildes auf einem herumgereichten Armbande die Veranlassung wurde, an eine Römerin zu erinnern, über die der Kronsyndikus in jene nächtliche Aufregung gerieth, die 323 ihn seine noch lebende „zweite Frau“ sehen ließ – und das war bereits sechs Jahre her. Schlank und behend von Gestalt, mager, wachsbleich wie ein Armenier, mit schwarzem Haar, weißen Zähnen, leidenschaftlichen schwarzen Augen, befliß sich Wenzel von Terschka völlig unbedeutend zu sein, so kindlich, so gutmüthig, wie nur irgendeinem gebornen Czechen möglich. Mit Gewandtheit folgte er jedem Gedanken seines Wirthes und ließ sich in der Morgenunterhaltung beim Genusse seiner Cigarre auf jede Aeußerung desselben mit der liebenswürdigsten Selbstentäußerung ein: „Ah! “ – „In der That!“ – „Meinen Sie wirklich?“ – Mit diesen Zwischenreden folgte er allen Ansichten, die Bernhard Fuld über die große Erbschaft aussprach, die demnächst der Auftraggeber Terschka’s, Graf Hugo, antreten wollte. Immer wieder kehrte das ihm sicher hochwichtige Gespräch auf Harmlosigkeiten zurück, auf die Gegend, auf das Stift Lindenwerth, auf die Pferde seines Wirths, auf die Preise des Heus und der Fourrage in hiesiger Gegend, auf das erst neuerdings eröffnete Bad zu Homburg, wo Bernhard Fuld mit seiner jungen Frau vor wenig Wochen die erste Saison durchgemacht und zu erzählen wußte von einer Jagdpartie der Spielpächter im Costüm der Zeiten Ludwig’s XIII. und einer andern im Geschmack rothgekleideter englischer Fuchspreller. Bei der geschickten Art, wie sich Wenzel von Terschka zu unterhalten wußte, lenkte er das Gespräch immer wieder auf den Beistand ein, den für seine große Erbschaft und vielleicht die zweck-324mäßigste Entäußerung derselben Graf Hugo in dem Fuld’schen Hause zu finden hoffte.

Bernhard, der ohne seinen erst aus der Stadt noch erwarteten, sicher zum Diner kommenden Bruder Moritz nichts Geschäftliches unternahm oder zusicherte, nicht einmal eingehend etwas erörterte, war schon mit der gleichgültigen Bemerkung hervorgetreten, daß vielleicht eine Parcellirung – das Rentabelste wäre und sich dann zu einer Recognoscirung des Terrains niemand besser eignen würde, als – par exemple – ein erfahrner Landwirth und Gütermakler Namens Löb Seligmann …

Und gerade in diesem Augenblick wurde Löb Seligmann von einem eben in seiner Toilette fertig gewordenen, in schöner, bunter Livree auftretenden Bedienten angemeldet.

Terschka, der alles nur leicht zu nehmen schien, doch den Namen des Agenten sogleich zweimal sich nennen ließ, setzte bei seinem Wirth Privatgeschäfte voraus und ging auf sein Zimmer. Er besaß die Klugheit, die Dringlichkeit seines Anliegens mit nichts zu verrathen, sondern die Geschäftswelt an sich herankommen zu lassen. Fast könnte es scheinen, als hätte dies für sein lebhaftes Naturell keine kleine Aufgabe sein müssen.

Mit seinen hellgelben, seidenen Handschuhen steht nun der glückliche zu Tisch Geladene vor dem dem Baronisirtwerden so nahe gerückten „Vetter“ Bernhard Fuld und äußert ihm durch einen trunkenen Blick die schon oft ausgesprochene Bewunderung seiner reizenden Besitzung.

325 Bernhard Fuld hatte die Gewohnheit, beim „Unter uns“ nicht die vornehme Reserve zu beobachten, die ihm sonst eigen war …

Graf Rudolf in der „Nachtwandlerin“ singt, auf die schöne Gegend blickend: „Hier das Bächlein, dort die Mühle!“ – und ebenso verklärt schaute Löb Seligmann rundum …

Bringen Sie die Quittung über die – wie viel Thaler waren es –? fragte Bernhard.

Herr Fuld, Sie werden doch sagen, daß ich meine Sache gut gemacht habe! begann Seligmann. Sie sollen sich bauen auf den Berg den schönsten Pavillon und eine Treppe hinauf mit so viel Stufen, als ich Ihnen Jahre zu leben wünsche! Hundert Stufen sind mir nicht genug, Herr Fuld!

Wer sagt Ihnen, daß ich einen Pavillon bauen will mit Stufen? erwiderte Fuld und fand sich schnell in die so höchst angenehme Nachricht. Ich will nur einen Weinberg haben und mein eignes Getränk auf den Tisch, Drusenheimer Ausbruch! Denken Sie, die Papiere stehen so, daß ich alle Tage Champagner trinken kann?

Champagner! … Seligmann ahnte eine bedeutsame Anspielung auf das heutige Diner, ließ seine gelbseidnen Handschuhe nicht wenig in der Sonne spielen und verzichtete still für sich auf Champagner, befriedigt vollkommen von gewöhnlichem – Johannisberger Cabinet oder ähnlichen Mittelsorten –

Wie ist denn diese plötzliche Umwandelung des verrückten Küfers gekommen? fragte Fuld, aufblinzelnd zu seiner vielleicht schon oben lauschenden Gattin.

326 Seligmann zuckte die Achseln, holte einen tiefen Seufzer und erwiderte:

Herr Fuld, das ist ein Roman! Wenn ich’s erzählte, Sie würden es nicht glauben!

Bernhard Fuld hatte noch mit seiner Toilette Zeit und sagte:

Erzählen Sie nur!

Löb Seligmann machte eine mysteriöse Miene.

Sie wollen mich überraschen! sagte Fuld, als der Makler schwieg und setzte mit einem Tone, der selbst Scherze in der immer ihm gleichen blasirten Art aussprach, erläuternd hinzu: Wahrscheinlich, weil ich jetzt die ganze Geschichte um sechshundert Thaler habe!

Nein, umsonst! parodirte denn doch Löb Seligmann und nicht ohne eine gewisse Aufwallung über den Vetter, der der Mann war, solche Scherze ernst zu nehmen.

Sie haben, fuhr Fuld in der That fort, das Geschäft mit sechshundert Thalern fertig gekriegt und wollen nun dreihundert als Courtage? Revanchiren Sie sich ein andermal!

Herr Fuld! sagte Löb zurückfahrend. Meine fünf Procent sind mir fast an Freiheit und Leben gegangen!

Mit einem halb zugedrückten Auge erwiderte Bernhard blinzelnd:

Hanswurst!

Hanswurst? Um den Küfer herumzubringen, hab’ ich eine Komödie gespielt, die, wenn man die Hand umdreht, wär’ ein Trauerspiel geworden und Sie wissen, Herr Fuld, ich bin für die Oper –

327 Fuld staunte denn doch und würde auf die weitere Auslassung des Vermittlers mehr gedrängt haben – schon vielleicht eines Stoffes wegen für die Unterhaltung beim Diner –, wenn dieser nicht von der Veranda aus, wo sie sich befanden, den Küfer im Sonntagsstaate daherkommen gesehen hätte, umringt von Alt und Jung, die aus dem „Hahnen“ her ihn als einen jetzt erst erkannten, wahrhaft erleuchteten und ganz unglaublich wunderbaren Mann begleiteten.

Stephan Lengenich sah sich wie ein Feldherr oder ein hier entthront gewesener Monarch um. Jetzt erst recht hätte er, nach der geistlichen Schutzrede und dem feurigen Anschluß der Dorfbewohner, den Fuß in der Gemeinde behalten mögen; doch hatte er Seligmann in seinen Kellergewölben den Schwur gethan, daß es rings in den Gewölben und an den Fässern widerhallte: um einen gewissen Preis wolle er das Geschäft zu Stande kommen lassen, einen Preis, bei dessen Anblick es ihm gewesen war, als wäre aus der Wand oder aus einem Fasse heraus auf ihn zugetreten geradezu der Bote der himmlischen Gerechtigkeit! Was Stephan da geschworen hatte, als er die Laterne in die Höhe gehoben und athemlos gesprochen: Mensch! wo hast du das her? … als Seligmann mit der rechten Hand, während die linke das Bewußte schnell wieder verbarg, seine Vatermörder in die Höhe zupfte, weil sie in der feuchten Kellerluft ihre stärkehaltige Positur verloren … was er geschworen, als er alles liegen ließ, wie es lag, über Dauben, Setzreifen, Bandhaken, Visirstäbe, Stellzirkel hinwegtrat, die linke Hand Seligmann’s ergreifen wollte, dieser aber 328 retirirte und ihn so mit sich zog, wie er ging und stand und wie an einem Köder in die Rumpelgasse zu Veilchen Igelsheimer … was er wieder dort geschworen, als der lange, breitschultrige Mann, mit seinem gerötheten Antlitz, den wackelnden Ringen in den Ohren, das knatternde Schurzfell über den Lenden, vor dem zarten, kleinen alten Mädchen stand und an seinem Schutzpatron Sanct-Stephanus, dem Gesteinigten, festhalten mußte, um nicht im Glauben wankend zu werden vor Bewunderung einer Beredsamkeit, die ihm bewies, daß er den Fluch der ganzen Kirche auf sich laden würde, wenn er nicht dahin sich ergäbe, jenen Anblick nur vorläufig einmal gehabt zu haben, den Anblick jenes vom Jagdkleid des Kronsyndikus vom Deichgrafen im Ringen losgerissenen grünen Kragens – was er da geschworen: dem Löb Seligmann dafür zum Lohne „und bis auf weiteres“ das von ihm vermittelte Geschäft des Verkaufs zu Stande kommen zu lassen, das hielt er denn nun auch.

Stephan Lengenich, im Geiste sich bis an die Spitze des Geierfelsen hinter ihm hinaufgipfelnd und das ganze Enneper Thal zum Schemel seiner Füße nehmend, kam näher …

Seligmann rief ihn von der Terrasse grüßend an … Lengenich zog den Hut – lässig wie ein Fürst.

Bernhard erklärte sich bereit zum sofortigen Abschluß und zur Ausstellung einer Anweisung auf sein Comptoir in der Stadt.

Fuld’s kurze und geschäftliche Begrüßung des inzwischen auf die Veranda eingetretenen Handwerkers war diesem wenig genehm; denn wenn Leute aus dem Volke etwas 329 ihnen Wichtiges unternehmen, so wollen sie es mit einem entsprechenden Umstand vollzogen sehen. Ehe aber Stephan nur erst die Anrede gemacht hatte: Lieber Herr! war Bernhard schon mitten in dem Gegenstand. Und ehe jener nur erst sein: Lieber Herr! wiederholt, dann von seiner Geburt her „in dem Hause da drüben hinter den Wallnußbäumen am dritten Fenster rechts Eintausendsiebenhundertunddreiundneunzig“ begonnen hatte, da bezweifelte Bernhard schon wieder Stephan Lengenich’s wirkliche Absicht, bei neunhundert Thalern stehen zu bleiben und nicht auf Billigeres zurückzugehen. Und wie der Küfer nun gar erst von dieser Seitenschwenkung, die er jedoch schon rascher parirte, im Context irre wurde und zu seiner Wanderschaft übersprang als Gesell und von den fünf Groschen sprach, die er manchmal nicht in der Tasche gehabt hätte, und dann der Weg bis zu dem Düsternbrook bei Schloß Neuhof noch in unendlichster Perspective lag, da waren alle drei schon aus der Veranda einige Stufen, über welche eben im seidenen, duftenden Kleide dahinrauschend ein allerliebstes kleines Frauchen mit einem großen weißen Spitzenteller auf dem rabenschwarzen Haare ihnen begegnete, in Bernhard’s Arbeitszimmer angekommen und hatte dieser schon eine Feder in der Hand und setzte eine Verständigung auf, die Lengenich unterschreiben sollte … Jetzt war zwar in der Pracht und Eleganz der Umgebung die Biographie des Küfers vollends verschüttet, doch hatte er für sein umständliches Gemüth nun einen Vorsprung gewonnen. Er sollte etwas unterschreiben! Da lag ein Bogen Papier, unter den er seinen Namen setzen sollte, 330 während ein andrer darauf warten muß! Das ist ein großes Privilegium! Da kann ein jeder sicher sein, ob er nun Napoleon oder Alexander der Große heißt, daß er ruhig zuhören muß, wenn sein Wirth beim Schließen eines Miethcontractes die Pause benutzt und die gegenwärtige Höhe der Steuern auseinandersetzt! Lengenich las jede Zeile mit Aufmerksamkeit und ihn störte nicht das heitere Lachen der kleinen Frau und ihr Scherzen draußen mit Wenzel von Terschka, ihn störte nicht, daß Bernhard Fuld noch gar nicht einmal angekleidet war. Der Preis war noch offen gelassen, in Erwartung, Lengenich würde sich vor Seligmann in der unter ihnen abgemachten Summe verrathen.

Wirklich Siebenhundert? sagte Bernhard. Haben Sie sich nicht verschwören müssen, Herr Lengenich?

Siebenhundert?

Seligmann trommelte auf die Fensterscheiben. Die berühmte Auctionsarie aus der „Weißen Dame“ bekam er in seine beleidigten Finger.

Inzwischen hörte man leichtes Fuhrwerk im Kieselsande anfahren – bald war es zwölf Uhr – vor Tisch war noch manche Anordnung zu treffen …

Bernhard sagte:

Ich stelle also eine Anweisung auf – achthundert Thaler.

Seligmann trommelte und pfiff sogar leise die Verzweiflung des Schloßverwalters aus der „Weißen Dame“ …

Na, richtig, neunhundert! sagte endlich Fuld ärgerlich, nur um zum Ziele zu kommen und auch erschreckend über den immermehr zurückhufenden und sich purpurn überfärbenden Küfer …

Als er geschrieben, mußte er dann auch zur Strafe 331 noch aushalten, daß Stephan Lengenich ihm die Hand reichte, gleichsam eine ewige Freundschaft mit ihm schloß, sich freute, ihn persönlich kennen gelernt zu haben, seine kostbare Einrichtung bewunderte, einige Bilder betrachtete, nach dem Preise der Rahmen fragte, dreimal den Hut suchte, während er ihn doch schon in der Hand hatte, und nicht fortkonnte …

Seligmann unterstützte ihn in diesem Laviren … Denn Eines war höchst sonderbar. Der Vetter machte keine Miene, sich zu erinnern, daß er heute bei ihm speisen sollte …

Schon rief Bernhard Fuld: Jean! und der Bediente kam und half ihm bei Abschluß der Toilette …

Stephan Lengenich bewunderte noch immer einige Porträts und verglich bei einer der ringsum aufgehängten Damen die Augen mit denen Veilchen Igelsheimer’s …

Excuse! sagte Bernhard ärgerlich und zog ohne weiteres den Schlafrock aus …

Aber kein Wort vom Diner?!

Nein, sehen Sie, Herr Seligmann, diese weißen Hände mit den Ringen! … Dort!

Bitte recht sehr! bemerkte Bernhard immer verdrießlicher und doppelsinniger und ließ seine weiten rothen Beinkleider sinken, um ganz enge schwarze anzuziehen …

Und nichts vom Diner!?

Stephan Lengenich besann sich jetzt, was der Anstand erforderte. Der Mann war er nicht, der nicht verstanden hätte, mit den Großen umzugehen, mit feinen, gebildeten Herren wie Schnuphase, mit Secretären des Kirchenfürsten und ähnlichen Lebensstellungen … Jetzt empfahl er sich und verwechselte nur noch die Thüren …

332 Da, da, lieber Mann! zeigte Fuld und er war dabei auf der Folter …

Aber nichts vom Diner?! … Löb Seligmann steht wie angewurzelt …

Ja aber, was wollen Sie denn noch? fuhr Bernhard Fuld jetzt auf, zornig über den kleinen Mann mit dem schwarzen Wollenkopf und hatte nicht übel Lust hinzuzusetzen: Haben Sie denn Pech an den Stiefeln? …

Dabei zog er schon den Frack mit dem rothen Band der Ehrenlegion an.

Das wurde denn nun doch dem Vetter zu viel!

Vor Stephan Lengenich, der schon draußen war, compromittirte er jetzt weder sich noch den Vetter. Mit einem Tone, der gleichfalls unerschrocken dem „Unter uns“ entsprach, sagte er:

Herr Fuld! Ich wollte nur gefragt haben: Wann ist die Stunde, wo bei Ihnen gespeist wird?

Jetzt sah ihn Fuld groß an und besann sich … Lange mußte er kopfschütteln und lachen. Endlich rief er gezogenen Tones:

Schlemihl! … Es ist ja wahr! … Wissen Sie was? Gehen Sie in die Küche, Seligmann! Fragen Sie Reginen, wie viel Minuten vor zwei Uhr die gespickte Rehkeule irgendwo zum Anschneiden ist, daß man’s nicht sieht, wenn sie auf die Tafel kommt!

Löb Seligmann hob voll Trotz das Haupt aus den Schultern und warf es mit einer gewissen schiefen Senkung wieder in den Nacken. Die Art, wie er von dannen ging, sagte geradezu: Ich denke, Sie haben sich 333 meiner nicht zu schämen, Herr Fuld; denn es steht geschrieben: Alle Jüden sind wir geborne Prinzen.

So schritt er fort; sein Gemüth löste sich aber in Elegie auf … Er mußte gedenken: Gott, wenn du nun nach Kocher am Fall hättest schreiben müssen, du warst auf Fuld’s Villa und sie hatten die Einladung vergessen! … Dieser Gedanke goß über sein Antlitz die äußerste Wehmuth … Lengenich, der ihn draußen erwartete, begriff nicht, warum so weich die Worte von seinen bleichen Lippen kamen:

Gehen Sie jetzt, Mann! Versöhnen Sie sich mit Ihrem Bruder, der Ihr ärgster Feind gewesen! Ich bleibe auf der Villa! Sie wissen! Ich speise bei – meinem Vetter!

Der Küfer war in verwandter Stimmung. Er wußte, daß im alten, Anno 30 renovirten Hause der Aeltern eben jetzt sein Bruder Melchior mit der Familie zu Tische geht … Er wußte, daß es heute seit einem Jahrhundert dort Klöße, gekochte Birnen und Speck gab … So nach der Rechtfertigung des Pfarrers mit Darreichung des Handschlags vom Bruder sogleich empfangen zu werden, verlangte er nicht. Dazu war der Berg zwischen ihnen zu hoch gewesen. Aber ein kurzes: „Stephan, du bist’s?“ ein aufrichtiges, ehrliches, deutsches: „Ja, Melchior, ich bin’s!“ ein Schweigen von Seiten Melchior’s und ein Deuten blos auf den Mittagstisch und die Worte: „Willst mithalten?“ … mehr verlangte Stephan nicht … mehr bedurft’ es auch nicht zur Aussöhnung. Endlos ist das Volk in Verstandesdingen, in Herzensdingen kurz.

334 Seligmann aber, alle Sorgen, die sich noch an den Fund des Portefeuilles aus der Kutte des Mönches Sebastus knüpften (eines Portefeuilles, das einem Manne gehörte, an dem sich rächen zu wollen auch ihm sein erstes Gelüst gewesen) abschüttelnd auf die Weisheit, hochherzige Besonnenheit und Beredsamkeit Veilchen’s stieg in das Souterrain der Villa, wo neben dem französischen Koch, Herrn Jülien aus Paris, Regine waltete, die der jungen Madame Fuld ihre Aeltern mitgegeben hatten, um dafür zu sorgen, daß sie den Zusammenhang mit den Vorschriften des Talmud nicht zu sehr dem vornehmen Weltleben ihres Gatten opferte. Waren keine Gäste da, so hatte Regine den Oberbefehl und duldete am Kalbsbraten keine Butter, am Rehbraten keinen Rahm, nimmermehr Aale, nimmermehr die Verwechselung der Geschirre je nach dem Inhalt, der drinnen gewesen – und wie die Vorschriften eines Glaubens lauten, der die Grundlage unsers eigenen ist.

Seligmann lächelte sanft, die Freude Reginens zu sehen, daß sie einen „Vetter“ ihrer Herrschaft oben kennen lernte, wenn auch nur hier unten im Souterrain des Kellers …

Der Rehbraten, sagte allerdings der Koch streng abweisend, sein erst dann zu dividir, wenn er zurückspazir’ de la Table!

Aber Seligmann war es nicht um den Rehbraten, sondern nur um die Ehre zu thun. Er wartete den Gang der Ereignisse ab. Das freundliche Plauschen der alten Wienerin weckte ihm allmählich wieder die frohe Musik seiner Seele.

335 12.#

Nun von Viertelstunde zu Viertelstunde ein neuer Gast …

Zuerst der Bruder Moritz …

Er war der Aeltere, trat aber gegen seinen repräsentativeren Bruder zurück. Fast vierzig Jahre alt, mochte er sich nicht mehr verheirathen. Er hatte eine pessimistische Auffassung des Lebens, während Bernhard, Geldsachen ausgenommen, mehr zum Optimismus neigte …

Moritz brachte die ihm gestern Abend anonym zugeschickte Caricatur.

Glücklicherweise brachte er auch den Humor mit, daß er das Befremden und den entrüsteten Unwillen seines Bruders nicht vermehrte …

Der stille und sanfte Alois Effingh hatte sie beide darstellen lassen, wie sie mit einem Heiligenschein von Dukaten um den Kopf standen, der eine in der Hand mit einem Modell einer neuen Kirche, der andere mit einer Kerze und mit dem Rauchfaß. Darunter stand die Unterschrift: „Alles fürs Geschäft!“

Für die Kirche, sagte Moritz, tröste uns die neue Eisenbahn in Belgien, deren Actien wir in Deutschland 336 emittiren! Und für die Dukaten um den Kopf tröste uns unsere amsterdamer Berechnung vom letzten Ultimo! Louis Philipp läßt die Curse fallen, weil die Kammern zusammentreten. Um die Debatten über die Thronrede nicht zu grob werden zu lassen, kitzelt er ein bischen den französischen Nationalstolz durch den Schein, daß es Krieg gibt.

Bernhard versicherte sich, daß Moritz wenigstens die Caricatur vor seiner Frau geheim hielt …

Gott, wie zärtlich! Warum soll sie unsere Lage nicht kennen lernen? erwiderte Moritz.

Dabei mußte er gewähren lassen, daß ihm Bernhard sein an Louis Philipp’s „ehrliche Leute“ und deren Politik erinnerndes rothes Bändchen etwas weiter aus dem Knopfloch zog …

In der Stadt drüben, fuhr Moritz fort (er that dabei sogar dem Bruder den Gefallen, sich im Spiegel zu besehen), müssen wir uns isoliren und unsere Kraft nur in Paris, London und Amsterdam suchen! Dann der mittlere Bürgerstand und der kleine Mann gewonnen und wir lachen diese altfränkischen Buchhalter aus mit ihren großen dicken liniirten Strazzen, die von Jahr zu Jahr hinten mehr leere Seiten zeigen werden.

Beide waren einig darüber, daß der Spott nur von der tonangebenden mercantilen Jugend der wohledeln Stadt, von Piter und dessen Freunden kommen konnte.

Sie verließen das Haus und gingen den schattigen Partieen des schönen Gartens zu und sprachen von den Anträgen Wenzel’s von Terschka …

Es war von einer großen Lotterie die Rede, in der 337 die Standesherrschaft Dorste-Camphausen allenfalls verspielt werden konnte … Terschka hatte selbst aus seiner Heimat diese dort übliche Form für Geldspeculationen großer, selbst fürstlicher Häuser anempfohlen …

Neue Anmeldungen hinderten die Fortsetzung dieses Gesprächs …

Bernhard ging, eine kürzlich in Belgien bei Negociirung eines großen Eisenbahnanlehens der Städte Lüttich und Namur gemachte Bekanntschaft aus Spaa, den Baron von Binnenthal zu empfangen …

Die Physiognomie des Barons misfiel Moritz. Gerade darin zeigte er seinen Pessimismus, daß er beständig des Bruders Sucht nach vornehmen Bekanntschaften bekämpfte, die allerdings nicht selten mit Geldverdrießlichkeiten endeten …

Ich weiß nicht, mit was für Leuten du dich ziehst! flüsterte er dem Bruder zu.

Aergerlich wies dieser auf den aus der heißen Küche jetzt zurückgekommenen und in den entferntesten Hecken des Gartens fast auf den Zehen spazieren gehenden Seligmann und sagte:

Schnorrer willst du? Da hast du einen!

Sich wendend empfing er dann wieder eine neue Meldung …

Herr von Binnenthal war inzwischen zu Madame Fuld getreten …

Ein junger Dandy war es, der bei seinen vielen Reisen im Ausland seine deutsche Muttersprache verlernt zu haben schien und bei den einfachsten Begriffen stockte, um sie zuletzt englisch oder französisch vorzubringen.

338 Moritz flüsterte seiner Schwägerin (die in der Mitte des Gartens in der schattigen Rotunde eines mit vier Eingängen durchbrochenen Rebenspaliers, auch hier auf gußeisernen, mit Polstern belegten Stühlen, anmuthsvoll die Honneurs machte und durch die Strahlen eines von Blumen umzogenen Springquells aus der Ferne gesehen, in ihrem wassergrünen seidenen Kleide, fast einem Grandville’schen Naturgeist, einer personificirten Libelle ähnlich sah) nach einigen Beobachtungen des Herrn von Binnenthal brummend die Bemerkung zu:

Ich weiß nicht, dieser Baron hat immer das Deutsche an den Stellen vergessen, wo man eben erwartet von ihm einen Gedanken zu hören!

Frau Bernhard Fuld sprach jedoch holdseligst mit dem Baron, ohne sich im mindesten von der grämlichen Kritik des Schwagers stören zu lassen.

Wieder klingelte die große Pforte des Eingangs.

Wieder eine Anmeldung „aus der Pairskammer“, wie Moritz sagte, der im Geiste mehr in Paris, als in Drusenheim zu leben schien.

Diese neuen Ankömmlinge wurden vor Bewunderung der Villa gleich vorn gefesselt.

Terschka und Binnenthal unterhielten die Wirthin und Moritz horchte und studirte vor sich hin und auf dem Gartenboden, wie es schien, nur Botanik.

Herr von Binnenthal hatte allerdings alle Eigenthümlichkeiten der Weinreisenden. Er konnte mitten in eine Phrase über die von Terschka angeregte Schönheit der alten belgischen Bauten eine Zwischenrede mit der Wendung einwerfen: „Meine gnädigste Frau, dieses we-339niger!“ Oder Frau Bettina, wie sie statt Betty dem seit einigen Jahren erschienenen Briefwechsel Goethe’s mit dem Kinde zu Liebe genannt wurde, ungeduldig über die draußen gefesselten Gäste, wollte einen Schmetterling haschen. Es mislang ihr und Baron Binnenthal nannte diese kleine graziöse Unterbrechung, die der schönen Frau allerliebst stand: „Eine verfehlte Speculation!“ Als er einige male, wetteifernd mit dem immer gefallsamen Terschka, der aus dem: „Küss’ die Hand!“ gegen Frau Bettina nicht herauskam, von „schiefgewickelten“ Ideen sprach, erregten diese Ausdrücke wol bei beiden großes Gelächter, Moritz jedoch hatte auf der Lippe, seinen Bruder Bernhard zu fragen, ob dieser in dem Eifer nach Vornehmheit vergessen hätte, sich den Paß des Herrn von Binnenthal zeigen zu lassen.

Und dabei bekam Moritz wahrhaft Mitleid mit dem armen Seligmann, der sich hinter den äußersten Stachelbeerhecken versteckte und je mehr Menschen kamen, ganz gegen das Naturell seines Stammes, desto weiter sich zurückzog.

Immer größer und größer wuchs die Zahl der Connexionen. Nun sah man, daß man in Homburg und Baden-Baden die Liebenswürdigkeit selbst gewesen war. Jeder, der auf seiner Rückreise den schönen Strom berührte, war aufmerksam gemacht worden, die Villa im Enneper Thale zu besuchen …

So auch ein Herr von Guthmann mit Gattin …

So auch zwei englische Ladies, die mit Ponies anfuhren und mit Mappen kamen, um nach Tisch vielleicht noch die Gegend aufzunehmen …

340 So auch ein großer „Exporteur in Landesproducten“ aus Hamburg mit zwei Schwestern …

Bernhard gerieth in eine gegen seine sonstige blasirte Haltung immer mehr zunehmende Aufregung. In dieser gab er sogar den Bedienten den Befehl, den so „lauernd schleichenden“ Seligmann ganz aus dem Garten zu verweisen.

Moritz machte zu alledem den Beobachter und bemerkte bereits Manches.

Z. B. als das von Guthmann’sche Ehepaar in den Garten getreten war …

Herr von Binnenthal entfaltete gerade ein Brillantfeuerwerk von „famosen“ oder „schaurigen“ Thatsachen aus dem Badeleben Ostendes und Scheveningens und hatte auf die Frage des Herrn von Terschka, ob Herr von Binnenthal auch ein Schwimmer wäre, wieder die geistreiche Antwort gegeben: „Dieses weniger!“ – als seine Blicke des Herrn von Guthmann ansichtig wurden und vom Momente an verstummte Herr von Binnenthal. Moritz konnte diese auffallende Beobachtung um so mehr machen, als ihn Frau von Guthmann interessirte; eine feine graziöse Erscheinung war es, nicht mehr ganz jung, aber von gefälligem Eindruck und einem ohne Zweifel im Salon gebildeten Benehmen. Als sie selbst mit einem jener Misverständnisse, die in Gesellschaft mit neuen Bekanntschaften oft vorkommen, sich selbst in ein längeres Gespräch mit Herrn von Binnenthal eingelassen hatte und erst allmählich erkannte, daß sie sich an ihr ebenbürtigere Persönlichkeiten hätte wenden müssen, stand doch Herr von Guthmann lange genug allein, um über den Ein-341druck, den auch ihm Herr von Binnenthal zu machen schien, von Moritz beobachtet zu werden. Dies schien der Eindruck des höchsten Erstaunens zu sein. Offen sprach Herr von Guthmann zu Moritz seine feste Ueberzeugung aus, in jenem jungen Manne einen gewissen Oskar Binder wiederzuerkennen, der – Nun freilich nahm er Anstand, die Antecedentien eines Mannes offen anzugeben, der hier in solchem Kreise bei Rittern der Ehrenlegion verweilen konnte und von Pferden, Hunden und von Güterankäufen sprach. Daß auch ihm der Makel anklebte, auf eine nicht besonders motivirte Weise Bankrott gemacht zu haben und mit der geschiedenen Frau eines angesehenen Mannes, gegen deren Aufführung die sprechendsten Beweise an Ort und Stelle vorlagen, sich von Weib und Kind entfernt, dann diese Frau und mit ihr den selbstgegebenen Adel geheirathet zu haben, um ein speculatives Leben in den Bädern zu führen – das war allein der Anstand, der Herrn von Guthmann verhinderte, offener mit der Wiedererkennung seines frühern Commis hervorzutreten. Seine Frau führte mit diesem gerade eine liebenswürdige und höchst charmante Causerie, ganz noch als wenn sie in seinem Bazar stünde und unter Scherz und Bewunderung der vorgelegten Stoffe, sicher nur infolge angeborener Kleptomanie, ein Packet Spitzen escamotirte. Moritz bemerkte den Schrecken, der auf den Gesichtszügen des Herrn von Binnenthal immermehr platzzugreifen anfing …

Diese so interessanten Bekanntschaften wuchsen immermehr …

342 Bernhard’s neue Existenz strahlte im Lichte der edelsten Gastlichkeit. Man hatte im ersten flüggen Drange des Bestrebens, ein Haus zu machen, jeder persönlichen Berührung, selbst einer Frage am Cursaal zu Baden-Baden, ob diese oder jene Pièce nicht von Beethoven wäre? und der Antwort der Nachbarin (zufällig Meta Carstens, die mit Bruder und Schwester ihre zweijährliche Ferienreise machte): „Jewoll!*) Die C-Moll-Symphonie!“ – dann bei einer Kritik des Fünf-Uhr-Diners (hamburger beibehaltene alte Gewohnheit) und der Bewunderung der aufgetragen gewesenen Erbsen (die sie rühmende war Sophie Carstens) eine Ausdehnung zur Einladung, auf der Rückreise das Enneper Thal zu besuchen, gegeben. Frau Bettina liebte die Natur, die Musik, die schönen Künste und sogar die Freundschaften noch ebenso, wie Bernhard bereits nur noch die Livreen, die Pferde, die Hunde und die großen Namen liebte. Nach den Honigmonaten klärt sich das. Jetzt ist die Gärung noch etwas bunt. Zu dem Commis mit fünf Jahren Correction, zu dem bankrotten Rentier und seiner neuen Gattin, dem weiblichen Vidocq, zu den Ladies, die die Töchter eines Porterbierbrauers in London waren, kam Nikolaus Carstens, seinerseits höchst unschuldigerweise hier ein großer Exporteur genannt, theilweise jedoch mit größerm Rechte als Münzenkenner und halber Gelehrter gefeiert. Er bedurfte der ganzen Würde, die ihm seine weiße, große, in der Hitze nicht eben kühlende Halsbinde gab, um die Aeußerungen seiner Schwestern über 343 eine gewisse von ihnen bewohnte Villa vor dem Dammthorwalle mit Besonnenheit zu unterstützen.

Wir bedauern nicht verweilen zu dürfen bei der Anmuth der Wirthin, die ganz wie ein verkörperter Tropfen vom heutigen Frühthau noch nachblinkte. Sie einen Diamanten zu nennen, deren sie einige Dutzende auf Brust und Händen trug, wäre zu kalt von uns. Sie ist das Leben selbst, der Frühling, der lachende, die Sonne, die glühende. Wie ist das im Glück geboren und erzogen! Sie hat soeben bei dem Wandeln hinaus auf den nun heute zu ihrer kindlichsten Freude erworbenen halbwüsten Acker und Weinberg, dessen Höhe jedoch das schönste Panorama bot, eines der kostbaren Bänder, die sie auf dem schönsten Arme von der Welt trug, verloren – Moritz tadelte gleich, daß sie deren zu viel trug und nannte es ein gefährliches Unterbinden der Pulsadern – beim Zeigen und Bewundernlassen dieser Armringe war einer von ihnen verloren gegangen … eben kam der Verlust zur Sprache … eben bei der Debatte über das Verhältniß irgendeines neuen wiener Componisten zu Beethoven, einer Zusammenstellung, über deren Ketzerei Meta Carstens vor Aufregung fast plattdeutsch sprach und dabei Brillanten und Rheinkiesel in geistvolle Vergleichung brachte … Nun allgemeine Bewegung; aber die junge Frau sagt: Bitte! bitte! Lassen Sie doch nur! … Die Bediente springen … Terschka ist schon überall … Bernhard bittet um alles in der Welt, den Fall leicht zu nehmen … Bettina nimmt den Fall wirklich schon leicht … Man kehrt unverrichteter Sache zurück, das Armband ist nicht zu finden … Und jetzt kommt es erst 344 heraus, daß es das schönste war, dasselbe, das Frau von Guthmann so lange bewundert hatte … Moritz fixirt Herrn von Binnenthal … aber ein Graf Dammhirsch – wirklich das einer von sechzehn Ahnen, aber blos Traineur und Besitzer von zwei alten magern, schnellfüßigen, ihn ernährenden Stuten – verbürgt die Ehrlichkeit der Gegend … Doch die Masse der Spazierfahrer und Ueberlandgänger! … Enfin tranchons le mot! ruft Bernhard. Tranchons le rostbeaf! sagt Moritz, mit Anspielung darauf, daß man auch allenfalls Hunger haben könnte … Das Ding kostete mindestens sechzig Friedrichsdor! flüsterte er; aber Bettina sprach schon wieder von Musik und vertheidigte den neuen Componisten und bewunderte Thalberg’s Tremolo.

Die Stimmung war allerdings ein wenig gedrückter geworden und nur die Naivetät der Engländerinnen belebte sie wieder durch ihr Entzücken über die Gegend.

Bernhard sah sich nun nach Seligmann um, den er aus dem Garten verwiesen hatte, ja sogar von der Eingangspforte der Villa weg, wo der gute Vetter sich nützlich zu machen den Einfall bekam und den Schlag der Wägen öffnete, wenn die Bediente nicht sogleich zugegen waren. Jetzt hätte der nach dem Armband suchen können. Er bereute fast, vor einer Viertelstunde zu ihm gesagt zu haben: Seligmann! Ich werde Ihnen doch einen Hut mit Tressen geben, ein Bandelier und einen Stock, wenn Sie durchaus hier den Portier machen wollen!

Man konnte nicht leugnen, Seligmann trug die Farbe seines Stammes in seltener Treue. Dazu kam seine unendliche Glückseligkeit, die unverkennbare, fast 345 verwandtschaftliche Freude, andere im Augenblicke gleichfalls so glückliche Menschen hier begrüßen und aus dem Wagen helfen zu können mit seinen allerdings schon etwas von der Hitze stark mitgenommenen gelbseidenen Handschuhen.

Indessen hatte er sein Vergehen vollständig eingesehen und da die gute Regine mit der Unterstützung des Koches noch ausschließlich zu thun hatte und ihm selbst der Duft von Speisen, die ihm noch so lange vorenthalten bleiben sollten, doch ein zu lebhaftes Andringen zu seinen Geruchsorganen verursachte, so zog er es vor, einstweilen noch und da leichte Wolken die heiße Sonne zu bedecken anfingen, die Villa zu verlassen und noch ein wenig auf Drusenheim zuzuspazieren, zu sehen vielleicht, ob Stephan Lengenich bei seinem Bruder Speck, Klöße und Birnen aß.

Eben das eiserne Thorgatter der Besitzung auf das sanfteste zurücklehnend hörte er Säbelklappern und traute seinen Augen nicht, den Major Schulzendorf mit seinem Wachtmeister Grützmacher aus Kocher am Fall dahertraben zu sehen … Ja, sie waren es! … Wie die Rosse dampften! … Wie die Schnurrbärte der Reiter vom Kalkstaub der Landstraße so marsch- und manövermäßig gefärbt waren! … Der Gruß der Nachbarn aus Kocher am Fall that ihm so wohl, wie wenn sie ihm Grüße von der Hasen-Jette und vom David mitbrächten.

Ei, Seligmann! Schlag, wie kommen denn Sie hierher? rief ebenso erheitert Major Schulzendorf und ritt etwas langsamer.

Ja, aber Sie, Herr Major? Von drüben? Zwölf Stunden weit?

346 Dienstgeschäfte! …

Bedeutungsvolle Pause …

Grützmacher spricht natürlich kein Wort, wenn der Chef redet …

Dieser wollte weiter …

Apropos! hielt er plötzlich sein Roß an. Seligmann! Wissen Sie hier keine Pferde?

Herr Major, wollen Sie wechseln?

Wechseln! Kaufen! Kaufen!

Seligmann besann sich … Vielleicht war ein Geschäft zu machen.

Der Major drängte …

Sie haben was, Seligmann! Kommen Sie uns doch nach! In den Palmbaum, heißt ja wol das Wirthshaus?

Zu Befehl, Herr Major, zu Befehl!

Wie wir wissen, war der Major ein berühmter Pferdehändler. Seligmann durfte annehmen, daß diese Aufforderung vollkommen ernst gemeint war.

Grützmacher, der erst dicht neben seinem Chef ritt, sich jetzt aber drei Schritte zurückhielt, bestätigte mit einer eigenthümlichen Ironie in dem sonnenverbrannten, wie mit Speck und Staub überstrichenen Antlitz die Gelegenheit zu einem Geschäft. Und sein Brauner sogar schien den Seligmann zu erkennen. Er machte einen so gewaltigen Satz, daß ihm Grützmacher’s Säbel fast an seine Vatermörder streifte.

Na, na, Landsmann! sagte Grützmacher zum Gaul und beruhigte ihn.

Die eigenthümliche Ironie des seinem Chef Nach-347sprengenden verstand der Nachbar des Wachtmeisters zu Kocher am Fall auf den ersten Blick. Seligmann sagte sich: Gewiß ist blos ein Pferd dienstuntüchtig geworden! Nun wird er eine Reise von zwölf Stunden und sogar über den Strom hinweg unterwärts mit der diessenbacher Fähre machen! Nebenbei werden ein paar Wagenpferde für Herrn von Ingelheim, ein paar Ackerpferde für den Grafen Grafenberg, ein Reitpferd für dessen Herrn Sohn beschafft. Oder wär’s noch etwas Anderes? setzte er in sinnendem Selbstgespräch, aber nachfolgend hinzu … Seligmann verstand sich auf die Zeit … Ihm selbst lag der Streit der Guelfen und Ghibellinen seit gestern centnerschwer auf dem Herzen, so leicht auch nur ein einziger grüner Streifen Tuches von einem Jagdrock wiegt.

Im Palmbaum fand er dann den Major, der bereits, wie er erzählte, heute sieben bis acht Pferde behandelt und theilweise schon erstanden hatte. So aufmerksam Schulzendorf dann zuhörte und sich Namen und Ortschaften notirte, wo Seligmann noch einige junge, tüchtige Pferde wußte, auch eines ganz in der Nähe auf einige hundert Schritt, so fand er den Major doch nicht in der Stimmung, den Duft des Stalles sogleich wieder einzuathmen, sondern erst vor allen Dingen den eines tüchtigen Mahles.

Im Palmbaum gab es eine leidliche Table-d’hôte. Das Gewühl von Menschen, die sich noch an der mit jedem neuen Gast mehr verdünnten Suppe und an ausgekochtem Rindfleisch mit Salzgurken satt aßen, war heute so groß, daß Seligmann plötzlich auf einen ihn selbst über-348raschenden Gedanken kam. Wie – dachte er; wenn – überlegte er; prächtig! – beschloß er. Der Major war an der Villa vorübergeritten und hatte bei seinem außerordentlich feinen norddeutschen Spürsinn (die Guelfen räumen den Ghibellinen vorzugsweise eine größere Feinheit der Geruchsnerven ein) Seligmann beneidet, als dieser sich rühmte, dort zu diniren. Selbst wenn es nur Kugel-Schalet gab, wußten ja Grützmacher und er, daß der Major solchem Geruch manchmal selbst bei Jette Lippschütz nicht widerstehen konnte. Selbst unter deren Dach sah man ihn oft eintreten am Freitag Abend mit der feinsten Nase, die nur je jenseits der Elbe zum spürenden Organ alles Guten und Schönen sich ausgebildet … Ueberhaupt sechsunddreißig Landdragoner standen unter dem Trefflichsten. Jeder von ihnen wußte, daß ein so tüchtiger Chef nur zum Wohle des Vaterlandes geboren werden konnte, und eine dies bezeugende Kleinigkeit, nämlich zu seinem Geburtstage – bezeugte auch an ihnen wieder, so arm sie waren, ein gutes Herz. Schulzendorf nahm jeden Hasen, auch wenn er geschenkt war. Und nun gar erst der Pferdehandel! Sechzig Thaler kostete nun so eine tüchtige Mähre von einem Bauer z. B. hier im Enneper Thale; dann hat man einen guten Freund, Grützmachern z. B., die gute treue brave jüterbogker Seele macht so ein Thier „rittig“, setzt Leib und Leben, Frau und Kinder daran, das wilde Jungblut zuzureiten, und nach sechs Wochen nimmt es dann der beste aller Könige für achtundachtzig Thaler. Bei sechsunddreißig Pferden, die wie alle Pferde nur zu oft nicht einschlagen, kommt der Fall der Erneuerung und 349 ein Gewinn von achtundzwanzig Thalern per Stück sehr häufig vor. Wollte man aber darum den Major anklagen, daß er im Dienste lässig gewesen? Nimmermehr! Er strafte wie einer! Er machte Abzüge wie einer! Er lächelte stets so scharf, so sarkastisch, so liebevoll mephistophelisch, aber zuweilen konnte sein Inneres auflodern, wie wenn seine Väter nicht geborene niederlausitzer Tuchmacher, sondern (nach Shakspeare) „von Deukalion her erbliche Fürstendiener“ gewesen wären. Er vergaß keine Titulatur nach oben, aber wehe dem, der eine von unten vergaß! Um zu zeigen, wie ein Chef Untergebene behandeln müsse, duldete er nimmermehr, daß Grützmacher von den Schreiben, die aus dem Landdragoneramte an untergeordnetes Volk gingen, den Streusand wegblies. Kreuzhimmeltausendsakkerment! fluchte er trotz Niemeyer und Knapp, bei denen er noch in Halle Theologie studirt hatte, wenn Grützmacher von einem Bescheid an einen Dorfrichter oder an eine kleine Stadtgemeinde den Streusand wegblasen wollte! … Diese Bagage muß wissen, mit wem sie zu thun hat! … Aber nach oben hin war dann Schulzendorf auch um so mehr die schuldigste Devotion selbst … In dieser Weise zeigte sich jene Gesinnung, die niemand schärfer durchschaute als Procurator Nück, wenn er nachdenklich seinen Frack mit dem goldenen Sporn betrachtete, oder Michahelles, wenn er zum Kirchenfürsten sagte: „Eminenz! Erst nur gewisse Fürsten gewinnen und in dreißig Jahren wird dann aus dem Schoose des Protestantismus selbst heraus eine Bewegung entstehen, der man getrost es commandiren kann, Rom auf halbem Wege entgegenzugehen!“

350 Auch Seligmann wollte einen starken, kräftigen Staat, hielt es aber für politische Weisheit, wenn an Ort und Stelle in manchen Dingen nachgegeben und sich accommodirt wurde und vor seinen beiden Vettern glaubte er keine größere Genugthuung zu haben, als wenn er ihnen den Major zu Tische führte.

Mit Hochherzigkeit reinigte er den auf diese Eröffnung hin erst laut auflachenden, dann aber gar nicht abgeneigten Gönner vom Staub der Landstraße. Seit gestern Mittag unterwegs hatten Uniform und Knöpfe, Degenkoppel, Stiefel und Sporen gelitten. Mit Grützmacher’s Hülfe wurde das Werk der Adonisirung glücklich vollendet und lachend sich zurückversetzend in die Zeiten der Campagne und den viel minder rücksichtsvollen Besuch manches flandrischen Meierhofs und manches burgundischen Edelsitzes, billigte er nach Seligmann’s Rath als passendste Anknüpfung den Pferdehandel und die Besichtigung einiger stattlichen Mecklenburger, die im Stalle des Besitzers von Drusenheim neu angekauft standen … Man verließ den Palmbaum, wo Grützmacher mit einem seiner loyalsten, aber vielsagendsten Blicke zurückblieb.

Gerade war die Gesellschaft der Villa auf einer erneuten und auf Veranlassung der „in solchen Dingen pedantischen“ Damen Carstens das Armband suchenden Promenade begriffen. Nachdem schon lange vor aufsteigenden Nebeln die Sonne verschwunden war, begann es etwas zu tröpfeln. Wie die Gesellschaft, von dieser unerwarteten Wendung der Sonntagslust überrascht und auf eiligem Rückweg begriffen, mit gespannten Sonnenschirmen da und dort aus dem Grün auftauchte, ging Schulzendorf, sich einen 351 jugendlichen Schneller gebend, dem Wirthe entgegen und über die Mecklenburger hinweg erfüllte sich alles aufs trefflichste. Es war in der Ordnung, daß man dem Major die herrlichen Thiere, die Stallungen, die kostbaren Futterbehälter, die Porzellankrippen zeigte … es war in der Ordnung, daß man ihn dringend bat zu bleiben. Seligmann, entzückt über ein sogar ganz freundliches Zunicken seines Vetters Bernhard Fuld, stieg triumphirend in die Küche.

Jetzt waren alle Gäste mehr als vollzählig beisammen und nur einer fehlte noch … Schleudere deinen Bannstrahl, Paul genannt der Vierte! Kanonische Regel, verhänge deine entschiedensten Strafen! Ein Priester im Hause, ja sogar am gedeckten Tische eines Juden! … Dennoch öffnete sich die Thür und der Pfarrer trat ein, in gewählter Sonntagskleidung, in schwarzer Weste, schwarzen Handschuhen … der praktische Mann war bei seinem Patronatsherrn – die Auslegung des Bullariums hat ihre eigenthümlichen Geheimnisse.

Wir schildern nicht den geschmackvollen Eßsaal mit bunten Fenstern, die die Gesichter grün, die Suppe roth, die Löffel blau erscheinen ließen. Wir schildern nicht den runden Tisch mit seinen Herrlichkeiten. Wir schildern nicht die galonirten Diener, die mit gründlich einstudirter Ruhe serviren. Wir schildern nicht diese scheinbar granitne Sicherheit, die Bernhard über die Folge der Gänge, das Abnehmen der Teller und Präsentiren der Weine zur Schau trägt, während sein scharfes Auge stechend auf eine etwas laut niedergesetzte Schüssel oder eine zur Erde fallende Gabel gleitet. Als 352 es Gemüse gab, riefen die beiden Hamburgerinnen einstimmig ihrem Bruder zu: Nikolaus! Junge Erbsen! Das Gespräch wurde Schmetterlingsflattern, obgleich Engländerinnen immer gründlich sind. Am Lurleyfelsen werden sie sicher die Fußtapfen der Lurley gesucht und am Mäusethurm die Löcher der Mäuse gezählt haben, die jenem Hatto von Mainz einst das Leben nahmen. Was aber auch nur angeregt wurde, alles zündete vorzugsweise bei Meta und Sophia, die, wenn sie auch stets mit den verklärtesten und schönsten Stellen und Excerpten ihrer Tagebücher beschäftigt waren, doch von jeder Speise zweimal nahmen. Wie plastisch und sozusagen objectiv wurde von ihnen eine jede Lebensäußerung behandelt! Selbst wenn sie nur ein wenig Salz verlangten oder sich vom Nachbar ein Glas Wasser erbaten, geschah es im Vollgenusse dieser höchst merkwürdigen, aber behaglichen Situation.

Der Pfarrer ist einer jener Urmenschen, die an jeder Stelle das thun, was die Lage der Dinge gerade mit sich bringt. Ebenso gut wird er einen wohlbereiteten Salmen zu würdigen wissen, wie eine eingestandene Sünde. Das ist die beste Menschenart, die bei jedem Ding sich auf dem Platze weiß … Schweigsam waren nur geworden Moritz der Pessimist, Binnenthal, Herr von Guthmann, selbst Frau von Guthmann … das Armband wirkte doch drückend … Dagegen war Terschka ein Matador. Hufbeschlag mit Schulzendorf, Stangen- oder Kandarenreiten mit dem Grafen Dammhirsch, Percussionsflinten mit einem Jagdjunker, Zukunft der österreichischen Finanzen mit einem Herrn Bendixen aus Frankfurt, Drainage und alte Münzen mit Herrn Carstens, 353 Rouge et Noir mit Herrn von Guthmann, Caramboliren beim Billard mit Binnenthal, Musik mit Miß Arabella, Malerei mit Miß Julietta, das von Liebig eben entdeckte Conserviren junger Gemüse in Blechbüchsen mit den Damen Carstens – allem und jedem steht dieser Wunderbare zur Rede … Und nur mit der Frau vom Hause spricht er von Wien und lacht mit ihr vertraulich über die ganze übrige Welt. Die Wiener und Wienerinnen haben das. In der Fremde gehören sie alle einer geheimen Conspiration an, deren Devise die Unübertrefflichkeit ihrer Heimat ist.

Beim Gespräch über Lindenwerth, die Pensionärinnen, Armgart, mußte man denn auch auf Armgart’s Mutter kommen, Monika von Hülleshoven.

Sie kennen sie? fragte der Geistliche Terschka.

Auch Schulzendorf horchte auf. Einen Namen hörte er, den er von Kocher am Fall kannte.

Sie hat eine Tochter hier in der Erziehungsanstalt auf der Insel! fuhr Terschka fort. Ich hoffe sie heute noch zum Kaffee auf der Terrasse kennen zu lernen! Gnädige Frau hatte die vortreffliche Idee, die Terrasse heute zum Salon der kleinen Zöglinge zu machen!

Engeltraut schwieg zu der freudigen allgemeinen Acclamation. Zu vieles wußte er, was mit dieser Bemerkung schmerzlich zusammenhing. Erstens, welche Bedenken diese Einladung drüben bei den Englischen Fräulein überhaupt hervorgerufen hatte. Doch hatte er der Schwester Aloysia gesagt: Unser Herr spricht: „Reinige zum ersten das Innenwendige am Becher!“ woran er die Betrachtung knüpfte, daß man von dem Auswendigen nicht 354 zu viel Wesens zu machen brauchte … Dann hatte er vor wenig mehr als einer Stunde erst mit Angelika und Schwester Aloysia die Briefe aus Wien und Kocher lesen können (denn zwei Taufen und ein Krankenbesuch hatten ihn sogleich nach der Application in Anspruch genommen); den Rath hatte er gegeben, „abzuwarten“ – ein für Armgart nicht minder als das Wort „Geduld“ höchst antipathischer Begriff … Den Major fragte er nach dem Obersten, Armgart’s Vater.

Jedes allgemeine Gespräch pflegt sonst von dem Uebergang zu Persönlichkeiten gestört zu werden. Hier aber ereignete sich der Fall, daß die Mittheilungen, die der Major von dem Obersten von Hülleshoven machte, manchen interessirten. Ja als er auf Kocher am Fall überhaupt zu sprechen kam und das neueste nachbarliche Erlebniß erwähnte, das Erbrechen eines Grabes drüben, als er den Antheil schilderte, den daran eine gewisse Lucinde Schwarz hätte, die den noch immer nicht aufgefundenen Thäter auf die Idee gebracht, in einem Sarge Schätze zu suchen, da wurde plötzlich alles rege und ging wild durcheinander. Selbst der immer stummer gewordene Herr von Binnenthal fuhr auf und die gerade von möglichen Gewittern und der richtigen Abgangszeit der Dampfschiffe sprechende Frau von Guthmann und beide ganz in Beethoven, Mozart und jetzt wieder die köstlichen Früchte des Desserts und die Vergleichung der geographischen Breitengrade des Enneper Thals mit den „Vierlanden“ bei Hamburg verlorenen Damen Carstens riefen wie elektrisch berührt:

Lucinde Schwarz?!

355 Eine ultramontane Emissärin, die in den gegenwärtig schwebenden Zeitläufen – begann der Major …

Der Major würde mit diesem für die Nähe eines Pfarrers ziemlich scharfen Worte und den naturgemäß zu erwartenden Repliken, dann wieder bei den darauf folgenden nähern Erläuterungen leicht bei dem vortrefflichen Dessertwein sich eine leise Anspielung erlaubt haben können auf den nicht ostensibeln Grund seiner heutigen Anwesenheit in dieser Gegend, wenn nicht in diesem Augenblick der allgemeinsten Spannung und durcheinander fahrenden Fragen: Lucinde? – katholisch? – wo? – wann? – ein Blitzstrahl das seither immer dunkler gewordene Zimmer erleuchtet hätte. Der erschreckenden Helle folgte in so raschem Aufeinander ein erschütternder Donner, daß alles aufsprang, weil man voraussetzte, es müßte irgendwo in der Nähe eingeschlagen haben.

Das Diner war damit zu Ende.

Rasch lehnte man die bunten Fenster zurück und sah entsetzt ins Freie. Zum Glück wurde nirgends ein Feuer oder Rauch ersichtlich, aber der ganze Himmel war eine einzige große graue Wolke; ein Gewitter tobte und der Regen floß. Die Damen Carstens vergaßen alle Gemüse- und Obstzucht in der Welt, alle Confessionsunterschiede und bedachten nur ihre Schuhe von Zeug und die mangelnden Regenschirme und die Weiterfahrt auf dem Dampfschiff. Ueberall fanden sie gefährlichen Zugwind, riethen zum Schließen von hundert Fenstern, die sie in der Nähe und dann auch sogleich weit offen stehend witterten. Auch Frau von Guthmann verlor ihre erkünstelte Heiterkeit und flüsterte mit ihrem Gatten. 356 Herr von Binnenthal hatte noch mit dem Dampfboot in die Residenz des Kirchenfürsten zurück wollen! Bereits zum öftern war von ihm die Nothwendigkeit einer Eisenbahn nach Belgien behauptet worden …

Wirklich war es nun ein Gewitter, als hätte sich wochenlang darauf die Natur vorbereitet. Während man gemüthlich aß und plauderte, hatten Stürme die Wolken immer dichter heraufgejagt. Sie entluden sich in Blitzen, die dicht in der Nähe schon in den dunkelwallenden Strom schlugen. Das hatte sich erst von Westen her in einzelnen Vorboten angekündigt. Dann kam ein dunkelblauer Streifen, der sich ausdehnte wie mit Drachenflügeln, Staubwirbel aufriß, die wie in Trichterwindungen sich drehten, die Thüren zuschlugen, Fenster zerklirrten … Jetzt brach ein Regen mit Schloßen aus und mit Blitz und mit Donnergekrach …

Nun das ganze von Besuchern überdeckte Thal! … Ueberall in Berg und Flur weißschimmernd die hochaufgenommenen Kleider! … Stimmen dazwischen! … Hülferufe nach einem Kinde, das fehlte und nicht geborgen! … Die Sonntagsfreude allen dahin! … Wo sollten die Lustgänger sich bergen! … Wo sollte sich alles ducken und verstecken! … Arme Jugend auch von drüben, von Lindenwerth, dein Besuch der Villa wird zu Wasser!

Oder – ist es denn möglich? Nein! Neuer Schrecken! In diesem Tumult der Elemente kommen ja eben wirklich vom Ufer, dort unten ausgestiegen, die neunundzwanzig jungen Mädchen wie eine versprengte Wallfahrt daher! Wie ebenso viele Tauben zeichnen sie sich am grauen 357 Horizonte ab! … Man sieht sie im aufgeweichten Boden versinken, kämpfen gegen die Fluten vom Himmel mit ein paar alten Regenschirmen! … Sieben auf einen, den dann alle sieben auch halten müssen, wie wenn sie mit Sturmböcken gegen die empörte Natur anliefen!

Schirme! Tücher! Galoschen! Jean! Franz! Den Damen entgegen!

So rief Bernhard und niemand war schon eifriger als Terschka, der auf Armgart „zu brennen“ erklärt hatte und schon mit Hülfe eines andern eine ganze Garderobe auf dem Arme hatte und hinauseilte … Dieser andere hinter ihm her, einen Regenschirm über ihn haltend, zwei unterm Arm … Moritz und Bernhard blicken befriedigt Terschka und dem andern nach … Wer war der andere, dieser Helfer in der Noth? Waren also doch noch gewisse gelbe Seidenhandschuhe zu Ehren gekommen?

Moritz besonders stand voll Bewunderung.

Wie ein Garçon auf Rheumatismus zu sprechen ist, wußte er.

Und nun bugsirte der kleine schwarze Vetter eines der Mädchen nach dem andern über die in Rinnbäche verwandelten Wege, hatte Nankingbeinkleider wie Schwimmhosen an und machte sich nützlich in einer Weise, die ihm jetzt fast die öffentliche Anerkennung eines gewissen, wenn auch entfernten verwandtschaftlichen Grades eintrug.

Niemand aber war bei alledem, sollte man es glauben, charmanter als Bettina, die junge Wirthin … In den ersten Honigmonden der Ehe hat man so viel Glück, so viel Wonne im Herzen, daß man tausenderlei Plage damit aufwiegen kann.

358 Als Moritz leise zu Bernhard flüsterte: Aber mit dem Armband ist es doch fatal! Willst du denn nicht die anwesende Gensdarmerie –? brach dieser zornig aus:

Nein, wie weh thut mir’s vor dem Ober-Chochem! Ein Haus zu machen muß gelernt werden! Für Bettina ist das Ganze nur eine von mir arrangirt gewesene Uebung!

Der „Ober-Chochem“*) trat, sich ergebend, zurück …

Und sollte nun die Sonntagspartie Thiebold’s und der Freunde Piter’s zu Stande gekommen sein und sie wären in diesem Augenblick an der Villa vorübergeritten oder gefahren oder jetzt nach Umständen geschwommen, so würden die Brüder die Genugthuung gehabt haben, ihnen ein Schauspiel zu bieten, das nur die Verleumdung hätte unterschreiben können: „Alles fürs Geschäft!“ Denn Bernhard führte ehrerbietigst die beiden in Regen und Sonnenschein immer gleich feierlichen Englischen Fräulein dem Pfarrer entgegen, der sich nicht nur für Wenzel von Terschka, sondern für sein eigenes theilnehmendes Herz bemühte, aus dem lachenden jungen Schwarm vor allem Armgart von Hülleshoven herauszuerkennen.

So begann der Kaffee auf dem Zimmer statt auf der Terrasse.

359 13.#

Konnte nun aber wol auch Armgart zu den Ungeduldigen gehört haben, die dem heraufziehenden Unwetter bald den schönsten Uebergang wieder zum blauen Himmel und Sonnenschein verhießen und sich von der Einladung in die drusenheimer Villa um alles in der Welt nicht abbringen lassen wollten?

Wird denn auch sie mit ihrem halb über den Hut gezogenen Oberkleide durch die Feldwege, die in Gießbäche sich verwandelt hatten, so „hingetrottelt“ sein, sieben unter einen alten Regenschirm gedrückt?

Wird denn auch sie von den zu Hülfe Eilenden so beschützt werden, daß sie nur noch nöthig hat, das Anerbieten der jungen Frau Wirthin anzunehmen, daß sämmtliche junge Mädchen mit ihren vier Erzieherinnen erst in ihrem Zimmer Toilette machen möchten?

Sieht sie die beiden Englischen Fräulein (nicht die Misses Coffingham, sondern die ihrigen) voll Bewunderung lieber sich bis auf den Tod erkälten, als daß sie ein einziges ihrer nassen Ordenskleider wechseln?

360 Lernt sie von Frau Bettina, wie eine junge Frau, die eigentlich das Herz voll Aerger haben sollte, davon nicht das Mindeste verräth, sondern sich in diesen Lärm eines massenhaften Besuchs wie in etwas ganz Gewöhnliches findet, dazu die freundlichste Miene behält und statt eines Gartenfestes jetzt oben den Salon und den Flügel und als der Regen nachläßt, die Fenster wieder öffnen und dann die Jugend sich zu Kaffee und allerlei köstlichem Backwerk ergehen läßt, wie es ihr eben beliebt?

Hört Armgart dem Herrn von Terschka zu, der vor allen sie auszuzeichnen sich vornahm, ihr erzählen wollte von ihrer Mutter, die in der That vielleicht schon diesen Abend, jedenfalls morgen am Hüneneck eintreffen konnte?

Lachte sie wie die andern Mädchen über einige der Herren, die sich ins Rauchzimmer zurückgezogen hatten und die unerbittlichste aller Kritiken, die des Muthwillens, herausforderten … womit stößt man nicht alles bei jungen Mädchen an!

Spielte sie Charaden, Moquirstuhl und Schenken und Unterschrift, wobei endlich der die „Herren“ meidende Herr von Binnenthal aufhörte vom Wetter zu reden, die in Nebel gehüllten Dampfschiffe zu verfolgen und sogar für einige seiner Devisen, z. B. „Bange machen gilt nicht!“ ein dankbares Publikum findet?

Gibt sie der Frau von Guthmann Auskunft über ihren Stammbaum und veranlaßt diese Dame, auch von dem ihrigen zu reden?

Schließt sie sich zuhörend den vier protestantischen Jungfrauen an, die, während die Musiklehrerin Tänze spielt, einen fanatischen Confessionsmeinungsstreit mit den 361 beiden dem Pfarrer attachirten Englischen Fräulein und Angelika beginnen?

Bewundert sie den Heroismus der wirklichen Engländerinnen, die den beiden Nonnen, die nun einmal das sind, was sie sind, das Papstthum als eine Schöpfung des Antichrists schildern und ihnen das Recht abstreiten, sich nach dem freien Albion zu nennen, wodurch sie dann allerdings Gelegenheit gehabt hätte, ihre Ansichten über die Ausbreitung des Katholicismus in England zu berichtigen?

Und hört sie, wie die sanfte Angelika, als die beiden Fräulein Carstens nach langer Conversation des Erstaunens über Lucinden erklären, sie müßten an sich eine weibliche Erziehungsanstalt, wie die drüben, die nur Frauen leiteten, eine musterhafte nennen, denn nur sie lehre es, „die Männer zu verachten“, worauf es in einer heirathsschwierigen Zeit vorzugsweise ankäme, im Gegentheil diese Auffassung in Abrede stellt und erklärt, sie ihrerseits müsse gestehen, sie lehre ihre Mathematik, ihre Geschichte, ihre Naturwissenschaften nur, um desto mehr die Männer hochachten und lieben zu lernen, da eben die Männer es gewesen wären, die die Mathematik, die Naturwissenschaften und die Geschichte erfunden hätten?

Lauscht sie den jener unheimlichen Lucinde gewidmeten Erzählungen Schulzendorf’s, der nach zwei genommenen Tassen Kaffee und einem kleinen Curaçâo sich bald empfehlen zu müssen erklärte und auch von Grützmachern und seinem Pferde abgeholt und von dem schärfer blickenden Auge desselben veranlaßt wurde, gewisse auf dem Balcon sichtbare Persönlichkeiten mit gewissen Notizen in ihren Portefeuilles zu vergleichen?

362 Oder steht Armgart auch nur zur Seite und glossirt mit Moritz diese „stillen Sonntagsfreuden ländlicher Zurückgezogenheit“ und hört die Geschichte, die Herr von Guthmann bei Gelegenheit Lucindens, der spätern Schauspielerin Konstanze Huber, von einem jungen Commis erzählt, mit dem Herr von Binnenthal eine ganz merkwürdige Aehnlichkeit hätte?

Von alledem nichts –

Denkt euch einen von Regen träufenden breitastigen Ulmenbaum! Denkt euch an ihm einen gewaltigen Ast und auf dem Ast einen schmächtigern Zweig und in dem Zweige ein grünes Winkelchen und in dem Winkel ein Vögelchen, das in Sturm und Unwetter, in Regen, Blitz und Donner wie ein ganz klein bucklig Zwergmännlein in seinen aufgeplusterten Federn sitzt! Mit Augen und Schnabel sitzt der Kopf, mit Krallen und Sporen sitzen die Füßchen ganz in dem Federwulst versteckt. Sonst so schlank, sonst so leicht durch die Blätter hüpfend, hockt das Thierchen wie ein Männlein aus der Gnomenwelt oder wie ein Kind, das Großmütterchens alten Pelzmuff über den Kopf gezogen hat.

So verzaubert sitzt Armgart einsam auf der Insel Lindenwerth.

Sie wollte nicht mit … Sie blieb daheim …

Sie blieb in ihrem Schlafsaal Nr. 5, an dessen äußerm Ende eine der Pensionärinnen ein wenig unpäßlich liegt, die kleine Liddy, die bei Sturm und Ungewitter ruhig in ihrem Bettchen schlummert. Sie hat die Pflege der Kleinen übernommen … Still ist’s in dem noch immer düstern Saale, auch nachdem die Schloßen ausgetobt haben. Einige 363 Scheiben knickten ein, glücklicherweise ohne Zugwind durchzulassen … Armgart zieht sogleich die grauen Fensterladen vor und nun wird’s in dem Saale mit den fünf leeren Betten und der einen schlummernden Kranken noch gespenstischer. Da hockt sie denn an dem einen freigebliebenen Fenster, an dem nassen Ulmenbaum, an dem kleinen, von ihr dorthin getragenen Nähtisch, vor dem aufgeschlagenen Buche, in dem sie lesen wollte und nicht lesen kann … in einem Rosenkranz von Gebeten und Gedichten von Beda Hunnius mit einem wundervollen Titelkupferstiche, einen Kranz darstellend von sieben Rosen, die die sieben Schmerzen Mariä enthalten und drüberher triumphirend das Lamm mit der Fahne, das Symbol ihrer schwierigsten und mangelndsten Tugend – der Geduld.

Aber sie scheint recht geduldig geworden zu sein … sie gluckst nur so und duckt sich und „hockelt“, wie die Mädchen sagen.

Erst während des Mittagsessens war Angelika den andern nachgekommen mit der Vorsteherin Aloysia. Sie hatten drüben zwei Stunden auf den Pfarrer warten müssen. Und was brachten sie mit? Mahnungen zum Abwarten! Und die Mutter schrieb doch – der Pfarrer hatte gestattet, daß Armgart den Brief las –:

„Mein gutes Fräulein Angelika Müller!

„Ich erhalte von unserm sanften, liebevollen Dechanten aus Kocher am Fall Ihre Einlage an ihn. Sie wissen nicht, daß mir einst mein Kind, mein einziges, wie von Zigeunerhand gestohlen wurde; daß ich hinausgejagt in Sturm und Verzweiflung hundert vergebliche Versuche 364 machte, mein Kind mir wiederzuerobern, daß ich dann, als alles vergebens, in ein Kloster ging, fast zehn Jahre der Selbsterkenntniß lebte und der eingestandenen Pflicht –, erst mich selbst zu erziehen. Jetzt bin ich fast fünfunddreißig Jahre; aber ich fühle mich wie mit Siebzigen. In euern Wäldern wußt’ ich mein Kind von meiner Schwester und meinem Schwager liebevoll gehütet, wie ihr eben liebt, wußte sie so erzogen, wie ihr die Menschen erzieht. Ich schildere Ihnen die Sehnsucht nicht, die mich nach meinem Kinde verzehrte, das man mir nur zurückgeben wollte unter der Bedingung, daß ich meinem in seiner Garnison versetzten Gatten folgte. Es trennte mich nichts von ihm, als die freudige Lust, ihm folgen zu können. Zuletzt, als erneute Versuche der Eroberung vergebens waren, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, daß ich Armgart vielleicht zum Opfer meiner Nichterziehung gemacht hätte. Wie oft nennen wir Erziehung, was nur ein unglückliches und widerstandloses Dahingeschleiftwerden ist von älterlichen Thorheiten! Wie oft nennen wir Liebe, was nur ein unglückliches Zermalmtwerden von den Rädern unserer eigenen Entwickelung ist! Thörichte Mütter, die ihr von der Zärtlichkeit für eure Kinder sprecht und sie nur zu den Opfern eurer Stimmungen macht! Eure Umarmungen sind nicht deshalb so heftig, weil sie von euerm reinen Herzen kommen, sondern weil sie von eurer Leidenschaft kommen, von eurer Verzweiflung oft um nichts, von eurer verletzten Eitelkeit! Mit stürmischen Küssen bedeckt ihr eure Kinder und flößt ihnen oft nur Gift ein! … So war wenigstens meine Vergangenheit … Jetzt ist, nach einem langen Klosterleben, vieles, vieles 365 in mir anders. Ich erzog mich, eines Kindes würdige Mutter zu sein. Da soll Armgart’s Vater zurückkommen und neue Stunden des Kampfes und der Prüfung sollen heraufziehen? Dem Vater soll gehören, was mit mindestens gleichem Rechte mir gehört? … Wie ich diese Zeilen schreibe, bin ich im Begriff Wien zu verlassen und mein Kind, dessen Seelenkampf ich verstehe, den ich jedoch nimmermehr von Armgart allein oder von meinem Gatten werde entscheiden lassen, in meine Arme zu schließen. Ich kann mich vor ihr rechtfertigen.

Monika Hülleshoven.“

Das Auge der kleinen Richterin hatte gefunkelt beim Lesen des so seltsam entschiedenen Briefes … Bei den Worten: „Wie mit Siebzigen“ strich sie sich bewußtlos ihren dunkelbraunen Scheitel, als gedächte sie der weißen Locken ihrer Mutter; bei der Schilderung der falschen Liebe und Zärtlichkeit der Mütter stockte sie … sie verstand diese Stellen nicht … aber bei der Nachricht, daß die Mutter schon unterwegs wäre und von ihr Besitz nehmen wollte, nahmen ihre Gesichtszüge den Ausdruck des Schreckens an, der ihre schönen Lippen halb öffnete und wieder, wie verboten, die beiden Zähne hervortreten ließ. Immerfort strich sie mit der Hand über den Scheitel ihres Haares, gleichsam diesen zu ebnen, und die Hand wollte nur die Gedanken ebnen, die wilden, unruhigen, die schon Entschlüsse in ihr zu treiben begannen.

Der Pfarrer befiehlt dir, deinen Schein von Richterschaft aufzugeben, dir nicht anzumaßen, daß du ein Urtheil fällst über Vater und Mutter und daß du dich 366 ruhig ergeben sollst und vorläufig dem Willen des Stärkeren!

Armgart lächelte und blickte wie abwesend auf die Oberin Aloysia, als die diese Worte gesprochen.

Kommt die Mutter früher als der Vater, so gehörst du den Umarmungen der Mutter! fuhr Schwester Gertrudis fort. Inzwischen hat der Pfarrer nach Westerhof geschrieben und wartet von dort auf Antwort!

Jetzt, zumal da vollends auch Angelika so ganz zu allem schwieg, flossen Thränen der Liebe und des Schmerzes. Und doch standen der stillergebene Stolz des Vaters, die würdevolle Entsagung des Tiefgekränkten auch der Freundin Angelika so lebhaft vor Augen, daß sie das Gefühl des Kindes, gerade diesem Vater sich nicht zu weigern, gerade ihn mit der Heimat nach so langer Trennung wieder auszusöhnen, vollkommen verstand. Die excentrische Gefühlsweise Armgart’s entsprach im Grunde auch ihrer eigenen Lebens- und Menschenauffassung. Nicht wer Mathematik treibt, sondern wer ein starkes Herz hat und doch entsagen, doch kämpfen muß, lebt das Leben nach Gesetzen und regelt jedes noch so glühend aufwallende Gefühl. Angelika wußte selbst nicht viel von der Stärke, die sie besaß. Sie war unbewußt stark und gab sich nach außen doch wie die Schwäche selbst. Sie tröstete und schalt und verschwendete noch Worte, wo ihr Inneres längst entschieden hatte. Darin glich sie einer Mutter, die, mit den strengsten Worten und vor Schmerz selbst vergehend, ihrem leidenden Kinde die schmerzhaftesten Wunden lindern und verbinden kann, während dem dabeistehenden Miethling 367 in seinem scheinbar weicheren Mitgefühl angst und wehe wird.

Und wir sehen ja heute noch Benno drüben! war Angelika’s Trost gewesen. Er kommt gewiß hinüber! Von der Villa aus erspähen wir ihn schon und wol gar auch Thiebold de Jonge –

Armgart zeigte stumm auf die heranziehenden Wolken und später sagte sie ohne Verstellung:

Ich bin krank! Nach Drusenheim – geh’ ich nicht mit hinüber!

Armgart! verwies Angelika und fühlte ganz das Nämliche, was die Gescholtene.

O, sagte Armgart nach einer Weile, es ist furchtbar mit diesen Aerzten der Seele! Zu wissen, daß ein Arzt auf ein Uebel heilt, das wir gar nicht haben! Ungeduld, das ist ja meine Krankheit gar nicht! Eine Zeit kann kommen, wo ich auf die Art in keinen Beichtstuhl mehr gehe!

Armgart! Armgart! rief aufs neue ernstlich verweisend Angelika und – fühlte doch wie die Gescholtene.

Ich will der Priester meiner Aeltern sein! fuhr Armgart fort. Ich will sie zum zweiten male trauen, noch einmal segnen! Davon träum’ ich Tag und Nacht! Darauf hin seh’ ich Leiden und blutige Dornen über mich verhängt, aber auch Rosen, himmlische Rosen der Erfüllung!

Und Angelika hörte alles das äußerlich tadelnd, innerlich billigend. Mit all ihrer Mathematik und Physik lebte sie in einer gleichen Anschauung überirdischer Dinge, in gleicher Verehrung vor den großen Zauberformeln der Seele, denen alle Natur gehorchen muß. Angelika besaß 368 den reichen aufgesammelten Schatz der Liebe einer Jungfrau, die ohne Hoffnung verblühen muß.

Man hatte längst zu Mittag gegessen … Alles war in Kummer über das zunehmende Sichüberwölken des Himmels … Kurz vor Vier faßte man den heroischen Entschluß, ehe es „gießen“ würde, doch hinüberzuschiffen … Die Erzieherinnen gaben nach … die Englischen Fräulein wollten dem Pfarrer ein gegebenes Versprechen halten.

Angelika befürwortete nun selbst das Zurückbleiben Armgart’s. Sie ließ ihr außer dem Briefe der Mutter auch den kurzen und so unbestimmten des Dechanten. Und bei alledem, mehr mochte der Dechant jene geheimnißvolle Zuschrift aus Italien nicht studirt haben, als Armgart seine Runenschrift bis auf jedes Häkchen und jeden Bindestrich zu entziffern sich mühte. Ob voll Jammer und Klage über das veränderte Wetter nach langem Hin- und Widerreden das Institut sich eingeschifft hatte, ob die jungen „nachgemachten Engländer“ sich drüben einfinden würden, ja ob selbst Benno ihrer harrte … sie blieb daheim und las und wachte über die kleine Liddy.

O, das sind seltsame Zustände, wenn es so in unserm Innern an allen Enden und Ecken zupft und kein Gedanke Stich hält, kein Gefühl zur That wird, keine Vorstellung, und wäre sie auch nicht schreckhaft an sich, doch kein reines und volles Behagen gewähren will! Dann weiß man, und die fiebernde kalte Hand bezeugt es, daß man in seiner Sorge und seinem Unmuth sich gewiß nur selbst zerstört, und doch kann man den Blutstrom, der alle Lebenswärme zum Herzen drängt, im Laufe nicht ändern, geht und wirft sich stöhnend aus einem Winkel 369 in den andern und sagt sich nur: Eins ist gewiß, ich werde krank! … Auch Freunde können dann nicht helfen. Ja, wer hat denn gleich von euch den sanften Ton und den vollen Accord der reinen Uebereinstimmung, den Ton, der uns gerade jetzt so noth thäte und den nur allein zu hören jetzt uns möglich ist! Wie klingt so oft euer Trösten und des Zuspruchs bestes Wort doch so völlig anders, als es die Schmerzen hören wollen! Schon daß ihr alle so gesund aus der frischen Luft des Lebens kommt! Daß euch allen nichts fehlt! … Käme z. B. jetzt Thiebold de Jonge – nur lachen, nur scherzen würd’ er … Benno … Benno freilich … Benno ist immer so seltsam traurig … was fehlt ihm nur, dem Guten, dem selbst in Heiterkeit doch immer nur so duldend Scheinenden? … Paula! Paula! … Der hätte sie den Kopf in den Schoos legen mögen! Die hätte Frieden über ihre Seele gehaucht, schon mit dem Streicheln ihrer Hand allein! Paula hätte nur gesagt: Armgart! und in dem einen Worte, in dem Tone schon hätte alles gelegen, was sie still und ergeben gemacht!

Das Gewitter war endlich vorüber …

Armgart erfrischte die verweinten Augen auf einem Balcon, auf den eine Thür des Corridors des alten unheimlichen Gebäudes führt …

Schon war es die sechste Stunde … Die kleine Liddy hatte sich ein Geschichtchen erzählen lassen, sich dann auf die andere Seite gelegt und war wieder eingeschlummert.

Der Balcon ging nach der Seite hin, die dem Hüneneck zugewandt ist. Sie konnte die für eine wiener 370 Dame bestellten Zimmer nicht vergessen. Die „Vier Jahreszeiten“ selbst waren vor Nebel nicht zu sehen …

Wie trübe dieser Anblick, der am frühen Morgen so schön gewesen! Die nächsten Berge jetzt ganz unsichtbar! Nur in leisen Contouren glitten sie aus dem Wassernebel heraus … Das Enneper Thal ganz durchwallt von weißen Luftstreifen, als zög’ es fort mit den Wolken … Am Meere, das hatte eine Antwerperin im Institute erzählt, da säh’ es so fast immer aus … Am Meere! … Selten schossen die Wasservögel so niedrig hin … Am Meere! gedachte sie wieder … Dann mußte sie das Nächste im Auge behalten, den Garten am Kloster, das Gewöhnlichste, nur um noch frisches Grün zu erblicken … Wie die Salatbeete im Regen so putzig küchenmäßig und überreinlich glänzen! Wie die Magd da watet barfuß in die weiche Erde hinein und die Köpfe heraushebt, die für den Nachtimbiß bestimmt sind! …

Wann werden die Mädchen kommen? … Bringt Angelika wol einen Gruß von Benno mit? Von Thiebold de Jonge? Oder kämen sie wol beide und besuchten sie hier selbst auf der stillen Insel? …

Darüber erschrickt Armgart … Leicht gekleidet geht sie aus der frischen, ihr plötzlich fühlbaren Luft in den schwülen Corridor, den noch schwülern Schlafsaal … Sie lüftet ein wenig das Fenster, das von Liddy am entferntesten liegt … Der Gedanke des heimlichen Besuches hat sie ganz überrieselt.

Sieben Uhr! Immer noch kommen die Mädchen nicht!

Der Regen hat längst aufgehört. Man sieht trotz 371 des Abendwerdens schon das Ufer wieder und drüben am Enneper Thal stehen die Kähne schon in Bereitschaft. Tönneschen Hilgers scheint so ungeduldig … Es läßt sich sonst noch etwas verdienen … denn mancher hat das Dampfboot versäumt und will hinübergesetzt sein auf das jenseitige Ufer, wo es heute Omnibus genug gibt, die wenigstens noch nach der Universitätsstadt fahren …

Da fahren auch in Mänteln Herren und Damen … Gäste aus der Villa? … Und immer die Mädchen nicht! … Müssen die sich gut unterhalten!

Die kleine Liddy ruft … des Abends kommt sicher noch das Fieber … Der Arzt, der vom Hüneneck her erwartet wird, auch der bleibt aus …

Halb acht Uhr! …

Da endlich, endlich! … da kommen sie! … Armgart sieht es trotz der Dunkelheit deutlich vom Balcone.

Die mögen schön einsinken in den weichen Feldwegen! … Lederschuhe haben glücklicherweise alle … Herren begleiten sie und die Kleinen werden über manchen Bach, der erst seit einigen Stunden auf der Enneper Landkarte steht, hinweggehoben … Ob Benno’s Arm dabei behülflich ist? Wie sollte der zu den Herren von Drusenheim kommen? … Aber Benno weiß ja überall Rath … Da fährt ein Wägelchen! Mit zwei Ponies! … Zwei Damen bringen die allerkleinsten der Pensionärinnen an den Landungsplatz …

Sich alles das und mehr noch nun bald erzählen zu lassen, interessirte Armgart bei alledem … Von der Toilette der schönen Madame Fuld erwartete sie Wunderdinge … Niemand kann sein Geschlecht im An-372dern mehr lieben und neidloser bewundern, als das weibliche.

Wo ist denn aber unter den Schiffenden nur Angelika? … Sonst winkt die doch immer mit ihrem Sonnenschirm oder mit einem Taschentuch, wenn sie vom Ufer kommt und Armgart steht auf dem Balcon … Heute aber – ja, da ist sie … Sie kehrt der Insel den Rücken zu! O, das sind schlimme Zeichen! … Oder gehört sie auch zu den Lacherinnen und schämt sich nur vor Armgart? … Wie aufgeregt ist das junge Volk! … Sie haben in den nassen Kähnen die Kleider aufgenommen und sitzen fast da wie die Butterfrauen, wenn die vom Markte kommen … Regnet’s denn noch?… Die Hüte sind mit Taschentüchern umwunden … Man schont sie wol nur; nur die beiden Nonnen sind, was sie sind, in Sonnenschein und Regen, immer die gleichen Hauben mit den gleichen langen Flügeln … ihre zwei Regenschirme sind die gröbsten der Anstalt.

Jetzt sind sie da …

Die Erzählung! … Das Amusement! … Was Armgart alles versäumt hätte! …

Armgart hält sich die Ohren zu. Sie will allerdings alles wissen, aber eines doch nur nach dem andern.

Es war indessen alles dasselbe: Kaffee, Chocolade, Baisers, Torten, Pfänderspiele und Pfänderspiele, Torten, Baisers, Chocolade und Kaffee. Die Damen mit den Ponies waren die beiden Engländerinnen gewesen … Das sagten zehn zugleich … Und der Herr, der die andern Kleinen über den Bach gehoben, hieß Herr von Terschka … und das sagten wieder zehn zugleich.

373 Für Salat und Eier und kalten Braten und die französische Betrachtung der Schwester Aloysia in dem stockdunkeln Eßsaal war heute wenig Interesse vorhanden. Silence! A vos places! Das stiftete wol einige Ruhe. Aber man knupperte müde und übersatt am Salat und es war hier alles „nicht das“! Es rebellirte noch lange und murmelte und seufzte fort in dem jungen Volk bis zum Schlafengehen.

Angelika vermied ordentlich, Armgart zu begegnen.

Sie mied sogar, sie nur zu grüßen.

Von der kleinen Liddy oben sprach sie, die sie gleich besucht hatte und fiebernd fand, was den beiden Nonnen große Angst machte und des schlechten Wetters gedenken ließ, das den Arzt verhindert hätte, die Insel zu besuchen. Der Arzt hatte gesagt, er hätte im Roland noch den Abend zu thun … Im Roland! So nahe der Insel! … Wird der Arzt nicht kommen?

Zuletzt machte sich’s noch, daß Angelika und Armgart etwas allein waren. Die kleinsten streckten sich schon in ihren Betten. Die ältesten saßen unten noch im Eßsaal und sprachen das Erlebte durch. Auf die Beete und die Wege der Insel, die man sonst auch selbst in der nun schon früher und früher eintretenden Dunkelheit des Abends noch durchschlüpfte, konnte man vor Nässe nicht hinaus, wenn auch der Vollmond einlud, der vielleicht doch noch die Wolken durchbrach.

So standen Armgart und Angelika ungestört auf dem Balcon und krampfhaft hielt sich die Hand des jungen Mädchens am eisernen Gitter, als sie erfuhr, was noch der Pfarrer der Freundin mitgetheilt. Die Mutter 374 konnte schon drüben in den Häusern sein, wo die Lichter über den Wellen tanzten! Jener Fremde, der gestern die Zimmer bestellt in den „Vier Jahreszeiten“, hätte das für bestimmt versichert … Von Benno … sie hörte kaum … wußte Angelika nichts … und Thiebold de Jonge und den Bruder der Nanny Schmitz und die andern … von allen denen hätte man gleichfalls nichts vernommen …

Nun schlug es halb Neun … Rings war alles still, trübe und düster … Noch kein Stern am Himmel; doch an der Stelle, wo der Mond hervorbrechen konnte, schien es lichter zu werden … Armgart wollte sogar ein Boot erkennen, das man durch die Zweige der Bäume vom Hüneneck herübersteuern sähe. Angelika strengte ihre Augen an. Es kam auch ein Boot. Armgart zitterte und stand wie auf der Flucht. Alsbald ließ sich jedoch der Arzt erkennen, der noch so spät nach der kleinen Liddy zu sehen kam.

Als dies geschehen, in Begleitung der Englischen Fräulein, fuhr der Arzt nach dem Roland zurück.

Angelika begleitete ihn eine Strecke im Hause und wagte nach Benno von Asselyn zu fragen.

Benno von Asselyn? Wir erwarten ihn drüben im Roland! sagte der Arzt. Ich werd’ ihn von den Damen grüßen.

Der Arzt hatte Eile. Sein Schiffer steuerte ihn zurück und bald sah man von allen Seiten, da und dort, Kähne kommen, die alle dem Roland zuschwammen …

Jetzt wollte auch Angelika zur Ruhe gehen.

Als sie an Armgart, die noch immer auf dem Bal-375con verweilte, vorüber mußte, fand sie diese in der größten Unruhe.

Wieder steuerte vom Hüneneck gerade der Insel ein Nachen zu.

Es ist eine Dame darin! rief sie. Ein carrirter schottischer Mantel! Ein Diener hält den Regenschirm!

Das Wort: Es ist meine Mutter! erstickte in ihrer Freude und in ihrer Angst …

Auch für Angelika gab es kaum einen Zweifel an der Richtigkeit dieser Vorstellung. Sie zitterte ganz wie Armgart. Doch erbot sie sich, hinunterzugehen und genauer zu forschen … in der Richtung der Nachen irrte man sich oft.

Armgart widersprach nicht …

Der Kahn kam näher und näher …

Armgart sah vom Balcon bald rechts, bald links in die Tiefe und wußte nicht, wie sie auf beiden Füßen zugleich stehen sollte …

Angelika durchschreitet die schwülen, dumpfen steinernen Corridore und Treppen. Noch war es ja möglich, daß der Kahn hinüber zum Geierfelsen, nicht an die Insel fuhr …

Armgart rafft sich jetzt auf. Sie huscht in den Schlafsaal, wo ihre Kleider hängen und ihre Wäsche in einer Kommode liegt. Liddy schläft; die kleinern Bewohnerinnen des Saales schlafen alle; zwei ältere sitzen noch unten im Eßsaal, aus dem man sie laut sprechen hört … Armgart rafft zusammen, was sie mit wenig Griffen finden kann, ihren Mantel, ihren Winterhut, ihre Hemden, einige Tücher, Strümpfe, Unterkleider, Schuhe, 376 Bücher … Ein großes Umschlagetuch wird auf dem Boden ausgebreitet, ohne Licht tastet sie hin und her, öffnet das Nähtischchen, leert es, wirft alles in ihr Tuch, die Zipfel knüpft sie zusammen und ihr Bündel ist geschnürt.

Um Gottes willen, Armgart, was hast du vor? flüstert Angelika, die zurückgekommen.

Ist sie’s? Kommt sie?

Eine Dame kommt!

Armgart spricht kein Wort und stürzt mit dem Bündel von dannen.

Angelika besinnungslos – folgt, wie von ihr angesteckt …

Armgart klinkt die Pforte nach dem Garten auf. So feucht der Boden, so kühl die Luft, ist sie doch schon außerhalb des Gartens, quer hindurch über Salat und Rüben und Zwiebelstauden, wie sie die Wege nur abkürzen kann.

So fliegt sie dem Lichte zu, das sie an den kleinen bleigefugten Fenstern der Fischerhütten sieht.

Angelika, das sah sie, folgte nun schon nicht weiter …

Jetzt an den Fenstern der Fischerhütten anzupochen, da um einen Kahn zu bitten, dort dem Tönneschen, den sie richtig sieht und der in einem Buche studirt, oder den halb zuhorchenden, halb zuschlummernden Aeltern desselben, allen denen erst zu klopfen und zu schmeicheln oder etwas aufzubinden, eine Erfindung, eine Ausrede, einen Auftrag etwa … etwa auf der Villa Vergessenes holen zu müssen … das gäbe Fragen, Aufenthalt … Nein! Sie kann ja selbst rudern – fort ans Ufer – in einen Nachen – ihn losgekettelt – das Ruder ergriffen –

377 So fährt sie von dannen.

Noch konnte sie des jenseit der Insel gegen den Strom angehenden Nachens nicht ansichtig werden … Sie steuert am Ufer der Insel hin, um nicht zu weit unten am Enneper Thal zu landen … Sie steuert gerade nach der entgegengesetzten Richtung, als in die jenen Nachen der Strom drängen muß … Nun aber gewinnt sie die Höhe des Wassers und der ganze Spiegel liegt in dem immer mehr aufgehenden Mondlicht vor ihr … Auf zweihundert Schritte ist sie von dem Boot entfernt, in dem eine Dame sitzt mit einem Diener – Mutter! rief es in ihr … sie suchte – die silbernen Locken! … O, wie pocht ihr das Herz! … Einmal war’s ihr doch, als sollte sie über das Wasser hinwegfliegen, sollte einen Freudenschrei ausstoßen, die Arme ausstrecken und rufen: Mutter, da hast du dein Kind! … Aber auch nur einmal überwältigte sie’s und sogleich stand ihr der Vater vor Augen, der Vielgeprüfte, der Wettergebräunte, der Flüchtling auf dem Oceane! … Und dennoch, dennoch sucht das Auge das Antlitz der Dame … Es ist ihr abgewandt … Da stehen die weißschimmernden Birken auf der Insel … Wird der Kahn vorübergleiten, wird er landen? … Er hält … er will zur Insel … landet … es ist nur die Mutter … und jetzt, jetzt ist ihr’s doch, als zög’ es sie in den Strom hinunter … die weißen Birken werden zu den Locken der Mutter … ein ganzes Leben geht ihr auf, beschienen wie vom Mondlicht … alles, was sie je nur unter den Trauerweiden und Birken vom Menschen- und vom Frauenloose geahnt, scheint sich ihr plötzlich zu erfüllen, 378 lebendig zu werden, zahllose Gestalten ziehen dahin und wie unter den Klängen einer ganz außerweltlichen Musik …

Schon entführte der Strom die schwache Schifferin … Sie konnte den Nachen nicht mehr regieren.

Er bringt sie aber ans Ufer … Weit, weit von dem Punkte, auf den sie mit aller nur möglichen Anstrengung ihrer Arme zugesteuert hatte, landet sie. Sie geräth in ein Gestrüpp von Weiden und Schilf, an dem sich bequem und sicher aussteigen läßt.

Jetzt gedenkt sie des Nächsten, Kommenden … Was soll sie beginnen? Wohin sich wenden? Ohnehin mit ihrem überschweren Bündel!

Die Thürme hatten schon von da und dort die neunte Stunde geschlagen. War auch die Welt hier noch wacher als auf der Insel drüben, wem sollte sie sich anvertrauen! Wie weit war nicht der Weg zu einer Post, die erst im nächsten Städtchen am Fuße des Geierfelsen lag! Ihre Baarschaft betrug einige Groschen über einen Thaler.

Den Kahn mußte sie dem Zufall überlassen … Ein Moment der Besinnung … Sie wagt den Sprung ins Uferröhricht, nachdem sie ihr schweres Bündel schon vorausgeworfen … Es gelingt alles.

Angelika’s Anzeige und eine Verfolgung befürchtend, suchte sie nur zuerst eine Gelegenheit, weiter zu kommen.

Nirgends Menschen; aber Lichter auftauchend da und dort … Sie läßt ihr Bündel im Schilfe liegen und läuft nach Drusenheim hinüber. Den Wirth vom Palmbaum kannte sie ja und er sie … Was sie sagen wollte, wußte sie noch nicht. Sie wollte nur in die Berge hinüber, 379 vielleicht in ihre Heimat nach Westerhof, in ihr Stift zum Heiligenkreuz, zu Paula, die ihr plötzlich in der fieberhaften Angst und Verwirrung ihrer Phantasie erschien, als wenn sie am Altar mit dem Grafen Hugo stünde, mit dem schönen Reiterobersten im weißen Waffenrock mit blinkendem Harnisch, und als fehlte nur sie noch, nur sie, sie, um der Freundin die Myrtenkrone aufzusetzen … So zitterte sie vor Eile … Sie wußte doch jetzt, was sie den Leuten im Palmbaum sagen, wie sie die gewünschte Hülfe in unverfänglicher Weise anschaulich machen konnte … Wagen! Pferde! Das wurde ihr Wunsch.

Athemlos flog sie Drusenheim zu, nicht achtend, daß sie oft bis zum Knöchel versank. An jedes Kreuz am Wege, an jedes Bild des Brückengottes, der auf einem Bachstege stand, richtete sie im schnellsten Vorüber eine Bitte um Beistand.

Endlich hatte sie die ersten Hütten erreicht, endlich ist sie in Drusenheim selbst.

Horch! Vom Palmbaum herüber … tönen da nicht plötzlich melodische Klänge?

Ist nicht Gesellschaft dort oben?

Kaum hat Armgart im schönen Fernhall das Lied vernommen, das von den obern erleuchteten Fenstern des Palmbaums und vom kleinen Balcon desselben herunter wie wallend und wogend in die stille Nacht erscholl:

„Vier Elemente, innig gesellt – “

erblickte sie einen Wagen vor der Thür.

Sind das doch nicht die Freunde von Nanny’s Bruder Gebhard Schmitz? Sind das doch nicht die dennoch Gekommenen, wenn auch verspätet? Ist Thiebold de 380 Jonge unter ihnen, über den ich soviel lachen muß, weil er so verliebt ist, wie ein Windspiel? Gehört dieser Wagen hier wol gar den Sängern oben? Dann – Wie sollt’ ich nicht hoffen, sofort ihn mein zu nennen, einzusteigen und hinauszufliegen in die weite, weite, weite Welt!

Wem gehört der Wagen? fragte sie rundweg einen Knecht, der eben die Pferde aus dem Stalle führte und einschirrte, während der Kutscher sich noch drinnen gütlich that.

Lustig sagte der Befragte:

Der Wagen? Der gehört da oben fünf Herren! Die haben heute Nacht ’ne Wallfahrt beschlossen in fünf Stationen! Auf jeder trinken sie eine andere Sorte Punsch! Fünf Meilen haben sie schon gemacht und in jedem Wirthshaus untersucht, ob die Weinkarte in Ordnung ist!

Vor Trunkenen überfällt jedes weibliche Herz Schrecken und Zagen … Schon vor dem Hausknecht bebte Armgart zurück … Oben aber erscholl der Gesang so schön, so melodisch und eben löste sich Schiller’s Punschlied in Lachen und Jubel auf. Einer der Sänger – es war Joseph Moppes, der süßeste aller „vaterstädtischen“ Tenore – trat auf den Balcon, das Glas in der Hand und einen andern, wirklich den Thiebold de Jonge, mit dem linken Arm umschlingend, singt er aus einem andern Liede, wieder von Schiller, dem Allwaltenden in Freud und Leid der Menschen:

„Bis die Liebliche sich zeigte,
Bis das theure Bild – “

Da schon hatte Armgart, nicht wissend, daß sie selbst die Gemeinte, hinaufgerufen:

381 Herr de Jonge!

Hier hängt er! ruft Moppes …

Gehört der Wagen Ihnen, Herr de Jonge?

Wie? Was? spricht Thiebold, jetzt erst die Zartheit der herauftönenden Stimme erkennend …

Wie so? fragt Moppes, zugleich über den Balcon sich beugend.

Wem? Wie so? wiederholt Thiebold …

Woso? parodirt Schmitz, der Dialektkünstler …

Nun stürmt der Rest des Sextetts in des Staunens vollste Blüte … Clemens Timpe sogar noch mit einem aus voller Kehle geschmetterten:

„Preßt der Citrone saftigen Kern!“ …

Und alle schwingen dabei die Hüte wie zur Abfahrt und Mäntel werfen zwei, der kühne Weigenand Maus und der stille Caricaturenstifter Aloys Effingh, geradezu vom Balcon hinunter auf den Wagen obenauf und nun ist es allen in Sicht, daß ja eine Dame mit ihnen parlamentirt …

Wie erstaunten sie, als sie auf Joseph Moppes’ energischstes Ruhe Pause zählten und ein junges Mädchen mit Thiebold Verwunderung und Orientiren und Namen und Fracht und Verklarung des Schiffes austauschte, nach schnellstem Erkennen Gebhard Schmitzens die heute Vielbesungene selbst …

Thiebold war bereits unten …

Die von einer der melodischsten Sopranstimmen vorgetragenen Worte hörten sie:

Herr de Jonge! Ich habe aufs dringendste diesen 382 Wagen nöthig! Sie werden mir die Gefälligkeit erweisen, nicht wahr, ihn mir auf einige Tage zu leihen!

Mein Gott, Fräulein! Sind Sie’s – denn wirklich –

Ruhig! hieß es oben …

Einzig! Auf Taille! flüsterte Gebhard Schmitz.

Verwundern Sie sich nicht zu lange, Herr de Jonge! fuhr Armgart fort. Ich bitte! Befehlen Sie dem Kutscher! Ich steige ein! Ich habe die größte Eile!

Wirft mir wol einer meinen Hut herunter?

Das war alles, wozu sich Thiebold zeit- und ortsgemäß sammeln konnte.

Fahren Sie mich ans Ufer zurück, da, wo die Weiden stehen!

Da, wo die Weiden stehen!

In diesen von allen jetzt mehr gesuchten als gefundenen Weiden blieben sechs verdutzte Blicke hängen …

Armgart saß schon im Wagen und Thiebold hatte auch schon seinen Hut auf dem Kopf. Clemens Timpe hatte versucht ihn just so zu werfen, daß er ihm auf seine blonden hochaufgerichteten Haare fiel (Thiebold’s äußerste Unruhe ließ sich am fortwährenden Streicheln seiner Frisur erkennen); der Hut fiel indessen zwischen die Hufe der Pferde und vor die Räder und bekam, da die Pferde schon anzogen, eine starke Prüfung seiner „Garantie“.

Das ist das Loos des Schönen auf der Erde! rief Schmitz …

Thiebold aber, impertinent, wie auch nur er sein konnte, (Nur Selbstkritik, nicht etwa Verleumdung von uns), schwang sich hinten auf den bequemen Bedientensitz, verlor fast im 383 Abfahren seinen nun wieder hinterrücks fallenden Castor – „weiß auf blond!“ hatte noch kürzlich Benno über diesen in gewisser Hinsicht „jetzt gelieferten“ Hut und über Thiebold’s Ansprüche auf Geschmack geäußert – und schon schwenkte der Wagen dem Strome und der bezeichneten Stelle zu, verfolgt von einem fast kosackischen Hurrah der Freunde Piter’s, die in diesem Augenblicke sogar vergaßen, daß sie auf ihrer gleichfalls zu Wasser und darüber schon zu viel, viel Rüdesheimer und Punsch gewordenen Partie die Retourgelegenheit verloren hatten …

Der Wagen war jener vortreffliche Landau mit jenen in Kocher am Fall beinahe verdorbenen englischen Patentachsen und die englischen Pferde gehörten gleichfalls Herrn de Jonge senior, der es für zweckmäßig zu halten schien, wenn sie durch de Jonge junior in entsprechenden häufigsten Gebrauch kamen …

Armgart schlug in dem prächtigen Wagen die Hände zusammen und hielt sie hoch gen Himmel empor, aus tiefster Seele dankend allen seinen Heiligen.

384 14.#

Während Thiebold durch das geöffnete Schiebfensterchen des Wagens eine glühende Schilderung der Sehnsucht nach diesem Sonntag, eine Schilderung der Spannung seiner Gefährten, der Enttäuschung, daß das ganze Begegnen mit den Stiftlerinnen und vorzugsweise mit Armgart scheitern mußte, entwarf; während er ihr, oft durch das Schleudern des Wagens im Redestrom unterbrochen, die Versicherung gab, daß dieser Wagen sie, wenn sie darnach Verlangen trüge, bis ans Ende der Welt fahren könnte – die Phrase: „vorausgesetzt, daß ich Sie begleite“, verlor sich in einem Wurf in die Sitzecke –; während er mit jener ihm ganz eigenthümlich angehörenden Lebhaftigkeit der Demonstration, theils auf die Wege wetternd, theils dem Kutscher commandirend, theils seinen Hut von den Folgen der Räderung herstellend, mimoplastisch auseinandersetzte, daß nur an jeder Station neue Postillonspferde nöthig wären, um couriermäßig mit ihm bis an die Pforten des Himmels oder der Hölle zu reisen; während er endlich mit allen Zeichen damaliger Telegraphik schilderte, daß seine verblüfften Freunde entweder in Drusenheim übernachten 385 oder auch vom Wirth anspannen lassen könnten, waren sie jetzt bei der Stelle angekommen, wo im Schilfe Armgart ihr Bündel geborgen hatte.

Der Kahn trieb schon weithin auf die Höhe des Stromes …

Mit der Versicherung, er gäbe, wenn der Kahn nach Holland schwämme, was nicht vorauszusetzen, der lindenwerther Schifferinnung zum Ersatz eine Bark mit zwei Masten, mit Vorder- und Hinterdeck, mit Bramsegel, mit Reffsegel, mit u. s. w., stieg Thiebold aus, um das vielbeprochene, wenn ihm auch noch völlig räthselhafte Bündel mit Gefahr seiner heute trotz des Regens in bequemen Wirthsstuben geschont gebliebenen Lackstiefel herbeizuholen …

Darüber hatte Armgart einige Minuten Zeit, ihrer Lage nachzudenken …

Mit Thiebold sollte sie weiter reisen? Mit ihm so allein hinaus in die Welt gehen? … O Gott –

Aber Thiebold kommt schon zurück … schon schleppt er das Bündel, das er höchst federleicht findet, das ihn aber keuchen läßt wie Cyklopenarbeit … er bittet um Entschuldigung, wenn sich vielleicht in dem Bündel vom Schilfe her einige Frösche eingenistet hätten … er wagt die leise Frage, ob das vielleicht die Wäsche des Institutes wäre, die Armgart nach klösterlicher Sitte in dieser Woche zu besorgen und noch spät in die Sieben Berge, vielleicht zu einer dort „vielleicht wohnenden Wäscherin“ zu transportiren hätte in Begleitung eines „vielleicht zufällig eben ertrunkenen Schiffers“ … er gesteht, nicht begreifen zu können, warum sie bei soviel Sinn für 386 Wirthschaft und Reinlichkeit soviel Angst hätte, selbst vor harmlosen Wanderern, die eben des Weges daherkamen … und wie denn überhaupt, mein Fräulein, wenn ich mir die gehorsamste Bitte erlauben dürfte um ein klein wenig mehr Gaslicht als Mondlicht, d. h. Aufklärung über Wie? Wo? Warum? Wieso?

Jetzt aber ereignete sich eine jener Fügungen, die uns zuweilen das Weltverhängniß noch zum holden Kindermärchen machen können … Der liebe Vater im Himmel sitzt uns dann trotz aller Philosophie immer noch mit einem langen Barte auf den Wolken und fügt die Schicksale der Menschen mit sichtbarer Hand, ja er greift überall persönlich hinein mit liebevoll nachhelfendem Finger.

Von hundert Menschen, die da schon gegen zehn Uhr Abends, während der Mond nun ganz aufgegangen war, noch am Ufer hätten stehen und nach einem Nachen sich umschauen können, der sie so spät noch übersetzte, muß gerade der Eine daherkommen, der zwar nicht mit melodischem Wohllaut das Lied vom Ritter Toggenburg intonirt hatte, dem es aber, nach dem Kloster zu Lindenwerth hinüberschauend, tiefinnen klang mit der ganzen Sehnsucht seines Herzens.

Hatte es doch für Benno heute am Sonntag diesseits des Stromes Aufnahmen gegeben hier und dort! Aufnahmen, die an Ort und Stelle zu machen waren! Die süßeste Hoffnung, die von gestern auf heute sich erfüllen sollte, von dem Abschied beim Einsteigen in den Nachen bis zum Wiedersehen im Enneper Thale oder auf der Insel selbst oder heute irgendwo und -wie, hatte scheitern müssen theils am Wetter und den verschlimmerten Wegen, 387 theils an der gegen alles Erwarten sich herausstellenden Bedeutung der Aufträge, die es zu vollziehen gab …

Nun aber trieb ihn noch ein anderes gegebenes Wort wenigstens für den Abend zu beschleunigter Eile. Nück hatte ihm beim Abschied gesprochen:

Herr von Asselyn! Sie sind ein junger, unterrichteter und für die praktische Auffassung des Lebens, die nur allein eine Zukunft hat, disponirter Mann! Aber in vielem sind Sie noch völlig Tabula rasa! Ich will Ihnen wünschen, daß das Leben bessere Zeichen auf Sie schreibt, als zehnjährige Seufzer bis zu einem Assessorat in Schöppenstädt mit fünfhundert Thalern Gehalt! Sie kennen unsere gespannte Lage mit der Regierung! Sollten Sie vielleicht im Roland bei Joseph Zapf oder sonstwo Leute finden, die uns nicht eher geholfen glauben, bis nicht alle die aus dem Lande gejagt sind, die nicht an die sieben Sakramente glauben, so lassen Sie sich mit den dummen Leuten in keine philosophischen Erörterungen ein, sondern schonen Sie menschliche Schwächen! Bei Zapf gehen, hör’ ich, Narren aus und ein, die sich einbilden, es brauchte nur der 24. August im Kalender zu stehen und man könnte die Sainte-Barthélémy noch einmal aufführen! Klären Sie diese Leute nicht philosophisch auf! Geben Sie ihnen nur ein wenig mehr Einsicht in die Gesetze! Verweisen Sie auf das, was unter allen Umständen als Anlehnung Stand hält, wenn wir uns gegen die neunmal Weisen anstemmen müssen, auf das Edict vom 28. Germinal des Jahres X der fränkischen Republik, das Besitzergreifungspatent von 13, die Bulle De Salute animarum 388 von 21. Denn darüber, denk’ ich, sind wir einig, daß bei uns Kirche und Gemeinde darauf halten sollen, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Lieber ein Weltbrand, als ewig unter der Herrschaft der Achselklappen mit den numerirten Knöpfen! Lieber zum Frühstück fricassirt von französischen zu Marschällen avancirten Köchen, als zerrissen von russischen Wölfen! Zwei Alternativen hat ja die Welt: Czernebog, den Großen, oder Rom!

Benno fühlte das anders, doch wollte er nicht fehlen unter Leuten, die von Sturmglocken sprachen und das Wort: Von-Berg-zu-Berg-die-Feuerzeichen-Anzünden schon aus gedruckten fliegenden Blättern, aus Liedern und laut gesungenen Reimsprüchen wiederholten.

Auch dem wirklich damals „beschränkten“ und von Ministern deshalb gründlich verhöhnten „Unterthanenverstand“ wollte er die Thorheit der Sensen und Aexte verweisen, mit denen die Bauern verlangten in die Städte geführt zu werden …

Es gefiel ihm sogar, daß Stephan Lengenich übernehmen sollte, einen großen Rath- und Hülfsverein im ganzen Lande zu begründen, einen Bund von Meistern und Gesellen, Handwerkervereine, die damals aller Orten im deutschen Vaterland und zur Anbahnung besserer Zeit auftauchten und von denen der Severinusverein nur erst ein schwaches Vorbild war …

Schon sah Benno mit scharfem Auge im Roland drüben die Fenster des zweiten Stockes erleuchtet …

Er verwünschte seine Verspätung bei der ihm wie ein Verhängniß lockenden Erörterung …

Einen Nachen suchte er jetzt und war, da er keinen 389 fand, gerade im Begriff, schnellen Schritts auf einige Schifferhütten zuzueilen, die freilich noch einige tausend Schritt zu Berg entfernt lagen …

Da sieht er einen Wagen daherjagen und so dicht dem Ufer zu, als sollte ihn eine Fähre aufnehmen …

Diese Fähre sucht er …

Wie mußt’ er erstaunen, als jetzt jemand von dem Bedientensitz des Wagens springt, am Ufer im Röhricht krebst, dann mit einem großmächtigen Bündel zurückkehrt und endlich vollends, als er sieht, daß dies, wie es schien, Schmuggel treibende Individuum niemand anders war als Thiebold de Jonge!

Ja, aber ums Himmels willen! Was haben Sie denn da? rief er ihm schon aus der Ferne zu …

Thiebold, vollkommen wissend, daß Benno in der Nähe sein konnte, und darum auch schnell sich zurecht findend, antwortete sogleich mit einem Bedeuten um geheimnißvolle Stille und dem Winke, das „federleichte“ Bündel mit aufladen zu helfen …

Mit den langgezogenen, völlig noch ungewiß tastenden Worten: „Aber – Sie sonderbarer – Schwärmer –!“ trat Benno näher …

Nun sieht er in den Wagen und sieht Armgart und Armgart sieht ihn, erkennt ihn und ruft:

Jesus! Der Benno!

Benno steht sprachlos.

Thiebold klärt auf, soweit er kann, stopft das Gepäck hinein, ruft dem Kutscher den Namen eines Ortes zu, als den der ersten Poststation, und steigt windschnell wieder hintenauf …

390 Er scheint vorauszusetzen, daß Benno, dem allem wie etwas Unglaublichem zustaunend, dem tolldreistesten aller Menschen in die mondhelle Nacht hinaus die Königin seiner Träume wie zur Entführung überlassen soll …

Ein Augenblick jedoch – und auch Benno sitzt schon oben dicht neben Thiebold und der Roland und die Kirche und der Staat und der 28. Germinal und die Bulle De Salute animarum sind vergessen.

Armgart sieht alles das voll Seligkeit und hätte nun am liebsten alle beide gleich hereingerufen.

Sie hätte Benno die Hand drücken mögen vor Freude über diese doppelte Hülfe …

Aber schon flogen die Rosse zur Chaussee hinauf und auf dieser dann funkenstiebend weiter und weiter dahin …

Der Kutscher merkte schon, daß hier Romantik im Spiele war und dem Drusenheimer allein hatte auch er nicht zugesprochen.

Endlich hatte sich Armgart gesammelt und machte wenigstens durch das Schiebfenster so viel Geständnisse, als nöthig waren, um nun schon von Benno Vorwürfe und ernste Ermahnungen zu hören.

Darüber drängte ihn Thiebold, als „unerträglichen Pedanten“, vom Schiebfenster weg und klagte über Mangel an Raum …

Und als dann Benno mit Vernunft und Besonnenheit nicht enden wollte, verwies ihn Thiebold vorn auf den Kutscherbock, worüber beide jetzt unter sich selbst in freundschaftlichen Hader geriethen …

Am Ufer aber hinfahrend hatte Armgart alles drüben auf der Insel still gefunden und im Geiste der guten 391 Angelika gedankt, die ihre Flucht sicher nicht verrathen, sondern gewiß zur suchenden Mutter von einem Versteck auf der Insel selbst gesprochen hatte.

So fuhren sie schon unterhalb des Geierfelsen dahin …

Je weiter aber die Insel und der Fluß verschwanden, desto mehr verlor sie die Besinnung und alle ihre Gedanken fingen an, ihr wie zu vergehen …

Was sie von dannen trieb, glaubte Benno jetzt zu errathen … Die Mutter war angekommen! … Er theilte Thiebold seine Vermuthung mit und seine Auslegung der so ihm nur erklärlichen Flucht …

Wie Thiebold, der natürlich die Rechte des Vaters, seines „Lebensretters“, weit über die der Mutter stellte, sich in Armgart’s heroischer Herzensthat staunend zurecht fand, wurden sie plötzlich von Pferdehufen und von Säbelklappern aufgeschreckt …

Vier bis fünf Gensdarmen ritten an ihnen vorüber …

Benno erkannte Grützmachern und Schulzendorf; diese erkannten ihn …

Herr von Asselyn! hieß es mit harmlos überraschtem Tone. Wo wollen Sie denn so spät noch hin?

Thiebold, zwar vorlaut wie immer, aber etwas eingeschüchtert, nannte die nächste Station …

Major Schulzendorf blickte in den Schlag des Wagens. Er sah eine junge Dame …

Auf Damen lauteten die Ordres nicht …

Paschol, Herr Freiwilliger! rief Grützmacher mit einem jener der Herrschaft des großen Czernebog angehörenden und 1813 in Deutschland zurückgebliebenen Kosackenworte und erinnerte bedeutungsvoll mit dieser Anrede den jungen 392 Demagogen, daß er seine Gesinnung schon neulich als „Anno Köpenick“ lautend genannt hatte.

Der Wagen fuhr von dannen …

Und an einem Kreuzweg hielt wiederum ein berittener Gensdarm.

Was geht denn hier vor? fragte Thiebold höchst erstaunt und plötzlich jetzt von großer Sammlung und viel Vernunft.

Benno ahnte fast, daß er einer großen Gefahr entronnen war.

Diese Zusammenziehung von Bewaffneten stand ohne Zweifel in Verbindung mit der geheimen Versammlung drüben im Roland …

Seine Empfindungen über diese Vermuthung schloß er tief und stumm in sein bewegtes Herz …

Die jungen Männer beschlossen, den räthselhaften Flüchtling die Nacht über zu begleiten, bis sie irgendeine der Postrouten erreichten, wo Armgart die Diligence besteigen konnte, um an den Ort ihrer nächsten Wünsche zu kommen, ins Stift Heiligenkreuz, wie sie sagte, bei Witoborn oder nach Westerhof zu Paula.

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Wie es dann immer höher und höher ins Gebirge ging, lag die Gegend den Rückblickenden im Mondlicht so geisterhaft und märchenhaft da, wie ihnen ihre eigene Stimmung …

Der Strom, die Berge, die Ortschaften, alles wie verklärt …

Ein einziger stiller Friede ausgebreitet über soviel Leidenschaft, soviel Haß, Kampf und Gefahr …

393 Dabei stiegen noch Raketen auf aus den Weinbergen, wo man schon frühzeitiger die Weinlese begonnen – alles das so harmlos, wie zu Lust und Freude …

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Immer lauschiger wurde es am Wege ringsum und dunkler wurde der Wald zum Gebirge zu …

Eine Abtei lag in zertrümmerten von Buschwerk überwucherten Rundbogen, recht wie ein Zufluchtsort mitternächtiger Geister …

Wie schlummernd ragten ringsum die Tannen …

Nur die Fledermäuse huschten auf und die kleinen Schlangen eilten über den Weg hinwegzukommen, fliehend vor den jetzt langsam bergauf ziehenden Rossen …

Aus dem Walde tönten so seltsame Laute, wie vom Fuchs auf dem Raube und von der nur des Nachts die Augen öffnenden Eule …

Ein großer dunkler Vogel flog quer über den Weg, so mächtig, so weitausgeflügelt, als wär’ es ein Adler gewesen.

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Da kam ein neues Piket von Gensdarmen …

Es umringte ein offenes Wägelchen, das rasch an ihnen, niederwärts, vorüberglitt …

Erst als sich Benno über diese neue Begegnung mit den Wächtern der öffentlichen Sicherheit gesammelt hatte, fiel ihm die Gestalt auf, die auf dem Wägelchen gesessen … Zusammengedrückt, im bloßen Kopfe, eine Pferdedecke über die Schulter geworfen, hatte jemand dagesessen und geblickt mit stieren Augen, wie die Augen der Hyäne leuchten mögen beim nächtlichen Raube, 394 wenn sie vom Wege, die Löwen schon am Platze fürchtend, angstvoll zur Seite schleicht …

Vor und neben dem Gefangenen saßen zwei Männer in bürgerlicher Tracht, fest und aufrecht …

Anfangs glaubte Benno, seine Phantasie spiegelte ihm die Entdeckung des Mörders der Frau von Buschbeck in Jodocus Hammaker vor …

Indem trabte ein Reiter an ihnen vorüber, in grauem Militärmantel mit rothem Kragen …

Der Mantel schlug im schnellen Vorüber auf … Der Reiter war ein Bürgerlicher …

Assessor von Enckefuß! rief Benno ihm nach …

Der Reiter hörte nicht.

Thiebold war schon lange in eigenthümliche Gedanken verloren und schien für jeden äußern Eindruck abgestorben …

In größter Aufregung fuhr Benno fort:

Nun, mein Freund, da sehen Sie wie „diese Menschen“, wie Sie sie neulich zu nennen beliebten, die Augen offen halten und am rechten Platz Muth und Kraft in Muskeln und Adern haben!

Wie so?

Bemerkten Sie denn nicht eben? –

Was?

Keine Täuschung! Der Mörder der Buschbeck …

Wovon sprechen Sie?

Sahen Sie denn nicht?

Wen?

Den Assessor von Enckefuß –

Ich glaube, Sie träumen!

395 Eine eiserne Zeit wird kommen! Nicht sechs Wochen ins Land –

Sechs Wochen, glauben Sie, daß diese Reise –?

Ich begreife – was Dante zu den Ghibellinen zog!

Und während Thiebold jetzt seine in solchen Fällen gewöhnliche Wendung: „Warum haben Sie nur ewig die Malice, in meiner Gegenwart gelehrt zu sein! Wer war dieser Dante? Wer sind die Ghibellinen?“ heute wie abwesend und wie völlig über Sänger der Hölle und des Fegfeuers und des Paradieses unterrichtet unterdrückte, klopfte Armgart von drinnen an das Fenster und bat mit zagender Stimme, da es draußen gewiß bitter kalt würde, die Freunde möchten doch hereinkommen …

Benno und Thiebold fühlten, daß diese von Armgart gesprochenen Worte nur so leise tönen konnten vor Thränen …

Der Wagen hielt an …

Schweigend stiegen die Freunde ein …

Thiebold mit der Entdeckung, die er erst seit einer halben Stunde gemacht: Armgart wird auch von Benno geliebt! … Benno in einer Aufregung, die mit mächtigster Gewalt plötzlich alle seine Gedanken mitten in die Erörterungen zurückversetzte, die er kürzlich mit Bonaventura gepflogen beim abendlichen Wandeln am Stromesufer …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Und wer weiß, ob nicht auch Bonaventura noch stand und in demselben Nachthimmel seine Zukunft suchte und, durchschauert von bangen Ahnungen, der Worte des alten Kirchenvaters gedachte: „Steh’ auf um Mitternacht, blick’ in das Heer der Sterne und deute dir die tiefe Stille!“

396 Wenigstens wohnte er, ein Leichenbegleiter in jeder Beziehung, nachdem er dem großen Conduct der endlich zur Nachtruhe gekommenen „Frau Hauptmännin“ am Sonnabend gefolgt war, auch Sonntag Nacht dem Officium und den Vigilien bei, die in der kleinen Kapelle neben dem Kreuzgang der Kathedrale am kerzenerleuchteten Katafalk des verstorbenen greisen Domherrn unausgesetzt bis zum Montag morgen gehalten wurden, wo erst sein Vorgänger, in dessen Stelle er rücken sollte, mit seinen „gesammelten Origines-Lesarten“ unter die steinernen Vliesen des Kreuzgangs eingesenkt werden durfte; denn der Sonntag – „ist des Herrn“.

Ende des dritten Buches.

Apparat#

Der Apparat für alle Bände des Zauberers von Rom ist unter dem ersten Band einzusehen.