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Die Baronin von Gravenreuth, geb. Gräfin Hirschberg, und mein „Plagiat“ an ihrer Lebensbeschreibung#

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Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.1
Letzte Bearbeitung
15.02.2020
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Text#

492 Die Baronin von Gravenreuth, geb. Gräfin Hirschberg, und mein „Plagiat“ an ihrer Lebensbeschreibung.#

Die Leser der „Unterhaltungen“ sind nicht gewohnt, den Herausgeber derselben zu oft von seinen eigenen Angelegenheiten sprechen zu hören.

Mögen die folgenden Mittheilungen ausnahmsweise deshalb gestattet sein, weil sie vielleicht „unterhaltend“ genug sind, um eine „Literaturnovelle“ genannt zu werden.

Der Gegenstand ist die zuerst in hamburger Blättern von Wien herüber gegen mich erhobene Anklage, ich hätte bei meinem „Zauberer von Rom“ ein mir zur Publication anvertraut gewesenes Manuscript benutzt; eine Anklage, die jetzt die Verfasserin des letztern in einer auch ihrerseits erfolgten Erklärung zwar im wesentlichen nur auf „mehrere Charaktere und Situationen“ modificirt, aber doch aufrecht erhält und durch eine „Broschüre“ beweisen will.

Es wird niemand, der mit gesunder Vernunft begabt ist, verlangen, daß ich in einem aus mehr als 3000 engen Druckseiten bestehenden Werke nicht auch zahlreich mir Erzähltes und Gelesenes benutzt und in meiner Weise verarbeitet haben dürfte. Doch zieh’ ich vor, über diesen Fall nicht zu schweigen. Die in Frage stehende Lebensgeschichte ist nicht gedruckt und man könnte Wunder glauben, was ich aus ihr entnommen hätte. Auch kann sie alle Tage aus meinem Roman ansehnlich vermehrt und ergänzt werden.

Noch ehe ich meine „Ritter vom Geiste“ ganz beendete, war zu dem Herrn Verleger derselben oft von mir geäußert worden, daß ich ein zweites Culturgemälde südlicher Verhältnisse, vorzugsweise den Katholicismus betreffender, entwerfen und zur künftigen Herausgabe vorbereiten würde. Diese schon 1851 vor Vollendung der „Ritter vom Geiste“ vollständig ergriffene Idee basirte sich auf eine Ausbeute von Studien und Erfahrungen, wie ich sie theils jahrelang schon gemacht hatte, theils noch machen wollte. Die Anlage des Gewebes, das ich versuchte, bildete ein Priesterleben, das ich schon 1851 (und zwar in Versen) begann und wovon sich die Spuren im „Zauberer von Rom“ Band II, S. 53, finden. Aus der Anschauung zweier an einem stillen Altar sich gegenüberstehender und langsam sich verzehrender Kerzen entstand die Grundanschauung des Ganzen, dessen Versform ich beim Wachsen des Materials aufgab. Ein Priester und eine Priesterin waren die Helden des neuen Culturbildes, das ich versuchen wollte.

Angelika, später Paula, nannte ich das Princip, das ich mir von vornherein als die Ekstase definirte. Eine ekstatische Jungfrau, eine Seherin, eine Traumrednerin, eine zweite Hildegard, eine idealisirte Nonne von Dülmen. Die „rothe Erde“, das Münsterland der Schauplatz. Die Seherin, eine Gräfin, sollte entwickelt werden von ihren zartesten Anfängen, ihrem Kindesleben an. Dies Kindesleben mußte seiner Natur nach schon den Keim einer träumerischen Lebensentwickelung hegen. Das Kind Paula mußte krank sein.

Diese erste Anlage des neuen Werks steht fast wörtlich so in meinen Notizbüchern vom Jahre 1851. *)

Ein krankes Kindesleben, das in stiller Einsamkeit und Beschaulichkeit früh schon auf die Spiele der Phantasie hingewiesen wurde, verband sich mir mit einem Lieblingsgedanken, den ich schon seit dem Jahre 1835 hegte. Die Schwester meiner eigenen Frau lag zwei Jahre in einer orthopädischen Heilanstalt auf dem Streckbett. Immer und immer, bei wiederholten Begegnungen mit Familien, deren Kinder auf dem Streckbett lagen, trat mir das alte Verlangen entgegen, zu schildern, wie wol bei solchem jahrelangen Abscheiden des Kindergemüths von Spiel und Erholung, vom Tummelplatz jugendlicher Lebenslust, wie sich namentlich ein Mädchen entwickeln würde, das jahrelang in Gebundenheit auf einem Prokrustesbett ausharren müsse. Der Eindruck wiederholte sich bei Verwandten. Er wiederholte sich bei einer Tochter meines Freundes Emil Devrient. Dem berühmten Orthopäden Dr. Langgaard in Hamburg sprach ich schon vor Jahren, daß ich in der Schilderung einer orthopädischen Heilanstalt eine Dichteraufgabe erblickte.

Mit geschlossener Festigkeit und schon hervorbrechend im IX., 1851 geschriebenen Bande meiner „Ritter vom Geiste“ in den Scenen, wo Olga, ein halbes Kind, in Starrheit und scheinbarer Leblosigkeit auf einem Bett, umgeben von Priestern und von einem Kreuz magnetisirt liegt, Band IX, S. 44 - stand vor meinen Augen die Gestalt der Gräfin Paula als einer aus einem leichten Hüftleiden (da natürlich keine Entstellung des Körpers zulässig war), und aus einem durch das Streckbett geweckten und gemehrten Phantasieleben sich zur Visionärin Entwickelnden. Sie die zweite Kerze. Ihr gegenüber ein Priester. Dies Thema einer solchen Liebe ist ja uralt. Miller’s „Siegwart“ gab einer Modestimmung die Richtung. Den vielen Aufklärungen, die ich Studien, mündlichen und schriftlichen Belehrungen über Katholicismus verdanke, hätte entsprechen können, daß Paula auch jenes Kind war, das einem Priester bei seiner Weihe als geistliche Braut angetraut wird. Der Gedanke reizte, ich ließ ihn fallen, weil er erstens schon benutzt ist (in „Thomas Thyrnau“; ähnlich auch in Andersen’s „Improvisator“) und weil die Jahre sich nicht entsprachen. Alles das meine Gedankenarbeit im Jahre 1851.

Während der Vorbereitungen zum weitern Ausbau dieses Werkes erhielt ich im Jahre 1853 ein Manuscript zugeschickt, in welchem ein abenteuerlicher, ich möchte sagen Universal-Lebenslauf einer Frau - von Kindesbeinen an bis zum gereiftern Alter - erzählt wird und in welchem sich neben einer Fülle Details, 493 die in eine Kindererziehung einschlagen, auch eine orthopädische Anstalt erwähnt und geschildert befindet, geschildert in einer Menge, der Heldin der Biographie gleichalterigen Kindern, geschildert in grauenerregenden Details über - Dinge, die ich nicht nennen will. In der Mitte des Manuscripts, nicht beim Streckbett eines Kindes mehr, wie bei mir, kommt die Heldin als reifere Frau, geschieden von ihrem Manne, als Declamatorin auf dem Lande herumziehend, nach hundert Abenteuern, den Inhalt aller Romane bildenden Lebensmotiven, auch auf eine Periode, wo sie somnambul wird. In ihren Träumen bezeichnet sie die Menschen, deren Liebe ihr beschieden wäre, zieht in Baiern von Ort zu Ort und wird für eine Geistesoffenbarung, die die Polizei nur als Unfug auffaßte, in die münchener Frohnfeste gesteckt.

Mußte ich nun, nachdem ich unter kaleidoskopisch abwechselnden Scenen auch dies gelesen, meine schon seit zwei Jahren in mir lebende Paula als Streckbettleidende und Visionärin aufgeben? Ich fand keinen Grund dazu. Im Gegentheil, meine Combination zwang mich, dieselbe Anstalt zu wählen. Es gab nur eine damals in ganz Deutschland, die hierher paßte, die in den dreißiger Jahren fast täglich in der „Allgemeinen Zeitung“ empfohlene. Ich brauchte sie für das erste Eintreten des Katholicismus in mein Buch, sie gehörte mir so gut wie jedem andern. Jeder erräth, daß ich die Heine’sche Normalanstalt in Würzburg meine.

Zu den Leiden eines Schriftstellers meiner Stellung gehört der Zustrom von Manuscripten, der nicht endet. Ein genannter Name ist eine offene Adresse, an die sich jedermann wendet, der seine Feder probirt. Man schickt Manuscripte und verlangt sogar Verleger. Ist man dann noch Redacteur einer Unterhaltungszeitschrift, so steigert sich die Fülle von gelesenen und zurückgeschickten Manuscripten Romaneninhalts bis jährlich in die Hundert. Welches Los sollte eines Autors und Redacteurs harren, wenn er bei jedem Manuscript sagten müßte: Da ist ein Abend auf der heidelberger Terrasse geschildert - nun darfst du nicht mehr ein Gleiches thun! Da ist ein westfälisches Fabrikleben gezeichnet - das ist dir von jetzt an verboten! Da wird der rührende Gesang von blinden Kindern in einem Blindeninstitut erwähnt - dies Motiv mußt du aus deinem Wege schleudern, so oft der Zufall einer Combination dich auch darauf führen könnte! Ein Culturmaler unserer Zeit, wie man mich hier und da zu nennen so freundlich ist, hat vorzugsweise in seinen Anschauungen, seinen Sammlungen, seinen Vorzeichnungen, in jahrelang angelegten Collectaneen sich Themata gestellt, die gerade ihm zunächst liegen, ein Rauhes Haus, eine Auswandererherberge, eine Diakonissenanstalt, einen Einblick in die Sphäre der Heilgymnastik - nichts kann ihm geläufiger sein als die Erziehungssphäre, die ich selbst in meiner „Seraphine“ bis zur orthopädischen Anstalt schon berührte. Der Somnambulismus ist vollends ein Hebel in der Romanenwelt, der für abgenutzt gelten kann. Im Hackert meiner „Ritter vom Geiste“ hab’ ich Mondsucht behandelt. Vor zwei Jahren schickte mir Herr von L. in Dessau ein Manuscript: „Eine Diakonissin“. Glücklicherweise hatte ich drei Jahre vorher selbst „Bethanien“ geschildert. Noch vor wenig Tagen schickt’ ich eine „Herodias“ zurück; zum Glück befindet sich schon im „Zauberer von Rom“, Band V, S. 4, eine Anspielung auf den Tanz der Herodias. Die Situationen und Charaktere, die einem Autor meiner Lage seit Jahren in Manuscripten vorkommen, sind nicht zu zählen. Ja sie werden, selbst wenn er sie nicht drucken lassen kann, ihn oft angesprochen, oft angeregt und seine geistige Thätigkeit gespornt haben. Fand ich in dem Lebenslauf, von dem ich erzählte, eine Beschreibung von vielerlei auf dem Streckbett liegenden Kindern, so bestätigte und ergänzte die Schilderung nur meine eigene Absicht. Fand ich tausend Seiten weiter eine Somnambule, so war dies - ob eine echte oder falsche - eine Erscheinung, die ich vergleichen konnte mit einer großen Zahl von Schriften, die ich kannte, mit persönlicher Bekanntschaft der Frau Dr. Auguste H. in Dresden, mit einer frühern Beobachtung in Frankfurt am Main über das Verhältniß von Frau Legationsrath D. und Dr. Carové, mit einem noch täglich in nächster Nähe mir vor Augen lebenden Beispiele magnetischen Lebens u. s. w. Nimmermehr ist meine „arme“ Phantasie, die zwei neunbändige Romane erfunden hat, in der Lage gewesen, die würzburger Streckbetten und den Somnambulismus erst von einem gelesenen Manuscript kennen zu lernen!

Jede andere bescheidene und anständige Natur würde sich gefreut haben, in meinem Roman Spuren zu finden, daß ich ihr Leben mit Eindruck las. Nichts wird jenem Manuscript dadurch von seinem Werthe genommen. Ich hätte sogar Bd. I, S. 359, wo ich in aller Offenheit eine einfache statistische Notiz von wenigen Zeilen aus jenem Leben mittheile, es ausdrücklich nennen dürfen.

Erzählen wir, wie mein näheres Verhältniß zu jener Lebensbeschreibung mit der Zeit die Verfasserin zu dem Wahn bestimmte, ich müßte die Momente ihres Lebens selbständig benutzen.

Unterm 24. April 1853 schreibt mir aus Ragnit bei Tilsit eine Baronin Charlotte von Gravenreuth, geborene Gräfin Hirschberg, sie hätte mich auserkoren, der Welt ihr Leben zu verkünden. „Ausgestoßen von einer altadelichen Familie, um eines kleinen Jugendfehlers wegen allen Schicksalen preisgegeben“, hätte sie ihr Leben aufgeschrieben. „Durch Sie bearbeitet, wird meine Lebensgeschichte das interessanteste Werk der Jetztwelt!“ Im Verlauf des schmeichelhaften Briefs war die Rede von einer gescheiterten - Theaterunternehmung in Rußland - -

Eine Theaterdirectorin in Rußland und eine bairische Gräfin - und voll Verzweiflung und am Rande des Elends - wie sie hinzufügte - Ich schrieb ihr mit allen einer geborenen Comtesse gebüh-494renden Formen, sie möchte mir getrost ihr Leben schicken.

Ein mehrere Pfund schweres Manuscript kam an. Ich begann die Lectüre in der Voraussetzung, es handelte sich um eine Unglückliche, Verkannte, Verzweifelnde, der ein Recht, der Hülfe verschafft werden müßte.

Die Gräfin ist eine Bairin; ihr Vater Offizier; er fällt in Tirol für Napoleon. Offizierstochter, Gräfin wird sie in München, im nymphenburger Adelsinstitut erzogen. Ihr Kindesleben, ihre Tante eine Hofdame, ihre Genossinnen. Die Töchter des Königs Max sind ihre Mitschülerinnen, die jetzt noch lebenden Königinnen von Preußen, Sachsen, Erzherzoginnen von Oestreich. Ihr Wuchs entwickelt sich nicht. König Max schickt sie nach der von ihm protegirten würzburger Anstalt. Sie liegt auf dem Streckbett, macht Bekanntschaft mit einer Menge leidender Kinder. Sie schildert allerlei Charaktere; zarte, gebrechliche, muntere, ja frivole. Einem, nach ihrer Behauptung, soll meine Paula „nachgebildet“ sein. Aber sie schildert auch eine Russin, die excentrisch unter einer Liebe ihrer Mutter leidet, ein Motiv, das ich drei Jahre früher in den „Rittern vom Geiste“ in der Russin Olga und Adele Wäsämskoi, ihrer Mutter, mir selbst erfand. Der Aufenthalt endigt mit einer Verleumdung wegen einer Liebschaft und mit einem sittlichen Attentat, das wir nicht erzählen können. Neue Scenerie. Ein Paar alte Verwandte auf dem Lande, wo sie wohnen soll. Ein Präsident ihr Onkel. Neues Attentat auf ihre Tugend. München, Starenberg - der Hof wieder, die Tante-Hofdame. Neue Verheirathung ihrer Mutter. Erbschaftsstreit u. s. w., u. s. w.

Bis zur Mitte etwa war ich von alledem gefesselt. Ich sah bei aller Bedenklichkeit des Inhalts ein wirkliches Leben. Mochte die Darstellung gewiß mannichfach unwahr, jedenfalls anstößig der Inhalt sein; es stand alles handgreiflich vorm Auge. Ich gedachte der „unglücklichen“ Lage der Frau, sah die Verwandte in dem Licht, das sie über ihre Handlungsweise verbreitete, ich glaubte, diese Biographie könnte mit Verschleierung und Weglassung alles Anstößigen existiren. Auch schrieb ich das der Baronin nach Tilsit. Ich sagte ihr, daß ich bisjetzt beim noch nicht beendeten Lesen an die Möglichkeit einer Ueberarbeitung glaubte und „Denkwürdigkeiten einer deutschen Gräfin“ gewiß als ein merkwürdiges Bild unserer Zeit und deutscher Adelsschicksale einen Verleger finden und sie aus ihrer unglücklichen Lage retten würden. In einen literarischen Kreis, dem Auerbach, Julius Hammer, die Gebrüder Banck und mehrere andere beiwohnten, trat ich, erfüllt von der Absicht, der Frau zu helfen, erzählte eine Scene, wo die Schwiegermutter der später dann verheiratheten Baronin, eine gefährliche Fieberkranke oder Irre, nachts vor ihrem Bette erscheint, etwa so spukend, wie in der „Waise von Lowood“ eine solche Gestalt vorkommt. Ich erzählte die Mysterien der orthopädischen Anstalt - mit dem ausdrücklich hineingeworfenen Zwischensatz: Uebrigens eine Lieblingsidee von mir, ein auf dem Streckbett liegendes Kindesgemüth zu schildern! Dann warf ich die Frage auf, was von einer Bearbeitung, natürlich mit Hinweglassung aller Zweideutigkeiten, zu halten wäre?

Die Meinungen waren getheilt und neigten zuletzt auf die Seite der Verneinung. Des Zweideutigen wäre zu viel, die Conflicte mit den Verwandten wären zu gefahrvoll. Auch die Meinung eines angesehenen Buchhändlers sprach dagegen.

Die Briefe von Tilsit drängten und drängten inzwischen. Ich las weiter und sah allmählich die Unmöglichkeit einer Veröffentlichung ein. Der Lebenslauf sinkt und sinkt. Die Heldin wird Directrice einer Schauspielertruppe, lebt im steten Kampf mit der Polizei, flüchtet von Ort zu Ort; trunksüchtige Schauspieler, Improvisatoren hängen sich an sie an; ihr Somnambulismus endet im Arresthause; königliche Gnade weist sie ins Irrenhaus. Neue Flucht. Sie erlebt neue Abenteuer in Oesterreich und macht, ausgewiesen aus Baiern, den Uebergang nach Hannover und Berlin. Endlich folgt ein systematisches Beunruhigen der hohen Herrschaften, mit denen sie erzogen ist, ein ewiger Kampf mit abschlägigen Antworten und Ausweisungen. Zuletzt Pensionen und die Concession zu einer reisenden Theatergesellschaft in der Mark Brandenburg. 1848 hält sie ein Sommertheater in Moabit bei Berlin.

Mit aller Delicatesse stellte ich der Frau meine Bedenken vor. Gewisse Dinge würden sich nicht verschleiern lassen, ihre Familie würde sich erheben, ihr Leben wäre noch nicht abgeschlossen - Ja, sagte ich scherzend, wenn der Herausgeber ein ägyptisches Todtengericht halten könnte und die Heldin nicht mehr wäre! Aber Sie leben noch - ich kann meine Hand zur Veröffentlichung nicht bieten; das ewige „Fortsetzung folgt“ Ihres Lebens würde mich stören - kurz, ich hatte durch den Totaleindruck dieses Lebens den Glauben für die Anfänge verloren.

Als auf solche Erklärungen ein Schreckensruf aus Tilsit kam und die Wendung gebraucht wurde: „Ich blicke in die Fluten der Memel!“ schickte ich, um dem Aeußersten vorzubeugen, eine augenblickliche Geldhülfe, wie sie meinen Verhältnissen entsprach.

Nicht lange, so wurden die Briefe plötzlich jubelnd. Die Theaterconcession ist erneuert, wahrscheinlich ist ein Arrangement mit den Verwandten erfolgt, die Baronin ist in dem Städtchen Schwetz an der Nogat, hat bald wieder eine reisende Truppe, spielt selbst Komödie und will jetzt nur noch ihre Biographie los sein, d. h. als Romanstoff. Es spräche jetzt alles gegen die frühere Aufdeckung der „Nichtswürdigkeiten und Intriguen“ - sie hatte ohne Zweifel ein Abkommen mit ihrer über diese „Memoiren“ erschrockenen Familie getroffen infolge meiner ersten Geneigtheit, eine Bearbeitung zu versuchen. Ich hatte, nach einer Wallung meines Herzens, das sich wieder einmal täuschte, meine Menschenkenntniß bereichert.

Aber ein Jahr lang kann die Baronin den Gedanken nicht los werden, ich, gerade ich müßte es sein, der das Ganze für 100 Thaler kauft und nach Be-495lieben als „Eigenthum“ benutzt. „Ich gebe Ihnen einen Schein, welcher Ihnen volles Recht gibt, die Stoffe zu bearbeiten und anzuwenden, wie Sie wollen.“ Ueber die Hülfe, die ich ihr nach Tilsit geschickt, schrieb sie unterm 12. Dec. 1853: „Um sich für diese mir gütig geliehene Summe bezahlt zu machen, bitte ich, daß Sie sich irgendeinen Stoff herausnehmen zu einer Novelle u. s. w.“ Ein Geschenk wollte sie - jahrelang wiederholt - nicht empfangen haben, sondern nur ein Darlehen. Sie überließ mir die freie Auswahl.

Ich könnte hier abbrechen. Ich könnte meiner Gegnerin erwidern: Da ist das Geheimniß gelüftet! Das Gewinnen von Quellen schändet keinen Romandichter. Jeremias Gotthelf hatte einen Knecht, der statt seiner in die Wirthshäuser ging und den Bauern ihre neuesten Händel abfragte. Von Berthold Auerbach ist bekannt, daß ihm anfangs seine Landsleute gram waren, weil sie sich und ihre Privathändel in seinen Geschichten wiedererkennen wollten. Goethe hat im „Wilhelm Meister“ nie gesagt, wem die Bekenntnisse der schönen Seele gehören. Ein Dichter gibt Gehörtes, Gelesenes in seiner Weise wieder; das ist sein Amt und sein Wesen. Wenn mir jetzt oft gesagt wird: „Wo haben Sie die katholischen Sachen in Ihrem «Zauberer von Rom» her?“ so darf ich aufrichtig erwidern: Ich verdanke sie dem Studium, meinen Reiseeindrücken, aber auch vielen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen von Freunden und Freundinnen. Manche haben einen förmlichen Eifer gehabt, mich unterrichten zu wollen. Jede treue, redliche Seele hat im Gegentheil in solchem Falle bei der Lectüre ihre Freude, wenn sie sagen kann: Das hat er von mir! Ich könnte also ruhig erwidern: Ich habe, wie ein Philolog fremde Vergleichungen alter Handschriften kauft, ebenso es der Frau bezahlt, daß ich z. B. das Streckbett Paula’s nach Würzburg verlegte! - - Aber ich will nicht. Mein Recht ist zwei Jahre älter als ihr Manuscript.

Die Wahnvorstellung der Frau, ich müßte ihr Manuscript als Ideenmagazin kaufen, hörte nicht auf. Am 27. Jan 1855 schrieb sie: „Wollen Sie nicht, so vermitteln Sie mich mit Alexander Dumas!“ Sie bietet mir einen Antheil „für meinen Zeitverlust“.

Da ich dies merkwürdige Talent einer Frau, heute bis zur Verzweiflung mit dem Leben fertig zu sein und morgen mit einer bewundernswürdigen Lebenszähigkeit wieder aufzuschnellen, immer mehr durchschaute und die hohen und höchsten Herrschaften in Berlin, Dresden, Wien bemitleidete, die der steten „Erinnerung an die nymphenburger Gespielin“ ausgesetzt waren, so hatte ich das Verhältniß in einem Grade überdrüssig bekommen, daß ich den ganzen Ankauf, jede andere Operation ablehnte und das mir lästig gewordene Manuscript zurückschickte.

Die Dame ging nach Wien und fing selbst zu schriftstellern an. Ich durfte annehmen, daß sie die Motive ihrer Biographie längst selbst benutzt hat. Sie schrieb für die Feuilletons wiener Volksblätter, sie versandte Stücke, sie war über alles au fait, was auf dem literarischen Markte vorging.

Inzwischen redigirte ich meinen Roman. Im Bewußtsein der höchsten Anstrengung meiner Kräfte, die er mich gekostet hat und noch kostet, ließ ich mich durch keine Besorgniß irre machen, daß mir vielleicht in einem Werke von 3000 engen Druckseiten irgendeine Reminiscenz wie an vieles, was sich in unserer Erinnerung aufspeichert, so auch an das Leben jener Frau beschleichen könnte. Meine orthopädische Anstalt strich ich nicht aus. Ich hatte, kann ich wohl sagen, meinen Fanatismus dabei. Ich schrieb ihr noch vor kurzem: „Geben Sie, wenn Ihre Biographie jetzt nichts aus meinem Roman abschreibt, das, was Sie vom Dr. *** und seinem Wirken am Streckbett erzählen, heraus, es wird vollkommen original und selbständig neben meiner kleinen und kurzen Erwähnung einer solchen Anstalt bestehen!“ Daß ich dabei statistisch auf die Lectüre ihres Lebens hinwies, und wirklich den König Max Bd. I, S. 359 erwähnte, war, glaubt’ ich annehmen zu dürfen, das Minimum der „Benutzung“, um die sie mich nach obiger Autorisation gebeten hatte. Ich entnahm meinem Gedächtniß vier Zeilen, wo ich nach obiger Taxation 2-300 ihrer geschriebenen Seiten hätte herausnehmen und bearbeiten dürfen.

Unterm 29. November v. J. schrieb, nach langem Aufhören des Briefwechsels, ein Jahr nach Erscheinen der angeschuldigten Stellen, die Baronin aus Wien, ich sollte ihr von der Schillerstiftung dreihundert Thaler und eine lebenslängliche Pension erwirken.

Sie schilderte ihre Lage wie gewöhnlich. Trotz der Pensionen, die sie bezieht, Elend über Elend: in jener bekannten Weise, die dem Theater angehört. Ihre Hoffnungen auf einen Adoptivsohn, der in Hamburg hätte die Bühne betreten wollen, und am Abend gerade vor Beginn der Vorstellung die Stimme verlor, sind gescheitert. Sie wollte der Schillerstiftung eine Anzahl Schauspiele zum Versatz geben und so viel Stücke schreiben, daß die Schillerstiftung sich könnte bezahlt machen.

Es that mir leid, ihr erwidern zu müssen, daß ich diesen Vorschlägen keinen Erfolg verbürgen könnte und sie bitten müßte, sich mit der Darstellung ihrer Lebenslage an das Filial der Schillerstiftung in Wien zu wenden.

Nach einiger Zeit schrieb sie, sie hätte nur 30 Gulden bekommen können, erging sich in den heftigsten Schmähungen gegen eine Stiftung, in der sie sich vollkommen getäuscht hätte, die einem Manne - („Ludwig Otto“, schrieb sie) - einen Vorzug vor ihr gäbe - vor einer Frau, die unglücklich wäre - Nun wünschte sie ein Exemplar meines „Zauberer von Rom“ zu haben.

Ich erwiderte ihr, das Uebersenden von sechs Bänden nach Oesterreich wäre sehr umständlich, sie sollte sich das Buch in Wien zu verschaffen suchen. Ihre Lectüre desselben würde mir um so mehr Freude 496 machen, als sie im ersten Bande einer Lokalität begegnen würde, die sie auch in ihrer Biographie berührt hätte, der orthopädischen Anstalt in Würzburg.

Kaum ist dieser Brief bei ihr eingetroffen, so schreibt sie: Ein Schriftsteller, den sie Müller nannte, hätte sie auf Aehnlichkeiten meines Romans mit ihrer Lebensgeschichte aufmerksam gemacht, sie hätte nun zwei Bände gelesen und müsse im zweiten Bande allerdings nichts, aber im ersten die Heilanstalt, den Somnambulismus Paula’s und die Erwähnung, daß bei der Priesterweihe ein Kind die geistliche Braut darstelle, als ihr angehörend bezeichnen. Herr Müller würde gewiß sehr scharf verfahren, denn ich „müßte ihn wol einmal beleidigt haben“. Sie führt mir zu Gemüthe, daß ich wol einsähe, wie sie nun ihre Biographie interessant machen und im Preise steigern könnte. Indeß schließt sie: „Wenn Sie sich passend mit mir abfinden, will ich Ihnen schriftlich geben, daß Sie zur Benutzung dieser Ideen berechtigt waren.“

Ich hätte von ihrem Standpunkt erwidern können, sie vergäße ihre Autorisation vom 12. December 1853; diese kleinen Citate wären eben das, was ich benutzt hätte. Doch blieb ich bei meinem Recht. Ich erwiderte mit allem, was ich im Obigen entwickelt habe und schloß, daß, wenn Herr Müller nichts aus meinem Roman in ihre Biographie hineinschriebe, ich seinen Angriff ruhig abwarten könnte. Ich mochte noch nicht offen heraussagen, daß, wenn mein erster Band, der Lucindens Leben erzählt, in seiner Scenenabwechselung und Abenteuerlichkeit ihrem Leben ähnelte, dies allerdings die Aehnlichkeit aller - Aventurier-Romane wäre - -

Vierzehn Tage vergingen, da erscheint in einer hamburger Zeitung eine offene Anklage auf „Plagiat“ mit Benutzung und Entstellung meiner an die Frau gerichteten Briefe. Der Artikel war überschrieben: „Ein Skandälchen“.

Als Vermittler desselben meldete sich ein Herr von *, der die Anklage wiederholte und von mir folgende Antwort erhielt: „Ew. Hochwohlgeboren müssen wahrscheinlich die bereits gefälschte Biographie der Baronin von Gravenreuth, geborene Gräfin Hirschberg, gelesen haben, wenn Sie von einer «ungeheuern Aehnlichkeit» derselben mit dem «Zauberer von Rom» sprechen. Ist es die alte Biographie, die ich vor sieben Jahren las, wie ich Hunderte von Manuscripten lese, gelesen habe und lesen werde, so kann das Urtheil nur lauten: Mein erster Band - ja, der schildert das Leben einer Abenteurerin! Scene folgt auf Scene auch da! Gerade wie im Leben aller Gilblas, auch der weiblichen! Es können noch hundert Lebensläufe à la Baronin von Gravenreuth geführt und beschrieben werden, und sie werden sämmtlich, ich sage sämmtlich, mit dem Lebenslauf meiner Lucinde eine «ungeheure Aehnlichkeit» haben. Daß ich nach hundert völlig original von mir erfundenen Abenteuern zuletzt auch im ersten Band eine orthopädische Heilanstalt eintreten lasse, ist der Anhalt meiner Verleumderin. Vor zwei Jahren schickte mir Herr Baron von L. in Dessau eine «Diakonissin». Glücklicherweise hatte ich drei Jahre früher selbst eine Diakonissenanstalt gesehen und beschrieben. Glauben Sie, daß ein Mann, der alle Tage Manuscripte lesen muß, seine Ideen aufgibt, wenn er sie in diesen wiederfindet? Was ich vom Streckbett schon seit 1835 und von einem dadurch geprüften Kindesseelenleben immer und immer mir zu schildern vorgenommen hatte, hat nichts mit Situationen gemein, wo - - - - (Ich lasse diese Stellen weg). Ich war so harmlos in meinem Rechte, daß ich voraussetzte, der Baronin würde eine ausdrückliche kleine statistische Notiz über König Max, die ich ihr allerdings verdanke, Freude machen! Ihre Erlebnisse in dieser Lage bleiben ihr ja völlig unbenommen. Unter den vielen geschilderten Kindern, die sich mit der Baronin auf dem Streckbette befanden, soll auch eins Gräfin Ida Seefeldt heißen? Meine Paula heißt nicht so. Die Freiin Therese von Seefelden, die bei mir vorkommt, ist eine Nonne. Ich habe in fünfundzwanzigjähriger Autorthätigkeit wol schon 500 Namen erfinden müssen. Kommt da einmal auch eine Freiin von Seefelden - «Seeburg» braucht’ ich selbst schon in meinem «Weißen Blatt» - was will das sagen! «Hüftleiden» schmunzelt der geheimthuende Verleumder? Als wenn eine aufs Streckbett gegebene ganz Verwachsene fähig wäre einer Entwickelung, wie ich sie Paula in neun Bänden gebe, in Situationen gebe, für die sich im Leben der Frau von Gravenreuth auch nicht eine Spur des Vorbildes findet. «Priesterliebe?» - Wo ist davon bei der Baronin die Rede? Der Magnetismus wäre entlehnt? Glauben Sie, daß meine Paula entstanden ist aus der Kenntniß des Somnambulismus, die ich erst der Frau von Gravenreuth verdankte? Abgenutzt ist leider dies Romanmotiv an sich und neue Begeisterung dafür konnte mir wahrlich eine Person nicht einflößen, die für ihr Schlafreden - (Folgt das oben Erzählte). Ein «Gespräch» sogar über «Magnetismus» hätt’ ich dieser im Dialog und Raisonnement so ungebildeten Biographie entlehnt? Lüge!“

Als ich der Frau von Gravenreuth anzeigte, daß ich mich in meinem Vertrauen auf ihre „gesunde Vernunft“ getäuscht hätte, und nun in meiner Erwiderung die Lebenssituationen erzählen müßte, für deren Reproduction sie mich vor dem Publikum Deutschlands verantwortlich machte, drohte sie zwar mit allen Mächten der Erde, vorzugsweise mit dem König von Baiern, schloß aber doch, auf die Geldspeculation zurückkommend: „Finden Sie, daß eine Ausgleichung besser sei, so schicken Sie mir eine telegraphische Depesche!“

Ich glaube, jeder Unbefangene stimmt in meinen Ausdruck der tiefsten - Verachtung ein.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J [Karl] Gutzkow, Dresden im April 1860: Die Baronin von Gravenreuth, geb. Gräfin Hirschberg, und mein "Plagiat" an ihrer Lebensbeschreibung. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. N.F. Bd. 5, Nr. 31, [28. April] 1860, S. 492-496. (Rasch 3.60.04.28)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.