Rückblicke auf mein Leben.#

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Herausgeber
  1. Peter Hasubek
  2. Gert Vonhoff
Fassung
2.0: TEI Transfer, formale Anpassungen
Letzte Bearbeitung
15.06.2021
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7 Rückblicke auf mein Leben.#

I.#

Montaigne hat gesagt: Mon mêtier c’est vivre.

Der scharfsinnige Franzose wird in der Hauptsache unter seinem „Leben als Lebenskunst“ kaum etwas Andres verstanden haben, als was Terenz eine seiner dramatischen Personen sagen läßt: Homo sum, nil humani a me alienum puto.

8 Dieser offenen Ehrlichkeit, die weiland Sitte gewesen, als man noch für die Männer allein, nicht für die Frauen Literatur machte, verdanken wir die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, die Bekenntnisse Jean Jacques Rousseaus, die Denkwürdigkeiten Alfieris und selbst die von Goethe übersetzten Plaudereien des Benvenuto Cellini. Denn wenn auch der letztere, der gewiß eitel war, wie nur ein Italiener eitel gewesen sein konnte, bei seinen Prahlereien überall die Miene annimmt, als wollte er sagen: Gott schuf die Welt und dann vorzugsweise für dieselbe den Erzähler, um die größte Offenbarung der Jahrhunderte, seinen (höchstmittelmäßigen) florentinischen Perseus, zu erschaffen, so fällt er doch zuweilen in solchem Grade aus der Rolle der Selbstbiographie neuesten Datums mit Choral und Glockengeläut, daß er Wendungen von sich braucht, die etwa auf ein: „Hier war ich wieder einmal Esel genug –!“ hinauskommen dürften. Der vielgerühmte neueste Selbstbiograph, der badische und Reichstagsdeputirte „Waldfried“ würde sich in seinem Nimbus absoluter „Reinheit“ und wieder nur der „Reinheit“ anders ausgedrückt haben. Etwa: „Mein argloses Herz war wieder einmal bethört genug, sich täuschen zu lassen“.

Mit Glockengeläut und Choral kann Referent von seinem Leben nicht sprechen. Er lügt sich nicht den Ruhm an, als wäre er mit einem feierlichen, fertigen, in seiner letzten Lebensstunde bis auf den richtigen Schlußparagraphen gelösten Programm auf die Welt gekommen. Er ist nie vor sich selbst auf die Kniee gesunken und hat den Gott in seinem Busen als ein ihm persönlich höchst Merkwürdiges angebetet. Höchstens einmal im Zorn konnte er mit Emphase von seinem Wollen oder Wirken sprechen. Redliche Absichten, hohe Ziele hat es gewiß auch für ihn gegeben. Aber mit in den Kauf gingen Unüberlegtheiten, unbewußte Instincthandlungen, Zuckungen und Reflexhandlungen, wie wir deren nur im Traume zu machen pflegen. Und „das Leben ist ein Traum!“ Wer fühlt es nicht in seinen sechziger Jahren! Und wie oft war es ein böser Traum! Böse, wie ein Alp drückend, und drückend durch unsere Schuld! Wenigstens unter Schriftstellern oder Künstlern suche man doch nicht vollkommene Menschen! Selbst Goethe fühlte die Unmöglichkeit, immer von sich mit Choral zu sprechen. Er schob bei seiner Selbstbiographie der „Wahrheit“, die sein Gewissen drückte, die „Dichtung“ unter. Vollkommne Menschen können nur die Männer gewerbmäßiger Berufsart, die hohen politischen Streber des Tages, die Geheimen Ober-Regierungsräthe, die Besitzer einer Brust voll Orden sein, die Börsenmillionäre, alle, die in der Welt nicht rechts, nicht links gesehen haben, sondern immer nur schnurstracks losgingen auf ein und dasselbe Ziel.

Wenn ich nun der auch an mich ergangenen Aufforderung folge und dem Herrn Herausgeber dieser Zeitschrift, ohne viel Rancüne über einige früher auch mir zu Gute gekommene „Rücksichtslosigkeiten“ seiner ironischen Feder, einige Beiträge zur zeitgenössischen Literatur-Selbstschau (Vollständigkeit gestattet ja der Raum nicht) gebe, so geschieht es vorzugsweise in Berücksichtigung des schönen Morgens, wo demnächst oder dereinst, kurz früher oder später, ein gewissenhafter Zeitungsredacteur zu dem Bücherbord hinauflangt, das über seinem Schreibtisch allerlei lexicographisches Material zum Nachschlagen und Citiren für seine vortreffliche Zeitung enthält. Auf ein ihm als Neuestes begegnendes „Gestern starb“ – wird er von einem Conversationslexikon den Buchstaben G oder wohl gar Gustav Kühnes „Männer der Zeit hervorsuchen und daraus ein zeitgemäßes Excerpt für sein reichhaltiges Feuilleton zusammenstellen. Aber wie trocken sind doch da die Büchertitel neben einander aufgezählt! Wie unwahr ist so vieles, was sich, mit der unerschütterlichen Sicherheit eines Lehrers der Literaturgeschichte für höhere Töchterschulen, als ganz besonders charakterisirendes Kennzeichen, ankündigt! Wie unvermittelt stehen die Notizen neben einander! Der wahre Mensch, der noch unverleumundete, das gesunde Fleisch, eben Montaignes Mêtier oder Mestier, wie Rabelais’ jüngerer Zeitgenosse noch schrieb, das Leben zu dem todten Gerippe von Namen und Jahreszahlen ist nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen. Das junge Deutschland wollte nicht blos leben“ heißt es z. B. bei Gustav Kühne in seinem beliebten Nekrologslieferanten, den eben citirten „Männern der Zeit“, „sondern auch gut leben“. Du edler, großherziger Kamerad, der du dich nicht nur selbst zum „Jungen Deutschland“ rechnetest, sondern auch mehr zu ihm gehörtest, als jetzt in der Allgemeinen Zeitung sogar Berthold Auerbach in seinen Anfängen zum „Jungen Deutschland“ gerechnet wird, wie ist doch die Wahrheit gerade an dieser Stelle, wo deine Verurtheilung auf Genußsucht steht, eine so ganz andere, geradezu entgegengesetzte! Greifen wir doch gleich in das volle „Leben“ hinein und geben ein Beispiel, wie etwa ich meine Rückblicke, wenn die Ausführlichkeit gestattet wäre, schreiben möchte! Da würde sogleich zu lesen stehen: „Es war im Jahre 1837 und im wunderschönen Monat Mai. Ich wollte grade meinen Erstgebornen taufen lassen. Aber in solchem Grade hatten damals die preußischen Verbote meiner Bücher, der erschienenen und der erst künftig erscheinenden (!), die Verwerthung meiner Feder gehemmt, daß ich im Augenblick nicht einmal die Mittel besaß, nach dem feierlichen Acte – die Taufgäste eine Stunde im traulichen Kreise festzuhalten! Der „Gutleber“ Gustav Kühnes, der Quelle meines Nekrologs, stand 1837 in Frankfurt am Main des Morgens um 5 Uhr auf und dictirte bis 7 Uhr ein Buch, das sich bei so systematischer, von Herrn von Nagler in Frankfurt (siehe den inepten Briefwechsel des Bundestagsgesandten mit seinem Secretär Kelchner!) geleiteter Verfolgung als Uebersetzung aus dem Englischen des Bulwer ankündigte. Um 8 Uhr mußte der „Gutleber“ in einer Druckerei erscheinen, die eine lediglich aus seiner Tasche bezahlte, nicht den achtzigsten Theil der Kosten deckende „Frankfurter Börsenzeitung“ herstellen sollte und dabei nur Lehrjungen zu verwenden hatte, die in jedem Worte drei Buchstabenfehler machten, sodaß der Redacteur zugleich ein wahrer Sklave im Correctordienste war. Bis drei Uhr sollte täglich die aus schaudervollsten Bürstenabzügen sich bis dahin einigermaßen gutenbergswürdig gestaltende Nummer fertig sein. Der Abend gehörte dann dem Beiblatt „Telegraph“, als welcher sich später, wo die Börsenzeitung eingegangen war, in Gestalt eines selbstständigen belletristischen Blattes erhalten hat, aber ebenso zwei Jahre lang nur durch die Mittel erhalten wurde, die sich der Redacteur auch hier wieder am Munde abdarben mußte. Kaum deckte der Absatz die Hälfte der materiellen Herstellung. Auf die besondere Versendung dieses Beiblattes an die Buchhändler und auf die Hoffnung einiger Einnahmen durch die Ostermesse bauend, appellirte der „Gutleber“ an den frankfurter Buchhändler Streng, der für 50% die Commission übernommen hatte, und bat diesen um einen Vorschuß – zum „Gutleben“ bei der Taufe! Nicht ohne Stirnrunzeln gab der geldliebende Mann die erbetenen 50 Gulden, gab sie aber sämmtlich in Rollen von Sechskreuzerstücken. Der Empfänger, der seine Hülfe von der altberühmten „Buchgasse“ auf den „Wall“ nach Hause trug, kam sich gedemüthigt wie Correggio vor, als dieser seinen Ehrensold in Kupfermünze empfangen hatte und unter der Last des Sackes, den ihn ein boshafter Käufer nach Hause zu tragen zwang, zusammenbrach. Doch Kühne sagt: „Das junge Deutschland wollte nicht blos leben, sondern auch gut leben“ –! und Kühne ist ein ehrenwerther Mann.“ Diese vielleicht etwas zu „intim“ ausgefallene Anekdote hat für unsern Zweck das Gute, daß sie für meine Widersacher gleich von vornherein constatirt, ich sei allerdings zuerst nichts als Journalist gewesen.

Meine Herkunft, mein Schulleben, meinen Bildungsgang habe ich schon in meinem Buche: „Aus der Knabenzeit“ erzählt. Ueberarbeitet und fortgeführt bis zum achtzehnten Jahre findet es sich in meinen „Gesammelten Werken“ (Costenoble’sche Ausgabe) Band I. Dann stehen Erinnerungen an die berliner Universitätszeit von 1829 – 1831 in dem Aufsatz: „Das Kastanienwäldchen in Berlin“ („Lebensbilder“ [Stuttgart, 9 Hallberger] Band II). Ursprünglich Theolog, Philolog, wurde ich noch 1832 in Heidelberg Jurist. Nicht aus gedankenlosem Umsatteln oder innerer Haltlosigkeit, sondern mit dem festen von frühster Kindheit angestrebten Ziele: Vervollkommne dich nach Kräften! Und die Jünglingszeit machte noch die besondere Devise daraus: Uebe dich so viel du kannst in Führung der neuzeitlichen Waffen! Der Constitutionalismus hatte grade im Lande Baden seine festesten Wurzeln geschlagen. Schon ging der eigentliche Drang meines Gemüths über die Schranken der Schule und Disciplinen hinaus. Es war die Zeit und das noch ungelichtete Chaos ihrer Forderungen, es war das mächtige Wehen und Rauschen in den neuen Luftströmungen, es war das deutlich vernehmbare Läuten einer zur Zeit noch unsichtbaren neuen Kirche des freien Geistes, das die Jünglingsseele fast nur noch allein erfüllte. Wie sich eine sanguinisch-cholerische Natur, die ich indessen nicht war, zum Allgemeinen aufschwingen, wie sie am Leben der Zeit, am Leben einer Nation ihre heißeste Sehnsucht, sich als Bürger und Denker zu bewähren, zu befriedigen vermag, das ersah ich recht nach den frühern, anders gestalteten Burschenschaftsschwärmereien in den Juni- und Julitagen des denkwürdigen Jahres 1830. Der vor kurzem verstorbene St. Marc Girardin, damals ein junger Professor vom pariser Collège Louis le Grand, der Vorstufe zur Sorbonne, war in Berlin durch einen Zufall mein Schüler im Deutschlernen geworden. Der junge Gelehrte sollte die Schuleinrichtungen des preußischen Staates studieren. Doch lebte der heißblütige Franzose nur für sein ihm täglich geschicktes Journal des Débats, dessen Mitarbeiter er bis in die Thiers’schen Tage von Versailles geblieben ist. Ob damals Fürst Polignac bestimmt war, gestürzt zu werden, ob die imposante liberale Minorität der 221 wenn nicht in der pariser Kammer, doch in der öffentlichen Meinung Frankreichs den Sieg davontrug, ob es zur Auflösung der Legislative kam, das allein waren die täglichen Fragen, denen sich der junge französische Publicist hingab und die im komischsten Contraste standen zu unserer Lectüre des Kotzebue’schen „Vielouissêer („Vielwisser“), den der ältere Schüler als Grundlage unserer Conversationen im Hotel de Rome „Unter den Linden“ dem Vorschlage des jüngern Lehrers, Schiller oder Goethe zu wählen, vorzog. Wunder nimmt mich, daß das von mir in etwa 20 Stunden erlernte Deutsch nicht beim Friedensschluß von Frankfurt am Main verwerthet worden ist! Denn früher als Doctrinär der heftigste Gegner von Thiers, hatte sich St. Marc Girardin in den neuesten Unglückstagen Frankreichs mit dem Präsidenten der Republik, dem Wahrer der gesetzlichen Ordnung und Beschicker des frankfurter Congresses, versöhnt.

Die Ordonnanzen waren erschienen, die Kammern wurden aufgelöst, doch siegten die 221 durch eine Erhebung des französischen Volkes, die vielleicht Louis Philippe vorbereitet, vielleicht bezahlt hat, vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatten die Bourbons aufgehört zu regieren. Die Julirevolution erschütterte den Continent. Nur in Berlin blieb alles ruhig. Hatte man doch in Preußen das beste aller politischen Systeme, die privilegirte Intelligenz, die Büreaukratie, Hegel und seine Schule, am vorhaltendsten gegen die Demagogie jedenfalls die Vermehrung der Gensdarmen und das schnellste Unschädlichmachen jedes Menschenkindes, das sich, wenn auch nur gelegentlich und hätte es sich nur um die Gesundheit desselben gehandelt, in auffallender Weise auf dem öftern Wiederholen des Wortes „Constitution“ ertappen ließ. Grade in den ersten Tagen des August, als der Flügeltelegraph auf dem Akademiegebäude, meiner Geburtsstätte, unablässig „die Hände über dem Kopf zusammenschlug“, wie die Berliner von den hölzernen, sich in der Luft verschränkenden Armen der ersten Vermittelungsform von Telegrammen zu sagen pflegten, da sie eine Schreckensnachricht nach der andern aus Paris zu verkündigen hatten, gewann der junge Student zwar eine goldne Medaille, 25 Ducaten an Werth, für die Lösung einer akademischen Preisaufgabe über die Schicksalsgottheiten der Alten, aber es war dies eine vergebliche Lockung zu einem Leben zurück, das sich auf Examina begründen mußte. Nur noch auf die anbrechende große Zeit war sein Sinnen gerichtet. Immer unregelmäßiger wurden die Collegia, die er „belegt“ hatte, besucht. Bücher, Zeitschriften ersetzten das ermattende Studium. Ging auch noch das letztere auf eine Oberlehrerstelle, die in der That im Jahre 1833 ambirt wurde (auf dem Actentisch des Schulraths Otto Schulz, gewöhnlich Lynkeus genannt, weil der treffliche Grammatiker nur ein Auge hatte, müssen sich lange die schriftlichen Prüfungsarbeiten des Schulamtscandidaten G. umgetrieben haben), aber als schon „Maha Guru, Geschichte eines Gottes“, von dem Zweiundzwanzigjährigen, und sogar beim Schiller-Goethe-Verleger Cotta, erschienen war, da bestellte Examinandus seine Meldung zur mündlichen Prüfung ab. Schon zum zweitenmale hatte ihn Wolfgang Menzel, über dessen Bedeutung für seinen Bildungsgang in seinen „Gesammelten Werken“ Band I. S. 243 das Nähere zu lesen, von Berlin abberufen, um den gefürchteten stuttgarter Kritiker bei seinem „Literaturblatt“ zu unterstützen. Der bekannte Goetheverächter war für die Stadt Bahlingen in Schwaben in die württembergische Kammer gewählt worden.

Es stehen von Wolfgang Menzel Memoiren zu erwarten. Bis diese erschienen sind, lege ich mir über diese Verbindung mit dem wissensreichen, aber dämonischen Manne Schweigen auf. Nur so viel sei schon gesagt, daß hingegebener, treuer, bewunderungerfüllter kein junger Schriftsteller sich je einem ältern angeschlossen und untergeordnet hat, als ich mich Menzeln. Vollkommen war ich jener junge Schüler des ersten Theils vom „Faust“, der zum Mephisto, der zur Abwechselung einmal den Doctortalar angezogen hatte, gewallfahrtet kam in heiliger Scheu, auch Scheu vor Stuttgarts classischem Boden. Jetzt haben wir in solchen Fällen erster Entwicklung schriftstellerisch aufkeimender Triebe nur noch die Schüler vom zweiten Theil des „Faust“, wo diejenigen, denen sie ihre unreifen Producte erst mit der Widmung: „der Schüler dem Meister“ verehrt haben, nur zu bald, ihrer Untreue, Undankbarkeit, Arroganz wegen, ihrem Abfall mit Goethe nachrufen möchten: „Fahr hin, Originalgenie, in deiner Pracht!“ Daß ich das Dienen bei Menzel, das Lesen und Recensiren der ihm zugesandten Bücherstöße, das Ansammeln aller Unpopularität, die Menzel als Goetheverächter und rücksichtsloser Verurtheiler der damaligen Modebelletristik, vorzugsweise in Norddeutschland, genoß, auch auf mein jugendliches Anfängerhaupt, kurz ein höchst mißlich und mir Decennien lang hinderlich gewesenes erstes literarisches Tirocinium von selbst unterbrochen hätte, daran wäre in meinem Herzen nie ein Gedanke aufgestiegen. Die Aufforderung, mich von Menzel zu befreien, kam von mancher Seite. Sie kam von Hegel, der mir persönlich eines Tages sagte: „Wie kann man sich einem solchen Manne anschließen!“ Sie kam von keiner Stelle so lebhaft, als aus jenen Kreisen Leipzigs, in deren alte belletristische Hofrathsluft damals Heinrich Laube die resolute Frische eines breslauer Studenten eingeführt hatte. Durchaus wollte man in Leipzig doch auch Heinrich Heine, Goethe, die alten Götter Griechenlands neben der Turnerei beibehalten. Laube war Burschenschafter gewesen und hatte noch später dafür vom Geist der alten carlsbader Beschlüsse zu leiden. Aber sein Wesen war nicht Menzelisch altdeutsch, sondern eher slavisch. Wohlgefallen fand er nicht am entblößten Halse mit aufgeschlagenem Hemdkragen, sondern an der polnischen Kurtka mit hängenden Schnüren und Troddeln und rüstete sich schon früh, eine neue Nationaltracht zu erfinden, geniale Mützen und Ueberwürfe, die lange in Leipzig seinen Namen getragen haben! Der Correspondenz, die sich zwischen den jungen Neuerern entsponnen hatte, sah der grimme Hagen, der Alleinherrscher auf dem Gebiet der Kritik, von seinem Hause in Stuttgart, in dessen Garten ich mit ihm herbstlich Nüsse und Aepfel brach, düster zu, murrte und schalt nicht wenig über die „Zeitung für die elegante Welt“, dies der sächsischen Hof-10rathsbelletristik abgewonnene Laube’sche Terrain. In jeder Woche brachte diese Zeitschrift einen im Wesentlichen unreifen, im Stil desultorischen Artikel, der aber ein Thema des Tages mit anziehender Frische und Natürlichkeit behandelte. War ich von diesen Manifesten auch nur halb gewonnen, konnte ich meinen Pedantismus, der unter anderm gründlichere Kenntnisse wollte, mein Verlangen nach überzeugenden Motiven nicht verleugnen, konnte ich die schneidige Art, wie Unreifes, Unmotivirtes, Willkürliches festgehalten, durchgeführt, ja sozusagen commandirt wurde, nur erschreckend finden, so trat doch immer mehr persönliche Berührung, ja Freundschaft zwischen den jungen Tageshelden ein. Im Sommer und Herbst 1833 las ich Heinrich Laubes „Junges Europa“ in Gegenwart des Verfassers auf den Wellen des schönen Gardasee, ärgerte mich, daß einer der Helden des Buches (Prototyp späterer Freytag’scher Matadore) durchweg „Hyppolit“ gedruckt war, aber die Beziehung zu Menzel wurde doch lockrer und lockrer. Im Winter des Jahres 1833 schickte ich meinem Herrn und Meister seine Recensenda unerledigt zurück. Was war geschehen? Ich hatte zu zwei Bändchen „Novellen“ (bei Hoffmann und Campe erschienen) eine Vorrede geschrieben, worin ich scherzhaft den Gedanken ausführte, daß jeder Schriftsteller, während er schrieb, an eine bestimmte Persönlichkeit dächte. „Der junge Poet dichtet einige Jahre hindurch nur für seine Geliebte oder er denkt nur an den Nelkenstock seiner Mutter. Er besingt bis in sein dreißigstes Jahr die Wiese, wo vor seinem Dörfchen die Wäsche getrocknet wird. Dann wagt er sich weiter. Gesteht es nur alle, die Ihr je eine deutsche Gansfeder angesetzt habt, Ihr Goethe, Schiller, Theodor Hell, Borromäus von Miltitz, Ihr dachtet bei Euren unsterblichen Werken zunächst an Euren Vater oder Onkel, an Eure Freunde oder Euren Pudel! Fürst Pückler schreibt für einige Leute in Berlin, die er durch seinen Geist ärgern will“ u. s. f. Und in dieser Auslassung, in deren Manier der pariskundige Herausgeber der „Gegenwart“ sofort den Einfluß des damals bewunderten Jules Janin erkennen wird, kam zuletzt vor: „Wolfgang Menzel schreibt keine Zeile, ohne zu denken, was wohl Paulus in Heidelberg dazu sagen würde“. Ach! Schon bei Uebersendung dieser „Novellen“ bat ich meinen Freund und Meister um Vergebung für diese unbedachte Plauderei, der jedoch vielleicht das Erkennen einer Schwäche desselben (Nachwirkung persönlicher Verstimmungen auf sein Urtheil) zum Grunde lag. Doch erhielt ich von ihm brieflich eine so heftige, kränkende Abstrafung, daß ich die Verbindung lösen mußte. Als ich hierauf selbst ein Literaturblatt (zum „Phönix“ in Frankfurt am Main) herausgab, da hatte ich an dem Manne nur noch einen unversöhnlichen Feind. Um die Blöße, die ich mir im Herbst 1834, in völliger Unklarheit über die Tragweite des gedruckten Buchstabens, mit meinem Buche „Wally, die Zweiflerin“ (Band IV. meiner „Gesammelten Werke“) gegeben, denuncirte er mich an die Bücherpolizei. Nicht äußere Persönlichkeiten sind es, die ich hier erzähle, sondern das Persönliche wurde ja Wendepunkt, Hebel oder Angel neuer Entwicklungen so für andre, wie für mich.

22 II.#

In meinem Schaffen, um mich endlich der Emphase auch über den eignen Genius, dem Prospectus- und Buchhändleranzeigen-Stil zu nähern, gab es einen Scheideweg, über welchen ich in den literargeschichtlichen Compendien, in den lobenden, wie in den tadelnden, über mich nichts finde. Es läßt sich zum Glück davon erzählen, ohne in Choral zu verfallen oder mit sich selbst besonders schön zu thun. Wenn wir Heinrich Laube einen Goethe nennen wollen, so war jedenfalls ein gewisser Gustav Schlesier in frühster Zeit sein Merck. Ich sage: „ein gewisser Gustav Schlesier“. Denn nach seinem Buch: „Oberdeutsche Staaten und Stämme“ und seinen Arbeiten über Wilhelm von Humboldt ist der Mann verschollen; ich weiß kaum, ob der kühne Anläufer zu einem neuen Varnhagen oder gar zum zweiten Friedrich Gentz noch unter den Lebenden weilt. Heinrich Laube besaß von je die Kunst, im 23 Kreise seines nächsten persönlichen Wirkens enthusiastische Freunde zu gewinnen. Wer je mit ihm eine Cigarre geraucht oder an der Table d’hôte des Hôtel de Bavière in Leipzig hinterm Ofenschirm seinen maßgebenden Orakelsprüchen gelauscht hatte, ging für ihn durch’s Feuer. Es war der Zauber der Anlehnung an die sicherste Beherrschung des Lebens. Wer möchte sich nicht gern im Gedräng und unter den Stürmen des Geschicks am Saume eines Mantels halten, den er kräftig angezogen weiß! Robert Hellers Begeisterung für seinen Freund Laube war antik und kam unmittelbar hinter Orest und Pylades. Ja, ich gestehe, Hellers Schwärmerei für Laube hat mir als Modell gesessen für die Liebe meines Thiebold de Jonge zu Benno im „Zauberer von Rom“. Gustav Schlesier, ein geistvoller kleiner Herr, war das Prototyp des sächsischen Gelehrten. Magister durch und durch verband er mit der Pedanterie Allüren von Eleganz. Leipzig ist ein „Klein Paris und bildet seine Leute“. Im Schlafrock ganz nur Stubengelehrter und pedantisch wie nur Gottsched pedantisch gewesen, war Gustav Schlesier Abends, vielleicht am Theetisch einer schönen liebenswürdigen jungen Wittwe, die sich später sein Freund als Gattin gewann, ganz Petitmaitre. Selbst das zu vorschnell gekommene Bäuchlein des behäbigen jungen Mannes gab ihm das Ansehen eines Abbés der alten Schule. Sein Wissen war bedeutend, doch nicht in solchem Grade, daß damit die Sicherheit seiner Urtheilabgabe hätte für entschuldigt gelten können. Ein aus Dresden Gekommener war er jedenfalls in Kunstanschauungen und unter guten Theatereindrücken aufgewachsen.

Ohne Zweifel gesteht Heinrich Laube zu, daß ihm Gustav Schlesier in vielen Dingen die Directive gegeben. Nun – dieser scharfsinnige Kopf, der sich indessen trotz seines Scharfsinns ebenso oft von Anfang bis zu Ende zu irren vermochte, wie nur der Positivismus der Kritiker heute etwas behaupten kann, was er morgen, falls es der Ehrgeiz erlaubte, selbst zurücknehmen würde, sagte mir eines Tages, als ich in Leipzig und sogar bei Laube selbst wohnte: „Uebrigens sind Sie in Ihrer Production ganz auf dem Holzwege! Sie ahmen Voltaire und Diderot nach! Voltaire und Diderot haben sich als ästhetische Muster überlebt; Sie brauchen ja nur an Wieland zu denken. Ihr „Maha Guru“ liest sich wie Zadig oder Candide. Herzblut müssen Sie zeigen! Den Charakter der Gegenwart treffen! Sich Ihre Brust aufreißen! Nur „modern“, specifisch „modern“ muß man sein! Die deutsche Literatur darf nur noch den Weg gehen, den allen Literaturen Europas die Baronin Dudevant, Georg Sand, vorgezeichnet hat!“

Sprach’s – und ich gestehe, das Wort schmetterte mich nieder. Weder Zadig noch Candide hatte ich gelesen. Doch kannte ich Wieland. Auf der Schule war ich, wie ich Band I. meiner Gesammelten Werke S. 208 erzählt habe, zur förmlichen Verachtung des Verfassers der „Abderiten“ erzogen worden. Ich fand Wieland langweilig. Aber das ist wahr, Lucian von Samosata hatte ich mit Vorliebe gelesen, Lucian, den griechischen Spötter, das gemeinschaftliche Muster Voltaires, Diderots und Wielands. „Herzblut –?“ Nun wohl! Ich hatte ein mich mächtig fortreißendes „Herzblut“, aber nur, wenn ich von den Ideen der Zeit sprach. Sowie ich das künstlerische, selbstschaffende Gebiet betrat, dämmte ich die Wallungen des Herzens zurück, legte seinem mächtigen Pulsschlage Mäßigung auf, dachte nur an die vorsichtige Arbeit des Malers, des Bildhauers, die ebenso nicht mit dem bloßen Kohlenumriß, nicht mit dem ersten Bearbeiten und Kneten des Thons ihre Schöpfungen für abgeschlossen erklären. Aus Kälte des Gemüths beschränkte ich mich nicht. Es war nur die nachhaltige Scheu vor den Gesetzen der Kunst. Ich haßte allen rohen Naturalismus, besonders in der Erzählungsliteratur des Tages. Bei der tief dem Kritiker innewohnenden Scheu, seinerseits selbst in die Fehler zu verfallen, die er an andern gerügt haben würde, vergaß ich dabei, daß leider nur ein tobsüchtiges Arbeiten, etwa wie die damalige Grabbe’sche Dramenfabrik, sich vor den Deutschen den Schein der Genialität zu geben vermag. Noch jetzt verharren ja Publicum und Kritik bei uns auf dem Standpunkt, nur das Regellose anzustaunen, das ewig fragmentarisch oder genialisirende Grimasse Gebliebene. Doch gestehen muß ich, daß damals Gustav Schlesiers Auslassung meine Vorrede zu Schleiermachers Briefen über die Lucinde und die Wally veranlaßte. Sein Spott hatte mich aus meinem Frieden gerissen. Er hatte es leicht damit. Denn im eigenen Schaffen war ich das „zerstoßne Rohr“ und der „verglimmende Docht“ des Evangeliums. Anerkennung war dem Mitarbeiter des auf dem damaligen Parnaß verhaßten Wolfgang Menzel bei keiner einzigen Instanz zu Theil geworden. Meine Arbeiten erster Periode, mein „Sadducäer von Amsterdam“, der, wie ich höre, von Vielen, die mich sonst nicht mögen, meinen spätern Arbeiten vorgezogen wird, „Nero“, „Maha Guru“ waren so gut wie nicht erschienen. Sogar Heinrich Laube, der mir hätte die Stange halten sollen, verspottete mich in seinen „Reisenovellen“ als „Archivar des Königs“; also wohl als eine Art Clavigo, dem nur der rechte, ihm die matadorische Aufwiegelung gebende Carlos fehlte. Aber wo war der größere Werth der Leistungen der Matadore? Konnten selbst die Heine’schen Arbeiten, die damals schwächer und schwächer wurden, mich nicht von Platen oder den bessern schwäbischen Lyrikern abwendig machen, so mußte in mein Gemüth Erbitterung einziehen und meine Stellung die eines Einsiedlers werden. Es entstanden damals unter den jungen Schriftstellern jener Periode die gehässigen Fehden, die in den Literaturgeschichten meist nur mir allein zugeschrieben werden, während sie doch nur die Folge des glücklicher situirten Uebermuths der Andern waren. Allerdings trug mein unverwüstlicher Gerechtigkeitstrieb manche Schuld dieser ewig wechselnden Stellungen, die ich jedoch durch keine Unterordnung unter Varnhagen von Ense oder den Fürsten Pückler mir bestimmen lassen wollte. Die trüben Folgen der veränderten Richtung meiner Feder für meine Person, meine Freiheit, mein Lebensglück verbitterten nicht minder mein Gemüth. Die Sorge schlug ihre Harpyenkrallen in die täglichen Berechnungen über Woaus und Woein. Erst im Jahre 1839 heilte ich meinen Unmuth dadurch, daß ich für die Bühne zu schreiben anfing, dieselbe Bühne, zu der mich längst eine wohlwollende Förderung hätte ermuntern sollen. Selbst Karl Seydelmann, in Stuttgart mir so nahebefreundet, wußte auf zwei Acte eines Trauerspiels: „Marino Falieri“, die ich in’s Morgenblatt hatte einrücken lassen, mir keine andere Ermunterung zur Fortsetzung zu geben, als die: „Nur ja keinen schwachen Helden!“ Der Held war allerdings achtzig Jahre alt, mußte demnach drei Acte lang schwach sein, vollends war er verliebt, bis der alte Löwe erwachte. Das kritische Wort einer solchen Autorität ließ mir die Hände in den Schooß sinken; ich glaubte mein Talent verurtheilt. Wie ich später die Bühne, wie sie ist, habe kennen lernen, wußte ich, daß Seydelmann kalt geblieben war, weil – die Rolle des achtzigjährigen Marino Falieri nicht an ihn, sondern an seinen Widerpart, den nicht unbedeutenden Schauspieler Maurer hätte kommen müssen. So sind die meisten Schauspieler. Der Liebhaberspieler bleibt kalt bei der Lectüre eines Dramas, wo die Chance, nach jedem Acte gerufen zu werden, auf den Charakterspieler fällt.

Meine Selbstschau würde nicht aufrichtig sein, wenn ich hier nicht die Erzählung der literarischen Entwicklung unterbrechen und eingestehen wollte, daß es neben dem Geist der Zeit noch eine andere Sphäre gab, die parallel die volle Hälfte meines jugendlichen Ich’s in Anspruch nahm. In dem allbeliebten dramatischen Scherz Wilhelmis „Einer muß heirathen“ sind die Brüder „Zorn“ geschildert, die ihre Ehe und die Wahl einer Lebensgefährtin durch das Loos bestimmen lassen. Jacob Zorn jubelt, daß er zu seinen Büchern zurückkehren dürfe, zu seinen berühmten Studien, denen wir und unsere Nachkommen bis in’s fünfte Glied die enormen Kosten der Anschaffung des „Deutschen Wörterbuchs“ verdanken. Roderich Benedix hat in seiner „Hochzeitsreise“ einen deutschen Professor 24 geschildert, der nicht mehr existirt, einen Gelehrten, dem sein Stiefelwichser mehr an’s Herz gewachsen ist, als seine eben erheirathete junge Frau. Mit solcher Kühle hat sich Referent zum Frauenthum nicht verhalten können. Er schildert hier ein Dichterleben und muß es daher eingestehen, daß ihn der Zauber des weiblichen Geschlechts früh unterjochte. Das Gefühl der Vereinsamung eines gegen den Strom Schwimmenden, der Druck, der immer und immer auf dem verkannten Gemüth lastete, der Mangel an Glück kam diesem Zuge des Herzens und der Sinne entgegen. Sage man doch nicht, daß sich die Seele selbst genügen könnte! Nicht einmal das physische Leben erwehrt sich der Stockungen ohne den Sonnenschein des Glücks. Und wo das Glück finden? Ministern, Verlegern, dem Publicum gegenüber hatte ich kein Glück. Aber Compensationen für das Glück muß es im Gemüth geben. Abrechnungen eines Minus hier gegen ein Plus dort. Sonst erliegen wir. Frühe schon hatte ich gegen die Rabbinenweisheit der Entsagung und Selbstkasteiung geeifert, hatte in Heinrich Heines Unterscheidung zwischen den beiden Lebensprincipien, dem Nazarenerthum und dem Hellenismus, einen seiner Lichtblicke gefunden, hatte das, was sich die Menschen ihre Tugend nennen und an sich und Anderen glorificiren, so oft nur für organisch bedingte Empfindungslosigkeit und Stumpfheit, nach spätern Erfahrungen für die Alleinbeschäftigung mit ihrem Ehrgeiz, die Narcissusgenüge an der Widerspiegelung ihres geliebten Ich erkannt. Das nagende Prickeln der Eitelkeit, die nur ihren Erfolgen, ihrem Namen, der Pflege des Schattens, den man in der Sonne wirft, lebt, ich hatte es nie. Aber mir blieb das Bedürfniß, wenigstens in Andern auszuruhen. Früh schloß ich leidenschaftliche Freundschaften. Aber was sind studentische Freundschaften? Bald gehen die Lebensbahnen auseinander. Vollends war die damalige Zeit in einer Weise eine andere, daß sie sich jetzt kaum noch fassen, kaum schildern läßt. Auf drei freigesinnte, gleichgestimmte junge Akademiker kamen wenigstens in Berlin 97, die nur am Gegebenen hafteten, die nur fromme August Neander’sche Pastoren werden wollten, sich nur als Beamte, Richter in dem Sinne zu sehen wünschten, wie der damalige Staat seine Beförderungen gewährte. Es waren meist nur Menschen von absolut erkältender Wirkung. Und Cameradschaft, dem jugendlichen Gemüth so unerlaßlich wie der Biene die Blumenwelt, bildet sich da am wenigsten, wo sich literarische Anfängerschaft zeigt! Spricht sich diese nicht mit der aufdringlichen Eitelkeit junger Lyriker aus, wo dann wohl eine gleichgestimmte Richtung zuweilen unter jungen Cameraden dem beständig aus der Rocktasche gezogenen Portefeuille bewundernd entgegenkommt, so wird eine auf aparten Meinungen sich gründende literarische Entwicklung unter Schul- und Universitätscameraden fast immer allein stehen. Ein Nachkomme Bürgers, selbst Bürger geheißen, ein Hauslehrer beim Professor F. W. Gubitz in Berlin, war bis 1833 mein treuster Freund, bis ihn der Strudel des Theaterlebens ergriff und von seinen Studien und von mir selbst fortriß.

Frauen gegenüber fühlt dann freilich der Jüngling nicht Freundschaft, sondern sogleich Liebe. In dem Spiegel eines Mädchenauges fängt sich ihm die ganze Welt auf. Und sie fängt sich ihm nur in harmonischer Schöne auf. Des Mondes blasses Licht, das Geflüster einer vertrauenden Seele beim Wandeln unter den sanftbewegten Wipfeln eines Baumganges, die Berathschlagungen über künftige, vielleicht schon gemeinsam gewordene Lebensziele – in diese bestrickenden Zauber, die von Neander, Schleiermacher, Boeckh, Lachmann abzogen, war ich allzufrühe gerathen. Der erste Theil meiner „Seraphine“ (Gesammelte Werke Band III) ist selbsterlebt. Die dort Geschilderte hieß Leopoldine Spohn. War ich hier gefesselt wider Willen, verzweifelte ich wie unter einem mir zufällig übergeworfenen Nessushemd, so schlug mein Herz desto freier und leidenschaftlicher bald darauf für eine sechszehnjährige Brünette von mehr kleinem als mittlerem Wuchs, mächtigen schwarzbewimperten blauen Augen, blendend weißen Zähnen, keine Schönheit an sich, aber anziehend in allem, was in und an ihr mit geistigem und leiblichem Auge gesehen, mit dem Ohr gehört werden konnte. Am meisten fesselte sie durch ihre Stimme, die so sonor, so tiefliegend war, daß sie allem, was sie sprach, schon dadurch allein den Charakter bedeutungsvoller Reife gab. In Berlin ist alles, was ehedem Garten hieß, im nächsten Umkreis der alten Stadtmauer bis auf den letzten Baum getilgt. Aber die Trauerweide, wo nach zweijährigem „Minnewerben“ das angebetete Mädchen zitternd die Worte sprach: „Ich kann nicht mehr“ – („mich beherrschen“ erstickte an der Brust eines sich redlich zum Oberlehrerexamen Rüstenden) und ringsum die anderen Bäume, in deren Schatten bereits von einer künftigen Wohnung bei einem Oberlehrergehalt von 600 Thalern geträumt wurde, sie steht noch in der Königin-Augusta-Straße zwischen Potsdamer- und Schellingsstraße. Vierzig Jahre später ist die halb und halb mir verlobt Gewesene unvermählt grade im unmittelbaren Gegenüber dieser Bäume auf dem „Tempelhofer Ufer“ gestorben. Warum erzähle ich diese Momente der Vergangenheit? Dieser Bund hat Tage, Wochen, Monate der Verzweiflung heraufbeschworen. Er bestimmte eine Richtung meines Schaffens. Denn die innigste Liebe hatte hier die gehorsamste Tochter nicht bewegen können, dem Gebote einer Mutter, die mich heute in ihre Arme schloß, morgen mit dem Messer drohen konnte: „Er oder Ich!“ auf die letzte Drohung entsagend Folge zu leisten. Der „ahnungsvolle Engel“ hatte sich bewahrt vor dem Schicksal, die Bahnen eines irrewandelnden Kometen zu theilen. „Gottesleugner“ nannten mich die berliner Journale. Die Thüren eines Gefängnisses thaten sich auf. Der schmale Weg, den ohnehin der Schriftsteller jener Zeit durch’s Leben gehen mußte, wurde enger und enger. Mit dieser schlechtbestandenen Probe eines liebenden Herzens gingen mir unermeßliche Schätze des Lebens zu Grunde. Der Nibelungenhort, den ich im Frauenthum gefunden zu haben glaubte, versank mir wie unwiederbringlich. Keinen Muth, keine hochherzige Willenskraft hatte die Reinste ihres Geschlechts zu zeigen vermocht; Charlotte Birch – staune nicht, lieber Leser – die richtige Charlotte Birch-Pfeiffer, die mir damals innig befreundet war (erst da haßte sie mich, als ich für die Bühne schrieb und in ihr und dem verbündeten Intendanten Küstner die Usurpatoren der königlichen Bühne Berlins sehen und fühlen lernen mußte), hatte sie noch einmal im Auftrage des damals Dreiundzwanzigjährigen besucht, um den Versuch zu machen, einigen Heroismus zum „Handeln“, wie eben Liebende „handeln“, zu erwecken. Umsonst! Die Mutter zeigte auf’s Messer und mir erstarb – der Glaube an die Bewährung des Frauenthums für jene Welt, welcher mein Leben gehörte. Sie können nicht theilnehmen, rief mein sich krümmender Schmerz, am großen Kampfe der Zeit! Und wenn auch damals Berlin den Tod der Stieglitz erlebte, wenn auch Rahel die unbefangene Lebensauffassung ihres damals zuerst entsiegelten Briefwechsels zu verbreiten begann, nichts half, um vorzugsweise die berliner Welt aus ihrer anmaßenden, kalten Selbstgenüge aufzurütteln. Goethe, Tieck, Steffens, Raumer, Chamisso, Hitzig beherrschten die öffentliche Meinung. Später erstanden allerdings Frauen, die bei der inzwischen erschreckend gewordenen Zunahme an politischen Märtyrern sich für ihre Ehegatten einen muthigen Aufschwung zu geben verstanden – die mir befreundete Gattin des Darmstädters Wilhelm Schulz befreite den ihrigen aus der Feste Starkenburg am Odenwald; ich selbst fand die Hand eines Mädchens, das sich in der Zeit meines Unglücks bewährt hatte – aber die Abneigung, die in mir entstanden war, die Verhimmelungen der lyrischen Muse über den Werth der Frauen zu theilen und beim Schreiben speciell nur der Frauen zu gedenken, denen vorzugsweise zu huldigen, dem Gedankenkreise zu schmeicheln, an dem den Frauen nach Goethe am meisten gelegen sein müsse (die Huldigung sollte sich bald bis zum Schwindel und zur permanenten Affectation steigern) blieb, blieb in meinem „Blasedow und seine Söhne“ 25 (Gesammelte Werke Band V und VI) fast bis zum Cynischen, blieb – – ohne – daß darum bei mir das Suchen nachdem Schlüssel des Paradieses, den Gott, als er sein Eden schloß, zur Verwahrung in’s Frauenherz zurückgelegt zu haben scheint, an sich selbst aufhörte! Mit der Feder sprach ich jedoch diese Sehnsucht nicht aus.

Den Gedankengängen des sich immer mehr zum Siege hindurchringenden neuen Geistes der Zeiten gegenüber stand ich von Jahr zu Jahr gefesteter Rede. Mein „Telegraph“, ein Schmerzenskind, war in anständige buchhändlerische Versorgung gekommen. Ich zog aus dem Bereich des Bundestages, der Frankfurter Späher und Zuträger, seiner feigen auf dem Frankfurter „Römer“ geübten Censur (Frankfurter Bürgermeister wie Thomas, von Meyer, Günderode trugen das ihnen von Nagler, Münch-Bellinghausen, Blittersdorf auferlegte Joch mit Begeisterung) in die freiere Freistadt Hamburg und fühlte die volle Kraft, in den Kölnischen Wirren gegen den Görres’schen „Athanasius“ zu schreiben, gegen Leo in Halle im Hegelingenstreit aufzutreten, gegen die ständischen Prätensionen des Fürsten von Solms-Lich zu opponiren und so mich in meiner Weise an jeder bedeutenden Frage in längerer oder kürzerer Rede zu betheiligen. Bei öffentlichen Festen, am Guttenbergsfest in Mainz, bei Errichtung des Schwanthalerschen Goethe in Frankfurt am Main wurden mir officielle Toaste übertragen. Die Bosheit von Männern wie Carové in Frankfurt, Karl Buchner in Darmstadt, C. von Wachsmann und des Theodor Hell’schen Kreises in Dresden, die Alles, was von mir ausging, begeiferten, kümmerte mich nicht mehr. Hätte ich dem geheimen Förderer und Berather der jüngeren Literatur, Varnhagen von Ense, wie Laube, Mundt, Kühne und die anderen jungen Autoren zu huldigen mich überwinden können, ich würde für die Geltendmachung meiner Vota mich noch eines festern Untergrundes erfreut haben. Doch verzichtete ich auf Protection, seitdem ich die demüthigenden Folgen der Menzel’schen Kritik erlebt hatte. Selbst die Anerkennung derer, die ich hochverehrte, suchte ich nicht. Sah ich wohl, da ich zu reisen liebte, deutsche Städte, wo so mancher berühmte Name lebte, dessen Nimbus mir fleckenrein und anziehend erschien, so mochte ich doch nicht bei ihm anklopfen. Denn mein Gemüth wußte, daß sich der Angesprochene erst aus einem Wust von Mißtrauen und falscher Nachrede über mich, aus Bildungsstandpunkten, deren objective Berechtigung ich anerkennen mußte, herauszulösen hatte, ehe er mein offenes Wort, meine dargereichte Rechte zu würdigen verstand. Solche Ueberdreistigkeit, die einige damals mit mir zugleich aufstrebende jüngere Schriftsteller später gezeigt haben, daß sie sich überall an die ersten Namen der Zeit zu machen wußten, wo dann Uhland und Meyer, Schelling und Meyer, Kaulbach und Meyer bis in’s Elysium Hand in Hand gehen sollen, ist mir bis zum heutigen Tage zuwider gewesen. Unter solchen Umständen mußte mich wohl die wie aus der Luft gekommene Aufforderung des Curators der Universität Bonn, J. Ph. von Rehfues, überraschen, der mich ermunterte, ich sollte meine gegenwärtige Carrière unterbrechen, mich an einer Universität der Schweiz oder einer kleinen in Deutschland, Gießen oder Marburg, als Privatdocent habilitiren, er würde dafür sorgen, daß ich in kürzester Zeit Berufung an eine preußische Universität erhielte. So sicher stand doch noch Altenstein, der nächste Anhalt für Rehfues, dem Hausminister Wittgenstein und seinem Polizeischergen Tzschoppe gegenüber, daß eine solche Wendung meines Lebens, bei wahrscheinlich vorausgesetzter einiger „Reue“, als denkbar angenommen werden konnte. Der mich schon lange geistig fördernde Verkehr mit dem durch Herzensgüte ausgezeichneten, wenn auch vielverkannten Mann war die Folge einer vor Jahren von mir geschriebenen Kritik über seinen Scipio Cicala. Jener Aufforderung konnte ein schon für Weib und Kind zu sorgen Verpflichteter nicht folgen. Der Verleger des „Telegraphen“ war glücklicherweise Julius Campe geworden, derselbe Buchhändler, der Heine, Börne, theilweise Anastasius Grün, Raupach, Maltitz und a. verlegte. Doch gab ich, gelegentlich bemerkt, niemals meine Feder dazu her, gegen meine Ueberzeugung ein Buch seines Verlags zu loben. Wie ich auch andererseits dem, wie der ältere deutsche Buchhandel es weiß, wunderlich gearteten Manne nachzurühmen habe, daß er niemals die Prätension gemacht oder in unwürdiger Weise, wie gewisse neuere Zeitungen, ein von ihm verlegtes Journal zur steten Anpreisung seiner Autoren hat benutzen wollen. Ich erwähne dies Verhältniß um deswillen, weil sich im Kopfe des kürzlich verstorbenen Hoffmann von Fallersleben eine Anekdote zusammengewirrt hat, die in seinen, bei Rümpler in Hannover erschienenen Memoiren, diesem traurigen Sammelsurium von Gelegenheitsgedichten, Tischtoasten und ausgeschnittenen Zeitungslobhudeleien, in Bezug auf mein Verhältniß zu Julius Campe meinen Charakter nicht wenig verunglimpft. Ich hatte, wie den ganzen Mann, so auch Hoffmanns „Unpolitische Lieder“ gut der Gesinnung nach, für Mittelgut als Dichterwaare befunden. Einige Jahre später begegnete ich ihm im schönen Taunusgebirg, auf der Promenade des Bades Soden, wo ich meine Gattin besuchte, die dort mit den Kindern verweilte. „Sieh den schönen Strauß, den mir der Professor geschenkt hat!“ rief meine Frau, als sie mit dem Ueberall und Nirgends, der damals am Rhein und Main seine Breslauer Quiescenz in kaum zu schildernder Weise genoß, daherkam, mir entgegen. „Versöhnt Euch Beide!“ setzte sie bittend hinzu. Die Schwester der drei wackern Büchner, Georg, Alexander, Louis Büchner, die geistvolle Luise Büchner, war mit vielen Andern zugegen. Ich bot dem Straußwinder die Hand. „Aber sagen Sie mir, wie haben Sie denn das vor Campe durchbringen können, daß Sie seine eigenen Verlagsartikel in dem von ihm bezahlten Blatt herunterrissen?“ fragte mich Hoffmann, als er mich vertraulich zur Seite gezogen. Ich schwieg eine Weile, stutzend über die grobnaive Erinnerung an jene Kritik, die mir eine Ueberzeugungssache gewesen, und machte die ausweichende Bemerkung: „Campe hat am wenigsten etwas dagegen gehabt. Gönnt er doch seinen Autoren, daß sie zuweilen etwas geduckt werden“. Wer Julius Campe gekannt hat und je gesehen, wie sich dieser Tyll Eulenspiegel der Leipziger Messe die Hände reiben und darüber amüsiren konnte, wenn er sah, daß für die Bäume, daß sie nicht in den Himmel wüchsen, wieder einmal gesorgt war, wird mein Wort harmlos deuten und es nehmen wie es gefallen. Doch aus diesem Gespräch, das von einem Knäuel von Curgästen, in welches wir geriethen, unterbrochen wurde, hat sich der Eitelste der Eiteln, nachdem er mich zehn Jahre darauf freundschaftlichst in Dresden besucht hatte, in späterer Zeit, wo er sich einbildete, ich hätte nicht in der Schillerstiftung für ihn gesorgt (die Acten beweisen das Gegentheil) den Vers gemacht: G. gestand mir einst mit – (ich citire aus dem Gedächtniß. Aber „schamloser Frechheit“ oder etwas Aehnliches versteht sich in solchen Fällen unter deutschen Autoren von selbst), er hätte mich im Auftrage Campes getadelt, nur damit dieser den Vortheil gewann, daß ich weniger Honorar forderte! Lieber Leser, wie viel Selbstbeherrschung muß ein Schriftsteller über sich gewinnen, um solcher, nur das Böswilligste voraussetzenden Schmähsucht gegenüber nichts zu thun, als zu sagen: Legt’s zum Uebrigen! Aus dem Duellanbieten (wozu ich in ähnlichen Fällen zweimal in der That gegriffen habe), aus dem Gegen-Erklären, dem Berichtigen, Herumzanken in den Zeitungen käme ein solcher „Bestverleumdeter“ nicht mehr heraus.

38 III.#

Die Zeit brach an, wo dem „Jungen Deutschland“ die Tonangabe in der Kritik (denn diese besaß es) entwunden wurde. Es geschah dies durch die Stiftung der „Hallischen Jahrbücher“. Das Kurze, Desultorische, Subjective und Willkürliche hörte jetzt auf. Lange Abhandlungen, die vom Ei anfingen, aber ebenso subjectiv, ebenso willkürlich waren, traten an seine Stelle. Die junghegel’sche Arbeit hat reiche Früchte getragen, vorzugsweise für die Universitäten, die akademische Jugend und die Lehrer. Daß dabei Männer wie R. E. Prutz ihren eigenen Ursprung, die Schule ihrer Bildung verleugneten und die Kritiker, die bisher im Vordergrunde standen, mit den herbsten Ausdrücken der Geringschätzung verfolgten, lag in der Eigenheit jeder neuen Epoche, zumal in Deutschland; die Kinder tödten durch ihre Geburt die Mutter. Schon hatten auch die einzelnen Mitglieder jenes Bundes, der nie bestand, des „Jungen Deutschland“, neue Phasen ihrer Entwicklung angetreten. Heinrich Heine kehrte von seinen so mißlichen prosaischen Ausflügen auf deutsche Literatur und Philosophie zum politischen Tagesvers zurück; Heinrich Laube folgte meinem Vorausgang und wandte sich mit glücklichstem Erfolg der Bühne zu; Gustav Kühne, derselbe, der von seinen Gesinnungsgenossen sagte: „Sie wollten nicht blos leben, sondern auch gut leben“, hatte das richtige Theil ergriffen, er heirathete eine junge Dame, die ihm ein Erbgut von 80,000 Thalern mitbrachte; Theodor Mundt kam durch Louise Mühlbach in eine neues Stadium seiner gewandten, leider nie recht unmittelbaren und deshalb reizlos gebliebenen Feder; Ludolf Wienbarg konnte schon seit lange für verschollen gelten, denn er war hinter den schönen Hoffnungen, die sein erstes Auftreten hatte wecken dürfen, weit zurückgeblieben. Als der Bedauernswerthe vor einigen Jahren starb, forderten mich vier unserer ersten Zeitungen auf, ihm einen Nachruf zu schreiben. 39 Allen stand das Bild vor Augen, das einst grade von ihm der Mann der „Männer der Zeit“ entworfen. „Am Strande der Nordsee steht reckenhaft Ludolf Wienbarg mit im Sturm flatternder Locke, Möven umkreisen ihn u. s. w.“ So oder ähnlich war seine Erscheinung stereotypirt. Jahre lang hieß es zu meinem Nachtheil: „Wie anders dagegen Ludolf Wienbarg –!“ Nun wohl! Ich mußte die Aufforderung ablehnen. Was mir bei dem Dahingegangenen Undankbarkeit an persönlichem Leid zugefügt hatte, das konnte in dem Nekrolog verschwiegen bleiben, aber nicht der traurige Verfall im Streben und Leisten, ein geistiger Schwund, der ganz Hamburg zum Zeugen hatte. Gesagt mußte doch werden, ob Immermann bei gesunder Vernunft gewesen, als er in seinem von Putlitz veröffentlichten Tagebuch über die Wienbargschen Augen gesagt, „sie müßten viel geweint haben!“ Geweint –! Die Kenner der betreffenden Augen werden mit Mühe die Bemerkung unterdrücken, daß hier wohl eine Abbreviatur in Immermanns Tagebuchnotizen nicht richtig gelesen worden ist. Hamburger Erinnerung sieht den Nordlandsrecken, für welchen die Freunde einst die Subscription für sechs Vorlesungen zu Stande gebracht hatten, im Kreise von 10 oder 12 Zuhörern auf dem Hamburger Lloyd, eintretend statt um 12 um halb 1, mit allen Zeichen bedeutungsvoller Erinnerung an seine Kieler Docentenschaft sich räuspernd, ein Glas Zuckerwasser nehmend, ein Manuscript entfaltend, dasselbe langsam ablesend und sich nach – 15 Minuten schon wieder mit den Blättern, die plötzliche Leere zeigten, entfernend! Vom Thurm der Katharinenkirche hatte es eben erst ¾ geschlagen. Ludmilla Assings treues Gedächtniß wird die Richtigkeit dieser Scene, der sie beiwohnte, bestätigen. Näherte man sich dann aber dem Nordlandsrecken, so schlug er seine oben geschilderten Augen auf, sprach mit lispelnder Stimme einzelne bedeutungsvolle Worte und wollte uns glauben machen, daß er der Mittelpunkt der deutschen Literatur des Tages sei. Später gab ihm noch die Sache seines engern Vaterlandes, Schleswig-Holstein, einigen Aufschwung, doch verlief sich auch dieser, wie die Kenner nur zu gut wissen, anders, als in den „Männern der Zeit“ zu lesen sein wird. Nur um zu zeigen, daß ich trotz der Empfindungen, deren ganzen Unmuth über die stereotype Willkürlichkeit in den Urtheilen und Parallelen des Literaturgeschichtsgeschwätzes ich zurückdränge, doch für etwas Poetisches auch in diesem mir von der löblichen Collegenschaft Vorgezogenen nicht blind gewesen, erwähne ich, daß ich ein Dritttheil des Stoffes, aus welchem ich später meinen „Klingsohr“ im „Zauberer von Rom“ formte, von eben jenem Wienbarg entlehnt habe. Die Herkunft der beiden andern Drittel, nicht minder typisch für eine gewisse norddeutsche Richtung, bezeichne ich gelegentlich.

Das Allgemeine der Zeit, die Signatur der neuen Ideen hatte sich trotz der geschilderten journalistischen Thätigkeit in dem inzwischen männlicher Gewordenen und leider zu früh in die Oeffentlichkeit Gedrängten allmählich als ein einiges Ganzes ausgebildet. Stütze und Halt fand er schon lange nur in sich selbst. Daß sich eine Anzahl junger Männer, auch Frauen aus den Kreisen der immer mehr sich entwickelnden weiblichen Literatur, um die von mir gehaltene Fahne schaarte, vielversprechende Namen, Dingelstedt, Herwegh, Uffo Horn; daß fast die ganze jüngere Literatur, wenn sie nicht zur Richtung der schwäbischen Lyrik gehörte, sich mit mir in Verbindung setzte, durfte mir Schadloshaltung erscheinen für den Mangel an Ermuthigung bei den Männern einer ältern Periode, Rehfues ausgenommen. Aber nicht Belletristen allein waren es, die meine „Coterie“, meine „Handlanger“ genannt wurden (viele dieser Treuen deckt schon das Grab); auch fachwissenschaftliche Namen, Männer wie Detmold, Oppermann, jener zu früh gestorbene geistvolle Mediciner Siebert in Würzburg und viele andere schlossen jene Freundschaft mit mir, die jedem vertrauensvollen Worte freudig Gehör gibt und Gefälligkeit zu üben für gebotene Pflicht hält. Aber doch fühlte ich mehr und mehr, daß die Fortsetzung des großen neuzeitlichen Kampfes andere Waffen erforderte, als ich zu führen verstand. Die politischen Aufgaben erforderten immer mehr das reichere specielle Wissen des Rechtskundigen. Die Ausbeute, die mir ein einjähriger juristischer Cursus in Heidelberg und München gegeben hatte, war nur der Anfang einer Specialität, die selbst durch das Studium der Schriften eines Zachariae, Weitzel, Say, Adam Smith, Mac Culloch, Klüber nicht gleichen Schritt halten konnte mit der immer mehr sich erweiternden Breschelegung in den damaligen Staat. Wurden doch auch die Principien der ebengenannten Namen schon wieder durch die Umwälzungsmethode, die in dem Journal der strebenden Privatdocenten, den „Hallischen Jahrbüchern“, gepflegt wurde, wieder über den Haufen geworfen. Die andere Incompetenz fühlte ich auf dem speculativ-philosophischen Gebiete. Obschon ein Schüler Hegels, hatte mir doch von je das abstracte Formeldenken widerstrebt. Die Leichtigkeit des Umspringens mit den logischen Kategorieen, wie sie damals von den „Hallischen Jahrbüchern“ geübt wurde und wiederun jetzt von den jungen Adepten des Pessimismus geübt wird, erregte mir wohl staunende Bewunderung; doch konnte ich selbst nur denken mit concreten Unterlagen, in der Weise wie die Engländer, Lessing, Herder philosophirten. Den damals zu enthusiastischer Empfehlung gelangten, jetzt bereits wieder vergessenen Ludwig Feuerbach fing ich zu lesen an, gestehe aber, daß mir der Satz: Der Mensch ist das Maß aller Dinge! nicht sicher zu sein schien vor der Klippe, in’s Triviale zu gerathen. Bei alledem mich bescheidend und den feurigen Zungen, die jetzt die neuen Botschaften verkündeten, nicht widersprechend, pflegte ich meine Lust am Einzelnen, meinen alten Sinn für künstlerische Abrundung und Einheitlichkeit. Allerdings konnte mir der damals immer mehr aufkommende Formenschiller in unserer „Goldschnittlyrik“, die jetzt so vergessen und vergilbt die Buchläden hütet, nur ein Uebermaß dessen erscheinen, worauf es in der Literatur zumeist anzukommen schien. Die ästhetische Formengebung beschäftigte mich indessen nicht wenig, ja in solchem Grade, daß ich die Lust und selbst das Vermögen zu eigener Production verloren haben würde, umsomehr, als jene Lyrik, so edle Blüthen sie trieb, die Entwicklung einer wahren Nationalliteratur mehr zu hemmen, als zu fördern anfing und die Wegbahnerin des Manierirten und der kleinen Detail-Tiftelei wurde, wenn mir nicht die Bühne, die mir in Hamburg in ihrer ganzen unmittelbaren Wirkung auf die Gemüther entgegentrat, ein Heilmittel geworden wäre für meist trübe und entsagende Stimmungen.

Wenn vom Schein der Esse umglüht, der Schmied am Feuer steht und in die vom angezogenen Ventilator angefachte und immer neu verstärkte Gluth so lange das Eisen hineinhält, bis es in den rechten Grad des Schweißens gelangt, hurtig das halbflüssige Metall dann auf den Anboß trägt und mit nerviger Faust darauf den wuchtigen Hammer fallen läßt, so erinnert sich das Kinderauge mit Wonne, wie sich ein Lauschen an der Schmiede durch den prächtigen Anblick der ringsum sprühenden Funken belohnt. Solche Funken sprüht der poetische junge Genius, wenn er das Drama als erste Offenbarung seines Schaffens wählt. So Schiller in den Räubern und Fiesko; so Goethe im Götz. Der ganze Mensch, im Bedürfniß sich zum Erstenmale auszusprechen, gibt sich in diesen Dramen kund, in solchen Erstlingen der dichterischen Jugendkraft. Kleist, Immermann, Grabbe haben uns nicht in vollem Glanz dies titanische Schauspiel hinterlassen. Der erste nicht, weil ihm das Sonderthümliche seiner Stoffe sofort das Gesetz der Beschränkung, sozusagen der Zuspitzung zum Epigramm auferlegte; der zweite nicht, weil er kalt und ironisch von Hause aus war; der dritte nicht, weil er der Welt aus dem Urgrund seines Innern nichts besonders Edles, Tiefes oder Hochgemuthes zu sagen wußte. Grabbe hat nur die Grimasse der Genialität zu zeigen verstanden.

Den Reiz dieser schriftstellerischen Jungfräulichkeit konnten die Dramen eines Autors nicht haben, der seinen Menschen, sein Ich schon zehn Jahre lang, in Poesie und Prosa, aus-40gesprochen hatte. Diese Funken des Weltenstürmers, diese bestrickenden Zauber einer genialen Unreife, die immer und immer mit fesselnden Wendungen vom Stoffe abzuirren droht und sich doch wieder durch den angeborenen Künstlersinn zu ihm zurückfindet, sie fehlten meinen Dramen. Das erste „König Saul“ gehörte noch ganz den Einflüssen des Zeitalters der Ironie und Satire an, wie man wohl am besten die Zeit der Tieck’schen Suprematie bezeichnen würde. Diese Zeit hat im Wesentlichen bis 1840 gedauert. Saul kämpfte mit den Philistern. Philistern! Da kann der Tieckianer nicht widerstehen, zwei Fürsten „Flach“ und „Oberflach“ einzuführen, wie nur in Tiecks ernsten Dramen das Pathos des nicht einmal recht ernst gemeinten Ernstes allzuschnell aus der Rolle zu fallen pflegt. Das zweite Drama „Richard Savage“ machte schon glücklicher seinen Weg. Es führte mich in die Bretterwelt ein, die Bretterwelt vor und hinter den Lampen, vor und hinter den Coulissen. Doch erst mit dem dritten Versuch „Werner oder Herz und Welt“ gewann ich mir die nachhaltige Gunst des Publicums. Hier hatte ich den Stoff aus mir selbst entlehnt, aus meinem eigenen Leben. Es war nicht das von Gustav Schlesier gemeinte „Herzblut“, nicht die Heinrich Heine’sche Actualität, was ich wiedergab; es war etwas Besseres; die erste meiner Arbeiten, die mich in eine vertrauliche Beziehung zum Begriff „Publicum“ brachte und mir diesen Begriff minder verächtlich erscheinen ließ. Raffinirt war bei dieser Erfahrung nichts. Es war ein Zufall, daß ich, der ich nie an die Leserinnen der Leihbibliothek, nie an die Voraussetzungen der gespannt sein wollenden Blasirtheit gedacht hatte, zu dem genialen Schauspieler Jean Baptiste Baison in Hamburg sagte: „Kürzlich war ich in Berlin. Ich besuchte den Vater eines Mädchens, das ich vor Jahren leidenschaftlich liebte! Ich wurde gütig von ihm aufgenommen. Die Angebetete, die zu meiner Beglückung nichts hatte wagen wollen, sich nicht hatte entschließen können, sich für mich zu bekennen, hat dennoch alle Bewerbungen, die sie reichlich empfing, abgelehnt. Ich gestehe Ihnen bei aller Achtung vor meiner Gattin, daß ich vor dem Vater der ehemaligen Geliebten, einer edlen idealen Mannesnatur, mit Erschütterung stand, ja daß ich noch jetzt zuweilen über dies Verfehlthaben eines Zuges meines Herzens vor Schmerz und Wehmuth“ – Doch ich will nicht fortfahren in einem Tone, der vielleicht nur posthume Berechtigung hat. Ich verweise auf jenes Schauspiel, das ich auf’s eifrigste Zureden des mir Freund Gewordenen in wenigen Tagen schrieb. Die rigoristische Tugendkritik unsrer Zeit hat dies Drama, wie so viele andere meiner Charaktere und Erfindungen, vom Standpunkt der neueingeführten poetischen Criminalgerichtsbarkeit, einem der schwächsten, elendesten ästhetischen Standpunkte, die es nur geben kann (muß er nicht z. B. aus dem Vicar of Wakefield eine einzige Erbärmlichkeit machen?), verworfen und damit die Nerven, die Stricken gleichen, als maßgebend für die Literatur des 19. Jahrhunderts bezeichnet, nicht die empfindsamen oder „kranken“. Aber das Erzeugniß Eurer „Molluskenseele“ zündete in Hamburg in solchem Grade, daß es eine Reihe von gefüllten Vorstellungen rasch hinter einander erlebte. Bei der fünften oder sechsten begegnete mir im gedrängtvollen Parterre Friedrich Hebbel, der eben bei der Direction seine „Judith“ eingereicht hatte. Auch er hat es der obenbezeichneten Hausbackenheit nie recht machen können. Aber leider stand Hebbel damals auf dem Gipfel der Verblendung über seinen Beruf. Mit Orsina zu reden, möcht’ ich’s bezeichnen: „In einem Tone – in einem Tone –“ der auch nur Friedrich Hebbel eigen gewesen, wenn er von der Cheops-Pyramide seines Selbstbewußtseins herab verachtend und doch die Höflichkeit fast wie „Elias Krumm“ nicht aus den Augen verlierend, sprechen wollte, warf er mir en passant ein langgezogenes „Guten Abend!“ entgegen. Nach dem dritten Act war es, wo die Darstellerin der Julie soeben dreimal gerufen worden war, dieselbe Christine Enghaus, die später seine Gattin werden sollte und bei hereinbrechender Beeinträchtigung ihrer Stellung am Burgtheater sich Jahre lang mit dieser so frisch von ihr erfaßten Rolle wieder in ihrem Werth geltend zu machen wußte und dann gewiß zur Freude des Mannes, dem schon 1839 eine blinde Vergötterung einiger Menschen in Hamburg vorgeredet hatte, er allein sei der Messias des deutschen Theaters und der denn auch damals für mich nichts hatte, als sein hämisches „Guten Abend!“, das mir durch die Seele schnitt.

Man legt wohl einen Stein auf eine leichte, mit Wiesenblumen gefüllte Schale. Die Blumen soll der Stein festhalten, soll die in ein wenig Wasser getauchten Vergißmeinnicht glauben lassen, daß sie noch am Bachesrande stünden und fortfahren könnten zu träumen wie gewohnt. Aber das Schicksal wirft uns oft auch in den Frühling unserer Entwicklung Steine hinein, um diesen zu hemmen. Dann müssen die nicht erdrückten Keime sich mühsam unter ihnen hindurch winden. Oft heben sie ihre Köpfchen erst wieder nach langem Ringen und Prüfen, ob sie auch in ihrer Wurzel ungebrochen geblieben sind. In Hamburg schuf mir mein endlich gekommenes Glück, der Erfolg Richard Savages und Werners, eine wahre Meute von Widersachern und hinterrücks mich Schmähenden. Das Stadttheater, ausgezeichnet geleitet von F. L. Schmidt, einem Zögling der alten Schule, sollte durchaus Jedem gehören, wenn er auch nur eine Uebersetzung zu Stande gebracht hatte. Und einige Leute lebten in Hamburg ganz nur von einem fabrikartig betriebenen Uebersetzen. Andere, wie Toepfer, der sich den Schein eines Originaldichters gegeben hatte, der er in den seltensten Fällen war, sahen nicht minder mißmuthig auf jede neue Concurrenz. Alle hatten sie die Presse, ja die Stimmung im Theater selbst, im Parterre, in den Corridoren, den Büffets in der Hand. Ein Nicolaus Bärmann, der nie etwas Eigenes, außer plattdeutschem Gequatsch, zu Stande gebracht hatte, aber doch immer etwas betrieb, was die Repertoire des Theaters in Anspruch nehmen sollte, war der Erfinder jener Kritiken, die man im Jargon des Theaterlebens „kuhwarme“ zu nennen pflegt. Hatte er der Vorstellung neuer Stücke kaum bis zum Schlusse beigewohnt, so eilte er abends halb elf in die Druckerei des gelesensten Hamburger Blattes, der „Nachrichten“, und ließ die Leser der über Nacht gedruckten Nummer schon am frühen Morgen erfahren, ob die Novität von gestern Abend gut oder schlecht gewesen, gut oder schlecht aufgenommen wurde. Wie mußte mich dieser Mann, der sich bei diesen Referaten selten an die Wahrheit hielt, hassen, als ich ein unter seinem Namen gegebenes Drama „Frauenehre“, worin wiederum Christine Enghaus mit fortreißender Kraft und Natürlichkeit gespielt hatte, ein Drama, das er als „nach dem Spanischen des Don Mendez Truxillo“ von ihm selbständig geschaffen angekündigt hatte, für eine wörtliche Uebersetzung eines Stückes erklärte, das ich mir hatte aus Paris kommen lassen, der Marie Padille des französischen Akademikers Ancelot. Diese ganze Hamburger Gesellschaft fing an, mir die neue Tragödie „Judith“ zum Stein zu machen, über den ich fallen sollte. Friedrich Hebbel genoß die Protection eines Kreises von Gönnern, den in edelster Absicht die Schriftstellerin Amalie Schoppe für ihn zusammengebracht hatte. Der junge Gerichtsschreiber von Wesselburen sollte die Mittel gewinnen, noch nachträglich zu studiren. Eben von München gekommen, brachte er das Bewußtsein mit, daß er die Erwartungen, die man auf einen großen Genius, eben auf den Messias der Bühne, setzte, zu erfüllen im Stande war. Der Anblick der Judith von Horace Vernet hatte ihm sein bekanntes, knapp epigrammatisch gehaltenes, all jener obenbezeichneten Funken des ersten Schlags auf schweißendes Eisen entbehrendes Drama abgewonnen. Oder die sprühenden Funken müßten dann in der Großsprecherei des Holofernes gelegen haben. Töpfer, taub und gewohnt, so nachdrücklich zu sprechen, als wenn alle Welt taub wäre, raunte mir zuerst wie mit Fracturschrift ins Ohr: „Das gibt den neuen Shakespeare!“ Nun gut! Da hatte ich den Stoß, ertrug ihn jedoch ruhig. Ein Messias der deutschen Bühne hieß ja auch ich in auswärtigen Kritiken. Ich hatte die Sprache der Neuzeit, das war mein unbestreitbarer Ruhm, die 41 Sprache der neuen Ideen zum ersten Male in den Mund der Schauspieler gelegt, als welche bisher in der Prosa überwiegend nur Blum, Raupach, Töpfer und die Weissenthurn zu sprechen gewohnt waren. Die Schauspieler bekannten es, unter meinem Dialog geistig zu wachsen. Das Shakespearefieber grassirte schon, gehörte aber nur der Buchästhetik an. Vollends ein „neuer Shakespeare“ für die Bühne sein zu wollen, hatte ich keine Prätension, umsoweniger, als ich bei täglichem Besuch des Hamburger Theaters alle Versuche von Dichtern, mit dem Schwan von Avon zu wetteifern, im Theaterjargon ausgedrückt, „auf die Nase fallen“ sah. Auch die gepriesene „Judith“ wurde gegeben. Das Haus war erschreckend leer, Niemand von den Bewunderern, die nach vier Wochen Bewunderung in der fünften schon wieder neidisch geworden waren, rührte die Hand; selbst die Juden, denen doch der Stoff hätte sympathisch sein sollen, fanden die Ausführung desselben zu unbiblisch, „Judith“, ihrem französischen Ursprunge gemäß, zu sehr femme incomprise des Tages. Ich war nicht der einzige, der das Werk in der Presse lobte; aber eine Kritik durch zwei volle Nummern meines Journals über die darauf folgende und gänzlich „abfallende“, nirgends berücksichtigte „Genoveva“ Hebbels war eine mit ihrem Wohlwollen so alleinstehende, daß sie mir in spätern Jahren öffentlich und mündlich des Verfassers Dank eingetragen hat. Als dann Hebbel gar auf der Höhe seines wohlbegründeten Rufes in Wien stand, als er wohlgemuth diese „Genoveva“ – horribile dictu! – in eine „Magellone“ umgedichtet hatte, das heißt, wie einen verbotenen Operntext verändert und dann noch die Magellonenfabel dem Burgtheaterpublicum zu Liebe mehrmals umgeworfen, sagte er mir beim Spazierenschlendern am Stephansplatz: „Lieber Freund, ich bin von manchen Dingen zurückgekommen! Ich rede mit den Menschen menschlich und gestehe alles zu, was man nur will! Nur Geld! Nur Geld! Das Uebrige ist mir gleichgültig!“ Das Uebrige war ihm natürlich keineswegs gleichgültig und die Devise „Geld! Nur Geld!“ galt ihm wie uns allen nur für gewisse Augenblicke. Aber die Wandlungsfähigkeit selbst des Titanen, die Accommodation selbst des gebornen Michel Angelo war doch constatirt und jedenfalls hatte ich eine Genugthuung für jenes verurtheilende „Guten Abend!“, das ich nicht etwa dem Mangel an Gemüth (Hebbel hätte Ursache haben können, mir damals mehr als höflich, sogar dankbar zu sein), nicht der eigenen Ueberschätzung zuschreibe, sondern lediglich dem Verranntsein in jene Principien, die auch Otto Ludwig ruinirt haben und dem Messiaswahn, der leider im Publicum und unter den jungen Nachwuchsköpfen nicht aussterben will, immer wieder neue Opfer bringen wird.

Nathan der Weise klagt bei Lessing, daß doch der Mensch durch seinen eigenen Mund so oft das Zeugniß seines wahren Werthes sich nicht zu geben wisse! Dieser elegische Gedanke, von Hebbel, den ich in diesem Fall dem Tempelherrn verglichen haben möchte, auf mich angewendet, sollte mir anrathen, für heute in meinen Rückblicken aufzuhören. Sind sie doch, obschon nur summarisch gefaßt, schon längst über den, den Selbstbiographieen der „Gegenwart“ zugemessenen Raum hinausgewachsen. Seien sie denn vorläufig geschlossen mit dem Bekenntniß, daß die Rivalität bildend und erziehend gewirkt hat und daß auch ich in meiner anspruchsloseren, von Großprahlern geringgeschätzten, vom Halloh! der theatralischen Tageskritik umlärmten Arbeitswerkstatt immer mehr auf Vertiefung bedacht zu werden lernte, ohne darum in jene Selbstquälerei zu verfallen, die vor einem ewigen Wühlen und Grübeln nach Gedankentiefe, nach dem theoretisch Gesetzmäßigen, praktisch nicht zur Ausführung gelangen kann. Diejenigen Kritiker und Literarhistoriker, die einen Dichter, der wie ich gewohnt gewesen, überall sein Gemüth einzusetzen, zu Gunsten einer nägelkauenden Impotenz, die sich mit hochtönenden Tagebuchsphrasen über ihr mäßiges Schaffen hinwegzulügen sucht, verkleinern und dem Publicum zu verleiden suchen, versündigen sich am Genius der Poesie, wenigstens dem der dramatischen gewiß. Denn die dramatische Muse wird nie wissen, was ihr die von Gedankenblässe und Theorieensucht angekränkelten dramatischen Hamlets nützen sollen.

Vielleicht nehme ich die Fortsetzung dieser Bekenntnisse: die Entwicklung des gereifteren Autors, demnächst wieder auf.

Apparat#

Bearbeitung: Peter Hasubek, Göttingen #

1. Textüberlieferung #

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
H Rückblicke auf mein Leben. Von Karl Gutzkow. 1. Kapitel. Druckmanuskript für J, 56 Blatt. GSA Weimar 96/1018.
1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. I.-III. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Berlin. Bd. 6, Nr. 27, 4. Juli 1874, S. 7-10; Nr. 28, 11. Juli 1874, S. 22-25; Nr. 29, 18. Juli 1874, S. 38-41. (Rasch 3.74.07.04)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

2.1.1. Texteingriff#

4,34 Mann.“] Mann.

3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte#

Augustinus Aurelius: „Confessiones“ (397).

Jean-Jacques Rousseau: „Les confessions“ (1782).

Vittorio Alfieri: „Vita“ (1806).

Benvenuto Cellini: „Vita“ (1728).

Zeitgenössische Kurzbiographien → Globalkommentar.

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#

1. Paul Lindau: Vorwort zu den Autobiographieen aus der Gegenwart. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Berlin. Bd. 5, Nr. 18, 2. Mai 1874, S. 279-281.

„Sainte-Beuve leitet die Charakteristik eines französischen Classikers mit den Worten ein: ‚Es ist werthvoll und bedeutend, auch nur einen Menschen mehr, namentlich wenn dieser Mensch eine entscheidende und hervorragende Persönlichkeit ist, recht genau kennen zu lernen‘.

Von der Richtigkeit dieses Satzes überzeugt, richteten wir vor einiger Zeit an eine selbstverständlich nur beschränkte Anzahl verdienstvoller und erfolgreicher Zeitgenossen und Landsleute zunächst die vertrauliche Anfrage, ob sie sich entschließen könnten, für die ‚Gegenwart‘ eine autobiographische Skizze zu schreiben. Wir glaubten, daß solche Selbstgespräche ein doppeltes Interesse haben müßten, daß sowohl dem Leser wie dem Schreiber mit einer derartigen Publication gedient sein würde – dem Leser, der für die Erlebnisse und den Entwicklungsgang des Schriftstellers oder Gelehrten, dessen Werke er liebgewonnen oder bewundern gelernt hat, eine leicht begreifliche warme Theilnahme hegt; dem Schreiber, dem hier die Gelegenheit geboten, gewisse Dinge zu sagen, die er allein weiß, die aber auszusprechen ihm der Anlaß oder der Antrieb fehlt und von denen es ihm doch wünschenswerth sein muß, daß sie nicht ungesagt bleiben, weil gerade diese zum Verständniß und zur richtigen Würdigung seines Wirkens und seiner Leistungen wesentlich beitragen.

Man mag sagen, was man will: man kennt Niemand so genau, wie sich selbst, wenn man den ernsten Willen hat, seine eigene Bekanntschaft zu machen. Wir erwarteten daher von der in Aussicht genommenen Veröffentlichung einer Reihe von Selbstbiographieen einen redlichen Nutzen und erheblichen Gewinn. Wir hofften dadurch werthvolles Material für die Literaturgeschichte anzusammeln.

Ueber das Gelingen unseres Vorhabens kann erst die Folge entscheiden. Vergeblich war unser Mühen jedenfalls nicht. Denn die Conversationslexica, die Literatur- und Culturgeschichten, welche den Lebenslauf unserer vornehmsten Zeitgenossen schildern, haben den Stoff der Natur der Sache nach nicht erschöpfen können. Die ersteren müssen sich ihrer ganzen Anlage nach beschränken auf eine möglichst objective, nüchterne Wiedergabe der Thatsachen. Das schüchterne Urtheil verhüllt sich vor lauter Decenz bis zur Unerkenntlichkeit. In den Literaturgeschichten und ähnlichen Werken aber wirkt naturgemäß die persönliche Auffassung des Verfassers, sein ästhetischer, politischer und religiöser Standpunkt als bestimmendes Moment bei der Beurtheilung erheblich mit. Zur Vervollständigung des Bildes, welches diese Werke von einem Mitlebenden zu geben vermögen, zu der farblosen Objectivität des Nachschlagebuchs und der selbst im besten Sinne tendenziösen Färbung der Literaturgeschichte gehörte noch ein dritter Factor: die Subjectivität des Zeitgenossen selbst. Aufschlüsse über die intimere Individualität des Schriftstellers, des Gelehrten, einen wenn auch nur fragmentarischen Selbstbericht über das, was er erstrebt und erreicht, über seine Erfolge und Niederlagen oder auch nur über eine bedeutsame Epoche, ja über einen entscheidenden Augenblick in seinem Dasein zu erlangen – das war das Ziel, welches wir im Auge hatten.

Wir gaben uns keinen Täuschungen hin über die Schwierigkeit, dasselbe zu erreichen. Wir wußten im Voraus, daß wir auf alle Fälle schon durch die äußeren Bedingungen einer periodischen Zeitschrift, deren Raum ein beschränkter ist, auf Vollständigkeit verzichten mußten, und daß wir, selbst unter der Voraussetzung ihrer Zustimmung, nicht allen verdienstvollen Männern die Möglichkeit gewähren konnten, diesen Selbstbericht zu erstatten; aber wir waren der Ansicht, daß es immerhin der Mühe lohnen würde, den Versuch zu wagen, wenn nur eine gewisse Anzahl bedeutender Schriftsteller unserm Antrage zustimmte. Auch konnten wir nicht die Erwartung hegen, daß diejenigen, bei welchen unser Vorschlag Anklang gefunden hatte, in dem knapp bemessenen Raume, den wir ihnen zur Verfügung stellen konnten, ihre ganze Lebensgeschichte uns erzählen und alles das sagen würden, was ihnen zu ihrer Selbstcharakteristik erforderlich schiene. Aber auch das konnten wir nicht als einen entscheidenden Nachtheil betrachten. Die nothgedrungene räumliche Beschränkung war in unsern Augen sogar ein Vortheil. Gerade dadurch, daß es unter den gegebenen Verhältnissen dem Einzelnen nicht möglich war, sein Leben und den Gang seiner Entwicklung von der Wiege bis zum heutigen Tage in der erwünschten, ja nothwendigen Breite zu schildern, verschwand die Gefahr, welche die Aufeinanderfolge einer ziemlich langen Reihe von stoffähnlichen Aufsätzen mit sich zu bringen drohte: die Gefahr der zu großen Aehnlichkeit der Aufsätze mit einander, ja der Einförmigkeit. Wir überließen es daher jedem Einzelnen, die autobiographische Skizze nach eigenem Ermessen anzulegen und auszuführen. Wir stellten keine andere Bedingung als die, daß der Betreffende über sich und seine Leistungen schriebe. Ob er nun seinen ganzen Lebenslauf in chronologischer Folge schildern, ob er, wie bemerkt, ein entscheidendes Moment aus seinem Dasein herausgreifen und dieses eingehend besprechen, ob er seine Gesammtthätigkeit oder ein bestimmtes Werk, ob er eine allgemeine Charakteristik seines Schaffens oder eine specielle Schilderung eines Zweiges seiner Wirksamkeit geben, ob er uns sich in seinen Anfängen oder in seiner Reife, als dankbar Werdender oder als Fertiger, dem nichts recht zu machen ist, darstellen wollte – das Alles konnten wir dem Gutbefinden jedes Einzelnen unterwerfen. So konnte schon die Art und Weise, wie der Betreffende unsern Vorschlag auffaßte und ausführte, als ein ihn charakterisirender Zug gelten.

Wir wandten uns, da wir im Laufe des Jahres verhältnißmäßig doch nur wenige solcher Biographieen veröffentlichen konnten, an eine sehr beschränkte Anzahl von Schriftstellern, Gelehrten und Politikern. Die letzteren billigten unser Unternehmen zwar in den wärmsten Worten, hielten den Gedanken für glücklich und durchführbar, erklärten aber in ihrer Mehrheit, für den Augenblick aus diesem oder jenem Grunde ihre Mitwirkung versagen zu müssen. Da unsere Galerie von Selbstportraits aber nur dann eine berechtigte war, wenn die hauptsächlichen Führer in derselben vertreten waren, so entschlossen wir uns kurzweg, das Gebiet, das wir zunächst zu weit gezogen hatten, enger abzugrenzen und die eigentlichen Fachpolitiker, die ihre Hauptthätigkeit auf die Wirksamkeit in den Kammern concentriren, vor der Hand ganz auszuschließen. Umsomehr, als uns aus dem Kreise der Schriftsteller und Gelehrten, die dabei ja auch Politiker sein mochten, so überaus zahlreiche Zusagen zugingen, daß wir vollauf zu thun haben werden, um das Material, welches zum Theil bereits vorhanden ist, zum andern Theil binnen Kurzem vorhanden sein wird, zu bewältigen. Wir können für das vertrauensvolle Entgegenkommen, für die freudige Zustimmung, welche unser Vorschlag gefunden hat, nicht genug danken.

Nur zwei oder drei haben uns durch Nichtbeantwortung unseres ersten Briefes der Mühe enthoben, die Correspondenz mit ihnen fortzusetzen, alle Anderen haben sich binnen kürzester Frist entschieden, und selbst diejenigen, welche unsere Anfrage verneinen zu müssen glaubten, haben mit herzhaften Worten der Sympathie für das Gelingen unseres Unternehmens, mit dem Ausdruck der innigsten Theilnahme nicht gekargt.

Von denen, welche Nein sagten, hat nur ein Einziger die Tendenz, welche wir im Auge hatten, völlig verkannt. Dieser meinte, die Sache würde auf eine Selbstberäucherung hinauslaufen – ein Mißverständniß, vor dem wir uns offen gesagt durch die Richtung unserer Zeitschrift von vornherein gewahrt glaubten. Die übrigen der Verneinenden billigten sämmtlich unser Project, zum Theil sogar in enthusiastischer Weise.

[...]

So hatten wir wenige Wochen nachdem wir den ersten Schritt zur Verwirklichung unseres Projects gethan, die freudige Gewißheit, daß dasselbe gelingen werde. Mit besonderer Genugthuung mußte es uns erfüllen, daß auch diejenigen, und gerade mit besonderer Liebenswürdigkeit diejenigen, welche alle Ursache haben mochten, sich über literarische Rücksichtslosigkeiten des Herausgebers dieser Blätter zu beschweren, unserm Vorschlage zustimmten und nicht daran dachten, den Redacteur die Sünden des Kritikers büßen zu lassen.

Es erübrigt uns, die Namen der Schriftsteller und Gelehrten hier anzuführen, welche entweder bedingungslos ihre Zustimmung gegeben, oder dieselbe an Bedingungen geknüpft haben, die zu erfüllen wir leicht im Stande waren, so daß auch die bedingte Zusage dieser Letzteren zu einer definitiven geworden ist. Wir geben sie in alphabetischer Reihenfolge.

Berthold Auerbach in Berlin,

Bluntschli in Heidelberg,

Friedr. v. Bodenstedt in Meiningen,

Moriz Carriere in München,

Franz v. Dingelstedt in Wien,

Karl Gutzkow in Wiesbaden,

Robert Hamerling in Graz,

Hermann Hettner in Dresden,

Paul Heyse in München,

Gottfried Keller in Zürich,

Levin-Schüking in Münster,

Hermann Lingg in München,

Alfred Meißner in Bregenz,

S. v. Mosenthal in Wien,

W. H. Riehl in München,

Friedrich Spielhagen in Berlin,

Adolf Stahr in Berlin,

Heinrich v. Sybel in Bonn,

Fr. Vischer in Stuttgart.

Die Liste ist noch nicht geschlossen. Wir stehen noch mit einer Anzahl anderer hervorragender Persönlichkeiten in Unterhandlungen, die voraussichtlich ebenfalls zu einem guten Resultate führen werden.

Bei der Veröffentlichung kann von einer bestimmten Rangordnung selbstverständlich nicht die Rede sein. Wir werden versuchen, in der Aufeinanderfolge die größtmögliche Mannichfaltigkeit walten zu lassen, so daß der Skizze eines Dichters sich die eines Gelehrten anschließen würde, einer längeren eine kürzere, der Charakteristik eines entscheidenden Momentes im Entwicklungsgange die Schilderung eines größeren Lebensabschnittes etc.

In der heutigen Nummer beginnen wir mit einer Skizze von Friedrich Spielhagen.

[...]“

2. Paul Lindau an Gutzkow, 17. April 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 3469; → auch Erläuterung zu 2,25).

„Zu besonderem Dank verpflichten Sie mich durch Ihre Zusage, die ich jetzt wohl als eine definitive betrachten darf. Ich füge die Namen der übrigen Zustimmenden diesem Briefe bei. Bedingungsweise haben mir noch andre bedeutende Schriftsteller – etc [?] – zugestimmt. Mitte Mai möchte ich mit der Publication beginnen. Es wäre mir daher – da ich Ihre Skizze gern recht früh bringen möchte – sehr erwünscht, wenn ich das Manuscript bis zu jener Zeit erhalten könnte. Es versteht sich, daß Sie an den angegebenen Raum (5 Spalten) nicht gebunden sind. Wenn Sie das Doppelte gebrauchen – bene.“

3. Gutzkow an Paul Lindau, 5. Mai 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13494; → auch Erläuterung zu 2,25).

Geehrter Herr!

Wenn mich nicht schon meine andauernde Krankheit (Nervenüberreizung, Muskelkrämpfe, Kopfgicht) verhinderte, bereits in diesem Monat mit meinem Beitrag zur neuen Selbstschau-Rubrik Ihrer mir nun wieder vorliegenden Zeitschrift einzutreffen, so müßte es eine gewisse Zaghaftigkeit sein, die mich am schnellen Angriff der Arbeit verhinderte. [...]

Dennoch soll mein erster Versuch, wieder etwas – seit Monaten! – zu schreiben, der Lösung meines Versprechens gewidmet sein. Der „Schwelle“ bedarf es ja nun nicht nach Ihre[r] schönen und die Leser sofort gewinnenden Einleitung.

4. Gutzkow an Christoph Wiese, 11. Mai 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13498).

Also bitte beginnen Sie in alter Weise! Copiatur nur auf Einer Seite! Ich schicke successive die Fortsetzungen. Die ganze Arbeit trotze ich meinem kranken Körper ab, um Paul Lindau einen Beweis meiner Versöhnlichkeit zu geben. Sie ist für eine Reihe von Selbstbiographieen in der „Gegenwart“ bestimmt.

5. Gutzkow an Julius Stettenheim, 16. Mai 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13501).

Meine „Selbstschau“ ist fertig, soweit ich sie schreiben durfte; der Augenarzt verbot die Fortsetzung. Es wäre auch sonst ein Buch geworden. Zur Tacitäischen Kürze habe ich mich nicht erheben können u Spielhagens fließende Feder [...] hat allen Nachfolgenden ein schlechtes Beispiel gegeben.

6. Paul Lindau an Gutzkow, 20. Mai 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 3471).

„Bitte schicken Sie mir Ihre ‚Selbstschau‘ so bald wie möglich! Jetzt kommt Bluntschli (als alternirender Zwischenmann) an die Reihe. Dann möchte ich mit Ihnen Staat machen.“

7. Gutzkow an Klara Mosson, 10. Juni 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13517).

An Lindau habe ich mein Bruchstück Autobiographie geschickt, doch den Abdruck verbeten, ehe nicht einige andre mit ihren Bekenntnissen vorausgegangen. [...] Meine Plauderei ist sehr, sehr intim u vielleicht verfehlt! Ich werde neue Berliner Gemeinheiten erleben.

8. Paul Lindau an Gutzkow, 15. Juni 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 3472-73).

„es würde mir sehr angenehm, wenn ich Ihre biographische Skizze in die erste Juli-Nummer bringen könnte. Ihre Bedenken sind jetzt wohl hinfällig geworden, da Bluntschli auf Spielhagen gefolgt ist und in der nächsten Nummer Auerbach auf Bluntschli folgt. Ich bitte Sie also recht herzlich, Ihren Aufsatz, der, wie Sie mir schrieben, druckfertig daliegt, gleich an mich abgehen zu lassen. Da Sie die Correctur selbst lesen und durch meine Abwesenheit von Berlin auch Zeitverlust entsteht, muß ich schon jetzt, um die Vorbereitungen zur Quartalsnummer rechtzeitig abzuschließen, um die Absendung bitten. Ich hoffe, daß Sie meine Bitte werden gewähren können.“

9. Gutzkow an Klara Mosson, 18. Juni 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13524).

In meinem Stück Autobiographie, das für die neueintretenden 1 Juli-Abonnenten bestimmt scheint, habe ich eine verwandte Andeutung über die „Compensation für mangelndes Glück“ gemacht.

10. Paul Lindau an Gutzkow, 19. Juni 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 3474).

„Es ist alles in schönster Ordnung. Ihr Manuscript ist in der Druckerei und in den ersten Tagen der nächsten Woche wird Ihnen die Correctur zugehn, die ich Sie sehr [ein Wort unles.] bitte möglichst schnell erledigen zu wollen.“

11. Gutzkow an Christoph Wiese, 8. Juli 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13530).

In der Gegenwart steht ja nun mein Lebensrückblick.

12. Gutzkow an Hermann Costenoble, 9. Juli 1874 (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 13532).

In Lindaus Gegenwart finden Sie jetzt von mir „Rückblicke auf mein Leben“. Ich habe Sorge getragen, dabei der Ges. Werke öfters zu gedenken.

4.2. Entstehungsgeschichte#

In der von Paul Lindau herausgegebenen Zeitschrift „Die Gegenwart“ erschien ab Band V (1874) eine Rubrik „Autobiographische Skizzen“, in welcher namhafte Persönlichkeiten (Schriftsteller, Künstler, Politiker) der Zeit Kurzdarstellungen ihrer Lebensläufe veröffentlichten. In dem „Vorwort zu den Autobiographieen der Gegenwart“ (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1) berichtet Paul Lindau, dass er an eine Anzahl von „Zeitgenossen“ eine „vertrauliche Anfrage“ gerichtet habe, mit der Frage, ob sie bereit wären, für seine Zeitschrift eine „autobiographische Skizze“ zu verfassen. Lindaus „Vorwort“ bringt eine Liste von 19 Autoren, die eine Zusage gegeben haben, unter ihnen Friedrich Theodor Vischer, Heinrich von Sybel, Levin Schücking, Gottfried Keller, Berthold Auerbach, Friedrich Spielhagen und Karl Gutzkow.

Von Paul Lindau durch die „vertrauliche Anfrage“ zu dem Beitrag eingeladen, entschließt sich Gutzkow zur Lieferung des biographischen Textes, um Lindau einen Beweis meiner Versöhnlichkeit zu geben (an Christoph Wiese, 11. Mai 1874; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 4). Gutzkow verfasste seine „autobiographische Skizze“ wahrscheinlich Anfang Mai 1874. Die Niederschrift der Arbeit stand unter ungünstigen gesundheitlichen Voraussetzungen, die bewirkten, dass die Abgabe des Manuskriptes verzögert wurde. Bei Paul Lindau entschuldigt sich Gutzkow deshalb am 5. Mai 1874: Wenn mich nicht schon meine andauernde Krankheit [...] verhinderte, bereits in diesem Monat mit meinem Beitrag zur neuen Selbstschau-Rubrik Ihrer mir nun wieder vorliegenden Zeitschrift einzutreffen, so müßte es eine gewisse Zaghaftigkeit sein, die mich am schnellen Angriff der Arbeit hinderte. (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 3) Einen ersten Teil des Manuskripts sendet Gutzkow am 11. Mai 1874 an seinen Schreiber Christian Wiese zur Reinschrift (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 4). Dass Gutzkow bereits am 16. Mai gegenüber Stettenheim den Abschluss der Arbeit mitteilen kann (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 5), zeugt von der Schnelligkeit der Niederschrift des Manuskriptes. Am 10. Juni bemerkt er in einem Brief an Klara Mosson, dass er an Lindau sein Bruchstück Autobiographie geschickt habe (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 7).

Ab 4. Juli erschienen Gutzkows Rückblicke in der Wochenschrift „Die Gegenwart“. Am 8. Juli 1874 meldet Gutzkow an Christoph Wiese: In der Gegenwart steht ja nun mein Lebensrückblick (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 11), und am 9. Juli schreibt er an Costenoble: In Lindaus Gegenwart finden Sie jetzt von mir „Rückblicke auf mein Leben“. Ich habe Sorge getragen, dabei der Ges. Werke öfters zu gedenken (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 12). Am 24. August 1874 dankt Gutzkow Paul Lindau für das hohe Honorar (Betrag nicht genannt).

5. Rezeption#

5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#

1. Lindau an Gutzkow, 24. Juli 1874; der erwähnte Brief ist nicht überliefert (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl. 3476).

„Hochgeehrter Herr!

Der beifolgende Brief eines Lesers der ‚Gegenwart‘ drückt soweit er sich mit Ihrem Aufsatz beschäftigt, ganz meine Ansicht aus. Es würde mich herzlich erfreuen, wenn Sie recht bald Stimmung und Zeit fänden, einen weiteren Abschnitt aus Ihrem Leben unsern Lesern zu erzählen.“

2. Gutzkow an Klara Mosson, 26. Juli 1874; Beilagen nicht überliefert (StUBF, Gutzkow-Nachlass, Bl.).

Gutzkow sendet einige Anerkennungen für meine Rückblicke, die Ihren Glauben an mich bestärken [...], belohnen sollen.

5.2. Rezeptionsgeschichte#

Im Gegensatz zum Bucherstdruck wenige (indirekte) brieflich überlieferte Äußerungen.

6. Kommentierung#

6.1. Globalkommentar#

Die in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ ab Band 5 (1874) von Paul Lindau veranstaltete Reihe von „autobiographischen Skizzen“ bekannter Zeitgenossen begründet der Herausgeber damit, dass die Veröffentlichung solcher „Selbstberichte“ oder „Selbstschauen“ mit dem Interesse der Leser, die eine „leicht begreifliche warme Theilnahme“ mit bestimmten Zeitgenossen hegten, und der Schreiber, die dadurch Gelegenheit erhielten, „gewisse Dinge zu sagen, die er allein weiß, die aber auszusprechen ihm der Anlaß oder der Antrieb fehlt und von denen es ihm doch wünschenswerth sein muß, daß sie nicht ungesagt bleiben“, korrespondiere (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1). Lindau gewährt den Autoren für ihre Beiträge einen großen inhaltlichen und darstellerischen Spielraum. Über die „farblose Objectivität“ der Lexika und die „tendenziöse Färbung“ der Literaturgeschichten hinaus erwartet der Herausgeber derartiger „Selbstberichte“ mehr „Subjectivität“ der Zeitgenossen und „Aufschlüsse über die intimere Individualität“ der Schriftsteller und Gelehrten. Es wird deshalb dem Einzelnen überlassen, wie er seine „autobiographische Skizze“ ausführt (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1). Diese angebotene Freizügigkeit wird von den Autoren auch genutzt: Friedrich Spielhagens Beitrag, der als erster in Nr. 18-20 (2.-16. Mai 1874) der „Gegenwart“ erschien, trägt den Titel „In meiner Jugend Stadt. Ein Stückchen Autobiographie“, derjenige von Berthold Auerbach heißt „Wie ich die bildende Kunst kennen lernte. Ein Fragment aus meiner Lebensgeschichte“. Der Begriff „Selbstschau“ beinhaltet, wie Lindau andeutete, eine bewusst aus subjektiver Perspektive wertende Darstellung des eigenen Lebens, ohne den Anspruch distanziert-objektivierender Sehweise. Gutzkow definiert seine eigene Schreibweise in einem Brief vom 16. Mai 1874 dadurch, dass er sie von dem nüchternen, aufzählenden Lexikonstil gängiger Darstellungen und von anderen Beiträgen in der „Gegenwart“ abgrenzt. Zur Tacitäischen Kürze habe ich mich nicht erheben können u Spielhagens fließende Feder [...] hat allen Nachfolgenden ein schlechtes Beispiel gegeben. (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 5) Zur Charakterisierung seiner Selbstschau verwendet Gutzkow hier schon den Begriff Rückblicke (nicht nur im Titel) und spricht in einem Brief an Klara Mosson von einem Stück Autobiographie (18. Juni 1874; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 9). Andererseits nennt er seine Schrift eine intime Plauderei (an Klara Mosson, 10. Juni 1874; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 7). Er will anschaulich, lebendig, ‚anekdotenhaft‘ erzählen, Abschweifungen dabei nicht scheuend. Diesem Anspruch werden durch die „nothgedrungene räumliche Beschränkung“ (Lindau, „Vorwort“; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1) des Umfang eines solchen Beitrages in der „Gegenwart“ Grenzen gesetzt. Das Ergebnis ist die (lückenhafte) einige Schwerpunkte setzende Erzählung des Lebensabschnittes im wesentlichen der dreißiger Jahre. Die Palette der Inhalte reicht von privaten Gegenständen bis zur Skizzierung des Allgemeine[n] der Zeit (25,8) in bekenntnishaft-emotionaler bis ironisch-polemischer Stilhaltung. Meine Plauderei ist sehr, sehr intim u vielleicht verfehlt! (An Klara Mosson, 10. Juni 1874; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 7) Die Unsicherheit Gutzkows, ob und wie er seinen biographischen Beitrag gestalten sollte, ist wohl dadurch begründet, dass er fürchten musste, in der Öffentlichkeit kritisiert und angegriffen zu werden (Ich werde neue Berliner Gemeinheiten erleben; → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 7). Gutzkows Arbeit soll auch nicht als erste erscheinen, sondern erst, nachdem einige andere mit ihren Bekenntnissen vorausgegangen sind (an Klara Mosson, 10. Juni 1874). Vor seinem Beitrag erschienen 1874 die „Autobiographieen“ von Friedrich Spielhagen, J. C. Bluntschli und Berthold Auerbach, ihm folgten 1874 u. a. die Studien von Bodenstedt, Mosenthal, Schücking, Lingg und Vischer. Wiederholt gerät Gutzkow auch in die Situation, sich verteidigen und rechtfertigen zu müssen. Dadurch erweckt die Schrift den Eindruck einer sehr persönlichen und zeitgebundenen Darstellung, die sich meist ohne Distanz an dem Geschehen der Vergangenheit entlang tastet. Gutzkow benutzt die Gelegenheit, Vergangenheit zu bewältigen, durch Schreiben sich von altem Ärger zu befreien.

Gutzkow war sich dieser Eigenart seiner Schrift bewusst. Um seine Schreibweise zu begründen, hat er mehrfach auf seine Absicht verdeutlichend hingewiesen und sich außerdem durch Hinweise auf andere namhafte Autobiographien der Vergangenheit von deren Konzept abzugrenzen versucht. Gutzkow sieht seine Autobiographie vor dem Hintergrund bedeutender literarischer Selbstdarstellungen der europäischen Literatur: der Bekenntnisse Augustins, der „Confessions“ Rousseaus sowie der Lebensbeschreibungen Alfieris und Cellinis. Goethes Autobiographie wird in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich genannt, ist aber gedanklich stets präsent.

Vor diesem Hintergrund ist das Konzept von Gutzkows Autobiographie zu beurteilen. Die vier Autobiographien, die er offenbar auch gelesen hat, werden von Gutzkow positiv konnotiert: wir verdanken sie einer glücklicheren Lage des Gedankens und der Empfindung (Rue, S. 5). Im Einzelnen sind indes die Abgrenzungen von ihnen deutlich.

Die „Confessiones“ des Aurelius Augustinus, kurz vor 400 n. Chr. verfasst, sind typologisch nicht eindeutig zu bestimmen: Lebensbeschreibung wird verbunden und zu einem Ganzen zusammengefügt mit Tatsachenbericht, philosophischer Selbstbetrachtung, Lebensbekenntnis (und Bekenntnis zu Gott), psychologischer Abhandlung, Hymnus und Predigt; geschildert wird ein Mensch vom Hineinwachsen des Kleinkindes in das Leben, vom Erlernen der Muttersprache an bis zu einem erwachsenen Menschen mit vielseitiger Begabung, aber auch von großer Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit, die allmählich vom Drang nach Erkenntnis und Wahrheitssuche gebändigt und überwunden wird. Die Spannung zwischen der eigentümlichen Beschaffenheit des Ich und einer überindividuellen Instanz (Gott) bildet das Grundmuster dieser Lebensdarstellung. Den Höhepunkt dieses Lebenslaufes bildet die auf Wirkung stilisierte Bekenntnisszene. Das 10. Buch nimmt eine Sonderstellung ein: Es beinhaltet die Analyse des Selbst mit der Beurteilung und Deutung des eigenen Lebens und den wichtigen Exkurs über das Erinnerungsvermögen (memoria). In diesem Zusammenhang wird ‚Zeit‘ als ein menschliches Bewusstseinsphänomen definiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nur als inneres Erlebnis, als Formen der Erinnerung, der Anschauung und Erwartung. Die Sprache des studierten Rhetorikers Augustin ist kunstvoll bis zu häufig barock anmutender Weitschweifigkeit.

Benvenuto Cellinis zwischen 1558 und 1566 verfasste und 1728 erschienene, fast bis zu seinem Tode reichende und im Stil der Familienchronik beginnende Lebensbeschreibung („Vita“) wird Gutzkow in der Übersetzung durch Goethe (1803) rezipiert haben. Der Renaissancemensch Cellini beschrieb sein turbulentes Leben sehr ichzentriert und selbstbewusst. Er schildert detailliert in episodenhafter Darstellung seine einzelnen Taten (Schlägereien, Morde) und Leistungen (auf künstlerischem Gebiet), wobei er sich und die Verdienste seines Ich stilisierend in den Vordergrund stellt. Sein bewegtes, mit den politischen Tageshändeln verflochtenes Leben in Rom und Italien ist gekennzeichnet durch häufigen Orts- und Parteienwechsel. Der dem Geist der Hochrenaissance entstammende betonte Individualismus der Beschreibung lässt die Veranschaulichung der Zeitverhältnisse weitgehend in den Hintergrund oder nur indirekt in Erscheinung treten. Die Autobiographie ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Teil den sündigen Menschen und Kunsthandwerker zeigt, der zweite Teil den geläuterten, gottgefällig lebenden Menschen und Künstler darstellt. Doch wird man nicht von einer Entwicklung im späteren Sinne sprechen können, eher von einer Läuterung des Menschen. Goethe, der in seiner Übersetzung die Vierteilung des Textes von einer früheren Übersetzung übernahm, hat offenbar die Zweiteilung der Autobiographie mit dem sich dabei abzeichnenden Wandel des Individuums Cellini nicht gesehen, wie er auch im sprachlichen Bereich den Text Cellinis im klassizistischen Stil überformte und dabei die Subjektivität und Anschaulichkeit des Textes und die Ursprünglichkeit der Sprache veränderte.

Rousseaus „Les Confessions“ wurden zwischen 1765 und 1770 geschrieben und posthum 1782 und 1788 publiziert. Der erste Teil reicht bis zur Ankunft in Paris (1741), der zweite schildert die Pariser Phase. Durch Abschweifungen, Vor- und Rückgriffe wirkt die Erzählung sprunghaft, die Chronologie ist teilweise verschüttet. Das ursprünglich als Lehrbuch über den Menschen geplante Werk gerät zu einer Generalbeichte, Selbstanalyse, einem Werk der Selbstverteidigung und Selbstherrlichkeit, und zugleich der schonungslosen Anklage der Zeit und Gesellschaft. Die Darstellung des souveränen Subjekts ist Ausdruck eines krassen Subjektivismus. Im Gegensatz zu Augustin fehlt Rousseau die Demut vor Mensch und Gott, er versteht sein Leben vielmehr, selbst schuldlos, als durch eine schlechte Welt verdorben und fehlgeleitet. Die Beschäftigung mit dem Ich, um durch Selbstbeobachtung zur Selbsterkenntnis („erkenne dich selbst“), zur Erkenntnis der eigenen Natur und damit zur Wahrheit über sich selbst zu kommen, bereitet dem Ich Gefühlsgenuss. Auf diesem Wege soll nach Rousseau ein „wahres Gemälde seines Charakters und der wahren Motive seiner Lebensführung“ entstehen (zit. nach Misch, S. 839). Die durch Verfolgungswahn bedingte problematische Einstellung zur Welt bewirkt eine verzerrende Einstellung zur Wirklichkeit, die sich zunehmend in polemisch-aggressiven Ausfällen und Angriffen auf Zeitgenossen äußert. Seine Gesellschaftskritik bei gleichzeitigem Mangel an Selbstkritik richtet sich gegen die Unnatur der Gesellschaft, gegen ihre Verlogenheit, auf welcher der Luxus ihrer Mitglieder beruht. Trotz der weit gehenden Ablehnung der „Confessions“ durch die Zeitgenossen und spätere Generationen hat die Schrift in der Geschichte der Autobiographie über Frankreich hinaus große Wirkung gehabt.

Die im Alter von vierzig Jahren (1790) von Alfieri begonnene Darstellung seines Lebens gliedert er in fünf Teile: „Kindheit, Knabenalter, Jünglingsalter, Mannesalter, Greisenalter“ (Die Denkwürdigkeiten aus dem Leben Vittorio Alfieri’s, „Einleitung“, S. 6) mit der Tendenz von knapper zu immer breiter werdender Erzählung. Reisen und Liebesabenteuer nehmen breiten Raum in seiner „Vita“ ein. Der in den ersten Lebensaltern von starken Leidenschaften bestimmte junge Mensch verspricht bei der Schilderung seines Lebens „allen Leidenschaften zu entsagen“ (S. 5), soweit dies einem Menschen möglich sei. Einher mit dieser Absicht geht die Einsicht von der Notwendigkeit der eigenen Lebensdarstellung, weil naturgemäß der Schreiber mehr von sich selbst wisse als jeder andere Mensch. Diese Einsicht verpflichtet ihn dem Wahrheitsprinzip, zumindest dazu, nichts zu sagen, „was nicht wahr ist“ (S. 6). Obwohl ihm offenbar die „Confessions“ von Rousseau bekannt waren, bekennt er sich nicht zur Darstellung seiner Individualität (und schon gar nicht zur Selbstbeweihräucherung) als oberstem Ziel, sondern schreibt, um die „Kenntniß zum Studium des Menschen im Allgemeinen“ (S. 7, auch S. 8) durch Selbstbeobachtung zu vermehren, um den Leser zu einer allgemeinen Deutung von Begebenheiten zu veranlassen. Besonders in der überarbeiteten Fassung von 1806 verstärkt sich die Tendenz zur Reflexion.

Der Konstruktivismus von Goethes Autobiographie wird durch die Perspektive des alten Goethe möglich, der zurückschauend den Fakten seiner Jugendbiographie einen ‚bedeutenden‘ Sinn zuteilt. Nach dem Prinzip der Antizipation erhält jedes Detail aus der Rückschau vorwegnehmenden und vorausdeutenden Sinn, ist Vorbote und Vorzeichen für das spätere Leben. Blickt man vom Anfang auf das Ende, so zeigt sich, dass dem Ich des Menschen ein Telos innewohnt. Durch die Übertragung des organologischen Entwicklungsprinzips der Metamorphose der Pflanzen auf den Menschen erscheint das Leben des Menschen zudem determiniert, derart, dass jede spätere Phase, jede künftige Entwicklung und Entfaltung, in dem biologisch Ererbten bereits angelegt ist. Hierauf beruht der Gedanke der stufenweisen individuellen Ausbildung des Menschen. Eine zweite Determinante, welche die erste relativiert, wenngleich nicht in Frage stellt oder aufhebt, erfährt der Mensch durch die Umstände, die Zeit, die einen bedingenden Faktor der menschlichen Entwicklung darstellen, denn schließlich ist die „Hauptaufgabe der Biographie“ den „Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt“ (Goethe). Durch die Begegnung mit der Zeit, mit zahlreichen verschiedenen Menschen, mit den Bewegungen der sozialen und politischen Verhältnisse und Situationen, erfährt der sich bildende Mensch die notwendige Welterweiterung und Weltkenntnis. Dabei ist der Wandel der Geschichte von großer Bedeutung, denn allein schon ein Unterschied von zehn Jahren bei der Geburt des Menschen kann bedeutende Folgen für seine Bildung haben. Ebenso können sich günstige oder ungünstige äußere Bedingungen positiv oder negativ auf die Entfaltung der Anlagen auswirken, deren Folge Umwege oder Irrwege der Entwicklung sein können. „Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab“ (Goethe). Aus der Synthese aller bedingenden Faktoren, von Ich und Welt, entsteht sowohl in der Anthropologie Goethes als auch auf der Ebene der literarischen Darstellung jenes immer wieder berufene Harmoniemodell, bei dem sich Ich und Welt, innere und äußere Natur, Mitteilung und deutende Betrachtung, im Gleichgewicht befinden. Genau genommen wird von Goethe das kausal-entelechetische Entwicklungsmodell aber nur bis zum dritten Teil der Autobiographie durchgehalten. Im spät verfassten vierten Teil zeichnet sich ein Wandel ab, der anzeigt, dass andere, unberechenbare Kräfte (das Dämonische, der Zufall, die numinose Fremdbestimmung) Macht über den Menschen gewinnen und ihn zu überraschenden Entscheidungen und Handlungen veranlassen können.

Der programmatische Untertitel „Dichtung und Wahrheit“ hat im 19. und 20. Jahrhundert Anlass zu unterschiedlichen Deutungen gegeben. Während das positivistische 19. Jahrhundert bis bin zu Ernst Beutler in der ‚Wahrheit‘ im Unterschied zur ‚Dichtung‘ den Bezug zur faktischen Realität erkannte und man nicht müde wurde, die erzählten Fakten der Autobiographie mit der ‚Wirklichkeit‘ von Goethes Leben zu vergleichen und zu korrigieren, den Text also als historisches Dokument verstand, liest man ihn im 20. Jahrhundert seit Erich Trunz vornehmlich als literarischen Text, als Kunstwerk, für das ‚Wahrheit‘ dem Verständnis Goethes zufolge eine ‚Wahrheit‘ höherer Ordnung darstellt, das „eigentlich Grundwahre“, während die realen Fakten nicht um ihrer selbst zur historischen Beglaubigung geboten werden, sondern dazu dienen, „eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit, zu bestätigen“ (Goethe). Abweichungen von der überlieferten Realität stuft man nun weniger als Fehlleistungen der Erinnerungen, denn als bewusste Setzungen zur Bekräftigung jener ‚höheren Wahrheit‘ ein.

Oberster Gesichtspunkt von Gutzkows Selbstdarstellung ist ebenfalls das Wahrheitsprinzip: Er will weder seine eigene Person zu einer bedeutenden Erscheinung hochstilisieren (Mit Glockengeläut und Choral kann Referent von seinem Leben nicht sprechen; 1,28-29), noch sieht er sein Leben unter einer bestimmten Zielsetzung, die zu einem Zeitpunkt erreicht und der Beschreibung des eigenen Lebens unterlegt wird. Mit der ersten Bemerkung kritisiert er die „Vita“ Cellinis, der ebendiese Verherrlichung seines Lebens vorgenommen hatte und damit aus der Rolle der Selbstbiographie neuesten Datums (1,19-20) gefallen sei. Auch Rousseau stellte sein Ich überdimensional in den Vordergrund und verstand seinen Lebenslauf als eine zielgerichtete Entwicklung. Alle Programmatik in der Lebensbeschreibung ist für Gutzkow mit dem Makel der Lüge behaftet. Gegen Rousseaus (und Goethes) Auffassung wendet sich Gutzkow, wenn er für sein Leben kein eindeutiges Ziel erkennt und darstellt, wohl aber vorübergehende hohe Ziele (S. 2,5) für sich reklamiert. Vielmehr spielen seiner Meinung nach im Leben das Zufällige, Ungeplante und Überraschende eine wesentliche Rolle. Damit gilt im Alter für die Niederschrift seiner Autobiographie das gleiche Gesetz von der Bedeutung der ‚kleinen Umstände‘, das er in den dreißiger Jahren in der Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Hegels definierte. Die Folge dieser Feststellung ist die Annäherung an eine realitätsnähere, auch ehrlichere und ‚wahrheitsgetreuere‘ Darstellung des Lebens als sie die idealisierende und idealistische Lebensbeschreibung zu bieten vermochte. Mit einem derartigen Ansatz ist es nicht möglich, vollkommene Menschen zu schildern (2,11-13). Das Menschenbild der modernen Autobiographie ist in sich widersprüchlich, unabgeschlossen und sprunghaft. Gutzkow kritisiert das Ungenügende der trockenen Lebensdarstellungen in Lexika und anderen zusammenfassenden Kompendien, ein Gedanke, den er vermutlich aus dem „Vorwort“ (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1) Paul Lindaus übernommen hat. Ihnen wirft er Unwahrheit durch Lückenhaftigkeit vor. Eine Biographie in seinem Sinne müsse gerade die Hintergründe, die alltäglichen und kleinen Dinge aufnehmen, um lebenswahr und anschaulich zu sein. Ein Beispiel dafür gibt er mit dem Text (S. 3,25-4,34).

Gutzkow beruft sich auf das Konzept einer Selbstbiographie neuesten Datums, das er expressis verbis aber nicht definiert. Nur aus seinen Äußerungen ist eine Vorstellung davon abzuleiten, was er unter einer modernen Selbstbiographie verstanden haben wird: Ohne sich streng an die Chronologie zu halten, zeigt sie den Menschen so, wie er war, ohne Selbstverherrlichung und ohne vorgegebene Zielsetzung seines Lebens, vielmehr mit seinen Widersprüchen und in seiner Fragmenthaftigkeit, mit der Betonung der kleinen, oft ausschlaggebenden Details und Erlebnisse, die der Beschreibung zudem Plastizität und Lebendigkeit verleihen.

Die Denkwürdigkeiten aus dem Leben Vittorio Alfieri’s. Von ihm selbst geschrieben. Nach der ersten Italienischen Original-Ausgabe. Von Ludwig Hain. Theil 1 und 2, Coelln: Hammer, 1812.

Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Vierter Band, zweite Hälfte. Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts. Bearbeitet von Bernd Neumann, Frankfurt/M. 1969.

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