Der Zauberer von Rom. Erstes Buch#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
  2. Stephan Landshuter
  3. Wolfgang Rasch
Stellenerläuterungen
  1. Kurt Jauslin
  2. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2: Rezeptionszeugnisse hinzugefügt
Letzte Bearbeitung
24.08.2023

Text#

Der Zauberer von Rom.#

Roman in neun Büchern.#

V Auf seiner Harzesfeste jubelte Heinrich der Löwe, als Friedrich Barbarossa, wie schon einmal vor ihm selbst in Chiavenna, so in Venedig vor Alexander dem Dritten die Kniee beugte und der Stellvertreter Christi die Worte der Schrift über den gedemüthigten Kaiser sprechen durfte: „Ueber Nattern und Vipern will ich deine Schritte führen!“

Jetzt freilich, und in diesem Jahre erst, sah der Verfasser einen erlauchten ritterlichen Prinzen des österreichischen Kaiserhauses unter demselben Baldachin, der des Patriarchen Haupt bedeckte, in Venedig friedlich dahinschreiten am Tage des Fronleichnam. Die schmetternden Klänge der Hörner, Posaunen und Ophiklëiden der deutschen Regimenter hallten an den Wänden des Marcusplatzes wider. Schlachtengebräunte Generale, den Hut unterm Arm, folgten dem Zuge, den ein weißes, vor wenig Tagen geworfenes Lamm, mit rothen und blauen Bändern geschmückt, eröffnet hatte. Ein blonder Knabe in weißen, schleifenbesetzten Atlasschuhen, angethan wie VI einer jener spanischen Infanten, die auf fürstlichen Familienbildern Tizian malte, führte das Symbol der Kirche an einem rothen Gängelbande.

Und dennoch ist der Streit der Welfen und Ghibellinen noch unbeendet!

Unausgefüllt die Kluft der deutschen Einheit und der lateinischen und germanischen Welt überhaupt!

Diejenigen Cabinete kennen wir, denen wenig damit gedient gewesen, als die „Schlacht von Bronzell“ nur eine traurige Caricatur wurde!

Wir haben die Liga, haben die Union! Was verbürgt uns, daß nicht das Vaterland eine zweite Schlacht von Mühlberg erlebt, die einst gefahrvollste Stunde unserer Geschichte … Nur selbstverständlich wird der Kaiser, der beruhigend den knieenden Fürsten zuruft: „Nicht Kopf abe!“ kein Spanier sein.

Das alte blut- und thränenreiche deutsche Vermächtniß, die Spaltung in Süd und Nord, kann noch immer die Bresche werden, über welche hinweg unsere Heiligthümer, Sprache, Bildung, Nationalität, Volkswohl, im Völkersturm genommen werden, und früher oder später ist die Stunde da, wo entschieden wird, ob die Welt den Slawen, Celto-Romanen oder Germanen gehört.

Die nachfolgende Dichtung will, soweit dem Worte eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen die vaterländische Einheit zu fördern. Sie will war-VIInen, will ermuntern. Sie will die Gefahren aufdecken einer trügerischen Lockung. Sie will den „lieblichen Ton der Pfeife des Vogelstellers“ nachweisen selbst in dem Busch, wo Tannenzapfen, nicht Orangen reifen. Sie will einem großen, sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdigere Ziele zeigen, als sie sich bisher in der fernen Fata-Morgana spiegelten. Sie will für jene heraufziehende Entscheidung den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz nähren helfen, will den Verräthern unsers eigenen Heerlagers auf ihren geheimsten und nächtlichsten Pfaden folgen. Sie will –

Doch spreche die Absicht des Buches aus ihm selbst!

Der Verfasser widmet es seinem Volke und seiner Zeit.

Er stellt diese Widmung mit ruhiger Ergebung in die Aufnahme, die von einer Seite aus nur die feindseligste werden kann. Häufe sie Schimpf und Schmach – ein Theil der angestrebten Wirkung wird dann erreicht sein.

Wohlwollenden aber, Uebereinstimmenden, Gerechten den innigsten Gruß zuvor! Der Verfasser kennt aus schöner Erfahrung das Glück, für Gemüther zu schreiben, die den Autor gleichsam nur bevollmächtigten das zu sagen, was schon lange ihnen selbst auf dem Herzen brennt. Eine der seligsten Wonnen – Uebereinstimmung! Ein nur leise ange-VIIIschlagener Ton und die Hingebung und Liebe führen ihn weiter! Wissen: hier lächelt der Leser wie du: hier feuchtet sich sein Auge wie dir: hier erräth er dein Räthsel, noch ehe du zu Ende warst es zu stellen: hier könnte er deiner einfachen Andeutung eine Fülle eigener Erfahrung an die Hand geben: welche Kraft entströmt diesem sichern Bewußtsein! Findet ihr zu viel grelles Licht, ihr seid gewiß, der Schatten wird nachkommen; dunkelt es zu lange, ihr vertraut, daß es bald am Licht nicht fehlen wird! Was ist hier Gutes, was Böses? rufen wol schon im Beginn die, die gewohnt sind nur sich selbst zu hören. Ihr ermüdet nicht, die Anklage oder Vertheidigung der Charaktere allmählich erst sich aufsummen zu sehen. Nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie finden können und … stelle doch, du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am Jüngsten Tage, nicht Schulcensuren …

Das erste der neun Bücher ist nur ein Vorspiel, der erste, schwere Jugendtraum eines in solcher Art „gemischten“ Charakters. Der Roman selbst, sowol in Form wie Bedeutung nach den Anforderungen an einen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, wie ihn der Verfasser in seinen „Rittern vom Geist“ zu definiren wagte, beginnt erst mit dem zweiten Buche. Die kleinen Funken, die dort erst zu zünden bestimmt sind und die in den Vorgängen IX des ersten Bandes, dem jungen Dämmerleben einer weiblichen Seele, nur spielend auf- und niederhüpfen konnten, wird des Kenners Auge leicht herausfinden. Sei ihre Irrlichtsnatur auch dafür Bürge, daß jetzt wie früher der Verfasser nichts um der nächsten Deutung willen schrieb oder mit grober Absichtlichkeit dem freien Schwebegang der Muse Zwang anthun wollte! Wie sonst wird auch hier das Gesetz des Lebens walten und jede freie Lust am Dasein, jede Regung der natürlichen Empfindung den Keim ihrer höhern Deutung in sich selbst oft völlig unbewußt tragen. Denn in solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten nicht, die es im Licht der Wahrheit wirft.

Dresden, im Juli 1858.

Erstes Buch.#

3 1.#

Langen-Nauenheim ist eines jener nordhessischen Dörfer, die mitten im Herzen Deutschlands liegen und denen dennoch nicht so warm gebettet ist, wie es an der Brust einer so großen Mutter, wie das Vaterland, sein sollte.

Sieht man die verfallenen Hütten mit ihren Stroh- und Schindeldächern, die dünngesäeten wie frierenden Halme auf den Feldern, das spätreifende Steinobst an den wenigen Bäumen oberhalb eines der vielen Bäche, die da- und dorther von den rothen Felsen des Gebirges so behend niedereilen, als suchten auch sie, wie andere Murmelquellen, blumengeschmückte grüne Matten, so begreift man nicht, wie noch all der Kummer und das Elend es hergeben, daß in der Landeshauptstadt jeden Mittag Schlag zwölf Uhr eine so prächtige Wachparade mit goldgestickten Uniformen und stolzberittenen Husaren aufziehen kann.

Aber Langen-Nauenheim ist darum auch so gut regiert wie Klein-Bockenheim und Ober-Heddersheim, und hat am Eingang und Ausgang seinen bunten Pfahl mit den Landesfarben und den Namen des Regierungs- und 4 Steueramtsbezirks, zu dem es auf Gottes Erdboden gehört, hat sein Amthaus, seine Spritzenordnung, seinen Feuerversicherungszwang, seinen Büttel, seinen Nachtwächter und seinen sogar landesherrlich salarirten Schulmeister.

Letzterer heißt Gottlieb Schwarz.

Gerade jedoch sein Häuschen ist keines von den schmuckern.

Es lehnt sich fast an die Kirche an, die selbst so grau und geflickt zwischen zwei kleinen Hügeln liegt wie ein großes Storchennest zwischen den Hörnern eines Strohdachgiebels. Es hat sogar Fenster, wo die Scheiben mit alten Schulheften geflickt sind; der Regen corrigirte die Schreibfehler und falschen Grundstriche der bildungsbeflissenen Jugend. Ein Gärtchen liegt dicht in der Nähe mit einem Staket von dürrem Reisig, zwischen dem im Juni manchmal einige Erbsen blühen, falls man im April sie zu säen nicht vergessen hat, was auch schon vorgekommen ist.

Vor Jahren … ja, damals war es noch anders.

Damals war Gottlieb Schwarz selbstverständlich noch jung, noch mit rosigen Hoffnungen aus einem hochlöblichen Landes-Schullehrerseminar hervorgegangen. Wie herrlich hatte sich das ausgenommen, wenn die jungen Volks-Lehramtscandidaten im Seminargarten Rosenstöcke veredelten und süße Birnen auf sauere Quitten pfropften! Auch Seidenzucht trieb man, versandte auch – wenigstens im Geiste – den köstlichsten Honig an die Lebküchler von Frankfurt am Main und Nürnberg! In der Theorie bewährte sich alles prächtig und vielleicht 5 auch einige Jahre in der Praxis, wenigstens zu Langen-Nauenheim, am Diemel-, Demel-, Donners- und Dustersbach … die Geographen haben unter vier Bächen, an denen sie Langen-Nauenheim liegen lassen, die Auswahl … dann aber … ja dann folgte vorzugsweise ein Weib, das nicht richtig gewählt war, folgten Kinder, sieben „lebendige“, nächstdem keine Beförderung, keine „Aufbesserung“, immer die aschgraue Zukunft und das vielbesprochene Leid eines deutschen Schullehrers, eines Berufes, den plötzlich eines schönen Morgens in Deutschland, dem Vaterlande des Gedankens, der Buchdrucker- und Buchmacherkunst, niemand mehr gewählt haben wird, weil allerdings bei der Locomotive den Ofen heizen einträglicher ist.

Gottlieb Schwarz erntete, vollends als Witwer, Brennesseln, wo er einst von oculirten Rosen geträumt hatte … von jenen saftigen, länglichen, so schön, so schön röthlich angesprenkelten Birnen, die man beim Dessert eines frankfurter Bankiers Tafelbirnen nennt und die selbst die eingeladenen Diplomaten nicht verschmähen in die Tasche zu stecken und sie ihren Kindern vom Diner mit heimzubringen …

Doch um von Kindern zu reden …

Gottlieb Schwarz wird soeben von seinen sieben „Lebendigen“ eines „los“.

Das ist die Lucinde, die Aelteste! Dies mit der damals noch nachschimmernden Romantik des Seminars getaufte Kind Maria Ludovica Lucinda ist eben dreizehn Jahre alt und im Begriff die „Kinderlehre“ zu absolviren. Ein nach dem unpoetischen Vergleich eines Fuhr-6manns wie eine „langhalsige Flasche“ aufgeschossenes Mädchen steigt in eine Kutsche zu einer vornehmen alten Dame, die sie nach der Residenz entführen will.

Maria Ludovica Lucinda, die mit solchem Staatsnamen Getaufte, die hätte der Vater eigentlich lieber behalten sollen. Sie war in seiner spät geschlossenen Ehe das erste spätgekommene Kind gewesen (als eines den Anfang gemacht, ging das Niederkommen rascher, die Natur hat ihre wunderlichen Gesetze); sie war noch, wie ihr Name zeigte, von leuchtenden Hoffnungen begrüßt gewesen, und Ida, Clara, Estrella, Balduin, Hugo, Achilles, Patroklus, was sollte nicht noch alles ihr nachfolgen! Doch blieb der hoffnungsvolle symbolische Aufschwung nur bei der Erstgeborenen, und die Spätern hingen schon alle von den Namen derer ab, die ihnen ein Pathengeschenk ins Tauftuch binden konnten. Lucinde, die Romantische, ein Nachhall verklungener Jugend-Zaubertöne, – goldenes Morgenroth des Lebens, daß wir dein Bild einst nur noch einmal wiedersehen, im Abendroth! – Lucinde verwerthete sich dem Witwer noch am besten von seinem reichen Kindersegen. Die „Lange“ hatte Neigung zum Schulmeistern. Sie konnte zwar keinen Eierkuchen backen ohne ihn anzubrennen, aber sie stand dem Vater in seiner schon sogenannten „Schulfuchserei“ bei. Sie sprach gerade nicht englisch, nicht französisch, aber an einer alten Wandlandkarte, die sich staatsinventariumsmäßig im Langen-Nauenheimer Schulhause erhalten hatte aus einer Zeit, wo man noch einige Inseln der Südsee und das Innere Afrikas nicht entdeckt hatte, konnte sie stundenlang stehen und ihrer 7 Zuhörerschaft Wunder vortragen von den Pyramiden, die sie nach Amerika, von den Porzellanthürmen, die sie nach Afrika versetzte. Alle die Gegenden, wo es noch Bären und Wölfe gab, wurden der Langen-Nauenheimer Jugend von ihr im hintersten Indien gezeigt, womit freilich im Widerspruch stand, daß der Revierförster der zwei Dörfer weiter wohnenden Herrschaft dann und wann noch einen von „da drüben herüber“, dem Rhöngebirge, kommenden Wolf gegen Weihnachten geschossen hatte.

Gottlieb Schwarz war schon lange in der Stimmung, zu allem, was ihm das Leben bescherte, nur zu lächeln. Die wilden Verzweiflungen, wo der Mensch sich in die Haare fährt und „Gott! Gott! Gott! ist’s denn möglich!“ oder dergleichen dumme Redensarten ausstößt, hatte er hinter sich. Er lächelte zu dem Abschied seiner Lucinde. Mußten die Kinder einmal „versorgt“ werden, so fängt man ja von oben mit der „Latte“ an. Die Nächste nach der „Latte“, ein Kind, das schon mit irdischerm Namen nach der Frau jenes Revierförsters Luise hieß, verstand sich zwar nicht so gut auf Geographie wie Lucinde, aber sie rechnete besser und ihre Eierkuchen brannten nicht an; Hannchen vollends, die Dritte – wieder nichts Mythologisches – war erst zehn Jahre alt, hatte aber mehr Sinn für die Wirthschaft als die beiden Aeltesten zusammengenommen; sie ließ sich nie die Mühe verdrießen, nach den geheimen Orten zu suchen, wohin die Hühner ihre Eier legten, sie pflanzte gern und hielt ihre kleinern Geschwister zum Kleiderschonen und Nasenputzen an. Endlich bestand der Rest der Nachkommenschaft des früh gealterten Männleins aus 8 Knaben, und von denen konnten sich erst zwei die Hosen zuknöpfen.

Das Rathsame, warum erst Lucinde weggegeben werden mußte, lag besonders darin, daß sie sehr hübsch und etwas hoch hinaus war. Sie hatte kostspielige Liebhabereien. Schwarz von Namen und von Haar und Augen, pflegte sie sich gerade gern mit irgendeinem zinnober- oder purpurrothen Stück Zeug zu putzen, mit Bändern und Lappen, und hätten diese ringsum die Pachterstöchter oder die Frau Pfarrerin selbst schon nahe am Wegwerfen gehabt; die flocht sie in das dunkle, schwere und etwas rauhe, ja roßmatratzenmäßige, weil ungepflegte Haar. Sie hatte ferner die Liebhaberei, unendlich träge, gerade herausgesagt faul zu sein, sich den Sonnenschein so in den offenen kleinen, rothlippigen Mund scheinen zu lassen, daß dabei die weißen Zähne wie Perlen blitzten. Sie hatte die Liebhaberei, sich in einer Luke des verwitterten Hausdaches einen Taubenschlag zu halten. Kurz, der Vater ließ die Lucinde ziehen, und sie ging gern: ihre Leidenschaft war die Geographie und ihre Träume spielten „jenseit der Berge“.

Das halbe Dorf umsteht den Wagen, mit dem Lucinde in die Residenz fährt.

Man sieht, was ihr auf ihre Lebensbahn mitgegeben wird … Zwar nicht die vier Hemden, die sechs Taschentücher, das Dutzend Strümpfe, ihr Sonntagskleid, die ein zugeknöpftes Bündel machen; aber den selbstgefertigten Seidenhut, für dessen Form ein urweltliches Modell von der Frau Pfarrerin, für dessen Besatz 9 Bänder und Lappen von allen Honoratioren, die hier im Bereich der vier Bäche wohnten, entlehnt worden waren. Ihre Toilettegeräthschaften waren in einem wunderlichen Korbe beherbergt, dessen Erscheinen ein allgemeines Gelächter hervorruft. Es ist ein drahtgeflochtener Bienenhelm, in dem Gottlieb Schwarz, ehe er sich verheirathet hatte, in seinem damals erfreulichern Gartenwesen noch nach dem Leben und Weben in seinen Bienenkörben geschaut und Verwirklichung seminaristischer Ideale getrieben hatte. Manche von den Aeltern, die herumstehen, wissen noch, daß das „Klima“ bald äußerlich bald innerlich für Bienenzucht hier zu Lande zu rauh wurde. Dann hatte Lucinde oft diesen Helm benutzt, um der Schuljugend poetische Schauer und Schrecken einzujagen. Als praktische Erläuterung ihres Geschichtsunterrichts über das Mittelalter rannte sie mit vermummtem Kopfe den Kindern nach und veranlaßte Turnierschauspiele, bei welchen mancher Ente der Fuß verrenkt wurde. In diesen dorfbekannten Helm hat Lucinde alle ihre Geheimnisse verpackt, auch ihre Näh-, Strick- und Stickapparate, die ihr leider in jeder Beziehung zu sehr Geheimnisse geblieben waren. Dann kommt ein Sack mit gedörrten Zwetschen von jener Langen-Nauenheimer Art, die erst sechs Stunden im Wasser quellen muß, bis sie ans Feuer kommen darf, und auch dann noch wie ein Gericht Kieselsteine schmeckt; ferner ein Kober voll Eier, die sehr behutsam im Innern des Wagens untergebracht werden, und zuletzt auf die Höhe des Gefährts, über dem Verdeck, ein großer Waschkorb, den Lucinde sehr feierlich zurückzuschicken versprechen muß. In ihm 10 gurrt, gluckst und gurgelt es durcheinander. Es ist ihr Taubenschlag. Ohne ihre Tauben mochte Lucinde nicht mit in die Stadt, und die vornehme Dame hatte gerade für diese die bequemste und passendste Unterkunft versprochen.

Die Abreise Lucindens war gewiß etwas Merkwürdiges und Seltsames. Sie erregte Staunen genug, jedoch nur Staunen. Keine Thräne floß, beim Vater nicht, bei den ältern Geschwistern nicht; die jüngsten weinten nur, weil sie nicht „mitgenommen“ wurden. Die Hauptsorge des Vaters war das baldige Zurückschicken des Waschkorbes; er schlug den Nacht-Eilwagen, die Fahrpost, die Briefpost, die Diligence und mehrere landeskundige Hauderer als auszuwählende beste Retourgelegenheit vor. Die Tauben gab er leichter hin; die kosteten ihm ein „Schreckliches“ an Erbsen und dem ganzen Hause an Zeit. „Wer sich Tauben hält, ist immer ein verdorbener Millionär“, war einer von den Sätzen, wie er dergleichen vor dreißig Jahren in sein Tagebuch zu schreiben pflegte.

Die Kutsche fährt ab; die Leute sehen ihr nach wie der Thurn und Taxis’schen Post. Das Fremde kommt, das Fremde geht … Gottlieb Schwarz steht vielleicht am längsten. Dann nimmt aber auch er erst nachdenklich noch eine Prise, die er sich „auch noch zu seinem Verderben“ angewöhnt hat, und geht nun – es ist Sonnabend Nachmittag, die seligste Zeit des Schullehrerlebens – in die am Ende des Dorfes, vor dem großen Berge liegende Fuhrmannsausspannung. Da pflegten die Fuhrleute und mehrere Conducteure der Thurn und 11 Taxis’schen Postcurse Vorspann, geistigen und leiblichen, zu nehmen. Es war immer eine muntere Welt dort; auch eine frankfurter Zeitung lag auf, die Lucindens Vater eifrig studirte, um auf den Ausbruch besserer Zeiten gerüstet zu sein. Die Zeiten, wo er im „Beiwagen“ derselben gesucht hatte, ob nicht endlich seine letzten Einsendungen, die „Ferienphantasieen eines deutschen Dorfschullehrers“, seine „Jubel-Vorschläge zur Verbesserung der Volkserziehung“, seine „Beobachtungen über die merkwürdige Entwickelung eines Hagebuttenpfropfreises zur Erzielung veredelter Dornröschen“, sein „Aufruf an die deutsche Nation zur Abschaffung des überflüssigen Dehnbuchstabens H“, zum Abdruck gekommen waren, die lagen weit schon, weit, weit … hinter ihm … Um die Erinnerungen zu stopfen und sich gleichsam über die Versorgung seines Kindes zu freuen, trinkt er wol heute einen Schoppen mehr von dem etwas schweren Bier, das die Fuhrleute lieben, ehe sie über den großen Berg machen … Wol war es bedenklich, daß Gottlieb Schwarz unter ihnen mehr verkehrte, als seiner Stellung und besonders dem späten Heimwanken gut war, wenn Nachts die lieben Sterne blinkten und die vielen Brücklein von vier Bächen beachtet werden mußten, die da alle so still und kühl mit dem Leid der Menschen dahinfließen.

12 2.#

Und nun, da sitzt sie denn, die „lange Latte“, die „Aufgespillerte“, die „Dreege“ (Magere), mit ihren um den kleinen Kopf gewundenen schwarzen Zöpfen, ganz das Abbild ihrer Mutter, einer Feldwebeltochter, deren Vater in der Residenz ein silbernes Porteépée hatte tragen dürfen und der sich unter dem „dummen Bauernvolk“ als civilversorgter Kreissteueramtscontrolschreibereiassistent einen Steuerrath selbst gedünkt hatte. Trotzig und scheu, ängstlich und fest, nicht mit Absicht, sondern von Natur so gemischt, hockte das halbreife Mädchen in einem verwaschenen ehemals röthlich gewesenen Kattunkleide, das ihr schon lange zu kurz und zu eng geworden war, in der Ecke der Kalesche, die langsam die Anhöhen hinaufschleicht, geführt von einem halbwüchsigen Burschen, der die Gäule – sie waren gemiethete, wie der Wagen – schonen soll.

Die alte Dame, die ihr zuspricht sich nicht zu fürchten, sondern der glänzendsten und besten Schicksale gewiß zu sein, ist einem „Nachtmahr“ nicht unähnlich. Wenigstens hat sie eine Nase, die in einer beständigen Neigung 13 scheint auf das vorgestreckte Kinn einen zärtlichen Kuß zu drücken. Zwischendurch ist nach den allgemeinen Gesetzen der Natur, insoweit sie sich auf die Bildung eines menschlichen Antlitzes erstrecken, bei dieser edeln Frau ein Mund anzunehmen; doch suchte man vergebens nach etwas, was wie zwei Lippen ausgesehen hätte. Sind wirklich die Versinnlichungen solcher Begriffe zwischen der liebevollen Nasen- und Kinnbegegnung der fremden Dame vorhanden, so preßt sie doch die glückliche Inhaberin derselben so zusammen, daß sie nach oben in der Nase, nach unten im Kinn gleichsam mit aufgegangen scheinen. Versucht die Dame ferner, was sie oft thut, über die Oeffnung, die man Mund nennt, ein Lächeln zu zaubern, so sieht man einige Zähne, die wie die einsamen, geköpften Weidenstumpfe an den Bächlein standen, die man hier zu passiren hatte. Die Sprache der Dame ist hochdeutsch, soweit ein gewisses Röcheln und Schnurren unartikulirter Zwischentöne es erkennen läßt, sonst sogar was man gewählt nennt und „nicht frei von Bildung“. Leider kommt diese Sprache aber so seltsam zu Gehör, als wenn jeder Satz sich in den innern Gängen der Brust verliert. Wie die herabgelassene Eimerkette eines großen Ziehbrunnens verrollten die hübschesten Anfänge ihrer Reden für das aufmerksame Ohr des sie zuweilen ebenso unheimlich anschielenden Kindes in dunkle und unverständliche Abgründe.

Den Namen ihrer Wohlthäterin und ihren Stand kannte Lucinde, die bereits hinter Langen-Nauenheim der Bequemlichkeit wegen kurzweg in Henriette und hinter dem ersten Nachbardorfe schon noch kürzer in 14 Jette umgetauft wurde. Sie fuhr mit der verwitweten Frau „Hauptmännin“ von Buschbeck. Die Dame behauptete in der Nähe auf irgendeinem Rittergute Kapitalien liegen zu haben, welches „Liegen“ sich Lucinde (oder müssen wir nun auch sagen Henriette?) ganz figürlich vorstellte. Beim Vorbeifahren an Langen-Nauenheim wollte die Frau Hauptmännin sich über den Dorfsegen ergötzt haben, der gerade aus dem Schulhause strömte, an den lachenden, fröhlichen Kindern, und am meisten hätte ihr „Lieb-Jettchens“ Erscheinung gefallen, die die Kinder gerade aus der Thür entließ und jedem, der nicht Ordre parirte, tüchtig – sie erzählte das soeben lebendig und mit manchem wohlwollenden, leider im Husten erstickenden Hi! Hi! wieder, – einen „Starnicksel“ mit auf den Weg gab. Denn Ordnung muß sein! röchelte die Hauptmännin, als der Eimer ihrer Stimme wieder aus dem Brunnen herauskam, und fügte dann nach und nach hinzu:

Sitz aber gerade, Kind! Schlag nicht die Beine so übereinander, du langes Ding! Ja, sauge doch nicht an den Nägeln, Kerl! Guck mir doch nicht zum Schlag hinaus, wenn ich dir’s nicht befohlen habe, du –! Ach was, ach was! Nenne mich meine liebe gnädige Frau! Hm, Hm! Lieb-Jettchen! Zieh mir einmal die Schuhe aus, ich glaube, es ist mir ein Stein hineingekommen! Kind, kratz mir ein bissel den Rücken, ich glaube, ich habe was aufgegriffen, unter euch verfluch – oder s’ist mein gewöhnlicher Rhevmatismus! So, Jette! So! Ha! ha! Ein solcher Name! Lucinde! Wer soll das aussprechen! Solche Schullehrermucken! Halt dich 15 gerade! Sitz nicht so krumm! So! Brav! Wir werden schon einig werden!

Lucinde that mit Ergebung alles, was ihr befohlen wurde.

Die gnädige Frau von Buschbeck hatte bei ihrer letzten Bewunderung des Langen-Nauenheimer Kindersegens dem Vater den Vorschlag gemacht, diese unter allen hervorragende Erscheinung in die große Stadt mitzunehmen, sie wie ihr Kind zu behandeln, sie ausbilden, erziehen, in Musik und Sprachen, schönen Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen.

Lucinde hatte dem überraschten und geschmeichelten Vater gelobt, dieser wunderbaren Frau, die auf den Feldern hier Kapitalien „liegen“ hatte, unbedingt zu folgen und sich zu fügen, in allem, in jedem, und so ihr Glück zu machen, „was man in Langen-Nauenheim bekanntlich nicht machen könne“, wie er dann selbst hinzusetzte. Lucinde hatte dabei gedacht: „Wie weit Amerika ist (wo manche Langen-Nauenheimer schon versucht hatten ihr Glück zu machen) weiß ich!“ Sie dankte daher auch, nach dem Ausdruck ihres Vaters, „ihrem Schöpfer“, daß eine solche Frau sich gefunden, die sie so ohne weiteres und geradezu innerhalb fünf Stunden aus dem Nest mit sich heraus und in die Welt nahm. Um elf Uhr hatte die fremde Dame den oft bewunderten „Kindersegen“ wieder bewundert, um ein Viertel auf zwölf Uhr die Vorschläge gemacht, um vier Uhr kam sie von den Gütern zurück, auf denen sie Kapitalien „liegen“ hatte, die Bedenkzeit, die sie gelassen, war verstrichen, der erste Widerstand Lucindens nicht hartnäckig, aus-16genommen was ihre Tauben anbelangte. Diese, wie gesagt und wie wir auf dem Verdeck hören können, nahm sie mit, und so hatte Lucinde nicht einmal vorher noch dem Pfarrer, bei dem sie in „Kinderlehre“ ging, oder der Frau Pfarrerin Abschied gesagt, ja nicht einmal gegessen und getrunken. Das Letztere war vorläufig das Schlimmste. Sie suchte der gnädigen Frau den Stein aus dem Schuh, sie kratzte ihr den Rücken, sie hörte nicht blos auf Jettchen, sondern sogar schon auf Jette, nun aber bekannte sie auch, daß sie nichts gegessen und getrunken hätte. Na, das war ja gerade das, wonach die Frau Hauptmännin schon lange hatte fragen wollen, denn ihrerseits behauptete sie auch, zwar nicht Hunger, aber Durst zu haben, doch im nächsten Orte gäbe es ein vortreffliches Wirthshaus, und daselbst ein vortreffliches Bier; und als sie näher kamen, entdeckte sie, daß sie einen andern Ort gemeint hatte … das Wirthshaus da, das kenne sie, – da wäre alles schlecht, das Bier, die Milch, und da ihr selbst der Durst inzwischen vergangen war, so schickte sie die Jette blos an den Brunnen. Die hatte nun wieder kein Gefäß und trank aus der hohlen Hand. Daß sie auch Hunger hatte, war in der liebevollen und gründlichen Erörterung über ihren Durst vergessen worden.

Es war schon Abend, als die Kutsche endlich in der Residenz anlangte. Die Laternen brannten schon; nach Ansicht mancher Opponenten der Communalverwaltung düster und sparsam; für Lucinden war es Feenbeleuchtung. Der arme Tropf sah sich wirklich an den himmelhohen Gebäuden, an den Lichtern, an den Carrossen und vielen 17 Menschen „satt“, wenn auch die Frau Hauptmännin, als die müde Kalesche so schlaftrunken über das Straßenpflaster hintaumelte, jetzt ein Nachtessen, das sie sogar ins Französische übersetzte und Souper nannte, in glänzende Aussicht stellte.

Die Passagiere hielten dann in einer der lebhaftesten Straßen an. Lucinde und der junge Wagenlenker luden das Gepäck ab, auch die Eier, auch die Zwetschen, auch den Bienenhelm, und vor allem den Taubenschlag. Alles kam durch gemeinschaftliche Anstrengung drei Treppen hinauf. Niemand oben empfing sie. Lucinde mußte vor einer verschlossenen Thür die Herrlichkeiten hüten, bis die Frau Hauptmännin nachgekommen war. Sie kam mit den heftigsten Verwünschungen über die Höhe des Trinkgeldes, das der kleine Knirps von Kutscher gefordert hatte. Dazu die drei Treppen; sie brauchte Zeit, bis sie sich sammeln und das Vorlegeschloß ihrer Wohnung prüfen konnte. Nachdem dies geschehen, genug gerüttelt und gerasselt war, schloß sie auf. Lucinde trat in einen kleinen Gang, zu dessen Rechten die Küche lag. Hier machte die vornehme Dame Licht und beaufsichtigte den weitern Transport des Mitgebrachten. Beim Verschließen der Eier im Küchenschrank beleuchtete sie einen steinhart gewordenen Laib Brot. Ja so! sagte sie. Unser Souper! Da, Jettchen, rasch! Flink! Drüben im Laden! Wo ist denn meine Börse! Hole – hier!

Lucinde sollte rasch hinunterspringen und gegenüber in einem Laden frisches Brot holen, auch von nebenan Butter und von noch weiter nebenan aus einem Keller Rettiche, die sehr delicat schmeckten, wenn man, sagte 18 Frau von Buschbeck, einen Salat draus machte mit Essig und Oel …

Wie das alles so wonnig mundete!

Als aber Lucinde schon im Gehen war und noch einmal zurückkam, weil sie ja das Geld vergessen hatte, sagte die freundliche, liebevolle Dame:

Kindchen, bist doch wol zu müde, auch zu fremd, und wirst es nicht finden!

Und nun schnitt sie schon von dem alten Brote vor und holte aus einem andern Schranke mit kostbarem Porzellan von buntgemaltem meißener Rococo ein allerliebst geformtes Näpfchen, freilich nur mit Salz gefüllt. Aber „Salz und Brot macht die Wangen roth!“ sagte sie, und – Lucinde aß Salz und Brot.

Aber da purren und gurren ja noch die Tauben in dem Waschkorbe! Den armen Dingern muß drinnen recht bang geworden sein und verschmachtet sind sie gewiß auch. Morgen sollte der Tischler kommen, hatte es auf der Landstraße geheißen, und sollte auf dem Dache eine wundervolle Vorrichtung treffen, einen Taubenschlag, der nie einen Marder zulassen würde. Einstweilen aber wurde jetzt die Höhlung unter dem Feuerherde ausgeräumt und eins nach dem andern von vierzehn der trefflichsten veredelten Feldflüchter in diese unbequeme Wohnung eingelassen. Einen Vorbau machte man aus umgekehrten Schemeln, Besen, ausgebreiteten Scheuerlappen. Die „gnädige Frau“ lachte ganz vergnüglich über die lieben Thierchen, nahm den Sack mit Zwetschen und ging erst jetzt in ihre vordern Zimmer. Auch hier die Prüfung der vorgelegten Schlösser. Auch hier ein behutsames Auf-19schließen und ebenso sorgfältiges Wiederanziehen der geöffneten Thür. Lucinde wurde nicht aufgefordert zu folgen.

Da stand sie nun, todmüde, in der linken Hand ihr hartes Brot, in der rechten eine Küchenlampe. Sie durfte nicht näher kommen, weil erst gestern gescheuert worden war, und die Decken lagen noch nicht wieder, die kostbaren, zusammengerollten, über die Lucinde einigemal im Vorsaal schon gestolpert war. Es verging wol eine Viertelstunde, bis die Frau Hauptmännin zurückkehrte und Licht gemacht hatte. Wie sie sah, daß Lucinde so im Vorsaal stand und unnützerweise den leeren Wänden leuchtete, sagte sie:

Donnerwetter, das Oel ist theuer! Du kannst jetzt zur Ruhe gehen!

In der Küche gab es noch einen gemüthlichen Verschlag in die Mauer hinein. Dort öffnete die gnädige Frau und zeigte Lu­cinden etwas, was wie ein Bett aussah. „Jettchen“ allerdings war so müde, daß sie nicht einmal ihre Bewunderung vor diesem Bette, das man wieder unsichtbar machen konnte durch zwei Thürflügel, aussprach. Sie war nur froh, den mitgenommenen Vorrath von Erbsen, den sie vorhin ausgeschüttet hatte, unterm Feuerherde verknuspert zu hören; ein paar ihr sehr liebe Kropftauben gurgelten ihre Atzung ganz hörbar hinunter.

Na, und nun kleide dich aus! Gute Nacht! Schlaf nicht zu lange! Träume gut! Sage: Ich wünsche Ihnen wohl zu schlafen, meine liebe gnädige Frau! Na, wird’s? Nein, ordentlich! Ich – wünsche – Ihnen – wohl – 20 zu – schlafen, – meine – liebe – gnädige – Frau! So! Das war recht! O, wir verstehen uns schon! Wir passen zusammen! Um fünf Uhr aber Reveille! Verstanden? Gute Nacht!

Ahnend, was Reveille sagen wollte, und etwas ungewiß, ob sie wirklich am Ziel der verheißenen Seligkeiten war, ging Lucinde, sich reckend und dehnend, barfuß und im Hemde noch einmal nach vorn und sah durch die Glasthür. Der Vorhang ließ ein Ritzchen offen, durch das sie hindurchschielte. Ei, kaut nicht die gnädige Frau gerade ihre Zwetschen frisch aus dem Sack heraus? Es muß doch wol sein, wenn’s auch ein Anblick war, als wenn zwei concentrische Mühlräder sich umeinander drehten, nur jedes nach entgegengesetzter Richtung hin … Und wie die Zwetschen auch schwierig zu schroten waren, so mundeten sie der gnädigen Frau doch vortrefflich, sodaß sie schon einen Haufen Steine vor sich hin und zwar sehr sauber auf ein Papier gelegt hatte. Sie hielt offenbar ihr „Souper“ und blinzelte dabei so listig mit den Augen ringsum wie eine Katze, die sich auf ihre nächtliche Wanderung nach Mäusen freut, und sonderbar – auch mit den Steinen liebäugelte sie, als wenn sie der lockendste Speck wären, an den jemand anderes noch anbeißen sollte. Und endlich gar noch sonderbarer! Wenn die schwarzen Augen der gnädigen Frau einen recht stechenden Glanz bekamen, dann schien sie ganz blind zu werden. Lucinde wußte das schon aus Vorkommnissen der Reise; auch sie beobachtete scharf. Jetzt bewegte sich der Vorhang. Rasch schlich sie zur Küche zurück, wo 21 sie sich ihren Bettkasten heraustappte und zusammengekrümmt auf einen Strohsack sich niederwarf. Die Lade war zu kurz für ihren aufgeschossenen Wuchs. Doch entschlummerte sie und hatte sogar die angenehme Ahnung – morgen in der Frühe doch noch Wonnen des Paradieses zu entdecken.

22 3.#

Von dem Morgen an, wo Lucinde erwachte und im Auffahren fast lebensgefährlich an die spitze Nase der Frau von Buschbeck stieß, die sie ein für allemal bedeutete: So lange dürfe sie niemals schlafen! (es schlug eben eine Uhr mit heiserm Tone, nicht unähnlich dem Bellen eines alten asthmatischen Mopses, fünf!) – von diesem Morgen an blieb Lucinde ein Jahr, neun Monate, funfzehn Tage und drei Stunden bei der Frau „Hauptmännin“ von Buschbeck und in den seltsamsten Verhältnissen.

Schon von der Frau, die fünfeinviertel Uhr die Milch brachte, hörte Lucinde ein lautes Lachen:

Wieder einmal eine in die Falle gegangen!

Weiter war die Milchfrau nicht gekommen, denn schon schlorrte die Frau Hauptmännin im „Nachtjoppel“ und mit einer Haube, deren Spitzen sich in die uns schon bekannte liebende Umarmung von Kinn und Nase als Drittes im Bunde einzumischen suchten, aus der vordern Stube heraus und verwies Lucinden jeden unnützen Aufenthalt mit den Leuten, die „ins Haus kämen“. ,,Ins Haus“ nannte sie ihre Wohnung, bestehend, wie 23 Lucinde sah, aus der Küche, einem dunkeln Entrée mit Guckloch durch die Thür zur Hausflur, einer Schlaf-, einer Wohn- und Putzstube. Ueberladen aber war die Möblirung der kleinen Etage allerdings. Für ein zweistöckiges Haus würde sie ausgereicht haben. Was am ersten Abend Lucinde schon beim Beobachten des Zwetschenmahles befremdet hatte, waren eine Menge ausgestopfter großer Vögel, einige aus Steinen gemeißelte häßliche Köpfe, die Götzen vorstellten, ein Porzellan-Chinese mit einem großen Pfauenwedel, auch eine Lanze, die quer an der Wand hing, mit einem Köcher voll Pfeile, die, wie sie später erfuhr, vergiftet sein sollten. Alle diese Dinge hatte der Herr von Buschbeck aus Indien mitgebracht. Er war Hauptmann in niederländischen Diensten gewesen, und seine Witwe lebte von einer Pension, die sie, wie sie sagte, aus dem Haag bezog … die Gelder ausgenommen, die sie auf dem Lande „liegen“ hatte.

Diese vergifteten Pfeile beschäftigten Lucinden so sehr, daß sie gleich in der zweiten Nacht von der gnädigen Frau träumte, die ihr im Schlaf erschien und einen dieser Pfeile gerade aufs Herz setzte. Sie schrie im Schlaf auf, und wie sie aus ihrer Bettlade in die Küche blickte, huschte auch etwas dahin und klappte nach der Entréethür zu. Sie horchte länger, entdeckte aber nichts. Als sie am Morgen erwachte und nach ihren Tauben sah, – der Tischler war noch nicht bestellt worden, weil Lucinde nicht früher ausgehen sollte, als bis ihre „Garderobe“ ganz in Ordnung war; sie hatte daran den ganzen Tag nähen müssen – da lag ja eine von ihnen 24 todt! Das Opfer war glücklicherweise keiner ihrer Lieblinge. Frau von Buschbeck bedauerte den Unfall, fand es aber angemessen, daß man die Taube nicht ganz „umkommen“ ließ. Sie wurde zu Mittag von ihr selbst, wie sie’s nannte, au gratin zubereitet. Daß Lucinde von einem ihrer Täubchen selbst nichts essen mochte, that ihr leid, denn sie sagte, sie hätte darauf gerechnet. Lucinde mußte sich deshalb mit einer einfachen Milchsuppe begnügen.

Schwerlich würde Lucinde von der Milchfrau ein ferneres überraschendes Wort, daß wir gleich berichten wollen, vernommen haben, wenn sie nicht die Schlauheit gehabt hätte, schon durch das Guckloch zu beobachten, wann diese kam. Denn kaum hatte im glücklich erspähten Moment, als sie ohne zu klingeln geöffnet bekam, die Milchfrau gesagt: Was? Sie sind noch da? und dies Noch höchst scharf betont, als auch schon wieder Frau von Buschbeck in Halbnégligé, Joppel und Spitzenhaube erschien und eine weitere „Conversation“ unterbrach. Lucinde war eine Gefangene. Die gnädige Frau besorgte die inzwischen nothwendig gewordenen Ausgänge selbst und schloß ihren Pflegling ein. Glücklicherweise glaubte dieser, solche Vorsicht wäre in der Ordnung, da ihr die Stadt als eine Höhle aller Laster und Verbrechen geschildert worden war. Nur daß sie ausschließlich in der Küche und auf dem Entrée verbleiben mußte, wurde ihr zu schwierig. Sie rüttelte wenigstens an dem Eingang zur Wohnthür, aber die vordere Herrlichkeit mit den Erinnerungen an die Wilden fand sie immer verschlossen.

25 Der Taubenschlag, der auf dem Boden hergerichtet werden sollte, kam nicht. Die Tischler wären viel zu theuer, hieß es, und vor Mardern blieben die Thierchen unterm Küchenherde gesicherter. Es war ein trauriger Anblick, die armen Luftbewohner in dem engen Raume sich drängen und einer dem andern auf die ohnehin bei Tauben schon so schwerfälligen Füße treten zu sehen. Lucindens liebste Freude war sonst gewesen, an der Dachluke zu sitzen und die kreisenden Bewegungen ihrer Pflegebefohlenen mit ihren scharfen Augen, die sie bis in die weiteste Ferne verfolgen konnten, zu beobachten. Sie verbrachte eben damit die Zeit, die besser für die Erlernung des Eierkuchenbackens wäre angewendet gewesen. Einzig den paar Kröpfern, die sich Lucinde aufgezogen, that die Ruhe wohl. Die häßlichen Thiere saßen wie die Puterhähne und vergruben die Schnäbel in ihre Kröpfe. Leider aber mußten sie hungern, was diese vornehmen Prälaten am wenigsten vertragen können. Es starben aber – fast konnte man sagen „glücklicherweise“ – in nächster Nacht noch zwei von den armen Gefangenen. Es war eine Taube darunter, deren Verlust Lucinden unendlich nahe ging; eine halb braun und weiße Taube von ganz besonderer Zierlichkeit, mit einem Halse, dessen Federn auf die wunderbarste Art in sämmtlichen Farben des Regenbogens spielten, ohne daß man eigentlich unterscheiden konnte, wo die grünen und die blauen Schattirungen anfingen; es sind die Farbenspiele der Taubenhälse eben Wunder, die noch kein Chemiker hat erklären können. Lucinde wußte wohl, daß zu ihrer Wirkung das Licht des blauen Himmels gehörte, von dem 26 in die nach einer Brandmauer hinausgehende Küche leider sehr wenig hereinfiel.

Auf dem Boden, das entdeckte sie dann allmählich auch, war gar kein Platz, um daselbst einen richtigen Taubenschlag bauen zu können. Sie entdeckte das, wenn sie von dorther Holz holen mußte. Es war das für sie immer eine große Entdeckungsreise, auf der sie vielerlei Neues sah. Es schmerzte sie daher auch nicht zu sehr, als eines Tages die Alte mit einem ganz besonders charakteristischen Tone sagte:

Sackerlot! Die Tauben fressen einem ja das Hemd vom Leibe weg! Das sind theure Kostgänger! Wir wollen sie verkaufen! Was sie einbringen, leg’ ich zu deiner Toilette an für den Winter, Jettchen!

Lucinde hatte aus dem Fenster, wenn sie vorn rein machte und nähte – letzteres mußte sie jeden freien Augenblick – und wenn es in der Küche zu finster wurde, in der Vorderstube, schon manche wunderschöne Frau auf der Straße gesehen und träumte dann, wenigstens einen neuen Hut tragen zu können, wenn auch ohne Federn. Sie gab also ihre Einwilligung zum Verkaufe. Die Alte brachte einen Koch aus einem der vornehmen Gasthäuser mit, der sämmtliche Tauben an sich nahm. Wie viel sie dafür löste und wie viel für ihren Winterstaat verbraucht werden konnte, erfuhr Lucinde nicht; denn der Koch kam gerade in dem Augenblick, als ihr die gnädige Frau befohlen hatte auf dem Boden zu bleiben und zwei Trachten Kleinholz zu machen.

Daß sie nur eine „Magd“ bei der gnädigen Frau war, das hörte sie dort oben denn endlich auch. Auf 27 dem Boden trafen sich die Mägde aus dem ganzen Hause zusammen, und da erfuhr sie desgleichen, daß Frau von Buschbeck in der ganzen Stadt den Namen hatte, keinen Dienstboten mehr, aber absolut auch keinen mehr, bekommen zu können. Sie plage und quäle ihre Leute so sehr, daß niemand länger als einige Tage bliebe. Die „Miethweiber“ schickten niemand mehr, vor der Polizei bekäme sie gegen keine Anklage mehr recht; sie wäre verurtheilt gewesen sich selber zu bedienen, wenn sie nicht auf den Einfall gekommen wäre –

Bei dieser Eröffnung mußte Lucinde schon wieder hinunter. Frau von Buschbeck rief sie selbst ab und fuhr die Magd an, die in einem Nebenboden Holz spaltete und wol „ihre Dienstboten verführen“ wolle? Vor ihren Augen mußte Lucinde zwei Trachten Holz aufpacken und in die Küche tragen. Jetzt war Platz wieder unterm Feuerherd. Die Tauben waren fort. Die gnädige Frau behauptete, schlecht bezahlt worden zu sein; sie gab von dem, was sie von dem Koch empfangen, nur die Hälfte an, und Lucinde hörte es kaum; sie überlegte sich nur, was sie gehört: Frau von Buschbeck hatte in der Stadt keine Magd mehr bekommen können und holte sich deshalb – eine doch wol vom Lande? Ihr Räthsel war gelöst.

Ehe sie dabei mechanisch das Holz verpackte, wollte sie doch erst die vielen kleinen Federchen wegnehmen, die von ihren Tauben zurückgeblieben waren. Sie waren so blau, so weiß, so goldbräunlich, und jede Feder erinnerte sie gerade an die Verschwundene, der sie angehörte …

28 Das gibt ein schönes Nadelkissen! sagte die Frau Haupt­männin. Es war eine dieser Frau eigene Kunst, daß sie die Phan­tasie ihrer Pflegebefohlenen immer anzuregen wußte. Erst der Winterstaat, nun das Nadelkissen! Was sind dem Kinderherzen nicht alles Eingänge zu den herrlichsten Feenschlössern!

Allmählich aber kam Lucinden das Vollgefühl ihres traurigen Looses. Da hatte sie schon in einer Nacht vor dem letzten Braten, den sie gehabt (Taubenbraten), selbst gesehen, daß die gnädige Frau, die an Schlaflosigkeit zu leiden schien, an ihre Bettlade kam, sie überleuchtete, das Licht auf den Feuerherd stellte und eine der Tauben nahm und ihr mit raschem Griff eigenhändig den Hals umdrehte. Dann legte sie sie wieder ruhig zu den übrigen und stellte, als wäre nichts geschehen, die Zuber vor. Lucinde glaubte zu träumen. Aber es war ganz wirklich so gewesen. Der Augenschein des Morgens bestätigte es. So gingen anfangs die Tauben fort, so gingen die Eier, so die Zwetschen. Auch den Korb schickte sie nicht an den Vater zurück, worüber Lucinde sie zum ersten mal etwas trotzig zur Rede stellte. Aber die Alte wußte zu zähmen; vorzugsweise durch Hunger. Abends, als auch Lucinde zum ersten mal ihre Krallen gezeigt, brachte die Hauptmännin einen Haufen trockener Zwetschensteine. Lucinde bekam die Anweisung, sie mit einem alten Ziegelsteine, der vom Feuerherd losgegangen war, aufzuschlagen und sich die „kostbare“ Mahlzeit der Kerne für den Abend munden zu lassen. Ein Trunk Wasser dazu würde die Kerne besser aufquellen lassen …

29 Lucinde gehorchte wol, doch in den schwarzen Augen der Schulmeisterstochter brannte mehr als nur Gehorsam. Sie mußten sich nur immer erst orientirt haben, und dann geriethen diese Augen in eine Glut, die von seltsamen Gedanken geschürt werden konnte. List weckt Gegenlist, Tyrannei Widerstand. Und wer weiß, ob Lucinde ein Wesen ist, daß sich überhaupt nach sanfter Rede, Güte des Herzens, Liebe und schonender Obhut sehnt! Schon können wir sagen, daß ihr nie die Zähne weh thaten, daß ihr nie ein Schnupfen Fieber machte, nie eine Zurücksetzung Thränen kostete. Sie half sich immer gerade so weit durchs Leben, als sie das Leben verstand, und ihre Waffen waren in frühester Zeit schon die geballte Faust, dann die spitze Rede, jetzt die Verschlagenheit … Sie fängt mit der gnädigen Frau, die sie nun „bald weg hat“, wie sie den Mägden des Hauses, die sie aufhetzten, eingesteht, einen Kampf an, nicht etwa auf Leben und Tod, sondern einen Guerrillakrieg innerhalb der von der gnädigen Frau selbst gezogenen Schranken. Sie hat allmählich dabei die schöne Stadt sich „herausgeluchst“, die herrlichen Gärten, die großen denkmalgeschmückten Plätze, die Soldaten, die Offiziere, die schönen Umgebungen und die bezaubernden Fernblicke in sonnenbeschienene Ebenen und nach neuen blauen Hügelrändern hin; sie erwischt aus dem Bücherschranke des, wie sie gehört hatte, noch gar nicht verstorbenen niederländischen Hauptmanns Bücher; sie dringt darauf, daß sie, noch immer nicht eingesegnet, wenigstens in die Kirche gehen darf; sie schreibt seitenlange Briefe nach Langen-Nauenheim, worin sie freilich das Ausbleiben des Korbes entschuldigen und 30 eine Menge Erfindungen mittheilen muß, weil die gnädige Frau die Briefe erst liest, ehe sie sie abgehen läßt. Und nun macht es ihr gerade Spaß, die komischsten Erdichtungen zu schreiben, nur damit die „Alte“ sich ärgert oder in jene Blindheit verfällt, die sie überkommt, wenn ihre unruhigen und gespenstischen Gedanken ganz nach innen gehen. Lucinde schreibt von Bällen und Gastereien, und die Alte liest es, als hörte sie die Geigen rauschen und die Schüsseln klappern. Sie läßt den Brief abgehen und ist sogar milder als sonst, weil sie dann stundenlang nicht aus einem wie somnambulen Zustande herauskommt.

Um so gräßlicher ihr Erwachen! Dann war’s doch, als beschuldigte sie Lucinden, der „schwarze Teufel“, wie sie sie nannte, wolle sie erwürgen. Dann hatte die menschenfeindliche, geizige Frau Blicke so voll Gift wie ihre javanischen Pfeilspitzen. Wie der Taubenfalk schoß sie hinter Lucinden her, wenn diese nur einmal gelacht hatte; sie krallte mit ihren dürren Fingern in sie ein wie jener, wenn er aus Himmelshöhen niederschießt. Die böse Frau hatte keinen Schlaf. Sie fürchtete entweder Gespenster oder sich selbst. Sie leuchtete um Mitternacht in die Winkel. Kam sie an die Bettlade Lucindens, so hielt sie das Licht über die Halbschlummernde und schrie sie an: Das kann schlafen! Das kann die Augen zuthun! Oft mußte Lucinde aufstehen und ihr um zwei Uhr Morgens vorlesen, Reisebeschreibungen, Erzählungen von den Wilden, zuweilen auch Legenden. Frau von Buschbeck ging jährlich einmal zur Kirche; sie war katholisch. Wenn aber Lucinde um ihre Ein-31segnung drängte, nahm sie alle Bücher fort und sagte: Unser Herrgott ist der Satan! Sie war so geizig, daß sie sich eine alte Guitarre, auf der sie in den Abendstunden klimperte, nicht einmal neu mit Saiten beziehen ließ. Auf zwei Saiten spielte sie alte sentimentale Lieder und pfiff dazu. Da sie dies ohne Lippen thun mußte, so klang es wie leiser klagender Nebelwind auf der Heide. Der Anblick dieser grotesken Scene war Lucinden nicht vergönnt, denn Frau von Buschbeck schloß sich ein, wie sie fast immer that, besonders nach jedem Ersten im Monat, wo der Postbote eine ansehnliche Summe in einem mit adeligem Petschaft versiegelten Briefe brachte. Da mochte sie zählen, was ihr Geiz aufhäufte. Oft lauschte Lucinde und hatte die listigen Augen an die Fensterscheiben der Stubenthür gedrückt. Sie unterließ aber auch das, als eines Tages auf der entgegengesetzten Fläche der Scheibe das volle Antlitz der plötzlich hinter dem Vorhang auftauchenden Hauptmännin sie angrinste. Sie war von dem Anblick so entsetzt, als hätte ihr eine Fledermaus auf der Nase gesessen. Sie bebte so, daß sie nicht einmal entfliehen konnte, sondern ruhig geschehen ließ, daß die Thür sich öffnete und sie zur Strafe ihre gewöhnliche körperliche Züchtigung erhielt.

Dabei liefen Tag und Nacht zusammen. Hatte Lucinde bis drei Uhr nach Mitternacht vorgelesen, so meinte die Hauptmännin, bis vier wäre nur noch eine Stunde und man könnte gleich aufbleiben und ans Tagewerk gehen, worunter sie Nähen und Stricken verstand. Die Hemden und Strümpfe, die Lucinde lieferte, gingen und kamen: sie behauptete, für eine Anstalt, die gut zahle; 32 sie spare alles für Lucindens Zukunft. Oft wurde sie, wenn gar zu böse Stunden kamen, so tückisch, daß Lucinde manche Arbeit dreimal thun mußte, nur damit ihre Peinigerin über dies und jenes ihren Willen hatte.

Eines Tages klingelte ein Polizeiagent und verlangte Einlaß.

Er erklärte rundweg, Frau von Buschbeck sollte auf dem Amte erscheinen und sich wiederum rechtfertigen wegen unmenschlicher Behandlung ihrer Dienstboten, wie schon öfters.

Eine Menge Menschen aus dem Hause und der Nachbarschaft drängte nach. Beinahe wäre ein Act der Volksjustiz ausgeführt worden, denn man fand wirklich Lucinden an Händen und Füßen gebunden in einer dunkeln Seitenkammer der Küche, in welcher Frau von Buschbeck ihr altes Geräth aufbewahrte. Dort lag sie schon seit zweimal vierundzwanzig Stunden und bekam nur Wasser und Brot, weil sie, wie sie beschuldigt wurde, aus „Bosheit“ zwei chinesische Tassen zerschlagen hätte mit der Drohung, alles Zerbrechliche auf der Servante zu zertrümmern, wenn sie noch ferner jedes kleine Mißgeschick, das sie beim Abstäuben oder Putzen beträfe, mit „künftigem Abzug von ihren Ersparnissen“ büßen müsse … Im Hause hatte man das Jettchen der Frau Hauptmännin zwei Tage lang nicht bemerkt, Anzeige gemacht, und so kam es zum Durchbruch.

Lucinde machte auf dem Amte dem Polizeirichter, Stadtamtmann genannt, einen wunderlichen Eindruck.

Sie war trotz Kasteiung und Entbehrung jeder Art fast vollkommen entwickelt. List und Verschlagenheit 33 waren unverkennbar der Ausdruck ihres Wesens, der ihr aber schön stand, wenn ihre dunkelbeschatteten Augen glühten, ihre Lippen trotzig sich aufwarfen und dabei ein ständiges scheues und ironisches Lächeln um den kleinen zierlichen Mund spielte. Das schwarze Haar war in Flechten geordnet, die voll und schwer um die Stirn gingen. Selbst die Hände, die doch soviel schaffen und „schanzen“ mußten, waren nicht eben rauh. Sie sagte, da die in einem Fiaker folgende Frau von Buschbeck sich auf die Feinheit und Schonung derselben berief, daß sie es bei ihrem Vater „nicht nöthig gehabt hätte“. Nur ihre Haltung entsprach nicht dem schlanken Wuchse. Sie senkte den Kopf … so aber, wie wenn eine schwere Aehre sich an einem langen Halme wiegt.

Der Stadtamtmann sprach von ihrer Familie. … Erst jetzt erfuhr sie ein schreckliches Unglück aus Langen-Nauenheim.

Drei ihrer Geschwister, und das liebe Hannchen darunter, waren schon seit Jahresfrist todt! Im Zeitraume von drei Tagen hatte sie das Scharlachfieber, das in der Gegend wüthete, hinweggerafft … Die Alte hatte den Brief des Vaters aufgefangen und den Inhalt verschwiegen, weil sie die Wirkung des Kummers auf den Fleiß und die Arbeit fürchtete!

Wie Lucinde diese Nachricht hörte, stürzten ihr seltsamerweise keine Thränen aus den Augen … Nur schrecklich erblaßte sie … Der Stadtamtmann ließ das wankende Mädchen sich auf einen Stuhl setzen; man konnte eine Ohnmacht befürchten … Der Blick, den Lucinde bei dieser Nachricht auf die böse Frau warf, 34 war furchtbar … Ihre sonst so dunkeln Augen sahen in diesem Moment weiß aus, und die böse Zunge der stadtberüchtigten Frau, die der Verzweiflung nahe war, kein Mädchen bekommen zu können, und in diesem Fluche fast mit wirklichem Schmerz eine angezettelte Verschwörung sah, war gegen sie völlig verstummt.

Als der Stadtamtmann Lucinden erstens einen Lohn und die Auszahlung ihrer Ersparnisse gesichert, dann die Frau Hauptmännin, die er indessen sonderbarerweise immer nur Fräulein von Gülpen nannte, aufs entschiedenste ermahnt hatte, die Lang­muth der „überhaupt gegen sie so duldsamen“ städtischen Behörden nicht zu erschöpfen, wurde Lucinde von ihm befragt, ob sie nicht zu ihrem Vater und zu ihren Geschwistern zurück wolle?

Sie saß starr und antwortete nicht.

Dann erwähnte der Stadtamtmann unter den Unterlassungssünden, die sich „Fräulein von Gülpen“ gegen sie hatte zu Schulden kommen lassen, auch die unterbliebene und doch von ihr versprochene anständige Confirmation. Gleichsam aber, als wenn sich Lucinde fürchtete, nun in Langen-Nauenheim noch erst confirmirt und dort unter die ihr wohlbekannten Buben und Mädchen gesetzt zu werden, antwortete sie auf die wiederholte Frage, ob sie mit der immerhin beträchtlichen Summe von nahezu funfzig Thalern, die ihr zuerkannt wurde, nach Langen-Nauenheim zu ihrem Vater und ihren auf drei zusammengeschmolzenen Geschwistern zurückkehren wolle, mit einem ernsten, bedachtsamen und fast kalten Kopfschütteln: Nein!

Das ist’s ja! brach die zitternde Tyrannin aus. 35 Das Leben auf der Straße, die Promenaden, die Offiziere, das Schlendern, das Gaffen …

Ruhe, Fräulein! unterbrach der Stadtamtmann.

Frau von Buschbeck oder Fräulein von Gülpen mußte sich entfernen, nachdem sie mit zitternden Händen einen Revers zur Zahlung von funfzig Thalern und Auslieferung aller Sachen Lucindens unterschrieben hatte. Sie ging mit krampfhaftem Zusammenschlagen ihrer Ober- und Unterkiefern, doch nicht ohne eine Art von Würde und Vornehmheit. Man hatte ihr da, wo man ihre Lebensverhältnisse näher zu kennen schien, zwar den Titel einer Frau geraubt, den einer Adeligen aber lassen müssen.

Draußen empfing sie das Hohngeschrei zusammengelaufener Menschen. Sie war die Bekannte, Stadtkundige, die Frau: bei der niemand dienen wollte!

Sie stürzte in ihren Fiaker, doppelt schwer aufseufzend; denn ihr Geiz sagte ihr wieder: Himmel, du hast den Fiaker vorher zu bezahlen vergessen! Nun rechnet dir der auch noch die halbe Stunde an, die er vor dem Stadthause hat warten müssen!

36 4.#

Der Stadtamtmann war in der Lage, gerade ein Mädchen zu bedürfen.

Er bot Lucinden an, zu seiner Frau zu ziehen. Für die Confirmation versprach er unverzüglich Sorge zu tragen.

Sie nickte einfach: Ja! saß bis auf weiteres im Nebenzimmer des Amtssaales eine halbe Stunde allein, setzte im Geiste einen Brief auf, den sie an ihren Vater schreiben wollte, und folgte dann dem Stadtamtmann, als er sein Vormittagsgeschäft hinter sich hatte, in einiger Entfernung in seine Wohnung.

Die Polizeidiener ersparten ihr die Gefahr, noch einmal zur gnädigen Frau, wie sie lachend titulirt wurde, zurückzukehren, und versprachen ihr alles Ihrige abzuholen und nachzubringen.

Lucinde schaute und hörte hinein wie in eine fremde Welt. Daß sie einer schrecklichen, abscheuerregenden, wie es hieß und auch später im Wochenblatt unter der Rubrik Polizeibericht zu lesen war, „zuchthauswürdigen“ Behandlung entronnen war, … das fühlte 37 sie eigentlich selbst nicht so lebendig. Sie ließ sich’s von den Leuten nur sagen und nahm’s dann hin, wie die es wollten.

Die Frau Stadtamtmann hatte nichts gegen die Anordnungen ihres Gatten einzuwenden. Nur schien ihr die Zumuthung, das neue Mädchen erst confirmiren lassen zu müssen, umständlich. Indessen sagte sie zu. „Henriettens“ Anblick – dieser veränderte Name blieb auch hier – that ihr wohl. Die Frau Stadtamtmann war gerade in der Hoffnung und sorgte dafür schönen Formen zu begegnen. Der Anblick des anziehenden, schlanken und gesunden Mädchens that ihr wohl.

Es kommt oft vor, junge Confirmandinnen zu sehen, die nur gleich am Altar stehen bleiben sollten, um sich den Ehesegen geben zu lassen. Auch Lucinde war auf besondere Bitte des Amtmanns schon nach vier Wochen ein solcher Spätling unter den lieblichen weißgekleideten Kindern mit ihren Rosaschärpen und Myrtensträußchen. Der Superintendent gestattete die schnelle Beförderung, da er von der Schulmeisterstochter religiöse Bildung voraussetzte. Er wußte wol nicht, daß man sich nirgends mit dem lieben Gott weniger Sorge macht als in Pfarr- und Schulhäusern. Da steht man mit dem Himmel auf dem Fuß des Empfangens im Négligé. Gebetet hatte Lucinde außer vor und nach der Schule nur beim Eierkochen. Pflaumenweich liebte der Vater die Eier und dafür genügten zwei Vaterunser.

Der Wildling stand nach vier Wochen unter den Confirmandinnen.

38 An Wuchs ragte sie hier nicht mehr vor allen hervor; es gab ebenso aufgeschossene Blondinen und Brünetten wie sie, zu denen sich der Herr Superintendent nicht gar zu sehr zu bücken brauchte, wenn er ihnen Sonntags darauf den Kelch reichte; aber Lucinde war schon voll, kräftig in den Schultern, stark in den Hüften, und wenn auch im allgemeinen ihr scharfgeformter Kopf selbst noch nichtssagend war, so reizte sie das kindliche Wesen ihrer Umgebungen doch zu einem Umblick in der Kirche, der ihr ganz vorwitzig und weltlich stand. Manchem mußte sie auffallen. Sie stand wie ein Heidenkind, zerstreut und ohne Andacht, obgleich ihre schwarzen Bänder auf Trauer deuteten. Zugegen war niemand, den sie kannte, außer einer alten Magd aus dem Hause, das der Stadtamtmann bewohnte. Diese hatte ihr ein vergoldetes Gesangbuch geliehen und sie auf ihrer Kammer geschmückt, sodaß sie hernach zur Frau Stadtamtmann hintreten konnte und deren ganzen Beifall erntete. Diese neue „gnädige Frau“ schenkte ihr ein schwarzes Halsband von Sammt mit einer Stahlschnalle, die auf dem brünetten Halse funkelte wie eine Broche von Diamanten. Ja, als sie aus der Kirche zurückkam, wurde sie sogar mit Chocolade empfangen. Man war gut und freundlich gegen sie.

Es war eine sonderbare Welt, in die das nun fast funfzehnjährige Mädchen hier stündlich einblicken konnte. Die Gensdarmen gingen ab und zu, und der Stadtamtmann, der zwar ein für allemal im Hause und wenigstens bei Tisch mit den Vorkommnissen seines Berufes verschont sein wollte, konnte es nicht dahin bringen, 39 daß er ohne Behelligung bis zum Dessert kam. Lucinde bediente; auch wenn Gäste geladen waren. Sie besaß zwar nicht viel Geschick und machte vieles verkehrt, doch wurde das alles nicht mehr mit der früher erlebten Strenge gerügt. Zerstreut mußte sie schon dies ewige Rapportiren machen von dieser Dieberei und jener Gewaltthat. Ihre Phantasie, die sehr lebhaft war, sah ringsum – sie brauchte schon nur an die doppelten Namen der ihr vorerst entschwindenden „Frau Hauptmännin“ zu denken – die Welt voll Lug und Trug, und da sich’s dabei doch so behaglich essen und trinken ließ, so erschreckte sie keine Thatsache, selbst kein Diebstahl, kein Mord mehr; sie schüttelte den Kopf darüber, daß die Dinge des Lebens alle so glatt, so höflich und vergnüglich vorwärts gingen, während tausend Hände daran arbeiteten sie zu verwirren, man sah’s nur so nicht auf den Promenaden, wenn sie mit den Kindern des Stadtamtmanns ausging und die Leute stillstanden und die Kinder bewunderten, d. h. sie selbst und ihre auffallende Erscheinung.

Eines Tages erlebte sie aber auch auf der Promenade, daß ein junges Mädchen, das halb bäuerisch, halb städtisch, aber schwarz gekleidet war, auf sie zustürzte.

Es war ja ihre nächstälteste Schwester Luise!

Sie trauerte. Um die Geschwister noch?

Um den Vater! Das liebe, freundliche, immer lächelnde Männ­lein war nicht mehr … Luise weinte so laut, daß es ihr Lucinde verbot, „weil ja die Leute still stünden“ … Sie selbst war wieder nur erblaßt wie damals, als sie plötzlich nicht mehr ihre drei Geschwister 40 hatte. Indem kamen noch zwei andere beflorte Kinder von der andern Seite. Es waren August und Gustav, ihre Brüder. Die hatten das Haus des Stadtamtmanns aufgesucht, dort gehört, ihre Schwester wäre auf der Promenade mit zwei Kindern; nun hatten sie sich vertheilt, und eins hatte von hier, das andere von dort gesucht. Der Vater war todt … Und wie schmerzlich hatte er geendet! … Er war in einen der vier kleinen Bäche gefallen, mit denen Langen-Nauenheim gesegnet ist … Spät von dem Vorspann war er heimgekommen … Kein Stern blinkte … es war ein großer Nebel gewesen, und da hatte er eine von den Brücken verfehlt. Erst Morgens hatten sie ihn gefunden, wie er dalag im kühlen Grunde, aufgehalten von den Wurzeln eines alten Weidenstamms.

Lucinde schüttelte düster den Kopf. Dann rief sie mechanisch des Stadtamtmanns Kindern, die sie führte, ein scheltendes Wort; darauf fragte sie, ob die Geschwister schon gegessen hätten. Luise versicherte es und kam auf das schmerzliche Ende des Vaters zurück. Lucinde fragte, was aus dem Hause, aus dem Garten, aus dem Geräth, den Hühnern, der Ziege, der großen Wandkarte geworden wäre! Sie erfuhr, daß alles das theils dem Staate, theils dem Dorfe, theils dem Wirth zum Vorspann und einer alten Frau gehörte, bei der sie schon lange oft ihre Betten in Versatz gegeben hatten, wenn sie auf ein paar zusammengerückten Schulbänken hatten schlafen müssen. Luise die wollte nun auch dienen, und die Kinder brächte man vielleicht in einer Fabrik unter. So hatte es der Gemeindevorstand in Langen-Nauenheim 41 gesagt; sie sollten’s einmal so versuchen, und „ging’ es nicht, so würde wol anders gesorgt werden“. Gustav war acht Jahre. In einer Spinnerei vorm Thore suchte man Kinder schon von acht Jahren an; es hatte das in der Zeitung gestanden, in derselben Zeitung, die der Vater immer auf bessere Zukunft zu studiren pflegte, und in deren Beiblatt einst seine Phantasieen über den Beruf eines deutschen Volksschullehrers gestanden hatten.

Nec impavidum ferient ruinae

Latein konnte Lucinde nicht, aber der Stadtamtmann übersetzte so etwas einmal bei Tische, und sie glaubte, es hieß: „Was schadt’s!“

Es war ein Wahlspruch gewesen, den ein alter Ritter gehabt. Sie nahm ihn schon oft an, und heute nun mußte sie schon. Sie nahm die Kinder, die alle zunächst doch noch Hunger und Durst genug hatten, mit sich; der Schwester sagte sie gleich die Miethsfrau, wo die wohnte, und wie sie mit der sprechen müsse. Die Frau Stadtamtmann war noch nicht am Ende ihrer Hoffnung, die zwei kleinen Buben vom Lande waren prächtige Jungen, sie gefielen ihr. August und Gustav blieben einen Tag und kamen dann nicht in die Fabrik. Der Stadtamtmann sorgte dafür, daß sie ins Waisenhaus aufgenommen und „gut erzogen“ wurden.

Und nun sind kaum drei Jahre von dem Langen-Nauenheimer Auszug vergangen, und welche Veränderungen haben wir!

Lucinde fand sich in alles. Sie hatte etwas Wühlendes, Unruhiges und beherrschte jede Situation. Bei Tische wartete sie nicht mehr auf. Der Stadtamtmann 42 fand, daß es kaum noch schicklich war. In die Höhe wuchs sie nicht mehr, dafür that es ihr Geist, und sie regierte eigentlich das Haus, das sie aufgenommen. Selbstverständlich da, als die Frau Stadtamtmann eines Jungen genesen war, aber auch später. Durch ihre sichere, herausfordernde Ruhe, ihr spöttisches Lächeln, ihren Flunkergeist nur verdarb sie sich zuweilen ihre Autorität. Lange Ruhe um sie her ertrug sie nicht, und übermäßiges Glück oder allzu frohe Selbstzufriedenheit verdarb sie gern, indem sie Schicksal spielte. Der Amme gegenüber lobte sie das schöne Aussehen anderer Kinder, eine Handlung, für die man bekanntlich von jeder Amme vergiftet werden kann. Einem Bedienten, der etwas schwach von Begriffen war und seine Bestimmung verfehlt zu haben glaubte, weil er eine leserliche Hand schrieb, gaukelte sie bald diese, bald jene glänzende Aussicht vor. Hager! rief sie, wenn sie die Zeitung gelesen hatte, in Amerika ist ein Vetter Ihres Namens gestorben, man fordert alle Hagers auf sich zu melden! Mußte Hager gerade die Schuhe oder Messer putzen, so hatte sie, wenn er frei war, die Zeitung verlegt und jagte den beschränkten Menschen wochenlang mit seinen Vermuthungen, welcher von seinen Anverwandten jener in Amerika verstorbene Hager gewesen sein konnte, im Kreise umher. Von ihrem Koboldgeist blieben dann selbst die bei einem Kaufmann dienende Schwester und ihre Geschwister im Waisenhause nicht verschont. Ihr bei aller äußern Ruhe innerlich unruhiger Sinn wuchs mit dem Besuch des Theaters, das sie durch den Stadtamtmann frei hatte, jedoch nur im dunkeln Hintergrunde einer Loge dritten Ranges, 43 während die Herrschaft im zweiten saß. Immer mit leuchtenden Augen kam sie vom Theater heim. Man glaubte natürlich, daß es die Stumme von Portici gewesen, die sie so außerordentlich aufgeregt hatte; aber es waren die Zuschauer, die Logen, die glänzenden Toiletten, die fürstlichen Herrschaften. Die Tischgespräche berichteten dann nach wie vor von vornehmen Spielern, von zanksüchtigen vornehmen Herrschaften, von allem, was sich nur zur Kenntnißnahme des Polizeirichters einer so ansehnlichen Stadt drängte, und dergleichen Leute sah sie dann wieder fröhlich und wohlgemuth und mit Lorgnetten spielend in den elegantesten Logen.

Eines Tages that sie einen tiefen Einblick in das innerste Lebensgetriebe …

Das glänzendste Waarenmagazin der Stadt war ein sogenannter Bazar, in welchem alle Modeartikel und Bedürfnisse einer eleganten oder auch nur comfortablen häuslichen Einrichtung, soweit sie Stoffe betraf, verkauft wurden. Ein unternehmender Kaufmann im Anfang der mittlern Jahre leitete dies Geschäft, wie man sagte, nicht ganz mit seinem eigenen Gelde. Sein Savoirfaire kam ihm jedoch zu statten, um die ganze höchste, hohe und mittlere Gesellschaft an sich zu ziehen. So gefällig die Formen des Mannes waren, der in seinem schwarzen Frack mit weißer Halsbinde die Honneurs seines mit mindestens einem Dutzend Commis ausgestatteten Geschäftes machte, so entschieden wußte er doch ebenfalls in geeigneten Fällen aufzutreten. Schon oft war in seinem großen und schwer zu beaufsichtigenden Geschäft gestohlen worden, sogar während des Verkaufs, und 44 oft schon hatte er, wenn entweder der Stadtamtmann bei ihm oder er bei jenem zu Tische war, erklärt, er würde niemand schonen, wenn er einen jener eleganten Diebe beim Handverkauf entdeckte, und sollte es der Vornehmste sein. Schicken Sie nur sofort zu mir, hatte der Polizeirichter erwidert. In solchen Fällen muß man der Schlange gleich auf den Kopf treten!

Und eines Tages schickte der Kaufmann; der Stadtamtmann möchte eiligst, aber selbst kommen, hieß es, er möchte einen seiner Gehilfen, aber vorläufig nur in der Ferne, bereit halten …

Der Stadtamtmann war nicht gegenwärtig. Und da auch Hager, der Diener, nicht zugegen war, so mußte Lucinde die Mantille umwerfen und auf das Amthaus laufen.

Aber auch dort fand sie ihren Herrn nicht.

Da sie ihn auf dem Casino vermuthete, so eilte sie ins Casino und nahm sofort einen der Polizeidiener mit.

Ihr Weg führte sie aber an dem großen Magazin des Kaufmanns selbst vorüber, in dessen obern Räumen dieser auch wohnte. Da ihre Herrschaft in die letztern beschieden war, so glaubte sie sehr vernünftig zu handeln, wenn sie die Stiege hinaufging und dem Kaufmann wenigstens den Polizeidiener anbot, der ja so lange unten, wie zufällig, bei einer glänzenden Carrosse, die am Hause stand, warten konnte …

Da das ganze Haus nur allein von dem Kaufmann bewohnt wurde und oft der Verkehr in den obern Räumen 45 mit dem Magazin, das zwei Stockwerke einnahm, der lebhafteste war, so konnte es Lucinden nicht wunder nehmen, den Eingang der Wohnung offen zu finden. Auch stand auf der Treppe ein Bedienter in Livree, der auf seine Herrschaft zu warten schien und nicht unmöglich der unten harrenden Carrosse, die ein Wappenschild schmückte, angehörte.

Aber noch mehr Thüren standen offen, und augenscheinlich herrschte in der Wohnung die größte Verwirrung, wie sie wol nach aufregenden Entdeckungen stattzufinden pflegt.

In dem hintern Zimmer glaubte Lucinde einen Wortwechsel zu hören. Niemand war zugegen, außer einigen Kindern des Kaufmanns, die sorglos umherrannten. Ist der Vater da? fragte Lucinde. In seinem Bureau! hieß es. Die Bedienung schien ausgeschickt zu sein; auch die Mutter war nicht anwesend.

Lucinde kommt näher; die Teppiche dämpfen ihren Tritt, und schon übersieht sie im Geist, was drinnen vor sich geht. Sie zieht die Thüren hinter sich zu und steht unentschlossen, ob sie klopfen soll oder nicht …

Nein! ruft der Kaufmann. Sie wieder, Frau Baronin! Sie sind es jetzt fünfmal gewesen! Ich schwöre Ihnen, daß ich keine Rücksicht mehr kenne! Eine Dame Ihres Standes! Schämen Sie sich! Aber ich schone Sie nicht mehr, mögen Sie auf ewig gebrandmarkt sein! Nicht fünf Minuten noch, so werden Sie vor dem Richter stehen! Einen Kaufmann systematisch zu bestehlen, wie Sie es jetzt schon seit Jahren thun! Pfui der Schande!

46 Inzwischen hört man eine weibliche Stimme Beschwörungen und Betheuerungen ausrufen, die von Thränen erstickt werden …

Lassen Sie! Ich habe kein Mitleid mehr! ruft der Kaufmann. Seit Monaten beobachte ich Sie! Seit Monaten bemerk’ ich, daß jedesmal nach Ihrem Besuch im Magazin ein Packet Spitzen, eine Lage gestickter Taschentücher oder Seidenzeuge oder Foulards fehlen. Ich habe die Discretion gehabt, den Verdacht meiner Leute von Ihnen abzuwenden! Nur allein ich habe mit Ihnen verkehren wollen, so oft Sie das Magazin betraten! Heute endlich seh’ ich die rasche Handbewegung, als Sie eben einen Ihrer maskirten Käufe abschließen! Ich folge Ihnen, Sie verlassen den Laden, ich begleite Sie und am Wagen entdeck’ ich, was Sie inzwischen unter Ihrem Mantel verbargen! Pfui der Schande! Aber ich kenne keine Schonung mehr!

Lucinde hörte, daß der ungeduldige Kaufmann sich näherte, um zu sehen, ob nicht endlich der requirirte Stadtamtmann kam. Jetzt aber auch vernahm sie plötzlich ein heftiges Fallen und die herzzerreißende Klage einer Schluchzenden:

Auf meinen Knieen beschwör’ ich Sie, Herr Guthmann! Ich werde alles erstatten! Machen Sie mich nicht unglücklich!

Es währte der Auftritt noch eine Weile fort, bis sich die Vorwürfe und Drohungen milderten, das laute Schluchzen der Dame sich legte, zuletzt alles still wurde … Es wurde sogar so still, so unheimlich still, daß es Lucinden vor Schreck kalt überrieselte. Sie konnte nicht 47 ganz den Vorgängen mehr folgen und dachte sich irgendeine Gewaltthat. Leise, athemlos, unsicher auftretend zieht sie sich an die Thür, klinkt sie wieder leise auf und schleicht sich durch die Zimmer nach vorn auf den Vorplatz zurück, wo der galonirte Bediente wartet.

Eine so anziehende Erscheinung wie Lucinde brauchte hier nicht zweimal zu fragen, um den Namen seiner Herrschaft zu erfahren. Der Diener nannte eine der ersten Damen der Stadt.

Nicht lange dann währte es, so kam der Kaufmann mit der Herrschaft des Bedienten aus seinem Bureau zurück. Es war eine schlanke, magere, noch junge Dame, die Lucinde schon oft im Theater gesehen hatte, eine Frau, noch von Jugendreiz und Anmuth überstrahlt. Sie lächelte verlegen … Auch der Kaufmann lächelte … Sie schienen etwas verabredet zu haben, etwas besprochen, was vielleicht nicht ganz erledigt war. Die Dame zögert … Der Kaufmann beruhigt sie mit einem süßen Bitte! Bitte! … Dann steigt die Dame die Stufen nieder. Lucinde wird jetzt kurz und barsch befragt, was sie wolle? Der Kaufmann kennt sie doch sonst, sah sie oft, war immer sehr artig gegen sie … in diesem Augenblicke ist er wie abwesend.

Als Lucinde in stotternder Unsicherheit die Meldung macht, daß der Stadtamtmann nicht zugegen gewesen wäre, daß sie aber vom Amte jemand mitgebracht hätte, der unten warte, entschuldigte sich Herr Guthmann mit sich findender Artigkeit wegen „vergeblicher Bemühung“. Mit einem auszurichtenden Gruße an ihre Herrschaft und dem Auftrag, einen stattgehabten „Irrthum“ anzu-48deuten, steigt Lucinde die Treppe nieder. Unten rollt eben die prächtige Carrosse ab. Den mitgebrachten Gensdarmen muß Lucinde gehen heißen.

Diese Scene veranlaßte in ihr Aufregungen, die sie kaum beherrschen konnte. So hatte ihr noch nie das Herz geschlagen, so war ihr noch nie das Blut durch die Adern gerollt!

Sie verschloß das Erlebte in sich. Nicht Schonung oder vielleicht eine angeborene Discretion war es, was sie zu dieser Verschwiegenheit bestimmte. Entweder fürchtete sie, zu verrathen, daß sie schon trotz ihrer Jugend eine solche Scene verstanden hatte, oder man darf glauben, daß sie einen Genuß darin fand, ein so wunderbares Erlebniß ganz allein für sich zu besitzen, ganz allein für sich zu genießen und überhaupt Dinge zu kennen, die die Nacht mit Grauen bedeckt.

49 5.#

In jedem Leben ist der Augenblick entscheidend, wo uns die Dinge anfangen objectiv zu werden.

Unsere Kraft fängt von dem Augenblick an, wo wir etwas wissen, was endlich einmal feststeht, endlich einmal fixirt ist wie der Schmetterling unter der Nadel, nicht mehr auffliegen, nicht mehr wieder lebendig werden, uns widerlegen, irren, wieder zu Anfängern machen und in alle Weiten treiben kann.

Die Leute nannten Lucinden allmählich stolz. Ihr Stolz bestand darin, daß sie sich selber emporhob, es versuchte mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reichern Erfahrung gleichzukommen. Sie wußte so vieles mehr und besser als viele andere, und da sie doch an formeller Bildung zurückstand, auch zu träge und zu unstet war, vielerlei noch zu lernen und nachzuholen – ihre Herrschaft würde ihr dazu, wenn sie’s begehrt hätte, die Mittel geboten haben –, so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das, was ihr fehlte.

In diesen Erfindungen war sie so glücklich, daß man sie bald das poetische „Hessenmädchen“ nannte und sie 50 bewunderte. Sie war naiv mit Bewußtsein. Sie konnte den Blick so senken, wie die Andacht selbst. Sie konnte ihn aber auch wieder aufschlagen, wie jene Medusen, die gerade darum so grausam mit ihren Blicken tödten, weil sie so anziehend sind, so regelrecht in ihrem Antlitz alle Linien der Anmuth haben. Lucindens Kopf wurde immer mehr ein Gemmenkopf, den ebenso der blumendurchflochtene Aehrenkranz der Ceres wie das Schlangengeringel einer Phorkyde schmücken kann. Der Stadtamtmann, der zu den eigenthümlichen Naturen gehörte, die eine wahre Cerberusbissigkeit im Amte mit einer häuslichen träumerisch weichen und fast lyrischen Art verbinden können, erklärte es für einen „radicalen Unsinn“, als auf dem Casino davon die Rede war, sein vielbesprochenes schönes Kindermädchen sollte er die Tracht annehmen lassen, in der Van Embden seine berühmten blumenzupfenden Dorfmädchen gemalt hat. Er hätte sie, wenn’s nach ihm gegangen wäre, in eine Pension schicken mögen, soviel Respect hatte er vor ihren Gaben. Nur seine Frau theilte den Enthusiasmus nicht. Sie hörte seit lange nur auf die vielen Klagen, die über Lucinden einliefen. Alle jungen Mädchen der Bekanntschaft oder Verwandtschaft des Stadtamtmanns waren eine Zeit lang von ihr entzückt; kaum aber hatten sie einen Vertrauensbund mit ihr geschlossen, so nannte man sie treulos, verräterisch und warnte vor ihr die, die sie empfohlen hatten, und die, die sie noch beschützten. Die einen hoben sie zwar dann in den Himmel, die andern verwünschten sie aber schon. Sie war oft in dem Grade der Gegenstand der allgemeinen Discussion, daß sich der 51 Stadtamtmann die Ohren zuhielt, seine Gattin aber, „um dem Dinge ein Ende zu machen“, ihre Entlassung beantragte.

Nichts ist so verderblich für die Jugend, als ungestraft böses Beispiel hingehen sehen.

Lucinde sah die vornehme Dame, die eine Diebin war, sehr oft wieder. Sie sah sie auf der Promenade, im offenen Wagen, sie sah sie, von Cavalieren umgeben, im Theater; ja, eines Tages, eine halbe Meile von der Stadt entfernt, sah sie in einem öffentlichen Lustgarten des Fürsten, nach dem man Partieen zu machen pflegt, die schöne Frau in der Begleitung eben desselben Kaufmanns, der sie hätte vernichten können. Sie bedauerte damals, das seltsame, die dunkeln Alleen suchende Paar nicht genauer beobachten zu können, denn der, der sie selbst begleitete, war gerade ein junger Mann aus dem Geschäftspersonal des Herrn Guthmann und schien gerade seinen Principal hier am meisten vermeiden zu wollen. Kaum hatte der junge Mann die vornehme Dame mit dem in den Formen höchst gewandten Herrn Guthmann durch die grünen Laubgänge des Parkes daherkommen sehen, als er auch Lucinden sofort in eine Nebenallee zog und den Tag über vermied, sich draußen im Freien zu zeigen. Oskar Binder wußte nichts von den Ursachen dieser so auffallend intimen Annäherung, und Lucinde erröthete noch, wenn sie darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zu verrathen, was sie belauscht hatte, und den Preis zu nennen, um den die Baronin ihre äußere Ehre gerettet hatte …

Der schöne Oskar Binder selbst aber gehörte einer 52 achtbaren Familie an und war, wie man behauptete, der zuverlässigste und anstelligste unter sämmtlichen Commis im Bazar Guthmann. Das Vertrauen seines Principals überließ ihm die Verwaltung der Kasse. Durch sein Aeußeres ebenso empfohlen wie durch Namen und Herkunft, kam er in die Kreise des Stadtamtmanns, und viele der jungen Mädchen, Töchter von Räthen und angesehenen Beamten, zeichneten ihn aus. Dennoch warf er sein Auge nur auf die halb schon als Pflegekind im Hause des Stadtamtmanns befindliche „Henriette“. Daß sie eine Schwester hatte, die noch diente, hatte schon aufgehört; Lucinde verschaffte ihrer Schwester eine Stelle in einer großen, von einem Verein unterstützten Nähanstalt; ihre Geschwister im Waisenhause sollten zum Militär gebildet werden. So den Uebrigen fast schon ebenbürtig, ergänzte sie, was ihrer Stellung mangelte, durch die Geltendmachung ihrer Persönlichkeit. Der junge Buchhalter hörte, was allmählich alle jungen Männer von den andern Mädchen über Lucinden hörten, daß sie die Störerin des allgemeinen Friedens, eine gefährliche, zu jedem Mittel greifende Kokette wäre. Da sie aber den Reiz des Eindrucks für sich hatte und überdies im Gegentheil kein Wasser zu trüben schien, zog sie alle an. Sie hatte eine Art, bei gemeinschaftlichen Spaziergängen allein zu bleiben, irgend nach einer Blume zu suchen, einen Kranz zu winden, die jeden, den sie mochte, in ihre Kreise zog. Wenn sie den Schein des Dienens annahm, so half man ihr; wünschte sie selbst etwas, so vollzog man es. Die noch ländliche Betonung ihrer Worte stand ihr besonders naiv; sie war anziehend in 53 ihren Aeußerungen, und wenn sie lachte, so konnte sie, wenn sie gerade nicht zu weit darin ging, alles mit sich fortreißen. Nur zu weit durfte sie nicht gehen. Schüttete sie sich vor Lachen, wie man zu sagen pflegt, so hatte es den Ausdruck böser Schadenfreude, und all die jungen Mädchen schienen dann recht zu haben, die zuweilen wünschten ihr geradezu „die Augen auskratzen“ zu können.

Der junge Buchhalter folgte an jenem Tage, der ein auf die Woche fallender Feiertag war und ihm wie dem sonst sehr fleißigen Principal Urlaub gegeben hatte, lieber Lucinden als den übrigen Theilnehmern und Theilnehmerinnen einer großen Partie, die einige Verwandte des Hauses, in dem sich Lucinde befand, veranstaltet hatten.

Ihre Gegnerinnen behaupteten, daß sie die Kunst, sich in einem Parke plötzlich zu verirren, weidlich verstünde; aber die, die für sie als Naturkind und „Hessenmädchen“ schwärmten, nannten sie einen Elfen, ein romantisches Wesen, das die gewöhnlichen Gleise des Alltäglichen nicht zu wandeln brauche.

Heute hatte sie es auf Eichkätzchen abgesehen, deren sie mehrere schon aufgehuscht hatte. Die jungen Männer folgten fast zu stürmisch, fast zu auffallend. Lucinde hatte ebenso das Talent, die Männer für sich allein zu haben, wie das andere, wenn sie wollte, niemand aus der großen Ringkette des gemeinschaftlichen Vergnügens herausfallen zu lassen; sie sagte dann jedem etwas, was ihn zur Anknüpfung eines Gesprächs ermuthigen konnte. Schon war der junge Buchhalter darüber eifersüchtig, 54 und eben, als er seinen Principal entdeckte, hatte er es wirklich durchgesetzt sie zu isoliren. Als er nun doch zu den andern zurückkehren mußte, fragte sie:

Warum fliehen Sie denn nur vor dem Herrn Guthmann?

Der junge Buchhalter blieb die Antwort schuldig, worüber sie theils aus Neugier, theils aus Laune in Verdruß gerieth. Aber rings gab es nun Augen, die wußten, daß Lucinde zu den Naturen gehörte, die ihr Gefühl da, wo sie zanken und Vorwürfe machen, mehr offenbaren als da, wo sie schmeicheln und gut scheinen. Jetzt sah man aus ihrem Schmollen, daß Oskar Binder, der schöne Buchhalter, der Bevorzugte war. Als Lucinde sechzehn Jahre geworden, sprach man von ihrer Verlobung mit ihm.

Der junge Mann schien eine glänzende Situation zu besitzen. Er überhäufte Lucinden mit Geschenken, und dennoch versicherte er seinen nächsten Freunden (auf Dinge, die ihm und ihnen sehr heilig waren, in der Form, z. B. „auf Taille“ oder „Ich will hier nicht gesund stehen!“) daß er von Lucinde noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte. Auch der Stadt­amtmann erfuhr diese Versicherungen und rüstete sich alles Ernstes auf eine Aussteuer seines geliebten Findlings, auf den er einen Theil der Sympathieen für Glaube, Liebe und Hoffnung übertrug, die er sich in einem Beruf voll Mistrauen und Verfolgung als seine geheimste Lebenspoesie doch zu erhalten suchte. Da aber kam eines Tages seine Gattin und war über die „teuflische“ Natur eines Mädchens im Reinen, das die Neigung ihrer Nichte, der Hofraths-55Eveline, zu irgendeinem andern jungen Manne, dem Lieutenant Wallbach, durchkreuzen konnte und mit diesem einen ganzen Abend lang in der Schützengesellschaft in einem Winkel gelacht haben sollte. Die Hofräthin kam, der Hof­rath kam, Eveline wurde krank, der Lieutenant fühlte sich über die vom Hofrath für ihn zur Verheirathung zu stellende Caution und durch die Erwähnung derselben in einem Wortwechsel beleidigt und nahm seine Werbung zurück; kurz, der Stadtamtmann, Evelinens Onkel, mußte diesem „Familienunglück“ eine Satisfaction bieten: sie bestand in der endlichen Verabschiedung Lucindens.

Lucinde, die sich, wie man bitter genug gesagt hatte, „einen andern Dienst suchen“ sollte, machte einige Versuche, den Ernst in Humor zu verwandeln. Sie gelangen nicht. Der Stadtamtmann mußte den Schein vermeiden, selbst von ihr bezaubert zu sein. Seine Gattin sagte, „ihr Maß wäre voll“.

So zog Lucinde zu ihrer Schwester, der Nähterin …

In dem Behagen ihrer eigenen Interessen that es ihnen allen nichts, ob da ein Leben in seiner Entwickelung unterbrochen wurde oder nicht.

Acht Tage darauf war aber Lucinde für die ganze Stadt verschwunden.

56 6.#

Wir finden sie in einer Extrapostchaise wieder, die eines frühen Morgens in jene zaubervolle, sonnenglanzverklärte Ebene niederfährt, die man von einer großen Terrasse der Stadt aus nur mit dem Hochgefühl der Sehnsucht und des Entzückens betrachten kann.

Berge ringsum; aber nichts mehr, was bedrückt oder beengt, wie daheim, wo die vier verhängnißvollen Bächlein niedergingen. Ein großer freundlicher Strom schlängelt sich durch Wiesen und Felder hin, und erst die äußersten Ränder desselben sind mit waldigen Höhen umkränzt. Ueber das ganze große Panorama hin die bunteste Abwechselung. Hier grüne junge Saaten, dort die gelben großen Tücher der nordischen Oelpflanze; dann ein dunkler Eichenforst, hinter dem wieder die blauen Wogen des Stromes aufblitzten; die Häuser so schmuck mit rothen Ziegeldächern, die Herrschaftssitze mit langen Pappelalleen, die in mäßiger Verwendung jeder Gegend einen ganz besonders vornehmen Ausdruck geben, und so auf Stunden und auf Meilen hin.

Die Berge da, sagte Lucindens Begleiter, sind die Weserberge! Dahinter geht’s nach Bremen und dann – nach Amerika!

57 Es war ein wunderschöner Junimorgen. Die Sonne brann­te, und gern hätte Lucinde die Glasfenster des Wagens geöffnet.

Ihr Begleiter wollte erst die nächste Station abwarten. Auch dort noch bat er, die Schwüle des engen Raumes lieber noch eine Weile zu ertragen.

Erst gegen zehn Uhr, als sie wol schon fünf Meilen von der von ihnen verlassenen Stadt entfernt waren und es eine waldige Anhöhe hinaufging, öffnete er und ließ das Fenster ganz zurückschlagen.

Viel lieber hätte Lucinde die Aussicht genossen, die sich früher dargeboten hatte, Fernblicke auf die rothgedachten Meiereien, altersgraue, aus Busch und Baum hervorblickende Thürme alter Edelsitze und Abteien, Mühlenwerke und Fabriken, deren hohe Schornsteine die blaue Luft mit kräuselnden Nebelwolken erfüllten, wunderliche Kirchthürme, die bald den Minarets der Moscheen glichen, bald aber auch ganz verbuttet aussahen, wie alte Büchsen und Flaschen für Pferdemedicamente … Jetzt lag nur zur Rechten ein fast undurchdringlicher Tannenwald, zur Linken ging es eine kleine Anhöhe mit niederm Gehölz hinauf, an das sich zuletzt eine Buchenwaldung lehnte. Belebt war’s ringsum. Fink, Drossel und Pirol ließen ihren frischen Waldruf ertönen. Aus dem Tannendickicht zur Rechten hörte man dann und wann ein hallendes Geräusch, das die Nähe von Holzschlägern verrieth. Zur Linken fiel die Sonne so günstig über die grünen Baumkronen, daß sich ganz jene lieblich magischen Lichtwirkungen erzeugten, die eben auch nur den Buchenwäldern eigen sind.

58 Nach Amerika!

Das war weit von diesen summenden Käfern, diesen um die Rosse des Postillons schwärmenden Brummfliegen, weit von diesem selbst, der die Anhöhe zu Fuß nebenher ging und mit einem aus dem Vorholz zur Linken gebrochenen Birkenzweige über das lichtbraune Glanzhaar seiner schweißgebadeten Thiere hinfächelte!

Bei so fernem Reiseziel mochte wohl gerechtfertigt sein, daß der junge Buchhalter – denn Oscar Binder ist Lucindens Begleiter – schon seit fünf Uhr Morgens, wo sie ausgefahren, so außerordentlich nachdenklich ist und immer nur eine kleine Kassette betrachtet, die er auf dem Schoose hält.

An und für sich war er fast gekleidet als ging’ es zum Balle …

Als Lucinde vorm Thore, wo sie seiner Weisung zufolge ohne irgendein anderes Gepäck, als das sie selbst in der Hand tragen konnte, an zwei einsam am Wege stehenden Pappeln erscheinen sollte, seiner in einem harrenden Wagen ansichtig wurde, erkannte sie ihn kaum. Er blickte hinaus und winkte heftig, daß sie rasch auf den Tritt der Chaise und durch die von ihm gehaltene Thür einsteigen möchte. Er hatte sich von gestern, wo sie kurz und rasch erklärt hatte, es wäre sicher am besten, wenn sie sich ihm zur Reise nach Amerika anschlösse, bis heute früh seinen schönen Bart sowol um Mund wie Kinn und Wange abnehmen lassen, und hatte eine ganz curiose Physiognomie bekommen, die früher aus der Bartwaldung heraus kaum erkennbar gewesen war.

Hätte sie nicht ihr Wort gegeben und wäre des 59 „nun doch verpfuschten“ Lebens in der Residenz überdrüssig gewesen, so hätte sie umkehren mögen, so wenig gefielen ihr jetzt die Nase, der Mund und die Ohren des jungen Buchhalters, denn auch diese hatten früher nicht so grell hervorgestanden, als seit heute früh, wo auch seine schönen langen, zierlich über den Hemdkragen in einem einzigen Strich herabfallenden dunkelbraunen Haare von der Schere vertilgt worden waren. Die gelben Glacéhandschuhe trug er wie immer. Für den schwarzen trug er einen grünen Reitfrack mit goldenen Knöpfen, dazu elegante carrirte Beinkleider, eine hohe Mütze von schottischem Zeuge mit einer Troddel, und einen Plaid, den er sofort, als fröstelte ihn in allen Gliedern, über seinen ganzen Körper ausbreitete, sorgfältig aber dabei der Knöpfe seiner Glacéhandschuhe achtend und diese selbst ab und zu ungeduldig niederstreifend wie beim Anprobiren …

Dafür, daß auch Lucinde sich, nach seinem ausdrücklichen Wunsche, ja Befehl, gänzlich metamorphosirt hatte, schien er im ersten Augenblick kaum ein Auge zu haben, und doch bot sie eine phantastische Erscheinung dar.

Ein kleines kurzes Strohhütchen nahm sie ab, und da fielen ihr die vollen Haare, die sie sonst nur in Flechten getragen, in langen dunkeln Locken über die Schulter bis in den Nacken herab. Von gestern Abend sieben bis neun Uhr hatte sie von ihrer Schwester, die in diese Reise eingeweiht war, sich ihr Haar so ordnen lassen, hatte die Nacht geschlafen mit funfzig Papilloten um den Kopf, die von Luisen mit einer großen, über zwei Talglichtern 60 glühend gemachten Ofenzange gebrannt worden waren. Alle Liebesbriefe, die beim Ausrangiren der so „leicht wie möglich“ herzustellenden Bagage auf dem Boden der kleinen Dachstube ausgebreitet lagen, waren zu diesen Papilloten benutzt worden.

Zu dem reizenden Kopfschmuck gesellte sich fast eine Balltoilette, ein luftiges, bauschiges, weißes Kleid, das schönste, das sie hatte, bestehend aus einem geblümten Musselinstoff. Die vor Eile fast athemlos klopfende Brust bedeckte eine rothe Florecharpe mit langhängenden seidenen Fransen. Dazu zwar hohe Schnürstiefel aus Seidenzeug, keine Schuhe, wohl aber helle Handschuhe und Manschetten von langen weißen Spitzen. Es hätte zu dieser Erscheinung ein mit Seide ausgeschlagener offener Landau, nicht die auf jeder Station gewechselte schmuzige Postchaise gehört.

Aber sowol für diese Toilette wie für das dagegen auffallend genug abstechende Bündel, das Lucinden beim Tragen bis zum Thor fast zu schwer geworden war, hatte der junge Mann stundenlang keine Augen. Ueber seine eigene Metamorphose lächelte er mit gezwungener Leichtigkeit, und befahl dann immer nur mit einer seine Begleiterin mehr erschreckenden als ihr imponirenden Barschheit dem Postillon die größte Eile.

Jetzt erst, um zehn Uhr, als Lucinde doch auch einmal aussteigen und sich etwas dehnen und recken wollte, bemerkte er, wie sie seine Weisung, sich vornehm und anders als gewöhnlich zu kleiden, bis zum „Auffallenden“ misverstanden hatte; er bat sie, lieber im Wagen zu bleiben. Sie hatte gedacht, er würde endlich sagen: Nein aber 61 wie schön! Wie entsprechend der gegebenen Anweisung! Und vollends waren jetzt sogar die Locken aufgegangen und hingen ihr, wie einer Genoveva, lang über den Nacken herab, ein wildromantisches Aussehen gebend … Aber Oskar Binder zankte sogar.

Die Vögel werden nicht vor mir erschrecken! sagte sie spitzig, als er sich dabei ängstlich umsah. Sie ließ sich nicht abhalten und stieg aus.

Wie wohl that ihr’s, endlich im Walde die beklommene Brust ausdehnen zu können!

Oskar Binder gefiel ihr heute nicht. Sie wußte nicht, wie sie so schnell und unüberlegt in diese „Gelegenheit nach Amerika“ hatte einwilligen können. Sah diese Reise doch einer Erhörung seiner Huldigungen nicht unähnlich, und doch hatte sie Oskar’n bisjetzt keine Zärtlichkeit gestattet. Wäre er ihr heute früh fünf Uhr bei den beiden Pappeln gleich um den Hals gefallen, dann hätte es mit ihrer Zukunft seine Richtigkeit gehabt, der Augenblick hätte sie überwunden, sie hätte sich liebkosen lassen und nach Gefühl erwidert; jetzt aber war der Augenblick verfehlt, und wenn bei den beiden Stationen, die sie hinter sich hatten, jedesmal beim Weiterfahren der junge Mann einen Anflug von Zutraulichkeit bekam und ihre Hand ergreifen wollte, zog sie sie zurück. In dem zornigen Temperament, das ihrem Blute eigen schien, bei dem schwachen „Talent zur Treue“, wie sie es selbst nannte, überlegte sie schon bei den ersten ahnungsvollen Blicken in die nächste Ferne, ob denn in der That nicht Amerika auch zu weit liegen möchte; denn nach ihrem Princip mochte sie hier in jedem Dorfe 62 gleich halten und in jedem Schlosse gleich die Leute kennen lernen.

Den Bitten des nur mit seiner Kassette beschäftigten Oskar, im Wagen zu bleiben, gab sie kein Gehör. Der Weg ging bergauf, der Postillon schritt auch zu Fuß und sie wollte sogar noch weiter links in den Buchenwald hinein. Das dort noch gehäufte Laub vom vorigen Jahre lockte sie. Das raschelte so gleichförmig zu ihren Füßen hin, und sie wollte dabei an Amerika und das große Weltmeer denken, das sie mit dem jungen Manne und seiner thörichten Liebe zu ihr zu durchschiffen hatte. Und wie gebieterisch er schon wurde! Er rief einmal über das andere in englischer Betonung: Mary! Mary! Als wenn auch er ihren Namen Lucinde zu verleugnen hätte! Sie staunte dabei, daß Oskar, wie sie bei den zurückgelegten Stationen schon bemerkt zu haben glaubte, sich mit den Posthaltern und Wagenmeistern in gebrochenem Deutsch unterhielt. Mehr aus gereiztem Spott als aus guter Laune war es, daß sie von ihrem Laubmeer, das ihr bis an die Knöchel ging, zur Landstraße hinüber antwortete:

Yes, my dear! Yes, my dear!

Die englische Conversation that Oskar’n wohl und schien zu seiner Beruhigung zu dienen. Während der Postillon horchend mit seinem Birkenzweig die Gäule kitzelte, fing jener laut einen englischen Discurs an, der im Walde hüben und drüben nachschallte.

Lucinde verstand ihn freilich nicht mehr als der Postillon; sie sagte immer nur: Yes, my dear! Yes, my dear! Ihr Augenmerk war auf Eichkatzen gerichtet, deren sie 63 nicht wenige aus dem Laube, unter dem noch manche vorjährige Buchecker lag, aufschreckte.

Wie sie so hin- und herrannte und die Thierchen die Stämme hinaufschossen, mußte sie sonderbarerweise der längst vergessenen und aus der Stadt entschwundenen Frau Hauptmännin von Buschbeck gedenken. Diese stand ihr plötzlich in dem Nachtkamisol mit der großen Haube über der Nase und dem aufgebundenen Unterrock vor Augen und vergegenwärtigte ihr besonders den Moment, wenn sie auf den Mäusefang ging. Fand nämlich Frau von Buschbeck auf ihrem Boden der Kartoffeln zu viele zernagt, so hatte die seltene Frau auch das Talent, Mäuse aus freier Hand zu fangen. Lucinde war ihr oft nachgeschlichen, wie sie auf der Hühnersteige, die zum Dache führte, auf der Lauer lag, listig um sich blickte und mit raschem Griff sich eines ihrer Opfer bemächtigte. Hing dann am Morgen in der Küche immer ein halb Dutzend Mäuse an den Schwänzen aufgereiht und hätte die Jägerin gesagt, es wäre ein Vorurtheil, so reinliche und leider von den besten Dingen sich nährende Thierchen nicht zu speisen, in den ersten Wochen, wo Lucinde von Langen-Nauenheim zu ihr gekommen war, hätte sie voll staunender Bewunderung und in ihrer „damaligen Dummheit“ nicht widersprochen, sondern sie auf Befehl gegessen, gesotten oder gebraten, wie die Frau Hauptmännin nur gewollt. Warum ihr aber das gerade jetzt so entgegenkam? Hier im Walde? In dieser Einsamkeit? Sie sah die Alte deutlich, sie sah sie zwischen den Bäumen hinhuschen und Mäuse fangen; sie mußte sich schütteln; sie kannte sich noch darauf nicht, 64 was es ist, vom Fieber durchschauert zu werden. Sie war vor Aufregung seit gestern Abend mit dem Lockenbrennen und Frühaufstehen und „nach Amerika Reisen“ nicht zur Ruhe gekommen und eine Krankheit drohte.

Der junge Anglo-Amerikaner merkte nicht, wie gespenstisch blaß sie sah, als sie mit hängenden Locken über das raschelnde Buchenlaub zu ihm zurückkehrte und in den Wagen stieg, der jetzt bergab und schneller fuhr. Nur wieder seine Kassette, sein gedrucktes Reisehandbuch und die Entfernung bis zur nächsten Station hatte er im Kopfe.

Eine wundervolle Gegend! sagte er dann einmal ganz gedankenlos und bemerkte kaum, wie sich Lucinde in die Ecke des Wagens drückte, seinen Plaid um sich zog, den er ihr schon nach der zweiten Station übergelegt hatte, als es sie dort schon trotz der Schwüle des geschlossenen Wagens fröstelte.

Ich will schlafen! sagte sie jetzt und zog den Plaid bis über die Stirn.

Hätte der Entführer eines den wunderlichen Widerspruch von Gescheidt und in vielem noch völlig Beschränkt verbindenden Mädchens Gefühl gehabt für irgendetwas anderes als die Sorge, für seine Reise einen großen Vorsprung zu gewinnen, so hätte er bemerken müssen, wie ihr Antlitz in Wachs sich verwandelt hatte, ihre Lippen bebten, ihre Hände schlaff hingen, das Kleid sich verschob und die Schultern marmorkalt hervorsahen. Es war auch wol ein solches Fieber, wie man es nach geistigen wie leiblichen Geburten hat. Sie begriff allmählich, wie es doch mit dieser schnellen Reise zusammen-65hängen mochte. Oskar Binder hatte Ursache zur Eile. Lucinde war, einfach in die Sprache der täglichen Welt übersetzt, erstens von ihm entführt, und zweitens war sie es von einem Diebe.

Daß sie in ihrem Zustande keine Erquickung, keine Mittagsrast begehrte, kam dem Flüchtling ganz genehm. Er eilte nur und wetterte auf allen Stationen im geläufigsten Englisch oder gebrochenen Deutsch. Gegen Mittag kaufte er kalte Küche, sie im Wagen zu verzehren.

Lucinde wollte nur einen Trunk Wasser.

Jetzt bemerkte er erst ihren Zustand …

Ich bin das Fahren nicht gewohnt, hauchte sie.

Ihre Zunge war trocken. Wenige Tropfen Wassers löschten den Durst nur auf einen Augenblick; und doch schauderte sie, mehr zu trinken. Sie drückte sich wieder in ihre Ecke.

Da sie die Versicherung gab, daß ihr nichts fehle, beruhigte sich der Flüchtling.

Es war zwei Uhr, und man hatte wol schon acht Meilen zurückgelegt. Die Gegend nahm einen neuen Charakter an. Oskar Binder fing an zu trällern; er pfiff sich einige Arien, die er sonst wol auch mit einer schönen Tenorstimme zu singen verstand. Er bekam die unternehmende Haltung wieder, die ihm sonst geläufig war, strich sich das Gesicht an den Stellen, wo sonst sein Bart gestanden hatte, und lachte einmal über das andere laut auf.

Jetzt interessirten ihn kleine Dinge am Wege, ein Dorf, ein bellender Hund, dem er nachahmte und ihn 66 damit nur noch heftiger reizte, die Landestracht. Auch den falschen Engländer hielt er nicht mehr so consequent fest und gegen Lucinden wurde er aufmerksamer. Er setzte sich rücklings und lehnte die Halbschlummernde über den Rücksitz bequemer aus, schlug ihre Füße in seinen ausgebreiteten Plaid, strich die langen Haare von der kalten feuchten Stirn zurück, küßte die Hände, deren Handschuhe schon abgezogen waren, und kniete sogar nieder, um von dem Glück seiner Eroberung, von der Zukunft, von der baldigen Ruhe in einem guten Hotel und den Bequemlichkeiten eines ersten Kajütenplatzes auf einem deutsch-amerikanischen Dampfer zu sprechen.

Lucinde hörte allem in träumerischer Abwesenheit zu. Die Küsse, die ihr Begleiter auf ihre Hände drückte, schien sie nicht zu fühlen. Ruhig ließ sie ihn auch ihre Locken streicheln. Zu lange auch verweilte er bei seinen Zärtlichkeiten nicht; immer wieder fuhr er auf, das kleinste Geräusch konnte ihn erschrecken. Kehrte er dann von einem Blicke aus dem Wagenschlage zurück, so griff er erst nach seinem Reisehandbuche und verglich das, was er las, mit dem was er eben draußen gesehen.

Seltsam genug mochte ihm sein, in seinem „Guide“ vielleicht zu lesen: Nun öffnet sich das große Becken, wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß, Varus seine Schlachten verlor, Arminius das Schwert des Rächers über die vernichteten Legionen schwang, bis dann um achthundert Jahre später die Römer wiederkehrten, mit dem Kreuze voran, dem Schwerte Karl’s des Großen hintennach. Hier an diesen Strömen vollzogen sie an den Sachsen die Bluttaufe …

67 Von den Wonnen des Geschichtskundigen, der hier zwischen diesen Bergketten und Längenthälern die ersten deutschen Klöster errichtet weiß, die damaligen ersten Pflanzstätten der Bildung, der das Auge dort nach einem sagenreichen Hügel, hier nach einer waldverlorenen Kapelle richtet und sieht, wie zwischen Katholicismus und Protestantismus das Land getheilt wellenartig dem grünen Landmeere, Westfalen genannt, und von dort den großen geschichtsmaßgebenden Strömen und Meeren zu sich windet … davon hatte nach Bildung und Gefühl das starre Auge des jungen Verbrechers keine Ahnung.

Um drei Uhr war es wieder eine Waldung, in die die Reisenden einfuhren …

Diesmal eine von Birken. Geisterhaft standen die blendendweißen schlanken Stämme, die Zweige hingen nieder wie an den Trauerweiden. Kein Herbstlaub war von den dürftig geschmückten Kronen mehr auf dem Boden sichtbar, Moos und Flechtengewächse zogen sich, von blauen Blumen unterbrochen, weithin zwischen den sonnenbeschienenen, feenhaft winkenden Stämmen. Hielt der Wagen, so flüsterte es von den Espen, die zwischen den Birken standen, wie ein Säuseln der Allnatur, und Wässerchen sickerten da und dort aus dem Moose hervor und benetzten die ihrem Laufe schon folgenden Vergißmeinnicht wie in der Idylle eines Traumes.

Lucinde lag in Betäubung … Ihr Auge war geschlossen, doch schlief sie nicht. Sie fühlte wohl, daß die immer gewecktere Laune, immer fröhlichere Stimmung ihres Begleiters angefangen hatte nur ihr allein sich zu 68 widmen; sie duldete es, um nur Ruhe zu haben. Sie wußte und fühlte wol etwas von der Berührung ihrer Lippen. Sie war machtlos, geistig und körperlich ohne Willen.

So ging es eine Weile wie im Traume fort …

Da plötzlich springt sie auf, wie von einer Natter gestochen. Der Muth des jungen Mannes hatte mehr gewagt. Krampfhaft stößt sie ihn zurück und sieht ihn mit starren, weit aufgerissenen Augen an …

Aber auch ihm war gerade in demselben Augenblicke mehr geschehen als nur der Widerstand eines ihm zu hülflos geschienenen Opfers.

Die fünf Finger jeder Hand streckte er krampfhaft vor sich hin, wie einer, der eine Scene unterbricht mit plötzlicher Anstrengung seines Gehörs, und kaum hatte diese Bewegung eine Secunde gedauert, kaum Lucinde ihr eigenes Entsetzen vor dem starren Schreck des Frevlers vergessen, als dieser nach einem Griff auf seine immer zur Hand stehende Kassette den Schlag geöffnet hatte, Halt! donnerte, ohne Mütze aus dem Wagen sprang und für sie verschwunden war.

Lucinde sank vor dem plötzlich haltenden Wagen in den Sitz zurück, erhob sich aber wieder, wickelte sich aus dem Plaid heraus und machte Miene, instinctmäßig dem Flüchtling zu folgen.

Indem schlug ein Geräusch an ihr Ohr wie von Pferdehufen.

Sie blickte zum Schlag hinaus, den der Postillon voll Erstaunen über das Benehmen seines Passagiers auch auf seiner Seite, der linken, geöffnet. Man sah 69 zwei Gensdarmen mit klapperndem Seitengewehr in noch ziemlicher Entfernung daherjagen. Lucinde, wie in der Ansteckung des Augenblicks, springt hinunter, die Pferde halten aber nicht recht, scheuen und wollen auf den Fußweg. Dadurch gibt ihr der Instinct des Moments den Gedanken, nicht zur Rechten, wo Binder verschwunden war, zu entfliehen, sondern nach der linken Seite. Ein Fluch der Verwunderung von Seiten des Postillons folgt ihr. Sie rennt das niedrige Gestrüpp quer hindurch. Haselgesträuche und Brombeerhecken biegt sie zurück, läuft, wie von Furien verfolgt, in der ganzen athemlosen Hast der fieberhaftesten Erregung, mit Kräften ausgerüstet, die sie im Augenblick hernimmt, sie weiß nicht woher, läuft durch Heck’ und Moos, durch weiche, versinkende Stellen, Sträuche zurückbiegend und keinem Verstecke, der sich darbietet, vertrauend. Wie von der Luft getragen, fliegt sie dahin, und erst, als sie nicht mehr kann, reicht das Entsetzen über Gefahren, die sie sicher nicht zu groß sich ausgemalt, nur noch so weit aus, auf die Zweigstämme eines rings von hohen Büschen umgebenen Baumes zu klettern, die Zweige des Umwuchses zurückzudrängen, die höhern Wipfel an sich zu ziehen, sich fest an sie anzuklammern und mit einem einzigen kühnen Sprunge auf die Astgabel des Baumes zu springen, wo sie dann leichtere Mühe hat höher zu klimmen und athem- und kraftlos, mit herabhängenden Händen und niedergebeugten Hauptes zusammenzusinken.

So lugt der Luchs mit starren Augen aus grünen Zweigen und harrt des nahenden Jägers.

70 7.#

In dieser Stellung blieb Lucinde wol eine Stunde.

Sie hatte oft schon auf Bäumen gesessen, aber so in Angst und Kraftlosigkeit noch nie. Mit den über einen gewaltigen Ast ausgelegten Armen hing sie mehr, als sie auf einem untern mit den Füßen stand. Der Schweiß, der ihr von der Stirn troff, mußte ihr gut thun; sie behielt wenigstens die Besinnung, und diese lieh dem Körper Kraft.

Lang hingen die Haare, das weiße Kleid war zerfetzt, ihr rother Shawl war irgendwo hängen geblieben. Ihr ganzer Sinn spitzte sich nur auf das Gehör zu. Wenn ihr Auge über etwas funkelte, war es ein Blatt, das rauschte, ein Käfer, der summte.

Sie besann sich sogleich darauf, daß sie ungewiß sein konnte, ob sie mehr vor den Häschern als vor ihrem Begleiter so geflohen war.

Als sie nichts hörte, keine Menschentritte, kein Geräusch von Waffen, konnte sie endlich die Miene so verziehen, daß die weißen Zähne eine Weile hervorstanden, wie immer, wenn sie spöttisch lachte … Es war ein Lachen, das allmählich in ihrem Innern so platzgriff, 71 daß es sich auch äußerlich geltend machte. Sie lachte, wie die Verzweiflung pflegt, wenn sie nicht mehr aus noch ein kann. Sie überlegte, was nun alles kommen konnte! Wenn sie aus dieser Lage nichts Neues und Unerwartetes erlöste, sah sie Demüthigungen entgegen, die grauenhaft waren.

Alles blieb still …

Sie traute sich die Kraft zu, niederzusteigen …

Der Gedanke: Wie, wenn sie durch die Nacht so hinwandern könnte, durch die Wälder, die Berge, über die Meere – bis Amerika! der stand ihr so lange bei, bis sie wieder auf ebenem Boden war und dann freilich vor Erschöpfung bald zusammensank. Sie hatte seit dem gestrigen Tage keine Nahrung genommen. Nun lag sie kraftlos und griff nach den Zweigen der Sträucher über sich und beugte sie zu sich nieder, hoffend auf Erquickung. Nirgends eine Frucht. Erdbeerbüsche sah sie etwas weiter, aber die Früchte waren abgestreift Dies bewies ihr wenigstens Menschennähe. So lag sie lange; sie legte den Kopf über die gekreuzten Arme und schmachtete so hin …

Seit lange hatte sie solche Einsamkeit auch ihres Innern nicht gefühlt.

Doch mit Thränen konnte ihre Natur sich nicht helfen. Vor acht Tagen – da hätte sie „beinahe“ geweint, als sie das Haus des edeln Mannes, des Stadtamtmanns, verließ. Sie weinte auch wirklich, als die alte Köchin über ihr tröstend und doch kopfschüttelnd gesagt hatte: Jettchen, Jettchen, Sie werden noch Traurigeres in der Welt erleben, als das ist! 72 Sie hatte schon seit lange nicht mit der Alten gesprochen, weil sie zu stolz geworden war. Aber lange hatte die Rührung nicht gedauert. Sie wühlte schon damals nach einer Genugthuung. Da sich keine fand, da ihr überall der Weg versperrt war nach der Seite hin, wo allein ihrem Stolze genügt werden konnte, so war sie bereit gewesen, das Netz, das sie überspann, zu zerreißen und mit Oskar Binder in die weite Welt zu gehen. Wie das so war und werden konnte, hatte sie nicht viel überlegt. Nun sah sie’s und neu genug waren die Folgen … Jetzt blickte sie in einem Walde einsam hinein in Moos, Farrnkräuter, Sträuche mit Blüten und Beeren, die zum Herbste reiften … Was dieser ihr wol bringen wird!

Die kleinen Käfer und Insekten um sie her konnte sie noch verfolgen, wie sie sprangen und sich kugelten und auf Halme kletterten, die am Gewichte derselben zusammenknickten …

Es regt sich doch alles, es nährt sich doch alles! Das zu denken, auch jetzt zu denken, war längst ihre Art, und so elend ihr zu Muthe blieb, aufstehen würde sie doch, wenn nicht gleich jetzt, doch noch vor Abend; und zurückdenken mochte sie am wenigsten; aufrichtig beklagen, sich etwas vorwerfen, bereuen, das hatte sie nie vermocht, und wenn sie sonst gestraft worden war, Thränen kannte sie auch da nicht. Ihr Vater weinte wol dann statt ihrer und seufzte: Die Mutter!

Nach einer halbstündigen Ruhe raffte sie sich wieder in die Höhe. Sie ordnete ihr Haar, soweit es ging, erschrak zwar über den Zustand ihres Kleides, versuchte aber weiter zu kommen.

73 Sie hielt sich an die Zweige und Stämme. Einen Weg fand sie nicht. Sie war ganz im Dickicht, und doch war ihr’s manchmal, als läutete von irgendwoher eine Glocke. Dann war’s blos wieder ein Summen im Grase oder im Ohre. Einige hundert Schritte brachte sie so vorwärts; weiter trug sie ihre Kraft nicht mehr …

Es war an einem wunderschönen Platze, wo sie zusammensank. Der Wald wurde lichter, die Birken ragten wieder, Erlen, auch Weiden kamen. Sie sah sogar in der Ferne Schilf, dicht verwachsen; nun mußte doch ein Wasser kommen. Sogar Schwalben schossen daher, die sonst im Walde nicht wohnen. Auch eine Lerche wirbelte ein Abendlied in der Luft. Aus dem Schilfe blickte manche dunkelblaue Blume ihr entgegen. Weiße Nymphäen sah sie auf kleinen Wässerchen. Das Gras um sie herum war von Vergißmeinnicht gezeichnet …

Immer müder und müder wurde ihr. Rings der große schweigende Kranz des Waldes, hier ein kleines Wassereiland, drüber der blaue Himmel mit einigen wie durchsichtigen Rosawölkchen in allerhöchster Höhe. Sie blickte noch einmal empor, dann faßte sie, wie um sich zu halten, einen Büschel blauer Glockenblumen, und lag dann so, diese in der Hand haltend, ohne Bewußtsein. Eine grüne, behend dahinschlängelnde Eidechse, die sie im Sinken unter einem feuchten, moosbewachsenen Steine aufscheuchte, sah sie wol noch, aber fürchtete sie nicht mehr.

Als Lucinde erwachte, war es dunkler Abend.

74 Ihre Ohnmacht war in Schlummer übergegangen. Sie erwachte an derselben Stelle.

Obgleich sie schwer geträumt hatte und im Traume weit entrückt gewesen war in ferne Lande, so erkannte sie doch sogleich den Ort wieder trotz der Dunkelheit.

Nur Gesellschaft hatte sich eingefunden. Es saß ein Mann neben ihr.

Es war ein ihr völlig Fremder, und doch erfüllte er sie nicht im mindesten mit Schrecken.

Seine Geberde war auch zu sprechend für die Gefahrlosigkeit seiner Nähe und seiner Absicht. Er lag auf den Knieen, faltete die Hände, die er lässig niedergleiten ließ, und betrachtete die Erwachende, wie wenn er eine überirdische Erscheinung angebetet hätte.

Ihr Erwachen schien den Fremden mit großer Freude zu erfüllen.

Er war hoch und stark, ein Mann eher noch in jungen als in mittlern Jahren.

Sein Antlitz, soweit es der schon nächtlich gedunkelte Abend erkennen ließ, war voll, geröthet, beides fast im Uebermaß.

Die Art und Farbe der Augen ließ sich vor dem Schirm einer leichten Sommermütze, die er trug, nicht erkennen.

Auch seine übrige Tracht war von leichtem, hellem Sommerstoffe, bis zu Gamaschen hinunter, die er trug.

Das Halstuch war mit einem Ring zusammengebunden, dessen weiße Steine wunderbar funkelten. Eine schwere goldene Kette hing über die offene Brust hinweg über ein sauber gefälteltes Hemd. Von der grünen 75 Waldeseinsamkeit stachen die weißen Glacéhandschuhe ab, die auch dieser Fremde wie Oskar Binder trug und trotz seines Knieens und seiner wie anbetenden Geberde nicht ausgezogen hatte.

Noch ehe Lucinde sich in diesen seltsamen Anblick gefunden, wurde sie von dem fremden Manne angeredet. Es war in einer fremden Sprache, die aber einige deutsche Laute untermischt hatte, und das so richtige und volltönende, wie wenn ihm jene doch nicht recht geläufig war.

Die sich gleichbleibende Stellung und ehrfurchtsvolle Anrede des Fremden überraschte Lucinden jetzt so, daß sie sich erhob und einige Worte sprach:

Wer sind Sie? Wo bin ich?

In diesem Augenblicke kamen aber auch schon aus dem Walde einige Leute und brachten einen großen Tragsessel.

Ein älterer, schwarzgekleideter Mann führte sie und näherte sich mit Anweisung der Stelle, wohin sie ihm mit dem Sessel folgen sollten. Da er Lucinden schon aufgestanden und jetzt wie auf der Flucht fand, rief er ihr entgegen:

Mein junges Kind! Fürchten Sie sich nicht! Sie sehen hier nur die Sorge des Herrn Kammerherrn! Wir waren im Begriff, Sie auf diesem Stuhl in meine Wohnung zu bringen!

Lucinde war sich ihrer eigenen Abenteuerlichkeit zu gut bewußt; wie hätte sie von den Männern, statt Aufklärungen zu geben, welche verlangen können!

Sie müssen ermüdet sein! Setzen Sie sich! Diese Leute sind stark genug, Sie den Weg, der nicht zu kurz ist, in meine Wohnung zu tragen!

76 So sprach wiederholt der Neuhinzugekommene, ein hagerer, langer Mann, von gelassenem Wesen. Sie mußte nach Tracht und Haltung in ihm einen Dorfgeistlichen vermuthen.

Der als Kammerherr Bezeichnete war aufgestanden und hielt sich immer nur in einiger Entfernung, faltete die Hände und betrachtete Lucinden wie ein Wunder, das sie in dieser Umgebung, in ihrem wilden und doch eleganten Aufzuge allerdings auch war.

Ermüdet und schwach bis zum Umsinken, ließ sie sich die Dienstleistungen der Leute gefallen, duldete, daß man sie auf den Sessel hob, diesen dann kräftig erfaßte und sie so aus dem jetzt schon vom Monde beschienenen und von Leuchtkäfern und schwärmenden Phalänen belebten Schilfmoor in den dunkeln Wald zurücktrug.

Die Träger sprachen nichts als was zur Verständigung des bessern Handhabens des Stuhles gehörte; auch die beiden andern, der Kammerherr und der, den sie für einen Geistlichen hielt, folgten schweigend.

Lucinde, so dahingetragen den schmalen düstern Waldweg, glaubte noch immer zu träumen, und doch war alles Wirklichkeit. Diese geisterhaften Lichter, die der Mond zwischen die hohen Stämme warf, waren zu natürliche.

Aber das Gefühl, einer Gefahr entgegenzugehen, konnte hier nicht aufkommen. Die beiden Männer blieben zwar in lebhaftem, wie sie hörte, jetzt in vollkommenem Deutsch geführten Gespräch zurück, aber die gutmüthigen Mienen ihrer Träger ließen auf ehrliche Dorfbewohner schließen.

77 Lucinde war so angegriffen, daß sie mit sich geschehen ließ, was man thun wollte. Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels und hörte nur. Endlich vernahm sie das Schlagen einer Thurmuhr und Hundegebell. Sich ein wenig aufrichtend, sah sie einige Lichter blinken, auf die man in gleichmäßiger Bewegung zuschritt.

Der kleine Zug kam in ein stilles, schon in nächtlicher Ruhe sich wiegendes Dorf. Die hintern Begleiter hatten eine Straße abgeschnitten und waren den Trägern voraus. An der Kirche lag ein stattliches Haus, dem letztere durch ein zur Seite liegendes großes Hofthor schneller beikommen wollten; doch der Kammerherr sprang heran und rief ein gellendes: Nein! indem er auf den Haupteingang des Hauses selber zeigte. Seine Gestalt und Stimme bot in diesem Augenblicke einen ängstlichen Eindruck. Lucinde hätte gewünscht, von ihm minder geräuschvoll geehrt zu werden.

Daß sie sich in einem evangelischen Pfarrhause befand, bemerkte sie bald an der Umgebung, die immer lebhafter und zahlreicher wurde. Eine freundliche Frau beklagte sie, erklärte sie ohne Zweifel für verirrt, für krank, und rühmte den Kammerherrn, der die Unglückliche entdeckt hätte, die an jener Stelle im Walde unfehlbar die Nacht würde haben verbleiben und sich vollends verderben müssen.

Man trug Lucinden eine Treppe hinauf, in ein zwar niedriges, aber freundliches und sehr geräumiges Zimmer, neben welchem ein Cabinet mit Bett sich befand. Alles war schon hergerichtet zu ihrem Empfang. Jeder 78 griff zu, jeder bot ihr Hülfleistung; nur der Kammerherr stand unausgesetzt von fern und betrachtete, was er sah, wie eine Märchenerscheinung. Jetzt übersah Lucinde die ganze lange, starke, breitschulterige Persönlichkeit, deren zartes, fast süßes Benehmen mit diesem Aeußern in einem fast komischen Contraste stand.

Ihre Erklärung, daß sie sich verirrt hätte, genügte vorläufig und verhinderte alle weitere Nachforschung. Man war bedacht, sie mit Speise und Trank zu versorgen und ihr die Ruhe eines weichen Lagers zu gönnen. Sie unterwarf sich auch jedem, was man zu ihrer Stärkung und Bequemlichkeit ersann. Sie war nur das willenlose Echo jedes gesprochenen Wortes bis auf das: Gute Nacht! das man ihr zurückließ und das sie ebenso erwiderte. Sie hörte noch etwas wie den gezogenen Ton eines Wächterhorns und entschlief.

Die weniger kräftige als zähe Natur Lucindens hatte sich am folgenden Morgen vollständig wieder erholt. Von einem wohl­thätig über Nacht ausgebrochenen Schweiße merkte sie jetzt kaum noch etwas, als die gewonnene Stärkung. Sie richtete sich, wie die Sonne hell in die sehr niedrigen, aber wohnlichen Zimmer schien, hoch auf und lachte schon wieder über die Situation, in der sie sich befand. Man war schon um sie her beschäftigt gewesen. Sie fand schon Kleider, Wäsche, Hülfs­mittel ihre Toilette zu machen, erfrischendes kaltes Wasser. Sie konnte annehmen, daß sie mit Oskar Binder in den von ihm so hochgerühmten Hotels der Seestadt Bremen angekommen und eine Gräfin war, als welche er sie überall behandeln zu wollen versprochen hatte. Bei dem 79 Gedanken, ob der junge Mann nicht schon auf dem Wege ins Zuchthaus war, überlief sie eine peinliche Furcht. Sie erwog indessen ihren Antheil an seiner Schuld und durfte sich freisprechen bis auf den verlorenen Ruf. Letztere Betrachtung störte sie nicht zu lange: ihrer Natur widersprach es, sich um irgendetwas allzu viel Sorge zu machen.

Die Kleider, die sie vorfand, entsprachen freilich der Vorstellung von einer reisenden Gräfin sehr wenig.

Es waren leichte, vielfach gewaschene und von der Sonne ausgebleichte Kleider der Frau Pfarrerin.

Sie zog einen der Röcke an und lachte über sich selbst, als sie in den Spiegel geblickt, von dem sie erst zwei sich kreuzende Pfauenfedern und eine Anzahl Visitenkarten und geschriebene Einladungen zu Mittagessen und Kaffeegesellschaften in der Umgegend wegnehmen mußte.

Wie eine Großmutter! sagte sie, von diesen Familienbezügen angeregt, zu sich selbst. Sie sann hin und her, wie sie sich helfen konnte, denn vollkommen gegenwärtig war ihr die Anwesenheit eines Mannes, den man Kammerherr genannt und der ja vor ihr anbetend auf den Knieen gelegen und sie wahrscheinlich spanisch oder arabisch begrüßt hatte. Leise hatte sie auch schon die an den Fenstern dicht herabfallenden gemusterten und roth umsäumten Musselingardinen gelüftet und richtig schon ihren Verehrer in dem kleinen Garten vor dem Hause auf- und abwandelnd erblickt.

Lucinde war eitel genug, die glänzende Toilette, in der er erschien, auf ihre Veranlassung zu setzen. Er trug eine hellblaue Uniform mit goldgesticktem Kragen, mehrere 80 Orden auf der Brust und einen dreieckigen Tressenhut auf dem schon wieder sehr rothen Antlitz. In gravitätischer Würde ging der Kammerherr durch die zierlichen Wege des kleinen Blumengärtchens auf und nieder und brach nur dann und wann zu einem Bouquet, das er schon in Händen hielt, noch eine Rose oder aus den Einfassungen der Beete eine Federnelke.

Zunächst ordnete sie ihr verwildertes Haar. Sie legte es wie sonst wieder in Scheitel und Flechten. Um Locken zu machen, fehlte die Feuerzange ihrer Schwester.

Diese Umwandlung dauerte lange. Sie wurde ihr aber angenehm durch eine ganz wunderbare Unterhaltung, die plötzlich durch das Haus ertönte. Eine Musik erfüllte die nicht unansehnlichen Räume desselben, und zwar mit einem Wohllaut, der höhern Sphären angehörte. Jedes Glas auf dem Tische, die Fensterscheiben, die Bilder an der Wand, ja, die klappernde Thür eines gußeisernen Ofens, alles schien von dieser Musik mit ergriffen, so mächtig brausten die Accorde durcheinander, ob sie gleich nur von einem einzigen Instrumente, etwa von einer riesigen Flötenuhr, zu kommen schienen.

Was ist das? fragte Lucinde die Magd, die sie in seltsam fremder, ihr nicht geläufiger, plattdeutscher Sprache um das Frühstück anging, das sie zu haben wünschte.

Der Herr Pfarrer spielt! hieß es.

Ja, aber was? worauf?

Die Magd lächelte verlegen; ihr guter Wille, Aufklärung zu geben, scheiterte an einem schweren fremdartigen Namen.

81 Die Töne schwollen indeß und lösten sich ab mit einer Weihe und Erhabenheit, die der feierlichsten Kirchenmusik gleichkam. Bald waren es Flöten, bald Oboen, bald die Töne eines Violoncells. Nur einmal hatte Lucinde ähnliche Eindrücke gehabt, damals, als sie zur Osterzeit gelegentlich die kleine katholische Kirche der Residenz betreten, um zu belauschen, wie sich die Frau Hauptmännin anstellte, im Beichtstuhl zu sitzen. Sie erfuhr später, daß die geizige Frau, die den Satan ohnehin für den wahren Herrgott hielt, nur deshalb alle Jahre einmal zur Beichte ging, um ein monatliches gänzliches Fasten zu motiviren, das sie darauf als eine ihrem Hause für ihre Sünden dictirte Strafe einführte. Lucinde dachte auch bei dieser Musik an jene Zeit der bittersten Entbehrungen.

Da ihr schönes Kleid einer gründlichen Ausbesserung bedurfte, wenn es nicht gar ganz verdorben war, so blieb ihr nichts übrig, als für ihr Costüm sich den Umständen zu ergeben. Sie bat um eine Haube und erhielt sie. An dem Schnitt ihres Antlitzes, an dem Reiz ihrer Formen war nichts zu entstellen, sie konnte den Eindruck einer eben verheiratheten jungen Frau machen. Sie nahm dann ein leichtes Frühstück von Milch und eilte an die Quelle der berauschenden Töne, die das ganze Haus verzauberten.

Man empfing sie unten sehr freundlich und wünschte ihr Glück zu ihrer schnellen Erholung. Ihre Toilette fand man erfindungsreich und entschuldigte sich, ihr nicht mehr bieten zu können. Die Musik hatte denselben Augenblick aufgehört. Auf ihr Befragen, welchem Instru-82ment man verstanden hätte diese wunderbaren Töne zu entlocken, zeigte der Pfarrer auf einen Kasten, in welchem eine Reihe von Gläsern, eins ins andere gesteckt, an einem Bande in der Schwebe gehalten lagen. Durch eine mechanische Vorrichtung bewegten sie sich, geriethen durch ständiges Drehen in Schwingungen und wurden nun mit den Fingerspitzen je nach ihrer Stimmung berührt. Diese Art des Spielens schien anstrengend: Man mußte die Gläser durch Friction in Umschwung erhalten. Der Anblick selbst war lange nicht so poetisch wie die Wirkung. Es war eine, jedenfalls verbesserte, jener alten und echten Harmoniken, die Benjamin Franklin erfunden haben soll, und die schon lange aus dem Gebrauch des Virtuosenthums gekommen sind und nur hier und da noch von einem Freunde ernster und weihevoller Musik gespielt werden. Der Pfarrer und die Pfarrerin, beide waren gleich geschickt darin.

Das nächste Gespräch, an welchem in bescheidener Zurückhaltung einige freundliche Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, theilnahmen, betraf natürlich das gestrige Finden der Verirrten.

Der Pfarrer hatte mit dem Kammerherrn, der immer noch im Garten, harrend und seinen Strauß vervollständigend, auf- und niederging, kurz vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang gemacht. An dem Riedbruch, wie die bezeichnete Gegend benannt wurde, hatte man Lucinden überraschend genug und im Schlummer hingestreckt gefunden. Ihr zerrissenes Kleid, die aufgelösten Haare hatten keinen Zweifel gelassen, daß es sich um eine Kranke handelte, und schnell war der Pfarrer zum Dorfe 83 geeilt, während der Kammerherr zur Aufsicht zurückgeblieben war.

Zwei fast gleichzeitige Fragen, die ihrerseits nach der wunderlichen Art des letztern, und die Frage der Pfarrersleute, wie und woher sie denn in diese misliche Lage gekommen, durchkreuzten sich eben, als man vorm Hause einen fürchterlichen Lärm hörte, Schimpfreden und Drohungen wildester Art.

Ja, was ist wieder? sagte ruhig der Pfarrer und ging hinaus.

Lucinde sah, daß sich der Kammerherr wie ein Tobsüchtiger geberdete und in einige Entfernung hinausschrie:

Schlingel, nichtswürdiger Schurke, Tagedieb! Wo bleibt mein Degen? Wie lange soll ich nach meinem Degen rufen? Bin ich der Kammerherr von Wittekind oder nicht?

Da auch die Pfarrerin auffallenderweise sehr ruhig in den Garten ging, so nahm Lucinde keinen Anstand zu folgen. Sie hatte schon die Thür in der Hand, als ihr auffiel, wie schnell das älteste der Mädchen an die Harmonica sprang und einige der Gläser mit dem mühsam ausgebreiteten Spann ihres kleinen Händchens zu reiben sich mühte.

Was ist das alles? fragte sie sich und war um so mehr betroffen, weil der Name Wittekind sie an die monatlichen Geldsendungen der Frau von Buschbeck oder des Fräuleins von Gülpen erinnerte. Auf den fünf Siegeln hatte sie einmal die Worte: „Freiherrlich Wittekind’sche Kameralverwaltung“ gelesen …

84 Die Kleine spielte wohlgeordnet einen Choral. Der Kam­merherr riß dazwischen sein Blumenbouquet auseinander, rannte über die Beete, zertrat alles und schlug sogar gegen den Pfarrer, der ihm zuzureden und ihn ins Haus zurückzuführen sich bemühte, mit geballter Faust. Leuten, die draußen am Staket gaffend stehen blieben, winkte der Pfarrer zu gehen.

Meinen Degen! Meinen Degen will ich haben! rief der Ungeberdige unausgesetzt und drohte nach einer Seite hin, wo sich jemand zu befinden schien, der diesen zu bringen von ihm beauftragt war.

Aber den Degen? rief die Pfarrerin, jetzt doch auch erregter ins Haus zurückkehrend. Wie kann man ihm einen Degen lassen!

Lucinde begriff nun, daß der Kammerherr geisteskrank war. Nie hatte sie Menschen in diesem Zustande gesehen und fürchtete sich, trotzdem daß man versicherte, die Musik würde allmählich seine Tobsucht mildern. In wunderbaren Tönen spielte auch jetzt die Frau Pfarrerin, eine kleine, zarte, aber geistig durchleuchtete und willensstarke Frau.

Wie Lucinde nun auch auf dem Sprunge war auf die Treppe zu eilen und sich in den obern Stock zu flüchten, traf sie durch die noch geöffnet gebliebene Hausthür der Blick des Tobenden. Kaum war er ihrer ansichtig geworden, als er augenblicklich in seinen Schimpfreden innehielt, die Hände nach ihr ausstreckte und halb die Knie beugte.

Diese Aenderung der Scene war das Werk eines Augenblicks. Die zaubervollen Accorde, die die Pfarrerin 85 dem Instrument entlockte, hoben eine Situation, deren Feierlichkeit von dem Schrecken und Staunen der Näherstehenden unterstützt wurde; die entfernter Lauschenden freilich lachten.

Lucinde blieb eine Weile unbeweglich.

Dann aber faßte sie sich Muth und ging auf den Kammerherrn zu, ihm einen freundlichen: Guten Morgen! wünschend.

Er erhob sich, sprach nichts und lächelte voll Ehrfurcht.

Daß Sie mich noch wiedererkennen! fuhr Lucinde wie in unbefangenster Laune fort. Ich habe mich seit gestern verändert, nicht wahr?

Sie gehören jetzt der Erde an! sprach der wie in einem Bann Befindliche feierlich, langsam, mit sonderbar hochliegender, fast weiblicher Stimme.

Nicht wahr, fuhr Lucinde scherzend fort, Sie glaubten gestern, ich wäre vom Himmel gefallen?

Und nun suchte sie die zerstreuten Blumen auf, wobei ihr der Kammerherr behülflich sein wollte.

Aber diese steife Uniform! fuhr sie fort. Pfui! Pfui! Wie garstig dieser hohe Kragen! Das mag sich wol bei Hofe schön ausnehmen, aber hier … Die armen Rosen und Nelken! Nein, kommen Sie, Herr Kammerherr von Wittekind! Ziehen Sie Ihre gestrige leichte Kleidung an, und wir richten den Garten wieder in Ordnung!

Ich wollte Ihnen meine Ehrfurcht bezeugen! sagte der Kranke und verbeugte sich wie vor einer Fürstin.

Nun gut! So denken Sie nur, daß ich auch ganz 86 incognito hier lebe und wir uns eines dem andern nichts vorwerfen wollen!

Der Kammerherr verbeugte sich und ging, ohne weiter nach dem Degen zu fragen, ins Haus, um sich umzukleiden. Er bewohnte die andere Seite des Erdgeschosses.

Alle standen in Verwunderung vor diesem unerwarteten Besänftigungsmittel. Der Pfarrer besonders schien sehr erfreut und sagte leise:

Die Musik war bisjetzt das Einzige, was die zuweilen ausbrechende Tobsucht des geistesschwachen Mannes mildern konnte. Nun kommen Sie und schon ihr Anblick entwaffnet seine Wuth! Sie sind uns ja wie ein Geschenk von Gott gegeben!

Lucinde erfuhr, daß der Pfarrer von Eibendorf, dem das trauliche Nest von Kindern sich füllte, vom Ertrag seiner Pfarre aber kaum die Scheuer, sich erboten hatte, einen geisteskranken vornehmen, sehr reichen Mann in Obhut zu nehmen. Es war, er gestand es aufrichtig, eine ganz einfache Speculation auf die Besserung seiner eigenen Existenz. Er wollte diese Ersparnisse anlegen für die künftige Ausbildung seiner Kinder. Offen sagte er das; aber man sah wohl, sein eigener redlicher Wille und die Herzensgüte seiner Frau konnten sich nicht entschließen, diese Pflege wie das Amt eines Miethlings auszuführen. Sie unterzogen sich ihrer schweren Aufgabe, die sie in diesem mislichen Umfange, wie sich bald herausstellte, kaum geahnt hatten, mit aufrichtiger Hingebung, wachten Tag und Nacht über den launischen, oft bösartigen und in der großen Welt in vielen Dingen 87 gründlich verdorbenen Mann, der schon an die Vierzig gerückt schien und doch kaum dreißig zählte.

Freiherr Jérôme von Wittekind entstammte dem Geschlechte, das sich für die Nachkommen jenes edeln und tapfern Wittekind hielt, der in diesen Gegenden, tiefer abwärts nach Westen zu, lange Jahre Karl dem Großen die Spitze geboten. Einem Geschlechte der Hünen schien auch noch immer dieser entartete Enkel anzugehören. Der Kammerherr war der jüngere Sohn des großen Landbesitzers und eines der ersten Glieder hierländischer Ritterschaft, des Kronsyndikus von Wittekind; der ältere stand in Diensten des nordwärts liegenden großen Staats. Dieser jüngere, von früh beschränkt und schwachsinnig, hatte sich den Kammerherrnschlüssel eines der kleinen Höfe geben lassen, die in der Gegend der Externsteine liegen. Seine Reisen und Aufenthalte in großen Städten waren die Veranlassung zu so vielen Thorheiten und Verschwendungen geworden, daß der Vater seinem Wesen Einhalt thun mußte. Die Beschränkung, die er erfuhr, reizte seine Wildheit noch mehr, und als der Vater, der selbst ein determinirter Mann war und im Nothfall, wie Lucinde später kennen lernte, mit geschwungener Hetzpeitsche drein fahren konnte, ihn vollends einengte und, um den Geisteszustand seines Sohnes nicht zu verrathen, ihn gar wie einen zweiten Kaspar Hauser einschloß, ließ die Elasticität dieser schwachen Geisteskräfte immer mehr nach und ein oft bösartiger Blödsinn war die Folge, die nur noch die gewohnte Art der Haltung und der hochgetragene Nacken des adeligen Stolzes in der stattlichen Erscheinung des Kammerherrn verdeckte.

88 Obgleich Katholik, hatte man ihn, um seinen Zustand ganz aus dem Bereich der Controle der ihm ebenbürtigen Adelsgeschlechter zu bannen, zu einem protestantischen Geistlichen, zehn bis zwölf Meilen von den großen Gütern des Vaters entfernt, gegeben. Den Vorwand dafür gab seine Liebe zur Malerei. Er besaß ein wirkliches Talent zum Copiren und streifte durch die Gegend meist mit der Zeichenmappe. Sein Diener sagte dann jedem, sein Herr halte sich deshalb beim Pfarrer auf, weil nichts der Umgegend von Eibendorf gleichkäme. Wald, Berg, Wiese und Grund schmückten das Thal allerdings mit den reichsten Farben; die Malerei und Musik wurden zu Hülfsmitteln, den Zustand des Kranken zu mildern.

Von dem Augenblick an, wo der Kammerherr in seinen Sommerkleidern zurückkehrte und mit Lucinden, die sich einen Strohhut gegen die Sonne entliehen hatte, die Beete zu ordnen und die Pflanzen wiederherzustellen begann, entspann sich ein Verhältniß, das ein Jahr dauerte und mehr als Lucindens sechzehntes Lebensjahr füllte.

89 8.#

Lucinde blieb auf der Pfarrei, hier „Pastorat“ genannt.

Man fragte sie allerdings nach ihrer Herkunft, ihrem Namen und dem Stande ihrer Aeltern. Sie gab auch dem Pfarrer und dem Schulzen (dem „Meier“ des Dorfes) einen Namen an. Erst war sie Johanna Stegmann, aus dem Thüringischen gebürtig. Kam der Pfarrer und drohte lächelnd mit dem Finger und sagte, er hätte nach Vacha, das sie als Wohnort angegeben, geschrieben und die Nachricht bekommen, daß man dort nichts von einer Johanna Stegmann wisse, so nannte sie sich Luise Starkin, aus der Gegend von Fulda über die Rhön hinaus, wo ihr Vater ein Oberförster des Königs von Baiern wäre. Schüttelte man nach vier Wochen wieder den Kopf, so erwiderte sie:

Will man, daß ich bleibe, so quält mich doch nicht so!

Man mußte nämlich wirklich wünschen, daß sie blieb. Sie war dem Frieden des Hauses fast nothwendig geworden. Was zur Besänftigung des Kammerherrn die 90 Harmonica nur annähernd erreicht hatte, das löste Lucinde vollständig. Der Kammerherr wurde durch sie ein Kind, das an ihrem Leitseile unter Blumen spielte; er zeichnete, malte, sprach leidlich vernünftig und verhieß eine wirkliche Heilung.

Ohne phantastisches Uebermaß und manche Wunderlichkeit ging es dabei freilich nicht ab.

Es blieb dem Kranken von Lucinden die Vorstellung wie von einer in der That feenhaften Erscheinung. Er ließ sich den Wahn nicht nehmen, daß Lucinde eine Tochter der Waldeskönigin, vielleicht sie selbst wäre, und Lucinde that nichts, ihm diesen Glauben zu nehmen. Sie ließ sich von ihm ganz so schmücken, wie er sie sehen wollte, wenn er sie malte. Es waren dies diese wunderlichen Malereien der Geisteskranken, die durch ihre technische Vollendung oft überraschen und doch immer etwas nur mechanisch Wiedergegebenes und Seelenloses darstellen. Es waren in seinen Landschaften immer derselbe Eichbaum, immer derselbe Felsengrund, immer dasselbe Haus, derselbe Kirch­thurm, derselbe Bach und dieselbe Mühle wiederzufinden, nur wechselte die Vermischung und die Beleuchtung. Auch seine Porträts drückten, er mochte den Pfarrer oder den Meier im Dorf oder den einzigen Bekannten, der ihn zuweilen besuchte, einen Grafen Hans von Zeesen wählen, immer denselben Charakter aus, eigentlich ihn selbst. Nur für Lucinden suchte er Abwechselung, bald in dieser Situation, bald in jener. Er verschwendete Summen Geldes, um sie bald als Griechin, bald als Zigeunerin, bald als Salondame oder Amazone malen zu können. Von 91 jenem Residenzstädtchen, wo er sich einst den Kammerherrnschlüssel gekauft hatte, waren beständig Cartons mit kostbaren Stoffen unterwegs. Selbst theuere Schmucksachen wurden angekauft. Und der Kronsyndikus, der Vater, der zuletzt doch auch von diesem Treiben hören mußte, widersprach diesmal nicht. Einmal drückte ihn der geheime Vorwurf, das Uebel des Sohnes selbst durch seine Erziehung gemehrt zu haben, dann nährte er die Hoffnung, ihn wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Es wurde sogar eine Adelige genannt, die nach einem Familienstatut mit ihm vermählt werden sollte, nachdem eine Verbindung mit einem Fräulein Monica von Ubbelohde vor geraumen Jahren gescheitert war.

Lucinde genoß diese Lage eine Zeit lang mit der ganzen Behaglichkeit ebenso eines sichern und geschützten Aufenthalts wie geschmeichelten Selbstgefühls … Eibendorf lag dem Winkel zu, wo sich das Eggegebirge mit dem Teutoburger Walde kreuzt; es war umgeben von jenen Waldzügen, die so dichtbelaubt, so frei und urstämmig sich sonst nur im Süden Deutschlands wiederfinden. Von mancher aufsteigenden Anhöhe aus sah man in das ganze Tiefthal der Weser hinab. Ein entzückender Anblick! Jeder Hügel bewaldet und umgeben von unabsehbaren Feldern und Wiesen, denen sich in frischen Farben Dörfer, weiterhin ansehnliche Städte entwinden. Die schroffern und die Seele mit mächtigen Ahnungen erfüllenden Partieen mußte man im Gebirge suchen; diese Ebene hier bot den Charakter der Milde und Lieblichkeit. Nach Osten hin sah man an besonders lichthellen Tagen in dunkler Färbung die Nadelholzcon-92touren des Harzes. Dabei waren die Volkssitten lebhaft, ja keck und herausfordernd. Es gab Aufzüge und Feste aller Art, sogar ein Schützenfest für Frauen. Morgens in erster Herbstfrühe ziehen die Ehefrauen der Gemeinde, unter ihnen manche Anmuthige, von irgendeinem Hofe aus, in goldenen landüblichen Häubchen und Stirnbinden, mit Bändern und Blumensträußen geschmückt, mit den Gewehren ihrer Männer in den Händen. Der Kammerherr hatte verlangt, daß Lucinde die Schützenkönigin spielte, die mit dem Zeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, vorausmarschirte. Da sie nicht verheirathet war, so setzte man die äußerste Anstrengung daran, ihn von diesem Verlangen abzubringen. Sie begnügte sich dann auch mit der Rolle des Fähnrichs. Die Fahne aber, die er sie tragen ließ, war eine wunderliche Curiosität, die er selber erfunden hatte. Er beschäftigte sich nämlich mit der hier landesüblichen gelehrten Spielerei, in den Nachrichten der Alten über den Aufenthalt der Römer in Deutschland Thatsachen und Namen aufzufinden, die mit den Sitten und Namen der Gegenwart noch in irgendeinem Zusammenhange stehen. Der Kammerherr wußte genau, wo Varus von Hermann dem Cherusker geschlagen war, er behauptete, dicht bei Neuhof, dem Schlosse seines Vaters. Er war auch selbst in Rom gewesen und vermeinte, dort in den Alterthumsschätzen des Vatican Dinge gesehen zu haben, die die Römer nur auf der heiligen rothen Erde Westfalens gefunden haben konnten. Dortige alte Trinkgefäße wären nur aus Glashütte gekommen, einem Vorwerk seines Vaters, alte Wurfgeschosse nur aus einem 93 ganz bestimmten Holze, dem Düsternbrook hinter Neuhof, geschnitzt, alte Waffen aus einer uralten Schmiede hervorgegangen, die seit Jahrhunderten die Hufe der Rosse seines Hauses beschlug. Nur in einem wich er von dem Urtheil seines Vaters ab. Er las den Tacitus ziemlich geläufig und hatte die besondere Ueberzeugung, daß der der Tempel der Tanfana, wo die alten Deutschen angebetet haben sollten, nicht etwa die große Dämpfpfanne der Saline Hallenstein seines Vaters war, wie dieser selbst und alle Pastoren der Umgegend glaubten, sondern nur eine Tannenfahne, nämlich der alte deutsche, weiland heidnische, dann so gründlich getaufte, bekehrte und christlich gewordene liebe Weihnachtsbaum, den in der That Lucinde mit bunten Bändern geschmückt und mit allerlei zierlichen Vergoldungen bei jenem Schützenfeste als Fähnrich tragen mußte. Da auch in diesem Weihnachtsbaume, Tanfana, Tannenfahne, dem Palladium der alten Deutschen, goldene Ringe, Ketten, Schaumünzen hingen, die die Siegerinnen im Schießen gewinnen sollten, so ließ man sich diese Verbindung des alten heidnischen Rom mit Deutschland und dem überwiegend protestantischen Eibendorf (katholische Einwohner waren in einem Nachbardorfe eingepfarrt) gefallen. Es waren Geschenke von dem sogenannten „tollen Kammerherrn“.

Auf die Länge mußte freilich den Pfarrer die unsichere Herkunft und das längere Verweilen Lucindens beunruhigen. Er hatte dem Kronsyndikus nach Neuhof, dem Stammsitze der Wittekinds jenseit des Gebirges, wiederholt seine Bedenken mitgetheilt. Da aber die Wirkung der Abenteurerin eine so vor­theilhafte für den 94 Kammerherrn war, so befahl der Vater, an diesem Erziehungsplane, den der Zufall an die Hand gegeben, vorläufig nichts zu ändern. Seine Briefe waren kurz und bestimmt, wie die Art des Mannes überhaupt sein sollte. So duldete man das, was nach und nach anfing auch seine Mislichkeiten nach sich zu ziehen. Denn weder die vom Gewöhnlichen abweichende Situation des Geisteskranken, seine einsamen Wanderungen mit der Fremden, seine Ausbrüche von Eifersucht, noch Lucindens mehr zum Zerstören als zum Schaffen geneigte Natur blieben lange unverborgen … Schon fing sie an, als es zum Winter ging, sich an dieser sich gleichbleibenden Lage nicht zu genügen: selbst der Bann einer solchen Huldigung, wie sie sie hier, allerdings ohne die geringste intimere Belästigung fand, wurde ihr zu enge, der Gang der Tage wurde zu gleichförmig, die Welt, in der man hier seine Befriedigung gefunden hatte, brachte selten eine andere Unterhaltung als eine Thorheit des Kammerherrn mehr. Die Menschen, die es da und dort noch zu gewinnen gegeben hätte, hielten sich in scheuer Ferne, selbst Graf Zeesen, der alle zwei Monate einmal von seinen nahe liegenden Gütern kam, um einige Stunden lang die sonderbarsten Gespräche mit dem Kammerherrn zu pflegen. Wäre Graf Zeesen nicht ausgesprochen katholisch gewesen und im Pfarrhause dieser Punkt des Kammerherrn wegen mit großer Zurückhaltung behandelt worden, die Familie hätte vielleicht auch den Grafen mindestens tiefsinnig genannt.

Dieser noch junge Cavalier war nach den Aeußerungen des Kammerherrn zu Lucinden, die von ihm alle 95 seine Familienbeziehungen erfuhr (nur nie etwas über die Frau „Hauptmännin“ von Buschbeck oder das Fräulein von Gülpen, eine Persönlichkeit, die er nicht zu kennen behauptete), sein zweitbester Freund. Der erstbeste hieß Doctor Heinrich Klingsohr. Doch fügte er regelmäßig mit einem Kreuze, das er dabei in die Luft malte, hinzu: Klingsohr ist mein bester Freund, aber er hat mich verrathen! Vom Grafen Zeesen, mit dem er studirt hatte und in Rom gewesen war, ließ er eine aufrichtige Hingebung gelten, beklagte aber ein unglückseliges Geschick desselben, das er nie genauer angab. Die Pfarrerin verrieth es eines Tages Lucinden, indem sie erzählte:

Der Graf hat sich mit einem Freifräulein von Seefelden verlobt, leidet aber darüber an Gewissensscrupeln, seitdem er ein altes Familienstatut in Erfahrung gebracht hat. Vor hundert Jahren hat nämlich ein Ahn seines Hauses die Bestimmung gemacht, daß, wenn ein ältester Sohn der Nachkommenschaft sich entschließen sollte, nicht zu heirathen, die von ihm und seiner später geisteskrank gewordenen Frau reich vermehrten Güter der Zeesen dazu angewendet werden sollten, ein großes Landes-Irrenhaus zu begründen. Hundert Jahre lang haben die Nachkommen vorgezogen zu heirathen. Erst dieser Hans von Zeesen, der viel Frömmigkeit besitzt, wurde über jene nun hundertjährige Unterlassung eines guten Werkes stutzig, und sonderbarerweise ist seine Braut, die ihn ebenso heiß liebt wie er sie, von gleicher Seelenstimmung. Ich zweifle gar nicht, daß der Graf seinen kranken alten Freund nur deshalb so oft besucht, um sich in dem heroischen Vorsatze des Entsagens zu bestärken.

96 Lucinde horchte hoch auf. Hier kamen Ideen, die sie an sich vollkommen verstand, in eine Verbindung oder in Conflicte, die sie noch nicht fassen konnte. Doch hörte sie aufmerksamer zu, wenn der kleine blasse, schmächtige Mann, der Graf, in schlichter, fast priesterlicher Tracht kam und sich mit dem Kammerherrn unterhielt. Nie hatte sie so viel von Gedanken, Meinungen, ideellen Beziehungen gehört wie in den Gesprächen eines Halbirren mit einem Manne, der so fromm war, daß er selbst unter der protestantischen Pflege seines Freundes zu leiden schien.

Wie eigenthümlich nach dem Wunderbaren und Fremdartigen hier zu Lande fast überall ausgegangen wird, erfuhr Lucinde bei vielen Gelegenheiten, unter andern bei einer Erinnerung an den alten Bienenhelm ihres Vaters, den dieser nie zurückbekommen hatte; die Hauptmännin hatte ihn, scheinbar zu Gunsten Lucindens, an einen Trödler verkauft. Sie besuchte nämlich aus alter Neigung oft die Dorfschule und gab in ihr Unterricht auf ihre Weise. Beim Schulmeister fand sie ein geregelteres Hauswesen als bei ihrem Vater, und in der Gartenwirthschaft auch einen Bienenhelm, den gerade ein Knecht aus dem Orte vom Schulmeister borgte, um den Bienen das Leid vom eben verstorbenen Herrn anzusagen. Ueber den sonderbaren hierländischen Gebrauch, daß man mitten in die Bienenstöcke hinein den Tod des Hausvaters anzeigen und den Knecht den Bienen melden läßt: „Einen schönen Gruß von der Frau und der Herr wäre todt!“ konnten sich der Kammerherr und der gerade anwesende Graf in Mittheilungen verlieren, die 97 alle Seiten der Geschichte und der Philosophie berührten. Lucinde staunte über den Glauben, der annahm, daß ohne diese Leid-Ansage die Bienenstöcke in Jahresfrist ausgehen würden; aber der Kammerherr und der Graf, beide warfen verklärt ihre Blicke empor und sprachen jetzt sogar anerkennend von dem früher gemeinschaftlichen verrätherischen Freunde, Heinrich Klingsohr, der auf die Darstellung des Zusammenhangs der Bienen mit den Staats- und Rechtsbegriffen der Menschheit in Göttingen Doctor geworden war.

Und so dunkel es nun auch in des Kammerherrn Begriffen aussah, so wurde er doch auf diese Art Lucinden ein Lehrer. Auf Partieen, die er in einem von seinem Diener geführten Einspänner machte, sprach er mit Lucinden, ob sie es nun verstand oder nicht, nur französisch, ein andermal nur englisch, ein drittesmal, wenn er gerade auf Tacitus und die alten Germanen oder auf eine Sammlung alter Marienlieder, die Graf Zeesen zum Druck vorbereitete, kam, nur lateinisch. Sie erwiderte mit dem Wenigen, was sie früher von Englisch und Französisch aufgegriffen hatte, und bewundernswerth war die Geduld, mit der der Kammerherr sich mühte, einer der Erde nicht angehörenden Erscheinung allmählich die Sprachen derselben beizubringen. Die Sprache, die er an dem Riedbruch damals im Walde beim ersten Finden an sie gerichtet hatte, war ein Gemisch von Lateinisch und Plattdeutsch gewesen.

Diesen Gewinn an Kenntnissen ließ sich Lucinde, die unter all dem Düster ihre Heiterkeit nicht verlor, wohl gefallen. Der Gewinn mehrte sich, als die langen Abende 98 kamen und der Pfarrer sich gleichfalls geneigt erklärte, die Civilisation des Wildlings zu unterstützen. Auch im Klavier, dessen Grundlagen Lucinde schon im Hause des Stadtamtmanns gelegt hatte, vervollkommnete sie sich unter Leitung des musikalischen Mannes, der seine Kinder, ja selbst noch seine an sich hierin geringer talentirte Frau unterrichtete. Der Herbst und ein langer, schnee- und frostreicher Winter wurde auf diese Art für Lucinden eine Studienzeit, die bei der Leichtigkeit ihrer Auffassung und der geringen Zerstreuung dieses Aufenthalts reiche Früchte trug. Der Kammerherr selbst, dem es an wissenschaftlichem Material nicht mangelte und dessen liebstes Thema sich immer an die Erinnerungen von Rom oder Göttingen hielt, docirte ihr oft Geschichte und Philosophie, die er mit der Mathematik und, sonderbar und für die Schrullen jener Provinz unsers Vaterlandes kennzeichnend genug, auch mit der Kunst des Drechselns verband.

Wie die Adeligen Westfalens in ihrer Erziehung und ländlichen Beschäftigung an den Hofbällen von Berlin und in Münster nicht zu erkennen sind, so wird man seltsam finden, daß es berühmte Geschlechter unter ihnen gibt, die neben ihrem angeblichen Berufe, die unerschütterlichen Erben Karl’s des Großen zu sein und in Demuth vor Gott, dem Papst und dem Landesherrn ihre Renten zu verzehren, auch ein Handwerk lernen. Manche, die nicht gut schreiben können, aber schon in Potsdam ein Porteépée führen und in Verlegenheit kommen zu bekennen, daß sie nicht viel mehr wüßten, als was auf ihren düstern, einsamen Kampen der „Hauspape“ ihnen zu lernen zugemuthet, verstehen sich vor-99trefflich auf den Hufbeschlag der Pferde oder arbeiten sich das Sattel- und Riemzeug derselben selbst aus. Das Drechseln aber in grobem und feinem Holze ist eine so weit verbreitete Kunstfertigkeit des westfälischen Adels, daß Lucinde sich nicht hätte zu verwundern brauchen, neben dem Maleratelier ihres Freundes auch eine Kammer anzutreffen, die zu einer vollständigen Drechslerwerkstatt eingerichtet war. Ihr aus Kirschbaumholz allerhand Büchsen und Ringe zu drehen, war selbstverständlich seine liebste Aufgabe; aber er drehte auch Bälle, Kegel, Pyramiden, konische Ausschnitte und Figuren aller Art, von denen er nicht nur mathematische Auslegungen gab, sondern auch philosophische und religiöse. Oft sprach er dabei von einem in der Nähe seiner väterlichen Güter wohnenden Philosophen, der aus den einfachsten Grundbegriffen unserer mathematischen Anschauungen die tiefsten Wahrheiten der Religion hergeleitet hätte.

Je geheimer diese Gespräche vor dem Pfarrer geführt wurden, desto reizvoller wurden sie für einen Verstand, der sich aus den verworrenen Begriffen eines Narren manches Körnlein Vernunft entnehmen konnte. Dennoch wünschte Lucinde diese Lage geändert. Das Aufsehen, das sie in der ganzen Gegend mit dem „tollen“ Kammerherrn machte, war nicht gering. Auch hatte der Pfarrer erleben müssen, daß ein Brief, den Lucinde an ihre Schwester geschrieben und eine Meile weit erst von ihr auf die Post gegeben war, zurückkam, mit der vollständigen und wahren Adresse seines Schützlings, ja, daß der Meier von Eibendorf ihm Mittheilungen machte, 100 die jetzt den Zustand, wie man Lucinden im Riedbruch gefunden, vollkommen erklärten.

Eine scheue Besorgniß des ganzen Hauses vor Lucinden hatte sich schon längst gesteigert, sie wurde zur Abneigung, als man sie bei Ueberreichung des von der Post geöffnet gewesenen und wieder von der Post verschlossenen Briefes wol aufs äußerste über die offene Angabe ihres Namens erschrocken fand, weniger aber über den von einer ungebildeten Hand gekritzelten Zusatz: „Ist vor vier Wochen am Nervenfieber gestorben.“

Der Tod ihrer Schwester Luise, einer einzigen, wie sie öfter gesagt hatte, erschütterte sie weniger als die richtige Angabe ihres Namens! Daß mit so viel Schönheit, jeweiliger Liebenswürdigkeit, immer mehr sich herausstellendem Geist und zunehmenden Kenntnissen so viel Gefühllosigkeit verbunden sein konnte, als sich jetzt erst offenbarte, nahm vorzugsweise die Pfarrerin gegen den längern Aufenthalt Lucindens ein, und offen wurde dem Kronsyndikus von Wittekind nach Neuhof die Anzeige gemacht, daß sie ohne Lucinden den Kammerherrn nicht mehr bei sich behalten könnten, mit ihr aber länger nicht mehr mochten.

Lucinde übersah das alles. Ihrem wühlerischen Umblick entging selten etwas, während sie alles an sich zu verbergen wußte, selbst den Schreck und ihr wirkliches geheimstes Erschüttertsein durch den Tod der Schwester. Trotzig warf sie die Lippen auf und erklärte, sie ginge jeden Augenblick, wenn man’s wünschte. Man irrte sich keineswegs, wenn man voraussetzte, daß sie auch vom Kammerherrn sich trennen wollte, wenn nicht eine andere 101 Festsetzung ihres Verhältnisses zu ihm stattfände. Die Aussicht sogar, die Gattin desselben zu werden, schien ihr keineswegs zu hoch. Sie besaß einmal die Formel, die diesen verdunkelten Geist einigermaßen zu erhellen vermochte. Sie sagte sich, daß der vornehmen und stolzen Familie wenig daran liegen konnte, sich bei einer doch schon aufzugebenden Persönlichkeit auch noch gegen diese Ausnahme von der Regel zu stemmen.

Darin irrte sie sich aber, wie sie von der hierin entscheidenden Persönlichkeit selbst erfuhr.

In den ersten Tagen des April erschien der Kronsyndikus, der Vater des Kammerherrn.

102 9.#

Freiherr von Wittekind-Neuhof, Kronsyndikus des ehemaligen Königreichs Westfalen, setzte durch seinen Namen schon das ganze Pfarrhaus in Furcht und Schrecken.

Als der Kammerherr den am Wirthshause haltenden väterlichen Reisewagen gesehen, der über und über bespritzt, langsam durch die morastigen Straßen des Oertchens zog, fuhr er wie ein wildes Thier auf, das seinen Wärter am Käfig vorüberstreifen hört. Er rannte im Hause hin und her, rollte die Augen, hielt den Mund geöffnet, wie in seinen Wuthanfällen, packte, als wollte er sich mit seinem Theuersten schützen, seine Farben, seine Pinsel, seine philosophischen Kugeln, Kegel, Dreiecke zusammen, griff nach einem Crucifix, das er sich selbst geschnitzt und nach vielen kunstgeschichtlichen Controversen mit dem Grafen Zeesen und einem eingeholten Gutachten der Verlobten desselben, des Freifräuleins von Seefelden, selbst bemalt hatte, rief den Diener und schien sogar Lucinden vergessen zu haben.

Die Kinder im Hause liefen ebenfalls auf und ab. Die Pfarrerin suchte nach Lucinden, die sich versteckt auf 103 ihrem Zimmer hielt, zugeriegelt hatte und keine Antwort gab.

Der Pfarrer griff in die Gläser der Harmonica. Der ganze alte Zustand der Wildheit schien beim Kammerherrn wieder zurückgekehrt, dieser Zustand, der seit fast einem Jahre, so oft er sich während dessen gezeigt hatte, durch einen einzigen Ruf, durch ein geträllertes Liedchen der von der Treppe herabspringenden Lucinde schon aus der Ferne sich besänftigen ließ.

Die ängstlichen Kinder riefen vom Garten aus zum Fenster: Fräulein! Fräulein! Sie klopften, als keine Antwort kam, an die Thür. Lucinde ließ nichts von sich hören. Mit ängstlicher Unruhe blieb sie in ihrem Versteck, trat leise mit den Zehen auf und hörte mit listig ans Fenster gehaltenem Ohr das Toben des Kammerherrn. Dieser entfaltete seine sonst gewohnte Art, die die eines wilden, auf der Universität alt gewordenen Burschen war, die Natur eines nie anders als mit einem riesigen Neufundländer das Trottoir der Straße beherrschenden Pauk-Senioren alten Stils – er konnte stundenlang von seinen Suiten und den Paukereien auf der Mensur und dem besten, aber verrätherischen Freunde Klingsohr erzählen –; johlend rief er über den Garten, schlug die Thüren, rüttelte am Fensterkreuz und redete die Rosse und die Kutsche seines Vaters höhnend und herausfordernd an.

Bald erschien der Kronsyndikus selbst. Es war eine Gestalt von gleichem Wuchse wie der Sohn, hünenhafter Höhe und trotzigfesten Schrittes, so weiß auch schon sein Haar schimmerte.

104 Er trug einen grünen Jagdrock, hohe Stiefel mit Sporen und ließ eine Reitgerte schon in der Ferne bedenklich in der Hand hin- und hertänzeln. Doch lachte er, am Gartenzaun schon vom Pfarrer empfangen, zum Fenster empor und schien besserer Laune als sein Sohn, den er schon draußen, zum Parterrefenster zu, mit folgenden Anreden seiner väterlichen Huld versicherte:

Pinselheld! Ha! ha! ha! Stubenhocker! Trifft man dich endlich einmal? Farbenkleckser! Schäm’ er sich! Treibt sich in der Welt herum! Muß ihn ’mal wieder mit Gewalt holen!

So tändelte er mit fingirter Ueberraschung, den Sohn hier zu finden, und als wenn der Kammerherr hier aus freien Stücken lebte. Dieser ging auch auf den Spaß ein. Der Vater tändelte mit dem Sohn, wie mit einem Hunde, den man zum Wedeln und Springen reizen will. Und im Hause wurde es nun ängstlich stiller; die Furcht des Sohnes vor dem Vater war die des Thieres. Man behauptete, daß der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof trotz seiner Jahre noch im Stande war, den baumstarken, jüngern Mann niederzuwerfen und ihn auch schon oft mit beiden Händen eine Viertelstunde lang auf der Erde gehalten hatte Auge in Auge, Mund gegen Mund den Trotz desselben bändigend.

Mit einem kurz zusammengeschleiften, liebkosenden Hui-hu! Hui-hu! Hui-hu! trat der Kronsyndikus ins Haus.

Die Verständigung im Erdgeschoß, die Begrüßungen und Auseinandersetzungen hörte Lucinde nicht. Aber das 105 vernahm sie, daß es nicht sanft herging, daß die Kinder, der Pfarrer, die muthige Frau Pfarrerin wie immer thätig sein mußten, die Vermittler und Beruhiger zu machen. Zuletzt kam der Diener des Kammerherrn, mit dem Lucinde schon lange conspirirte, auf den Zehen zu ihr geschlichen und theilte ihr flüsternd mit, daß es sich um die Abreise des Kammerherrn, seine alte doch noch beschlossene Vermählung mit einem Freifräulein handelte, aber auch von seiner Weigerung und dem unwiderruflichen Entschluß, nur Lucinden zu seiner Gemahlin zu erheben …

An dem wilden Lachen des Vaters, das dann und wann heraufschallte, merkte man den Eindruck dieser Eröffnungen des Kammerherrn, der immer stiller wurde und zuletzt sogar in das gewöhnliche Schlußstadium seiner Wuthanfälle fiel, in ein an diesem starken und mächtigen Manne ganz besonders schreckhaftes feiges Verzagen, das sich bis zum Weinen und lauten Wehklagen steigern konnte.

Wie dies stoßweise Schluchzen schon vernehmbar wurde, hörte man von unten heraufkommen.

Fort! rief Lucinde dem Diener zu und stand auf dem Sprunge, die Thür zu schließen.

Der Diener ging und that, als wär’ er im Begriff gewesen eben auf den Boden zu steigen.

Die Pfarrerin aber war’s, die kam. Sie klopfte leise an und bat Lucinden mit weicher Stimme herunterzukommen, der Vater wünschte sie zu sehen.

Er kann heraufkommen! antwortete sie in beklommener Angst.

106 Ich bitte Sie, Fräulein Schwarz! sagte die Frau und drängte.

Nein! Nein! Ich komme nicht!

Damit verschloß sie auch noch ihre Thür. Verriegelt hatte sie sie gleich beim ersten Hineinschlüpfen.

Nach einer Weile, während die Pfarrerin seufzend gegangen war, hörte Lucinde den schweren, sporenklirrenden Tritt eines Mannes auf der Stiege.

Eines der Kinder zeigte ihm den Weg; und bald hörte sie ein Klopfen, das unfehlbar mit keinem menschlichen Finger, sondern mit dem Knopfe der Reitpeitsche erfolgte.

Zitternd stand sie und wagte nicht zu öffnen.

Als das Klopfen mit einigen freundlichen Worten wiederholt wurde, öffnete sie und mußte staunen, den Kronsyndikus ohne Stock oder Reitpeitsche zu sehen; wirklich waren es nur seine Finger gewesen, die geklopft hatten.

Die große Gestalt trat ein.

Auffallend war die Aehnlichkeit mit dem Sohne, nur hatten Wuchs und Kopf nichts Gedunsenes wie bei diesem. Wettergebräunt, mit leisen Pockennarben überlaufen und hier und da mit Warzen besetzt war das Antlitz; rothe Flecken um die stumpfe Nase und die knochigen Wangen verriethen die Liebe zum Wein; die dicken Augenbrauen waren gelbweiß, die Haare noch stark und von gleicher gelbweißer Farbe. Man sah das Bild eines auf seinen Namen, seinen Rang, seine Verbindungen, vielleicht auch auf seine eigenen Meinungen und Entschließungen sich 107 mit unerschrockener Festigkeit stützenden Adeligen, das Bild eines Mannes, den Widerspruch erbitterte.

Lucinde hatte aber kaum einige Worte von ihm gehört, so bemerkte ihre Klugheit auch sogleich, daß diese Art Menschen dann ungefährlich, ja sogar zuvorkommend und liebenswürdig werden kann, wenn man allen ihren Gedanken nachgiebig folgt und sie ganz für etwas ebenso Großes und Vorzügliches nimmt, als wofür sie gehalten sein will …

Auf die ersten von ihm statt drohend sogar im Gegentheil schmeichelnd ausgesprochenen Begrüßungen des schönen Mädchens, auf seine Versuche zur Courtoisie und sogar eine Befangenheit, die von Lucindens Erscheinung geblendet war, gewann sie bald den Muth, seinen Worten Stand zu halten.

Sie war in der gewählten Tracht, die der Kammerherr, der sie noch nie unzart berührt hatte, und sie nur anschauend und bewundernd liebte, an ihr besonders gern hatte. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid, hatte in ihr geflochtenes, offenes Haar einige bunte Bandschleifen gesteckt, die ihr weit bis in den Nacken hingen, und benahm sich mit der ihr eigenen und, wie alle, die sie näher kannten, es nannten, ihr siegreich zu Gebote stehenden träumerischen Kindlichkeit, die den Eindruck eines Wesens sogar voll Poesie und Unschuld machte.

Der wilde Freiherr war sogleich gewonnen und rühmte den Geschmack seines Sohnes mit vielen humoristischen Donnerwettern, Sackerlots und zudringlichen à la bonne heures.

Ohne viel Umschweife zu machen, erklärte er, daß 108 der Kammerherr eine Baronesse von Tüngel heirathen müsse; er wisse sehr wohl, und auch seiner künftigen Gemahlin würde es nicht verborgen bleiben, daß der Junge seine tollen Stunden hätte, doch lasse er sich leiten, wie ja dieser Aufenthalt hier in Eibendorf bewiesen hätte. Ferner: Er wisse auch, daß ihm selbst die Kunst abginge, mit einem Menschen, der ganz aus der Art geschlagen, richtig zu verkehren; daß Jérôme das Pulver nicht erfunden, sei bekannt; der Titel eines Kammerherrn wäre die Gnade eines benachbarten Fürsten gewesen, in dessen Gebiete einige seiner Güter lägen; sein älterer Sohn, der Regierungsrath, hätte dafür des Verstandes nur zu viel; die Natur gliche gern aus, und ein Unglück wär’ es nicht, wenn der Bund mit den Tüngels zur Ausführung käme; Kinder würde es schwerlich geben; wie viel eine richtige weibliche Behandlung zu thun vermöchte, hätte ja Lucinde bewiesen, und er wäre ihr von Herzen dankbar dafür. Daß er seinen Dank, wie er gleich aufrichtig hier bekennen wollte, bis zur Adoption einer solchen Schwiegertochter, wie sie wäre, steigerte, davon könnte natürlich keine Rede sein. Der große Narr weine zwar und wolle nicht von ihr lassen; es würde sich aber auch das bei ihm geben. Einstweilen möchte er selbst nicht allzu lange in dem Hause hier verweilen: er müsse bekennen, weder allzu viel Weihrauchduft noch luthersche Pfarrhausluft wäre sein besonderer Geschmack; leider hätte er einen katholischen Pfarrer nicht wählen können, da es ja den „armen Käuzen“ an einer Pflegerin und zerstreuenden Kindern fehle. Das Beste wäre, sie folgten ihm einmal vorläufig alle beide, der Kam­merherr und 109 Lucinde. Schloß Neuhof wäre sehr groß, hätte nicht nur zwei Seitenflügel, sondern im Park auch noch ein paar Pavillons, von denen sie den einen ganz allein beziehen könne und zwar so lange, bis das Arrangement mit den Tüngels getroffen wäre und sie sich dann in aller Stille eines Tages entfernen oder sonstwo auf seinen Gütern etabliren könne. Für ihre Existenz „so oder so“ solle schon gesorgt werden; denn die Undankbarkeit wäre einer der letzten von den alten Fehlern der Wittekinds …

Und nun schloß er, auch von der Bündigkeit seiner eigenen Darstellung geschmeichelt, mit einem Gelächter, daß die ganze Stube schütterte. Er zog dabei Lucinden an sich, um sie zu küssen, was auch erfolgt wäre, wenn ihn in seinem gewaltigen, selbstzufriedenen Lachen und dem Versuch, seinen rauhen Backenbart an der Sammtwange des Mädchens zu reiben, nicht ein Husten überkommen wäre, den er auf die verdammte Witterung, das heurige zu späte Eintreffen des Frühlings und „allerlei sonstigen niederträchtigen Aerger“ schob …

Lucinde hatte keine Veranlassung, diesen Anordnungen Widerstand zu leisten. Sie selbst sehnte sich aus einem Hause hinweg, in dem sie die frühere Werthschätzung vermißte. Die Schraube mit dem Kammerherrn und der Möglichkeit, sich in eine glänzende Lebensstellung zu versetzen, ging ja noch fort. Vorläufig standen die neuen Verhältnisse, die der Kronsyndikus in Aussicht stellte, schon so lebhaft vor ihrer Phantasie, daß sie den Gedanken, in einem großen schönen Park einen eigens für sie eingerichteten Pavillon zu be-110wohnen, sich schon ganz mit allen möglichen Farben ausmalte.

Ihre ängstliche Schüchternheit aber legte sie nicht ab. Diese war auch vielleicht nicht ganz gemacht. Noch hatte überhaupt das Leben die wirren Stoffe, die in ihrem Innern lagen, nicht verarbeitet bis zur klaren Unterscheidung von Gut und Böse. Ihr Instinct sagte ihr jetzt, daß sie sehr anspruchslos und ungefährlich erscheinen müsse, wenn sie die gute Meinung, die der Kronsyndikus von ihr gefaßt zu haben schien, behaupten wollte. Daß sie sich mit dem, was er in Aussicht stellte, nicht ganz zufrieden geben würde, wußte sie schon. Damit sie aber dahin gelangte, mehr zu gewinnen, war es nothwendig, alles mit sich geschehen zu lassen, was der Kronsyndikus vorschlug. Sie erkannte gleich seine Art, als sie ihm wegen dieser weisen Anordnung ganz besonders innig gedankt und ihn damit noch wohlwollender gestimmt hatte. Sein ganzes Leben war, nach der gewöhnlichen Vorstellung solcher Charaktere, eine einzige große Erfahrung von Undank. Lucinde gefiel ihm immer mehr, und er sagte auch unten, daß in ihren schwarzen Augen etwas läge, was ihn, so alt er wäre, selbst noch thöricht machen könnte.

Der unruhige und stürmische Geist des Mannes verlangte die allgemeine Abreise schon vor Ende des Tages.

Der Kammerherr ließ alles geschehen, was man anordnete, blieb ihm doch sein Liebstes auf Erden, das Ideal seiner Träume, die ewig gleiche Belebung seiner Bilder, seine Schülerin, seine Heilige.

111 Wie ein Kind nahm er Abschied von dem Hause des Pfarrers und den nächsten Umgebungen. Noch an den Riedbruch in dem Walde war er, bis an die Knöchel versinkend, gegangen und hatte an derselben Stelle, wo er einst Lucinden gefunden, einige schon sprossende Gräser und Schneeglöckchen gepflückt. Schon lange verkündete hier ein Würfel aus Sandstein mit einigen Emblemen des Philosophen jener kleinen Stadt, dessen System er an der Drechselbank und auch aus einigen bei demselben persönlich nachgeschriebenen Heften so bewunderte, und auf diesem Würfel das eingegrabene griechische Wort: „Heureka!“ (Ich habe gefunden!) allen Blumen und Vögeln und Schmetterlingen und Käfern sein Glück – diesen wol allein, denn Menschen verirrten sich des sumpfigen Weges nicht.

Der Pfarrer selbst, dem eine bedeutende Einnahmequelle versiegte, sah den oft so unholden Gast mit Rührung scheiden. Die Pfarrerin meinte: Man gewöhnt sich so bald an das, was tägliche Pflicht geworden, selbst wenn Plage und Qual damit verbunden ist. Den Verlust der Einnahme mußte man zu verschmerzen suchen, mischte sich doch auch das angenehme Gefühl in den Scheideaugenblick, erlöst zu sein von einem Alp wie Lucinde. Einen Misbrauch ihrer Schönheit, ein übles Beispiel, das sie den Kindern im Genuß ihrer Triumphe gegeben, konnte man ihr nicht nachsagen. Da sie aber die gewohnten und allgemeinen Wege in keinem Dinge gehen mochte und an kleinen Verwirrungen, die sie schon genug in den nächsten Beziehungen des Hauses angerichtet hatte, förmlich Freude zu empfinden schien, so sah 112 man sie mit erleichtertem Herzen ziehen. Lucinde wußte das und machte von ihrem Gehen keine Umstände. Nur den Kindern im Hause und manchem Fleißigern in der Schule ließ sie zurück von ihrem Ueberfluß an Kleinigkeiten und hunderterlei Bagatellen, die ihr der Kammerherr verehrt hatte.

Die Reise ging über das Eggegebirge der westfälischen Abdachung zu.

Obgleich der Kronsyndikus mit der Mehrzahl seiner Güter der großen norddeutschen Monarchie angehörte, schien sein Herz doch mehr an Hannover, an Braunschweig, an Lippe, Bückeburg, Detmold zu hängen, in deren Gebieten er gleichfalls angesessen war. Ja, bis in den höhern Norden hinauf, bis Hamburg, bis Kiel hin besaß er einzelne, durch Verschwägerungen und alte Familienbeziehungen ihm zugefallene Güter.

Der Kammerherr schien dabei trotz alledem sein Lieblingssohn. Des ältern, des Regierungsraths, wurde nur mit Gereiztheit gedacht, ja, in den Spott, in den er zuweilen über die Welt, in welcher jener lebte, ausbrach, stimmte der Kammerherr mit ein, sodaß man beide dann in ein mit ganz gleicher Tonart gesetztes Lachen sich ausschütten hören konnte.

Die freie, ungebundene, ja zügellose Art des Vaters fiel Lucinden bald genug auf. Der Kammerherr war viel sittsamer. Sein Vater gab ihm das Zeugniß, daß der „alte Schafskopf“, wie er ihn nannte, immer nur Hunde und seine sogenannten guten Freunde geliebt, immer nur vor den Damen wie ein Duckmäuser gestanden hätte und zu seinem höchlichsten Erstaunen nun doch noch 113 in den Apfel der Erkenntniß beißen wollte … Wenn er eine solche Vergleichung brauchte, lachte er sich selbst Beifall, und Lucinde wußte schon, wie gern er sah, wenn sie darüber auch den Mund in Lächeln verzog. Sie erntete dafür über ihren Verstand und ihre Zähne Schmeicheleien so derber Art, wie sie der Kammerherr nie auszusprechen gewagt hatte.

Diese Reise währte eine halbe Nacht und einen halben Tag. Man fuhr mit vier Pferden Extrapost. Am Wege sah man dann und wann Crucifixe und Heiligenbilder. Die an historischen Erinnerungen so ahnungsreiche Gegend war jetzt gemischter Confession. Bei der Frage nach Lucindens Herkunft, sonderbarem Vornamen, religiösem Bekenntniß kam es zu einigen Erörterungen über die Stadt, aus der sie entflohen war. Und nun fragte der Kronsyndikus von Wittekind selbst, ob Lucinde dort nichts von einer gewissen Gülpen oder Buschbeck, wie sie sich nenne, gehört hätte. Und trotzdem, daß sie ja auch dem Kammerherrn schon diese Namen ausgesprochen hatte, antwortete sie: Nein! Sie fürchtete weitere Fragen über ihre Herkunft und die Ursache der Bekanntschaft mit jener unheimlichen Frau.

Der Kammerherr hätte sich der frühern Frage Lucindens nicht erinnert, aber er war auch in dem Augenblick gerade beschäftigt, mit einem Perspectiv die Fenster eines Herrensitzes zu fixiren, an dem sie in einiger Entfernung vorüberfuhren. Er entdeckte dort seinen zweitbesten Freund, den Grafen Zeesen, der trotzdem, daß es erst April war, schon Fliegen zu jagen schien. Lucinde brauchte das Glas nicht, um zu sehen, daß der 114 Graf alle Fenster im ersten Stock seines „Hofes“ offen hatte und mit der Fliegenklatsche die dort demnach ganz unglaublich frühzeitigen Störenfriede hinausjagte …

Der Kronsyndikus war offenbar über seine eigene Frage nach der „Hauptmännin“ in Gedanken verloren, sonst hätte er um einige Meilen weiter nicht so unbefangen von einer jungen Dame gesprochen, die sie auf den Wiesenwegen, die einen kleinen Edelhof umgaben, einsam und, wie es schien, tief nachdenklich spazieren gehen sahen. Es war dies Therese von Seefelden, die Verlobte jenes Grafen Zeesen …

Kaum begann der Kammerherr von den vortrefflichen Eigenschaften seines Freundes, des Grafen, und hatte eine Parallele zwischen ihm und dem „Verräther“, dem Doctor Klingsohr, zu ziehen angefangen, als der Kronsyndikus mit dem Fuß aufstampfend rief:

Schweig! Nenne mir den hundsföttischen Namen nicht!

Man erfuhr jetzt, daß der leidenschaftliche Mann in diesem Augenblick nicht nur von der Zukunft seines Sohnes, sondern von vielen andern Dingen, vorzugsweise aber von seinen Beziehungen zu dem Vater jenes Klingsohr, seinem Generalpachter, auf das heftigste gereizt war.

115 10.#

Immer und immer schon war ein gewisser „Deichgraf“ genannt worden, ein Titel, nach dessen Bedeutung Lucinde nicht fragen mochte.

Wie sicher sie zwar in allem, was zur Bildung gehörte, jetzt schon Stand hielt und einen über Geldangelegenheiten vom Vater in französischer Sprache begonnenen Discurs mit der endlos belachten Bemerkung unterbrach, ob sie nicht lieber polnisch sprechen wollten, was sie weniger verstünde als französisch, so hütete sie sich doch, auf Gebiete einzugehen, wo sie in keiner Weise heimisch war. Sie bildete sich da jenes bekannte aufmerkende und geheimnißvolle Schweigen aus, das bei Leuten, denen Bildung überhaupt zugestanden werden muß, immer annehmen läßt, daß sie über jeden vorliegenden Fall, und beträfe er die Inschrift einer ägyptischen Pyramide, vollkommen au fait sind.

Bald merkte Lucinde aus den Drohworten, die der Kronsyndikus ausstieß, daß es mit dem Deichgrafen eine besondere Bewandtniß hatte. Dieser „Graf“ schien nur ein Bürgerlicher zu sein. Es war der erste Pachter des 116 Freiherrn von Wittekind. Der Kronsyndikus nannte ihn unausgesetzt bald einen Hund, bald einen Schurken; ja, er erklärte, daß er ihm bei erster Gelegenheit und, wie er sagte, stanta pe eine Kugel vor den Kopf brennen würde. Der Kammerherr wünschte neue Vorkommnisse des Zwistes zu wissen, aber der Vater schien von denselben so ergriffen zu sein, daß er zuweilen die an ihn gerichteten Fragen ganz überhörte …

Das Terrain war eine Zeit lang nur eben gewesen. Auf den Gütern des Freiherrn, die von der Straße ostwärts lagen, wurde es wieder von Anhöhen unterbrochen, und auf der höchsten Höhe lag Schloß Neuhof wie eine leuchtende Krone der ganzen in Saatengrün, Wald und Wiese prangenden Gegend. Diesem Schloß, diesen reichen Fluren nach zu schließen, mußte der Kronsyndikus fürstliche Einnahmen beziehen, womit freilich sein Dingen und Zanken mit den Postillonen und Wirthen in Widerspruch stand. Lucinde hatte den Muth, ihn seines Geizes wegen aufzuziehen, wozu er ganz beistimmend schmunzelte und ihr in die Wangen kniff mit den Worten, daß er von solchen hübschen Kindern wie sie in seinem Leben leider nur zu oft solche Wahrheiten hätte hören müssen.

Ehe man auf die bedeutende, aber sanft aufsteigende Anhöhe gelangte, von welcher das im vorigen Jahrhundert gebaute Schloß herniederleuchtete, hatte sich in die jeweiligen Auseinandersetzungen des Kronsyndikus über die Ernte, die neuen Wegebauten, die Kirchen und Klöster, die man in der Ferne aufragen sah, über einen oft citirten Landrath von Enckefuß, den sein Auge da 117 und dort zu erspähen glaubte, dann wieder über den Reichthum und die hohe gesellschaftliche Stellung der Tüngels und über die Vorzüge der freilich nicht mehr ganz jungen Baronesse Portiuncula, die Jérôme heirathen sollte, wieder der Zorn gemischt auf jenen „Deichgrafen“. Man sah, aus den heftigen Rügen über diesen Acker, jene Hecke oder Anpflanzung, überall die Schöpfungen dieses Mannes, der seit einer langen Reihe von Jahren mit dem Freiherrn aufs innigste befreundet gewesen, jetzt aber, wie sein Sohn mit dem Kammerherrn, in Bruch gekommen war. Der Kammerherr suchte die Neigung seines Vaters zu gewinnen durch beständiges Schüren dieses Hasses, durch Uebertreibungen und Flüche, die die des Vaters zuweilen noch an Kraft und Umfang übertrafen. Zwei verwöhnte, durch ihren Namen und Besitz sich für unantastbar haltende Männer scheuten sich nicht, dem Deichgrafen im Geiste bald die Peitsche zu geben, bald sämmtliche Hunde ihrer Förster auf ihn zu hetzen.

Lucinde erfuhr jetzt, daß der Generalpachter Klingsohr den altüblichen Namen eines Deichgrafen von einer frühern Anstellung bei den Deichen der hannoverischen Niederelbe führte, dort die Bekanntschaft des zuweilen nach seinen mecklenburgischen und holsteinischen Gütern durchreisenden Freiherrn machte und von diesem bereits vor beinahe dreißig Jahren in diese Gegend als sein Pachter berufen worden war. Lange hätten sie in dieser Lage freundschaftlich verkehrt, sogar die Söhne des Freiherrn und des Deichgrafen wären zusammen aufgewachsen und erzogen worden, der Kammerherr hätte mit Heinrich Klingsohr, dem jetzigen Doctor, in Göttingen studirt, 118 und bei alledem war eine Feindschaft ausgebrochen, wo einer denn doch noch, wie der Kronsyndikus sagte, „dran glauben“ würde.

Die Ursache dieser Feindschaft lag in einer neuern Ernennung des Deichgrafen. Der alte Klingsohr, der sich als großer Pachter im landwirthschaftlichen Verein, ja als Kenner der Volkszustände auf dem Provinziallandtage einen Namen gemacht hatte, war Commissar der Regulirung bäuerlicher und grundherrlicher Verhältnisse geworden. Erst jetzt wurden in dieser Gegend die letzten Reste der Leibeigenschaft aufgehoben. Die Regierung bestimmte Theilungscommissare, denen sie ihr Vertrauen schenk­te, um jedes streitige Recht zwischen Bauern und Grundherren, zwischen den Gemeinden und Einzelpersonen zu prüfen und schließlich nach bester Ueberzeugung die Ablösungen zu schätzen. Man konnte nicht bemessen, daß ein Macchiavellismus darin lag, zu einem unter Umständen so unpopulären, ja gefährlichen, der Bestechung wie der Anfeindung ausgesetzten Posten einen Oppositionsmann zu wählen. Im Gegentheil ließ sich annehmen, daß gerade in der gesunden, offenen und ehrlichen Politik des Deichgrafen, die der Regierung schon viel zu schaffen gemacht hatte, eine Bürgschaft gefunden wurde für die Gerechtigkeit, mit der er sich seinem schwierigen Amt unterziehen würde. Er kannte die Gegend seit beinahe dreißig Jahren, hatte die Interessen derselben mannichfach studirt und war unstreitig der geeignetste, der die Unparteilichkeit einer so wichtigen Procedur verbürgte. Lucinde gewann diese Einsicht in ihr keineswegs fremde Verhältnisse vollständig erst von 119 ihrem Pavillon im Schloßpark zu Neuhof aus. Jetzt war es nach des Kronsyndikus Meinung eine teuflische, höllenmäßige und bis an die Throne diesseits und jenseits zu verfolgende Undankbarkeit des Deichgrafen, auf seinem neuen Posten fortwährend seinem Pachtgeber, langjährigen alten Freunde, ja Wohlthäter, wie er sagte, in fast allen streitigen Fragen Unrecht zu geben, ihm Rechte zu entziehen auf Wald und Flur, die er seit Urgedenken besessen haben wollte, die Summen, die er von seinen frühern Lehnsassen zu empfangen, gering, die aber, die er selbst an die Gemeinden zu zahlen hätte, hoch anzuschlagen. Durch diese nun schon seit zwei Jahren dauernde Ablösung, die den Deichgrafen zum Wohlthäter des ganzen Kreises machte, waren beide in Streitigkeiten gerathen, die leicht auf Thätlichkeiten übergehen konnten, denn auch der alte Klingsohr war, wie Lucinden aus dem plattdeutschen Examen, das der Kronsyndikus bald mit Postillonen, bald mit Gensdarmen über „etwa Vorgefallenes“ oder Vorkommnisse des Feldbaues anstellte, vernehmlich wurde, eine heftige Natur, zäh und eigensinnig in seinen Ueberzeugungen. Der Pacht, der nur noch einige Jahre lief, war ihm vom Freiherrn gekündigt worden … Und gib Acht, Jérôme, schloß der Vater in seinen Anklagen, wir werden erleben, daß er uns noch allen als Zuchtruthe gesetzt wird, denn Enckefuß will und muß versetzt werden! Geschieht das, so kauft sich Klingsohr ein Eigenthum, läßt sich wählen, und unter den drei Candidaten angesessener Bewohner des Kreises, die wir vorzuschlagen das Recht haben, wird von oben her kein anderer zum Landrath 120 gewählt werden als der erprobte Herr Theilungscommissar!

Lucinde hörte allen diesen Gesprächen mit der Erwartung zu, im Verlauf derselben würde vielleicht der Name der Schreckgestalt, der Mäusefängerin und Giftpfeilbesitzerin genannt werden. Doch war der Umfang an Lebensbezügen und Erinnerungen des Kronsyndikus so außerordentlich groß, daß er unausgesetzt Neues aufs Tapet brachte und zum Alten, wo es nicht den Deichgrafen betraf, selten zurückkehrte. Der Kammerherr setzte dabei seinen gewohnten Unterricht Lucindens durch Erklärungen fort. Auseinandersetzen, erläutern, dociren war sein Steckenpferd. Fürsten, Grafen, Bischöfe und Erzbischöfe wurden dabei wie die gewöhnlichsten Menschen sogar einfach mit Vornamen genannt. Alles, was Lucinden bisher hoch und unerreichbar geschienen, zeigte sich ihr hier ganz menschlich und von den allgemeinen Leidenschaften aller beherrscht. Für ihre Bildung und Lebensauffassung mußte daraus, wie durch die Erfahrungen im Hause des Stadtamtmanns, sich mancherlei ergeben. Wer den ersten Blendzauber, den die Großen der Erde verbreiten, auszuhalten oder ihn allmählich in nächster Nähe erblinden zu sehen Gelegenheit gehabt hat, wird leicht für alle Lebensverhältnisse eine Entschlossenheit und Thatkraft bekommen, die vor keinem Ziel des Ehrgeizes mehr zurückschreckt.

Schon lange, ehe man, langsam die sanft aufsteigenden Anhöhen zum Schlosse emporfahrend, an diesem angekommen war, hatte man zur Rechten den zwar noch laublosen, aber schon von Spatzen, Amseln, Gold-121ammern belebten großen Park neben sich liegen. Die Umwandelung eines Waldes in diese regelrechte und kunstmäßige Zierlichkeit, mit zuweilen durchschimmernden Erlenbrückchen, kleinen von Hängeweiden bestandenen Inseln, künstlichen Felsgrotten, Wasserfällen, stammte schon aus dem vorigen Jahrhundert. Auch die erwähnten Pavillons mit Galerieen und chinesischen Dächern wurden sichtbar. Ein solcher, der auf der andern Seite lag und im untern Geschoß von einem alten Schloßdiener bewohnt wurde, sollte ganz für Lucinden eingerichtet werden, falls sie nicht vorn bei Vater und Sohn im Schlosse wohnte. Die sittlichen Vorstellungen des Kronsyndikus schienen von sogenannten Vorurtheilen völlig frei zu sein. Selbst wenn sein Sohn zu Lucinden in Verhältnissen gestanden hätte, in denen dieser nicht stand, würde er darüber mit Unbefangenheit gescherzt haben.

Schloß Neuhof bot in seinem Hofe und in den Seitenbauten ein großes Oekonomiewesen. Den einen Theil seiner Besitzungen verwaltete der Freiherr selbst. Da gab es Ställe voll Rinder und Schafe, in der Ferne Ziegelöfen, eine Branntweinbrennerei, eine Brauerei, deren Grundstoffe und Erträge im beständigen Verkehr um das Schloß herum kamen und gingen und die nächsten Räumlichkeiten desselben so unschön wie möglich erscheinen ließen. Menschen umgaben den Besitzer von allerlei, aber durchgehends untergeordneter Art. Ihm mußte man nur dienen, nur gehorchen; Weisungen von andern anzunehmen war seine Sache nicht. Von jeher hatte er auch deshalb Frauen lieber um sich leiden mögen als Männer. Gleiches, Ebenbürtiges, Höheres, 122 zu dem er aufblicken mußte, duldete seine hohe Meinung von sich selbst nicht. Seine tyrannische Art schlug mit einer Handbewegung um sich und scherzte mit der andern. Ihm kam nichts auch nur, wie er’s zu nennen pflegte, „bis an den Nabel“. Er hatte immer recht, ob nun eine andere Fütterung für verkommene Schafe oder der Bau eines neuen Ofens für die Ziegelei beantragt wurde. Die Mägde, die Knechte, die Verwalter der vielen Zweige, in denen gearbeitet und Gewinn angestrebt wurde, alle standen in der Regel in den Fällen, wo’s, wie er sagte, „auf Grütze im Kopf“ ankam, „wie die Hornochsen“ und waren die Dummköpfe selbst. Er nur wußte alles und entschied alles. Und dann, wenn Er den „rechten Zapfen“ eingeschlagen hatte, Er „den Nagel auf den Kopf getroffen“, Er irgendeinmal „den Karren wieder aus dem D. geschoben“ hatte, mußte alles den Kopf schütteln und ohne viel Worte gleichsam nur ein: „Aber man muß sagen, unser gnädigster Herr –“ mit den Augen andeuten. Wer das verstand, traf den Ton, in dem er die Menschen mit sich verkehren haben wollte. Es war dann schon vorgekommen, daß er in solchen Fällen, wo Er allein „dem Ding auf die Beine geholfen“, die Börse zog und einen Thaler austheilte, nur damit sich die Ochsen, die Esel, die Rindviecher dafür, daß sie sich ihm gegenüber als solche bewährt und bekannt hatten, einen guten Tag machten.

Lucinde wurde unter zahlreichen neuen Menschen eingeführt als eine durch Familienbekanntschaft Empfohlene, der das Land nützen und die wiederum auch dem Lande 123 nützen sollte. Da der Kammerherr nicht aufhörte, seine Liebe mit einer niemand an sie heranlassenden Eifersucht zu schützen und seine Sorgfalt, Obhut und Zartheit gegen sie die gleiche blieb, so durchkreuzte er die Plane des Vaters, der nicht wenig Lust bezeugte, der Rival seines Sohnes zu werden. Lucinde wohnte im Schlosse selbst nur bis zu dem Tage, wo mit dem mächtig hereinbrechenden Frühling eine Menge benachbarter Adelsfamilien erschienen und sie in den für sie bestimmten Pavillon des Parks zog. In dieser Zeit der Besuche mußte sie sich vom Schlosse sogar ausdrücklich fern halten.

Vom Pavillon aus beobachtete sie die vornehmen Gäste, die kamen und gingen. Liebliche junge Mädchen, auch Kinder umschwärmten einige Stunden lang, während der Hof sich mit Livreen füllte, einen Weiher im Park. Besonders anmuthig war eine Comtesse Paula von Dorste-Camphausen, eine zarte, schlank aufgewachsene und, wie es schien, kränkelnde Blondine mit langem goldenen Haar, kaum zwölf Jahre alt und schon zur Reife entwickelt. Ihre treueste Begleiterin war ein kleiner schwarzer Lockenkopf, den man Armgart von Hülleshoven nannte. Auch flüchtig sah Lucinde jene Portiuncula von Tüngel, aus dem Geschlecht der Tüngel-Appelhülsen, die in diesen Tagen und bei diesen Berathungen und Bewillkommnungen durchaus die Kammerherrin von Wittekind, die Gattin eines Geistesschwachen, werden sollte. Sie sah sie eines Tages wieder, als sich der Park plötzlich mit Menschen gefüllt hatte. Sie war nicht auf diese Ueberraschung gefaßt gewesen. Sie hatte sich in träumender und verdrieß-124licher Langeweile für sich allein in ihrem Pavillon geschmückt und mußte an den Parkweiher, weil der Kammerherr, wie sie von den alten Leuten, bei denen sie wohnte, erfuhr, ihr im Vogelhause alle ihre Nähapparate versteckt hatte. Dorthin wagte sie sich. Sie hatte sich in einem vom Kammerherrn mit Goldlackfarbe bemalten schöngeformten Kahn, zu dem ein zierliches mit Goldfarbe gleichfalls überzogenes Ruder gehörte, an das in der Mitte befindliche Haus voll türkischer Enten, Tauben und Schwäne, die in drei Stockwerke vertheilt waren, hinrudern wollen, indem gerade die ganze Gesellschaft vom Schlosse kam. Alles eilte voll Staunen näher. Es war die phantastischste Ueberraschung, die man sehen konnte. Der Teich, der goldene Kahn, die schöne Schifferin … Und der Kammerherr selbst konnte, da der Vater nicht sogleich in der Nähe war, dem Drange nicht widerstehen, der Welt seine wahre Liebe genauer zu zeigen. Lucinde erschrak und flüchtete sich in das Vogelhäuschen. Es bestätigte dieser Anblick die Sage, daß sich der Kammerherr Jérôme auf Schloß Neuhof ein Elfenkind hütete.

Es folgte aber eine heftige Scene mit dem hinzukommenden Kronsyndikus. Die phantastische Schifferin stieg über den Lärmen in die Pagode hoch hinauf und kletterte bis an die obere Spitze, die in einem buntgemalten Taubenschlage endigte. Da flatterte es, als sie dort richtig ihr Nähzeug entdeckte, von allen Oeffnungen heraus, während der Kahn, den sie nicht befestigt hatte, inzwischen ans Ufer schwamm. Nun wollten die Herren der Gefangenen zu Hülfe eilen; aber der 125 Kronsyndikus machte dem Vorfall durch kurze und entschiedene Befehle ein Ende. Er kündigte auch die eben erfolgte Ankunft seines ältesten Sohnes an.

Alles mußte jetzt den Park verlassen und den Regierungsrath von Wittekind begrüßen …

Lucinde bekam so die Freiheit.

Bis die Bediente den Kahn zurückgerudert hatten zur Insel, saß sie unter den Tauben, die allmählich wiederkehrten, und konnte Betrachtungen anstellen über alles, was zwischen ihrem Taubenschlag auf dem geflickten Schindeldach in Langen-Nauenheim, dem Taubenschlag unter dem Küchenherd der Frau Hauptmännin und dem hier auf der chinesischen Pagode im Park von Schloß Neuhof für sie an Erlebnissen in der Mitte lag.

126 11.#

Schon war für Lucindens Ehrgeiz eine Zurücksetzung, wie sie sie jetzt erlebte, wenig geeignet. Manchmal, wenn sie bei of­fenem Fenster in ihrem Pavillon saß, war es ihr, als wenn sie sich in der That doch nur eine aufs Land hin vermiethete Näh­terin erschien. Sie saß und besserte wirklich nur Wäsche aus. Es war allerdings ihre eigene. Sie hatte um ihre Schwester fortgesetzt noch Trauer anlegen wollen und begehrte neue schwarze Kleider; der Kronsyndikus hatte sie ihr abgeschlagen, da der Anblick seinen Augen nicht wohlthäte, eine Aeußerung, die sie den alten Leuten wiederholte, bei denen sie wohnte, und die von diesen mit einem tiefen Seufzer aufgenommen wurde … Ueberhaupt fiel ihr der Druck, unter dem hier auf dem Schlosse und in seiner nächsten Umgebung alles lebte, immermehr auf. Ja, sie selbst empfand ihn schon. Als sie wegen der verweigerten Garderobe wollte zu schmollen anfangen, rief der Kronsyndikus ein so starkes und drohendes Halloh! daß sie erbebte und diesen Ruf, dies Zusammenziehen der gelbweißen buschigen Augenbrauen nie wieder heraufbeschwören mochte.

127 Während auf dem Schlosse eines Tages wieder eine glänzende Gasterei stattfand, trieb es Lucindens Ungeduld und verletzte Eitelkeit ins Freie.

Hinter dem Park gab es erst ein Feld und eine Reihe von Obstbäumen zu durchstreifen, dann öffnete sich ein grüner Grund, und tief hinab ging in allmählicher Abdachung eine enge Berg­spalte, die sich erweiterte zum schattenreichsten Waldesgrün, wieder dann enger wurde und sich so in gleicher Abwechselung fortzog bis zur Ebene hin, aus der zunächst die Thürme eines Franciscanerklosters, Himmelpfort genannt, herübersahen, dann die des Stifts Heiligenkreuz und der Dom der uralten Stadt Witoborn.

In diesem Einschnitt zwischen zwei oben ganz wie in der Ebene liegen bleibenden Saatfeldern wucherte die Pracht des Waldes. Im Winter mußte diese Spalte mit Schnee überfüllt sein. Auch jetzt im Frühjahr, wo überall der Boden schon trocken, glänzte hier noch alles feucht. Von den Felswänden tropfte es zwischen Moos und Farrnkräutern hin. Ein Bächlein bildete sich unversehens. Es rieselte unter Haselnußbusch und Schlehdorn über ein verworren steiniges Bett. Mancher Felsblock schien den Lauf des Bächleins ganz zu versperren, doch plötzlich brach es irgendwo mit stiller, sich gleichbleibender Stärke wieder hervor. Dann aber wurde die Spalte weiter, die Bäume wurden höher und höher, Tannen ragten mit geradlinigem Wuchse, tiefer ab kamen Eichen, die von einer kurzen Strecke des weißesten Sandes, dann Buchen, die von kurzem Grase umgeben waren. Querdurch gingen Fußwege von da und dorther 128 und zuletzt ein schmaler Reitweg dicht vor dem Eintritt in eine riesige Gruppe uralter Eichenstämme, die man den „Düstern Bruch“ oder den Düsternbrook nannte. Von hier aus konnte man bequem wieder die Seitenwände des Grundes emporklimmen und kam dann wieder in der Hochebene an, wo über grünen Saaten die Lerchen stiegen und die Gegend sich hinzog, so gleichförmig, so eben als wenn dieser Grund gar nicht vorhanden war. Und doch führte er allein, wie die große Hauptstraße, die vorm Schlosse vorbeiging, auf das allgemeine Niveau des Landes zurück. Ueber dem fernen Tiefland lag das Schloß wol gegen tausend Fuß hoch. Fünf Regierungen besaßen hier Enclaven; nur nach Westen zu gehörte alles ausschließlich jener Krone, in deren Diensten der älteste Sohn des Freiherrn, der Regierungsrath, stand und sein, wie es schien, einziger nächster Freund, der Landrath, ehemalige Husarenrittmeister von Enckefuß, gewöhnlich „der schöne Enckefuß“ genannt.

Vor der stechenden Nachmittagssonne boten die Schatten des Düsternbrook heute den erquickendsten Schutz. Es rieselten zwar noch die kaum geschmolzenen Schneereste, die sich in den Felsspalten festgefroren hatten, jeder Schritt war glatt und gefahrvoll; aber Lucinde hielt sich an den schon allmählich ihr Laub treibenden Büschen und suchte das von würzigen Kräutern duftende niedere Thal zu gewinnen. Belebt war es von allem, was nur in den ersten Frühlingstagen auf den Bäumen mit Gurgeln, Zwitschern, Schnabelwetzen der allernärrischsten Art wieder die Wonne erprobt, sich von dem Nochvorhandensein seiner alten Stimmittel überzeugen zu können.

129 Lucindens Sinn ging dabei brütend auf irgendeinen zu fassenden Entschluß. So wie sie jetzt da war, den runden Strohhut mit schwarzem Band in der Hand, in die Weite zu gehen und gar nicht zurückzukehren, war noch das Leichteste, was sich ausführen ließ gegen eine Lage, in deren Erwartungen und Aussichten sie sich betrogen hatte. Daß ihr Sinn Gedanken der Rache nicht unzugänglich war, wissen wir. Düster zogen sich ihr die dunkeln Augenbrauen zusammen, manche rasch gebrochene Blüte zerriß, ja zerbiß sie, manches junge, kaum ganz entrollte Blatt zerkaute sie, so bitter es schmeckte … Immermehr gerieth sie in einen Zorn, wo die bei dunkeln Augen eigenthümlich schon vorhandene leichte Entzündlichkeit der obern Wangen sich immermehr steigerte und den heißen Lichtern noch dunklere Schatten gab.

Vom Düsternbrook her störte sie jetzt Geräusch. Bald waren es Axtschläge, bald der gleichmäßig klingende Ton einer Säge.

Als sie näher kam, bemerkte sie einen Arbeiter vom Schloßhof. Sie neckte sich zuweilen mit ihm. Es war ein fremder Arbeiter vom Westen her, ein gelernter Küfer, der auch für die Brauerei, Brennerei und die Milchwirthschaft des Kronsyndikus mit Fleiß und Geschick große Gefäße baute, Bottiche von gewaltigem Umfang, Tonnen in allen Größen. Rüstig arbeitete er vom Morgen bis zum Abend und zog sich seine Hülfsgesellen selbst; er hieß Stephan Lengenich und war landeinwärts einer der eifrigsten Kirchenbesucher. Auf dem Schlosse selbst gab es eine Kapelle, doch wurde in ihr nie die Messe gelesen, obgleich der Kronsyndikus von sieben 130 Pfarreien und dem Kloster Himmelpfort selbst Patronatsherr war. Seit Jahren stand er mit seiner Kirche auf gespanntem Fuß und duldete auch z. B. nie, daß die Franciscaner Schloß Neuhof betraten, eine Maßregel, die durch die Auslegung der Polizeigesetze über das Terminiren der Bettelorden von seinem Freunde, dem Landrath, dem „schönen Enckefuß“, nach Kräften unterstützt wurde.

Ei, Herr Lengenich! rief Lucinde mit ihrer etwas tiefliegenden, nicht starken Stimme; schon wieder eine von den heiligen Eichen des Bonifacius umgehauen? Wenn Ihnen nur nicht einmal so ein alter Heidengott dabei erscheint und Ihnen was anthut!

Stephan Lengenich sah auf und meinte in der That:

Machen Sie keine Scherze, Mamsell Schwarz! Aber es muß ja sein! Die alten Fässer faulen und es geht mit dem Brennen der Kartoffeln ins Weite …

’S ist recht, sagte Lucinde in der treuherzig derben und ruhig sichern Art, die den ihr geläufigen Volkston jetzt schon mit Bewußtsein festhalten konnte, ’s ist recht! Man soll nicht neuen Most gießen auf alte Schläuche!

Stephan Lengenich horchte …

Lucinde zeigte, daß sie eine Schulmeisterstochter war, auch ein Jahr bei einem Pfarrer gelebt hatte, und fuhr weiterschreitend mit künstlichem Pathos fort:

Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen von neuem Tuche, denn der Lappen reißet doch wieder vom Kleide und der Riß wird ärger. Adjes, Stephan! Betet ihr einmal ein Ave Maria für eine andere arme Seele als die der Lisabeth, so schließt auch unsereins ein!

131 Damit ging sie, ohne die Antwort des Arbeiters abzuwarten, den sie an ein allbekanntes Verhältniß mit der ersten Beschließerin des Hofes erinnert hatte.

Lucinde schlug den kürzern Weg jetzt wieder zur Anhöhe ein. Es war ein steilerer, aber von Steinen unterstützter Pfad, der zur obern Anhöhe der Schlucht führte.

Sie war auf der Hälfte dieses etwas mühseligen Weges, als sie hinter sich laut reden hörte.

Sie wandte sich und sah, daß Stephan Lengenich mit einem nach ihr Gekommenen in einem lebhaften Gespräch begriffen war. Widerhallte so schon in dieser Stille an den Bergwänden jedes gesprochene Wort, wie viel mehr noch ein Zank, der allmählich heftiger geführt wurde.

Eine schlanke Gestalt in schwarzem Sammetkittel, weiten Som­merbeinkleidern und einem grauen, mit einem Zweig geschmückten Hut konnte von ihr nicht im Gesicht betrachtet werden, da der Sprecher rückwärts stand. Aber der Stimme nach war es ein junger Mann, nicht, wie sie im ersten Schreck über den Lärm vermuthet hatte, der Deichgraf selbst, der als Theilungscommissar, wie sie wußte, über den Düsternbrook und die dortige Baumfällberechtigung mit dem Kronsyndikus in Streit war.

Hat es der Freiherr befohlen? Ausdrücklich befohlen? fragte der Hinzugekommene mit heftiger Entrüstung.

Guten Morgen! war Stephan Lengenich’s Antwort, während er weiter sägte.

Gestern noch stand die Eiche! Das muß erst die Nacht geschehen sein! Sie haben keinen Auftrag dazu gehabt!

132 Guten Morgen! sagte der Küfer und sägte weiter.

Will man uns mit Gewalt aufs Aeußerste bringen? Antwort! Red’ Er!

Herr! richtete sich jetzt der Arbeiter zornfunkelnd auf und deutete auf den rothen Strich einer Mütze, die er trug, womit er andeuten wollte, daß man einen noch in der Landwehr befindlichen Soldaten nicht mit Er anredete. Sich aber beruhigend, fügte er dann weiter arbeitend spöttisch hinzu:

Guten Morgen!

Vom Düsternbrook gehört nicht eine Eichel der Herrschaft! Es ist Gemeindewald und seine Privatnutzung ein Misbrauch, der nicht fortbestehen kann!

Nicht eine Eichel? Suchen Sie hier Eicheln?

Stephan Lengenich sprach diese Anzüglichkeit auf Thiere, die man mit Eicheln füttert, ganz im boshaften Geiste seiner Herrschaft.

Im ersten Augenblick trat der junge Mann einige Schritte vor und rief: Kerl! Dann besann er sich wol auf den ungleichen Kampf und sagte sich langsam entfernend:

Nehmt euch vor meinem Vater in Acht! Er legt nächstens den Grenzstein und dann werden ihn die Gensdarmen zu bewachen wissen!

Damit schritt er, verfolgt von einem Hohnlachen des Arbeiters, langsam weiter.

Bei der Gewißheit, endlich des mehrfach besprochenen frühern Freundes und Studiengenossen des Kammerherrn, der durch eine Abhandlung über das sogenannte Bienenrecht Doctor der Rechte geworden war, ansichtig 133 zu werden, wandte sich Lucinde, ihn doch nun auch deutlicher zu sehen.

Dabei glitt einer der Steine aus, die sonst das Aufsteigen erleichterten.

Der Fall weckte die Aufmerksamkeit des Doctors, wie er gewöhnlich im Gespräch auf Neuhof genannt wurde. Auch er wandte sich und bemerkte die Nähe eines jungen, in dieser einsamen Umgebung überraschend auftauchenden Mädchens.

Er zog den breiten Krempenhut und grüßte.

Beide schritten weiter, er den Weg, den sie eben zurückgelegt, den Grund hinauf, sie den parallelen, aber oben auf der Hochebene.

Sie hatte den Eindruck keines schönen Mannes empfangen. Der Doctor mochte wenig über einige Zwanzig zählen, hatte aber schon das Ansehen eines Dreißigers. Der Kopf war ausdrucksvoll, aber das kurzlockige, etwas röthliche Haar war an den Schläfen und der Stirn schon ausgegangen. Der Bart war gepflegter, aber noch röther als das Haar. Er hing über Lippe und Kinn herab wie bei einem Soldaten; und an entstellenden Schmarren fehlte es auch nicht auf Wange und Stirn, ja sogar auf der Nase, Schmarren, deren Ursprung sie gleich hinzubringen wußte. Nach den Erzählungen des Kammerherrn waren es Duellnarben.

Die Tracht des Doctors war die leichteste; kaum daß um den magern Hals ein dünnes Tuch gelegt war. Die Brust stand fast offen. Handschuhe fehlten ganz.

Lucinde hatte seit den Erinnerungen an Oskar Binder und dessen Freunde in der Residenz einen Abscheu 134 vor allen Stutzern und geschniegelten Männern. Viel Aeußerlichkeit war überhaupt bei den Herren nicht Sitte, die auf Schloß Neuhof kamen; die Gewohnheiten der reichsten Leute hier waren in diesem Punkte einfach. Grafen gingen wie Bauern. Nur der Landrath, der „schöne Enckefuß“, hielt die Erinnerung an die Zeiten, wo er wirklich schön gewesen sein mochte, durch eine gesuchte Toilette, festgeschnürte Taille, gefärbte Haare, Bart, Augenbrauen, ja, wie man behauptete, gemalte Wangen und Schläfe aufrecht … er konnte seine Triumphe als Rittmeister der Husaren nicht vergessen und blieb, ob er gleich schon einen großen Sohn hatte, der Beau der Gegend, der Petit-maître von der Stadt Witoborn an bis auf Schloß Neuhof.

Die studentische Art der Erscheinung des Doctors paßte vollkommen in den Rahmen der verworrenen Erzählungen, die der Kammerherr, wenn er in seinen renommirenden Erinnerungen kramte, von dem akademischen Leben desselben zu geben pflegte.

Bald gingen Lucinde und der Doctor in ganz gleicher Linie.

Lucinde konnte sich oben nur am schmalen Rande des Grundes halten, denn zu ihrer Linken hin gab es kaum einen Weg; die junge Getreidesaat ging bis dicht an den Rand des Abhangs.

Es entspann sich trotz der ansehnlichen Distanz ein Gespräch über das Misverhältniß der Ansprüche, die sich bei der Regulirung der bäuerlichen und grundherrlichen Verhältnisse ergeben hatten. Der Doctor fragte, als Lucinde darüber sich ganz unterrichtet zeigte, ob sie 135 denn zu den auf Neuhof oben versammelten Herrschaften gehöre?

Nicht zu den Herrschaften! Zu den Dienern! antwortete sie und balancirte auf dem schmalen Pfade hin, wohl wissend, daß sie nicht wie eine Dienerin aussah.

Sie sind doch nicht etwa gar das Elfenkind, das mein alter Freund, der Kammerherr, jenseit der Wälder an einem Schilfteich gefunden hat?

Ja freilich! Das bin ich! sagte sie und sprang nun mehr als sie ging.

So werden Sie, sagte der Doctor, trotz der Tüngel’schen Familie, deren Appelhülsener Linie zurückgekommen ist, Frau von Wittekind werden! Ich gratulire! Einen bessern Mann kann sich eine Frau nicht wünschen! Dann müssen Sie aber zu uns nach Göttingen ziehen! Lernen Sie reiten! Oder können Sie’s wol gar schon? Um so besser! Wir machen Sie zur Conventsseniorin, falls Ihr Mann nicht aus Rücksicht auf die göttinger Fensterscheiben sofort wieder relegirt wird! Denn er bekannte Ihnen doch wahrscheinlich seine alte Leidenschaft, in Göttingen keine ganzen Fensterscheiben und Laternen sehen zu können? „Nacht muß es sein, wo Wittekind’s Sterne strahlen!“ Die göttinger Laternen, ohnehin nicht die hellsten, kosteten ihm einen Theil seiner glücklicherweise guten Wechsel.

Diese Liebhaberei, erwiderte Lucinde, ist noch immer nicht so schlimm gewesen wie die einiger seiner Ahnen, die keinen Dachdecker auf einem Thurm sehen konnten, ohne nicht das Gelüst zu haben, ihn herunterzuschießen.

136 Aha! rief der Doctor. Sie sind eingeweiht! In deutsche Staats- und Rechtsgeschichte!

Lucinde verschwieg, daß es der Kammerherr mit Vögeln noch so machte. Man ließ ihm deshalb nur eine Windbüchse; in schlimmen Anfällen richtete er auch mit dieser die grausamsten Verheerungen an.

Der Doctor schien aufmerksamer geworden und suchte Lu­cinden näher zu kommen, was ohnehin durch seinen aufsteigenden Weg von selbst geschah …

’S wäre ganz gut, sagte er, wenn einmal in diese Menschenrasse frisches Blut käme! Ich bin an und für sich ganz für diese alten Geschlechter und mag sie leiden, aber sie sollten sich nicht untereinander kreuzen, sondern zur Inoculation des Volks benutzen; das gäbe einen Nachwuchs wie der der alten Angelsachsen und Normannen, der jenseit des Kanals noch immer so stattlich ist. Wenn wir Deutsche ein Princip haben, das vernünftig ist, wie die Adelsidee, so reiten wir’s leider auch immer gleich zu Tode!

Lucinde erwähnte ganz dreist seine Abhandlung über die Bienen.

Was? Wie? Wissen Sie davon? rief der Doctor. Nun ja! Im Bienenstaat liegt mehr Weisheit als in Dahlmann’s „Politik“, zu der er keinen zweiten Theil schreiben kann. Auch die Bienen pflanzen sich mit vernünftiger Aristokratie fort. Ein Ei, aus einer schlechten Arbeitszelle in eine Königinzelle gebracht, gibt eine Königin. Wir werden erst die Probleme der Geschichte dann lösen, wenn wir ein Mikroskop erfunden haben, groß genug, das Leben und Weben eines durchsich-137tigen Bienenkorbs zu gleicher Zeit zu beobachten. In China, in Indien ist es mir manchmal als wenn man das Bienenleben schon seit Jahrtausenden besser kennt als bei uns.

Da Lucinde von dem schmalen Rasen immer ausglitt, rief ihr der jetzt ganz Nahegekommene:

Sie gehen schlecht da oben! Ich biege hier die Zweige zurück, so kommen Sie herunter!

Dann müßt’ ich wieder wie Sie steigen! sagte sie und blieb.

Bei dem Versuch, den der Doctor machte, ihr zum Niedersteigen das Gestrüpp der Büsche wegzubiegen, fiel von oben her das Licht auf ihn günstiger. Der Hut wurde ihm gerade von einem zurückgehenden Zweige weggenommen; so sah sie einen scharfen, durchgeistigten Kopf. Daß in ihm Leidenschaften zuckten, daß in dem großen wie luftblauen Auge eine Unbestimmtheit schwamm, so groß und weit, wie eben die Luft und das Meer selbst, konnte sie mit ihren jungen Jahren noch nicht unterscheiden, aber das Gefühl einer außerordentlichen Kraft strömte ihr aus diesem an sich harten und unschönen Antlitz, aus diesen unabsehbar weiten, hellen und wie schwimmenden Glaskugelaugen entgegen.

Warum sind Sie aus Göttingen hier? fragte sie. Stehen Sie Ihrem Vater in seiner undankbaren Arbeit bei?

Schon daß Lucinde fragen konnte, schien ihren Begleiter hoch zu erfreuen. Mit den meisten Mädchen dieser jungen Jahre kann man ja stundenlang gehen, und sie wissen nichts als ein empfindsames Ja! oder Nein! 138 Sie lächeln halberschrocken zu allem und jedem und nennen auch späterhin noch die eigentlich eitelste Versunkenheit in sich selbst ihr schweigsames Gemüth.

Der Doctor erzählte, daß sein Vater aus dem Pachtverhältniß zu dem Kronsyndikus sich zu lösen und ein eigenes Gut zu kaufen beabsichtigte. Zu dem Ende glaubte er des einzigen Sohnes Beistand nöthig. Leider, fügte dieser hinzu, bin ich kein so fermer Advocat geworden, wie er hoffte. „Grau, Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldener Baum“, nämlich der, auf dem die vollwichtigen Pistolen wachsen!

Lucinde wußte schon von Eibendorf und Neuhof her, daß man hier zu Lande die Goldstücke Pistolen nennt. Jeder Gegenstand, den der Kammerherr taxirte, wurde nach Pistolen berechnet.

Vielleicht könnten Sie den Streit zwischen dem Kronsyndikus und dem Deichgrafen beilegen? sagte sie.

Unmöglich, mein Fräulein! erwiderte der Doctor. Das sind Gegensätze, die uralt sind. Schon an dem öden Strand der Elbe, wo sich beide kennen lernten, soll mein Vater sich durch das Abzählen der hannoverischen Sandkörner gegen die holsteinischen als Deichgraf unmöglich gemacht haben. Es gibt solche große Charaktere, die gerade zwei Minuten vor halb sieben und zu keiner Secunde anders einen Gegenstand abgemacht sehen wollen. Sie halten die Hand aufs helle, lichte Feuer wie Mucius Scävola, nur um ihren Muth zu beweisen. Versöhnung? Mein Vater konnte sehr leicht von Napoleon eine Kugel vor den Kopf bekommen, denn er fing die Befreiungskriege nach seiner 139 Uhr an. Gerade zwei Minuten vor halb sieben! Der Tugendbund hatte gesagt: Zwei Minuten vor halb sieben steht jeder Patriot an der Spritze, und mein Vater hielt sich an die Ordre. Ob nun die Umstände bewiesen, daß die Schlacht bei Dresden ganz unzweifelhaft für Napoleon gewonnen war, ob es noch ganz im Unklaren blieb, ob die Oesterreicher in die Allianz treten würden – mein Vater nahm die Schlacht bei Leipzig schon für geschlagen und gewonnen an. Der Deichgraf sammelte Mannschaften, bewaffnete sie und stürmte die Zollhäuser der westfälischen Regierung. Zwei Tage lang war Deutschland frei vom Tyrannenjoch; dann aber eine Gewehrsalve von bückeburg-westfälischen Grenadieren, die Napoleon’s Arrièregarde bildeten, und die Patrioten waren auseinander gesprengt. Mein Vater hinkte mit verwundetem Fuß in den Teutoburger Wald, wo er jede Stelle kennt, an der einst Arminius bivouakirt hat und sich an dem Meth erquickte, den ihm Thusnelde bereitete. Da irrte er proscribirt umher. Auf hundert Thaler hatte man seinen pünktlichen Kopf angeschlagen. Glücklicherweise half ihm aber der Geist des alten Arminius und Mutter Thusnelde. In den Schluchten blieb er unentdeckt und war dann wieder der Erste, der nach der Schlacht bei Leipzig auf die Externsteine zum Aufruf des ganzen westlichen Deutschland eine blutrothe Fahne steckte. Mein Vater machte trotz Weib und Kind den Krieg mit und soll die Lieder von Max Schenkendorf in unserm alten burschenschaftlichen Commersbuch auswendig gewußt und überall vorgesungen haben, wie auch ich, als ich noch etwas grün zuerst in Erlangen studirte. Später hat er 140 nicht mehr viel davon wissen mögen und von Versöhnung ist bei ihm in principiellen Gegensätzen nie die Rede!

Ueber diese Mittheilungen waren beide Wanderer oben zusammengekommen. Sie gingen unter den blühenden Obstbäumen hin dem Park zu.

Da Lucinde durch die akademischen Reminiscenzen des Kam­merherrn in vielen der von ihrem Begleiter angeregten Verhältnissen heimisch war, so konnte dieser auf ihren wiederholten Vorschlag, eine Vermittelung zu versuchen, in der Charakteristik seines Vaters fortfahren.

Nein, mein Fräulein! sagte er. Mein Vater ist trotzdem, daß er nicht mehr den Schenkendorf singt und wir jetzt 1832 schreiben, in der Exaltation von 1813 stehen geblieben. Schwarzrothgold kam er aus Frankreich zurück und mußte 1817 wieder etwas anzetteln da drüben im Teutoburger Walde bei dem großen Christoph, den sie jetzt dort auf die Höhe stellen wollen, das germanische Rächerschwert in Händen. Für den deutschen Kaiser und dessen Wiederherstellung saß er drei Jahre in Magdeburg. In dieser Zeit war der frühere westfälische Kronsyndikus, d. h. Vertreter der Krone des ehemaligen Weinreisenden und spätern Königs Hieronymus bei der westfälischen Landschaft, d. h. den Ständen und Deputirten der ihm unterworfenen Provinzen, Freiherr von Wittekind-Neuhof, immerhin so zu sagen unser Wohlthäter. Das Pachtverhältniß ging fort, ohne daß der Vater damals die vollständigen Summen auftreiben konnte. Der rüstige Grundherr trieb sie sich eben selber ein. Meine Mutter starb darüber, der Vater kam aus Magdeburg zurück und warf sich jetzt in die ergrimmteste Provinzialoppo-141sition. So hat Demosthenes nicht über Philipp von Macedonien gedonnert wie mein Vater – lieber Gott, noch dazu bei verschlossenen Thüren! – über Brücken und Vicinalstraßen. Harry Heine spricht von einem Mirabeau der Lüneburger Heide. Mein Alter war einer von der witoborner. Und wirklich, er allein mit seinen zwei Minuten vor halb sieben war’s, der hier Großes durchsetzte in Ermangelung von Größerm. Ueberall, wo Sie hier einen Hemmschuh an einen Pfahl gemalt sehen und einen Finger darüber mit dem Avis: Bei einem Thaler Strafe! überall, wo an einem Kreuzweg ein Pfahl mit vier Armen steht: Hier geht’s nach Mölln, nach Schöppenstedt, Schilda oder Krähwinkel! bei jeder Verbesserung in Luft, Feuer, Wasser und Erde ringsum kann er mit stolzem Bewußtsein wie ein „Sattelmeier“ aus Karl’s des Großen Zeit vorübergehen. Und nun ist er denen, an welchen er sich eigentlich für Magdeburg rächen wollte, der Regierung selbst, zum Bedürfniß geworden! Der vielbefähigte unruhige Mann, dem sein nächster Beruf schwer genug aufliegt, übernimmt die Regulirung der grundherrlichen Verhältnisse und führt diese richtig wieder nach dem Maßstabe: Zwei Minuten vor halb sieben! durch. Nichts schont sein Zollstock. Er zerstört den schönsten Ameisenbau, wenn die eine Seite an Hinz, die andere an Kunz gehört. Er steckt den Spaten gerade mitten durch, er trennt die Blüte vom Ast, den Schwanz der Kuh vom Kopf, es ist und bleibt der alte Deichgraf, der Mathematik und Wasserbaukunst studirte, bei Stade die Sandkörner zählte, die sich ins hannoverische Fahrwasser verloren und Holstein gehörten, 142 und der jetzt noch Landrath werden wird, ja, zu alledem vielleicht einen Orden bekommt und zur Anerkennung für den friedlichen Verlauf aller seiner patriotischen Landstürme und schwarzrothgoldenen Revolutionen eines Tages in Sanssouci zu Mittag speist!

Lucinde wußte nicht, wie sie dazu kam, auf diese im Grunde unkindliche, aber offenbar gleichfalls aus einem Ueberzeugungs­eifer (nur für andere, ihr unbekannte Auffassungen) herzuleitende Auslassung fragend zu erwidern:

Sind Sie katholisch?

Der Doctor schwieg erst erstaunt und sagte dann:

„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!“ Nein, wir sind es nicht, mein Fräulein!

Am Ende des Parks durchkreuzten sich einige Wege und ein steinernes Christusbild hing über einer Ruhebank.

Lucinde war ermüdet. Sie setzte sich.

Der Doctor lehnte sich an einen Baumstamm ihr gegenüber.

Sie nahm den inzwischen wieder aufgesetzten Hut ab. Schon lange trug sie wieder ihr Haar in Flechten. Eine davon war losgegangen. Es machte ihr gar nichts, so vor einem Fremden ihre Toilette zu machen, ja sogar eine Haarnadel im Munde, zwischendurch zu sprechen:

Nein, Sie schüren nur noch den Haß! Das ist aber unrecht! Sie sollten Versöhnung stiften!

Heinrich Klingsohr war jetzt verstummt und weidete sich an dem Anblick. Lucinde sah nicht älter aus als sie war. Sechzehn Jahre und eine solche Reife des Urtheils! Fast kindische Bewegungen, die Beine übereinander geschlagen, im Schoose den Hut, die Nadel im Munde, 143 ein Kamm aus der Kleidestasche zu Hülfe genommen, um losgegangene und verworrene Härchen im Nacken hinten zu einer kleinen Welle zu runden, und, als der Strohhut dabei zur Erde fiel und Klingsohr hinzusprang ihn aufzunehmen, den Hut ruhig auf die Füße des Steinbildes über sich gehängt … Alles das allerdings mit bestimmtem und bewußtem Wohlgefallen an der immermehr erglühenden Theilnahme der neuen Bekanntschaft und doch ganz wie zufällig und absichtslos.

Klingsohr hatte sich jetzt gleichfalls auf die Bank gesetzt, so aber, daß er, bald das Steinbild, bald sie betrachtend, elegisch improvisiren konnte:

Hängt ihr pariser Hut –
Und ihre dunkeln Locken
Netzt heil’ger Wunden Blut …

Kennen Sie Heine? unterbrach er seine Parodie …

Gewiß! sagte sie. Der Kammerherr kann ihn auswendig!

Der Kammerherr! fuhr Klingsohr, jetzt hingerissen von der Schönheit und Lieblichkeit der Erscheinung, auf: Ist es denn möglich! Jérôme –

Er stockte in seiner Rede, ergriff Lucindens Hand, zog sie an sich und sah ihr mit seinen jetzt weit geöffneten großen Augen ins erröthete, von der Wanderung und dem Schreck über sein Benehmen doppelt erglühende Antlitz …

Und nun ein ganz kokett strafendes, kindisch mädchenhaftes: Aber Herr Doctor! womit sie aufsprang und in rascher Handbewegung den Hut ergreifend weiterging.

144 Klingsohr folgte wie bebend. Er konnte annehmen, daß Lucinde ihm entfloh und die Nähe des Parks benutzte, vor den Gefahren einer Fortsetzung dieser einsamen Begegnung sich zu sichern …

Wie aber, als wenn nichts geschehen wäre, wandte sie sich plötzlich und lenkte auf das frühere Gespräch zurück mit den Worten:

Ja! Lassen Sie uns beide Frieden stiften zwischen Neuhof und – wohnen Sie auch auf der Buschmühle?

Klingsohr, über dies Vergeben und Vergessen selig und von den Künsten, die eben auch so nur Lucinde kannte, schon umstrickt, wie alle, die ihr bisher begegneten, wiederholte, wie wenn er sich auf nichts besinnen konnte:

Frieden? Was? Buschmühle?

Ja, half sie nach, zwischen Ihrem Vater und …

Unmöglich! fuhr er sich besinnend und wild auf. Die Welt muß in Flammen stehen! Krieg! Krieg! Aller Dinge Vater ist der Krieg! singt Pindaros. Und ich respectire sogar diese alte Hünennatur des Kronsyndikus! Dies Geschlecht ist schon seit dem Tage, da Karl der Große seine Vorfahren gebunden in die Weser jagte und mit Gewalt taufte, Hadern und Streiten gewohnt und hat eine Natur dafür, auch den alten reichsunmittelbaren und kaiserebenbürtigen Dünkel, der immer hoch zu Roß sitzt und sich in seinen Rüstkammern sogar noch die Schwerter aufbewahrt, mit denen ihre Ahnen gelegentlich in Regensburg, Gotha oder Soest drüben als Landfriedensbrecher hingerichtet wurden! Die haben solche Aufregungen nöthig! Nur wir Plebejervolk verlieren immer gleich den 145 Athem, sind zu kurz, zu dick, zu untersetzt stämmig für solche Fehden … Kennen Sie meinen Alten?

Lucinde hatte den Deichgrafen oft reiten und fahren sehen und erkannte aus des Doctors Schilderung die kleine, corpulente Persönlichkeit eines Charakters, der, wie sie sah, vom Sohne selber aufgegeben wurde …

Aber dürfen Sie denn drüben überhaupt sagen, daß Sie mit mir gesprochen? fragte er.

Sein Ton war wieder so zärtlich, daß Lucinde sich seiner Annäherung entzog. Und jetzt hatte er zwei Blütenzweige von einem Obstbaum über sich abgebrochen und legte den einen stumm in ihre Hand, den andern senkte er ohne ein Wort zu sagen in die Erde. Er bezeichnete damit eine Stelle, wo Lucinde seitwärts vom Wege eine Weile gestanden hatte. So redete er fast die Sprache seines Freundes, des Kammerherrn.

An dergleichen demnach gewohnt, widersprach sie gar nicht, sondern ließ ihrer neuen Eroberung ruhig lächelnd auch diese Huldigungsform. Der Doctor pflanzte den Zweig und schwieg bewunderungsvoll.

Als die Procedur vorüber war, kamen sie an die kleine Pforte des Parkes, zu der Lucinde den Schlüssel hatte.

Ringsum war alles still, niemand kam des Weges …

„Das Schweigen ist der Gott der Glücklichen!“ flüsterte Klingsohr rings um sich blickend, und dann wieder seufzend rief er:

Jérôme! Jérôme! Wie ist es nur möglich, Jérôme!

Verdrießlich über die Anspielung auf ihr Verhältniß zum Kammerherrn erwiderte sie kurz:

Ich verstehe Sie gar nicht! Adieu!

146 Klingsohr folgte, blieb dann plötzlich stehen und sprach laut:

Die Sonne lachte mit freundlicher Lust;
Da küßtest du mich und dein Arm mich umschlang,
Da preßtest du mich an die schwellende Brust!
Die Blätter fielen, der Rabe schrie hohl,
Die Sonne grüßte verdrießlichen Blicks;
Da sagten wir frostig einander: Lebwohl!
Da knixtest du höflich den höflichsten Knix!

Lucinde erwiderte lachend:

Ein so gelehrter Mann und fremde Citate?

Hüten Sie sich, mein Fräulein, rief Klingsohr, wenn ich Original werde!

Dabei streckte er wild die Arme aus. Es war eine Geberde, wie wenn er den Himmel auf die Erde herabziehen könnte.

Sie erschrak und entschlüpfte.

Am Gitter, wo sie aufschloß, wendete sie sich noch einmal …

Ihr Begleiter war nicht mehr weiter gefolgt. Auf sechs oder sieben Schritte blieb er zurück, wie wenn er seiner Kraft nicht traute weiter zu gehen. Nur leise lispelte er ihr nach:

Engel! Seh’ ich Dich wieder?

Dabei hob er die Hände empor, wie anbetend, gerade so wie der Kammerherr einst gethan.

Sie winkte, daß er gehen möchte …

Aber es war ja ihre Sache, zu gehen …

147 Klingsohr rief wieder:

Heilige!

Dann sprach er leise und innig:

Bitt’ für mich! …

Erlöse mich! setzte er dringender und fast feierlich hinzu.

Das die Umzäunung bildende geschnittene Zwergholz des Parkes verbarg sie jetzt. Sie schritt unter den hohen, noch fast durchsichtigen Ulmen, die sich über sie mit ihren halbbelaubten Zweigen wölbten, hin gleichsam wie in Lüften. Auf so ergreifende Worte, wie ihr da eben nachklangen, Erwiderungen zu geben hatte sie noch keine Schätze des Geistes, des Herzens und der Phantasie in sich.

Es war die erste Begegnung ihres Lebens mit einem Manne, die sie vernichtete.

148 12.#

In ihrem Pavillon fand Lucinde den schon ängstlich auf sie harrenden Jérôme.

Er hatte ihr Wunderdinge zu erzählen und sie blieb aus!

Nun aber auch bestürmte er sie mit seinem Lachen, das er in der Gewohnheit hatte, wenn ihm irgendetwas nach seiner Voraussetzung besonders Kluges gelungen war.

Der Versuch, ihn bei dem großen Familien- und Nachbarsessen, das um vier Uhr begonnen hatte, und in Gegenwart des Re­gierungsraths, seines ältern Bruders, der Welt als einen zurechnungsfähigen Menschen vorzustellen, war vollständig gescheitert.

Nach der Mittheilung, die er von dem übeln Verlauf eines seiner gewohnten Streiche erzählte, merkte man wohl, daß sein eigener Bruder, der Regierungsrath, ihm die Gelegenheit erleichtert hatte, aus der erzwungenen Rolle zu fallen, die er unter den stechenden Augen und der zusammengezogenen Stirn seines Vaters spielen mußte.

149 Für Lucinden, die kaum die Besinnung hatte zuzuhören, war auch noch die Ueberraschung aufgespart, daß, wie es schien, in fröhlicher Weinlaune und im Triumph eines eroberten Sieges der Regierungsrath selbst erschien und zum ersten mal sie zu sehen verlangte.

Der von der Tafel angeregte Mann, der mit dem Vater und Bruder wenig Aehnlichkeit hatte, kam in Begleitung des „schönen Enckefuß“, der in weinseliger Laune den Arm um den Regierungsrath geschlungen hielt und der Verwilderung seiner künstlichen Verjüngungen nicht mehr zu achten schien.

Beide kamen die schmale Stiege des Pavillons herauf und reizten die Eifersucht des Kammerherrn nicht wenig durch ihre verfänglichen Grüße und Reden.

Ihren Paß, mein – Fräulein –, lallte der Landrath mit galanten Verbeugungen, die das Mobiliar des kleinen Zimmers in Gefahr brachten. Ihre Legitimation –! Carte du séjour! Ich bin –

Der Regierungsrath analysirte schon die Bestandtheile des fehlenden Passes, der für Lucinden bereits einige male lästig genug zur Sprache gekommen war …

Augen schwarz, unterbrach er selbst den Landrath und mit staunender Ueberraschung – Nase mittel – Mund klein – Zähne – allerliebst –

Der Landrath wollte die Beschaffenheit der Zähne untersuchen und griff nach den Lippen des ängstlich sich in eine Ecke drückenden Mädchens …

Der Kammerherr stimmte zwar scheinbar in diese Lucinden dargebrachte Huldigung ein, wehrte aber denn doch die Hand des Rittmeisters jetzt mit einer Ent-150schiedenheit zurück, die diesen zu dem Ausruf veranlaßte:

Sacre bleu! Herr, das ist grob!

Der Regierungsrath kam in diesem Augenblick zur Besinnung. Der Landrath war in jungen Jahren einer der wildesten Offiziere gewesen und hatte namentlich den Stolz des Landes, einen jungen Grafen von Truchseß-Gallenberg, kurz nach der Besitznahme dieser Provinzen durch die jetzt über sie herrschende Krone im Duell erschossen. Zum Landrath hatten ihn die Umstände, sein bei aller alten Husarenwildheit höchst leutseliges Wesen gemacht; sein Ehrgeiz war aber gerade jetzt um so empfindlicher gereizt, je mehr seine hervorragende Stellung durch seine Neigung zur Galanterie, seine geringen Kenntnisse von administrativen Dingen, seine Schulden und vorzugsweise die zunehmende Abschließung des Provinzialgeistes in der adeligen Sphäre auf Schwierigkeit über Schwierigkeit stieß …

Kommen Sie, Rittmeister! sagte der Regierungsrath ablenkend. Mein Bruder ist zu beneiden! Aber er hat sein Glück verdient! Sein Genie hat sich heute die Krone aufgesetzt! Kein Trauring, Jérôme, nein, für Türck ein goldenes Halsband!

Ha, ha, ha! brach der Landrath beschwichtigt aus und konnte sich vor Lachen kaum fest auf der Treppe erhalten, die man wieder niederstieg. Während er auf Lucinden fortwährend Kußfinger und schmachtende Blicke warf, wie sie auch nur ihm, dem ewigen Jeune homme und sechzigjährigen Adonis zu Gebote standen, verhütete der Regierungsrath durch kräftige Haltung der 151 andern Hand des Schwankenden ein Unglück, wie es beim „schönen Enckefuß“ oft schon vorgekommen. Er war für seine Jahre immer noch so unternehmend, sein Reiten war von solcher Kühnheit, daß der Effect seiner stundenlangen Toiletten ihm alle Augenblicke einmal durch ein schwarzes Pflaster auf Nase oder Stirn verdorben wurde.

Die Lust und Freude im Kammerherrn war zu groß, um nicht nach Entfernung der beiden Neugierigen ganz zu ihr zurückzukehren. Er hatte während der Tafel einen Bindfaden aus der Tasche genommen gehabt, diesen heimlich um einige in seiner Nähe befindliche Flaschen geschlungen, dann Türck, einen der Hunde des Vaters, die immer in der Nähe des Mittagessens schnupperten, an sich gelockt, an den Faden ein Stückchen Fleisch befestigt und dies dann dem Thiere heimlich zugesteckt. Türck würgte daran, blieb aber noch ruhig auf seinem Platze, in Hoffnung auf mehr. Endlich aber vom Kronsyndikus aufgejagt, riß er alle Flaschen und Gläser um, übergoß das elegante neue Seidenkleid Portiuncula’s von Tüngel-Appelhülsen mit Roth­wein und machte, daß ihre Mutter, die hineingriff, um das theuere Kleid zu retten, sich mit den Scherben einer zertrümmerten Flasche empfindlich in die Hand schnitt. Die Verwirrung war so groß, daß nicht viel gefehlt hätte, der Kronsyndikus wäre seinerseits aus der Rolle gefallen und hätte nach dem ihm der Hunde wegen immer nahe liegenden Kantschu gegriffen und den Sohn vor allen Leuten durchgebläut. Denn daß dieser der Anstifter, war sogleich erkannt … Die Tafel war zu Ende. Die Tüngel-Appelhülsens reisten ab, die Tüngel-Aus-dem-Winkel folgten, dann die Hülles-152hoven, die Ubbelohdes, Graf Münnich, die vornehmsten von allen, die Dorste-Camphausens, eines nach dem andern …

Lucinde, die von ganz andern Gedankenreihen bewegt war, hatte zu alledem noch die lästige Aufgabe, die Furcht des Kammerherrn, der sich nun nicht getraute ins Schloß zurückzukehren, zu beschwichtigen. Der Vater ließ sich nicht sehen, ein Omen, worüber der Schuldbewußte in Angst gerieth. Zuletzt mußte sie sich selbst entschließen, in der schon eingebrochenen Dunkelheit den weiten Weg nach dem Schloßhof ihn zurückzubegleiten und ihn unter vielen Umständlichkeiten und gewagten Scherzen ihrerseits mit dem Alten auszusöhnen.

Glücklicherweise war aber der Kronsyndikus nicht allzu heftig ergrimmt. Bei solchen Familienconventen gab es immer Zank; ihm kam jede Lebensäußerung der ihm doch Gleichgestellten anmaßend vor. Da wurden Erinnerungen durchgesprochen, die ihn verstimmten; alte Wunden riß man auf, die kaum nach einer Generation ganz vernarbt waren; wieder sah er, wie alles ihn haßte und fürchtete. Dann beschäftigte ihn mit Meldungen aller Art die „Regulirung“, die schon zu einem Schreckgespenst für ihn und das ganze Schloß geworden war, da sie ihn in Sinnen und Brüten bis zur Abwesenheit mehr treiben konnte als die Narrheit seines Sohnes.

Die gute Stunde, von dem Doctor Klingsohr zu sprechen, war noch nicht gekommen, wenn auch der Abend leidlich vorüberging und die Aeußerungen des Kronsyndikus: „Ja, Lucinde, mit Portiuncula ist’s nun nichts!“ öfter wiederholt wurden und ganz harmlos herauskamen.

153 Klingsohr jedoch erschien wieder und wieder …

Noch mehr, er machte seine Drohung wahr, sich „auch als Original“ zu zeigen.

Welches die geistige Verwandtschaft zwischen ihm und dem Kammerherrn war, begriff Lucinde nicht: aber seltsam genug, daß auch bei dieser ihr dargebrachten neuen Verehrung ein Bedürfniß zu Grunde zu liegen schien, in ihr mehr zu sehen, als sie sich selbst erscheinen konnte. Auch Klingsohr schmückte sie phantastisch aus und überhäufte sie mit dem Reize von Schönheiten, die sie trotz ihrer Eitelkeit als reine Erdichtung erkennen mußte. Auch ihm wurde sie zur Erscheinung, die bald dem Reiche der Luft, bald dem Wasser angehörte. Bald war sie Sylphe, bald Undine. Sie sollte wol glauben, daß es ihr eigener Werth war, der sie den Männern so erscheinen ließ.

Es brach die Zeit eines wunderbaren Rausches für sie an, eines Zustandes, den sie in dieser Art noch nicht gekannt hatte. Sie hatte die üble Wirkung beobachtet, die schon die Nennung des Namens Heinrich Klingsohr im Schlosse hervorbrachte. Der Kammerherr lohte in Eifersucht auf, der Kronsyndikus sprach nur von der „undankbaren Bande“ und bestätigte nicht nur alles, was Heinrich ihr von der Vergangenheit über ihn und den Vater gleich beim ersten Zusammentreffen erzählt hatte, sondern was sie auch aus dunkeln Andeutungen des verschwiegenen alten Paares, bei dem sie wohnte, von vergangenen und vielbewegt gewesenen Tagen entnehmen konnte.

Ja! ich habe den Schlingel auf meinen Knien ge-154schaukelt! sagte der Kronsyndikus, als vom Doctor die Rede war. Ich habe auch die Frau erhalten, als der Elende in die Wälder lief und Aufruhr predigte. Ich habe den Pacht mir durch meinen Eifer selber verdienen müssen. Und dieser Hund will jetzt Herr über das ganze Land werden? – Fritz – er meinte den Regierungsrath – Fritz nimmt ihn auch noch in Schutz! Alle die Leute hier! Mein eigener Schwager, Graf Joseph! Aber im Düsternbrook, das sag’ ich, lass’ ich mich nicht um eine Hand breit aus dem alten Nutzen bringen, das schwör’ ich, oder ich will in alle Ewigkeit nicht aus dem Lutterberg bei Witoborn herauskommen!

Er meinte damit: aus dem Fegfeuer; denn man glaubt in jener Gegend, daß in diesem Berge für den westfälischen Adel der Eingang zum Fegfeuer liegt.

Die Begegnung mit Stephan Lengenich war ihm natürlich auch sogleich bekannt geworden. Dieser arbeitete aber täglich frisch unten fort, fällte Stämme nach wie vor und hatte in dem Düsternbrook eine ganze Werkstatt eingerichtet. Planken und Bodeneinsätze lagen ringsum, frisch erst aus dem Walde herausgehauen und gesägt.

Da Lucinden, die einige Geständnisse gemacht hatte, jede fernere Begegnung mit dem Doctor, der „zu allem nun auch noch seinen gelehrten Senf hinzugäbe“, verboten wurde, so konnte sie mit ihm nur geheim zusammenkommen. Leider fand sie unter der Aufsicht der Alten, die mit ihr den Pavillon bewohnten und im allgemeinen mürrische und strenge Leute waren, Schwierigkeiten. Diese wuchsen so, daß sie ihren Entschluß, von allen 155 diesen Fesseln, möchten sie für die Zukunft versprechen welches Glück sie wollten, sich frei zu machen, immer mehr reifen ließen.

Ist denn das nicht die eigentliche und wahre Natur des Mannes? sagte sie sich, wenn sie sich im Geiste Klingsohr’s Bild entgegenhielt. Sind denn die Männer, die das Leben zu bezwingen verstehen, wirklich solche, wie sie uns in schönen Bildern begegnen?

Klingsohr war nicht schön; er vernachlässigte sich in seiner Kleidung, er hatte etwas Sorgloses, sogar Verwildertes. Sie erfuhr, daß sein Gang durchs Leben unregelmäßig gewesen, kometenartig; sie erfuhr, daß er die Hoffnungen des immer rührsamen Vaters täuschte und sich der Uebereinstimmung mit demselben und seines Beifalls nicht rühmen konnte. Aber, was sie sogleich bei der äußern Unähnlichkeit dieser Natur mit der eines Oskar Binder gefühlt hatte, daß das Auge hier geistige Schönheiten finden würde und diese dann auch allmählich das Aeußere heben, traf immermehr zu. Wenn dieser seltsame junge Mann im Mondenschein an der Parkpforte mit ihr auch nur einige Minuten verweilte – die Eifersucht des Kammerherrn war jetzt aufgeregt und sein heimtückischer Sinn gefiel sich in den hinterlistigsten Anschlägen –, das Bild, das sie von ihm empfangen, verklärte sich immermehr zu der Vorstellung von dem Muthe, der Thatkraft der Männer überhaupt und der auch die Frauen hebenden heroischen Bestimmung derselben. Und wie verstand auch Klingsohr sein ganzes Sein mit einem poetischen Nimbus zu umgeben! Mitten in den kurzen Begegnungen, die sich allein möglich machten, 156 brach er in Verse aus und verband dann mit der Wildheit eines Titanen, der noch die ganze Welt zusammenzurütteln gedachte, etwas Naives, Träumerisches, Kindliches wieder. Manches, was die gemessene Zeit zu sagen verbot, sprach er in geschriebenen Blättern aus, die er ihr in die Hand drückte, und schon häufte sich ihr durch Bauernknaben, Bettler und fahrende Musikanten ein geheim besorgter Briefwechsel. Daß sie auf seine Hülfe und Befreiung aus ihrer gegenwärtigen peinlichen und unbestimmten Lage rechnete, das stand damals fest, als er ihr das unwürdige und schimpfliche Loos schilderte, welches zuletzt denn doch noch ihrer im Schlosse Neuhof warten würde; Vater und Sohn, sagte er, würden zuletzt um ihren Besitz streiten und der Alte würde siegen. Sie schauderte. Klingsohr versprach, sie mit nach Göttingen zu nehmen, um sich dort, wenn der Vater die Mittel gäbe, als Docent zu habilitiren. Sie sollte sein Weib sein.

Es war gegen Ende Juni. Schon lange war die erwünschte Regenzeit angebrochen und dauerte anhaltender, als sie der Landmann nun wieder haben wollte. Die auch durch strömenden Regen nicht zu tilgenden Reize des Landlebens, der Anblick der grünen und gelb gefärbten Fluren und der berauschende Duft der Linden und Tannen blieben sich gleich; besonders von dem Schlosse Neuhof selbst aus; nach vorn bot der volle Anblick in eine Landschaft voll Mannichfaltigkeit und Schönheit malerische Fernsichten, in nächster Nähe dufteten der Park und die nahe liegenden Wälder. An dem offenen Fenster, in der linken Eckspitze des Schlosses, im ersten Stock, saß Lucinde des Tages jetzt fast ununterbrochen 157 und suchte sich in ihrer wunderlichen Lage, die der der „Sklavin in goldenen Fesseln“ nicht unähnlich war, zu beschäftigen, so gut es bei ihrem geringen Arbeitstriebe und den aufgewühlten Stimmungen ihres Innern gehen wollte. Wieder war sie ganz auf die Unterhaltung des Kammerherrn, auf seine Pflege angewiesen, denn der geistig Leidende kränkelte auch körperlich. Er gehörte dabei ganz zu den Kindern, die eine Tasse Milch nur von dieser Schwester, einen Teller Suppe nur von jener Magd wollen gereicht erhalten. Er nahm nichts als nur von Lucinden. Sonst trieb er sein altes Wesen. Er zeichnete, malte, porträtirte Köpfe, die ersten besten vom Oekonomiehofe oder aus der Brennerei, sogar Hunde und vor allen jetzt Türck, den nun von ihm besonders Bevorzugten. Mishandelte er nicht die schönen Künste, so drechselte er, und wiederum verband er damit die stereometrische Philosophie des Sehers und Zukunftsphilosophen Laurenz Püttmeyer zu Eschede, einem kleinen Städtchen nördlich von Witoborn, rechtsab vom dem sogenannten großen nach dem Westen führenden „Hellwege“, der auch in der That in manchen Dingen der einzige helle Weg, die Straße des Lichts, durch eine große ägyptische Finsterniß genannt werden kann.

Das Eckzimmer gehörte zu einer Suite von Zimmern, die dem Reichthum und den gesellschaftlichen Ansprüchen der Wittekinds entsprachen. Das Schloß war geräumig, aber nicht eben luxuriös gebaut. Die nüchterne Stimmung des vorigen Jahrhunderts hatte in baulichen Dingen nur das Nützlichkeits­princip im Auge. Desto gewählter war aber theilweise die Ausstattung. 158 Einige dieser Zimmer waren geradezu fürstlich, sowol in der Tapezirung wie in der übrigen Ausschmückung durch Marmor, Bronze und Glas. Nicht nur die Spiegel, auch die Tische, die auf geschweiften Füßen standen, boten die reichste Vergoldung; die Platten waren von köstlichen Marmorarten und spiegelblank. In den Ecken standen Spieltische mit getäfelter und ausgelegter Arbeit von seltenem Geschmack und hohem Werthe. Das Schnitzen in Holz und Elfenbein ist von jeher in diesen Gegenden mit Meisterschaft getrieben worden. Die alten Bilder, wie die gelbsammtenen Ueberzüge der Möbel waren mit Staubvorhängen bedeckt. Diese Zimmer, wol fünf bis sechs an der Zahl, jedes in einem andern Geschmack, verzweigten sich nach den Seitenflügeln und nach der Hinterfronte mit Corridoren, die an den Wänden in ganzer Höhe, von der Erde bis an die Decke, mit Spiegeln bekleidet waren. An den Plafonds waren Malereien angebracht von einem keineswegs nazarenischen Geschmack. Einzelne Vasen, die auf Marmorgestellen die Einförmigkeit dieser Corridore unterbrachen, zeigten vortreffliche Malereien aus der Schule Albano’s. Daß diese Corridore an den Wänden von rings hinlaufenden Divans, die gleichfalls mit gelbem, blumenartig gepreßtem Plüschsammt überzogen waren, begrenzt wurden, bewies, wie sie einst zu großen Gesellschaften gedient hatten. Auch fehlten alte Kronleuchter von langhängenden Krystalltropfen und Glasberlocquen nicht. An den Wänden waren Vorrichtungen angebracht zu Girandolen, immer zu fünf und fünf Flammen. Man sah es, daß hier einst ein regierender Minister eines der 159 nahe gelegenen Fürstenthümer, dann ein quiescirter österreichischer Feldzeugmeister gewohnt hatten, dann und wann ein Erzbischof zu längerm Besuch gekommen war, alles Vorvordere, Angehörige und Verwandte des Hauses, zunächst bis auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück. Der jetzige Stammhalter liebte nicht mehr den Luxus. Doch hatte es auch bei ihm einst Zeiten gegeben, wo alles im Lichterglanz schwamm. Es waren nicht die Zeiten gewesen, wo noch die frühverstorbene Mutter des Regierungsraths und des Kammerherrn lebte, wohl aber unmittelbar darauf, wo es zuweilen hieß, die Damen, die eine Zeit lang hier hausten, wären Cousinen des regierenden Stammherrn oder Tanten und Nichten desselben. Meist aber waren es über Kassel gekommene Französinnen oder Italienerinnen, die eine Zeit lang blieben, mit Freudenfeuern empfangen wurden und plötzlich über Nacht verschwanden, ohne daß man je wieder von ihnen erfuhr. Gewöhnlich hörte man kurz vor diesen Abreisen in den eleganten Zimmern oben eine Scene, deren Charakter, um ihn volksthümlich zu bezeichnen, Mord und Todtschlag war. Dann wurde es plötzlich still; aber auch so plötzlich, wie mit Geistern im Bunde. Zuweilen zuckte noch irgendein Laut auf, irgendwo in einem der düstern Pavillons des Parks, in irgendeinem der tiefgelegenen Keller des Schlosses; dann war’s für immer still. Verschlossene Wagen entfernten Nachts die von ihrem Glanz Herabgestürzten. Mit diesen Vorgängen stand, wie Lucinde im Pavillon erfahren hatte, der Name des Fräuleins von Gülpen oder der Frau von Buschbeck in Verbindung. Diese Räthselhafte war unver-160hei­rathet geblieben, war allerdings die Verlobte eines in Java dienenden Kriegers gewesen, lebte aber von keiner niederländischen Pension, sondern von einer Rente des Kronsyndikus, bei dem sie vor vielen Jahren mindestens ebenso viel gewesen war wie jetzt die Lisabeth, die von allen mit Respect behandelt wurde, obgleich sie nur eine Bäuerin war und vollkommen für Stephan Lengenich paßte. Der Kronsyndikus hatte sich nach den erinnerungsreichen Verirrungen der Vergangenheit ganz den Kreisen zugewandt, die nur unter ihm standen.

Was Lucinde von allen diesen Dingen allmählich herausbekam, verdankte sie theils Klingsohr’n, theils den alten Stammers, bei denen sie wohnte, vorzugsweise aber, da auch diese von der Vergangenheit bitter berührt zu werden schienen, dem selbst schon grauhaarigen Sohne derselben, einem buckeligen Musikanten, der im Lande herumstrich und der vorzüglichste Bote war, dessen sich Klingsohr für seinen Briefwechsel bediente.

Der Kronsyndikus wohnte im Parterre, wo sein unruhiger Sinn gleich ins Freie konnte, wenn er bei den vielen Rathschlägen und Hülfen, die er leisten mußte und die auch Er nur allein leisten konnte, rasch zur Hand sein wollte. Manchmal blieb er des Nachts ganz aus. Seine Güter erstreckten sich weit, und obgleich bei einem Theil derselben die unmittelbaren Beziehungen durch das Pachtverhältniß des Deichgrafen unterbrochen waren, so ließ er doch als eigentlicher Herr sich seine Laune, da und dort hineinzureden, nicht nehmen; bald kehrte er dann hier, bald dort ein, auf eigenem oder fremdem Gebiet.

Eines Tages war er wieder einen weiten Weg 161 ausgeritten. Es handelte sich darum, gegen den Deichgrafen, der, um vielleicht wirklich Landrath zu werden, schon einen kleinen Gutskauf abzuschließen suchte, zwei maskirte Gegengebote zu veranlassen. Die Regierung unausgesetzt um Beförderung oder Versetzung anzugehen, drängte den „schönen Enckefuß“ eine von Jahr zu Jahr sich mehrende Schuldenlast. Nun gab’s Hin- und Herritte, Verhandlungen mit der Geistlichkeit, den Advocaten im nahen zum Kreis gehörenden Städtchen Lüdicke, Umtriebe, um, wenn es zum Wählen eines neuen Landraths kommen sollte, den Wahlmodus durch Zusammenlegung dieser oder jener heterogenen Districte zu paralysiren, und was sonst dergleichen Künste des Regierens und Politisirens jetzt geworden sind, von der Wahl eines Gemeindeschulzen auf dem Dorfe an bis zum Landstand und Mitglied eines Herrenhauses. Zunächst den Gutskauf des Deichgrafen rückgängig zu machen, war ein Ziel „des Schweißes der Edeln werth“. Der Haß des Kronsyndikus gegen seinen alten Freund kannte keine Grenzen, und die Vorfälle im Düsternbrook, wo der Deichgraf inzwischen mit Gensdarmen einen Grenzstein aufgestellt hatte, den jedoch der Kronsyndikus schon wieder hatte wegnehmen lassen (wofür ihm eine Citation in die Kreishauptstadt geworden), hatten das Feuer immer noch mehr geschürt.

Es war vier Uhr. Der Kammerherr aß und porträtirte seinen Hund, seinen Retter von der wie der Tod gefürchteten Ehe. Türck war von den vielen Hunden, die auf dem Schlosse knurrten und bellten, gerade derjenige, den Lucinde nicht leiden mochte. Sie nannte ihn gerade 162 so, wie der Kronsyndikus zuweilen den Deichgrafen nannte, einen „Calfacter“, ein Wort, dessen Ursprung ihr der Kammerherr im Begriff war mit dem ganzen ihm eigenen Aufwand seiner noch haften gebliebenen Schulkenntnisse zu erklären.

Calefacio, calefeci, calefactum, calefacere, wiederholte er und fing an, indem er malte, mit sich selbst, wie er sagte, zu „certiren“ und sich gleichsam von diesem oder jenem seiner alten Mitschüler übertreffen zu lassen.

Imperfectum zweite Person Singularis! rief er mit befehlender Stimme.

Dann mit lispelnder und schüchterner: Calefixis!

Falsch! donnerte er. Klingsohr, Sie!

Calefaxisti!

Falsch! Plüddemann, Sie!

Calefeceritis!

Falsch! Wer kommt! Der Folgende! Der Folgende! Herr von Wittekind, Sie!

Calefaciebas!

Bravo, Herr von Wittekind! Setzen Sie sich über Plüddemann, Klingsohr, Katerkamp und Vincke!

Diese Selbstgespräche und Selbstlobeserhebungen war Lu­cinde schon lange gewohnt. Oft mußte sie Zumpt’s Grammatik nehmen und ihm überhören. Sie lernte selbst dabei. Früher that sie es sogar ganz gern. Jetzt aber, seit Klingsohr in ihrem Herzen lebte, unterhielt es sie wenig. Da auch Klingsohr zu den Mitschülern gehört haben sollte, die ein wie es schien doch geborener Dümmling immer übertraf, so sprach sie heute ihre Verwun-163derung darüber aus, erntete jedoch für die Anerkennung des Doctors eine Flut von Beschuldigungen gegen den alten Kameraden; er wisse gar nichts, er hätte auf der Universität nachholen wollen und sich nun erst recht lächerlich gemacht, da die Andern schon ihre Freiheit genossen hätten; dann hätte ihm der Deichgraf kein Geld mehr geschickt, allen wäre er verschuldet gewesen und hätte sich, wenn er nicht bezahlen konnte, nicht anders loskaufen können als durch Wetten, zum Beispiel: Zwölf Maß Goslarer Bier an einem Abend zu trinken und dann doch noch in eine Gesellschaft zum Justizrath Bauer oder zum Pandektisten Hugo zu gehen und mit den elegantesten Damen dort über den Begriff des Romantischen oder „Die bezauberte Rose“ von Ernst Schulze zu streiten.

Das Bild einer wüsten Vergangenheit war Lucinden schon lange an Klingsohr nicht fremd; aber er klagte sich ja selbst an! Und zu hell leuchteten seine klugen Augen im letzten Mondenschein, zu süß war seine Rede in dem flüchtigen Augenblicke gewesen neulich, wo er zum ersten mal leise ihre Stirn geküßt hatte, zu tief und anregend war alles, was sie schriftlich von ihm durch den verschmitzten Musikanten besaß und auf dem Herzen trug, um es in jeder unbelauschten Minute zu durchfliegen. Heute hatte Klingsohr versprochen, Abends gegen sieben Uhr einen solchen Umweg zur Wohnung seines Vaters zu nehmen, daß er, heimkehrend von der Kreisstadt, wo er den Gutsankauf zu betreiben helfen sollte, am Schloß vorüberreiten mußte. Einige Blumen, die sie in demselben Augenblick, wo er an ihrem Fenster 164 vorüber mußte, ihm entweder zuwerfen oder, wenn dies nicht möglich wäre, wenigstens an die Lippen drücken wollte, standen schon, frisch aus den Beeten des Vorparks genommen, in einem Glase bereit vor ihr.

Ihre sich kreuzenden Gedanken nicht zu verrathen, unterbrach sie den immer noch fortcertirenden Kammerherrn mit der Frage, wie denn nur sein Vater einen doch immerhin so rüstigen, thätigen, energischen und charaktervollen Mann wie seinen Pachter, den Deichgrafen, so oft „Calfacter“ nennen könnte?

Plüddemann! Was ist ein Calfactor? fiel der Kammerherr zur Antwort ein.

Mit veränderter Stimme antwortete er:

Calefactor, Warmmacher, ist ein Pedell –

Pudel! unterbrach er sich selbst …

Pudel? Wer sagt das? Klingsohr! Wer nannte hier den Pedell einen Pudel?

Große Untersuchung … (immer spricht der Kammerherr). Kein Resultat …

Ein Calefactor ist ein Ofenheizer, ein Mann, der’s statt cale, welches bekanntermaßen nicht kalt, sondern warm heißt, warm macht, id est im Ofen …

Katerkamp flüstert: Auch an andern Orten …

Allgemeines Gelächter. Auch der Conrector lacht. Sintemalen vor kurzem erst sieben Quartaner übergelegt worden sind und ab calefactore warm gemacht bekamen cum Bim – Bam – Bam – Bum – Baculo!

Nun sang der Geistesschwache Studentenlieder … mit dem Refrain des Crambambuli

165 Wie paßt das aber alles auf den Deichgrafen? fragte Lucinde, an dergleichen gewöhnt und durch das offene Fenster forschend.

Calfactor, sagte der Kammerherr, am Türck wieder fortmalend, Calfactor ist ein Subject, ein dienendes Instrument, ein Farbenreiber, ein Pinsel, eine Drechselbank, ein Pudel, der apportirt …

Nein, nein, nein! unterbrach Lucinde. Einen Calfacter nennt man bei uns zu Hause einen Hund, ganz wie Ihren Türck, den man jeden Augenblick daran erinnern muß, wer sein Herr ist, der an jedem Stein stillsteht und schnuppert, was unter ihm stecken mag, der, wenn man ihn freundlich anredet, den Schweif zwischen die Beine klemmt und wie mit bösem Gewissen davonläuft, einen elenden Ueberläufer, der im Stande ist, nach einem halben Jahre seinen eigenen Herrn nicht mehr zu erkennen und ihn anzufallen …

Bravissima! rief der Kammerherr. Recht, meine Heilige! So handelte der Deichgraf am Vater! So vergalt er seine Wohlthaten! Heinrich muß mir mindestens noch hundert Pistolen schuldig sein oder er hat sie wenigstens nur mit einer ausgetrunkenen Tonne Goslarer Bier bezahlt, die ich dann auch wieder auf meine Rechnung habe nehmen müssen! Sind das keine Calfacters? Der Alte war sonst ein Demagog und nun will er Landrath werden. Sind das keine Calfacters?

Lucinde erwiderte Partei nehmend:

Die Regierung ist aufgeklärter geworden; sie braucht die Unterstützung der Vernünftigen gegen die Unvernünftigen. Die Gensdarmen machen es dabei nicht allein, 166 und wie ich gehört habe, Ihr eigener Bruder, der Regierungsrath, soll ja ganz ebenso denken und dem Deichgrafen einen Besuch gemacht haben …

Was? Wie? Mein Bruder? schrie der Kammerherr und sprang auf.

Ich höre es wenigstens, lenkte Lucinde ein.

Man hätte erwarten sollen, der Kammerherr würde nach einer Flinte, mindestens nach seiner Windbüchse gesucht haben. Jetzt zeigte sich der schwachwillige Charakter des Kranken in dem bloßen Verweilen bei der Thatsache, in der bloßen Freude, dies dem Vater – anzeigen zu können! Lachend rief er:

Schöne Zeiten das! Ein Wittekind unter den Gensdarmen! Aber – Roma nondum locuta est! setzte er feierlich hinzu.

Was heißt das? fragte Lucinde ärgerlich.

Der Kammerherr wollte wieder Plüddemann und Vincke und seine andern detmolder Schüler diese Phrase übersetzen lassen, als er vom Hufschlag eines in galoppirender Eile dahersprengenden Pferdes unterbrochen wurde. Lucinde sah schnell zu dem nach der Fronte des Schlosses führenden Fenster hinaus, denn von daher kam das Geräusch. So verwegen durfte von den Leuten des Schlosses niemand in dessen Nähe reiten!

Es war aber Klingsohr nicht, sondern der Kronsyndikus selbst.

Wie kam der heute schon so früh heim? Wie kam er von einer Gegend heim, die keinen andern Zugang bot als den nach dem Düsternbrook? War er wol gar den Grund selber hinaufgeritten?

167 Das Pferd schäumte, und fast flog dem Reiter die grüne Mütze ab, als er mit einem gewaltigen Ruck in das offene Seitenthor des Schlosses schwenkte.

Nach dem ersten Augenblicke des Erstaunens, wie der Kronsyndikus diesen beschwerlichen Weg hatte wählen können, wollte man zur Arbeit und Uebersetzung der Worte: Roma nondum locuta est! übergehen, als Türck voll Unruhe an die geschlossene Thür sprang, die Schwelle bekratzte und hinaus wollte.

Der Calfacter! murrte Lucinde, während ihm der Kammerherr schmeichelte, um ihn zum Bleiben zu bringen.

Man mußte aber öffnen; das Thier heulte vor Ungeduld, hinauszukommen.

Bald vernahm man ein Rennen und Laufen im Hause, ein Rufen durcheinander.

Man erfuhr, daß der Kronsyndikus befohlen hatte, einen Wagen anzuspannen.

Darin lag an und für sich nichts Auffallendes, es kam oft vor. Aber die Eile war nie so dringend wie eben. Lucinde ging in ein Zimmer, das in den Hof führte. Sie sah den Kronsyndikus, bis an den Hals zugeknöpft, in seinem grünen Reitrock und in den hohen, schweren Stiefeln im Hofe stehen und mit stummen Geberden zur Eile winken. Sonst pflegte er solche Befehle mit einer Flut nicht eben gewählter Commandowörter zu unterstützen; heute ging alles still, mit Winken und nur zuweilen mit einem ungeduldig aufgestoßenen Fuße zu. Er wandte, im Hofe stehend, dem Schlosse den Rücken. Den Hirschfänger, ohne den er 168 nie ausritt, selbst in Zeiten, wo es keine Jagd gab, mußte er schon abgeschnallt haben, und doch tastete er immer nach demselben hin und schüttelte den Kopf, wie wenn er erstaunte, vergessen zu haben, daß er schon abgelegt war.

Nun wandte er sich und schritt wie taumelnd wieder zum Schlosse zurück, wo er in seinen Zimmern schon gewesen zu sein schien.

Lucinde erschrak. Das sonst so geröthete Antlitz des Greises war so auffallend bleich, daß die rothen Flecke, die es immer hatte, wie Wunden aussahen. Die Mütze war ihm entweder bei dem Schwenken in den Thorhof wirklich noch entfallen oder auch schon abgelegt worden. Grell stachen die weißen Haare von der Luft ab; sie schienen sich zu bäumen; der weiße Backenbart ging grauenhaft auf und nieder, wie wenn die Kinnladen fröstelnd aneinanderschlugen. Das weibliche Personal der Bedienung und ganz besonders die Lisabeth, immer voll Umsicht und großer Rührigkeit, war ängstlich um ihn her beschäftigt. Wie er wieder auf die wenigen Stufen, die zum Schloßeingang führten, treten wollte, glitt er fast aus; er hatte, da die Hände immer an der obern Klappe seines Frackes knöpften, vergessen sich am Geländer zu halten.

Lucinde eilte jetzt selbst hinunter.

Als sie ankam, hieß es, der Kronsyndikus hätte sich in seinem Zimmer eingeschlossen.

Was ihm wäre? fragte sie.

Er ist mit dem Pferde gestürzt!

Ist er den Grund hinaufgeritten?

Man wußte keine Antwort. Manche sagten:

169 Das doch wol nicht!

Inzwischen donnerte die gewohnte Stimme gleichsam wie mit jetzt erst hervorgelassener, bisher zurückgehaltener Kraft:

Wird’s mit dem Wagen?

Schon zog man die Kalesche heraus. Und wie er ihrer ansichtig wurde, befahl dieselbe Stimme:

Der Kammerherr soll mitfahren! Nach Eggena!

Es war eines seiner Vorwerke, auf dem er gern in der Jagdzeit verweilte.

Damit schlug er die Fenster so heftig zu, daß eine Scheibe zerklirrte.

Alles das konnte allerdings an sich nicht anders als Lucinden sehr erwünscht kommen. Es war über sechs Uhr; gegen sieben Uhr sollte sie Klingsohr’n erwarten, mit dem sie nun vielleicht sprechen, ihn eine Strecke begleiten konnte, so sehr auch jeder ihrer Schritte von den Spionen des Schloßhofs oder des Parks bewacht wurde …

Dem Kammerherrn kam der Befehl höchst ungelegen. Da dieser Befehl jedoch von einer der Mägde wiederholt wurde – die sogenannte Dienerschaft, auch der Diener des Kammerherrn, arbeitete in den verschiedenen Branchen der Wirthschaft und legte nur bei besonderer Veranlassung Livree an –, so half kein Widerstand. Am Hufschlag des Rosses hatte der Furchtsame schon vernommen, wie sein Vater in einer Stimmung war, bei welcher ihm Stock oder Peitsche nicht zu entfernt lagen. Er sah ängstlich nach dem Wetter. Es hatte sich leidlich mit dem Regen beruhigt, aber düster hingen die grauen Wolken und weit, weit über der ganzen Gegend hin.

170 Während der Kammerherr sich nun im Nebenzimmer ankleiden mußte und Lucinde ganz schon nur dem Wunsche lebte, daß die Minuten doch lieber langsamer verrinnen möchten, nur damit Vater und Sohn erst auf dem Zweispänner säßen und weiter auf dem Wege nach Eggena voraus wären, hörte man plötzlich den allgemein ausgestoßenen entsetzlichen Schrei:

Feuer! Feuer! Feuer!

Lucinde stürzte wieder hinunter und fand den ganzen Hof in Verwirrung.

Die Ursache des Rufes mußte ihr beim Herabspringen von der steinernen Treppe selbst sogleich begreiflich werden an einem brandigen Geruch, der sich im Hofe verbreitete und verbunden war mit einem leise aus der zerbrochenen Scheibe des Wohnzimmers des Kronsyndikus hervordringenden Rauche …

Man schlug heftig an die von innen verschlossene Thür des Parterre und wiederholte den Ruf:

Excellenz! Es brennt ja!

Keine Antwort.

Er ist erstickt! hieß es.

Die Beschließerin war außer sich und rief nach den Knechten. Ihr erster Ruf galt dem Stephan Lengenich, jenem Küfer, der von ihr begünstigt wurde. Von diesem aber hieß es, er arbeite irgendwo im Walde, vielleicht im Düsternbrook.

Nach einer Weile machte der Kronsyndikus das Fenster auf und sagte mit matter Stimme, sie sollten sich alle – alle zum Teufel und an ihre Arbeit scheren. Er hätte ja nur – er hätte Papiere verbrannt … 171 Wo der Kammerherr wäre? … Es ginge nach Eggena! … Ob der Wagen bereit stünde? … Wo das Fräulein Schwarz wäre?

Lucinde meldete sich, indem sie von den Stufen des Eingangs sich vorbeugte …

Ein erzwungenes Lächeln begrüßte sie von einem Kopfe, den man kaum wiedererkannte.

Vom Verbrennen der Papiere im Ofen mußte ihm der Ruß ins Gesicht geschlagen sein.

Der Contrast des geschwärzten Antlitzes, der weißen Haare, des Bartes, der Augenbrauen und des Hauptes mit einem vornehmen Staatskleide, das der Aufgeregte plötzlich wie in der Zerstreuung angezogen, mit einem Kleide, auf dem beständig das goldene, achtspitzige Kreuz des Welfenordens haftete, wäre burlesk gewesen, wenn nicht die Situation selbst etwas Schreckhaftes gehabt hätte.

Ich komme noch hinauf, sagte er. Gehen Sie, Liebe! Gehen Sie! Ich bitte!

So artig hatte der Tyrann nie mit ihr gesprochen. Durch seinen Paroxysmus war er wie umgewandelt.

Lucinde hatte nur die siebente Stunde im Kopfe …

Der Kammerherr, der an Ordrepariren gewöhnt war, kam schon mit Regenschirm, Hutschachtel und sogar einem Pelze …

Lucinde fragte ihn lachend, ob er nach Sibirien reisen wollte?

Sie holte dem Halbweinenden einen Ueberzieher und behielt den Pelz zurück.

Der Brandgeruch zog sich inzwischen durchs ganze Haus. Es war ein Geruch weit mehr von verbrannten 172 Haaren oder Tuch als von Papier. Daß der Dampf so groß sein konnte, um durch alle Oefen zu dringen, mußte aus dem Verschütten von Wasser auf die Flammen entstanden sein.

Zuletzt kam der Kronsyndikus wirklich in den ersten Stock und schloß, wie sie erstaunend bemerkte, alle Staatszimmer auf.

Welches Bedürfniß konnte er haben, eine gestickte Uniform, seinen liebsten Orden zu tragen und seine Staatszimmer zu öffnen und hin und her zu durchschreiten?

Alle Läden riß er auf. Er lüftete vielleicht nur. So kam er in das Eckzimmer, wo Lucinde schon am Nähtisch stand, so stand, als müßte sie ihre Blumen bewachen. Der Greis bot den seltsamsten Anblick. Das Gesicht war jetzt gereinigt. Aber zu seiner Landstandsuniform mit dem hannoverischen Orden der Welfen stand im sonderbarsten Contrast der Hirschfänger, den er wieder umgeschnallt hatte. Die Hände waren mit den weißesten Handschuhen geschmückt, als wenn er zu Hofe gehen wollte. Voll Unruhe blickte er um sich und stotterte:

Lüftet doch! Lüftet doch! Wie erstickend! Wie dumpf! Wie rauchen die Oefen! Verbrenne nur ein bischen Papier und es riecht gleich wie der lebendige Satan!

Dabei zuckten ihm seine ohnehin schon unheimlichen Augenbrauen krampfhaft auf und nieder …

Der große, baumstarke Mann stand wie von einer Ohnmacht bedroht. Und indem er mit den Fingern der linken Hand immer in seinen Bart, bald da, bald dort, 173 wie in einer kreisenden Bewegung griff, sagte er, als wollt’ er Gleichgültigkeit zeigen:

Hab’ mich wieder ’n mal geärgert! Ueber den verd– Landrath; nein – ja – den – Rittmeister! Und diese Briefe vom Fritz … In den Ofen damit! … Immer Aerger! Immer Aerger! …

Lucinde, die kaum merkte, daß er die Gründe seines Aergers offenbar fingirte, war ihm, um ihn nur zu beruhigen, so zuthunlich, wie er sonst wünschte. Sie bewunderte die prächtige Uniform, besah das wunderschöne Comthurkreuz mit seinen goldenen Kugeln, seinem welfischen Löwen, seinem weißen Roß und seinen Eichenzweigen; sie wußte schon, was die alte deutsche Geschichte zu erzählen hatte von dem Löwen des mächtigen braunschweiger Herzogs Heinrich Welf und dem Kniefall des Hohenstaufen vor dem Löwenherzog und von den Römerzügen und der gespaltenen Einheit des deutschen Vaterlandes …

Der Alte lächelte jetzt zu all diesem „Kram“, wie er’s eben nannte, und suchte über das zu scherzen, was ihm in seinen jeweiligen Wuthanfällen auf die Regierung und den Deichgrafen sonst ein „blutiger Ernst“ war. Welfen und Ghibellinen! rief er oft. Ihr Ghibellinen mit euern Kaisern, wir Welfen mit unserm Rom! … Heute aber hielt er das Nächste fest. Wieder und wieder rief er mit äußerster Ungeduld: Ob nun bald gepackt wäre, der Koffer auch, Kleider für ihn und den Kammerherrn? Dabei sah er nach der Uhr, brummte vom „Landrath heute in Lüdicke“, „Eggena nach Lüdicke drei Stunden“ und ähnliche Berechnungen. Dann starrte er 174 in die Gegend hinaus, nahm ein Fernglas, dessen sich sein Sohn zu bedienen pflegte und das auf dem Nähtisch Lucindens lag, und zog es auf und nieder.

Dies that er eine Weile wie gedankenlos, wie mechanisch. In dem mehrfach hervorgestoßenen Namen Enckefuß schien eine große Beruhigung für ihn zu liegen.

Plötzlich aber rief er:

Was? Wie? Wer kommt denn da?

Er deutete auf einen leichten Wagen, den man bei einiger Aufmerksamkeit auch mit bloßem Auge sehen konnte.

Lucinde blickte erschreckend hinaus.

Es war erst wenig vor halb sieben, ja gerade die Stunde, die der Deichgraf nach dem Urtheil seines Sohnes im Handeln immer einzuhalten pflegte, zwei Minuten vor halb sieben. Der Wagen ging bergan, und die Strecke von unten herauf war lang und steil, der Wagen fuhr langsam; gegen sieben konnt’ es sein, wenn er endlich auf der Höhe war. Sollte Heinrich, statt zu Roß, im Einspänner kommen? Und durch den kleinen Taschen-Frauenhofer hatte der Kronsyndikus schon erkannt, daß es wirklich der „Doctor“ war.

Die Wirkung dieser Entdeckung war bei dem Greise die allerauffallendste.

Lucinde hätte noch deutlicher bemerken können, wie der Kronsyndikus krampfhaft sich am Nähtisch hielt und, da dieser leicht war, fast mit ihm umstürzte. Um ihre eigene Unruhe und Verlegenheit zu verbergen, hatte 175 sie sich nur in diesem Augenblicke selbst zum Seitenfenster gewandt.

Was will denn der Doctor? sprach der Kronsyndikus immer tonloser und kürzer athmend … Der Junge – der Junge – der – was will denn der? Was soll denn der? Wozu kommt denn schon der?

Es schienen ihm Gedanken durch den Kopf zu schießen ganz anderer Art, als die er gewöhnlich über das „Volk da unten in der Buschmühle“ aussprach.

Der Wagen kam näher. Es war ein Einspänner, den wirklich der junge Klingsohr führte.

Was will er denn? Was hat er denn? fuhr der Alte auf und wandte sich dabei nicht an Lucinden, die ganz nur mit ihrer eigenen Besorgniß beschäftigt war und sich abwandte, um ihr Erröthen zu verbergen.

So nur konnte es geschehen, daß sie die zunehmende Unruhe des Greises nicht bemerkte, nicht sein Hin- und Wiederrennen, nicht sein Oeffnen des nach der Seitenfronte gehenden Fensters, nicht sein erneutes Blicken durch das Fernrohr, das er zitternd aus- und einzog.

Endlich, als er in das Pfeifen eines Liedes ausgebrochen war und in den geöffneten Prachtzimmern die Decken von den gelben Sammtmöbeln riß und wieder kam und wieder ging, lachte er plötzlich laut auf, rief Lucinden in die Staatszimmer und sagte mit der ihm eigenen faunischen Miene:

Lucinde! Lucinde! Höre, Kind! Ich sag’ dir etwas!

Herr Kronsyndikus! rief diese und eilte näher.

Satan, schwarzer –!

Excellenz –

176 Engel! Schlechte Person – liebst den Kerl, den Doctor!

Er lachte dabei convulsivisch.

Hast recht! ließ er sie kaum zu Worte kommen und umarmte sie. Hast recht! Er kann’s einem schon anthun!

Aber Excellenz –

Weiß alles, verdammte Hexe! Ihr saht euch in dem gottverfluchten Grunde, saht euch im Park … hinterm letzten Pavillon … am Fasanennetz … im Mondschein … Glaubst du, der buckelige Stammer geigt mir nicht auch um funfzehn Silbergroschen oder eine Tracht Hiebe die Wahrheit? … Aber … aber hast recht … sollst recht haben, Kind … Wie kann man einen Narren lieben? Da … den … Und … einen … Greis dann noch dazu? Halt ihn fest … den Doctor mein’ ich … Gleich auf der Stelle! Hier ist der Schlüssel zum Keller! Eßt, trinkt! Laß deine Künste los, Zigeunerin! Ich gönne ihn dir … Sieh, Kind, wie er das Roß zügelt! Daß dich … Seine Mutter war schön … Lucinde, höre – aber leise – sag’ ihm was … hier, da … auf dem Sopha … sag’ ihm was … Hol’ ihn dir … halt’ ihn dir fest und plausch’ ihm ins Ohr … hörst du … ob er’s denn noch nicht weiß … nie gehört hat … nie erfahren … daß … daß … Na, was? … Ha, ha, ha! … Wer ihm den Riegel aufschob … als er in die Welt gekommen … Hm? Verstehst du … Lucinde, sag’s ihm beim fünften, sechsten Glas Champagner … Lisabeth! Lisabeth! Küche, Keller, alles geöffnet! … Sag’s ihm … drei Söhne hatte der alte Wittekind, einer ist Candidat zum 177 Premierminister, einer Candidat zum Tollhaus … und der da? … „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ sangen sie damals – ha, ha! – als sie den Tugendbund schlossen und in den Teutoburger Wald geheime Reisen machten und die Weibsen zurückließen … ha, ha, ha! … Verstehst du, kleine schwarze unschuldige Schlange?

Ein tolles Lachen, ja, das ihr bekannte Lachen der Selbstzufriedenheit über seine plötzlichen Lichtblitze der Klugheit und Verschmitztheit, erstickte die Rede des wie wahnsinnigen Greises.

Lucinde stand sprachlos und konnte um so weniger zu Worte kommen, als der Kammerherr, der seither unten gewartet hatte, jetzt zurückkehrte und eine Aenderung der ihm gegebenen Befehle zu hoffen schien.

Lucinde verstand vollkommen das schreckliche Geständniß, das der Kronsyndikus gemacht hatte.

Die Dazwischenkunft des Kammerherrn hinderte eine weitere Erörterung. Der Vater zog Lucinden mit sich hinunter. Wie er auf der Treppe sich auf sie stützte, raunte er ihr immer heimlich und mit emporgestreckten, zitternden Fingern Worte der frivolsten Enthüllungen zu … Auf der Treppe noch, wo er sich am Geländer festhielt, sagte er der Beschließerin:

Lucinde kriegt die Schlüssel! Was die von jetzt an befiehlt, geschieht! Verstanden! Was hab’ ich gesagt?

Lisabeth, mit einem überraschten Blick voll Gift und Zorn, mußte wörtlich wiederholen, was ihr Herr gesagt hatte; erst wollte sie’s nicht und betrachtete Lucinden erstaunend, dann mußte sie ihr Verstandenhaben der Verfügung laut wiederholen und feierlich Unterwerfung geloben. 178 Hierauf sah er fast mit Mitleid auf den wartenden Kammerherrn, drehte den Hirschfänger vor sich hin und stieg in die Kalesche. Lucinden flüsterte er noch aus dem Schlage ans Ohr:

Sag’ es ihm! … Aber schweigt beide … so wahr ein Gott im Himmel lebt!

Zur Lisabeth sich wendend, wiederholte er:

Zeig’ auch du, was ich dich lernen ließ bei Wessel in Hannover! Brate, koche! Haltet ihn fest! Trinkt auf mein Wohl! „Um acht Uhr ist Verlobung oder sieben Schüsseln!“ ’s war ein altes Stück zu meiner Zeit! Lustig! Ich will die Augen zudrücken … über alles … will Frieden haben mit dem – Deichgrafen … Frieden … Jesus aber, jetzt fort, Hannes!

Der letzte, fast tonlose Ruf galt dem Kutscher.

Die Pferde zogen schon an, und nach der entgegengesetzten Seite hin, wo Heinrich Klingsohr herkam, rollte der Kronsyndikus aus dem Seitenthor und den Berg hinunter.

Sein Sohn ahnte glücklicherweise Klingsohr’s Nähe, die entscheidende Gefahr für seine Neigung nicht. Nur die äußere hatte er jetzt im Auge – den Hemmschuh, den der Kutscher anlegen sollte! Von allen Schrecken war ihm der des Bergabfahrens einer der haarsträubendsten. Türck, der Calfacter, lief nicht, wie er sonst pflegte, dem ankommenden Wagen bellend und wedelnd entgegen, sondern schloß sich der Kalesche an, der er mit eingezogenem Schweife nachlief. Betrübt und zaghaft waren die Mienen, die der Kammerherr Lucinden noch beim Abschied zuwarf. Morgen! sagte er kleinlaut; aber der große 179 Kasten fiel ihm auf, den noch der Kronsyndikus wie für eine längere Reise hatte in der Vache unterm Kutscherbock einschließen lassen. Nur daß sein Bedienter zurückblieb, schien ihm einige Hoffnung zu geben.

Zum Besinnen über die Wahrheit dessen, was der Kronsyndikus ihr zugeraunt hatte, blieb Lucinden keine Zeit … Heinrich Klingsohr, der natürliche Sohn des mächtigen Mannes, grüßte schon, da er zu seinem Jubel die davonfahren sah, denen er hier zu begegnen fürchten mußte.

Bei einer plötzlichen Lebensgefahr, sagt man, schösse wie an einem elektrischen Leiter blitzesschnell die ganze Vergangenheit eines Menschen an seinem letzten Bewußtsein vorüber …

Umgekehrt übte die Fülle von Vorstellungen, die sich für Lucinden auf wenig Augenblicke jetzt zusammenzudrängen hatte, die Wirkung, daß sie ihr das Bewußtsein völlig nahm, ja, sie in einen traumähnlichen, bacchantischen, von höchster Freude, von Lust und Schmerz ebenso gehobenen wie wieder vernichteten Zustand versetzte.

Diese räthselhaften Vorgänge mit dem Kronsyndikus, diese Feuersgefahr, sein Benehmen am Fenster, der verzweiflungsvolle Humor und die Furcht vor Heinrich Klingsohr, dann sein mit den dunkeln Gerüchten über ihn und eine große Anzahl illegitimer Kinder übereinstimmendes Geheimniß, die plötzliche Versöhnungslust, die sich beim Besteigen des Wagens auch noch in dem ausdrücklichen Befehl gezeigt hatte, daß die Lisabeth die Diener in Livree stecken und augenblicklich die ganze Größe des Wittekind’schen Hauses entfalten sollte … dann der heranrollende Wagen des wiederum seinerseits mit den un-180glaublichsten Ueberraschungen Erwarteten, alles das verursachte in seiner schnellen Aufeinanderfolge ihr einen fast physischen Schmerz, wie wenn sie wirklich den Tod des Ertrinkens erleiden sollte.

Und doch rief auch wieder zu gleicher Zeit alles in ihr – wie die ersten rauschenden Accorde einer Ballmusik – zu Lust und Freude.

181 13.#

Während Lucinde das Staunen der Lisabeth auf die natürliche Voraussetzung einer Versöhnung mit dem Deichgrafen verwies, lief sie schon über den marmorgetäfelten Estrich des untern Schlosses an die hohe, schwere Thür, schloß diese mit dem immer von innen steckenden Schlüssel auf und trat auf den Perron hinaus, um Klingsohr’n anzurufen.

Dieser hatte auch seinerseits einen Blumenstrauß in der Hand und suchte sie, langsam fahrend, am Fenster. Wie erstaunte er, als sie selbst erschien, ihn anredete und aufforderte auszusteigen!

Sie werden alles erfahren, kommen Sie nur! sagte sie. Der Kronsyndikus ist eben abgereist, der Kammerherr mit ihm, ich bin allein und ausdrücklich beauftragt, Sie zum Bleiben einzuladen!

Da geht ja die Welt unter! sagte der Doctor, sprang vom Wagen und übergab sein Gefährt einem schon in Livree, die er eben noch zuzuknöpfen im Begriff war, herbeispringenden Gehilfen der Branntweinbrennerei.

Es war auch inzwischen Feierabend. Der Hof war in voller Bewegung. Die Inspectoren und Arbeiter 182 aller der verschiedenen hier zu beaufsichtigenden Branchen begriffen nicht, wie sie den Sohn des Deichgrafen konnten auf Schloß Neuhof einkehren sehen. Aber Lucinde zog den verwunderlichen Gast die große steinerne Stiege hinauf in die Staatszimmer, wo man bereits anfangen wollte einen Tisch zu decken, Lucinde sollte nur bestimmen welchen. Sie wählte einen der glänzendsten mit einer Decke von Lapis Lazuli, achteckig, mit geschweiften, vergoldeten Füßen, dicht vor einem Kanapee, das in der Nähe eines Kamins stand …

Dazu läuteten von allen Tiefen her die Glocken das Ave Maria … der trübe Regenhimmel ließ im Westen vom Sonnenlicht einige rothe und blaue Streifen hindurch …

Klingsohr kannte aus seiner Knabenzeit alle diese Zimmer …

Wie konnte es geschehen, daß er seit Jahren und bei der jetzigen Lage der Dinge hier wieder so wie einst aufgenommen, ja, gerade von Lucinden, dem Wettpreis zwischen Vater und Sohn, ohne alles Hinderniß so empfangen wurde!

Er ahnte einen Hinterhalt und sprach sich auch dahin aus, daß er der bösen Tücke des Kronsyndikus alles zutraue. Ich wäre der Erste nicht, sagte er, den er wie ein Ritter des Faustrechts behandelt hat! In seinen Kellern saßen schon Männer und Frauen aus aller Herren Ländern, und ich wette, daß es da unten aussieht wie in der Blaubartskammer!

Wie es in seinen Kellern aussieht, erwiderte Lucinde, werden sie bald erfahren! Sie sollen bewirthet werden wie … wie ein Sohn des Hauses.

183 Behandelt ihr mich hier, parodirte Klingsohr mit Stellen aus Shakspeare, nach „Verdienst“, so bin ich vor Schlägen nicht sicher! Aber bitte, keine Unarten! Das Mittelalter hat einige Schattenseiten, die ich nicht vertheidigen werde!

Lucinde suchte ihm die Furcht zu nehmen und zog ihn in ein Zimmer, wo sie unbelauschter waren. Wie im Traume folgte Klingsohr. Zum ersten male sah er auch seine Liebe in so prächtigem Rahmen. Sie trug ein leichtes dunkelblaues Kleid; seidene Bänder von gleicher Farbe senkten sich in den braunen Nacken. Schwarze Florspitzen zierten das Haar und bedeckten ebenfalls, zu halben Handschuhen geformt, die jetzt sehr gepflegten Hände. Auf der Brust hatte sie sich den Rosenstrauß befestigt, den Klingsohr mitgebracht, während sie ihre eigenen Blumen theilte, seinen Rock, seinen Hut damit schmückte und noch für den Tisch übrig behielt, um eine kostbare Vase damit zu füllen.

Sie erzählte ihm auf sein staunendes Schweigen alle soeben erlebten Vorgänge bis auf die letzte Enthüllung, die sie sich, weil sie ihr noch schwer zu formuliren war, vorbehielt. Sie kamen überein, daß der Kronsyndikus in dem Doctor einen Verbündeten gegen den Vater gewinnen wollte, einen Vermittler und Beileger des Streites. Lucinde unterstützte vorzugsweise diese Annahme und hatte die Freude zu hören, daß Klingsohr versicherte:

Nun, was ich thun kann, dieser Voraussetzung zu entsprechen, soll geschehen! Sie kennen meine Abneigung gegen meines Vaters Lehre vom Zollstock und der geraden 184 Schnur, Lucinde! Das Leben wird schon ohnehin täglich immer mehr so regelmäßig wie die manchmal recht monotone Natur! Ihm Freiheit abzugewinnen, die Tyrannei des Gesetzes abzuschütteln, das ist unser schönes Ziel, und wenn ich ganz sicher wäre, daß nicht diese Thüren plötzlich aufgingen und einige Geharnischte hereinträten und mich als Geisel festhielten, so würde ich meine Sympathieen für den wilden Freiherrn ganz offen aussprechen. Darauf hin und vorausgesetzt, daß es bald alles, nur nicht Prügel gibt, will ich auf sein Wohl trinken und geloben, den Alten von der Buschmühle soweit es irgend möglich zur Raison zu bringen.

Sie standen jetzt beim Durchschreiten der prächtigen Zimmer gerade an der Stelle, wo der Kammerherr den Türck gemalt hatte. Noch hing das Bild an der Staffelei und Klingsohr brach in komische Bewunderung des neuen „Hondekoeters“ aus, wie er ihn nannte.

Der ist mit verreist? rief er aufs neue kopfschüttelnd. Und man weiß, daß Sie mich aufnehmen? Was ist hier nur vorgefallen!

Der Kammerherr weiß nichts! Nur der Vater! Machen Sie sich’s bequem! Sie werden noch mehr erleben …

Noch mehr?

Lucinde antwortete nur dadurch, daß sie hin und wieder rannte, ordnete und befahl. Nicht umsonst hatte der Kronsyndikus von einem Festgelage gesprochen. Sie ließ nun ein solches für den Doctor mindestens ebenso herrichten wie für die adeligen Gäste. Der Kronsyndikus selbst war im Essen mäßig, aber die häufigen Besuche 185 des „schönen Enckefuß“ hatten das Haus mit den Nothwendigkeiten eines schnellen und einladenden „Tischlein deck’ dich“ eingerichtet.

Geliebte Lucinde, sagte Klingsohr, wie er sie dann wieder plötzlich still stehen und über ihre eigentliche Aufgabe grübeln sah, es gibt eine Erbsünde und es gibt eine Erbtugend! Man spricht davon, daß jene uns um unser Seelenheil gebracht hat und verketzert die vernünftigen Unvernunftslehrer, die diese tiefste und humanste aller Lehren vertheidigen!

Welche Sünde? fragte Lucinde und dachte nur an das Ordnen des Tisches, über dessen acht Ecken längst ein blendend weißes Damasttuch gebreitet war, das sich schon mit Tellern, Gedecken, Gläsern, Flaschen, einem Champagnerkühler und Dessertaufsätzen füllte.

Die Erbsünde, die mit dem ersten nicht verschmähten schönen rothwangigen Apfel in die Welt gekommen! sagte Kling­s­ohr. Wir können ja die Nichtigkeit dieser Erde gar nicht schöner erklären als durch unsere eigene Schuld! Ihr jammert, daß der Frühling seine Blüten verwehen sieht, daß Blüte, Frucht und alle Schönheit der Erde, der Schmetterling und der Mensch, zu Staub verwehen! Ist nur unsere Sünde Schuld daran, so hat ja die Vergänglichkeit dieser Erde ihren erklärlichsten Grund in uns und nicht in der Schöpfung selbst! Man kann ja dann immer noch hoffen auf die Sonne, auf die Gestirne, auf etwas, was jenseit dieser Bezirke, „von wannen niemand wiederkehrt“, liegen wird, Lucinde, und wären es nur Ihre Augen, die als Sterne an den Himmel versetzt werden sollen!

186 Lucinde sagte zu allem: Ja! Ja! Ja! Ja!

Sie hörte kaum; zu schön wollte sie alles machen. Der Doctor sollte wenigstens hinter dem Landrath nicht zurückstehen.

Klingsohr musterte die nach französischer Auffassung in Ala­­­baster ausgeführten griechischen Statuen des Zimmers, die Landschaften aus der Schule Claude Lorrain’s und Berghem’s

Kein anderes Gnadenbild hier, sagte er, als Sie selbst, Lucinde!

Lucinde bestätigte, daß auf Schloß Neuhof die Religion nur in den Wirthschaftsgebäuden und den hintern Wohnungen vertreten sei, den Kammerherrn ausgenommen, der noch immer mit dem schwermüthigen und gewissenskranken Grafen Zeesen in Briefwechsel stand …

Beide reisten in Italien! sagte Klingsohr. Jérôme hoffte schon lange durch Beten ein großer Maler zu werden wie Frâ Fiesole!

Nun waren alle Vorrichtungen des Abendimbisses aufs prächtigste getroffen.

Klingsohr streckte sich mit Behagen in einem Fauteuil, vor dem eben von zwei über alles wie verblüfften Dienern angerichtet werden sollte. Bei jeder Gelegenheit, wo diese Zeugen fehlten, ergriff er Lucindens Hand, diese an sich ziehend, mit Küssen bedeckend und seine Unmöglichkeit, sich in die Märchenwelt zu finden, aufs neue versichernd.

Eben kamen die Diener zurück, lauschend, horchend …

Lucinde fragte, nur um zu sprechen:

Jetzt aber Ihre Erbtugend? Was ist das?

187 Erbtugend, sagte Klingsohr in einem ihm beim Aussprechen von Gedanken und Versen eigenen singenden Tone; Erbtugend! Die ist der ewige Rückschlag des Geistes gegen die Natur! Sie ist die Flut, wenn die Sünde die Ebbe! Sie ist vielleicht auch nur das ewige Philisterium, an dem selbst die Titanen litten, wenn sie zu viel Kaukasuswein getrunken hatten! Möglich, daß dieser Erbtugend jene eingeimpfte Furcht vor der Hölle zum Grunde liegt oder die Furcht vor einer Tracht Prügel, jene Furcht, von der bekanntlich die romantischsten Liebhaber Boccaccio’s und Bandello’s nicht frei sein konnten … Ja! Lucinde! Ich weiß doch, daß ich hier ein Romeo bin, auf den plötzlich „zehntausend Tybalts“ eindringen werden mit einigen Doubletten der altbekannten neuhofer Hundepeitsche!

Lucinde widerlegte jetzt ungeduldig werdend seine erneuerte Furcht und erklärte das festere Schließen aller Thüren durch das Wetter, da es unheimlich dunkel wurde. Der Abend schien ein Gewitter zu bringen. Dunkelbraune und rothe Wolken zogen immer dichter von Westen her. Zwischen dem Läuten der Abendglocken hörte man schon die fernher rollenden Donner.

Klingsohr ergriff Lucindens Hand und sprach, da sie jetzt allein waren und nur noch das zu servirende Mahl fehlte, mit dem eigenen Aufschlag seiner großen, wenn er wollte, festen und bestimmten Augen:

Wol gar einem Eheweib sein Herz verschenkte,
Dem geschah’s, daß man ihn manchmal briet
Oder an einen neuen Galgen henkte!
188 So hört sich noch jetzt, minnt man ein schönes Weib,
Besonders vom Nachbarn Herrn Philister,
Selbst im holdseligsten Zeitvertreib
Ein feurig Geknatter, ein flammend Geknister.
Gibt sie ein Löcklein zum Liebespfand,
Und steckst Du’s zu bergen zur Tasche,
Fühlst Du doch dabei was wie Henkershand
Und um den Hals die vergeltende Masche!

Das ist das Gewissen! sagte Lucinde scharf betonend. Da er sie küssen wollte, hielt sie ihn zurück.

Nein, Erbtugend – wollte Klingsohr in seiner gewohnten Phantastik fortfahren –

Aber indem wurde das Nachtmahl hereingetragen. In dem noch allgemein nachdauernden Schreck vor dem Benehmen des Kronsyndikus geschah dies mit denselben Förmlichkeiten wie bei dem vornehmsten Besuche.

Was ist das nur alles? rief Klingsohr aufs neue, wie irr sich an die Stirn greifend …

Lucinde versicherte, daß allerdings irgendetwas Großes geschehen sein müsse, um den Kronsyndikus so für ihn einzunehmen. Nicht nur, daß er diesen Empfang angeordnet hätte, auch für die Entdeckung, daß beide schon lange sich sähen und sprächen – der buckelige Stammer hätte geplaudert – wäre seine Milde bewundernswerth gewesen. Er dächte daran, setzte sie hinzu, sie ganz so glücklich zu machen, wie er … wie sie … selbst es zu werden wünschte.

Lucinde! rief Klingsohr voll Entzücken und warf Gabel und Messer fort. Wann wirst du mein? Bald! Bald! „Balde auch du!“ singt Goethe. Warum kommt 189 mir das traurige „Ueber allen Wipfeln ist Ruh“ in diesem Augenblick! Nicht wahr? Die Speisen – sind vergiftet?

Als Lucinde ein Ja! nickte und dabei auffuhr, um nach der Fortsetzung des Mahles zu klingeln, verfolgte er sie.

Hexen, sagte er, Giftmischerinnen gab es von je auf Neuhof! Du selbst bist eine von diesen alten Alraunen, diesen Zauberweibern … gerade so eine Hexe, wie meine Mutter von einer erzählte, die sie das Fräulein Gülpen nannte …

Au! unterbrach er sich selbst mit einem leisen Schrei.

Was ist? fuhr sie doppelt betroffen zurück. Klingsohr hatte den Namen der Hauptmännin in dem Augenblick ausgesprochen, wo er seine röthlichen kurzen Locken an ihr Brusttuch drückte … Er antwortete:

Wenn ich dich küssen soll, mein Kind, was soll es taugen,
Daß du mit Nadeln dir besteckst die Brust!
Den Liebenden war immer nur bewußt:
Gott Amor sticht ins Herz und keinem in die Augen!

O! rief Lucinde und sah ihr Vergehen … An der Wange, dicht neben einer seiner vielfach schon zwischen ihnen besprochenen Narben, hatte eine Nadel ihm eine leichte Schramme gerissen.

Lucinde riß die Nadel vom Tuche, griff nach der Krystallflasche voll Wasser auf dem Tische, goß Wasser in die hohle Hand, tauchte ihr Taschentuch ein und drückte es ihm auf die wunde Stelle.

190 Dabei war ihr das Brusttuch entfallen und ihr langer dunkler Nacken schimmerte unbedeckt bis zu den Schultern, ihr bräunlicher Hals bis zu den hohen Wölbungen ihrer Brust.

Eben brachte man zwei Leuchter, je drei brennende Kerzen.

Als dann Klingsohr und Lucinde wieder allein waren und sich, auch um ruhiger zu werden, aufs neue zum Mahle gesetzt hatten, richtete sie eine Frage an ihn über Klingsohr’s Mutter, über die Gülpen, ob er diese gekannt hatte und was er von ihr wisse …

Er beantwortete sie mit einer Apostrophe an die Speisen:

Fräulein von Gülpen? Ich kannte sie nicht. Aber sie nennen und fragen: Was mag in dieser Spargelsauce enthalten sein, ist eins! Recht so, Lucinde! Nehmen Sie nichts davon! Diese jungen Erbsen haben eine grünliche Farbe, die über das Pflanzenreich hinaus sich in das Mineralreich verliert; ich wette, man kochte sie in derjenigen kupfernen Pfanne, die seit dem letzten der unerklärten Todesfälle auf Schloß Neuhof noch immer nicht verzinnt worden ist. Diese Hühner hört’ ich noch vor einer halben Stunde im Hofe gackern! Sie erwecken unwillkürliche Mordgedanken, und nur der Champagner weckt mir kein Jugendmärchen auf von der alten westfälischen und Tugendbundzeit, in der ich 1809 geboren wurde. Da gab es hier, während mein Alter im Walde geheim mit den Rächern dingte, Corinnen in griechischen Gewändern, die über Kassel aus den Spielhöllen Venedigs und Neapels kamen, Spanierinnen, die wie Ama-191zo­nen ritten, Creolinnen, deren Männer ihren Kopf auf den Schaffoten der Französischen Revolution gelassen hatten und mit dem ihrigen doch noch den Bruder Bonaparte’s, was sag’ ich, ihn selbst verrückt machten …

Aber die Gülpen?

Die soll an diesem Minnehof nur die Ceremonienmeisterin ge­wesen sein! Der buckelige Landstreicher mit der Geige hat geplaudert? Laß dir von dem erzählen oder von seinen Alten hinten … nein, die sind seit den grauen Tagen stumm geworden …

Worüber?

Die Gülpen, oder wie sie sich von einem Jäger, der sie heirathen wollte, nannte, Buschbeck –

Einem Jäger?

Jetzt einem Mönche! Drüben im Franciscanerkloster Himmelpfort! Hast du nie vom Bruder Hubertus gehört?

Die Mönche dürfen nicht auf Neuhof …

Der Jäger war ein Soldat in holländischen Diensten …

Hauptmann …

Feldwebel, Kind! Vielleicht als Lieutenant entlassen! Er ist Laienbruder drüben …

Und war nie verheirathet …

Mit wem?

Der Hauptmännin – Was sag’ ich …

Der Bruder Hubertus kam von den Wilden und ging zu den Wilden! Hier galt keine Ordnung und kein Gesetz und kein Priester! Hast du nicht gehört, daß der Kronsyndikus noch eine Frau am Leben hat?

192 Wie? Wer? Noch eine Frau? Der Kronsyndikus?

In Italien! Man sagt es … Kinder gibt es aller Orten genug von ihm … oder er spielte wenigstens ohne zu wissen den Landesherrn, in dessen Bildniß auf den Groschen sich alle Frauen in gewissen Umständen versehen müssen!

Sie essen ja nicht, Doctor! lenkte Lucinde erröthend ein.

Ich trinke! antwortete Klingsohr. Stoß’ an, sagte er, wie immer je nach der Stimmung abwechselnd mit Du und Sie; stoß an, Lucinde! In Italien schickte er an Jérôme plötzlich einen Kurier, daß er nach Hause kommen sollte … Graf Zeesen, sagte man, hätte ihn bereden wollen, in ein Kloster zu gehen … Der Musikant meint, seine Alten hätten als Grund des Zurückmüssens immer etwas von der zweiten gnädigen Frau gemunkelt!

Die noch lebe? Nein, der Freiherr ist nur einmal verheirathet gewesen!

Ganz recht! unterbrach Klingsohr. Die Schwester vom Grafen Joseph drüben, dem Letzten des Hauses Dorste-Camphausen auf Westerhof! Sie starb früh, nachdem sie zwei Söhne geboren; sie starb, sagt man aus Gram über die Aufnahme jener Gülpen ins Haus. Diese regierte. Als die Baronin starb, genoß der Witwer seine Freiheit, bis plötzlich Ruhe kam mit dem Sturz Napoleon’s. Doch bei alledem ist landbekannt, daß die Klöster und Beichtstühle hier ringsum über den Kronsyndikus die tiefsten Geheimnisse verschließen … Auch mein Vater weiß manches, hält sich aber stumm drüber wie die alten Stammers hinten über die Gülpen.

193 Lucinde wagte nicht, über letztere weiter zu forschen. Sie fürchtete, daß sie hätte sagen müssen, woher und aus welcher Situation sie die „Hauptmännin“ kannte. Aber mit spähendem Blick stellte sie jetzt die Frage:

Und Ihre Mutter?

Klingsohr erwiderte:

Ich kannte sie wenig! Sie starb, als ich sieben Jahre alt war. Nur daß sie ein Bild des Leidens gewesen sein soll, weiß ich. Als der Vater in Magdeburg saß, wurd’ ich in dies Schloß genommen und mit Jérôme erzogen.

Lucindens Unruhe mehrte sich, je näher sie ihrer Eröffnung kam. Sie wußte nicht, was sie that, als sie fortwährend den Champagner trank, den ihr Klingsohr einschenkte.

Unsere Zukunft, Lucinde! Der Traum einer Sommernacht! rief er.

Die Gegend war inzwischen nachtdunkel geworden. Rabenschwarze Schatten hatten sich niedergesenkt, ein immer näher rückendes Gewitter entlud sich …

Das Nachtmahl war bald zu Ende. Nur dem schäumenden Weine sprach noch Klingsohr immer erregter zu. Er weckte da­durch in Lucinden die Erzählungen des Kammerherrn von seiner Unmäßigkeit und den Trinkwetten.

Erzählen Sie von Ihren Knabenjahren! sprach Lucinde.

Klingsohr betrachtete lange die aufsteigenden Perlen des Schaumweins und erwiderte mit dem ihm eigenen halb künstlich, halb natürlich elegischen Tone:

194 Wo seid ihr hin, ihr heilig hehren Tage,
Wo mir ein Stern noch wie ein Engel sprach!
Wo ich geglaubt, ein Regenbogen sage,
Daß immer noch des Himmels Langmuth wach!
Wo in dem Blitze, in der Donner Rollen
Nur eines Vaters Zürnen lag, – der Liebe Grollen!

Der Regen schlug an die Scheiben. Der Sturm tobte … Fenster und Thüren, die nicht geschlossen gewesen, schlugen klirrend und krachend an …

Aber Lucinde drängte:

Nein! Beginnen Sie anders! Ihre Mutter …

Ha, ich weiß, sagte er, du willst von meiner ersten Liebe hören, Lucinde! Ja,

Wenn sie leicht und zierlich
Mir vorüberflog –
Und ich hübsch manierlich
Meine Mütze zog –

Nichts, nichts von dem – sagte Lucinde …

Das Lied ist nicht lang, Lucinde! unterbrach er sie. Nur den Schluß will ich dir sagen. Diese Liebe endete, als Amanda eines Tages keine Hosen mehr trug; das hübsche Ding war in dem Augenblick fünf Jahre älter geworden und kannte mich nicht mehr. Schülerliebe!

Gut! Gut! Aber wo sind Sie geboren?

In der Buschmühle!

Und Ihre Mutter? Erzählen Sie von ihr!

Ein Donnerschlag erschütterte in diesem Augenblicke das Schloß, daß es bis auf den Grund erbebte. Die Diener kamen nicht mehr … Klingsohr rückte seinen Sessel dem Divan näher und zog Lucinden an sich und 195 streichelte ihr Haar und sah ihr in die scheu und ängstlich umblickenden Augen und hielt die Hand über ihre dunkeln Brauen, gleichsam als wenn er das Rollen der schwarzen Sterne in dem weißen Emailgrunde beruhigen, das Zucken der Wimpern beschwichtigen wollte.

Jetzt begann er von seiner Mutter …

In einem langen weißen reinen Gewande, sagte er, muß diese Edelste ihres Geschlechts aus der Welt emporgestiegen sein! Ringsum lag die Sünde – sie allein erhob sich aus ihr, sie, die einzig Reine! Eine Natter klammerte sich noch an ihren Fuß, die zertrat sie! Wie ich geboren wurde, verlor jene Gülpen die Herrschaft im Schlosse –

Schon 1809? unterbrach Lucinde … Sie sah, wie viel Jahre es gebraucht hatte, ihre Peinigerin so geistig und körperlich zu zerstören, wie sie sie gefunden hatte!

Wie das alles zusammenhängt, fuhr Klingsohr fort, weiß ich nicht …

Lucinde faßte sich jetzt Muth und sprach:

Ich will es Ihnen sagen!

Klingsohr horchte auf. Lucinde erzählte noch umständlicher den Vorfall, den man heute mit dem Kronsyndikus erlebt hatte. Sie er­zählte das Verbrennen von Papieren, seine Unruhe, seine eilige Ab­reise, den Eindruck, den ihm die Ankunft des Doctors gemacht, seine Eröffnung über die Art, wie sie ihn aufnehmen sollte …

Eben zuckte durch das Zimmer ein Blitzstrahl.

Klingsohr erhob sich und wurde aufgeregter …

Wie Lucinde fortfuhr und das Ziel ihrer Eröffnungen immer leiser sprechend schon völlig verständlich angedeutet hatte, ergriff er ein Glas, schleuderte es wild zu Boden, 196 daß es zersplitterte, rieb sich die Stirn und rannte zum Fenster, als müßte er mit dem Kopfe durch die Scheiben hindurch in die tobende Nacht und die Donner hinaus.

Ihr seid wahnsinnig! schrie er. Alle, alle hier seid ihr’s!

Lucinde nahte sich, bat ihn, sich zu mäßigen; sie sagte ihm, er möchte sich fassen, möchte ruhig hören …

Nein! rief er und schleuderte nun auch sie zurück mit den Worten:

Circe! Machst du Menschen zu Eseln? Zu Mauleseln? Bin ich verrückt?

Jetzt riß er das Fenster auf, daß der Regen nur so hereinströmte.

Lucinde ließ ihn erschreckt erst gewähren …

Ich liebe meinen Vater! rief er, und sog die Tropfen ein und bestrich sich mit dem Regen Stirn und Wange. Ich liebte ihn von jeher dann, wenn ich mich hassen mußte. Und nun vollends … meine Mutter!

Lucinde schloß das Fenster.

Klingsohr rannte auf und nieder …

O ich weiß jetzt, wozu ich hergelockt bin! Zur Rache gegen meinen Vater! Geistigen Rache! Zur Demüthigung unsers Namens! Schändung einer Asche unter der Erde!

Ihr Vater ist der Kronsyndikus! sagte Lucinde mit einer Festigkeit, als spräche sie von Dingen, die ihrer Jugend völlig angemessen waren.

Ein convulsivisches Gelächter erstickte den ersten Aufschrei des zu seiner übrigen Erregung nun auch noch halb Berauschten.

Ruhig fuhr Lucinde fort:

Darum sorgt er für unsere Zukunft!

197 Ha, ha! Und nun sprach Klingsohr plötzlich wie sich und die ganze Situation parodirend, plattdeutsch, dem ohnehin schon eine komische Wirkung beiwohnt. Er parodirte ihren feierlichen Ernst. Sie wandte sich zum Schmollen ab und ließ ihn stehen.

Klingsohr warf sich in seinen Sessel und blickte geisterhaft vor sich hin …

Das in der Natur tobende Wetter hatte sich etwas gemildert. Man hörte nur den gewaltig strömenden Regen. Dann setzte er sich ruhiger zu Lucindens Füßen auf eine Fußbank und das Haupt auf beide Hände stützend sprach er dumpf:

Bastard! Glaube das nicht, du innerer, allzu eitler Dämon! Ja eitel! Wir werden die Ursachen dieses tollen Spukes erfahren! Nur allzu sehr fühl’ ich in mir – das dienende Blut! Altes Sachsenblut? Auch ich? Wie wurden die großen athletischen Gestalten mit den hängenden rothen Haaren unter dem Bärenkopf in die Weser getrieben, um von ihrem Odin und von ihrer Freyja zu lassen! Wie saßen sie hoch zu Roß, als sie dem Banner ihrer Herzoge folgten! Wie dingten sie mit dem Kaiser und den Bischöfen um ihr Recht und loderten auf um einen „Strohhalm“, der ihrer Ehre im Wege lag! Und selbst noch im brocatenen Kleide mit der Perrüke und dem steifen Degen an der Seite, wie sie da unten den Westfälischen Frieden schlossen, schritten sie gravitätisch einher, langsamer, schwerfälliger, aber fester auch auf ihre grüne Hufe vertrauend als irgendwer im übrigen Deutschland! Dem englischen Lande gaben sie die rechte Volksmischung und tausend Jahre später einen König. Und wie haben 198 sie diese vier- und sechsspännig fahrende Weise bewahrt bis auf den heutigen Tag! Ob sie platt- oder hochdeutsch reden, sie lispeln nur und jedes Wort ist Schießpulver, wie Heinrich Percy’s! Schlank ist ihr Wuchs, behend ihre Haltung! Wenn auf der Universität alle andern deutschen Stämme durcheinander fahren, der Bayer phlegmatisch, der Franke windig, der Schwabe der andern Stichblatt, der Thüringer von ewiger Wehmuth durchdrungen ist trotz des allerdünnsten Biers, der Obersachse schwätzt, der Märker aus Blödigkeit, die er nicht eingestehen will, grob und maliciös wird, … stehen wir Niedersachsen und Westfalen da wie die schlanken Tannen am Bergesrand, fest und sicher wurzelnd; ein Wort ein Mann, von einer Vornehmheit, der kein deutscher Stamm sich gleichstellen kann! Man muß uns handeln sehen um ein Roß! Kurz und bündig! Sechzig Pistolen ohne Halftergeld! Spitz, scharf, weich der Ton! Fest die That! Ach, vergib mir, Geist meiner guten, vielgeprüften Mutter, daß ich dich Arme, die Witwe eines mit dem Geist der Zeit Vermählten, der dich einsam daheim ließ am Spinnrocken, lästere! Loreley, nein! Hörtest du’s? Ich würde mir leider, leider nichts draus machen! Mag ich immerhin um eine Minute vor halb sieben statt zwei zu früh auf die Welt gekommen sein, aber es ist ein schlechter, elender, gemeiner Spaß deines frevelmuthigen Alten, und du thust recht, arme Gläubige, daß du entschlummerst. Die Bürde dieser Lüge war zu schwer für dich!

Ermüdet vor Aufregung, eingelullt durch den Wein und die gespenstische Weise des wie immer dergleichen 199 im Prophetenton vor sich Hinsprechenden, ließ Lucinde es geschehen, daß der düstere Träumer, in dessen Seele es gleichfalls schon lange mehr zur Nacht als zum Lichte sich zu wenden schien, ihre Hände ergriff, diese küßte, näher und näher seine Wange an die ihrige schmiegte und sie in ganzer Länge auf den schwellenden Divan ausstreckte.

Eine Weile betrachtete er sie mit gefaltenen Händen …

Dies sah sie noch … ihr Auge blieb offen oder blinzelte doch … Ihre Mienen waren in ein Lachen wie erstarrt …

Jetzt ein Epheukranz um dein Haupt, flüsterte Klingsohr, der Thyrsusstab mit Weinlaub in deiner Hand, ein Pardelfell unter dir, und die Bacchantin erwartet ihren Praxiteles!

Lucinde verstand nichts. Sie hauchte nur:

Doch! Doch! Doch!

Doch hat der Kronsyndikus recht! war ihre Meinung.

Klingsohr verstand, was sie sagen wollte, und gerieth in Sinnen. Seine Phantasie malte sich die Möglichkeit aus – und wie bei solchen Naturen dann geschieht, sah er allmählich die Wirklichkeit. Jetzt als wenn ihn Furien peitschten, er müßte und sollte glauben, erhob er sich und sprach unausgesetzt, wol ein halb Dutzend mal, vor sich hin:

Wär’ es denn möglich? Wär’ es denn möglich?

Indem meldeten die Diener das Nachlassen des Regens …

Spannt ein! rief Klingsohr wild und erhob die Flasche.

Und wieder schenkte er voll und nicht mehr in die kleinen spitzen Gläser, sondern in Wassergläser. Er credenzte 200 ebenso Lucinden, die trank, weil sie Wasser zu nehmen glaubte …

Drei Späne aus dem Thor der kleinen Buschmühle! lallte Klingsohr und zog den Ton wie durch die Zähne, sodaß es schneidend hämisch und bitter erklang. Ich wette, daß ich sie unten finde, du alter Freigraf der Feme! Am nächsten besten Baum kann der Freirichter Wittekind keinen jetzt mehr henken, so hat er dem Vater einen andern Streich spielen wollen! Ist nicht eine Schlange das Wappen der Wittekinds? Nein, ein Lindwurm! Aber ich will Feindschaft säen unter den Samen der Schlange, spricht der Herr! Ich werde mich nach diesem Schurkenstreich mit meinem Alten aussöhnen. An der Mühle wollen wir sitzen und wenn das Rad klappert, nehmen wir das Gesangbuch zur Hand, wo die Mutter deutlich eingeschrieben: Den 13. August 1809 geboren mein Heinrich Otto Alexander! Alexander! Mein Alter hoffte auf Rußland damals! Heil von Moskau! Und warum nicht auch! Nur – „Gott ist groß und der Zar ist weit!!“

Seufzend wankte er zu Lucinden, beugte sich über sie und sprach jetzt leise und wie singend:

Träume! O träumtest du:

Wer regt sie der Winde so mannichfalt?
Nur Einer!
Es blitzen die Farben im hellen Krystall,
Sind’s tausend der Strahlen vom Sonnenball?
Nur Einer!

201 Ich, ich, ich erwidere dir, Mädchen:

Es klopfen viel tausend Schläge der Brust,
Wer führt sie, die Hämmer in Schmerz und in Lust?
Nur Eine!
Was hebt dir die Seele, was sprengt dir das Sein?
Ist’s Himmel? Ist’s Erde? … Allein, allein
Nur Eine!

So sprach Klingsohr.

Fiebernd, im Taumel der entfesselten Sinne hatte er sich über die Halbschlummernde gebeugt … zurückgesunken und halb auf dem Divan ausgestreckt, hielt sie den linken Arm rückwärts unter das Haupt gelehnt … mit dem rechten wehrte sie kraftlos stürmischere Zärtlichkeiten ab … das Bewußtsein verging ihr … die Augen schlossen sich, müde wie damals im Walde mit Oskar Binder.

Sie träumte schon, ehe sie ganz entschlummert war.

Selbst eine heftige Erschütterung, die sie annehmen lassen mußte, daß Klingsohr plötzlich aufsprang, erweckte sie diesmal nicht.

Sie hörte ein fernes Brausen wie an einem Wasser. Es konnten Thüren, Schritte, Stimmen durcheinander sein … sie träumte von bunten Wolkenwagen, von Farben des Regenbogens … sie sah ihre Tauben wieder, die den Wolkenwagen zogen, sie sah alle die glänzenden Shawls, Teppiche, Kleiderstoffe aus dem Magazin des Herrn Guthmann rings drapirt über dem Regenbogen und kleine Gnomen trugen alles ab und zu, und wieder waren es doch die lächerlichen Modegecken im 202 Bazar Guthmann, und ein langes Maß von Papier zog der eine und dem andern wurde unter der Hand eine Reihe von Sternen daraus … und dann waren es die Blumenbüschel und blauen Glocken, die sie im Walde am Fuße des Eggegebirges einst im Sinken am Riedbruch in der Hand gehalten, und alles um sie her wurde dann grün und immer grüner und mit zwei funkelnden Augen lag plötzlich jene Eidechse auf ihrer Brust, die damals unter dem moosbewachsenen Steine aufschlüpfte …

Nun erwachte sie.

Um sie her war es still. Die Lichter waren ausgelöscht bis auf eines, das fast niedergebrannt war.

Sie mußte so schlummernd, erst heiter, dann angstvoll träumend, mindestens schon eine Stunde gelegen haben.

Sie richtete sich empor. Was war geschehen? Hatte sie Klingsohr verlassen, ohne sie zu wecken?

Nichts war zu hören als das Klappern einer fernen nicht geschlossenen Thür.

Die Reste der Mahlzeit, die leeren Flaschen und halbgefüllten Gläser standen unabgeräumt, wirr durcheinander. Sie boten jenen Anblick, der nach einer Orgie die Sinne so ernüchtert, die Empfindung so beschämt und empört …

Unendlich müde, wie zerschlagen an allen Gliedern, durchfröstelt von der kühlen Luft des Zimmers, das geöffnet gewesen sein mußte, suchte sie nach Menschen, die noch wach waren. Alles war wie ausgestorben … Von Klingsohr war ihr doch gewesen, als hätte sie im Traum 203 gehört, wie er laut über sie hinweggerufen, an ihr gerüttelt hätte, und Menschen mußten im Zimmer gewesen sein, alle Stühle standen ja in Unordnung, der getäfelte Fußboden knirschte sogar von förmlichem Schmuz … Sie sah zum Fenster hinaus … Es war tiefe, stille Nacht … Die große Wölbung der fast unermeßlichen Fernsicht über Wiese, Wald und Feld hin eine einzige schwarze Finsterniß, die kein Stern erleuchtete … Die Regenwolken hingen trüb und schwer. Sie öffnete, streckte die Hand hinaus; sie fühlte, daß die Luft kühl war, doch nicht mehr tropfte …

Sie gedachte jetzt deutlicher Klingsohr’s, gedachte erschreckend seiner letzten Zärtlichkeiten, die sie mit schon geschwundenem Bewußtsein hingenommen, seiner wilden, vermessenen, wie ein schneidender Luftzug noch durch ihre Seele gehenden Reden. Ihr war nur am Muthe des Mannes gelegen, an seinem Trotz, an seiner Herausforderung gegen Menschen und Geschick, und in dem, was sie heute und schon oft von Klingsohrn gehört, lag doch eher eine Thatkraft, die sich nur künstlich aufstachelte … Sie gedachte schreckhaft des Kammerherrn; sie glaubte die Thür sich öffnen zu sehen und das kratzende Scharren eines Hundes zu hören. Nun faßte sie den Gedanken, ob sie noch zu dem Pavillon in den Park könnte, wo sie doch eigentlich wohnte. Hatte man sie vergessen? Sie nahm das Licht, um auf die Treppe und dann über den Hof zu schreiten.

Erst mußte sie durch die langen Corridore, wo rings an den Wänden die Spiegel ihre eigene Gestalt wiedergaben. Wie sah sie aus! Wie aufgelöst hing das Haar! 204 Wie lag das Kleid von den Schultern herab! An die Spiegel mit dem Lichte tretend, bebte sie zurück, weil sie plötzlich der Sage gedachte, daß es mit dem Glockenschlage zwölf unheimlich wäre mit einem Licht sich im Spiegel zu sehen

Doch bis zum Hofe kam sie nicht, nicht einmal bis zur Treppe; die offen stehende Thür machte einen Zugwind, der ihr das Licht ausblies.

Nun stand sie vollends erschreckt. Sie rief:

Lisabeth! Lisabeth!

Keine Antwort, als das Echo des langen Corridors …

Sie tastete sich zurück zu den vordern Zimmern. Hier aus dem Fenster zu rufen war den Sternen gesprochen …

Nun wankte sie dem Divan wieder zu und hielt sich an der kalten Marmorbekleidung des Kamins … verwünschend die Rücksichtslosigkeit, die sie hier so preisgeben konnte.

Als sie sich aber niederlassen mußte, weil es sie fieberisch fröstelte, fühlte sie etwas wie einen Mantel. Erschreckt fuhr sie zurück. Es war eine Decke, eine der gesteppten, die unter die Federbetten gebreitet werden.

Man hatte also doch an ihre Ruhe gedacht und vorausgesetzt, daß sie hier und auf dem Divan die Nacht zubringen würde.

Ihr Fuß stieß auch an ein Federkissen, das hinuntergeglitten war. Sie konnte es unter ihren Kopf legen und that es.

205 Sich in ihr Loos ergebend, streckte sie sich, um zu schlafen, drückte den Kopf in das untergelegte Kissen und zog die Decke über sich.

Es wurde ihr wärmer; aber die Bilder der erregten Phantasie wichen noch lange nicht … Immer sah sie Leben und Bewegung um sich her. Jede zufällige Berührung weckte eine Vorstellung. Klingsohr’s Gestalt konnte sie nicht sehen, aber hörbar blieb ihr seine Stimme. Immer noch glaubte sie ihn reden zu hören und zwischendurch öffnete der Kronsyndikus die Thür und fragte: Schläfst du? … Auch den Deichgrafen sah sie durchs Zimmer schreiten und die Ahnenbilder in den goldenen Rahmen stumm betrachten … dann wurde die Reihe der Gestalten immer ferner, nebelhafter wurden ihre Umrisse … Sie sah die Frau Hauptmännin Tauben morden und Mäuse fangen aus freier Hand und vor schönen Prinzessinnen knixen und sie dann in den Keller sperren, wohin sie ihnen in der Nacht Besuche machte, mit der Lampe über ihnen hinwegleuchtend und lachend, wenn eine Ratte an ihnen nagte … gerade wie sie ihr einst gethan … Die eine Schlummernde war ihre todte Schwester; die erhob sich aber und setzte sich an ihren eigenen Nähtisch, kleine Hemden zu nähen, die wol den beiden noch lebenden Geschwistern im Waisenhause gehören sollten … auch diese erschienen und winkten so seltsam und so abwärts … und die drei andern kleinen Geschwister, die am Scharlach gestorben, sah sie mit Blumen bekränzt und eine wundervolle Musik begann … es waren die Flötentöne der Harmonica … es war die Kirche in Eibendorf … die Kirche der Residenz 206 dann wieder … das Gesangbuch der Magd im Hause des Stadtamtmanns blitzte in seinem Goldschnitt und schlug sich hell auf … sie las Warnungen, Mahnungen, unterdrückte und hier offen ausgesprochene Vorwürfe ihres Gewissens … bis sie dann fester einschlief, aber doch immer noch in der Vorstellung, den Vater zu führen, alle die schmalen Brückenstege von Langen-Nauenheim entlang, und dem schwer dahintaumelnden kleinen Mann, der seinen Hut verloren und, mit den weißen Haaren im Winde, immer nach dem Kopfe griff, zuzurufen: Vater hier! Vater hier!

So war ihre letzte Erinnerung …

Am folgenden Morgen weckte sie die Lisabeth und brachte die schreckliche Kunde, daß man gestern Nacht im Düsternbrook den Deichgrafen in seinem Blute schwimmend und – ermordet gefunden hätte.

207 14.#

Als Lucinde dies grauenvolle Wort hörte, sprang sie empor.

Sie verstand nicht einmal gleich, was sie hörte.

Sie wußte anfangs kaum, wo sie war.

Die Mägde hatten schon aufgeräumt und über dem gelben Plüschsammt hingen schon wieder die grauen Ueberzüge. Nur sie hatte man den erquickenden Schlaf noch genießen lassen.

Die Lisabeth wiederholte die grauenvolle Mittheilung:

Der Deichgraf ist todtgestochen! Gestern! Im Düsternbrook!

Aber der Doctor? fragte Lucinde erblassend und sich auf alles Gestrige jetzt erst besinnend.

Sie schliefen gerade, hieß es, als die Leute, die auf der Buschmühle arbeiten und den Weg über Neuhof nehmen, wenn sie nach Hause wollen, die Nachricht brachten. Es war um neun Uhr.

Ermordet! wiederholte Lucinde schaudernd und sich auf das, was damit zusammenhängen konnte, besinnend …

Abgestochen mit einem Messer, gerade wie man einen 208 Karpfen absticht, dicht am Kiemen! fuhr die Lisabeth fort. Im Regen lag er hart am Grenzstein bei der großen Eiche. Mit dem Menschen, der’s gethan hat, muß er gerungen haben auf Leben und Tod!

Aber wer war es denn?

Die Lisabeth wußte niemand zu nennen, erzählte aber von der Bewegung auf dem Hofe und in der ganzen Gegend …

Und der Doctor?

Dem hätte man’s gestern Abend sogleich gesagt. Er hatte wie versteinert gestanden, sie erst wecken wollen, dann wäre er hinuntergeschlichen in seinen Wagen, wie ein Schatten. An den Glaswänden hätte er sich wie ohnmächtig gehalten und wie er sein Antlitz drin gesehen, hätt’ er sich an den Kopf geschlagen und einigemal gelacht, gelacht nämlich vor Schmerz …

Die Lisabeth erzählte, wie es auch ihr immer ginge, daß sie vor Schmerz lachen müßte und daß sie schon einmal drum einen Doctor gefragt hätte. Die Aerzte wissen, was sie alles dem Volke leisten sollen! Sie werden gefragt, ob sie nicht Tränke hätten, daß man gerade nur dies oder das träume, und zu manchem Arzt schon kam eine Mutter und verlangte ihrem Kinde etwas verschrieben, weil es so leicht „schrecke“.

Von den Nerven Lucindens wissen wir schon, daß sie gegen den Schreck gestählt sind.

Was aber sagte denn nur der – Doctor? fragte sie.

Der wollte Sie nur wecken, hieß es weiter, und als Sie nicht hörten, schlich er davon und in den Wagen war er und sein Gaul zog ihn fort, wir wußten selbst 209 nicht wie. Hernach sagte Stephan, der spät aus dem Wirthshaus kam, es wäre besser gewesen, es hätte ihm eins sein Roß geführt: er hätte auf die Nacht ein Unglück haben können … es geht schroff ab bis zur Busch­mühle.

Dort fand er schon den todten Vater? fragte Lucinde kopfschüttelnd.

Stephan, fuhr die Lisabeth fort, war der erste, der den Deichgrafen gefunden hat. Es fehlte ihm ein Stemmeisen. Da war’s ihm doch, als ob er’s im Grund hätte liegen lassen an der großen Eiche. Nun ging er hinunter und im Schummer schon. Gleich sah er, wie da alles durcheinander lag an seinem Werkplatz. Der Stein mit dem Adler war weggeschoben, rundum alles zertreten, und wie wenn es Streit gegeben. Und nun, Marie Joseph! da fand er denn auch den Deichgrafen gerad’ auf dem Gesichte liegend. Hier, sehen Sie, hier am Hals, da wo schon manche ein neugeboren Kind mit einer Stecknadel umgebracht hat, gerade da hatt’ er’s weggekriegt; nicht drei Zoll tief war der Nickfänger hineingefahren, sagte Stephan.

Der Nickfänger? fragte Lucinde. Woher weiß man denn von …? Was wird der Kronsyndikus sagen? fügte sie jetzt noch ganz harmlos hinzu.

Die Lisabeth sah Lucinden groß an. Sie schien zu erstaunen über eine Frage, die geringe Menschenkenntniß verrieth. Lucinde war in der That von den sonstigen Dingen, die in ihr lebten, so erfüllt, daß sie kaum noch an die auffallende gestrige Rückkehr des Kronsyndikus dachte.

210 Die Lisabeth erklärte zunächst das späte Ausbleiben Stephan Lengenich’s. Er hätte im Wirthshaus den Vorfall wol zehnmal wiederholen müssen. Die Leiche war in die Buchmühle getragen worden und jetzt säße schon ein Actuar ans dem Amte Lüdicke unten und im Düsternbrook würde alles nach Befund aufgenommen. Daß es in dem ganzen Kreis eine nicht geringe Zahl von Menschen gab, die mit dem Theilungscommissar in Streit lagen, und daß man ihm gerade an dem einsamen Düsternbrook hatte aufpassen können, stand fest. Ein Verdacht auf diesen oder jenen, der der Thäter hätte sein können, wurde nicht ausgesprochen; die Lisabeth selbst war zu klug, die Gedanken, die der ganze Hof schon über den Kronsyndikus theilte, Lucinden mitzutheilen.

Es war eine dumpfe Schwüle, die den Vormittag über Schloß Neuhof und allen seinen Bewohnern lag. Die Arbeiten gingen lässig. Jeder hatte die schreckensvolle Thatsache zu wiederholen und zu erörtern. Lucinde begriff dann allmählich, daß die sonderbare, allen ersichtlich gewesene Aussöhnung des Kronsyndikus mit dem Sohn des Deichgrafen allgemein in einen Zusammenhang mit dem Vorgefallenen gebracht wurde. Die Unruhe und das Geheimnißvolle wuchs, als Stephan Lengenich, der allerdings im offenen Kriege mit dem Deichgrafen gelebt hatte, auf gerichtliche Requisition abgerufen wurde und am Abend nicht wiederkam. Die Vorstellung, die schon auf dem ganzen Schloß feststand, daß der Kronsyndikus der Mörder gewesen, theilte sich endlich auch Lucinden mit, und als erst der Inspector der Brennerei, die wichtigste Person 211 auf der Oekonomie, erklärte, es würde doch wol nothwendig sein, daß der Kronsyndikus auf Eggena durch einen Expressen von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt würde, und dabei die Miene eines Mannes machte, der wie von etwas an sich ganz Ueberflüssigem sprach, wandte sie sich erblassend ab und ging dem Parke zu, überlegend, ob sie nun nicht selbst zur Buschmühle sollte. Die Wege dorthin waren aber übermäßig vom Regen aufgeweicht und Beistand mochte sie nicht begehren. Schon war ihr, als wäre sie eine Mitschuldige, die vor allem den Kronsyndikus zu schonen hätte! … Darum war Heinrich sein Sohn! Darum wollte er ihm gleichsam die Hände binden! So sprach sie mit sich im Pavillon und blickte gedankenvoll in den düstern Park. Der Sturmwind peitschte wieder die Zweige der hohen Ulmen und bog selbst die Stämme. In ihrem Innern sah es nicht anders aus.

Einer Nachricht von dem Doctor harrte sie mit jeder Minute entgegen. Diese kam aber nicht. Der Tag ging über das grauenvolle Ereigniß hinweg, auch eine aufgeregte, halb schlaflose Nacht. Von dem Doctor war nichts zu hören und zu sehen; selbst dem gewöhnlichen Boten, dem buckeligen, grauhaarigen Sohn der Alten, bei denen sie wohnte, dem Musikanten, hätte sie seinen Verrath verziehen, wenn er nur eine Mittheilung gebracht hätte. Als dieser aber kam, den Vorfall wiederholte und obenein noch hämisch lachte und seinen nun auch wie aus ihrer Lethargie erwachenden und grinsenden Alten von einem Schaffot sprach, über das erst ein Sammttuch gebreitet werden müßte mit 212 einem geflügelten und gekrönten Lindwurm – dem Wappen der Wittekinds – da ergrimmte sie aufs heftigste, verbot ihm im Pavillon zu bleiben, riß, da er nicht gehen wollte, das Fenster auf, warf seine Geige weit in die Nacht hinaus, zwang ihn, seinem Instrumente, das er auf allen Kirchweihen und an jedem Sonntage in den Schenken um Witoborn strich, nachzulaufen und schloß indessen, mit einigen Sätzen von der Treppe ihm nachspringend, die Thür des Pavillons. Die Alten vergegenwärtigten sich inzwischen, welchen „Stein im Brete“ Lucinde vorn im Schlosse hatte, und ließen sie aus Furcht gewähren.

Auf dem Hofe fehlte das Auge des Herrn. Der Bote hatte vom Vorwerk Eggena die Nachricht gebracht, der Kronsyndikus würde in der Frühe zurückkommen. Er kam aber noch am Mittag nicht. Am Abend traf er dann endlich ein. Er allein, ohne den Kammerherrn. Lucinde hörte das von den Alten, die beim Hofkehren ihn hatten aussteigen und vom Landrath, der ihn begleitete, Abschied nehmen sehen … noch immer war er in seiner glänzenden Uniform. Jetzt drängte sie’s, zu ihm zu eilen, und doch fürchtete sie sich, dem Entsetzlichen entgegenzutreten. Auch mußte sie nach dem Vorgefallenen, nach dem Beweise des höchsten Vertrauens, das er ihr geschenkt, glauben, er würde bald aus eigenem Antriebe entweder selbst kommen oder um sie schicken.

Da es endlich dunkel wurde und sich niemand bei ihr sehen ließ, auch vom Doctor immer noch keine Kunde kam und nur erzählt wurde, am folgenden Morgen würde auf einem der nächsten Kirchhöfe, der zu einer kleinen evangelischen Gemeinde gehörte, der Deichgraf bestattet werden, 213 und als dann auch Abends von dorther klagend und fast wimmernd zwei kleine Glöcklein aus dem Thale heraufklangen, hielt sie es so nicht länger aus. Sie wagte sich über den großen Weiher des Parkes, dessen gefiederte Bewohner schon längst die Stockwerke ihres Thurms bezogen hatten, hinaus, sie wollte sich in den Zimmern des Kammerherrn zu schaffen machen und so den Vater an ihre Gegenwart erinnern.

Wie erstaunte sie aber, als sie dasselbe Gefährt, in welchem vor zweimal vierundzwanzig Stunden Heinrich Klingsohr angekommen gewesen, an der hintern Aufgangstreppe des Schlosses stehen sah und erfuhr, der Sohn des Deichgrafen wäre oben mit dem Kronsyndikus allein und niemand dürfte sie stören!

Sie traute ihrem Ohre kaum. Jetzt sah sie jedenfalls die Bestätigung erst der Unschuld des Kronsyndikus überhaupt, dann aber auch wieder, aufs neue grübelnd und die Vorgänge vergleichend, die so nahe Verwandtschaft zwischen beiden.

Von den Leuten erfuhr sie, daß die Aussichten auf Entdeckung des Mörders sich gemehrt hatten. Theils behauptete man, daß von einem Morde überhaupt nicht die Rede sein konnte, sondern nur von den Folgen eines Wortwechsels. Hatte der Deichgraf beim Streite sich gewandt und war ein gezücktes Messer (ein gezogener Hirschfänger, wagte schon niemand mehr hinzuzusetzen) so unglücklich gewesen, gerade im selben Augenblick in den Nacken zwischen die Halswirbel zu fahren, so drehte er sich noch einen Augenblick ein wenig um und „weg war er“, wie Kenner versicherten. Man erzählte, daß so die 214 Jäger mit dem Nickfänger dem Todeskampfe eines erlegten Hirsches im Nu ein Ende machen. Alle aber wußten, daß sich die Umstände, wie es hergegangen, immer mehr lichteten, seit man einem Fetzen Tuch, den sicher im Ringen das Opfer seinem Mörder vom Kleide gerissen, diese einstimmige Erklärung gab. Man wußte auch, daß der Tuchfetzen von Farbe grün gewesen. Allen stand freilich, ohne daß eine Silbe laut wurde, dabei der Kronsyndikus vor Augen, der so ängstlich vorgestern seinen grünen Jagdrock bis oben hin zugeknöpft gehabt hatte, allen war begreiflich, daß der Geruch, der sich so pestilenzialisch im Schlosse nach seiner Rückkehr aus der Gegend des Grundes her verbreitet hatte, nur von einem verbrannten Kleide herrühren konnte … aber niemand verweilte dabei ersichtlich, die einzige Lisabeth ausgenommen, die wie sinnlos hin- und herrannte, seitdem Stephan Lengenich aus Lüdicke nicht wiederkam.

Indem klingelte es beim Kronsyndikus aufs heftigste … jeder glaubte, dort wäre Hülfe nöthig … Lucinde bebte … die Lisabeth suchte nach Fassung … sie schickte einen Diener, um die Befehle des gnädigen Herrn zu holen.

Nach wenig Augenblicken kam der Diener zurück … Das Roß sollte ausgeschirrt werden!

Ausgeschirrt? war nur ein Ton, den alle zugleich sprachen. Man zerstreute sich kopfschüttelnd. Auch Lucinde zog sich zurück, dem Vorpark zu.

Wieder aber klingelte es …

Der Diener kam aufs neue und brachte die Nach-215richt, man hätte Licht verlangt und – zwei Flaschen Burgunder!

Jetzt wußte Lucinde nicht mehr, woran sich halten. Sie fragte nach dem Kammerherrn, von dem niemand etwas wußte, dann schwankte sie, da nach ihr nicht begehrt wurde und sie auch nicht wußte, wie sie in eine so geheime Zwiesprache eintreten sollte, ihrem Häuschen zu, jetzt sich selbst mit ihrer Jugend und Lebensunerfahrenheit bescheidend. Sie sagte sich, daß sie bei ihren Jahren alles das schon zu verstehen – „zu dumm“ wäre.

Im Pavillon war es düster und gespenstisch. Der Sturm tobte, Zweige brachen. Die Mitbewohner schliefen schon. Sie glaubte immer noch, man würde sie nun wol nach vorne rufen. Es geschah aber nicht. Es verging die zehnte Stunde. Endlich suchte sie fiebernd das Lager …

Das Lied der Prinzessin Ilse aus dem „Liederbuch von Heine“, in dem sie eine Weile gelesen, rauschte ihr noch lange im Ohr:

Es bleiben todt die Todten,
Und nur das Lebendige lebt;
Und ich bin schön und blühend,
Mein lachendes Herze bebt
Und bebt mein Herz dort unten,
So klingt mein krystallenes Schloß,
Dort tanzen die Fräulein und Ritter
Und jubelt der Knappentroß.

Bilder wie vom Hause im einsamen Tannenwald, Bilder vom ledernen Großvaterstuhl und der am schnur-216renden Spinnrad sitzenden Großmutter, Bilder vom wilden Jäger und seinem Liebchen, vom Mondschein, vom Galgen, von Gretchen in ihrem Wahnsinn gaukelten um so mehr um sie her, als die Lebensschicksale der alten Stammers und einer ihnen frühgestorbenen Tochter sich trotz der Dunkelheit, die für sie auf ihnen lag, gespenstisch einmischten. Der Refrain „Dort oben auf dem Schlosse“ blieb sich immer gleich und dazu geigte der buckelige „junge“ Stammer unter ihrem Fenster und wisperten die Alten nebenan. Es war ihr, wie wenn irgendwo Hochzeit gefeiert wurde mit Gästen aus der Unterwelt.

Am folgenden Morgen klagten dann wieder die ihr wohl bekannten, sonst aber selten von ihr beachteten kleinen Glöcklein, die evangelischen; die großen, die katholischen schwiegen.

Vom Doctor erfuhr Lucinde, daß er Nachts zwölf Uhr erst vom Schlosse abgefahren, und vom Kronsyndikus, daß er schon um fünf Uhr in der Frühe wieder vom „schönen Enckefuß“ abgeholt und nach Eggena zurückgekehrt war. Nach ihr war nicht gefragt worden, und sie hörte dies gern, weil es ihr anzudeuten schien, daß zwischen den Menschen, die ihr werth waren, Friede herrschte.

Auch auf Schloß Neuhof war große Bewegung, denn um acht Uhr sollte der Deichgraf begraben werden.

Aus der Nähe und Ferne, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen strömten Theilnehmende herbei.

„Es war ein Mann! Nehmt alles nur in allem!“ 217 klang seine Nachrede – erst am Grabe von der aufgeschütteten Erde aus, dann aber selbst bis in die fernsten Gauen des Vaterlandes.

Man legte Eichenkränze auf seinen Hügel. Sie wurden auch im bildlichen Sinne ihm gewunden, in Nachrufen aller Art, in Versen, in ungebundener Rede … Man pflückte die Blätter zu diesen Kränzen auch bildlich aus den Schluchten des Teutoburger Waldes, durch die der Edle damals als Flüchtling geirrt, wie er sich in der Befreiungsstunde des Vaterlandes so gefahrvoll verrechnet hatte. Auch seine Tage von Magdeburg wurden gerühmt. Schon war ja die Zeit angebrochen, wo auf den Thronen Herrscher saßen, die die Blütenträume auch ihrer Jugend wollten reifen sehen. Und so wie jetzt bei diesem vielbesprochenen Ende eines Patrioten, gehen ja noch zuweilen durch das Vaterland segnende Geister und schwingen die Fahnen unsers wahren Ruhmes … Zu den Posaunen, über welche die weißen Ehrentücher des Friedens, nicht die blutigen des Streites festlich niederhängen, horchen wir dann noch einmal wieder empor, wie zu den Herolden unserer wahren vergangenen und künftigen Größe. O daß es so oft nur die Todten sind, um die wir uns die Hände reichen! Daß es fast immer nur eine Erinnerung, ein Lied, ein Gedicht ist, um das eine kurze Weile das vielstimmige Durcheinander der Parteien verstummt, eine Weile der große Riß, der durch das deutsche Herz geht, nicht im eigenen empfunden wird! … Man pries des Geschiedenen Muth, seine Charakterstärke und Rechtlichkeit. Sein letzter Uebergang in die Formen der Bureaukratie war ein so natürlicher gewesen. Er war von 218 denen, die die antike Tugend hatten, den Staat bis in die innersten Fingerspitzen zu fühlen. Man verurtheilt so oft schon wieder diese Tugend! Ja wie habt ihr sie gefährlich gemacht! Nach dem, was wir schaudernd alle erlebten, welch ein Verbrechen ist es nicht geworden, auf den Ruf der Lärmtrommel zu hören, die durch die Straßen wirbelt! Wer nur hinaussieht, wer nur je ein Wort in eine freie Luftwelle gab, dem wurde die Zeichnung vor den Mächtigen gewiß! Nun müssen wir uns schon so erziehen, daß wir in einem allgemeinen Brande auf keinen noch so starken Hülferuf mehr hören, sondern kalt nur unsere eigene Habe bergen. „Was geht euch das Andere an!“ Wehe, wehe euch, wenn einst die Stunde der großen Gefahr schlägt, die dem Vaterlande immer näher rückt! Dann werden wir in die Straßen und Plätze hinaussprechen sollen und niemand wird es können oder wagen! Dann werden wir gerufen werden von den Signalen, die uns trügerische erscheinen müssen, seit ihr die, welche ihnen schon einmal gefolgt sind, so unerbittlich straftet! Wehe dann euch – und auch uns!

Klingsohr, der Alte von den Externsteinen, hatte diese Selbstbeherrschung nicht und sein lebendiges Ergriffensein von der Zeit rühmte man damals an ihm. Man nahm die Lieder von Arndt und Schenkendorf zu Eingangs- und Schluß-Blumenpforten seiner Nekrologe, die sich bis in die fernsten kleinen Volksblätter verloren. Auch sein Bild verbreitete man. Es war nur ein kleiner, kurzer, dicker, untersetzter Mann, gar kein Gracchus oder Timoleon der Phantasie gewesen. Die Stirn war sogar so groß, wie 219 man sie bei Narren zeichnet, die Augen blinzelnd klein, die Backenknochen vorstehend, wie bei Baschkiren, der ganze Mann einem modernen Bacchus nicht unähnlich, und doch trank der Mann nur das klare Wasser des Buschmühlbaches, so oft er auch den „Vater Rhein“ beim jährlichen Erinnerungsfest der Freiwilligen und der Gründung der Städteordnung leben ließ. Er war entzündet vom Feuer nur seiner freien und überzeugungsreinen Seele. Er hatte die Schönheit des Gedankens. Einige Spötter rügten, daß er nicht nur kein Vermögen hinterließ, sondern das, was er besaß, sogar in Zerrüttung. Doch hatte er Gläubiger, die ihm dennoch auch noch den Gutsankauf hatten möglich machen wollen. In einigen Städten sammelten die Liederkränze für sein Grab und zu einem Denkstein.

Um den Anlaß seines Todes loderte erst über jeder Bergspitze und nach allen Richtungen des Vaterlandes hin eine große Flamme des Zornes und gedrohter Rache. Dann aber kamen in den Zeitungen wieder die berühmten Sänger, die Tänzer, Tänzerinnen, Festlichkeiten in Paris und London, man hatte einige Mammuthsknochen ausgegraben, die neuen Eisenbahnen erfüllten alles mit Bewunderung und Speculationseifer; eine Flamme nach der andern erlosch und zuletzt blieb kein anderer Rächer übrig als das langsame und geheime Gerichtsverfahren jenes mehreren Dynastieen angehörenden Städtchens Lüdicke und der über die Buschmühle verhängte Sequester.

Stephan Lengenich, der Küfer und Arbeiter im Düsternbrook, blieb indessen eingezogen. Er galt bereits in wenig Tagen für den muthmaßlichen Mörder.

220 15.#

Zwei Tage nach dem Begräbniß seines Vaters sah man den Doctor Heinrich Klingsohr mit dem Kronsyndikus nach der Busch­mühle fahren und daselbst das versiegelte Inventarium besichtigen.

Zwei stattliche Mecklenburger, die besten des Stalles und herübergekommen erst kürzlich aus den norddeutschen Besitzungen der Wittekinds, waren dem leichten, eleganten Wagen vorgespannt.

Wieder einige Tage, und der Freiherr von Wittekind-Neuhof und Doctor Heinrich Klingsohr reisten gemeinschaftlich nach der großen Stadt, in welcher der Regierungsrath Friedrich von Wittekind eben zum Oberregierungsrath ernannt worden war … Auch ihm waren düstere Gerüchte zu Ohr gekommen über den Tod des Deichgrafen. Um so freudiger überrascht mußte er sein durch den Besuch des mit seinem Vater so traulich verbundenen Sohns desselben.

Man sprach mit Unbefangenheit von dem Vorgefallenen. Als jenes grünen Tuchkragens Erwähnung geschah, der an der Mordstätte wäre gefunden worden, 221 hieß es, daß durch eine Nachlässigkeit unbegreiflicher Art so wichtige Hülfsmittel der Entdeckung plötzlich wären abhanden gekommen.

Alle diese Gespräche fanden in Gegenwart der neuen Frau von Wittekind statt. Es war eine Heirath, die erst jetzt die Billigung des Kronsyndikus erhalten. Eine nicht mehr junge, unvermögende, aber dem Sohne durch Gewohnheit und manche, wie man sagte, schmerzliche Erinnerung werth gewordene Witwe eines geliebten Freundes und Amtscollegen, eines Herrn von Asselyn …

Der Oberregierungsrath fand einen Vorschlag, den sein Vater machte, sehr annehmlich. Doctor Klingsohr sollte die mecklenburgischen und holsteinischen Güter der Familie bereisen und sich in Altona nach der Lage von Processen erkundigen, deren die Familie über diese Besitzthümer mehrere zu führen hatte.

Der Doctor kannte Hamburg und freute sich auf einen ihm bekannten zerstreuenden und anregenden Aufenthalt, dessen Kosten der Kronsyndikus trug.

Den Kammerherrn hatte der Kronsyndikus zum Grafen Zeesen geschickt und zwar schon am Tage nach seiner stürmischen Abreise auf das Vorwerk Eggena. Daß der Unglückliche Widerstand leisten wollte, verschwieg der Vater nicht, ebenso wenig wie den Zwang, den man anwendete, den Widerstand zu brechen. Er hatte ihn kurzweg binden lassen. Der später nachgeschickte Diener des Kammerherrn meldete, Graf Zeesen böte alles auf, seinen Herrn zu zerstreuen und zu fesseln. Er sänge ihm geistliche Lieder und bespräche die Visionen, die der Kammerherr zu haben glaubte. Inzwischen wäre der Kammerherr freilich bett-222lägerig geworden, aber die Verlobte des Grafen, das Freifräulein von Seefelden, sorgte für seine Verpflegung.

Alle diese Veränderungen gingen auch an Lucinden nicht spurlos vorüber. Sie erschütterten sie nicht minder wie den Doctor und den Kronsyndikus. Der Doctor, der ihr unter allen Umständen jetzt wirklich als des letztern natürlicher Sohn erschien, wiederholte mit scheuem Niederblick, ernst und verstört, wie er jetzt fast immer war, Betheuerung seiner Liebe über Betheuerung; der Kronsyndikus hatte Ursache, die Vertraute eines Geheimnisses, das beide im stillen Verkehr wiederaufnahmen, mit Aufmerksamkeit und Schonung zu behandeln. Sie erhielt Beweise seiner Freigebigkeit, die an dem sonst so geizigen Manne auffallend genug war. Da nicht gezweifelt werden konnte, daß sie das Ziel ihrer Herzenswünsche in einer Vereinigung mit Heinrich Klingsohr finden mußte, so wurden die Aenderungen ihrer Lebensstellung dahin getroffen, daß sie ihm nahe bleiben, aber vorläufig doch noch so weit von ihm getrennt sein sollte, um keinen Anstoß zu erregen.

Vor allem fehlte ihr noch manche Vervollständigung ihrer Bildung. Es war hohe Zeit, das Chaos ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse zu lichten. Diese Anordnung wurde mit Fürsorge getroffen. Man hatte eine Familie ausfindig gemacht, bei der sie, nicht sogleich in Hamburg selbst, wol aber dicht in der Nähe auf dem Lande wohnen sollte.

Da Heinrich Klingsohr erst nach Göttingen zurück mußte und bei allen diesen Anordnungen von seiten des wie verwandelten und ganz außerordentlich milde, zahm 223 und nachgiebig gewordenen Kronsyndikus eine Zartheit und Schonung der Sitte und des Anstandes beobachtet wurde, wie wenn es sich wirklich um eine künftige Schwiegertochter desselben handelte, so gab man Lucinden sogar bis nach Hamburg eine Begleiterin mit, die in der vom Oberregierungsrath bewohnten Stadt gewählt wurde und ihr auf halbem Wege entgegenkam, an dem Tage, wo der Kronsyndikus und Klingsohr sie auf ihrer Abreise vom Schlosse begleiteten.

Die Abreise fiel mancherlei Umstände wegen auf einen Tag, wo der Kronsyndikus und Klingsohr in Lüdicke einen Termin abhalten mußten in Angelegenheiten des, wie es schien, sehr gravirten Stephan Lengenich, an dem selbst die Lisabeth irre geworden war, seitdem der Kronsyndikus von seiner Reise zum ältesten Sohn zurückgekommen war und ihr eine funkelnde, schwere goldene Kette mitgebracht hatte, zu der, wie der Alte hinzufügte, „jetzt nur noch die Uhr fehle“. Sie that das Ihrige, sich auch diese zu verdienen …

Diesen Termin in Lüdicke hatte man für kurz gehalten, aber es dauerte fast eine Stunde, daß Lucinde auf dem Marktplatze der kleinen Stadt in ihrem vorn und hinten bepackten Wagen harren mußte. Sie konnte bei dem immer gleichrinnenden Strom eines schön geformten alten Rolandsbrunnen, an dem sie hielt, bei seinem nicht endenden, immer gleichmäßigen Wasserstrahl recht der Zeit gedenken. Was hatte ihr diese nicht alles gebracht! Was hatte sie nicht schon alles ausgelöscht! Auch das Bild eines auf schaum­bedecktem Rosse den steinigen Grund hinterm Park vom Düsternbrook Empor-224stürmenden, auch das Bild von der Waldhütte, den Tannen, dem Monde, der Großmutter, ihrer selbst am Spinnrade, dem durch die kleinen bleigefugten Scheiben hereinlugenden wilden Jäger mit der rothen Feder am Hute, der dann wieder der Franciscanerbruder Herr von Buschbeck aus Java war … Alles hatte sich ihr schon gebleicht. Denn zu oft hatte ja auch der Doctor bestimmt und fest wiederholt und dann der zu Gnaden wieder angenommene buckelige Musikant, vorzugsweise aber der seit einigen Wochen ganz besonders elastische „schöne Enckefuß“ bestätigt: der Kronsyndikus war allerdings am Platze der grauenvollen That gewesen und hatte gesehen, wie der Deichgraf dort getödtet lag; das Entsetzen, man könnte ihn, der ihn in Gedanken allerdings auch tausendmal erschlagen hatte, für den Mörder nehmen, hatte ihn von dannen gejagt, und wenn es geschienen, als jagten ihn selbst die Furien, so wäre es die alte Freundschaft für den Deichgrafen gewesen, die in seinem Herzen trotz des spätern Zerwürfnisses doch in der That unerstickt geblieben wäre …

Und wenn Lucinde den Doctor dann selbst fragte: Bist du wirklich der dritte Sohn? so sagte dieser geheimnißvoll: Störe die Ruhe der Todten nicht! …

In seiner Liebe war der Ausdruck stärker und leidenschaftlicher noch als sonst geworden, wenn auch mit einer mehr unheimlichen als beglückenden Wirkung für sie.

Vom Amte kamen damals beide Männer sehr bleich zurück. Sie behaupteten, der Querfragen doch endlich müde geworden zu sein und ließen den Wagen einem Gasthause zurollen, um sich zu erfrischen. Lucinde stieg nicht aus. 225 Sie musterte vom Wagen aus das Wirthshaus, den Garten desselben und eine gewisse kleinstädtische Zierlichkeit in den bemalten Staketen, in einer mit grotesken Wandgemälden geschmückten Kegelbahn, in einem ausgestopften Uhu innerhalb einer von Singvögeln belebten Volière. Bei einer großen schwarzlackirten Kugel, die im Garten als Reverbère für die „schöne Aussicht“ gelten sollte, gedachte sie des armen um sie betrogenen philosophischen Drechslers, der den Grafen Zeesen recht eindringlich jetzt an sein Familienstatut, die Stiftung eines Irrenhauses, erinnern mochte! Im Hinblick auf diese beiden Männer athmete sie wahrhaft auf, endlich jetzt in gesundere Lebensluft zu kommen. Ja es that ihr sogar wohl, im Saale des Gasthauses durch die geöffneten Fenster, unter ausgestopften Vögeln, Käfern, gespießten Schmetterlingen, Kupferstichen von englischen Pferden und ähnlichen Herrlichkeiten eleganter Wirthsstuben jener Gegend, da so traulich hinterm Champagnerglase zwei feste, kraftvoll verbundene Männer zu sehen. Sie liebte Trotz und Kühnheit. Auch ihr war Stephan Lengenich längst der Schuldige. Seinen bösen Sinn hatte sie ja selbst gekannt, sein Drohen ja selbst gehört. Sie hatte alles das gerichtlich hier in Lüdicke in einem frühern Termine bezeugt und beschworen.

Trotz des Champagners stiegen ihre beiden Begleiter zu ihr schweigsam und ernst ein. Sie blieben noch einige Stunden an ihrer Seite bis zu einer Station, wo sie Extrapost nahmen und zurückreisten. Von der großen Stadt, wo der jetzige Oberregierungsrath wohnte, sollte ihr auf einige Meilen schon eine Begleiterin entgegenkommen, die sich ihr anschließen würde bis Hamburg, 226 wo sie unter Klingsohr’s Augen ihre Ausbildung vollenden sollte.

Der Abschied des Kronsyndikus von Lucinden war inniger fast als der des Doctors. Dieser gab nur die Hand und sprach, wie wenn Abschiede nicht zu seinem System gehörten, vom baldigen Wiedersehen. Jener hatte Thränen im Auge. Der Kronsyndikus weinte! Er war seit Wochen um Jahre älter geworden. Seine Augenbrauen sahen nicht mehr so gelblichweiß aus wie sonst, sie hatten sich ganz gebleicht. Die hohe Gestalt schien, wenn sie sich unbemerkt glaubte, kaum Kraft zu haben, sich so zu halten, wie dem Wappen des gekrönten und aufgebäumten Lindwurms geziemte. An Geld und Gut war Lucinde so ausgestattet, daß sie sorglos in die grüne Weite fahren konnte. Nach acht Tagen schon versprach Klingsohr in Hamburg bei ihr zu sein.

War das alles, wie es so kam, ging und was es bedeutete, räthselhaft genug, so konnte sie durch ihre Begleiterin, die nach einigen Meilen Alleinfahrens ihr entgegenkam, erinnert werden, daß alles im Leben nur Bild und Gleichniß ist. Sie war, wie Klingsohr und der Kronsyndikus ihr schon gesagt hatten, die Braut des „Sehers von Eschede“, jenes Dr. Laurenz Püttmeyer, der auf die Philosophie des Pythagoras zurückgekehrt war und aus mathematischen Figuren das Weltall erklärte. Sie hieß Angelika Müller, war eine hohe, schmächtige, blasse Blondine am Ende der zwanziger Jahre. Bei jeder Anrede erröthete sie. Sie schien ein Gemüth von Weihe und Innigkeit. In Hamburg war sie von einer dort wohnenden katholischen Familie 227 als Erzieherin berufen worden und gestand sogleich mit größter Sicherheit, daß sie den Dr. Laurenz Püttmeyer von Eschede für den einzigen berufenen Denker unserer Zeit halte und daß sie gelobt hätte, nicht früher seine Hand anzunehmen, bis er nicht in Berlin den erledigten Lehrstuhl Hegel’s erhalten hätte. Lucinde glaubte sehr an diesen hohen Geist. Auch der Kronsyndikus hatte oft erklärt, daß die Drechselbank für den Kammerherrn eine Quelle lehrreicher Unterhaltung geworden, seitdem er auf ihr die Würfel und Pyramiden Laurenz Püttmeyer’s herstellte.

Mit dieser Begegnung auf mancherlei neue Eindrücke angewiesen, fuhr Lucinde in ihrem schwer bepackten Miethwagen die schon wieder staubig gewordene Landstraße hinunter. Die Lerchen wirbelten zwar, aber von Westen kamen düstere, den Athem benehmende Wolken, der jenen Gegenden eigene Haar- oder Höhenrauch. Doch schienen die Menschen der Ebene diese Dünste gewohnt. Sie arbeiteten im Felde. Lucinde glich selbst diesen Fluren, auf denen schon so voll geerntet war und über welche schon wieder die Pflugschar ging, um noch in diesem Jahr der Natur neue Triebkraft abzugewinnen.

Noch völlig war sie sich unklar. Man hätte sie in Hamburg in die Schule schicken können, sie würde gegangen sein und mit der Mappe unterm Arm.

228 16.#

Von jenem Uferrande aus, an welchem der Deichgraf in seinen jüngern Jahren, nach dem Ausdruck seines Sohnes, die Sandkörner zu zählen pflegte, gewährt Hamburg einen großartigen Eindruck.

Eine zweite nicht unansehnliche Stadt, Altona, ist ihr eng verbunden. Thürme, hohe Giebel, Dampfessen, Krahnen und zahllose Schiffsmasten ragen fernhin im wirren Durcheinander empor. Auf der Woge kreuzen sich mit rothen Segeln die kleinen Ever, die, von kraftvollen Ruderern geführt, die Kauffahrteischiffe behend umschlüpfen.

Beim Landen tritt man in eine Welt, die sich ihrer Geschichte und Bedeutung bewußt ist. Diese Straßen und Plätze, diese Vorstädte und Hafenkais sind Lungen, die ihre Luft nicht aus dem kleinen Binnenleben der Nachbarschaft, sondern aus dem unermeßlichen Ocean schöpfen, aus den Verbindungen mit England und Amerika und mit diesem im Norden und im Süden.

Bringe niemand die Anschauungen einer deutschen Residenz oder Provinzialstadt mit! Der Matrose, der 229 Everführer, der Schiffsabläder, der Packknecht, der Hausirer, der Karrenschieber nehmen die nächste Bequemlichkeit der Straße für sich in Anspruch und schleudern mit eingestemmten Armen den, der etwa auf sein Spazierstöckchen mit goldenem Knopf oder seine Glacéhandschuhe als Berechtigung zu Ausnahmezuständen verweisen möchte, in souveräner Machtvollkommenheit auf die Seite; glücklich, wer noch dabei in einen Kram getrockneter Feigen oder frischer Orangen fällt, nicht in eine der englischen Gesundheitsgeschirr- und Wedgewoods-Niederlagen, die man an den offenen Straßenecken oder auf ambulanten Karren feil hält.

Vor dem Brande lag die Börse in dem jetzt verschwundenen engen Gewühl jener alten Straßen am Burstah und Rödingsmarkt, deren Häuser manches Menschenalter gesehen hatten. Die Naivetät Hamburgs, die sich so gut mit londoner Civilisationszuständen verträgt, eine Naivetät, die in dem unendlich unschuldigen, sozusagen schämigen Dialekt, auch selbst beim Blasé, sich wie die Unbefangenheit einer champagnertrinkenden Gurli anhört, war durch manchen verwitterten und nur noch an einigen Aesten zum Blühen und Grünen kommenden alten Lindenknorren ausgedrückt, der mitten unter Import und Export, unter Lotteriecomptoiren, Galanterieläden und Austernkellern wie ein Symbol der Unschuld stehen geblieben war. Dieselbe Idylle wiederholte sich beim Anblick der Gemüsekörbe der Vierlanderinnen und des verschwenderischen Ueberflusses, mit dem aus rothen Blechkübeln die Milch durch die Straßen zu fließen scheint. Auch dicht an der alten Börse säuselten noch 230 einige Linden- und Akazienbäume in die „Ueberschreibungen“ von Mark Banco hinein, und mancher gefühlvolle Wechselsensal nahm nach vollbrachter Feststellung der Tagescurse seiner Gattin noch einen Canarienvogel oder Dompfaffen mit heim, den vaterstädtische Gemüthlichkeit am Eingange der alten Börse zu verkaufen gestattete. Es sah ringsum eng, alt, holländisch aus. Nicht des stark vertretenen jüdischen Elements, sondern der Bauart einer vor dem Regen schützenden Halle und des im Freien liegenden Parquets wegen glaubte man in den Vorhof einer alten Synagoge zu treten.

Zu den Gemüthlichkeiten Hamburgs oder den hamburger „Ironieen des Satan“, wie Dr. Heinrich Klingsohr gesagt haben würde – an dergleichen Kraft- und Schlagworte waren auch dort seine Freunde gewöhnt – gehört im Sommer das idyllische Wohnen der Geldleute unter Gras und Blumen vor den Thoren der Stadt.

Es ist wahr, die Atmosphäre Hamburgs bekommt im Sommer etwas Mephitisches. Aehnelt sie auch nicht ganz dem Dufte der pariser innern Stadt, wo die Gewürze, Kaffeebohnen, Pfeffersorten, Zimmetarten aller Zonen zusammenzukommen scheinen und die Kehle zum Ersticken zusammenschnüren würden, wenn die penetrante und vom pulverisirten Theriak erfüllte Luft nicht mit den Gerüchen von ranziger Butter und altem Käse wieder gemildert und gefeuchtet würde, so gesellen sich zu den ganzen und zerstoßenen Gewürzen in Hamburg noch die Ausathmungen der Kanäle oder Fleete, vorzugsweise aber jene sonderbaren Oelgerüche, in die vom 52. Grad nördlicher Breite an alles in Europa eingehüllt scheint, was 231 da lebt und webt. Das ist von diesem Breitengrade an ein Malen und Klecksen mit Oelfarbe an jede Wand, jedes Holz, jeden Stein! Der Nordländer liebt die grelle Farbe mehr als der Südländer. Wir glauben wunder, welche Farbenreize der Spanier für seine Kleidung sucht. Die andalusische Tänzerin kleidet sich in Gelb und Schwarz. Der Nordländer aber will rothe Halstücher, malt sich grüne Häuser, bestreicht seine Windmühlflügel, seine Segel, seine Milchkannen, seine Gartenzäune, schläft in gold- und grünlackirten Bettstellen, hat überall den Farbentopf und den Oelkrug in der Hand, bepinselt und beglänzt Diele und Treppe und Fußboden und Fensterrahmen. Kein Wunder, daß die beengte Lunge sich in jenem frischen Wiesengrün ausathmen will, das dem Hamburger glücklicherweise bis dicht unter die Thorsperre wächst.

Die großen Kaufleute fahren um drei Uhr in ihre prächtigen Villen, die an der Elbe liegen; aber ein solcher kleiner Exporteur in Kleesaat, wie Herr Carstens, geht nach vollbrachtem Tagwerk erst eine Stunde in die Börsenhalle, wo er in die Schiffslisten Australiens blickt, um sich nach „Susanna Maria“, einer gesunden, vollwangigen, frischen Bark, zu erkundigen, die nach Adelaide einige hübsche Dosen jener Panacee der Ackerwirthschaft bringen soll. Sie ist noch nicht angekommen am Orte ihrer Bestimmung, die Susanna Maria, aber ein anderes – wir reden in der Naivetät dieser oft so unschuldig verkannten Geldseelen – „nettes und schoines“ Ding, die „Meta Carstens“, ist sehr guter Dinge in Baltimore eingelaufen und bringt den dortigen Far-232mern das, was ihnen auf ihren Acres jetzt lieber ist als etwa eine Kunde von der endlich errungenen Freiheit Germaniens. Kleesaat ist ein specifisch europäischer Artikel, ohne den es keine ausführbare Brache und keine Hebung des Viehstandes gibt; denn wie am Neckar, so am Missouri: die Kühe werden, wenn sie frisches Heu im Stall bekommen, schöner, als wenn sie draußen im Freien sich das beste Gras zerzupfen und nebenbei immer etwas dabei verschlucken, was ihnen nicht bekommt, wenn es auch nicht der übelberufene Duwock ist, über den sich eben noch bis halb vier Uhr Herr Carstens in eine noch nicht aufgeschnittene und bei Hoffmann und Campe erschienene Broschüre vertieft.

Die Kleesaat ist eine der ergiebigsten Branchen des europäischen und namentlich des deutsch-böhmischen Exports, eine Entdeckung, die nur leider von Herrn Carstens nicht allein gemacht wurde.

Er würde die Broschüre über den Duwock sicher lieber Sonntag Vormittag zugleich mit einer verbotenen Schrift von „Harry“ Heine, letztere natürlich mit entschiedener Indignation, doch theilnehmend, bei sich zu Hause gelesen haben, wenn ihn nicht eine Reihe verfehlter anderweitiger Branchen, Leber, Thran, Gerbstoffe, Talg, zuletzt auf die Kleesaat geführt hätte, einen Artikel, dessen große Erfolge schon andere voraus hatten, diejenigen nämlich, von welchen bereits einige in zierlichen Cabriolets zu ihren Villen am schönen Ufer der Elbe dies- und jenseits Teufelsbrück gefahren sind.

Indessen eine Sommerwohnung zu besitzen, erlaubte Herrn Carstens doch sein jährlicher Umschlag. Sogar sich 233 an Tagen, die, wie der heutige, sich auch gar zu heißer Strahlen des Sonnengotts zu erfreuen haben, einer Droschke zu bedienen, um wenigstens durch die schwülen Straßen bis zum Dammthor zu kommen, gestatteten ihm seine Verhältnisse, die gar nicht so ganz „unrespectabel“ sind. Herr Carstens hat nur die unglückliche Manie, alle zwei Jahre, wenn die Kleesaaten ringsum im Vaterlande in schönster Blüte stehen, sich und seinen beiden Schwestern, die ihm in Ermangelung einer Gattin die Wirth­schaft führten und „das Leben versüßten“, eine Erholungsreise von sechs Wochen zu gönnen, bei welcher er, wie weiland die im December mit ihren Herren wechselnden römischen Sklaven Saturnalien feierten, so die ersten Gasthöfe besuchte und sogar täglich Cliquot nicht verschmähte, den er an den Ufern der Elbe des nebeligen Klimas wegen dem Portwein entschieden unterordnete. Außerdem sparten seine liebevollen Schwestern an einer Mitgift, die sonderbarerweise mit den Jahren zwar zunahm, aber an Werth und Reiz für Männer, die etwa danach heirathen wollten, zu verlieren schien; es scheint leichter, 18 Jahre mit 20000 Mark an den Mann zu bringen, als 45 mit 50000.

Herrn Carstens unendliche Liebe für seine Schwestern, welche ihm diese jährlich in der Jahreszeit, in der wir uns befinden, mit Erdbeerkaltschale oder seinem täglich aufgesetzten Leibgerichte, jungen Erbsen mit „Swesern“, ein für allemal vergolten haben wollten, unterließ nicht, diese Mitgift seiner Schwestern – er hatte ja nur diese beiden – bis auf eine Höhe zu steigern, die ihnen 234 allenfalls auch nach seinem Tode erlaubt hätte, die Erträgnisse des Kleesaatexports entbehren zu können. Es war immerhin ein ganz „respectabler“ Mann von 100000 Mark Banco jährlichen Umschwungs, von welchem schon ca. 6–7000 Nettoniederschlag übrig blieben.

Dennoch mußte er vorziehen, interessante Broschüren lieber auf der Börsenhalle zu lesen, als sich deren zu Hause aufzuschneiden. Er mußte vorziehen, nur alle zwei Jahre von Celle bis Wien und von Wien zurück, vielleicht der Abwechselung wegen, diesmal bis Lüneburg, für einen „hamburger Kaufmann“ zu gelten, sich in seiner Privatliebhaberei, dem Sammeln alter, auf die hamburgische Geschichte bezüglicher Münzen, zu mäßigen, ja er mußte sich sogar die Unbequemlichkeit aufbürden, seinen Schwestern eine Gesellschafterin zu halten, die jedoch für Kost und Logis und den von Meta Carstens ertheilten classischen Pia­noforteunterricht ein Supplement hinzu zahlte … Alles das, um nur zwei geliebte Wesen nicht mit Sorgen und schrecklichen Aussichten auf Entbehrungen, z. B. eines Sommerlogis und der winterlichen Anwesenheit bei jeder zehnten oder elften Vorstellung eines neuen Stücks im Stadttheater (das Stück mußte sich „erst bewährt“ haben) zu hinterlassen, sintemalen sein Unterleib von früherer leichter Auffassung des Lebens geschwächt war und sein Muskel- und Knochenbau – eine natürliche Folge des hamburger Winterklimas – an Rheumatismus litt, zwei Krankheitsbedingungen, die, wenn sie sich begegneten und den Rheumatismus auf einen der edlern Theile des Herrn Carstens – und die edelsten waren sein Herz und 235 sein Magen – werfen sollten, allerdings seinem Leben plötzlich ein Ende machen konnten.

Hier nun, in der vor dem Dammthore in Hamburg gelegenen Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens, treffen wir „Fräulein Lucinde Schwarz“ wieder, herausgenommen aus Lebensverhältnissen völlig anderer Art, in neuen Umgebungen, neuen Anschauungen, neuen Empfindungsweisen.

Lucinde verdankte diese Uebereinkunft jenen Gütern des Kronsyndikus, von denen das eine in Holstein, das andere in Mecklenburg verpachtet war. Die Kleesaat war auch hier die grüne Spur, die von dem Teutoburger Wald, über den Haarrauch und die Heidschnucken hinweg, mit einem Umwege über die Marschen und Geeste des rechten Elbufers, nach einem noch volle zwanzig Minuten vom Dammthor gelegenen Landsitze führte, der unter ähnlichen Landsitzen mit Nr. 33 kenntlich gemacht war und aus einem Vorgarten von etwa auch dreiunddreißig Schritten, jedoch keineswegs in quadrater Potenz, sondern nur etwa zwanzig Schritten der Breite nach, einem Hause von anderthalb Stockwerken ohne Keller und einem Hinterhofe und Hintergarten bestand, der seinerseits nur zehn Fuß lang und fünf Fuß breit war, einen Holzschuppen enthielt mit einer Hundehütte und die Grube zur Inempfangnahme alles überflüssigen Niederschlags irdischen Daseins. Nach hinten war alles das von einem schon abgeblühten Hollunderbusch umzäunt und trennte auch dies Gebüsch diesen Tummelplatz ländlicher Erholung von einem ditto, der mit gleichen luxuriösen Bequemlichkeiten seine Fronte in einer andern Straße hatte 236 und vielleicht dort an einer Nr. 76 oder 77 bemerklich war, wo wiederum in gleicher Weise auch nach vorn dreiunddreißig Schritte bis zum Straßenstaket Raum geboten wurde dem „Flügelschlage einer freien Seele“.

Der Vorgarten in Nr. 33 war zum größten Theile grüner Rasen, an dessen Frische und Ueppigkeit es bei einem landwirthschaftlichen Samenhändler nicht fehlen konnte.

Dicht an dem Hause, dessen Fenster so niedrig gingen, daß man sich bequem auf ihrem Simse hätte niederlassen können, wenn nicht die hanseatische Gewohnheit die Fenster statt nach innen nach außen öffenbar angebracht hätte, war eine, wie sich von selbst versteht, grünlackirte hölzerne Laube befindlich, durchzogen von einer einzigen, bereits von unten her in emporschlängelnder Entwickelung begriffenen Weinranke, deren bisjetzt noch mangelnde Ausdehnung und Blätterfülle einstweilen ein in der Höhe von anderthalb Fuß üppig wuchernder Wald von türkischen Bohnen und Kresse ersetzte.

Vorn und am Rande der Breterwand links und der Breterwand rechts lief eine grüne Wand von spanischem Flieder hin, einigen Weidenstumpfen mit keck ausschießenden Zweigen und vorn am Eingang zwei duftenden, weil noch in der Nachblüte befindlichen kleinen Akazienbäumen.

Mangelte es an Schatten, so ließ sich von zwei Drittel Höhe des Häuschens eine großartige Markise von roth- und weißgestreiftem Segeltuche niederlassen, die auch über die allzu jugendliche Entwickelung der Laube den Mantel der Liebe breitete.

Im Erdgeschoß gab es drei Zimmer: eins zum Spei-237sen, eins zum Wohnen, eins zum Schlafen. Dazu eine Küche. Oben wohnte Herr Carstens. Seine Statur war glücklicherweise nicht zu hoch. Er konnte in der zweiten Etage vollkommen sicher sein, die Decke so unbeschädigt zu lassen, wie §. 7 des Mieth­con­tracts es bedingte.

Die Hauptsache an einer solchen hamburger Sommerwohnung ist nur, daß ein Raum vorhanden ist, wo der Kohlencomfort stehen und der Theetopf sieden kann. Die grünen Erbsen und gebackenen „Sweser“ mochte man im Hause verzehren, Speisegeruch ist überhaupt der Nachbarschaft wegen „nicht genteel; aber der Theetopf hat sein unbestrittenes Recht. Auch in Nr. 33 stand er um 7 Uhr Abends auf dem eisernen Kohlengerüst; das Tischtuch wird in der Laube ausgebreitet, die Markise in die Höhe gezogen und das altsächsische „Ich bin Herr in meinem Hause“ in einer Weise geltend gemacht, daß man sich vor den Augen der Welt weder im Nähen, noch Stricken, noch Sticken, noch Lesen, noch Schlafen, noch Rauchen, noch Wiegen in einem amerikanischen Wiegestuhl, noch Erscheinen in einer glänzenden Hausjacke von Pferdehaartuche irgendwie stören läßt. Den Vorübergehenden fällt nichts auf, weder eine grüne Brille noch eine graue Katze, weder ein schwarzer Hund noch ein rother Papagai, weder ein gelber Strohhut von vier Ellen Umfang noch eine schlangenartig gewundene Cigarrenspitze von schönster hellrother genueser Korallenarbeit … Letztere war eine Neigung zur Koketterie des Herrn Carstens, wie jene sogenannten Nizzahüte eine der mehreren, doch erlaubten seiner beiden Schwestern.

Wir finden Lucinden wieder, wie sie sich schon am 238 Millernthor von Angelika Müller, die zu einer hier etablirten reichen Handelsfamilie aus Antwerpen zog, um dort im Hause Lesen, Schreiben und Rechnen nach confessionellen Bedingungen zu lehren, getrennt hatte. Die Braut Dr. Püttmeyer’s, des Hegelstuhl-Aspiranten, wurde von einem eleganten Wagen im Hafen in Empfang genommen. Lucinde aber fuhr in einem Fiaker ins Comptoir des Herrn Nikolaus Carstens am Rödingsmarkt, einer düstern, mit Bäumen besetzten holländischen Gracht. Hier im Lärmen der sich durch den Kanal fluchenden Schiffer, der Krahnenwinder, der Führer von schwerstampfenden, schellenbeladenen Lastrossen wohnen bleiben zu sollen, hätte ihr die Sinne benommen. Sie wurde sofort in die „schöne Natur“ vor’s Dammthor dirigirt und fuhr dorthin, erwartungsvoll, was ihr das Schicksal an neuen Prüfungen und läuternden Vorbereitungen fürs Leben bescheren würde.

Anfangs kam sie sich in ihrer neuen Lage wie eine Gefangene vor.

Man hatte ihr gesagt, ein älterer Herr, Junggesell mit zwei Schwestern, pflegte, obgleich alle drei in sehr „respectablen“ Verhältnissen lebten, doch zur Zerstreuung und Belebung des „Hauses“ bald eine junge Baronesse vom Lande, die sich in Sprachen und Musik vervollkommnen sollte, bald eine Engländerin, die an der besten Quelle deutsch zu lernen beabsichtigte, bald eine Binnenländerin, die zu viel Thee und Zwieback und zu wenig Rostbeef genossen und der überdies Wasserluft, Milch und Wiesengeruch gut thun sollte, liebevoll in die Gemeinschaft einer stillen Familie aufzunehmen.

239 Mit jenem hamburger Schein der urweltlich angeborenen Solidität und einer Gemüthlichkeit, die selbst in Geldsachen nicht aufhört, mit jenem kindlichen sich wie von selbst verstehenden Fallenlassen des Tons, werden dabei auch einige hunderttausend Mark Banco genannt, mit jenem gewissermaßen weiter nicht zur Sprache kommenden zufälligen Schlußschnörkel eines gleichfalls nur der Form wegen aufgesetzten Contracts war eine Pension von 1500 Mark Courant für sie bewilligt worden. Diese leichte und graciöse Behandlung des Geldes, das nur vor dem Wechselgericht oder bei der ersten und zweiten Prätur eine ernste und dann zuweilen recht grobe Bedeutung annehmen kann, imponirte Lucinden ebenso sehr, wie die schnell eroberte Freundschaft, die ihr zwei Damen entgegentrugen, die das „süße Mädchen“ behandelten, als hätten sie sie schon aus Langen-Nauenheim gekannt, wie sie noch barfuß unter den Enten in den Bächen herumkrebste, an welchen gerade auch solche Weiden standen, wie sich zwei hier hinter das Staket her verirrt hatten, zum Beweise, wie feucht die Luft und der Boden war. Ja, es war im Verkehr gleich alles hier so sicher, so fest, so unbeschreiblich gediegen, solid, leidenschaftslos, gewiegt, so ganz in ihr neuer Art und unendlich imponirend. Selbst die großen Nizzahüte, die einem Schattengeber, den auf Schloß Neuhof auch die Lisabeth trug, fast gleichkamen, machten Lucinden eine Weile sprachlos. Doch ängstigte sie es bald, daß beide Schwestern, Sophia sowol wie Meta, mit ihren Hutkrempen fast die ganze Sommerwohnung unter Schatten setzen konnten.

240 Lucinde wußte einige Tage lang im wörtlichen Sinne weder aus noch ein. Schon gleich, als sie den Winkel sah, in dem sie schlafen sollte, kamen ihr die Tage bei der alten Buschbeck in Erinnerung. Das Erwachen, Ankleiden hinter Bettschirmen, die erste Anlage und spätere Vollendung der Toilette zu dreien in demselben Zimmer, und das alles verbunden mit dem im ländlichen Negligé eingenommenen ersten Frühstück nebst Fleisch und Eiern, dazu Herr Carstens im Sommerrock, mit der gewundenen Korallenspitze im Munde, dann das Rühmen des rings von den allerdings vorhandenen Wiesen in die „Gärten“ hereinwachsenden grünen Gras-Gottessegens, das unleugbare Klingeln wirklich vorhandener Kühe und die allgemeine Bewunderung dann beim „gebildeten Gespräch“, das überhaupt in Aussicht gestellt wurde, vor drei alten hamburger Kupfermünzen, die Herr Carstens als Perspective künftiger geistiger Genüsse gestern mitgebracht hatte, dann der umständliche, zärtliche Abschied des Bruders, wenn er ins Geschäft ging, und alle diese täglichen Vorgänge in einer sich immer gleichbleibenden Cadenz des Gemüthlichen, des Sichvonselbstverstehenden und gleichsam Uraltewigen und auch noch nach Jahrtausenden Sosichgleichbleibenden … das machte ihr einen Eindruck, als hätte sie müssen in die eingehegten Wiesen hinüberspringen und zunächst gleich bei den Melkerinnen drüben, die vor den großen rothangestrichenen Kübeln saßen, Hülfe und Unterhaltung suchen.

Allmählich aber fand sie sich dann, besonders als die jüngere Schwester – mit welcher Bezeichnung indessen ihr Alter nicht etwa aus dem Beginn der Vierziger 241 zurückverlegt werden soll – ihre Hauptforce entwickelte, das Spiel am Piano.

Das stand im Wohnzimmer, dicht in der Nähe der in der Entwickelung begriffenen Laube.

Man konnte die „Sonate pathétique“ nicht schmelzender, die „Eroica“ nicht feierlicher vortragen als dies Meta Carstens that. Lucinde fühlte, was sie hier lernen konnte. Sophie handelte wol unterdessen mit einem jungen bäuerlich gekleideten und an einem Schulterquerbalken ein Dutzend Gemüsekörbe tragenden Burschen um junge Erbsen und ein fliegender Metzger brachte die vielbesprochenen „Sweser“. Das Plattdeutsche, dem Lucinde auf Schloß Neuhof kaum entronnen zu sein glaubte, tauchte dabei aufs entschiedenste wieder auf. Es stand indessen den Schwestern, besonders wenn sie mit den Vierländern verkehrten, ganz zierlich und erhöhte den Eindruck des Gelassenen, Soliden, Leidenschaftslosen und „Respectabeln“, welches letztere Wort immer das dritte war. Die kalte Ruhe aber wieder, mit der die Schwestern – Meta stand dann zur Unterstützung der Debatte mitten aus dem dritten Satz der „Eroica“ auf – die grünen Erbsen auf die Hälfte hinunterbieten und mit einem: „Ne, Ne, Ne, min Jong! Hol di jo nich op, min Jong!“ den Handel abbrechen konnten, stand in so seltsamem Widerspruch mit der Süße des Tons, daß sie immer nur schwieg und horchte und über so seltsamer Gegenwart fast die Vergangenheit vergaß.

Klingsohr kam dann endlich auch aus Göttingen an. Daß sie die Verlobte eines Doctors der Rechte war und dieser selbst ein mit der Durchführung wichtiger adeliger 242 Processe betrauter Advocat, der eine Zeit lang in hiesiger Stadt wohnen wollte, wurde schon in der Correspondenz über die Marschen und Geeste hinweg von Schloß Neuhof aus nach dem Rödingsmarkt berichtet.

Klingsohr besaß selbst etwas von der eigenthümlichen Art der Studirten, die in hanseatischen Städten den Ton angeben. Er hatte meist seine Ferien bei hamburger Freunden verlebt und verkehrte in Göttingen überhaupt nur mit Studenten, die unter sich plattdeutsch sprachen. „Selbst ist der Mann!“ scheint die Devise aller dieser jungen hamburger Aerzte und Advocaten zu sein. Klingsohr fand hier die liebsten Genossen seiner Studienzeit wieder. Gleich den ersten Abend, wo er zum Thee in der hoffnungsvollen Laube blieb, fand er auch bei den Damen und Herrn Carstens einen außerordentlichen Anklang. Bei Herrn Carstens besonders, seitdem er mit ihm über den alten Seeräuber, den Störtebeker, gesprochen. Als die Hinrichtung desselben erzählt werden sollte, brach zwar Klingsohr ab, versprach aber Herrn Carstens einige Münzen über die Einführung des soester Stadtrechts in Hamburg zu bringen, die er noch von seinem Vater aus der Deichgrafenzeit her besaß. Eben schwamm Herr Carstens darüber in Entzücken und notirte sich den Gegenstand zum Nachschlagen in den reichen Bücherschätzen der Börsenhalle, und schon hatte er auch Meta gewonnen durch eine Parallele zwischen Mozart und Beethoven, indem er jenen mit Rafael, diesen mit Correggio verglich und dadurch bei den Schwestern die Schleusen wegzog von verhaltenen seligsten Erinnerungen an die dresdener Galerie, Terrasse und 243 Sächsische Schweiz … Ein Wort gibt dann eben das andere. Sophia Carstens bewunderte des Doctors Kunst, sich plattdeutsch auszudrücken. Man merkte dies bei der Plage der Sommerwohnungen, den Bettlern, die er plattdeutsch über ihre Herkunft und sonstige „Poesie des Zigeunerthums“ examinirte. Sophie fand, indem sie trotz dieser Poesie doch lieber die Thür des „Gartens“ abschloß und mit wenigen Schritten wieder hinterm Theetopf saß, eine Bürgschaft seines Gemüths darin, daß er die lieblichste und sanfteste Sprache von der Welt über seinen Reisen und gelehrten Studien nicht vergessen hätte.

Mein guter Vater, sagte der Doctor mit melancholischem Ausdruck der Mienen und eine Weile die Cigarre aus dem Munde nehmend, mein Vater haßte die plattdeutsche Sprache. Er duldete schon nicht, daß sie drüben in Stade, wo er wohnte und meine Mutter geheirathet hatte, in seinem Hause gesprochen wurde. Auch auf der Buschmühle, wo alles plattdeutsch spricht, mochte er sie nicht hören. Er nannte sie eine faule und bequeme Bauernsprache, nur gemacht für das Ideal des zufriedenen feudalen Schlaraffenthums. Wenn er über irgendeine Trägheit in seiner Nähe in Zorn gerathen konnte, über ein Gehenlassen wichtiger Dinge, über Gesinnungslosigkeit in großen patriotischen Fragen, so rief er: „Sitt ick in gooder Roh’, rook min Piep Toback datô!“ Er glaubte damit das ganze Wesen des Plattdeutschen getroffen zu haben.

Die drei Geschwister Carstens kannten das unglückliche Ende des berühmten Mannes und verriethen nur 244 durch Achselzucken ihr Bedauern über diesen Mangel bei soviel anderweitigen Vorzügen.

Lucinde aber konnte nicht umhin, die gleiche Abneigung auszusprechen.

Das ist ja eine Sprache, sagte sie, die eines Mannes gar nicht würdig ist! Man glaubt sie nur im Winter hinterm warmen Ofen oder aus einem großen Backtroge heraus hören zu können, in den man sich mit der gestreiften Schlafzipfelmütze gelegt hat, um noch die Wärme nachzugenießen. Plattdeutsch ist eine Sprache, mit der man nur über saure Milch und ob die Gurken schon blühen, reden kann. Will man einen Gedanken aussprechen, so läßt sie uns gleich im Stich. Jeden Buchstaben, der Kraft und Energie erfordert, läßt sie aus ihrem Alphabet herausfallen; alles schlorrt darin wie in niedergetretenen alten Pantoffeln. Schleppt das und schlendert und ist dabei so kalt, so eingebildet! Der Buchstabe S wird T, Ch wird K, das A vernergelt sich in E. Ganze Buchstaben und Silben fallen weg, um nur schnell wieder zum Ofen zu kommen. „Geldschlagen“ ist „Slân“, „aufgestanden“ ist „upstân“. Von den erhabensten Dingen spricht diese Sprache wie von Kinderspielzeug, und dabei liegt doch wieder eine Malice, eine Gereiztheit in ihr, die uns z. B. vor den Mägden, wenn diese hier plötzlich hochdeutsch zu sprechen anfangen, einen blanken Schrecken einjagen kann.

Das war freilich eine entsetzliche Anklage! Um so mehr, als die Schulmeisterstochter in solchen Dingen ganz auf ihrem Felde war! Die Schwestern sahen sich nur um, daß sie weder Nr. 32 noch Nr. 34 belauschten, 245 dort eine Maklerfamilie, die unter sich immer nur plattdeutsch sprach – man konnte die Erwachsenen dann allerdings von den Kindern kaum unterscheiden – hier ein Professor vom Johanneum, der diese Mundart wissenschaftlich behandelt hatte und für den Störtebeker und das soester Stadtrecht dem Kleesaathändler von großer Wichtigkeit war, da er die vaterstädtische Neigung desselben wissenschaftlich unterstützte.

Man blickte schweigend und um Widerlegung mit flehentlichen Blicken bittend auf den Doctor, der seinerseits die großen Wasserseen seiner Augen wie übertreten ließ und geschmeichelt über Lucinden staunte, die den Vortheil genoß, den die Verpflanzung aus einem alten in neuen Boden mit sich bringt. Nichts hebt die geistige Kraft so sehr, als sich in Vergleichung bringen können mit neuen Eindrücken, sich abheben von einer gründlich veränderten Folie.

Wie Lucinde auch so gar bitter und fest sprach, merkte der Doctor erst, daß sie sich auch äußerlich verändert hatte. Er musterte sie, immer noch schweigend, mit staunender Bewunderung. Ihr Körper hatte sich wie zum Abschluß entwickelt unter dem Einflusse des Erlebten. Immermehr gewann vielleicht der charakteristische Ausdruck über den ideal-schönen die Oberhand. Ihre Züge glichen jetzt jenen seltsamen Köpfen, die uns aus irgendeiner hervorspringenden Besonderheit sogleich unvergeßlich sind, die aber auch Gefahr laufen können, daß sie mit der schwindenden Jugend die Anmuth verlieren. Hier, wie sie eben noch zu gleicher Zeit eine Fliegenjagd eröffnet hatte, dabei einen gleichfalls runden Hut, der 246 jedoch um einen Fuß weniger Umfang hatte als bei den Fräulein Carstens, abriß und ihn zum großen Schrecken derselben sogar auf eine Wespe warf, blieb der Eindruck einer Amazone, die Kraft mit Verschmitztheit verbindet. Der leise geöffnete Mund zeigte die Zähne; das Haar war, weil eine Toilette in dem engen Raum nicht mehr möglich wurde, fast um die Hälfte von ihr gekürzt worden; sie trug es nun in großen und cylinderförmigen Wellen zusammengebunden um Scheitel und im Nacken. Um den Hals lag ein Collier antiker Form, das ihr der Kronsyndikus von den Schätzen mitgegeben, die angeblich seiner Frau, vielleicht einer seiner Italienerinnen gehört hatten, und den halbentblößten Arm schmückten zwei gleiche reich mit Perlen und Rubinen besetzte alterthümliche Armbänder. Sie besaß eine ziemliche Auswahl solcher alter Schmuckgegenstände, und jenes Fräulein Angelika Müller, mit dem sie gereist war, hatte beim zufälligen Anblick des geöffneten Kastens, der sie enthielt, gesagt: Alles alt, aber gerade jetzt sehr modern!

Das Unvergeßliche an Lucindens Aeußerm waren vorzugsweise ihre schwarzen und wie von einer Entzündung aller feinsten Aederchen bis in die Wangen rings umschatteten Augen, ein plastisch gleichmäßiges Oval des Kinns, dann ein stetes Lächeln am kleinen Munde und in der Haltung ein fortwährend grübelndes Niederblicken, wie wenn sie auf dem Boden etwas suchte, was sie verloren. An diese Einzelzüge dachte man, wenn sie genannt wurde, ebenso schnell wie bei den Fräulein Carstens an die Nasen derselben. Man hätte allerdings glauben 247 können, diese Damen stammten aus dem urweltlichen Geschlecht der Saurier, von welchem bekanntlich nur noch das Krokodil, das Chamäleon und die Eidechse als Reste übrig geblieben sind.

Klingsohr sah zwar auf die Uhr und sprach von einem Spaziergang an dem Rande der Alster, des nahe gelegenen Flüßchens, an dessen Ufern sich zwar nur Sand aufwellt, aber auch alte, schöne, sturmerprobte Eichen stehen in einer Pracht und Fülle, als hätten sie schon den hier einst lebenden Klopstock zu seinen Bardengesängen begeistert … Aber die Familie hatte die Freude, daß er doch noch erst den schwebenden Kampf aufnahm und im Plattdeutschen gerade statt Schläfrigkeit und Trägheit Energie und Thatkraft fand.

Wenn, liebe Freundin, sagte er, diese Ihre Holzpantoffeln und gestrickten blauweißen Nachtmützen rasch zum Ziel kommen wollen und die Sprache kurz nehmen, so ist damit nicht der Ofen gemeint, sondern die Sache selbst, um die es sich in der Gemeinde, auf dem Acker oder auf dem Schlachtfelde handelt. Man nimmt bei uns die deutsche Sprache gerade so, wie sie so auch der Engländer nur brauchen konnte, der allerdings das, was noch für die Ideenwelt meines Vaters fehlte, aus der Bretagne herübernahm. Gibt es schlagfertigere Volksstämme, als es die Dithmarsen und Friesen waren und es noch sind? Hat diese rasche und behende Sprache, die sich mit keinem weitläufigen und unbeholfenen „Aufgestanden“ aufhält, sondern rasch und flink vom „Upstân“ spricht, nicht die schöne Eigenschaft, Bauer und Edelmann fast gleichzustellen? Sie macht aus den Be-248kennern dieser Mundart fast eine einzige Familie. Wenn sie vielem Philisterhaften einen Vorschub zu leisten scheint, so leistet sie ihn in Wahrheit doch nur der Einwurzelung des persönlichen Stolzes auf eigenen Besitz, eigenen Grund und Boden. Die Neuerung, deren Ideen sich freilich nicht nach plattdeutschen Lauten ausdrücken lassen und, wollte man von Verfassungen und Aehnlichem darin sprechen, eher wie Spott klingen würden, ist diesen Stämmen fremd; aber hat es nicht sein Gutes, daß wir noch im Vaterlande Schanzen und Wälle der frei bewahrten Selbständigkeit gegeneinander aufwerfen können? Die Einheit ist ein schöner Klang; aber sie gewinnen auf Kosten unserer bessern Natur? Wer möchte das befürworten um solchen Preis! Der Deutsche bildet nur ein geistiges Volk. Seine Kraft liegt auf der Scholle, die er vertheidigt, seiner Sitte, seiner Sprache, seinen Ueberlieferungen. Mit dem überall aufgepflanzten einheitlichen Banner, einem schwarzweißen oder schwarzgelben oder schwarzrothgoldenen sogar, würden wir unsern besten Gehalt verlieren, und so ist auch die plattdeutsche Sprache nur Hemmschuh zu desto sichererer Fahrt. Nivellirenden Staatsmännern gegenüber schützt gerade sie Person und Gemeinde.

Wenn die Damen Carstens Romane lasen, so suchten sie glücklicherweise immer gerade das, was andere überschlugen. Sie strichen sich gern sogenannte schöne Gedanken an und schrieben sie hernach in ihre Sammlungen über zur erhebenden Lectüre in Augenblicken der Sehnsucht und des Sichnichtverstandenfühlens oder zur Stammbücherbenutzung. Diese Erörterung, die der Doctor 249 ihnen anzuhören zumuthete, nahmen sie für eine ihrem Geiste dargebrachte große Huldigung. Schon weckte dieselbe die überraschte Aufmerksamkeit der Nachbarschaft. Fernerhin war der Uebergang in die gerade schwebende Frage des Zollvereinsanschlusses die leichteste Folge dieser Meinungsäußerung, für welche freilich Lucinde keinen Widerspruch hatte. Sie ließ den beiden Damen den Triumph, durch die Festhaltung ihrer heimischen Sprache auch den Kaffee, den Zucker und den Wein vor den Gefahren des Untergehens in deutscher Allgemeinheit gerettet zu sehen. Lauschte nebenan der Professor vom Johanneum, so mußte er seine Freude gehabt haben an Klingsohr’s Rede. Er würde nicht Anstand genommen haben, ihn zu einem Bekenner der Schule Justus Möser’s zu machen, einer Schule, die bekanntlich keine Wiedergeburt Deutschlands zulassen würde, wenn nicht auch in ihr Rechnung getragen würde dem Ewig-Osnabrückischen.

Der Abend wurde kühl, wie es die vielen Wiesen nach Untergang der Sonne mit sich bringen.

Klingsohr wollte an die Alster und bat um Lucindens Begleitung …

Diese warf ihre Mantille um, einen Hut über und begleitete ihren Freund, wohin er sie zu führen gedachte.

Es gab trotz der volkreichen Stadt, die zu einer bestimmten Stunde auch wie im Nu durch die theuere Thorsperre die Bevölkerung in ihre Wälle und Mauern zurückdrängt, hier draußen einsame und stille Wege. Sie waren ländlicher Art, führten durch Weidenalleen über Wiesen an Bächlein entlang, führten durch kleine Bir-250kengehölze und endeten in parkähnlichen Vergnügungs­orten, die jetzt von Menschen ganz entleert waren.

Der Himmel wurde dunkler und dunkler und ließ schon einzelne Sterne blicken. Die Sichel des Mondes stand schon länger, aber sie war noch matt und füllte sich mit vollerm Lichtglanz erst gegen Mitternacht.

Das stille, heimliche Käferleben in Büschen, an Hecken und Zäunen regte sich; es war kurz nach Johannis. Die Phosphorfunken, die man haschte, wurden auf der Hand zu kleinen Käfern mit punktirten Flügeldecken. Der sumpfigen Natur konnten die Frösche nicht fehlen, diese Kukuks der Wasserwelt, die ihr Einerlei zum besten zu geben nicht müde wurden. Friedlich ernst rauschten, von einem leisen Luftzug erregt, die berühmten Eichen der Alster. Fernher brauste das Gewühl der großen, in der Abendstunde die durch die Arbeit gebunden gewesenen Sinne entfesselnden Stadt; Musik tönte herüber von einem Kranze von Lichtern, der um das Bassin des Jungfernstiegs immer reicher und voller sich hinzog.

Gerade hierher nun nach soviel Erlebtem versetzt zu sein, war für beide wunderbar genug. Klingsohr legte den Arm um Lucinden und wiederholte die Betheuerung seiner Liebe.

Er hätte, sagte er, ein reiches Feld von Thätigkeit in den verwahrlosten Processen der Wittekind’schen Familie gefunden, es könnte sich bis zum Winter hinziehen, daß er hier bliebe …

Und dann? fragte Lucinde, die eine gleiche Wärme wie damals auf Schloß Neuhof für den Freund nicht mehr fühlte.

251 Was wir erlebten, erwiderte dieser, kam so unglückselig störend, kam so die nächste Besinnung raubend, daß ich noch keinen Plan für die Dauer gefaßt habe. Ach, und wie oft ist mir’s wieder, als sollt’ ich dich umfangen und dich mit mir hinabziehen in Tod und Vernichtung! Sieh den geisterhaften Schein der Wellen! Wie still und geheimnißvoll sie dahinfließen!

Lucinde wandte den Kopf zu dem Sprecher empor. Er hatte ihr den Hut abgenommen, weil der Rand desselben ihn hinderte, sich fester an sie zu schmiegen. Letzteres that er mehr als sie dessen erwiderte. Sie fand ihn schwankender, haltloser, als sie von Männern seiner Art geglaubt hatte. Und bei dem „geisterhaften Schein“ der Wellen auch ihres unglücklichen Vaters gedenkend, schüttelte sie’s fast wie Frost. Sie sagte fast wie mit bewußtester Prosa:

Warum denn sterben!

Ein Seufzer entrang sich seiner Brust …

Wie drüben in der Stadt die Wagen rollen! fuhr sie fort. Wie die Musik so lustig klingt! Das alles ruft und will genossen sein!

Klingsohr lüftete den Sommerhut und fuhr sich erregt durch sein krauses röthlich schimmerndes Haar. Die Narben an Stirn und Wangen zuckten.

Laß uns von dem Schilf da fort! sagte er und zog Lucinden vom Ufer mehr der Baumallee zu …

Blicke auf Vergangenheit und Zukunft mußten sich jetzt von selbst ergeben.

Klingsohr sprach viel und schnell durcheinander vom Tode seines Vaters, von der Schuld des Stephan Len-252genich, die sich immer erwiesener herausstellte. Er wiederholte wie schon oft:

Der Schrecken über den einsamen Anblick des Erschlagenen, das Entsetzen, daß man ihm hätte die That zuschreiben können, hatten den Kronsyndikus in Verwirrung gebracht, und, was mehr ist, hinter dem Hasse gegen meinen Vater barg sich Freundschaft. Vom Schicksal desselben erschüttert, unfähig, der Erste zu sein, der es anzeigte, sprengte er nach Neuhof zurück, konnte die Todesnachricht nicht über seine Lippen bringen, verbrannte in einem Anfall von Großmuth, was er von Schuldforderungen noch in der Buschmühle geltend machen konnte und bot mir seinen Schutz und sogar den Vaternamen an und mein ganzes Glück in dir! … Stephan Lengenich ist der Mörder … Die Feinde meines Vaters waren ja zahllos. Auf jedem Waldwege begegneten ihm Männer, die ihm den Gruß verweigerten. Ich hörte ihn einmal klagen, daß man auf der Buschmühle Feuer angelegt gefunden. Man verschwieg es, weil gerade ihn der Verlust der Popularität schmerzte. Hoch immer auf dem Schilde aller wollte er getragen sein. Er konnte keine Gegner dulden, ohne sie nicht von der Nichtigkeit ihres Hasses überzeugen zu wollen. That er’s dann, so verwirrte sich der Hader nur erst recht. Feindschaft, die auf Antipathie beruht, vermittelt sich schon bei einer günstigen Gelegenheit zum leidlichen Auskommen; tauscht man aber mit ruhiger Ueberlegung Warum gegen Warum aus, so treten erst recht Verletzungen ein, die unheilbar sind. Diese Tage sind düster, aber sie liegen hinter uns. Vor uns winkt die Zukunft. Kehr’ 253 ich nach Göttingen zurück, so sollst du die Muse meiner Studien sein. Lass’ ich mich von Freunden, deren ich hier nur zu viele fand, bereden, hier zu bleiben, so findest du dich in diese neuen Anschauungen. Komme, was kommen mag,

Nun war Klingsohr im gewohnten Zuge und drückte sie, dichtend und phantasirend, wilder an sich, als ihr, der nur Horchenden, wohlthat.

So gingen sie bald wieder am Schilf des Ufers oder suchten, um nicht im Sande zu versinken, grüne Stellen. Weiter kam ein Weidengebüsch. Da blieben sie stehen und Klingsohr ergab sich mit neuen Betheuerungen seinem ganzen Gefühl, das jetzt ein keckes und herausforderndes wurde.

Lucinde schwieg nur. Es war ihr nicht als wäre sie die Mitschuldige eines Mitschuldigen; aber irgendetwas blieb im Dunkeln … Eine gewisse Kluft zwischen Klingsohr und ihr konnte sie nicht mehr ausfüllen. Sie wußte nicht, woran es lag, daß sie sich ihm plötzlich gewachsen fühlte, ja ihn übersah. Die Zauber des Fesselnden waren ihm plötzlich für sie abgestreift, und so bedeutsam seine Rede blieb, seine Thatkraft vermißte sie, und selbst seiner Rede, seinem Humor, seinen Versen, hörte sie Gebundenes, Unfreies ab, ja, eine Gefallsucht, für die sie nur keinen Ausdruck hatte.

Und doch gerade in ihm hatte sie Ausdehnung und Raum zu finden gehofft wie im Universum, das er sonst auf seinen Schultern zu tragen schien! Nun gefiel ihm 254 sogar diese enge, begrenzte Welt, in die man sie versetzt hatte. Es war eine Freiheit, die ihr Zwang erschien. Und die Zumuthung, daß sie ihm Stab, sie ihm Stütze sein sollte!

Er begleitete sie an das kleine Haus zurück, in die Mausefalle, wie sie es nannte. Sein Abschied war stürmisch; sie sagte ihm kühl eine Gute Nacht!

Zehn Uhr Abends war’s. Dennoch sieht man Klingsohrn noch nicht in seine Wohnung gehen, sondern in einen der Pavillons eintreten, die sich am Alsterbassin befinden.

Musikklänge, Tabackrauch, die Düfte von Grog und Punsch wirbeln in allen …

Hier begegnen sich der Einheimische und Fremde …

Draußen vor der Thür stehen Sessel, auf welchen man, wenn die des Nachts sich zuweilen sanft wieder mildernde Wasserluft es gestattet, die wogenden Menschenmassen an sich vorüberziehen läßt, wol auch die auf dem Wasser noch mit chinesischen Lampen dahinrudernden Gondeln verfolgt und ein Bild voll Leben und Bewegung in sich aufnimmt, das nur in der Ferne eine einzige große Windmühle unschön, aber doch charakteristisch begrenzt.

Diese Pavillons sind so bequem gelegen, daß man sich ihrer kleinen Ecksitze im engern innern Raum gern als Stelldicheins für Freunde bedient. Manche Tische werden immer von derselben Gesellschaft in Beschlag genommen, entweder bei schönem Wetter draußen oder bei unfreundlichem drinnen. Im Winter ist man jedenfalls sicher, immer eine Gruppe von Bekannten an einer und derselben Stelle zu finden.

255 Der Kreis, in dem sich Klingsohr hier bewegte, ist ein den Hansestädten ganz eigenthümlich angehörender.

Der Kaufmann ist dort der bestimmende und maßgebende Theil der Bevölkerung, aber zu seinen Ergänzungen gehört der Arzt, der Advocat, auch der Schriftsteller und Gelehrte überhaupt, denn an dem Bedürfniß des gedruckten Buchstabens fehlt es durchaus nicht, und eine diesen Städten ganz ausschließlich angehörende Literatur beeifert sich es zu befriedigen. Die Achtung vor der Wissenschaft ist nicht gering. Man kann aber auch sagen, daß die, welche zu ihren Bekennern gehören, nichts unterlassen, was ihre Geltung mehren kann.

Nirgends äußert sich der Arzt, der Advocat und Schulmann mit solcher Bestimmtheit wie unter Kaufleuten, und niemand unterwirft sich ihnen auch so unbedingt wie diese. Englands Parlament ist ein Beweis, wie der Nimbus der gemachten Studien sich vorzugsweise in einer großen geschäftlichen Welt erhält. Diese Aerzte und Advocaten sind es vorzugsweise, die den öffentlichen Geist bestimmen und das Endurtheil auch in den Familien abgeben, denn, wie jene die Frauen regieren, so werden diese zu jeder Berathung von größerer Wichtigkeit hinzugezogen. Die einen von ihnen folgen dem allgemeinen Geiste des Erwerbs und nehmen früh eine praktische Richtung an, streifen den Idealismus ab, reden mit dem gemeinen Mann in seiner Sprache und nehmen die materielle Welt ganz wie sie ist; die Wissenschaft wird ihnen eine melkende Kuh; sie verschmähen selbst die Intrigue nicht, und werden in der oft bis zum Lieblosen gehenden Entfaltung des schroffsten und einseitigsten juristi-256schen Verstandes unterstützt von denen, die ihre Spitzfindigkeit in Anspruch nehmen, bewundern, rühmen, reichlich belohnen. Die andern sind, wie die menschlichen Entwickelungen einmal durch ihre angeborenen Anlagen bestimmt werden, von einer idealen Haltung. Sie scheinen das Alltägliche zu verachten, vertreten die Gedankenwelt, hüllen sich in einen heiligen Nebel mystischen Eingeweihtseins, sind entweder Freimaurer oder Pietisten oder Poeten oder alles zu gleicher Zeit und in verschiedenen Lagen, nur benehmen sie sich überall wie ein Besonderes, Vornehmes und ewig Akademisches, und man darf hinzufügen, daß auch diesen Männern der Erfolg nicht fehlt. Jetzt, wo die materielle Richtung überwiegt, mag das Häuflein dieser vorzugsweise mit dem Rufe des Geistreichen ausgezeichneten Adepten der Wissenschaft geschmolzen sein. Noch in den dreißiger Jahren aber war der Zusammenhang Hamburgs mit den edelsten Richtungen des Vaterlandes ein sehr inniger, und die schöne, maßhaltende, sich selbst beschränkende Weise manches dort gefeiert gewesenen Namens wird noch jetzt bei den Nachlebenden nicht verklungen sein.

So scheiden sich beide Richtungen im Alter. In der Jugend aber gehen sie noch mehr zusammen. Der Scharfsinn des einen findet seinen Widerpart am Wissen des andern, der Rabulist der spätern juristischen Praxis streitet sich noch mit Hartnäckigkeit für Schelling oder Hegel, denen er die Schärfe seiner Unterscheidungen zugute kommen läßt. Allen aber gemeinsam ist auf lange Zeit, oft bis in die ersten Jahre der Verheirathung hinein, das lebendige Festhalten des akademischen Lebens. Die 257 von Göttingen oder Heidelberg mitgebrachten Anschauungen werden nicht nur in den Kaffeehäusern festgehalten, sondern oft auch noch in dem Wäldchen hinter Wandsbeck, in den Hohlwegen hinter Eppendorf. Man setzt die Feindschaften, die man von der Hirschgasse in Heidelberg, von Ulrici in Göttingen mitbrachte, in der Vaterstadt fort und wechselt auch oft noch im nahen holsteinischen Sachsenwalde Kugeln um dieselben Bagatellen, um welche man am Neckar und an der Leine „auf krumme Säbel losgegangen“ war.

In diesen Kreis seiner Freunde kehrte Heinrich Klingsohr, mit Enthusiasmus empfangen, zurück. Die grüngelbweiße Farbe hatte mit der rothweißen immer harmonirt; gehörten doch beide dem großen Bunde des Plattdeutschen an.

Klingsohr traf junge Advocaten und Aerzte, Assistenten am Krankenhause, gelehrte Speculanten, die sich durch irgendein Organ, das Ohr, das Auge, oder als Juristen durch Wechsel- oder Staatspapiergeschäft eine Specialität zu schaffen suchten, andere, Juristen, die auf eine Anstellung in der Verwaltung rechneten und sich mit Statistik der Ein- und Ausfuhr beschäftigten, Schulmänner, die vor drei Herren und siebzehn Damen Vorträge über Spinoza hielten, andere, die eine alte Neigung zum Schriftstellerthum nicht länger zu verbergen brauchten, sondern durch irgendein Angebot der vielen hier erscheinenden Zeitungen Redactoren wurden, sie wußten nicht wie, Candidaten, die noch nicht nöthig hatten, das Haar zu scheiteln und den Blick zu Boden zu schlagen, da die Aussicht zu einem Pfarramt in der 258 Stadt erst über eine lange Probezeit auf dem Lande oder ein mühseliges Lehramt geht … kurz, in diesen, natürlich unausgesetzt von Cigarrenwolken eingehüllten Kreis trat Klingsohr ganz so wieder ein, wie er ihn von seinen frühern Besuchen her kannte. Selbst in Göttingen als Privatdocent hatte er den Zug zum ewig Studentischen nicht aufgeben können. Er fand hier alle alten Anekdoten wieder, alle alten Stichwörter und Stichblätter des Witzes, alle alten Spitznamen; man lachte ebenso auf gegenseitige Kosten wie bei Bethmann in Göttingen, mit der gleichen oft sehr nahen maliciösen Anstreifung an die „touchirende“ Grenze und mit derselben Empfindlichkeit, wenn diese wirklich überschritten und eines jener Worte gesprochen wurde, in deren Entgegennahme der „Mann von Ehre“ sich in Deutschland vom „Philister“ unterscheiden soll. Zwischendurch galten die Gespräche der aufgeregten Zeit, den Streitigkeiten des Tages, den Vorkommnissen der innern städtischen Verwaltung, den Persönlichkeiten der einzelnen Theilnehmer des Kreises und vorzugsweise den Frauen.

Letztern widmete man ganz den Antheil, der ihnen überhaupt gebührt; erhöhen aber mußte er sich im Munde junger Männer, von denen selbst die, welche den Reiz des Frauenthums mehr als sich gebührt hätte schon auf sich hatten wirken lassen, nicht in eine souveräne Verachtung desselben, die den Blasirten eigen ist, versunken waren, sondern aus dem Wüsten und Wilden sich ganz so wie Heinrich Klingsohr selbst zu einem Bedürfniß aufschwangen, in den Frauen das Madonnenhafteste von der Welt zu finden und sie anzubeten wie die eigene 259 verlorene Unschuld und Jugend. Die dem Fremden fast unglaubliche Möglichkeit, daß sich in Hamburg überhaupt Sitte und Unsitte in strengster Geschiedenheit erhalten können, war auch in diesem Kreise bewiesen. Man konnte der tollsten Phantasie und einer grauenerregenden Kenntniß aller Nachtseiten im Frauenleben den Zügel schießen lassen und war wiederum, wenn der Name einer Unbescholtenen genannt wurde, einig in dem Preise ihrer seidenen, dem Bilde einer Katharina von Siena entsprechenden Augenwimpern, dem Preise ihrer Hände, deren Durchsichtigkeit und Weiße nicht anders als mit der Zierlichkeit der Hände eines van Eyck und Memling verglichen wurde, dem Preise ihrer Augen, die wegen ihrer etwaigen träumerischen Unbewußtheit und gläubigen Zuversicht geradezu katholische genannt oder ihrer irrenden, rein nur innerhalb des instinctiven Lebens bleibenden Unschuld wegen mit den sanften Augen einer Gazelle verglichen wurden. Ein Drängen aus dem zu reich genossenen, in seinen Untiefen zu sehr erkannten Alltäglichen zum reinern Licht empor besaßen alle, und die Art, sich ihre läuternden Flammen zu entzünden, war seltsam genug. Mancher betete in diesem Sinne die Tochter eines Millionärs der Gröninger Straße an, mancher aber auch nur die eines armen Handwerkers an den „Vorsetzen“ oder „Raboisen“.

Auch jenes „hehre Gnadenbild“, zu dem Klingsohr aufblickte, war gleich nach seiner Ankunft allen bekannt geworden.

Daß es sich um die Pensionärin einer „respectabeln“ Familie handelte, wußte man.

260 Man machte an der Sommerwohnung des Herrn Carstens Fensterpromenade, um den Schatz zu sehen, der einem „Abadonna“ noch vor seinem gänzlichen Fall oder seiner Läuterung vom Himmel beschert werden konnte; denn in diesem Kreise galt Klingsohr für einen jener gefesselten Titanen, die früher oder später den ewigen Göttern des Olymp den Garaus machen konnten. Er hieß einer von denen, die eine unberechenbare „Zukunft“ besäßen. Ein einziges Publikum hatte er in Göttingen gelesen, das aber von einigen Hundert Studenten besucht wurde, während er eine Vorlesung über Privatrecht nicht zu Stande bringen konnte. Aber in jener Vorlesung über „Dante’s Zeit- und Weltanschauung“ elektrisirte er seine Zuhörer in einem Grade, daß man an Klingsohr nicht anders dachte als wie an einen Evangelisten, der immer ein wildes Thier neben sich sitzen hat. Die Drachen und Greife Dante’s zogen seinen Ruhmeswagen, sein Schweigen war so bedeutungsvoll wie die Geheimnisse der Apokalypse, sein Reden war Prophetenthum. Daß er arbeitete, stand fest. Wenn er um zwölf Uhr von der „Kneipe“ gekommen war, sah man bis drei und vier Uhr noch Licht bei ihm. Seine Versicherung, er würde ein neues System des Staats-, des Natur-, des Völkerrechts, eine neue Philosophie der Geschichte, eine neue Geschichte der Literatur, eine neue Ausgabe des „Sachsenspiegel“, eine Zusammenstellung der Fragmente des Ciceronischen Buchs „De Republica bringen, eine Geschichte der italienischen Städtebünde, eine Abhandlung über die Verjährungsfristen, eine neue Begründung des Steuerwesens und eine Kritik Adam 261 Smith’s nach dem System der Bienenkörbe, alle diese Verheißungen fanden den vollständigsten Glauben. Für jedes dieser epochemachenden Werke hatte er die leitenden Gesichtspunkte schon fertig und wußte sie an geeigneter Stelle so anzubringen, daß man jahrelang von dem Gedanken sprach, den Sie, wissen Sie, Klingsohr, damals auf dem Ritt nach Münden, am Zusammenfluß der Werra mit der Fulda, auf der reizenden kleinen Insel (dem „Taufkissen der neu entstandenen Weser“, konnte er einwerfen) aussprachen? Klingsohr strich sich die kurzen röthlichen Locken und lächelte dann nur. Er lächelte nicht etwa geschmeichelt – die Werthschätzung verstand sich schon von selbst – er lächelte voll Wehmuth, wie ein Träumer, dem man von einem „Märchen aus alten Zeiten“ sprach. In solchen Wehmuthsaugenblicken konnte er, war es Abend und saß man im Freien, stundenlang auf ein einziges Sternbild blicken, die Kassiopeia, und ohne eine Miene zu verziehen so viel Bier oder Wein oder Grog „vertilgen“, wie ihm auf ein Klappern mit dem Zinndeckel, oder das Rütteln einer leeren Flasche, oder das Anklingen mit dem Stahlbügel der Cigarrentasche an ein leeres Glas von einem kundigen „Gleich-Gleich-Herr!“ nur hingestellt wurde. Begann er dann endlich nach solchen Pausen zu reden, so war es gewöhnlich eine neue Lesart im Tacitus, die er solange überdacht hatte, oder ein Irrthum in Vega’s Logarithmischen Tafeln. Je seltsamer, je abstruser seine Aeußerung, desto mehr imponirte sie.

Jetzt wieder saß Klingsohr im Alsterpavillon bis zwölf Uhr Nachts mit derselben Beharrlichkeit und in 262 demselben Wechselverkehr mit den „Gleich-Gleich-Herr!“’s wie sonst. Aber „zerrissener“ und wüster als sonst war seine Art, bitterer sein Humor; die Scherze, die er oft bis zur Ausgelassenheit über einen und denselben Gegenstand „zusammenjeanpaulisiren“ konnte, flossen nicht mehr von seinen zuweilen krampfhaft zuckenden Lippen. Man brachte bei Beobachtung dieser Veränderung den ihn betrübenden Tod des hochgefeierten Vaters in Rechnung, dann die Liebe zu dem Elfenkinde vor dem Damm­thor, das alle gesehen und wegen ihrer fremdartigen, der hier zu Lande üblichen Weise nicht entsprechenden Art des Aussehens und Benehmens bewunderten. Einige „schlechte Witze“, die dieser oder jener sich erlaubt hatte, waren fast bis an die „touchirende“ Grenze gegangen und ein für allemal beseitigt worden. Klingsohr hatte sich, als man von einem bei dem Kleesaatmakler Carstens in „Correction“ gegebenen „Röslein auf der Heiden“ sprach und das Rauhe Haus erwähnte, vom Tische erhoben, wie wenn ein jeder Zoll an ihm auf zwei hinauswüchse und er geradezu bis zu seiner Kassiopeia hinauf wollte; er sprach kein Wort, aber sein sonst ausdrucksloses Auge starrte und von Stund’ an war das Gespräch über diese Liebe rein und unentweiht, wenn man auch nicht begriff, wie sie den von einem solchen Besitz Beglückten nicht mehr beleben und erheitern konnte.

Des Geldes, das allerdings sonst, wenn es mangelte, dem „Weltschmerz“ Vorschub zu leisten pflegte, besaß Klingsohr genug. Wie kam er zu dieser verstimmten Laune, diesem schlendernden, dicht an den Häusern entlang gehenden Gang, diesem Niederblicken, diesem hef-263tigen Aufschlagen der Gläser, daß sie oft in Scherben zersplitterten, diesem erbitterten Angriff auf Richtungen, denen man ihn verwandt glaubte, dieser gehässigen Verfolgung alles dessen, was lebensvoll und fröhlich sich um ihn her tummelte?

Einige Aufsätze schrieb er damals für Blätter, die seine Freunde redigirten. Die doctrinären Behauptungen darin gingen selbst diesen zu weit. In einer Republik von Bürgern rühmte er den Adel, nannte ihn von Gott eingesetzt, stellte ihn wie Leuchten hin, die das Dunkel der Zeiten erhellen sollten, pries ihn seiner Einseitigkeit wegen, in der die Bürgschaft seiner Kraft läge, ja schloß damit, daß kein Denker besser die Zeit erfaßt hätte als jener Ludwig von Haller zu Winterthur in der Schweiz, derselbe, der Luthern einen sittenlosen, entlaufenen Mönch genannt hat.

Diese Artikel erregten Widerspruch. Sie würden in dem Kreise, der Klingsohrn bewundernd umgab, eine Spaltung hervorgerufen haben, wenn nicht seiner Vergötterung des Adels eine Nemesis der schneidendsten Ironie gefolgt wäre.

Sie erregte das Aufsehen der ganzen Stadt.

264 17.#

Eines Tages, an einem schönen Nachmittage, saß Klingsohr am Alsterpavillon wieder unter seinen Freunden.

Sie waren heute zahlreicher denn je vertreten, da man auf dem wallenden blauen Bassin ein Wettrudern veranstalten wollte, zu welchem einige von ihnen als Comitémitglieder gehörten und sich über mancherlei dabei zu beobachtende Vorschriften vor der entscheidenden Sitzung zu verständigen wünschten. Schon baute man ein Gerüst auf einigen Kähnen, das in bunter Ausschmückung in der Mitte des Bassins als Festtribüne vor An­ker liegen sollte. Die Massen der Bevölkerung wogten hin und her. Klingsohr war vorm Thore gewesen und hatte, wie schon oft, Lucinden nicht gefunden.

Diese konnte das Einerlei der Beethoven’schen Sonaten, der grünen Erbsen und vaterstädtischen Münzen nicht länger ertragen und hatte nach rechts und links ihr Terrain erweitert. Menschen, die von einer frischen und lebenskecken Kraft sich bestimmen lassen, finden sich überall. Lucinde hatte die ganze Reihe der Sommerwohnungen von Nr. 25 bis 40 diesseit der abgeblühten Hollunder-265hecke und jenseit von Nr. 45 bis 60 durchbrochen und dort durch Vermittelung von Kindern, hier durch einen entflogenen Papagai, da durch ein am Buschwerk des Gitters beim Vorüberstreifen hängen gebliebenes Tuch, dem man von innen Abhülfe spendete, eine Bekanntschaft nach der andern geknüpft. Zum Schrecken der beiden Damen Carstens war sie überall einheimisch geworden, sowol bei Menschen, die jährlich 10000 Mark einnahmen, als bei solchen, die vielleicht nur auf 4000 kamen und sogar den Winter über die Sommerwohnung nicht verließen; „ja bei Juden sogar“, bei Lotteriecollecteuren und Hausmaklern sprach sie ein und wußte alle Geheimnisse der jungen Mädchen und jungen Frauen, der Matronen, sogar der Ehemänner und Greise. Ihre Zutraulichkeit befremdete erst, dann entzückte sie. Die fremdartige, halb süddeutsche Aussprache, der geringe Werth, den sie auf ihre Anmuth legte, ihre Neigung zum Necken gefielen so ausnehmend, daß Eifersuchtsscenen ausbrachen, und schon darüber, wer sie am längsten und am öftersten besitzen konnte. Lucinde erkannte sich kaum selbst wieder in diesen Erfolgen. Die alte Erfahrung, daß in ein steifes, allzu geregeltes Treiben ein glücklich organisirter Geist mit den leichtesten Mitteln Leben und Bewegung bringen kann, bestätigte sich aufs neue. Sie staunte über das, was sie zu Stande brachte. Alle Herzensgeheimnisse von einem Dutzend junger Mädchen kannte sie, und Männer, die sonst auf Spaziergängen kalt vorübergingen, wurden ihr jetzt in ihrem geheimsten Charakter enträthselt. Sie half, wo sie konnte. Ja, sie selbst erntete Huldigungen in solchem Ueberfluß, daß sie nicht wußte, was 266 damit anfangen. Noch entdeckte sie alles Klingsohrn und nahm dessen Warnungen auf. Bald aber stellte sie Vergleiche an und gerieth in Neckereien und Versteckspiele, ganz in der ihr eigenen Weise, die allen und keinem gehörte. Bald folgte dann freilich auch die Reaction. Hier war eine Eitelkeit verletzt, dort ein Verdacht übertrieben worden; schon gab es Vorwürfe, schon Verfeindungen; Freundschaften lösten sich im Lauf eines einzigen Abendspazierganges durch die thaufeuchten Wiesen in entsetzliche Enthüllungen, Racheplane und Warnungen auf. Hütet euch vor der! riefen die einen, während die andern noch das treueste und edelste Herz liebkosten und nur ein Kind der Natur in Lucinden sahen, dem niemand gram sein könne, selbst wenn es unüberlegte Streiche machte … Kein Wunder, daß in diesen immer mehr zunehmenden Wirren Klingsohr oft stundenlang bei der Erbsen kernenden Sophia oder der „Lieder ohne Worte“ spielenden Meta oder dem in der Geschichte der alten hamburger Bürgermeister verlorenen Nikolaus verweilte und sich von seiner in Feld und Wald verflogenen Liebe nichts finden wollte.

In der durch eine solche Nachricht von einer wieder in die Sumpf-, Moor-, Wald- und Sandsteppenwelt hinter Eppendorf hinausgegangenen Wanderung erzeugten Misstimmung war Klingsohr an jenem Nachmittage zur Stadt zurückgekehrt. Da das auf der Alster vorbereitete Vergnügen ein aristokratisches war, so fanden sich in dem Kreise, den er betrat, gerade diejenigen anwesend, die ihr Patricierblut in denselben Wallungen kund zu geben pflegten, wie wenn sie zu den „Granden 267 der Ukermark“ oder zu Mecklenburgs Vollblut gehörten. Zu den Hofschlittenfahrten unter den berliner Linden können die Farben, die die Vorreiter tragen, die Farben der Federn, die auf den Köpfen der Rosse wehen sollen, nicht sorgfältiger nach den heraldischen Thatsachen der Familienwappen bestimmt werden, als hier die jungen Doctoren aus den Familien der Millionäre und die künftigen Senatoren und Gesandten der Republik von den Emblemen ihrer Wimpel, den gestreiften Farben ihrer Ruderboote und Ruderer sprachen. Die „Ehre“ war in ihrer ganzen, so empfindlichen und bekanntlich nur geringen Elasticität angespannt, und Heinrich Klingsohr gab seine Rathschläge in einem Tone, als wenn er in der That ein rechtmäßiger Sohn jenes Freiherrn von Wittekind war, dessen Processe er nur führte.

In diesem Augenblick geschah ihm aber etwas Entsetzliches.

Eine schlanke, hohe Gestalt in schwarzem Frack, mit einem hierorts auffallenden Ordensbande im Knopfloch, drängte sich durch die dichten und dem Alsterspiegel zugewandten Menschenmassen an den von den geachtetsten jungen Männern der Stadt besetzten Tisch, rief ein lautes, fast kreischendes: Hab’ ich dich, Schurke! einem derselben, dem er den Hut vom Kopfe schlug, entgegen und schlug mit einer Reitpeitsche auf Schultern, Kopf, Hände desselben so unbarmherzig zu, daß im Nu blutige Striemen auf Stirn und Wangen sichtbar wurden. Man hätte noch Aergeres befürchten müssen, wenn dem Rasenden, der Stühle und Tische umwarf, um noch ärger über sein Opfer herzufallen, andere nicht im Augenblick 268 in die Arme gesprungen wären und mit der äußersten Anstrengung seinem Beginnen ein Ende gemacht hätten.

Der so Getroffene war Klingsohr. Den Angreifer erkannten sowol dieser selbst, soweit er die Besinnung behielt, wie mehrere in der Gesellschaft sogleich wieder. Es war kein anderer als ein älterer göttinger Studiengenosse, der Freiherr Jérôme von Wittekind.

Der Kammerherr nannte auch sogleich seinen Namen und warf zum Ueberfluß eine Karte auf den Tisch. Andere rissen ihn fort. Das rege Rechtsgefühl und das schnell entschlossene Naturell der Bevölkerung machte sich in der Beihülfe geltend, die der Mishandelte erfuhr; man riß den Störer des Stadtfriedens fast nieder. Die Mitglieder der Gesellschaft aber, die sein Ueberfall so urplötzlich gestört hatte, hinderten sowol die Volksjustiz wie die Arrestation. Alle erkannten, daß hier ein Vorfall stattfand, der einem Ehrengericht angehörte, nicht der Polizei. Klingsohr blutete. Sowie er zum Bewußtsein gekommen, wollte er sich entfernen. Kein Wort sprach er, ja er schien dem Ueberfall eine Bedeutung zu geben, die diesen gänzlich dem Bereich fremder Einmischung entzog. Um den Angreifer, dessen stattliche Gestalt imponirte, ja der sofort eine Erfrischung bestellte und die Börse zog, hatte sich sofort eine Gruppe gebildet. Es stand bald fest, daß eine solche Selbsthülfe hier nur die Folge eines äußersten Zwanges gebotener Umstände gewesen war, und wenn auch Männer und Frauen riefen: Er ist toll! wenn auch einige der Herren am Tische es überdies auch schon gesagt hatten: Es ist der tolle Wittekind! so erblickte man doch zunächst in 269 seiner Handlungsweise nur das Maß, wie weit Rache und langgeschürte Wuth vielleicht begründetermaßen einen Menschen fortreißen können. Den Angreifer begleiteten über die Straße einige seiner alten Commilitonen auf einige Zimmer, die er, vor einer Stunde angekommen, im ersten Stock der auf zwanzig Schritte nahe gelegenen Alten Stadt London genommen und auf Befehl der Polizei nicht mehr verlassen durfte. Man erfuhr von dem ohne alle Begleitung Angekommenen, daß ihm Klingsohr „seine Braut“ entführt hätte.

Wirr genug waren die nähern Angaben des Racheschnaubenden; aber kannte nicht jeder das Räthselhafte der Persönlichkeit, mit der Klingsohr in Hamburg aufgetreten war? Der Kammerherr konnte, wenn er einen tobsüchtigen und bösen Gedanken unausgesetzt verfolgte, mit Consequenz verfahren wie ein Vernünftiger. Jetzt war er ganz heiter, lachte, ließ Champagner kommen, behielt seine alten Freunde zurück und widersetzte sich der Anordnung eines Ehrengerichts keineswegs. Die Satisfaction, die als dem so Gezüchtigten gebührend sogleich genannt wurde, versprach er ohne weiteres geben zu wollen, drang aber auf Eile, wobei er sich benahm, als drohten der Verzögerung Gefahren für ihn und andere. Niemand begriff dabei aus seinem Benehmen, wie der längst als schwachsinnig Bekannte mit einer gewissen lachenden Geberde immer auch die Freude über seine Flucht aus einer, wie es schien, gewaltsamen Absperrung kund gab.

Klingsohr wurde sofort in seine Wohnung gefahren. Ihn begleitete der andere Theil der gemeinschaftlichen Freunde. Als man von der Entscheidung durch die 270 Kugel sprach, sprang er auf, stieß das Gefäß mit kaltem Wasser, aus welchem man die Umschläge anfeuchtete, die die Striemen seines Antlitzes kühlen sollten, zurück und blickte starr ins Leere, wie schaudernd vor einer gräßlichen Gedankenverbindung. Dann sank er in einen Sessel zurück, dumpf vor sich hinbrütend, das Haupt aufgestützt und den Kopf schüttelnd wie über das Unerklärlichste der Welt. Die Beschimpfung, die er vor einer ganzen Stadt erlitten, war so groß, daß man diesen starren Ausdruck, der sich bis zum Ausbruch eines jeweiligen bittern Lachens steigerte, nur allein seinem Schamgefühl zuzuschreiben brauchte. Nannte man jedoch den Kammerherrn verrückt, so schüttelte er den Kopf und that, als wäre sein Beleidiger der Weisesten einer und von Gott selbst gesandt.

Daß Jérôme von Wittekind in dem Grade schwachsinnig war, wie es Lucinde kannte, wußte man in diesem Kreise noch nicht; man hatte vor Jahren in Göttingen des Verkehrten genug von ihm erlebt, aber selbst Klingsohr kannte ihn nicht in seinem ganzen Zustande. Einem der Freunde, einem Arzt, der lange bei dem Thema der Narrheit des Beleidigers verweilte, unterbrach er die Rede. Man mußte es seiner Aufregung und dem Mismuth, zur Herstellung seiner mishandelten Ehre – wie einmal die Logik des Duells mit sich bringt – nun noch sein Leben preiszugeben, zuschreiben, wenn seine Aeußerungen herauskamen wie ein Schauder vor den Fügungen des Geschicks. Dumpf sprach er in Stellen aus den Tragikern aus, daß das Schicksal seine Verhängnisse durch unsere eigene Thorheit und Leidenschaft vollziehen lasse.

271 Ebenso wichtig, wie die Vorbereitung eines Duells, die Klingsohr als den Abschluß des die ganze Stadt erfüllenden Vor­falls ruhig geschehen ließ, war die Fürsorge, die man zu treffen hatte, um Lucinden vor dem Kammerherrn zu sichern.

Sofort wurde eine Mittheilung nach der Sommerwohnung des Herrn Carstens gemacht mit der Warnung, Fräulein Schwarz nicht einem Ueberfall bloßzustellen, der bei dem Charakter einer solchen Leidenschaft, wie sie der Kammerherr zur Schau trug, leicht in einer gewaltsamen Entführung bestehen konnte.

Die Damen des Hauses erschraken nicht wenig, theils über den Vorfall an sich, theils über die in Aussicht gestellten Folgen. Sie beklagten, eine Person aufgenommen zu haben, die nun in der ganzen Stadt ein solches Gerede veranlaßte. Hatte sich Lucinde bereits unter einem Dutzend Familien die verschiedenartigsten Beurtheilungen zugezogen, so gab sie denen, die ihrem Charakter mistrauten, sie der Koketterie und Intrigue beschuldigten, jetzt eine Thatsache an die Hand, die ihr Urtheil rechtfertigte. Sie war die Geliebte eines vornehmen Adeligen und diesem von Klingsohr entführt … Schreckensworte für das Ohr der Damen Carstens, die von Lucindens spät dauernden Spaziergängen und Landpartieen und ihrem Abends spät bis zum Dunkelbraunwerden ziehenden Thee genug indignirt waren.

Als Lucinde die Kunde von dem Vorfall am Alsterpavillon vernahm, überfiel auch sie ein Grauen bei dem Gedanken, dem Kammerherrn zu begegnen. Nimmermehr! rief sie und sah um sich, wie einst ihre Tauben, wenn sie den Stoßvogel erblickten. In dem engen Raum 272 dieses Hauses, selbst wenn man Herrn Carstens hätte veranlassen wollen unten zu schlafen, war kein Versteck zu finden. Auf dem Rödingsmarkt gab es nur herabgelassene Vorhänge, jetzt keine Betten, keine Bequemlichkeit, und doch erklärte sie, gern auf der Erde schlafen zu wollen, nur nicht sich der Gefahr auszusetzen, diesem Verfolger zu begegnen. Aber jedem der drei Geschwister fiel irgendeine Bagatelle ein, die in seinem Nichtbeisein in der Stadt beschädigt werden konnte. Sie erklärten, dann lieber auf einige Zeit alle mit in die Stadt zurückgehen zu wollen, wodurch natürlich der Versteck wieder aufgehoben wurde. Endlich bot sich ein anderes Auskunftsmittel. Die rasch geschlossenen und rasch wieder abgebrochenen Freundschaften mit der Nachbarschaft hatten bei zwei Interessen Stand gehalten, einem materiellen und einem geistigen. Ein Modehändler vom Neuenwall hatte in der jetzigen Saison morte keinen bessern Kunden als die junge Pensionärin des Kleesaatmaklers Carstens. Lucinde war reichlich vom Kronsyndikus und Klingsohr mit Geld ausgestattet. Zu ihren Liebhabereien gehörte es nicht nur, sich zu schmücken, sondern mehr noch, in der Stadt von Laden zu Laden zu gehen und Einkäufe zu machen. Sie hatte die Liebhaberei des Schenkens. Manche von denen, die nichts mehr von ihr annehmen wollten, behaupteten, sie wollte sich damit nur das Recht erkaufen, die Menschen dann auch verletzen und ärgern zu können. Die Damen Carstens nannten sie eine Verschwenderin und begriffen nicht, wie sie bei einer Beschwerde darüber von Klingsohrn die Antwort bekommen konnten: „Feen schenken gern!“ Er wußte, daß Lucinde darben, auf Stroh liegen konnte ebenso wie in 273 goldenen Palästen wohnen. Sie hatte bisjetzt mit dem Leben nur gespielt; fast schien sie zu wollen, daß auch das Leben nur mit ihr spiele. Etwas selbst und lange zu erwarten und zu erhoffen, wäre ihr das Drückendste gewesen. Hätte sie damals die Volksjustiz nicht von der Frau Hauptmännin von Buschbeck erlöst, sie würde vielleicht noch bei ihr gedient, noch die Zwetschenkerne sich zerschlagen und sie für eine Delicatesse verspeist haben, glücklich, daß es nicht die gefangenen Mäuse waren.

Es gibt einen großen Bund in der Gesellschaft, der seine eigenen Mysterien hat. Es ist dies der Bund der Notenkundigen, der einer Verschwörung gegen die musikunkundige Welt nicht unähnlich sieht. Dieser Eifer, sich zu Duetten und Trios zu verbinden, bei welchem Madame Möller und Fräulein Wulff sangen, Lucinde spielte – der Gesang war ihr völlig versagt –, dann einmal Herr Möller mit der Violine, Herr Wulff mit der Flöte begleitete, dieser Fanatismus, bei keinem Streichquartett der Dilettantenwelt, bei keinem Concert durchreisender Berühmtheiten zu fehlen, dies ewige geheimnißvolle Verbundensein mit Felix Mendelssohn-Bartholdy auf dem Wege der Tonschlüssel in A-Dur und C-Moll … das ist ein ganz eigener Cultus, der, wie es die Dissonanz des Lebens und der Genuß an etwas mehr oder minder rein gestimmter Harmonie einmal mit sich bringt, bis zur souveränen Verachtung aller Uneingeweihten führt und aus Notenkundigen schon die größten Aristokraten und Tyrannen gemacht hat. Madame Möller hatte bei einer zufälligen Anwesenheit in Leipzig von einer Schülerin Mendelssohn’s singen gelernt, was so viel war als von 274 ihm selbst. In den Räumen der Sommerwohnung Möller und Wulff hatte man Musikaufführungen gehalten, deren Wichtigkeit zwar nicht ganz, aber doch annähernd den Sitzungen des deutschen Bundestags gleich erachtet wurde, auch Meta Carstens schloß sich an, einige junge Buchhalter oder Gelehrte spielten Bratsche, Cello oder entwickelten guttreffende Stimmen. In diesem Kreise war es, wo sich Lucinde am längsten hielt. Sie begleitete nur, spielte nur zweite Stimmen und lachte dabei innerlich sowol über die langen Hälse der Singenden wie über die allgemeine menschliche Eitelkeit.

In das dieser Familie gehörende Haus auf dem Neuenwall flüchtete sich Lucinde. Madame Möller und Fräulein Wulff schliefen zu ihrem Schutze in der Stadt. Aus dieser verschwiegenen Einsamkeit entstand freilich eine Frequenz, welche die des im Parterre befindlichen Sommergeschäfts übertraf. Herr Noodt hatte den Aufenthalt bald erkundschaftet und gönnte Herrn Wulff nicht die beständige Nähe Lucindens und machte Besuch und Fräulein Smidt fürchtete das und machte sich selbst bei Madame Möller zu schaffen und Fräulein Jansen fürchtete wieder, Herr Gensler würde demselben Triebe folgen, und suchte die Fährte auf, die auch endlich nicht nur Herr Gensler, sondern auch Herr Burmester, Herr Johannsen und Herr Wilckens gefunden hatten. So verstrichen drei Tage in einem nicht endenden Klingeln der Dielenthür und einer Aufregung der an der Verborgenheit betheiligten Personen, die sich nur durch Musik beschwichtigen ließ; man sang, man stritt über Noten und Tonarten und da der Flügel fehlte, sang man Scalen und 275 Solfeggien und stritt über den größern Werth der Schumann’schen oder der Mendelssohn’schen Lieder.

Um ein Wesen, das sich in dieser Lage so benehmen konnte und nur auf das dringendste Verlangen der Damen Carstens zu be­wegen gewesen war, einige Zeilen des Bedauerns an Klings­ohr zu schreiben, ihm ihre Flucht, ihre Sicherheit, ihren Antheil an seinem schmerzlichen Erlebniß auszudrücken, schoß sich dann zwei Tage nach der erhaltenen öffentlichen Beschimpfung Klings­­ohr mit seinem Jugendfreunde hinter Ottensen auf zehn Schritt Barrière.

Man hatte vieles erwogen gehabt. Klingsohr hatte sich mit den Secundanten vorher eingeschlossen, hatte von seinen Verpflichtungen gegen den Kronsyndikus gesprochen; immer aber trat allen Abmahnungen das Bild entgegen: Vor einer ganzen Stadt mit der Reitpeitsche durchgehauen! Die Satisfaction konnte nur in einem Duell bestehen.

Man hatte die Formen des Duells so leicht wie möglich gemacht, die Distanzen nach den größten Maßen genommen und dennoch schoß Klingsohr seinen Beleidiger, nachdem dieser, ohnehin abgekühlt und von der Gefahr erschreckt, einen verfrühten Schuß ohne zu avanciren blindlings abgefeuert hatte, mit dem seinigen auf einen einzigen Anschlag nieder.

Die Kugel drang zwischen die untern Rippen in Blutgefäße, die sich augenblicklich zu entleeren begannen. Eine Secunde stand noch Jérôme, entfärbte sich, suchte sich zu wenden und sank entseelt zu Boden.

Nach vollbrachter That wurde Klingsohr von seinen Freunden dringend aufgefordert, den im Gehölz befindlichen Wagen zu besteigen.

276 In dieser menschenbesäeten und gutbewachten Gegend mußten zwei Schüsse selbst in der ersten Morgenfrühe auffallen.

Der mitgenommene Arzt erklärte, jeder Versuch, den Gefallenen ins Leben zu rufen, wäre vergeblich.

Klingsohr zeigte einen dumpfen Schmerz. Er stand wie erstarrt und mochte sich von der Leiche nicht trennen.

Laßt mich! rief er und schleuderte die, die ihn fortziehen wollten, zurück.

Wir beschwören dich! rief man. Klingsohr! Die Flurschützen kommen!

Klingsohr blieb starr und schauderte …

Der Frevel ist bestraft, wie er’s verdiente! rief man. Komm!

Klingsohr beugte sich mit einem Knie, stemmte das Haupt auf das andere und faßte die erkaltete Hand des schon Verblichenen. Die lange herculische Gestalt lag marmorblaß, die Lippen waren krampfhaft geöffnet, wie wenn ein Wort noch von ihnen hätte kommen sollen, das der plötzliche Tod abschnitt.

Da jeder Lebenshauch geschwunden war, so nahmen die Secundanten die wichtigsten Dinge aus den Taschen der Leiche, um sie selbst bis auf weiteres liegen zu lassen, gerichtliche Rencontres zu vermeiden und vorläufig nur sich selbst zu flüchten.

Mit Widerstreben wurde Klingsohr in den Wagen gezogen.

Man sah Menschen dem Gehölz zueilen, glaubte aber den Vorsprung noch frei. Die Rosse zogen an, der tiefe Sand gestattete kein schnelles Ansprengen. Kaum aber 277 hatte man das Gehölz hinter sich, als der Flurschütz mit einigen schnell herbeigerufenen Landleuten ihnen schon in die Zügel fiel.

Jetzt, wie zur Besinnung kommend, springt Klingsohr auf, reißt die eine der noch geladenen Pistolen an sich und erschreckt dadurch seine Freunde so, daß sie sich nur beschäftigen können, ihm die gefährliche Waffe zu entwinden. Darüber verlieren sie den Vortheil entweder zu entkommen oder, wie wol in solchen Fällen geschieht, sich durch Bestechung loszukaufen.

Sie mußten ihre Namen nennen und versprechen, mit dem Wagen dem Flurschütz zu folgen.

Auf dem Stadthause in Altona wurde ein Protokoll aufgesetzt. Klingsohr, dem nur zunächst an der würdigen Bestattung seines Opfers lag, mußte zurückbleiben. Die andern entfernten sich auf Ehrenwort.

Nach einer so ernsten Wendung war für niemand der Boden unter den Füßen mehr hinweggenommen als für Lucinden.

Sie kehrte auf die erste Schreckenskunde zur Carstens’schen Familie zurück, aber der Fall wurde so vielfach erörtert, mindestens so allgemein besprochen, daß sie der Gegenstand der allgemeinen Neugier und keines ihr günstigen Urtheils wurde.

Der Schimpf, der Klingsohrn angethan gewesen, war bestraft; ihn erwartete ein Spruch der Richter; nur sie, die Veranlassung dieser blutigen Scenen, ging frei aus, und jetzt konnte selbst die Musik nicht mehr ihren klingenden Schild über sie legen. Sie fühlte ihre Lage und zum ersten mal war ihr Nr. 33 gerade recht; die zwei 278 Bettschirme, die sie von den Schwestern trennten, ließen ihr gerade so viel Raum, wie sie auf einige Tage bedurfte.

Daß in solchen Lagen Naturen, wie die ihrige, allein stehen, aber auch ganz allein, das erfüllte sie mit Bitterkeit. Sie machte sich Geständnisse über sich selbst, ihre Umgebungen und über ihre Grausamkeit gegen Klingsohrn. Sie liebte ihn nicht mehr. Was traf sie da nach ihrer Meinung weiter für eine Schuld! Diese ganze Umgebung war ihr peinlich geworden, da schon lange alles das es wurde, was von ihr durchschaut werden konnte. Sie hatte angefangen, sich fortgesetzt einzureden, daß diese Welt eine ganz nichtige, nur dem Schein huldigende, daß diese Menschen alle, die sie bevölkern, nur Puppen wären, die an den Drahtseilen einiger kluger Matadore tanzten. Welche Narrheiten rechts und links! Diese Schwestern, die einen Bruder tyrannisirten, nur um ein gesichertes Alter zu haben! Pedantinnen in jedem Worte, das sie sprachen, in jedem Schritt, den sie thaten, immer nach dem Wetter lugend, auch in geistigen Dingen, immer bedacht: Was werden die Leute dazu sagen! Und Herr Carstens selbst, eitel auf eine Liebhaberei, zu der er nur die Geduld, nicht die Kenntnisse besaß, sonst stundenlang beschäftigt mit dem Selbstrasiren seines Bartes, dem Knüpfen seiner Halsbinde! Dieser Professor links, bei jedem Worte, das er sprach, sich umsehend, wie wol dessen Wirkung wäre, die Silben zählend, als wenn er die deutsche Sprache erfunden hätte und sie schonen und nicht allzu gemein machen müsse! Diese Frauen überall von Haus zu Haus; jede versunken in ihr eigenes Interesse, in ihre Kinder, ihre Möbel, ihre Tassen, ihre 279 Kleider, ihre etwaige Schönheit! Des Prahlens mit Gefühlen da, mit Gedanken dort kein Ende! Die Musiknärrinnen vollends schon die lächerlichsten von allen! Nun entdeckte sie, daß sie ja viel mehr wußte als sie alle, daß sie Gesichtspunkte hatte, während alle im Nebel tasteten; denn keines wußte vom Leben selbst so viel, als wie sie doch schon erkannt hatte oder wie sie Klingsohrn verdankte, der so viel Ahnungen und Lichtblicke in ihr entzündet hatte. Doch auch für diesen ergriff sie kein reines Mitgefühl mehr. Sie hatte die Vorstellung von sich, daß ihr im Leben irgendein weit größeres Ziel beschieden wäre und daß alle diese Begegnungen, die sie bisjetzt erlebt hätte, nur dazu dienten, ihre Entwickelung zu fördern. Nur Schlangenhäute waren es, die sie abstreifte. Seit dem Tode Jérôme’s rechnete sie tiefinnerlich auch schon Klings­ohrn zu dem, was für sie abgethan war.

Was aber beginnen? Zurück mochte sie in nichts! Das Verhältniß zum Kronsyndikus mußte nun doch wol aufhören! Ihr Verlobter war ja der Mörder seines Sohnes geworden! Jetzt erkannte sie wohl, daß Klingsohr nicht des Kammerherrn Bruder sein konnte! Die Rolle, die sie in jener Schreckensnacht auf Schloß Neuhof angefangen zu spielen, war zu Ende! … Diese unbestimmte Gegenwart konnte indessen nicht bleiben. Und sollte sie mit ihren seidenen Kleidern und Hüten betteln gehen, sie dachte an Flucht. Sie schrieb einige Briefe. Einen an ihre Geschwister, die aus dem Waisenhause zu Meistern gegeben worden waren, um Handwerke zu erlernen, einen sogar nach Eibendorf an den Pfarrer, einen wagte sie auch an den Kronsyndikus. Die Empfindungen, die die 280 Situation der Anzeige des erlebten Schrecklichen mit sich brachte, waren ihr geläufig, sie schrieb sie mit der größten Gewandtheit nieder. Auch dachte sie an jene Angelika Müller, mit der sie nach Hamburg gereist war. Irgendwo hoffte sie auf Rath, nur nicht in ihrer nächsten Umgebung oder von Klingsohr.

Von diesem bekam sie aber täglich einen Brief. Die Sprache darin war besonnen. Er sagte, daß seine jetzige Lage ihm wohlthäte; es läge ein unendlicher Trost darin, sich einmal so recht von dem Gesetz des Lebens, wie es ist, von den eisernen Armen der natürlichen Folgen unserer Handlungen gehalten zu sehen und keinen freien Willen mehr zu haben. Er bat sie, eine Weile auszuharren, bald würde sein Geschick entschieden sein; ein Jahr Festung würde nicht ausbleiben; er würde diese Strafe in einer schönen Stadt am Busen der Ostsee zu verbüßen haben; wenn er wüßte – und er wisse es ja! – daß ihm in sein dunkles Leben nur der Glanz ihrer Liebe schiene, so könnte er sein Loos nur preisen. „Es liegt“, schrieb er, „ein Zauber im Dulden und Gehorchen; es liegt ein Zauber im Müssen, die wahre Freiheit im Sichgefangengeben! Schon mit dem entströmenden Blut meines unglücklichen Opfers wurde mir leichter! Ich hätte mit seinen rinnenden Tropfen selbst sterben können! Daß ich diese That auf dem Gewissen habe, drückt mich nicht zu sehr. Die Beschimpfung, der ich vor hunderten von Zeugen ausgesetzt war, überschritt jedes Maß. Der Kammerherr war nicht in dem Grade geistesschwach, daß er nicht mit kluger Berechnung einen so boshaften Plan ausführen konnte. Alle meine Richter 281 sind voll Theilnahme und schon meine Freunde geworden. Der Greis auf Schloß Neuhof wird seinen Sohn von mir nicht fordern, … von mir nicht, Lucinde! … Ich schrieb ihm nicht. Theile Du mir mit, was er Dir antworten wird, falls Du ihm den Vorfall anzeigst, wie schon andere thaten. Sag’ ihm, daß ich ihm das Vaterherz, das er mir einst schenken wollte, jetzt zurückgegeben hätte und meinen Weg auch über die Wälle einer Festung hinweg finden würde; irgendwohin komm’ ich schon, wo ich mit Dir, Lucinde, meine Hütte bauen kann! Lies Bernardin de St.-Pierre! Und lerne dann englisch! Diese britische Literatur hat Freude an den Dingen, wie sie sind! Es geht nichts über die Ergebung, nichts über die Geduld, die sich mit einer Blume und einem einzigen Sonnenstrahl beschäftigen kann! Sieh, hier hab’ ich ein Zimmer, angenehm, geräumig, aber das Licht fällt von oben, die untern Fensterladen sind geschlossen und nicht zu öffnen. Zwischen den Ritzen stiehlt sich ein Sonnenstrahl hindurch. Ich beobachte ihn stundenlang. Er geht wie der Schatten eines Sonnenuhrzeigers im Kreise. Es ist ein Nichts, ein Schein und doch wie wesenhaft! Die Atome zittern und tanzen in ihm! Ohne diesen Strahl würden die Atome sinken und nicht, für mich wenigstens, dasein, aber in ihm wirbeln und erhalten sie sich und immer rundum. So halten sich die Welten! In einem höhern Sonnenstrahl werden wir einst das selber sehen, selber fühlen! Wie überflüssig alles Wissen, wenn man das weiß! Ich brauche kein Buch mehr. Man hat mir Bücher und Schreibpapier angeboten. Ich will nicht mehr haben als ich brauche, um an Dich zu 282 schreiben. Lesen ist mir verhaßt. Jeder Buchstabe, der nicht aus der Welt jenes meines einzigen Sonnenstrahls kommt, thut mir weh. Menschen! Menschen! Ihr dünkt euch so viel! Ich könnte alles hingeben wie ein Mönch, wenn nur im Klostergarten ihm sein kleines Blumenbeet bleibt!“

Für Lucinden waren diese Klagen nicht im mindesten rührend. Sie schrieb, aber sie beantwortete gerade diese Klagen nicht. Sie überließ sich scheinbar Klingsohr’s Anordnungen, besprach aber eine Reise nach England mit Herrn Carstens, der schon, um sie zu entfernen, in Correspondenz mit jenem Pachter stand, dessen Bekanntschaft er die Pensionärin verdankte. Nach dem Glauben der Nachbarn war Lucinde schon fort und manchem ihrer Nekrologe oder ägyptischen Todtengerichte, die ihr vor dem Fenster und hinter herabgelassenen Vorhängen draußen in der Laube von einem Einsprechenden gehalten wurden, konnte sie selber zuhören.

Am Tage nach dem Begräbniß des Kammerherrn war ihrer Ungeduld kaum noch einzuhalten. Die Verantwortlichkeit des Hauses für sie hatte sich aufs höchste gesteigert. Die Damen Carstens schliefen nicht mehr. Sie schlossen Lucinden am Tage ein, sie versagten sich selbst den Genuß der Natur, gingen nicht aus, verschlossen sogar das Piano, nur damit sich Lucinde nicht durch Spielen verrieth.

Noch den dritten, vierten Tag ließ sie sich durch eine Reisebeschreibung über England beschwichtigen. Am fünften aber drohte sie mit einem Sprunge aus dem Fenster. Sie hatte gerade beide Schwestern, die sie verzweiflungs-283voll an den Kleidern zurückhielten, hinter sich, als ein eleganter Wagen draußen am Staket vorgefahren kam mit zwei Bedienten, von denen einer die Livree des Schlosses Neuhof trug.

Der Schlag öffnete sich und ganz in Schwarz gekleidet trat, unterstützt von dem andern Diener, eine lange, hagere Gestalt aus dem niedergelassenen Schlage.

Excellenz, der Kronsyndikus! rief Lucinde und wäre fast aus dem Fenster und dem Ankommenden an den Hals gesprungen.

Um alles in der Welt von den Schwestern um Anstand und „sittliches Betragen“ ersucht, hielt sich Lucinde zurück und bedeutete die Wächterinnen, daß sie denn doch eilends selber Seiner Excellenz entgegengehen möchten.

Die Schwestern, „zwei Seelen und Ein Gedanke“, drängten sich schon vor einem Spiegel, um ihre Frisur, ihre Kleider zu ordnen. Dies währte lange. Der Kronsyndikus war inzwischen im Garten und pochte schon an die seither immer verschlossen gewesene Hausthür.

284 18.#

Hätte Lucinde den Ankommenden nicht schon beim ersten Schritt aus dem Wagen erkannt, aus diesem leisen und zurückhaltenden Pochen würde sie es nicht gekonnt haben. So pflegte sonst der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof nicht zu pochen.

Er nahm, da nicht geöffnet wurde, den Stab, auf den er sich im Gehen gestützt hatte, und pochte wiederholt an die Thür, doch aber auch mit dem Stabe ebenso zurückhaltend wie zuvor mit der Hand.

Als die Fräulein Carstens in ihrer Toilette so weit vorgeschritten waren, sich einem solchen Besuche vorstellen zu können, öffneten sie und baten wegen der Verzögerung um Entschuldigung.

Das Auge des Greises, der leise irgendetwas Verbindliches brummend erwiderte, suchte nur Lucinden.

Als sie vortrat, umarmte er sie mit Innigkeit. Eine Thräne stand ihm in den weißen Wimpern; er bedurfte einiger Erholung, bis er sprechen konnte.

Thränen kannten Lucindens Augen in dieser Situation nicht, aber sie sprach mit Innigkeit zu dem gebeugten 285 Greise, der jetzt einen Stuhl suchte, sich zu sammeln. Lucinde würde mit noch größerer Herzlichkeit seinen Gruß erwidert haben, wenn die Redseligkeit der Fräulein sich nicht in einen Wettstreit von Beileidsbezeigungen ergangen hätte. Da so vier Stühle jetzt zusammengerückt zu sehen zum ceremoniellen Erörtern des „Unglücks“ und des „bejammernswerthen Vaterschmerzes“ u. s. w., das benahm ihr jede Lust, sich ihrerseits an dem Beileid zu betheiligen.

Der Kronsyndikus schien die gleichen Gefühle zu hegen.

Nach einigen Klagen über sein schmerzliches Geschick, einigen Berichterstattungen über die nach Schloß Neuhof bereits von einem andern der mitgebrachten Diener abgesandte Leiche seines Sohnes erhob er sich und forderte Lucinden auf, in den Wagen zu steigen und mit ihm in den Umgebungen der Stadt spazieren zu fahren.

Diese Veranlassung, die Gefangene wieder in die Oeffentlichkeit zurückkehren zu lassen, war zu gebieterisch. Die Fräulein trugen selbst Hut, Sonnenschirm, einen Ueberwurf herbei und erschöpften sich in Zärtlichkeiten und Schmeicheleien für Lucinden, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.

Der Kronsyndikus bot Lucinden den Arm. Es war eine Artigkeit; aber eher hätte sie sich veranlaßt fühlen können, ihm den ihrigen anzubieten. Denn wie schritt er langsam und hinfällig! Seine Augen lagen tief in den Höhlen! Das Antlitz war so wachsbleich und mit einem Netz von Runzeln und Furchen nach allen Richtungen hin überzogen, wie ein Kopf von jenem Denner, der in 286 dieser Stadt gemalt hat. Die weißen Barthaare standen auf den hohlen Wangen wie zum Zählen.

Der in der großen Livree der Wittekinds harrende Diener war noch zu dem Commissionär des Hotels, der durch die Stadt den Führer machte, hinzugesprungen, um seinen Herrn beim Einsteigen in den Wagen zu unterstützen. Lucinde erkannte ihn wohl. Es war der gewöhnliche Diener des Kammerherrn … Jérôme war dem Grafen Zeesen plötzlich entsprungen gewesen. Wer ihn mit den Vorgängen auf Schloß Neuhof bekannt gemacht, ihm Lucindens und Klingsohr’s Aufenthalt verrathen, die Mittel zur Flucht verschafft hatte, war unbekannt. Erst zwei Tage darauf, nachdem man ihn vergebens in Eibendorf beim Pfarrer gesucht, entdeckte man die Spur, die nach Hamburg führte, und die schnell nachgeschickten beiden Diener kamen zu spät. Diese waren es gewesen, die noch früher als Lucinde und die Behörden an den Kronsyndikus das traurige Ende seines Sohnes berichtet hatten.

Nach vollständiger und so auf alles Erlebte wiederholt zurückkommender Erörterung sagte der Kronsyndikus:

Lucinde! Du kennst meine Anhänglichkeit an den Doctor! Du weißt, wie mich der Tod seines Vaters erschütterte! Ich trug ihm, wie du weißt, gleich denselben Abend meine Hand zum Schutz und Beistand an, ja, bot ihm sogar den Vaternamen! So schmerzhaft er mir diese Gesinnung vergolten hat, so will ich sie ihm darum doch nicht entziehen. Die ihm von Jérôme angethane Mishandlung war die schimpflichste, die ein Mann 287 erleben kann. Eine Genugthuung mußte ihm werden. Daß freilich seine Hand dazu bestimmt war …

Nun stockte der Greis; die leise zitternden Kinnladen schienen die Kraft nicht zu haben, seinen Gedanken zu folgen. Er veränderte seine Rede und sagte:

Daß seine Hand so unglücklich war, Jérôme bis auf den Tod zu treffen! Es ist aber einmal Gottes Fügung so gewesen, nun muß es verschmerzt werden! In unserm Kloster Himmelpfort werden wir Jérôme beisetzen und im Park will ich ihm an der Stelle, wo er dir damals, als die Verwandten dich entdeckten, zum Pavillon hinaufrief – da will ich ihm noch eine kleine Pyramide setzen lassen, so eine, wie er zu drechseln pflegte, das Bild der jenseitigen Sehnsucht – nach Püttmeyer … Jérôme ist ohne Beistand seiner Kirche gestorben. Das Fräulein Angelika Müller sprach ich schon. Du hast sie arg vernachlässigt!

Lucinde schützte Mangel an Zeit und Interesse vor. Das Ver­weilen bei religiösen Erwägungen war ihr am Kronsyndikus neu …

Der Wagen fuhr, wie befohlen worden war, langsam über die Wälle der Stadt … Manche Spaziergänger in den Alleen erkannten Lucinden und diese hielt sich denn auch gerade so, als sollte alle Welt die Genugthuung bemerken, die ihr soeben wurde …

Der Kronsyndikus fuhr fort:

Auch Klingsohrn sah ich schon! Er hat nur den einen Schmerz, nicht in deiner Nähe zu sein. Die große Stadt hat dich zerstreut, Lucinde! Ich hoffe nicht, daß du mir den Schmerz anthust und deinen Freund 288 vernachlässigst! Ich habe versprochen, euer beiderseitiges Glück im Auge zu behalten, werde aber meine Hand unerbittlich von dir abziehen, wenn du Heinrich täuschen könntest! Es ist einer von den Männern, die des weiblichen Umgangs bedürfen, die aber nicht die Geduld haben, sich einen würdigen Gegenstand ihrer Liebe langsam zu erobern. Mit Geist und Charakter wollen die Frauen selten einen Mann. Sie wollen fast immer nur, wer ihnen schmeichelt oder amüsant ist oder im besten Falle Gemüth verräth, worunter sie etwas verstehen, was so viel wie unbedeutend ist. Klingsohr würde in der Wahl seiner Liebe immer fehlgreifen. Er ist tief gebeugt. Du wirst ihn durch deine Heiterkeit und Unbefangenheit wiederaufrichten. Also? Ich rechne auf deine Beständigkeit!

Nicht aus Schonung für den wie verwandelten Greis, sondern aus Furcht vor seiner, wie es schien, sehr ernst gemeinten Drohung gab Lucinde Versicherungen, von denen ihr Herz nichts wußte.

Man wird deinen Freund, fuhr der Kronsyndikus fort, zu einer Festungshaft verurtheilen. Er wird sie abzubüßen haben in einer Stadt, die ich in meinen jüngern Jahren wohl gesehen habe. Sie liegt an einem schönen Busen der Ostsee. Ja, der liegt mir so blau vor Augen, als wäre ich erst gestern dagewesen! Der Menschenkreis dort ist klein, aber traulich. Eine Universität, eine Besatzung beleben den kleinen Ort. Familien, die dich in ihre Obhut nehmen, werden sich finden lassen wie hier. Heinrich sitzt dabei auf der Festung. Anfangs wirst du ihn wol in der Festung sehen kön-289nen, später wird er, denk’ ich, auf Stunden sie verlassen und in der Stadt sich aufhalten dürfen. Man ist gegen Gefangene dieser Art nachsichtig; nach einem Jahre schon ist die Strafe, wenn sie auch vielleicht auf drei Jahre verhängt würde, abgebüßt. Ich, als Vater des Erschossenen, werde in Kopenhagen selbst um Gnade bitten, das wird die Haft kürzen. Dann bin ich dafür, daß Heinrich seinen Schatz von Gelehrsamkeit in Göttingen zur Anerkennung bringt und dort um eine Professur wirbt; du hast all die Fähigkeiten, die ihm für die strenge Verfolgung solcher Plane mangeln. Du wirst ihm durch die Ehe überhaupt erst die Erziehung geben, die er eigentlich nie bekommen hat. Seine Mutter starb früh … Was ich dir einst von ihr sagte, war … Eingebung – des Augenblicks! Nichts weiter! Er hat dir davon erzählt?

Lucinde nickte. Sie versprach alles, was der Kronsyndikus nur zu hören wünschte. Sie war schon glücklich, aus der Gesellschaft der Fräulein Carstens erlöst zu sein. Sah sie doch jetzt, auf einer Spazierfahrt, wie sie sie nie gemacht, zum ersten mal erst das schöne Hamburg! Und nun schon wieder das neue Bild der See, einer Universität, einer Besatzung – Vorstellungen, die ihre Phantasie ganz in Beschlag nahmen. Nur mit Widerstreben kehrte sie in ihre Klause zurück, an welcher der Kronsyndikus nach einer Stunde vorfuhr. Von den Fräulein am Staket empfangen, gab sie sich unbehindert den staunenden Blicken aller Nachbarn preis. Der vornehme Herr, der sie so ehrte, war ja der Vater ihres erschossenen „ersten Verlobten“.

Am folgenden Tage sah sie, wieder in Begleitung 290 des Greises, auch Klingsohrn im altonaer Stadthause. In der Sehnsucht, ihre gegenwärtige Lage geändert zu bekommen, ging sie auf alles ein, was man von ihr voraussetzte. Sie war, vom Kronsyndikus, der indessen eine Weile am Ufer der Elbe auf- und abfuhr, mit Klingsohrn allein gelassen, ganz so hingebend, ganz so vertrauend, wie der Gefangene nur verlangte. Sie konnte ihn in der Voraussetzung zurücklassen, daß er auf die Treue „seines Mädchens“ wie auf Felsen würde bauen können. Vor ihrer Kunst, sich in die Umstände zu schicken, auf eine Erinnerung an den Kammerherrn den Blick zu umfloren, auf ein stürmisches: Sieh mir ins Auge! fest und sicher die schwarzen Sterne Klings­ohrn entgegenzuhalten, erschrak sie selbst. Klingsohr gerieth in einen Ausbruch von Wonne, wie damals in der verhängnißvollen Abendstunde auf Schloß Neuhof. Sprang er auch wol mitten aus einer Liebkosung auf, trat vor sie hin, streckte die Hand aus wie um sie zu erwürgen und sagte: Schlange! Bist doch falsch! Falsch! Ich weiß es! … so entwand sie sich ihm leise, wendete ihm ihren Nacken zu, versteckte den Kopf wie schmollend in die Ecke des Sophas, und erst dann, wenn er sie dennoch in dieser Lage umfing, mit den Armen gewaltig ihren schlanken Leib umspannte, den Kuß seiner Lippen auf ihre Schultern drückte, zog sie diese wie furchtsam ganz in die Höhe und wandte sich leise und allmählich erst mit dem Kopfe herum, allmählich die brennenden Augen erhebend, dann sprang sie auf und warf ihn scherzend zurück, gerade so, wie im Käfige die Panther zu spielen pflegen.

291 Vierzehn Tage brachte Lucinde dann noch mit dem Kronsyndikus zu, um mit ihm allein die Güter desselben zu bereisen.

Der Abschied von den Damen Carstens war ein einziger Jubel ihrer endlich befreiten Seele. Da sie den trauernden Greis, wie es auch dieser ihr ausdrücklich dankte, mit ihrer Heiterkeit erfreute, so ließ sie ihrem Humor ganz den Zügel schießen … Sie parodirte alle Erinnerungen an Schloß Neuhof, an die Lisabeth, an alle Inspectoren, an die Arbeiter, und nur vor Stephan Lengenich mußte sie Halt machen. Der Arme saß noch immer und kämpfte gegen die Verdachtsgründe, die ihn gravirten, vergebens. Seine wichtigste Entlastung, jenes grüne Stück Tuch, das man gleich anfangs bei der Leiche des Deichgrafen gefunden hatte, war, räthselhaft genug, abhanden gekommen. Auch von ihren neuern Erfahrungen erzählte Lucinde und stellte so viel Caricaturen auf, daß sie den Greis zu der aufrichtigen Versicherung veranlaßte, nur mit schwerem Herzen träte er sie an Klingsohrn ab, sie wäre wie geschaffen, ihm den Rest seiner Tage zu vertändeln. Auch von seinem jetzt alleinigen Erben, dem Oberregierungsrathe, sprach er wieder mit der alten Erbitterung. Dieser war ein Anhänger des Gouvernements in einem Grade, daß er ihn, nach einer in seiner heimatlichen Gegend geläufigen Erinnerung an Hermann den Cherusker, immer nur den neuen Segest nannte; Lucinde besaß Kenntnisse genug, darunter einen Verräther zu verstehen.

Die holsteinische Reise bot Natureindrücke und Abwechselungen, wie sie sich von diesen Flachländern kaum 292 erwarten ließen. Sanfte Hügel und Thäler wechselten mit Seen, letztere von prachtvollen Buchenwäldern eingerahmt, fischreich und überflattert von wildem Geflügel. Die Glocken von stattlichen Rinderheerden läuteten auf Wiesen, die sich hinzogen wie Alpenmatten. Jede Blume, die auf den Stoppelfeldern noch zurückgeblieben, mußte mitreisen. Lucinde stieg aus und wand Kränze, den Greis zu schmücken, der sich’s gefallen ließ, wenn ihn sein Rundblick über die landwirthschaftlichen Eindrücke zu ernst stimmte. Die Besitzungen, an denen man vorüberfuhr, waren schloßähnlich, von großen, massiven Wirthschaftsgebäuden umgeben, mit Gärten und Parks geschmückt. Die Bauernhäuser standen denen ihrer Herrschaften nicht nach. Alles zeugte von Wohlhabenheit und bestritt die Ansichten, die Lucinde vom Plattdeutschen als dem Ausdruck der Lässigkeit und Trägheit hatte. Die Krone aller dieser Eindrücke, die noch über den Eindruck der in sonnenglänzenden Wäldern still verborgenen Seen ging, war das letzte Ziel der Reise, die Hafenstadt am Busen der Ostsee selbst.

Wo kamen in diesen Flachländern plötzlich diese dunkelgrünen hohen Ufer her! Diese bewaldeten Höhen, von deren Fuß sich die grellrothen Dächer der Fischerdörfer abhoben, wie wenn im gleichen Landschaftsgefühl Natur und Kunst sich begegneten! Auf dunkelblauer Fläche weiße Segel, Möven im flatternden Neckspiel, der Spiegel des Wassers so blau, so krystallen, wie eine riesige Schale von Saphir, und darüber her der Himmel, so durchsichtig und ahnungsschwer die nahe gerückte Ferne verrathend, Ufer so vieler Inseln, Skandinaviens wie ge-293sehene Küste! … Auch die Festung mit dem hochragenden Danebrog, auch die Stadt mit ihren Promenaden und Alleen trug den Charakter, als beträte man einen einzigen üppigen großen Garten.

Hier in Kiel, wo man später noch jahrelang von Lucinden sprach, wurde sie einer Professorenfamilie übergeben. Als die Bedingungen geschlossen waren und ihr Einzug gehalten werden konnte, rüstete sich der Kronsyndikus, von ihr Abschied zu nehmen. Er hatte seine Bereitwilligkeit, ihren Wünschen zu genügen, auch noch darin bewährt, daß er in dem Hause des Professors seiner Pflegetochter, wie sie beinahe genannt wurde, eine größere Freiheit erwirkte, als sie in Hamburg genoß. Sie hatte ihre eigenen Zimmer. Die Nachricht, daß sie die Braut eines Festungsgefangenen war, hatte sich bald verbreitet. Der seltsame Umstand, daß der eigene Vater des vom Dr. Klingsohr erschossenen Herrn von Wit­tekind es war, der seine Hand schützend über sie ausgestreckt hielt, wurde romantisch genug ausgeschmückt.

Am Abend vor der Abreise des Kronsyndikus hatte sie mit ihm noch eine herzbeklemmende Scene … Sie hatte, da er ganz in der Frühe reisen wollte, die Nacht über wieder in dem Gasthofe bleiben wollen, wo sie gleich anfangs mit ihm abgestiegen war. Sie konnte ihn erst in später Abendstunde erwarten, wo er zurückkehrte von einer Unterredung mit einigen österreichischen Offizieren, die sich in dieser „roßprangenden“, an Gestüten reichen Gegend zum Ankauf von Pferden befanden. Schon oft hatte sie auf Schloß Neuhof von jener kindlichen Blondine, der Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, einer Nichte 294 des Kronsyndikus, gehört, daß ihr unermeßlicher Reichthum nach dem Tode ihres kränkelnden Vaters, des Grafen Joseph (Schwagers des Freiherrn), Anlaß zu einer großen Veränderung geben würde auf Antrieb einer in Oesterreich ansässigen zweiten Linie des alten Grafengeschlechts der Camphausen. Der Kronsyndikus, der Oheim, vielleicht der künftige Vormund der beiden letzten Augen, auf welche die eine Linie stand, der schönen sanften Augen jener Kleinen, die einst Zeuge gewesen war, wie sich Lucinde in die Pagode des Wassergeflügels auf Schloß Neuhof geflüchtet hatte, war mit dem Vertreter der österreichischen Linie, Grafen Salem-Camphausen, hier zusammengetroffen zu Besprechungen, in die Lucinde, wie in die vielen andern Beziehungen, in deren Chaos der Kronsyndikus lebte, keine nähern Einblicke erhielt. Diese Besprechungen fanden in einem Badeort bei Kiel statt, dessen Name dem Kronsyndikus Erinnerungen wecken mußte, unheimlich genug – Düsternbrook.

Gegen neun Uhr kam der Kronsyndikus von einem Diner heim, bei welchem wider Vermuthen eine Anzahl von Offizieren der Garnison zu Ehren der fremden Gäste zugegen gewesen war. Graf Hugo von Salem-Camphausen, ein stattlicher junger Cavalier, begleitet von seinem Freunde, einem Baron Wenzel von Terschka, wie Lucinde schon wußte, führte den Kronsyndikus die Stiegen des Hotels hinauf. Sie sprang in ihr früher schon innegehabtes Neben- und Schlafzimmer, merkte aber wohl, daß der Greis in der Gesellschaft fröhlicher Lebemenschen sein Leid vergessen und dem Weine zugesprochen hatte in altgewohnter Art. Dennoch blieb er still und ver-295abschiedete sich von dem Grafen mit einem Tone, der seiner gedrückten Situation angemessen war.

Als die Cavaliere sich entfernt hatten und zu einigen Wagen voll Offizieren (unter ihnen ein Prinz von einer Seitenlinie des regierenden Hauses) zurückgekehrt waren, um, wie Lucinde später erfuhr, noch in die heute stattgefundene Eröffnung der Theatersaison zu fahren und dort die Kritik der neuen Truppe mit einigen Demonstrationen zu verbinden, die das aufgeführte Stück unterbrachen und einen Conflict mit der im Parterre befindlichen Studentenschaft herbeiführten, klopfte sie an und trat zum Kronsyndikus ein. Dieser saß bereits am geöffneten Schreibbureau. Er hatte ein Kästchen geöffnet, aus dem er Schmuckgegenstände hervorgenommen hatte …

Wie er Geräusch hörte, sprang er auf und rief:

Wer da?

Es währte einige Augenblicke, bis sich der heftig erschrockene Mann in die Nähe Lucindens gefunden hatte.

Der Diener brachte noch einige Lichter mehr, da sich der Kronsyndikus beim Heraufkommen, trotzdem, daß zwei schon brannten, über die große Dunkelheit beklagt hatte.

Lucinde erklärte den Grund ihrer Anwesenheit: Die Abreise ihres Wohlthäters in erster Morgenfrühe und ihr Bedürfniß, den Abschied noch bis dahin zu verschieben.

Auffallend langsam fand sich der Greis in dem, was sie sagte, zurecht und erwiderte wie abwesend:

Gut! Gut!

296 Jetzt winkte er dem Bedienten und sagte, daß er zu Bett gehen wollte.

Lucinden einfach zunickend, ging er ins Nebencabinet und drückte die Tür desselben zu.

Nach einer Weile kehrte der Diener zurück und flüsterte Lu­cinden zu, die mit Spannung gewartet hatte:

Es muß ihm was in die Quere gekommen sein …

Wo aber? fragte sie ebenso leise.

Bei den Offizieren!

Diese wußten doch, daß er trauerte, und dennoch –

Lucinde wollte sagen, wie unrecht man gethan hätte, ihn in den Zustand zu bringen, wie sie ihn gefunden …

Der Diener erzählte aber, daß die Offiziere im Gegentheil in größter Ruhe zu Tisch gesessen hätten, daß von dem Grafen Salem-Camphausen ein Glas ergriffen und gesagt worden wäre, sie wollten es leeren ohne anzuklingen und dabei eines unglücklichen Vaterherzens gedenken. Feierlich hätten da alle die Gläser ausgetrunken und sie niedergestellt wie „aufs Tempo“. Es hätte einen schauerlichen Eindruck gemacht. Da nun aber wäre der Kronsyndikus selbst gesprächig geworden und hätte, aus Dankbarkeit und wol auch Rührung über die Schonung, die Herren ermuntert, es nicht so ernst zu nehmen. Nun wäre die Rede auf Lucinden gekommen –

Auf mich? fragte sie erstaunt.

Der Diener konnte auf ihr Drängen, was man von ihr gesagt hätte, nichts erwidern; denn da er beim Aufwarten geholfen, hätte er sich gerade entfernen müssen.

Wie ich aber zurückkomme, fuhr er flüsternd fort, lachen sie alle, sprechen aber französisch und der Alte 297 zieht aus der Tasche eine von den Kostbarkeiten, deren er Ihnen schon viele geschenkt hat …

Warum aber das?

Er hat noch eine Menge für sie auf morgen zum Abschied ausgesucht! Da drinnen im Secretär!

Das wird er doch den Offizieren nicht gesagt haben?

Verstanden hab’ ich blos, wie er das Armband – ein Armband war’s – herumzeigte … da sagten sie alle: Superb! Charmant! Nämlich auf französisch!

Aber warum nur zeigt’ er’s denn?

Ich meine gar … und ganz gewiß … sie stritten über Ihre … Ihre Nase, Fräulein!

Dummer Schnack!

Mein Seel’, wirklich! Ob die spanisch oder italienisch wäre … oder … Da sagte der eine, der den Grafen aus Wien mit hierher begleitet hat …

Herr von Terschka …

Der sagte, das Bild auf dem Armband – das nämlich auch ganz Ihre Nase haben sollte – wäre eine Italienerin, die er kenne … aus Rom … und genannt hat er sie auch … Jetzt fiel der Graf ein und sagte auf deutsch: Ja, Terschka, das ist ja halt die leibhaftige … Nun nannte der wieder einen Namen … aber einen deutschen, den ich nicht behalten konnte … aber eine Kunstreiterin war’s … das schönste Mädchen in Wien … und während nun wieder die Offiziere zwar in Lachen ausbrechen wollten, aber sich zurückhielten und doch nicht zu lebendig werden wollten … wegen der Trauer … hielt sich der Alte gerade am wenigsten, redete allerlei durcheinander, schenkte die Gläser rings um 298 sich her voll, schnackte vom Hundertsten ins Tausendste, und wenn er nun die Nacht nicht ordentlich schlafen kann, so ist’s seine eigene Schuld. Um vier Uhr soll ich ihn wecken.

Der Diener ging.

Lucinde schüttelte den Kopf, dachte aber bald nur noch an das schöne Armband, an den Streit der Offiziere, ging ins Nebenzimmer, sah sich beim Entkleiden im Spiegel, forschte nach der Nationalität ihrer Nase und ging zu Bett.

Kaum mochte sie, müde vom Warten, eine Stunde geschlafen haben, als sie erwachte. Der Mond schien hell ins Zimmer, sie hatte vergessen die Laden zu schließen … Der Wächter rief die elfte Stunde … einige vereinzelte Rufe und Liederintonationen kamen von den vom Wirthshaus heimkehrenden Studenten, in deren Leben sie sich durch Jérôme’s und Klingsohr’s Erzählungen schon längst zu versetzen gewußt hatte. Der Theaterlärm hatte die Köpfe vollends erhitzt …

Wie es dann wieder still wurde und sie eben im Begriff war, auch wieder einzuschlafen, hörte sie im Nebenzimmer Geräusch.

Ein harter Gegenstand fiel nieder und rollte auf dem Fußboden hin.

Sie erhob sich …

Jetzt hörte sie Schritte und laut reden …

Sie sprang auf … sie hatte vergessen, die Verbindungsthür zuzuriegeln …

Es war aber der Kronsyndikus selbst, der ohne Zweifel mit seinem Bedienten sprach, den er durch eine Klingel wecken und vom Corridor zu sich herüberrufen konnte.

299 Als sie aber die Riegel leise zugeschoben hatte, hörte sie, daß der Kronsyndikus allein sein mußte. Er ächzte und stöhnte und sprach mit sich selbst …

Jetzt durfte sie annehmen, daß ihm etwas zugestoßen war …

Rasch warf sie sich einen Rock über, hielt einen großen rothen Shawl in Bereitschaft und trat wieder an die Thür …

Der Greis war allein und, wie sie hörte, in großer Aufregung …

Sie unterschied Worte, die er sprach …

Jetzt war es ihr, als wenn er um Hülfe rief …

Nun hielt sie sich nicht länger, sondern drückte die Thür auf und trat, so wie sie war, vom Shawl verhüllt, in ihrem von einem Häubchen zusammengehaltenen Haar, im weißen Unterkleide ein.

Wie entsetzte sie sich aber, als der Kronsyndikus mit einem Stockdegen in der Hand aufrecht im Zimmer stand, bei ihrem Anblick auslegte und sie mit aufgerissenen Augen anstarrend anfuhr:

Gespenst! Zurück! Was sagst du, daß du mein Weib bist! Römische Schlange! Ich –

Lucinde stieß einen Schrei aus, denn mit dem gezückten Degen kam der Fieberkranke, Halbnackte dicht auf sie zu. Den Irrthum seiner Phantasie erkennend, ließ er in demselben Augenblicke den Degen fallen. Dieser klirrte auf ein Glas nieder, das vom Nachttisch des Nebenzimmers gefallen sein mußte, seines starken Bodens wegen aber nicht zerbrochen, sondern bis in das Wohn-300zimmer gerollt war, als dessen Thür von dem Aufgeregten geöffnet wurde.

Lucinde, sagte der Greis, sie erkennend und seiner Erscheinung in einem Nachtkamisol und mit nackten Füßen nicht achtend, Lucinde, komm her! Steh mir bei, ich sehe nichts als Blut – ich habe mich verwundet –

Nein, Nein! beruhigte ihn Lucinde, die sich im Mondenschein leicht orientiren konnte und einer Nacht gedachte, wo sie ebenso ihren Vater einmal, als er spät aus dem „Vorspann“ gekommen war, zur Ruhe bringen half, während alle Geschwister um den Wahnsinnigscheinenden herumstanden und schrieen … Sie achtete seines Aufzugs nicht.

Der Fieberkranke ließ sich nicht bedeuten und sagte:

Doch, Kind! Sieh doch nur! Da! Und nun huschen diese Kerle alle um mich herum und stehen mir nicht bei! Hunde, was schnuppert ihr denn nur an meinen Beinen! Jesus Marie, laßt doch die Menschen aus der Stube! Lisabeth, was soll denn der Mönch da in der Kutte? … Fort mit dem Buschbeck! Sind Sie des Teufels, Herr! Und schießen ihre giftigen Pfeile auf mich ab, Mensch? Halt! Halt! Fort, brauner Teufel! – Hier, – ha, was liegt denn da im Wege? Worüber fall’ ich denn ewig? Wieder der Dicke? Jesus! Bringt ihn mir doch fort! Was liegt denn der Dicke mir ewig im Weg und läßt so die Menschen über sich fallen!

Lucinde that das Möglichste, den mit herzzerreißendem Jammer Phantasirenden zu beruhigen …

Zu wild aber jagten die Bilder vergangener Tage an dem Verzagten vorüber. Kaum hatte er Lucinden 301 erkannt, war sie ihm doch schon wieder eine andere und vorzugsweise jene Schreckgestalt, die er erst zu sehen geglaubt hatte. Den rothen Shawl nannte er einen Königsmantel, die Haube die Krone der Semiramis – Mitten in seine Angstrufe mischten sich italienische Laute, die Lucinde nicht verstand … Auch die Kunstreiterin schien vor seiner Phantasie auf- und abzugaukeln.

Endlich hatte Lucinde den Klingelzug erreicht und zog diesen aufs heftigste …

Vor dem Ton fuhr der Greis zurück. Es mußte ihm sein, als hätte ihm mit diesem schrillen Laut jemand einen Schlag gegeben, so taumelte er und blieb eine Weile starr. Die Besinnung kehrte wieder. Lucinde klingelte zum zweiten mal. Er sah um sich, verglich den Ort, wo er war, sah rückwärts auf sein dunkles Cabinet, und wie Lucinde unerschrocken zum dritten mal geklingelt hatte, winkte er ihr zu mit vollkommenem Bewußtsein, sie sollte das nur lassen und jetzt gehen.

Da sie zögerte, schüttelte er den Kopf, besah seinen Aufzug und sprach wiederholt und aufs bestimmteste:

Geh, geh, Kind! Ich habe schwer geträumt … Das Mahl mit den Herren … ich hätte nicht dabei sein sollen … geh, geh!

Indem hörte man schon eilende Schritte auf dem Corridor, schon das Einsetzen des Schlüssels, den der Diener, um früh den Herrn wecken zu können, mit sich genommen hatte.

Als der Diener eintrat, fand er seinen Herrn schon allein und bekam in ruhiger, wie Lucinde noch zitternd und bebenden Herzens belauschte, klar zusammenhängen-302der Rede die Erklärung, daß er sich unwohl gefühlt und selbst geklingelt hätte, jetzt wär’ es vorüber. Der Diener machte Licht, deutete auf die Splitter des Glases, auf den Degen. Es war gefährlich, den Kronsyndikus noch länger so im Zimmer in bloßen Füßen zu lassen; er ging zu Bett, nachdem er dem Diener die Weisung gegeben, die Verbindungsthür des Cabinets anzulehnen und nebenan im Wohnzimmer auf dem Sopha zu schlafen.

Jetzt erst verriegelte Lucinde.

Sie hörte Zurüstungen, wie sich der Diener einiges Bettzeug holte und auf dem Sopha Platz nahm. Gepreßten Herzens ging sie auf ihr Lager zurück, wo sie bei ihrer Jugend und noch von der Reise nachhaltenden Ermüdung bald wieder in den Armen des Schlafes lag.

Um vier Uhr weckte man sie. Schon war der Kronsyndikus nebenan hörbar.

Als sie sich angekleidet hatte, hörte sie schon das Blasen des Postillons.

In aller Freundlichkeit klopfte ihr Wohlthäter an die Thür und steckte den Kopf herein …

Lucinde fand ihn vollkommen beruhigt und zur Abreise gerüstet …

Des nächtlichen Vorfalls wurde keine Erwähnung gethan.

Noch übergab ihr der Abreisende Geld, wirklich auch einige Schmucksachen und ermahnte sie, den „nun bald eintreffenden Doctor“ so zu empfangen, wie sie es ihm versprochen hätte.

Mit einem Kuß auf ihre Stirn, einem langen Blick 303 auf ihre ganze Erscheinung, als wollte er sagen: Seh’ ich dich wieder? Und was wird wol aus dir alles noch werden? ging er …

Sie folgte bis in den Corridor und wollte weiter; an der Treppe aber hielt er sie schweigend zurück …

Unter den Kleinodien, die kostbar, aber wiederum von alter Façon waren, befand sich keines, auf welches die Erzählung des Bedienten gepaßt hätte.

Er wird es zurückbehalten haben … das Bild seiner – zweiten Frau! sagte sie sich, legte einige der Brochen und Armbänder an, nahm sie dann wieder ab und ging noch einmal zu Bett.

Sie schlief bis gegen neun Uhr. Dann begab sie sich in ihre neue Wohnung.

304 19.#

Haß und Bewunderung, Fluch und Segen setzte sich auch auf dem neuen Schauplatz seines Lebens an die Fersen eines Mädchens, das durch stetes Verpflanzen aus einer Lebenssituation in die andere eine seltene geistige Kraft gewinnt.

Jetzt achtzehnjährig, entwickelte sich Lucinde nicht mehr in ihrer Aeußerlichkeit. Im Gegentheil nahmen die sanften und runden Formen, die dem halben Kinde schön gestanden hatten, einen scharfen Charakter an. Schultern und Hüften gewannen eine hervorspringende Bestimmtheit; ja, sie fing an zu magern, wodurch das Feuer ihrer Augen um so brennender wurde.

Die ganze Stadt war mit ihrem Erscheinen beschäftigt. Man definirte ihren Reiz nicht, man nahm ihn als den einer aparten Natur hin. In den Offizierskreisen sagte man: Sie hat Rasse! Das deutsche Pferde-Arabien, Mecklenburg, lag nahe genug und ent­schuldigte einen Ausdruck, der vom Stalle kam. Für eine Spanierin besaß sie zu wenig Schwärmerei im Aufblick der 305 Augen. Für eine Italienerin hatte sie das Phlegma und die äußere Kälte nicht. Einer Griechin entsprachen, wie es bei den Frauen allgemein hieß, die falschen Augen. Ein Wort wurde eine Zeit lang entscheidend. Ein dänischer Offizier, Dichter und Freund jenes Prinzen, hatte sie eine künftige Sibylle genannt. Ihre Feindinnen machten sogleich eine Hexe, Indifferente, eine Zigeunerin daraus. Sie trug sich in grellen Farben, liebte schwere Stoffe, bunten Schmuck. Bald zeigte sie sich zu Wagen, bald zu Roß. Als Amazone durch die Alleen des Schloßgartens hinsprengend, begleitet von den Männern, die sich um eine weibliche Erscheinung, die sich fühlt und zu geben weiß, von selbst finden, ohne gesucht zu werden, machte sie einen Eindruck der fesselndsten Art. Ein runder Herrenhut saß ihr tief im Nacken. Ein langes silbergraues Tuchkleid hing fast bis zu den Hufen des Rosses herab.

Endlich kam Klingsohr.

Daß er bald nach dem Wiedersehen innerhalb der Festung in Verzweiflung gerieth, läßt sich denken bei einem solchen Genuß ihrer Freiheit, wie ihn Lucinde sich gestattete. Die Eifersucht verzehrte ihn. Obgleich auf die Festung beschränkt, hatte er die volle Freiheit bekommen, Besuche zu empfangen. Auch stellte sich Lucinde anfangs fast täglich bei ihm ein, wandelte mit ihm auf dem Glacis Arm in Arm, bald aber verdroß sie die Beobachtung und der auf den Mienen der Offiziere sichtbare Spott.

Als Klingsohr nach einigen Wochen schon die Erlaubniß bekommen hatte, einige Stunden des Tags auf 306 Ehrenwort in der Stadt zu verweilen, gab es, wenn er in ihrer Wohnung vergebens auf sie wartete, bald die aufgeregtesten Scenen. Mußte er mit dem Glockenschlag Neun seine Rückwanderung antreten und sie war von irgendeiner Zerstreuung noch nicht wieder da, wie ergrimmte er in Zorn und Verzweiflung! Jener Prinz war es vorzugsweise, der Lucinden mit Leidenschaft auszuzeichnen angefangen hatte. Sie ließ sich seine Huldigung wie die der andern gefallen. Aus dem angenommenen System, keinem zu gehören, trat sie um so weniger heraus, als sie den Ruf des Hauses, in dem sie wohnte, zu schonen, die bereits begonnene Empfindlichkeit ihrer nächsten Beschützer zu versöhnen hatte.

Klingsohr wollte sie in Anfällen seiner Eifersucht oft einschließen, wie nach seinem Ausdruck jener Ritter seiner Melusine that. Er nannte sie in wüthenden Zornausbrüchen ein Weib ohne menschliches Blut, ein Halbgeschöpf von Feuer und von Wasser, eine Fischnatur; er hätte sie täglich in einen Kasten schließen mögen, dessen Schlüssel er zurückbehielt und mit sich in die Festung nahm. Die Verzweiflung, sich nach allen Seiten hin gebunden zu fühlen, trieb ihn, wenn sie im Theater war, wo er nicht erscheinen sollte, wieder zu der alten akademischen Lebensweise zurück. Wieder gab es auch hier, in der Stadt und in der Festung, Bewunderer, die seinen Orakelsprüchen lauschten. Wieder schrieb er zwanzig Bücher zu gleicher Zeit. Wieder hatte er Systeme erfunden, die noch um einige Jahre zu früh gekommen wären, wenn er sie jetzt schon hätte veröffentlichen wollen. Oft mußte ihn die Ronde aus der Festung 307 noch in der Stadt aufsuchen und fand ihn schon wieder da, wo die Staaten beim Klopfen der zinnernen Deckel erschüttert werden. Wie haßte sie ihn, wenn sie davon erfuhr oder er selbst noch kam, sie in den Folgen solcher Geselligkeit zu grüßen! Gab sie ihre Fischnatur vollkommen zu, so war es, weil sie sagen konnte: Ich mache mich anheischig, vierzehn Tage lang nur von Wasser zu leben!

Der Winter brachte Gesellschaften, Bälle …

Allgemein erzählte man sich von einer Geschichte, die anfangs nur zu lachen gab …

Lucinde hatte jenen Prinzen so sicher gemacht, daß sie ihm sogar die Zusage zu einem von ihm aufs dringendste erbetenen Stelldichein gab. Der Prinz bewohnte eine Villa, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Briefe, mündliche Botschaften, Vermittelungen von Beauftragten sollten an einem bestimmten Abend an dem Thor, das nach Bellevue, von dort nach der Villa des Prinzen führte, einen Wagen harren lassen, welchem eine Verschleierte zur bestimmten Stunde sich nähern würde. Der Wagen würde dann dem in der Villa harrenden Prinzen die so dringend und heiß ersehnte Eroberung zuführen … Schon seit einigen Wochen hatte dieser Kampf gegenseitiger Bitten und Ablehnungen gedauert. Lucinde, die keine Uebereilung der Sinne kannte, legte eine Intrigue an, die ihrer Lust an Spuk und Schadenfreude entsprach. Eine große Vorliebe, die sie für das nicht ganz schlechte Theater der Stadt gefaßt, hatte sie mit einigen Mitgliedern desselben bekannt gemacht. Unter dem weiblichen Personal befand sich eine Sängerin für jugendliche Par-308tieen, eine Erscheinung vom allerkleinsten Wuchse, aber um so größerer Gefallsucht. Sie hieß Henriette und wurde von den Studenten spottweise in Beziehung auf die berühmte Henriette Sontag Henriette Montag genannt. Dieser theilte sie unter veränderter Adresse schon lange jene Briefe des Prinzen mit, die an sie selbst gerichtet waren. Am Schluß schrieb sie regelmäßig mit nachgeahmter Handschrift einen Ort, an welchem der Prinz seine Antworten zu erhalten wünschte. Wie vorauszusehen war, kamen die geschmeicheltsten von der Welt. Diese stellte sie wieder dem Prinzen als die ihrigen zu. So gingen diese Briefe hin und her. Immer näher durfte der Prinz sich seinem Ziele gekommen glauben, und so war der Briefwechsel zwischen ihm und Lucinden eines Tages so weit, daß jenes Rendezvous vorzuschlagen gewagt wurde. Auch dieser Brief ging an die Sängerin … Um die siebente Abendstunde stieg eines Tages an dem genannten Thore eine verschleierte Dame in den bewußten dort harrenden Wagen und fuhr ohne Zweifel einem demüthigenden Schicksal entgegen zur Villa.

„Demüthigend“ hatte Lucinde gedacht …

Was erlebte sie aber?

Der gespielte Streich kam zwar zur allgemeinen und belustigenden Kunde; der Prinz jedoch, dem Spott sich entziehend, verschwand auf einige Zeit, nahm auch zuletzt seinen Abschied, ließ aber auch die kleine Henriette Montag von der Bühne zurücktreten, kaufte ihr in entlegener Gegend des Landes eine Besitzung, verschaffte ihr einen adeligen Namen und heirathete sie zuletzt in der legitimsten Form.

309 Der Eindruck, den Lucinden diese unerwartete und schnell aufeinander folgende Wendung machte, war außerordentlich genug. Er steigerte sich bis zum offenbaren Verdruß. Der Neid, der sie erfüllte, legte sich mit der Zeit. Sie verweilte weit länger bei der Ueberlegung, worin das Fesselnde hier hatte liegen können, in welchem weiblichen Reize, in welcher Kunst des Gefallens, in welcher Macht, die Frauen auf Männer, allerdings hier von nur wenig Geist, auszuüben im Stande sind? Dann aber wurde denn doch das allgemeine Aufsehen, das dieser Vorfall nach sich zog, und das ungünstige Licht, in dem sie dabei schon durch die gespielte Intrigue selbst erschien, Veranlassung zu Mismuth jeder Art. Sie erhielt den längern Aufenthalt in der achtbaren Familie, die sie aufgenommen hatte, gekündigt. Sie konnte froh sein, daß wenigstens Klingsohr über den Scherz mit dem Prinzen lachte. Ihm that der Vorfall als Beweis ihrer „Treue“ wohl.

Klingsohr’s Haft, die in der That auf Gnadenwege bis zu einem Jahre gekürzt wurde, nahete sich ihrem Ende – aber auch in Lucindens Leben trat eine entscheidende Krisis ein.

Gefahrvoll ist es einer geradezu auf die Wolken zugehenden Lebensbahn, wenn sie in den Motiven ihrer Handlungen einmal wechselt. Wer immer mit dem Verstande vorauswühlt, wohin er mit Hand und Fuß zur That nachschreiten soll, der verschüttet sich den Weg, wenn er plötzlich den Einfall bekommt, nicht dem Verstande, sondern dem Herzen folgen zu wollen. Eins darf man nur festhalten, entweder den Ruhm oder die 310 Ueberzeugung. Alles zugleich erstreben, verdirbt eins das andere. Wer den Ruhm will, soll – die Weltphilosophie lehrt es – das Gewissen nicht hören; wer das Glück will, muß auf die Ueberzeugung verzichten. So ist das Dasein. Die Menschen, die wie auf den Rennbahnen des Alterthums mit vier Rossen zu gleicher Zeit dahinsprengen können, von denen eins die Begeisterung, das andere die Mäßigung, das dritte die Tapferkeit, das vierte die Tugend ist, und die, so verschiedenartig auch die Rosse anziehen, doch zu einem großen Ziele kommen, gibt es nicht, außer sie wurden auf Thronen geboren. Geborene Herrscher können alle Kränze des edelsten Strebens zu gleicher Zeit gewinnen. Wie beklagenswerth, wenn sie den großen Vorsprung, den ihnen die Ordnung der Dinge für das Große, Gute und Ideale zu gleicher Zeit gelassen, nicht zu benutzen wissen und sie entweder nur beim Beschränkten stehen bleiben oder beim Gewaltthätigen! … Die Vortheile aber einer Lebensstellung, die Lucinden schon bis zur Gattin eines Prinzen erheben konnte, verlor sie, als sie einmal statt aus dem Verstande – aus dem Herzen handelte.

In jener Schauspielertruppe, der die zur Gemahlin eines Prinzen erhobene „Zwergin“ angehörte, zeichnete sich eine nicht mehr junge Schauspielerin aus, die sich Madame Serlo nannte, obgleich sie, wie man sagte, mit dem Helden und Liebhaber der Truppe dieses Namens nicht verheirathet war.

Madame Serlo war groß, von majestätischer, fast zu imposanter Haltung; denn nicht jede Rolle stand ihr und für die majestätischen fehlte ihr doch wieder die Größe 311 der Empfindung, der Phantasie, des Schwunges. So blieben ihr nur die kalten Salondamen, in denen sie theilweise wirklich bewundert wurde … Und in der That hatte das ehemalige Fräulein Leonhardi oder Madame Serlo eine Art, im Lustspiel mit einfachen Mitteln Wirkungen hervorzubringen, die ihr das Ansehen einer Künstlerin gaben. Mit zwei oder drei Rollen des Conversationsstücks blendete sie alles und manches große Hoftheater war schon in die Falle gegangen und hatte diese unübertreffliche Frau von Waldhüll im „Letzten Mittel“, diese Baronin von Wiburg in „Stille Wasser sind tief“ engagirt, bis sich nach der vierten oder fünften Rolle die gänzliche Unbrauchbarkeit einer Semiramis ohne Leidenschaft herausstellte. Zu ihrer Figur paßte schon ein zu kleiner Kopf nicht. Die etwas stumpfe Nase, das gespaltene Kinn, die blauen Augen, alles war ausdruckslos. Bei alledem machte das Ensemble ihrer Erscheinung sich noch immer im Salonstück interessant und war für jeden eine Weile in dieser Sphäre einnehmend. Man rühmte überall ihre Formen, man verglich sie mit den Gestalten, die Tizian als Venus malte. Ihr Haar war blond, ihre Haut hatte eine Incarnation, auf die der Ausdruck Mischung von Milch und Blut im vollkommenen Sinne paßte.

Gezwungen, niederzusteigen in die Sphäre, wo man sich kalt und empfindungslos dargestellt auch eine Jungfrau von Orleans, eine Julia, eine Luise Millerin gefallen lassen muß, wenn nur die Gestalt genügt und Costüme sowol wie eine gewisse Tournure die andern Mängel vergessen lassen, hatte Madame Serlo einen 312 jungen Mann mit sich in ihre Sphäre hinuntergezogen, der einen kurzen Augenblick zu glänzenden Hoffnungen berechtigt schien.

Serlo war aus einer der ehemaligen geistlichen Residenzstädte Deutschlands gebürtig und zum Priester bestimmt gewesen. Aus dem Seminar war er kurz vor der letzten Vorbereitung zum Empfang der Weihen entflohen und hatte theils aus Abneigung gegen den Stand überhaupt, für welchen ihn seine armen Aeltern bestimmt hatten, theils aus Unvermögen, irgendwie einen andern Beruf zu wählen, der ihn erhielt, theils endlich aus wirklicher Neigung die Laufbahn der Bühne eingeschlagen.

Serlo’s Wege waren anfangs die allerdornenvollsten. Nur um ein Mittagbrot zu gewinnen, schloß er sich reisenden Gesellschaften an, die in Scheunen Vorstellungen gaben; selbst bei Gauklern und Taschenspielern leistete er auf Tage und Wochen Beihülfe, nur um nicht zu verhungern. Von Hause mit dem väterlichen Fluch und mit Steckbriefen verfolgt, mußte er schon deshalb bald in dieses, bald in jenes Verhältniß treten, nur um den Verfolgern seine Fährte abzuschneiden. Mit der Zeit milderte sich dann der Haß der Seinigen, die Vexation der Behörden. Er fand einige Gesellschaften, die in etwas anständigern Formen auf Rechnung der „dramatischen Kunst“ das Leben ihrer Mitglieder fristeten.

Serlo’s schöne Mittel gewannen ihm allmählich ein Vertrauen, das er freilich durch sein Talent noch nicht rechtfertigte. Er war schlank gebaut, hatte dunkle, feurige Augen, schwarzes Haar, eine frische Farbe, die sich nur 313 leider bald, auch infolge der Entbehrungen und Anstrengungen, als trügerisch erwies und der lachende Widerschein einer kranken Brust war. Schon in diesen ersten Anfängen seiner Laufbahn geschah es ihm zweimal, daß er auf der hessischen Bergstraße, ein andermal in der Gegend zwischen dem badischen Freiburg und Basel – wo wandern nicht diese armen Heloten der dramatischen Muse! – von einem Blutsturz befallen wurde und hülflos und verlassen in kleinen Städtchen liegen bleiben mußte. Die vornehmste Bühne, auf der er, leidlich genesen, im Fache der Liebhaber zum ersten mal wieder auftreten konnte, war St.-Gallen gewesen.

Serlo spielte in St.-Gallen den Mortimer. Er erlebte dabei, daß selbst eine so kleine Stadt wie diese schweizerische ihn auslachte. In Lindau am Bodensee ging es ihm nicht besser. In den kleinsten Städten werden jetzt schon Recensionen und nach auswärts Correspondenzen geschrieben. Um diese seine beiden Niederlagen zu decken, wählte er statt seines eigentlichen Namens Firmian Neumeister den Namen Serlo und gerade Serlo mit Bewußtsein aus Göthe’s Wilhelm Meister. Gebildet durch Schulunterricht und die Vorbereitungen zum Priesterstande, hat­te er vorzugsweise die beiden male, wo nach seinen Blutstürzen Schonung ihm anempfohlen wurde und die Pflege guter Menschen ihm eine Zeit lang Muße gewährte, sein Wissen zu erweitern und zu vervollkommnen gesucht. Er ragte durch seine geistige Bedeutung unter seinen Standesgenossen bei weitem hervor und konnte sich endlich mit dem Namen Serlo in Passau, Regensburg, ja selbst mit der Zeit in Nürnberg behaupten.

314 Hatte Serlo einen Erfolg errungen, so warf ihn leider immer wieder sein körperliches Befinden zurück, nahm ihm feste Stellungen, zwang ihn, monatelang zu pausiren und in den Bädern wieder Erholung und Stärkung zu suchen. Seine Gemüthsstimmung erfüllte sich dabei mit großer Bitterkeit. Er konnte dieser Bitterkeit einen geistigen Ausdruck geben. Er sah überall die Erfolge der Talentlosigkeit, der Intrigue, des schlechten Geschmacks. Er, mit ungleich größern Ansprüchen auf die Gunst der Musen, mußte zurückstehen. Schon war ihm geschehen, daß er an irgendeinem glücklichen Abend irgendeinem durchreisenden Kunstkenner in kleinen Städten aufgefallen war und einen Ruf nach einem großen Hoftheater bekommen hatte; kaum dort angelangt, überfiel ihn eine Heiserkeit, die ihm entweder das Auftreten ganz untersagte oder ihn, wenn er spielen konnte, außer Benutzung seiner Mittel setzte. Und doch hatte sich darauf etwa fünf Jahre lang seine Lage ziemlich günstig gestaltet. Er bekleidete erste Fächer an großen Stadttheatern und hatte Erfolge, Erfolge sowol auf der Bühne wie in der Gesellschaft. Es umgab ihn ein eigener Reiz des Geheimnißvollen, den seine liebenswürdige und angenehme Persönlichkeit unterstützte. Serlo gehörte keineswegs zu denen, die sich der bösen Welt gegenüber unbewaffnet betreffen ließen. Das Unglück hatte ihn längst mehr scharf als schartig gemacht und im Glück gab er seine Weise keineswegs auf und verwundete wol auch zuerst, da ihm Urtheil und Ueberzeugungseifer nicht fehlten. Die Macht, die er überall durch Intrigue erstrebt und wirklich auch durch sie erobert sah, reizte ihn sogar, 315 auch seinerseits nicht die Hände in den Schoos zu legen oder unter Gaunern, wie er zu sagen pflegte, der einzige ehrliche Mann zu bleiben. Serlo schien sogar vielen gefährlich; er rührte sich nach Kräften, zerriß hier eine Fessel, um dort eine andere zu vortheilhafterm Dienst sich anzulegen, stieß fort, was ihm im Wege stand, und unterdrückte mit Gewalt Gemüth und Reue, zwei Begriffe, die für diese „elende und erbärmliche Welt“ nicht paßten und „die Krähen da einließen, wo die Adler wohnen sollten“, wie er oft mit Shakspeare sprach. Geist, Bildung, Intrigue, Talent und ein bei alledem nicht zu verwindender gemüthlicher Zug gaben in Serlo eine Erscheinung, die zum Höchsten berufen schien, wenn nur die Natur und das Glück gewollt hätten.

Die Natur hatte Firmian Neumeister, genannt Serlo, zu einem frühen Tode bestimmt. Er war glücklich zu einem der ersten Hoftheater emporgeklommen, hatte sich drei Jahre behauptet, begehrte einen Contract, der ihn nach fernern fünf Jahren hätte pensionsfähig machen müssen; man wollte ihm nur einen kürzern geben, der diese Pensionsfähigkeit ausschloß. Bei dem Streite, der darüber entstand, vergaß sich Serlo in den Formen, in denen sein Chef sich behandelt zu sehen berechtigt war. Serlo erhielt seine augenblickliche Entlassung. Damals traf er in gleicher Stimmung jenes Fräulein Leonhardi. Man hatte an demselben Hoftheater geglaubt, nach einer von ihr gespielten Donna Diana in ihr eine der ersten Künstlerinnen zu gewinnen, und fand bald, daß sie eine Rolle wie die andere gab, die Lady Macbeth von dem-316selben zuckersüßen Lächeln begleitet, wie sie Bauernfeld’sche junge Witwen spielte. So verließen beide zu gleicher Zeit dieselbe Stadt mit denselben Empfindungen, den Empfindungen der Bitterkeit, und auch mit demselben Uebermuth, der die Verzweiflung wegzulügen sucht. Serlo sprach später oft von dieser Verbindung mit Lionel’s Worten: „Glück zu dem Frieden, den die Furie stiftet!“

Nach einem halben Jahre, wo beide zusammen Gastrollen gaben, mußte Serlo schon für seine Begleiterin sorgen, als wäre sie seine Gattin. War sie dies oder war sie es nicht, sie konnte kein Engagement annehmen. Serlo mußte sie und ein erwartetes Kind ernähren.

So nahm er die erste beste Stellung, die nur etwas Brot gab. Er nahm sie in einer Form, die sich später nur zu oft wiederholte … Es ging zum Herbst. Die Entbehrungen, die von einem Gastspielreisen ohne Ruf und Resultat unzertrennlich sind, hatten ihn aufs Krankenlager geworfen. In einer Mittelstadt Norddeutschlands, wo Fräulein Leonhardi noch Verehrer von sonst besaß, traf sie, ihren Zustand möglichst verbergend, bei einem derselben mit einem durchreisenden Director einer Bühne zusammen, der einen Liebhaber zu engagiren wünschte. In einem Augenblick, wo der Director nach irgendeinem Gegenstand auf der Straße zu sehen ans Fenster trat, besaß sie die Geistesgegenwart, dem alten Freunde rasch zuzuflüstern: Schicken Sie in unser Hotel! Serlo soll sich ankleiden! … Wie? fragte der Director und wandte sich. Sie sprachen ja eben von Serlo? Ist Serlo hier? … Im Goldenen Adler! hieß es … Schade, daß er kränkelt! antwortete der Director … Kränkelt? erwiderte die Leonhardi. 317 Serlo ist so gesund wie ein Fisch! … Ich möchte ihn wol sprechen; ich könnte ihn brauchen … ließ überlegend der Director fallen. Der alte Verehrer des Fräuleins, ein wohlhabender Theaterliebhaber, der sich darin gefiel, im Orte die seltensten Weine zu haben, hielt ihn zurück: Nein, nein, nein! Sie bleiben! Ein Glas Tokayer! Der Director schützte Eile vor, blieb jedoch, um wenigstens auf baldiges Wiedersehen anzustoßen. Damit fand der Kunstfreund einen Moment, hinauszuspringen und seinem Bedienten zu sagen: Lauf in den Goldenen Adler! Herr Serlo soll sich ins Zeug werfen, ein Director kommt ihn zu engagiren! Nachdem bietet er der Künstlerin und dem Director ein improvisirtes Frühstück. Dem Director, der fürchtete, mit Fräulein Leonhardi, die er schon einmal sechs Wochen im Engagement gehabt, auf neue Erörterungen zu stoßen, ergab sich bald, wie Serlo zu Fräulein Leonhardi stand. „Madame Serlo? Ei der Tausend!“ – „Ja Madame Serlo! Doch nimmt mein Mann auch Engagement allein an.“ Eine halbe Stunde verfließt. Zuletzt begleitet der Director Madame Serlo in den Goldenen Adler. Dort, wo noch eben im abgetragenen Schlafrock, mit einem großen wollenen Tuch um den leidenden Hals, ein armer Kranker, leichenblaß, auf dem Bett gelegen hatte; dort, wo alles ringsum in der größten Unordnung gewesen war, wo Arzneigläser am kühlenden Fenster standen, Wäsche am Ofen hing, um erwärmt zu werden; dort, wo ein hinfälliger Kranker, einem Greise ähnlich, das dunstige Zimmer mit Seufzern und Verwünschungen über sein Geschick erfüllt hatte, hatte nach der Meldung des Dieners im Nu eine Verwand-318lung stattgefunden. Die Gläser waren entfernt, das Bett durch einen Schirm verdeckt worden, die Wäsche hinweggenommen, die größte Ordnung herrschte. Der Kranke, der Lebensüberdrüssige, Hinfällige, Hustende stand in dem einzigen Frack, den er besaß, mit eng anschließenden Beinkleidern, gefirnißten Stiefeln, weißer Weste, über welche eine Lorgnette niederhing, buntem, lose umgeschlungenen Halstuche, eben den Hut aufsetzend, eben helle Handschuhe anziehend, eben noch die Cigarre im Munde, um sie rasch gleichsam auszurauchen, ein Liedchen trällernd und die Thür öffnend. Wohl hatte er das Gefühl, als wenn ihm die Füße versagten, die Hände flogen noch vor Fieberfrost, die Lippen zuckten, der ganze Körper zitterte … dann aber hört er kommen, jetzt eine Arie geträllert, laut eine Tirade gesprochen und nun: Was zum Henker, Sie Herr Director? Was führt Sie in dies verdammte Nest, wo ich einen alten Freund besuchen mußte? Bravaden folgten auf seine Kraft, Bravaden über den langweiligen Aufenthalt, die baldige Abreise … man plaudert, man scherzt, man bietet Cigarren … Der Director engagirt den unverwüstlichen, interessanten Serlo für die Wintersaison. Die Contracte waren, wie gewöhnlich, gleich zur Hand in der Rocktasche; noch einige Debatten über die Gage, dann Unterschrift … Beim Scheiden sagte der Director scherzend, mit einem feinen Blick auf Madame Serlo: Serlo! Serlo! Die grauen Härchen an den Schläfen! Schonung! Schonung! … Diese grauen Härchen hatte der Leidende in der Eile zu färben vergessen. Madame Serlo versprach zu sorgen, daß die Härchen nicht um 319 sich griffen. Das Uebrige ist Ihre Sache! sagte sie mit der Süßigkeit jenes Conversationstons, mit dem sie ihre Eroberungen machte. Als der Director fort ist, sinkt Serlo, der eine Stunde lang mit der äußersten Anstrengung die Rolle eines Gesunden und Frohgemuthen durchgeführt, ohnmächtig zusammen. Die Gefährtin seines Lebens sprach den ganzen Tag nur – von dem Glück, solche Freunde zu besitzen wie sie in jenem Kunstfreund! Es war, sagte Serlo, als er diese Scene eines Abends, als seine Gattin spielte, Lucinden erzählte, nicht das erste mal, daß ich gut gespielt hatte und – ohne Beifall blieb.

In eine Verbindung mit diesen Schauspielern trat Lucinde durch Zufall.

Voller Unmuth über die ihr gewordene Kündigung hatte sie eine Wohnung gesucht. Sie erhielt das Anerbieten derjenigen, die Serlo verlassen wollte; die Saison war zu Ende, mit ihr das Engagement.

Es machte ihr damals einen wunderlichen Eindruck, die Menschen, die sie in dem von ihr immer heiß geliebten Theater nur im bunten Flitter, geschminkt und in wallenden Locken gesehen hatte, hier unter lärmenden Kindern, trotz artiger Formen verdrießlich und aller Hülfsmittel zu täuschen entkleidet, wiederzufinden.

Die stadtkundige Geschichte des Prinzen und der Soubrette hatte eine Anknüpfung nähern Gesprächs gegeben. Serlo sagte, daß sich daraus ein Lustspiel machen ließe und Madame Serlo vertheilte schon die Rollen. Lucinde hörte. Der Einblick in diese neue und, wie sie sogleich sah, leidenschaftlich bewegte Welt reizte sie. 320 Sie miethete zwar die Wohnung nicht, kam aber wieder und machte sich, wie dies in ihrer Art war, mit den Kindern zu schaffen. Diese waren hübsch und von viel aufgeregterer Natur, als Kinder in solchem Alter zu sein pflegen. Sie waren selbst schon Schauspieler.

Auch Klingsohr hatte anfangs Gefallen an dieser Bekanntschaft, die ihm Lucinde mittheilte und in die sie ihn einführte. Ihm hatte diese Sphäre ganz bewußt und in poetischer Wahrheit den Reiz, der im Wilhelm Meister nur zu künstlich um sie gebreitet ist. Lucinde fühlte sich tastend, doch desto verhängnißvoller hinein. Bedrängt und verurtheilt von der öffentlichen Meinung, hatte sie bei Madame Serlo ein Asyl gefunden, wo sie sich aussprechen und in ihrer Art ganz gehen lassen konnte. Ihr Scharfsinn entdeckte bald den geheimen Schaden dieser unglücklichen Künstlerverbindung. Serlo litt unter der Kälte und Herzlosigkeit seiner Lebensgefährtin bis zur Verzweiflung. Das ganze Leben dieser Frau war nur ein einziger Vorwurf gegen den Vater ihrer Kinder. Sie behauptete, um ihn die glänzendste Laufbahn verfehlt zu haben, während Serlo doch nur ein Opfer seiner Begegnung mit ihr geworden war. Lucinde wurde, wie das geschieht, die Vertraute, die Rathgeberin beider, die Vermittlerin zweier Gegensätze, die mit höchst ungleichen Waffen kämpften. Dort die kalte frischeste Gesundheit, hier ein Siechthum, das Schonung und Liebe bedurfte.

Lucindens Empfindungen über Klingsohr wurden von der listigen Madame Serlo bald errathen. Sie verurtheilte den Doctor, wie sie ihrerseits alle Männer verurtheilte, ausgenommen die, die ihr huldigten. Lucinde 321 fand für alles das, was sie an Klingsohrn nicht mochte, den weltgewandtesten Ausdruck. Kaum stand es fest, daß sie Klingsohrn nicht mehr liebte, so hatte Madame Serlo auch schon den Plan fertig, das räthselhafte, schöne und aus unbekannten Hülfsquellen reich mit Mitteln ausgestattete Mädchen an sich zu ziehen. Sie schmeichelte ihr zunächst mit dem unverkennbaren Urtheil, das sie über die Bühne hätte, dann sogar mit einem Berufe für sie. Sie löste Lucinden immer mehr von den Beziehungen ab, die sie noch hier und da in der Gesellschaft hatte. Als der Augenblick der Auflösung des Theaters heranrückte und von einem kleinen Seebade gesprochen wurde, in dem die Trümmer der Gesellschaft im Sommer Vorstellungen geben wollten, bedurfte es bei Lucinden keiner langen Ueberredung. Sie entschloß sich eine Stadt zu verlassen, die ihr durch Klingsohrn sowol wie durch die stete Erörterung ihrer Intrigue mit dem Prinzen unerträglich geworden war.

Ueber Klingsohrn hatte ihr Madame Serlo, die das Leben kannte, ein Bild entworfen, dessen Wahrheit sich nicht widerlegen ließ. In voller Gewißheit ging ihr auf, daß die Ueberschwenglichkeit dieses zu so Edelm berufenen und bedeutsamen Mannes eine Folge der Aufregung war, die ihren Ursprung in der Gewohnheit unmäßigen Trinkens hatte. Die Trunksucht war bei Klingsohrn entstanden wie im Traume, wie bewußtlos, wie die natürliche Begleiterin genialer Ueberspannung. Wie sie auch gekommen, sie war da, und Madame Serlo schonte die Farben nicht, diesen Zustand auszumalen. Sie kannte die Nachtseiten des Lebens und sparte keinen 322 Zug an dem Bilde der Zukunft, das sie für Klingsohrn aufrollte. Sie behauptete, schon gehört zu haben, daß er Opium nähme; sie schilderte die Folgen dieser Neigung in einer Weise, die die zum ersten male von solchen Dingen Hörende nicht an der Wahrheit des Gerüchts zweifeln ließen. Sie hatte ja Klingsohrn oft genug schon gesehen, wie er, wenn er mit ihr ging, sie starr betrachtete und sie ihn unmuthig anrufen mußte, um ihn nur zur Besinnung zu bringen. Die Abneigung, die sie immer tiefer gegen ihn empfand, bekam jetzt Grund und Ausdruck. Da sie wußte, wie er nach ihr verlangen, sie verfolgen würde, so hüllte sie die Entfernung von Kiel, die sie in der That drei Monate vor Ende der Gefangenschaft Klingsohr’s ausführte, gerade so weit in Dunkel, als ihr mit Beistand jener verschmitzten Frau nur irgend möglich wurde.

Mit ihren noch ausreichenden Mitteln, mit dem reichen Schatze ihrer Kleider und Schmucksachen war sie Madame Serlo willkommen wie ein Engel des Lichts. Die andern Schauspieler reisten ab, geradeswegs nach jenem Bade. Nach einigem Hin- und Herreisen, um ihre Spur zu verbergen, erschien auch Lucinde in jenem noch menschenleeren Strandorte. Sie war nun in diesen neuen Kreis, eben aus Furcht vor Klingsohrn, wie gebannt. Von ihrer eigenen Vergangenheit deckte sie nicht viel auf, wie überhaupt Verschwiegenheit zu ihren Tugenden gehörte. Daß sie aber schon ein bewegtes Leben geführt, wurde sogleich erkannt, wie auch der Name des Kronsyndikus haften blieb als desjenigen, vor dem sich Lucinde zu rechtfertigen hätte und auf dessen Gunst und Unter-323stützung hier alles ankam. Die sich mehrenden Spuren der Nachforschungen, die um sie angestellt wurden, veranlaßten das engste Zusammenwohnen Lucindens mit der Serlo’schen Familie. Sie gab dabei uneigennützig, was sie besaß. Madame Serlo war eine Meisterin in der Kunst des Schmeichelns. Sie hatte jetzt das sehnsüchtigste Ziel wieder eines Engagements an solchen Plätzen, wo sie den reichen Schmuck und die kostbaren Kleiderstoffe, die ihr Lucinde gern zu Gebote stellte, verwerthen konnte.

Die eigentliche Fessel aber, die diese Eroberung festhielt, war in der That der von Lucinden gepflegte und gegen die Kälte der Frau geschützte Mann. Serlo hatte etwas Vergeistigtes. Er besaß ganz jene verklärte Schönheit, die bei Brustleidenden bis an das Ende ihrer Tage sich noch zu steigern pflegt. Sein Auge blickte voll sanfter Glut, wenn er am wenigsten beobachtet wurde. Die Formen seines Antlitzes waren so edel, daß Sie den Meißel des Bildhauers herausfordern konnten. Das Haar hing in den Nacken mit seinem grauen Schimmer, wenn es nicht gefärbt wurde der „Komödie“ wegen. Alles, was Serlo sprach, war der Brust wie mit Anstrengung abgerungen, darum aber auch gewichtvoll und fest und nie unnütz. Einen Ueberfluß an Worten, wie ihn seine Gattin sich wohlbekommen ließ, kannte er nicht. Die Bitterkeit seiner Aeußerungen zog Lucinden tief an; sie war in ähnlicher Stimmung. Dazu die Furcht, sich von Klingsohrn entdeckt zu sehen oder dem Kronsyndikus sich verantworten zu müssen. Da Madame Serlo sie darum drängte, hatte sie an letztern geschrieben und um 324 neue Geldmittel gebeten. Dieser Brief war aber entweder nicht an seine Adresse gekommen oder wurde absichtlich unbeantwortet gelassen.

In der unendlich elegischen Stimmung, die Serlo täglich beherrschte, ironisirte er sich und sogar die Anhänglichkeit der Familie an Lucinden. Wenn sie ihm dankte für alles, was er in stillen Stunden von seiner Jugend ihr erzählen mußte, von Menschen, Gegenden, die er gesehen, sagte er bitter lächelnd: Kind, wir ziehen uns gegenseitig aus! Darüber hatte sie die ganz klare Vorstellung, daß Madame Serlo die Klugheit alternder Theaterdamen befolgte, sich an ein frisches, aufblühendes Talent anzuklammern, stets es zu bewundern und solange als nur irgendmöglich die Erträgnisse desselben für sich zu behalten. Aber es irrte sie darum nicht. Sie durchschaute alles, nur zu wenig die Schmeichelei über ihr Talent. Sie wollte wirklich noch die Bühne betreten. Madame Serlo begann eine Art Unterricht; sie glaubte vielleicht aufrichtig, der Geistesschärfe ihres Zöglings, dem Wagemuth, dem noch zuweilen aufsprudelnden Humor desselben entspräche das gleiche Vermögen auch auf der Bühne. Selbst Serlo glaubte dies und ergänzte in geistvoller Rede die Anleitungen, die seine routinirte Gattin gab.

Von Klingsohrn unbehelligt, ging dies plötzlich veränderte Leben einige Monate hin. Von ihrer Höhe war Lucinde völlig herabgestiegen. Wo war die Amazone hin, die auf den Rossen des Universitätsstallmeisters geprangt hatte! Serlo fühlte dies und sagte zu ihr:

325 Bestes Fräulein, wie beklage ich Sie! Wie hat das alles möglich werden können! Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas!

Napoleon sagte das! erwiderte sie, stolz den gesenkten Kopf erhebend.

Das ist wahr, entgegnete Serlo erglühend. Die großen Geister wandeln regellos!

Bitter lächelnd setzte er hinzu:

Nur die Hofräthe fallen nie aus der Rolle! Die sind ewig erhaben!

Die Familie reiste mit ihrer Eroberung hierhin und dorthin. Die Seebadsaison war des schlechten Wetters wegen nicht eingeschlagen. Der Kronsyndikus antwortete nicht. Madame Serlo schrieb zuletzt selbst. Sie that sich auf ihr Talent, mit den Großen zu verkehren, etwas zugute. Es erfolgte aber auch für sie keine Antwort. Man wollte in Neuhof entweder ganz abbrechen oder strafen … durch Schweigen vielleicht auf Besserung hoffend.

Eines Tages erschien aber Klingsohr. Es war in Lüneburg auf der Heide. Man hatte gehofft, für den Winter dort eine Unterkunft zu finden.

Von dem Versiegen ihrer Hülfsmittel, den Anstrengungen der Reise und den Erlebnissen innerhalb der Familie Serlo war Lu­cinde schon so muthlos geworden, daß sie Klingsohrn in das kleine Gasthofzimmer, das sie bewohnte, mit einem leisen und furchtsamen Aufschrei eintreten sah. In früherer Zeit wäre sie ruhiger gewesen und hätte ihn entweder mit Verstellung oder mit einer offenen Kündigung begrüßt.

326 Klingsohr trat auf sie zu, gleichsam um sich zu überzeugen, ob sie es denn wirklich wäre …

Dann fragte er, während sie langsam aus der Sophaecke sich erhob:

Warum hast du mir das gethan?

Sie begann keine Erörterungen, sondern erwiderte kleinlaut und durch die Schule des Lebens gedemüthigt:

Wann bist du angekommen?

Auf einem Felde gleichgültiger Gespräche fand man sich zuletzt so leidlich wieder zurecht. Ja auch aus der Theatersphäre und Verstellungskunst heraus war dieser scheinbare und so schnell geschlossene Friede zu erklären. Wenn Madame Serlo eben noch jemand im Geiste vergiftet hatte, konnte sie, wenn er zufällig selbst erschien, ihm den Stuhl hinrücken, diesen abstäuben und das ganze Arsenal ihrer Liebenswürdigkeiten spielen lassen … Und das Beste, sagte Serlo oft, ist dann die wirkliche Freundschaft für diese vergiftete Person, wenn sie zuletzt geht! Die Judasküsse wurden echte, wenigstens auf so lange, als der Nachgeschmack des dabei genossenen Kaffees und das gemeinschaftliche Interesse einer bei dieser Gelegenheit geschlossenen gemüthlichen Intrigue dauert!

Für solche von dem Kranken, der dabei lang auf dem Sopha ausgestreckt lag und das schöne bleiche Antlitz aufstützte, immer mit schneidender Bitterkeit hingeworfene Aeußerungen erntete er von seiner Lebensgefährtin Schmähungen, von Lucinden ein vertrauliches Zunicken der Uebereinstimmung.

Klingsohr kam ohne Geld.

327 Die kluge Madame Serlo bekam bald heraus, daß er in einem Briefe, in welchen der Kronsyndikus endlich auch einen und diesen voller Mahnungen an Lucinden eingelegt hatte, dessen übergenug empfangen. Das Suchen nach Ihnen, liebe Lucinde, sagte sie spitz, muß viel Ausgaben verursacht haben!

Klingsohr hatte schon immer eine Zuneigung für die Familie gehabt und hatte ihr Leben oft genug romantisch genannt. Man verständigte sich, vergab sich einander, was etwa gegenseitig gefehlt war, und bald entspann sich auf einige Tage ein Zusammenleben, in dessen Hintergrunde der Entschluß Lucindens zu stehen schien, daß sie Klingsohrn wieder nach Schloß Neuhof begleiten wollte. Es bekümmerte sie, daß der Kronsyndikus so kalt geantwortet hatte.

Schloß Neuhof betret’ ich mit keinem Fuße mehr! sagte Klingsohr. Doch will ich dich bis Lüdicke begleiten!

Madame Serlo horchte nur immer. Sie sollte ihre Eroberung aufgeben? Lucinde besaß noch Kleider und Schmuck genug, um davon ein ganzes Jahr lang sie alle erhalten zu können … Die Frau blinzelte ihr Standhaftigkeit zu.

Drei Tage war Klingsohr in Lüneburg, als er auch dort sein gewohntes Leben begann …

Er fand göttinger Freunde, er entzückte durch den Dämmer der Poesie, mit dem er sich theils durch Reminiscenzen aus den beliebtesten Dichtern, theils durch die Gabe der eigenen Improvisation zu umgeben wußte, er erntete, wenn er sprach oder schwieg, die gewohnte 328 Bewunderung, er streifte die Aermel seines Rockes wieder im heiß gewordenen Gespräch empor wie einer, der auf die Mensur zu treten bereit ist, und war der Titane, dessen Zukunft noch niemand berechnen konn­te.

Madame Serlo beobachtete scharf. Am Nachmittag des vierten Tages öffnete sie leise das Zimmer, in dem Lucinde eben an den Kronsyndikus schreiben wollte, winkte bedeutungsvoll und rief wispernd Lucinden auf die Nummer, die Klingsohr bewohnte.

Das Zimmer fanden sie unverschlossen.

Madame Serlo hatte es aufgedrückt und zeigte auf Klings­ohrn, der über sein Bett auf den Rücken ausgestreckt lag, eine kleine Cigarrenpfeife in der Hand hielt und zu schlafen schien.

Er hat Opium geraucht! sagte Madame Serlo. Sehen Sie nur! Nun träumt er! Er ist im siebenten Paradiese!

Lucinde beobachtete den Unglücklichen, der mit offenen Augen lag, aber völlig abwesend war. Er hatte den rechten Arm unter den Kopf gelegt, der linke hing schlaff vom Bette nieder mit der kleinen Pfeife, aus der er leicht ein Opiat geraucht haben konnte. Auf dem Fußboden lagen die Gedichte Coleridge’s, jenes englischen Dichters, der am Opium zu Grunde gegangen ist.

Lucinde war vollkommen berechtigt, an diese Deutung zu glauben. Diese offenen Augen, diese blassen und krampfhaften Gesichtszüge, verbunden mit einem zuckenden Hüpfen der Nerven, bestätigten, was sie von beiden Serlos über die Wirkungen dieser Betäubung schon vernommen hatte. Sie wurde darüber von einem Grade 329 von Abneigung gegen Klingsohrn ergriffen, daß sie bat, den Ort, der ohnehin keine Hoffnungen für die Bühne bot, sofort, aber auch augenblicklich, ohne sein Erwachen abzuwarten, zu verlassen.

Madame Serlo hatte erreicht, was sie wollte.

Serlo, den man hinzurief, sprach mitleidiger und rieth zur Versöhnung, zur Heilung des Unglücklichen. Er hatte dem Klosterleben, dem Leben der Entsagung nahe gestanden, er kannte die Verirrungen der Phantasie …

Lucinde nahm keine Beruhigungen an. Sie forderte die Rechnungen ein, gab einen werthvollen Ring von den Geschenken, die ihr der Kronsyndikus noch beim letzten Abschied in Kiel gegeben, zur Ausgleichung der Zeche und wollte schon fort in einer Stunde.

Von Madame Serlo wurde sie aufmerksam gemacht, daß man Klingsohrn einschließen sollte … er könnte bestohlen werden. Damit zeigte sie auf ein Portefeuille, das ihm aus der Brusttasche entglitten war und neben ihm auf dem Bette lag.

Es war ein Geschenk, das Lucinde ihm selbst gefertigt; eine Stickerei von ihrer Hand zierte die beiden Deckel. Nichts vom Inhalt, nur das Portefeuille selbst wollte sie an sich nehmen. Sie öffnete, warf einiges Geld, einige kleine Schlüssel, Bleistifte, sogar zerknitterte Briefe, alles, was darinnen lag, hinaus, warf es ungeprüft und ungelesen auf die Bettdecke, behielt ihr Geschenk, das Portefeuille, schloß die Thür zu und ließ, wie sie bitter wiederholte, Klingsohrn im siebenten Paradiese. Es wird schöner sein als das Dante’sche! setzte sie zu Serlo hinzu. Sie wußten beide, daß Klingsohr über Dante 330 gelesen und des Florentiners Hölle fesselnder und anziehender genannt hatte als dessen Himmel.

Serlo hatte seiner Gattin gegenüber aus physischer Schwäche keinen Willen. Er sorgte nur immer, auch beim Reisen, Ankommen und Abgehen, für die Kinder. Der Handel mit dem Wirthe wurde abgeschlossen. Man hatte noch einen guten Ueberschuß und accordirte einen Wagen. Er sollte sie der obern Elbe zuführen.

Schon war man im Packen begriffen, als sich in Klingsohr’s Zimmer ein entsetzliches Pochen vernehmen ließ.

Man gab dem Kellner den Schlüssel, mit dem geöffnet werden konnte.

Zugleich sprang Lucinde in ihr Zimmer, Madame Serlo folgte, beide verriegelten sich.

Auf dem Corridor hörte man Klingsohrn jetzt nach seinem Portefeuille rufen. Da er den Inhalt gefunden hatte, konnte er von keinem Diebstahl sprechen. Er rief Serlo; dieser wies ihn von seinem Zimmer aus an die Frauen.

Am Schlüsselloch des Nebenzimmers lauschte Madame Serlo.

Lucinde betrachtete ruhig ihre Stickerei auf dem Portefeuille. Es war Winter; sie sah sich nach dem Ofen um, um das Portefeuille zu verbrennen.

Madame Serlo hinderte sie und öffnete wenigstens noch einmal das schöne Geschenk.

Alles das geschah, während Klingsohr an der Thür rüttelte, pochte und im wildesten Ungestüm sein Eigenthum zurückverlangte.

Serlo erklärte ihm das Vorgefallene und machte ihm 331 in lateinischer Sprache Vorwürfe über seine Verirrung, die Klings­ohr nicht in Abrede stellte. Ihr habt gut sprechen! entgegnete er. Wer das Bedürfniß des Glückes hat, sucht es, wo er’s findet! Ich wünsche Euch nicht meine Nächte oder die Träume, die mir mein kurzer Schlaf schenkt!

In mildern Worten bat er Lucinden jetzt um die Rückgabe des Portefeuille.

Klingsohr! sprach diese mit fester Stimme dicht an der Thür nebenan, wo Klingsohr im Zimmer war, wandeln Sie Ihre Bahn! Wir sind geschieden! Auf ewig!

Lucinde! lautete sein Flehen.

Das Portefeuille wird auf Ihrer Brust entweiht! Ich behalte es!

Nimmermehr! rief Klingsohr und schlug gegen die Thür.

Was ist denn nur ein so besonderer Werth daran? flüsterte Madame Serlo und betrachtete es wiederholt näher.

Sie las auf dem inwendigen und befestigten Pergament eine Menge kurzer Bemerkungen, Namen, abgerissene Titel von Schriften, Citate, gelehrte Dinge, die ihren Horizont überstiegen.

Dennoch hielt sie diese Blätter nicht für unwichtig. Wer weiß, flüsterte sie, welche Geheimnisse sie enthalten!

Als Klingsohr nicht endete und behauptete, er würde das Haus in Brand stecken, wenn er das Portefeuille nicht zurückbekäme – schon wurde durch den Lärm der Wirth herbeigezogen –, las ihm Madame Serlo höhnend einige Worte vor, die vielleicht die Seite des Per-332gaments bezeichneten, an der ihm vorzugsweise gelegen wäre.

Weib, schweige! rief er und schien nur aus Rücksicht auf Serlo, der mit den ängstlichen Kindern hinter ihm stand, weitere Bezeichnungen zu unterdrücken.

Bitter höhnend klang es, als Madame Serlo buchstabirte:

„Weltordnung – Dante’s Hölle – Buschbeck – siebentes Paradies – Johannes von Zeesen – Regina Coelineun ZeitalterSchön Hedwig – Hubertus – Rom – die Katakomben – –“

Tod und Teufel! schrie Klingsohr und schlug jetzt mit einem Stuhl gegen die Thür.

Er zeigte sich in der ganzen Wildheit, in der ihn Lucinde kannte. Serlo bat, der Wirth befahl Ruhe, Lucinde selbst rieth zum Nachgeben.

Was ist ihm nur so gelegen an dem Ding? wiederholte Madame Serlo. Sie untersuchte, während Lucinde die herausgenommenen Blätter überflog, den übrigen Inhalt. Da fand sie denn, daß eins der kleinen Täschchen verschlossen war. Sie bog das Leder etwas zurück und fühlte, da man nichts sehen konnte, hinein. Hin- und herstreifend mit dem kleinen Finger, der allein Platz hatte, entdeckte sie, daß drinnen etwas lag, was sich rauh anfühlte … vielleicht ein Stück Tuch …

Seltsam! sagte Madame Serlo zu Lucinden. Was kann ihm an einem Fetzen Tuch gelegen sein?

An Lucinden lief jetzt eine Erinnerung hin wie das Wort am elektrischen Drahte. Der Gedanke, daß sich hier der Tuchstreifen vorfand, der einst an der Leiche des 333 Deichgrafen gefunden wurde und später durch sein plötzliches Verschwinden den erst vor kurzem, wie sie gehört, wegen mangelnden Beweises freigesprochenen Stephan Lengenich ins Gefängniß gebracht hatte, zuckte in ihr auf. Die Farbe des Tuches ließ sich nicht erkennen, nur der Stoff fühlen …

Sie stand träumerisch und auch Madame Serlo merkte die jähe Flucht der Gedanken, die ihr eben durch den Kopf schossen.

Klingsohr hatte inzwischen sein Benehmen geändert. So war er immer. Eben noch ein Ungethüm, vor dem man alles entfernen mußte, was sich etwa zertrümmern ließ, wurde er plötzlich weich wie ein Kind, ja sogar feig und ließ sich auf Nachgiebigkeiten betreffen, die mit seinem sonst so reizbaren Ehrgefühl im vollsten Widerspruche standen.

Lucinde! sprach er mit weicher Stimme und durch’s Schlüsselloch. Gib mir mein Portefeuille zurück! Es hängt daran die Ruhe meines Lebens!

Gut, Klingsohr! sagte Lucinde, die die Gedanken an die Schreckensscenen von Schloß Neuhof nicht festhalten mochte, weil sie zu ihren quälendsten Erinnerungen gehörten; wenn das ist, so geb’ ich dir’s unter der Bedingung zurück, daß ich’s behalte, bis wir in dem unten befindlichen Wagen sitzen und abfahren! Du versprichst mir aber auf deine Ehre, mich von diesem Augenblicke an nicht mehr zu kennen, nie und nirgends, hörst du, nie und nirgends, und mich meine Lebensbahn ziehen zu lassen, wie und wo ich will! Leiste mir diesen Schwur! Thust du es nicht, so ist hier noch so viel 334 Glut im Ofen nebenan, daß dein Portefeuille im Augenblick von den Flammen verzehrt ist!

Um Gottes willen nein! rief Klingsohr.

Dann schwieg er eine Weile. Er schien nicht zu bezweifeln, daß Lucinde wahr gesprochen, und überlegte, welchen Werth für ihn die beiden Gegensätze der gestellten Alternative hatten.

Lucinde wiederholte mit fester Stimme, was sie eben gesprochen, während Madame Serlo’s listiges Auge vergebens in so wunderbare und unglaubliche Geheimnisse des Täschchens zu dringen suchte …

Serlo antwortete jetzt statt Klingsohr’s. Man hörte das leise und schmerzlich ausgestoßene Wort des letztern:

Ich gebe – mein Ehrenwort!

Nun verlangte Lucinde, daß sich Klingsohr bis zur Abreise, die sogleich erfolgen würde, entfernte. In die Brieftasche ließ sie die Neugier der Madame Serlo nicht weiter einblicken.

Die Anstalten der Abreise waren zu Ende. Klingsohr stand am Wagenschlag und nahm sein Portefeuille mit einer Hast zurück, als hinge die Ruhe seines Lebens daran. Dies mußte sein, wenn er um einen solchen Preis Lucinden entsagen konnte.

Er wollte noch mit der Geliebten reden, reichte ihr die Hand in den Rücksitz, den sie so lange einnahm, bis sie die Stadt verlassen – später duldete sie nicht, daß Serlo irgendeine Bequemlichkeit entbehrte –, aber sie lehnte diese Hand ab.

Klingsohr bat wiederholt um die Hand und zog die seine nicht zurück.

335 Damit seine dargereichte Rechte nicht ohne Erwiderung blieb, nahm sie die Hände des einen der Kinder und legte diese beide in die seinige.

So wurde diese von ihr so heiß ersehnte Trennung wirklich vollzogen.

336 20.#

Zu dem Fluche, der mehr auf dem Theaterleben ruht als Segen, gehört die Unmöglichkeit, sich ein Leben lang aus dem Banne desselben zu befreien, wenn in ihm auch nur einige wenige Augenblicke genossen wurden, die glückliche waren.

Man hat es gesehen und sieht es täglich, wie derjenige, dem ein kurzes Glück in diesem Wirkungskreise lächelte, ewig von demselben zehrt, immer hofft, daß es wiederkehren müsse, immer glaubt, daß es nur durch zufällige Umstände, die sich beseitigen lassen würden, am Wiedererscheinen verhindert wäre. Ein Leben voller Entbehrung und Enttäuschung, ja ein Leben voller Schmach und Entwürdigung kann an diese trügerische Hoffnung verloren gehen.

Lucinde betrat noch die Bühne nicht und blieb dem Verkehr der übrigen Theaterwelt schon um deswillen fern, weil Madame Serlo sich bei allen Entbehrungen für zu erhaben dünkte über die niedere collegialische Sphäre, der sie jetzt immer mehr und mehr angehören mußte. Um so enger war Lucindens Verbindung mit den Serlos 337 selbst. Manche Gelegenheit, manche Huldigung bot sich, diesen Bann zu brechen. Sie konnte nichts mehr muthig ergreifen. Sie schleppte sich mit den kummervollen Zuständen dieser Familie so hin und Serlo bedurfte ihrer. Sie hätte nie von sich selbst geglaubt, daß sie einer solchen Anhänglichkeit fähig war.

Zwischen ihr und Madame Serlo mußte zuletzt offene Feindschaft ausbrechen. Der Kronsyndikus antwortete auf keinen Brief; die Kleinodien und werthvollen Kleider waren verkauft; jetzt mußte schon Lucinde das Brot der Armuth theilen. Sie nahm es in Anspruch mit dem Versprechen, alles gut zu machen, wenn sie einst als Schauspielerin auftreten würde; einstweilen unterrichtete sie die Kinder, sie besorgte die Wirthschaft, sie pflegte Serlo.

Gerade aber in diesem letztern immer nöthiger werdenden Amte begegneten sich beide Frauen, die Alternde, die die Jugend log, und die Jugendliche, die mit neunzehn Jahren schon die Stirn wie eine Matrone runzeln konnte, mit Haß und Eifersucht.

Lucinde hatte vom Arzt gehört, daß Serlo’s hinfällige Gesundheit noch länger gefristet werden könnte bei sorgsamer Pflege. Madame Serlo war selbst davon überzeugt, besaß aber jene schroffe Weisheit der ewig Gesunden, die in jeder Klage eines Kranken Uebertreibung sieht. Sie selbst war kaum jemals krank gewesen, sie erklärte das Kranksein für eine „dumme Angewöhnung“. War sie selbst wie ein Fisch im Wasser, so sollte alles um sie her ihr Element theilen. Hatte sie sich gebadet, mit Staubregen überrieseln lassen, kam sie trotz ihrer 338 Vierzig frisch und strahlend zum Frühstück, so sollte die ganze Welt nur ihrem Beispiel folgen und es würden alle Husten, Kopfwehe, Katarrhe, besonders aber die eingewurzelten, aus denen doch wol Serlo’s ganzer Zustand allein herzuleiten wäre, für immer verschwinden.

Serlo lächelte dazu und Lucinde sagte:

Wenn aber gerade die eingewurzelte Einbildung schon den ganzen Menschen regiert und ihm nur noch manchmal wohl wird in der Gewißheit, daß man diese seine Schwäche schont?

Das eben darf man nicht! erwiderte Madame Serlo. Man darf keine Irrthümer bestärken, darf keinen übeln Gewohnheiten Vorschub leisten! Wenn sich Serlo nur herausreißen könnte, nur wollte, es würde ihm und uns allen geholfen sein!

Dies kalte Wort vom „Herausreißen“, vom Emporraffen war das grausam ewig wiederholte, das in Serlo’s Ohr schon seit sechs Jahren mit bohrendem Schmerz wühlte.

Er liebte glücklicherweise das Leben selbst und versuchte es, ihm Wohlbefinden und Kraft abzugewinnen, abzutrotzen. Brach er nach einer solchen Anstrengung, in der er sogar spielte und sich zu Feuer und Begeisterung zu entflammen suchte, wieder zusammen, untersuchten Aerzte das Geräusch seiner Lungen und entfernten sich mit ernsten Mahnungen an die Gattin, an die „Erzieherin“ der Kinder, wie Lucinde genannt wurde, so traten Augenblicke einer völligen Muthlosigkeit ein und Serlo ergriff dann oft, wenn er mit Lucinden allein war, ihre Hand und sagte fast weinend:

339 Wenn ich nur nicht noch in meiner letzten Stunde hören muß, daß ich mir zu viel nachgäbe! Das Wort: Reiß’ dich heraus! wird mein Grablied werden!

Lucinde versicherte:

Ich werde bei Ihnen bleiben!

Was sie an diesen bemitleidenswerthen Mann fesselte, war sein Unglück und seine Bitterkeit. Sie befand sich in einer Stimmung, die der seinen nicht unähnlich war. Ihr ganzes Leben war ja gleichsam in einen plötzlichen Stillstand gerathen, in einen jähen Sturz, wie in eine Versandung. Wo war sie hingerathen? Aus solcher Höhe des Glücks! Auch die ersten Reize desjenigen Eindrucks, den man an ihr den elfenartigen genannt, waren geschwunden; sie war jungfräulich geblieben, aber nicht mehr so gefällig, so naiv, so lacertenhaft wie einst. Sie legte keinen Werth mehr auf ihr Aeußeres, sie schmückte sich nicht mehr; die Abneigung gegen die Wassertheorie der mit Fischblut, wie sie sagte, belebten Madame Serlo ließ sie die Vorschriften der Ordnung sogar mehr vernachlässigen als billig. Ihre Gestalt bekam etwas Lässiges. Wochenlang verließ sie das Haus nicht oder sah nur zu den Kindern nieder, wenn sie diese beim Spazierengehen führte. Sie war muthlos geworden und so vergrämelt wie ein Mädchen, das jeden Augenblick den Stundenschlag erwartet, an welchem es dreißig Jahre zählt.

Zwanzig zählte sie schon; denn zwei Jahre führte sie das herumziehende Leben, das sogar Reiz für sie bekam in den täglichen kleinen Abwechselungen der Bühnenchronik, in der lebhaften und feurigen Anwaltschaft für das äußere Interesse der Familie, der sie sich angeschlos-340sen hatte, endlich innerlich in der Parteinahme für Serlo gegen seine Frau. Es gab Scenen der Erbitterung. Oft genug wurde das Wort gesprochen, daß entweder die „Gattin“ oder Lucinde gehen müßte. Serlo, der auf liebevolle Hingebung keine Ansprüche mehr gemacht hatte, der glücklich war, daß noch einmal ein Blick, der Handdruck eines theilnehmenden Wesens ihn lohnen konnte für sein Dulden, Serlo vermittelte diesen Zwiespalt, so gut es immer ging. Um den Frieden wiederherzustellen, hatte er gewisse Hülfsmittel, die nicht fehlschlugen. Er rühmte, was die Kinder in der Musik für Fortschritte machten; Lucinde unterrichtete sie. Er ließ Lucinden Scenen aus den classischen Stücken recitiren. Sie sprach sie mit Verständniß, wenn auch kalt und schwunglos. Die Begeisterung wird der Abend und der Anblick der Zuschauer geben! sagte der Kranke. Er deutete auf die großen Vortheile hin, die ihnen allen würden geboten werden, wenn endlich Lucinde sich entschließen könnte, in das so verwaiste und so theuer bezahlte Fach der „Liebhaberinnen“ von Gestalt und Schönheit einzutreten.

War der Friede auf diese Weise wiederhergestellt, so erzählte er mit Gemüthlichkeit von seinem vergangenen Leben. Die Schär­­fe, die er früher besessen, hatte ihn in der Schule der Leiden immer mehr verlassen, nur die bittere Ironie war ihm geblieben, das Salomonische: Alles ist eitel! Er wollte seine Philosophie des Lebens, daß alles Wahn, alles Verkehrtheit und Narrheit wäre, von seinen frühesten Anfängen her beweisen. Besonders lange verweilte er in der Schilderung seiner ersten Anläufe zur geistlichen Laufbahn … Serlo schilderte Men-341schen mit derselben Lebhaftigkeit wie Gegenden. Seit Jahren führte er Tagebücher und las daraus Stellen vor, über deren Bitterkeit und Satire er oft den Kopf schüttelte, gleichsam als wenn er nicht begreifen konnte, wie er einst so hätte denken und fühlen können. Er nannte dann das, was er las, abgeschmackt, wahnbethört, oft aber auch wieder, offen von sich selbst gestanden, klug und treffend. Manchmal, wenn er beim Blättern auf Thorheiten stieß, auf Racheplane, Anfeindungen, die er selbst erlitten oder angezettelt hatte, sagte er mit vollem Ernst: Ich war damals verrückt! Wir alle sind verrückt! Jeder ist’s innerhalb seines eigenen Interesses! Und wir wissen es sogar selbst sehr gut! Mindestens, wenn wir zurückblicken und uns vergegenwärtigen, wie wir damals waren, damals das sagen, das thun konnten! Bei anderm, was er erzählte oder las, sagte er dann wieder ganz offen von sich selbst: Wie gut das von mir war, wie edel! Ja, darf man sich denn nicht selber lieb haben? … Wenn Madame Serlo zuhörte, was selten geschah – sie hatte zu jeder Zeit, nicht blos Abends, einen Schlaf, der nur: Ich will! zu sagen brauchte und sie schon schnarchen ließ – sagte diese: Nein, lies lieber aus dem allen heraus, daß du einst mehr Courage hattest! Und die könntest du noch haben, wolltest du dich nur herausreißen!

Herausreißen! … Es war das ewige Wort … Es schnitt dann wieder alles entzwei.

Einige betrügerische Directionen hatten die Familie bis an den Rand des Elends gebracht. Lucinde mußte das Opfer, das sie immer in Aussicht gestellt hatte, jetzt endlich vollziehen und einen Schritt thun, der ihr innerlich 342 widerstrebte. Man unterhandelte mit einem ansehnlichen Theater über ihr erstes Auftreten. Die Umstände hatten es gefügt, daß sie den ersten Schritt an die Lampen gerade in jener Stadt thun sollte, in welcher sie einst von der Frau Hauptmännin von Buschbeck in diese wirre Welt war eingeführt worden.

Diese Stadt wiederzusehen, flößte ihr Schauder ein.

Jahre waren vergangen, seit sie dort gelebt. Wie mancher konnte ihrer eingedenk geblieben sein! Ein dunkles Gerücht hatte ihr von ihren beiden letzten Geschwistern kein glückliches Wiedersehen in Aussicht gestellt. Beide Knaben sollten aus dem Waisenhause zu Lehrherren gekommen sein, dann aber sich schlecht bewährt und sogar schon den Gerichten Gelegenheit gegeben haben, sich mit ihnen zu beschäftigen. In der Schweigsamkeit über ihre Angelegenheiten, die ihr eigen war, sprach sie Serlo nur obenhin vom Vergangenen, kein klares Wort von ihren Besorgnissen, sonst würde dieser sie entweder widerlegt oder die Anknüpfung mit der Bühne gerade dieser Stadt widerrathen haben. Die Verhandlung mit dem Vorstande war schriftlich erfolgt; die persönliche Vorstellung fiel nicht ungünstig aus; Lucinde hatte sich Gewalt angethan und machte einen Eindruck, der etwas versprach. Nach Madame Serlo’s kecker Aussage hatte sie sogar bereits auf kleinen Bühnen „sechs bis sieben mal mit glänzendem Erfolg“ gespielt. Sie bekam die Zusage, daß sie als Jungfrau von Orleans auftreten durfte. Auch die Bitte um einen veränderten Namen wurde gewährt.

Madame Serlo konnte diese Entscheidung, die sich noch vierzehn Tage hinziehen konnte, im Orte selbst nicht 343 abwarten. Einmal hätte man des bessern Eindrucks wegen eine gute Wohnung nehmen müssen, deren größere und für alle ausreichende Ausdehnung die vorräthigen Mittel überschritten haben würde; dann aber auch war ihr eine Stellung angeboten worden bei einem jungen Fürsten, der erst vor kurzem sein Regiment angetreten hatte und für sein Land eine neue Aera beginnen wollte durch Verbesserung des Ballets seines Hoftheaters. Schon war diese unglückliche Familie so weit gekommen, daß sie auf den Erwerb durch ihre Kinder sehen mußte. Diese entschloß sich die Mutter jenem jungen Fürsten für sein Ballet anzubieten. Lucinde verstand genug von der Welt, um den Seufzer und das bittere Lächeln sich deuten zu können, als Serlo dies hinter seinem Rücken gemachte Arrangement erfuhr. Zu krank, um die Reise schon jetzt weiter fortzusetzen, nahm er Abschied von den Seinigen. Als er die Kinder küßte, standen ihm Thränen in den Augen. Er schien die Ahnung zu haben, entweder daß er sie nicht mehr wiedersähe oder welcher Zukunft sie entgegengingen.

In dieser Stadt nun mußte über Lucinden alles, was an ihrem Lebenshimmel sich düster und unheildrohend zusammengezogen hatte, zu gleicher Zeit ausbrechen.

Sie suchte erst niemand auf, verbarg sich auf ihrem Zimmer, studirte mit ängstlicher Spannung ihre Rolle. Ob sie nach der alten Magd sich erkundigen sollte, die ihr zur Einsegnung einst das Gesangbuch geliehen? Ob sie suchen sollte von ihr manches in Erfahrung zu bringen, was sie und die Ihrigen betraf? Es war gefahrvoll für die Stellung, die sie jetzt in der Gesellschaft 344 einnehmen mußte, und doch hätte sie gern von diesem gehört und von jenem, vom Stadtamtmann, von Herrn Guthmann, von der bewußten Dame aus der Gesellschaft, von der bösen Buschbeck, von Oskar Binder, von der Heimat, vor allem von ihren beiden Brüdern. Sie wurde letzteres endlich Serlo schuldig, der ihr die Pflicht, sich um diese erst jetzt von ihm in Erfahrung gebrachten Geschwister zu bekümmern, als unerlaßlich vorschrieb. Sie erwiderte: Warum gerade diesen Kelch, Serlo? Wir sind ein Nest wilder Wasservögel gewesen! Wir flogen aus und hatten keinen Trieb, zusammenzugehören! An unserer Mutter lag’s! Wir liebten den Vater, haßten die Mutter, aber unserer aller Art war und ist dennoch nach ihr! … Wenigstens zu jener Frau versprach sie zu gehen, bei welcher ihre Schwester gestorben war.

Hier erfuhr sie vielerlei. Der Stadtamtmann war aus politischen Gründen in den Zeiten einer ewigen Gährung beungnadet und versetzt worden; die Frau Hauptmännin war aus der Stadt verschwunden und vielleicht an den Rhein gezogen, wo sie eine Schwester gehabt haben sollte. Der junge Commis, mit dem sie vor fünf Jahren in die Welt gegangen, verbüßte noch sein Verbrechen des Kassendiebstahls und der Wechselfälschung im Zuchthause; der Kaufmann Guthmann hatte fallirt und war mit der bewußten vornehmen Dame, da er sich von seiner Frau, sie aber von ihrem Gatten hatten scheiden lassen, in die weite Welt gezogen … Ihre eigenen Geschwister? Die hatten nicht gutgethan. Von ihren Meistern kamen sie in eine neu errichtete Besserungsanstalt 345 im Innern des Landes … Bei allen diesen herzzerreißenden Mittheilungen trommelte es in den Straßen wie sonst und die Querpfeife schrillte und die Commandos der Wachparade hallten wider und die Brunnen gingen wie sonst und auf dem größten Platze der Stadt riefen die Kinder wie sonst ein berühmtes Echo wach und glänzende Carrossen rasselten aus den Gasthöfen heraus, weil in dem Lustparke des Fürsten, dem Schauplatze der ersten Triumphe des „Hessenmädchens“, heute, wie sonst, die berühmten Wasser sprangen.

Lucinde kam zu Serlo und sagte:

Ich bringe trockenes Reisig zum Einheizen! Winterholz! Ganz wie die alte Lene, die im Langen-Nauenheimer Forst frei sammeln durfte!

Sie erzählte dann. Serlo erwiderte:

Das ist die Welt!

Der Tag kam heran, wo an den Straßenecken zu lesen war: „Die Jungfrau von Orleans. Romantische Tragödie von Schiller. Jeanne d’Arc: Fräulein Konstanze Huber, als Gast.“ Sie hatte, sie wußte selbst nicht warum, den Namen des Pfarrers von Eibendorf angenommen.

Ihre Befangenheit steigerte sich am Morgen vor dem verhängnißvollen Tage bis zur zaghaftesten Furcht.

Man hatte sie im Bureau und auf der Probe mit einer scheinbar zuvorkommenden, dem Erfolg aber jedenfalls mistrauenden Artigkeit behandelt.

Daß man den Versuch überhaupt wagte, war eine Gefälligkeit gegen Serlo, der aus frühern bessern Verhältnissen unter dem Personal einige theilnehmende Freunde hatte.

346 Lucinde brachte von der Probe keine erfreuliche Stim­mung heim und erzählte, was sie aus dem Benehmen der Mitspielenden herausgefühlt.

Serlo lag auf dem Sopha ausgestreckt; gerade von Tag zu Tag wurde sein Befinden bedenklicher, – er sprach mit einer eigenthümlich peinlichen Aufregung:

Nehmen Sie’s doch, liebe Freundin, ganz so wie es ist! Gerade da, wo man aus der Verstellung eine Kunst gemacht hat, läßt man sich im gewöhnlichen Leben ganz so gehen, wie man ist! Es gönnt Ihnen eben niemand einen Erfolg, selbst die nicht, die Sie um meinetwillen protegiren! Höchstens eine alte gutmüthige Person, die Sie ankleidet und dabei an ihr Trinkgeld denkt! In dieser Laufbahn muß man sich eben alles selbst erobern!

Lucinde sprach die Befürchtung aus, daß ihre frühern Verhältnisse hier bekannt geworden sein dürften und gegen sie sprechen würden …

Sie werden selber für sich sprechen, erwiderte Serlo, wenn Sie nur in Ihrer ersten Scene gefallen haben! Man braucht ja in dieser Rolle nur laut und deutlich das zu sagen, was vorgeschrieben steht!

Lucinde war am Tage der Vorstellung in der Stimmung, die sie selbst mit der Erwartung verglich, hingerichtet zu werden. Hätte sie nicht den unabweislichen Zwang gehabt, schon auf die kleine Summe rechnen zu müssen, die sie für diesen Abend als Ehrensold zu erwarten hatte – Serlo bedurfte gerade jetzt wieder der sorgsamern ärztlichen Pflege und mancher bessern Auswahl in seiner Kost –, sie würde, wie sie sagte, diesen Kelch an sich haben vorübergehen lassen.

347 Wie sie um vier Uhr sich rüstete, ihre Wäsche durch ein gemiethetes Mädchen ins Theater schickte und sich dann halb zögernd selbst auf den Weg machen wollte, war Serlo ein wenig eingeschlummert. Sie blickte aufs Sopha. Seine Augen waren geschlossen. Er athmete schwer. Der Husten, dem nachzugeben die Brust kaum noch Kraft hatte, machte sich nur in stoßweisen Krämpfen bemerkbar, wie bei den intermittirenden Athemzügen eines Sterbenden. Dieser Zustand beunruhigte sie nicht … Sie hatte ihn schon oft erlebt, schon oft hatte man das Erlöschen der Lebensflamme ganz nahe geglaubt. Sie legte dem Schlafenden ein Kissen unter den Kopf, rückte einige Stühle dem Sopha näher und wollte jetzt gehen, so sehr ihr auch fast die Sinne schwanden.

Da blickte der Kranke empor.

Ich habe Sie ganz wohl gehört, gute Freundin! hauchte er leise. Ich werde Sie doch so nicht gehen lassen – ohne meinen Segen?

Nun richtete er sich ein wenig auf und sprach mit erhöhter Stimme:

Lucinde, wenn Sie spielen, denken Sie nur nicht an die paar Menschen, die Sie vor sich sehen, sondern allein an die Menschheit im großen und ganzen! Verachten Sie die, die Sie sehen, und lieben Sie die, die Sie nicht sehen! Lassen Sie die Hörer fühlen, daß Sie eine Prophetin sind, die in diesem Augenblick jeden beschämen will, der im Gemeinen und Geringen lebt! Das Auge sieht den Himmel offen – und hört keine Dissonanz dieses elenden Lebens mehr! Dort oben, so glauben Sie wenigstens, wird alles Harmonie werden! 348 Dort werden wir erfahren, warum wir hienieden die volle schöne Ahnung des Glückes haben durften und doch so viel leiden mußten! So hab’ ich als Kind immer den Märtyrern nachgefühlt, wenn die um ihren Glauben so Grauenvolles erfahren mußten. Knien mußt’ ich dann in der Einsamkeit und denken: Nun kommt nur heran, ihr römischen Landpfleger und Proconsuln alle! Gebt mir nur die tödtliche Wunde! Das wird mich gleich in die Freuden des Paradieses versetzen! Dieser Glaube ist hin … aber wenn er uns irgend noch einmal aufleben kann, ist es in der Poesie. Blicken Sie nur immer empor und thun Sie sich nichts auf den schönen Harnisch zugute! „Mein ist der Helm und mir gehört er zu!“ Wer da auf Bertrand zuspringt und sich wie eine Amazone geberdet, hat schon verloren! Für diese Seherin, die ihre Zukunft kennt, ist das Ueberbringen dieses alten kriegerischen Schmuckes eine ganz einfache, sich von selbst verstehende Bestätigung ihrer Vision der Gottesmutter. Von da an beginnt in ihr die festeste Zuversicht und eine einfache, demüthige Unterordnung unter den Rath des Verhängnisses! Mit dem Himmel spricht sie, wie andere mit sich selbst. Vergleicht sie dann ihre schwache Menschenkraft mit der Größe der ihr gestellten Aufgabe, dann darf sie einen elegischen Ton anschlagen, zu dem jedoch die Musik der Verse nicht zu viel verleiten darf. Mitleid mit sich selber fühlt sie, sie spricht es aus, wenn sie Lionel sieht. Warum sie gerade den liebt, nachdem sie Tausende von Männern gesehen, … ich weiß es nicht, beste Freundin! Ist es, weil Lionel einmal vom ersten Helden 349 und Liebhaber gespielt werden muß – obgleich die Rolle undankbar ist – der Dichter wollt’ es einmal so. Es ist kein Werk des Genius, dies Drama; es lag dem Schöpfer im Gemüth, nicht im Verstande; es will einfache kindliche Hingebung bei allen – beim Publikum und beim Spieler. Aus diesem Geist heraus sprechen Sie! Dann: „Leichte Wolken heben mich!“ und geben Sie Acht,

Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide!
Hinauf – hinauf – die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!

Jetzt küßte er ihr noch, da Lucinde sich zu ihm niederbeugte, die Stirn, lächelte, neckte sogar, sprach von der Art, wie sie beim Hervorruf sich zu verneigen hätte, rieth ihr Vorsicht an im Gefecht mit Lionel … dann winkte er mit stummer Handbewegung … so ging sie.

In der Garderobe war man freundlich. Darsteller geringerer Rollen machten ihr Lobsprüche über ihr Aussehen als Hirtin; aber schon war es ihr bedenklich, daß sie irgendwo zwischen den Coulissen hörte, sie wußte nicht von wem: „Ganz das Hessenmädchen!“

Sie saß dann, ehe noch der Vorhang aufging, schon unterm Drudenbaume. Aus den Coulissen wurde sie lorgnettirt. Gestalt, Kopf, Auge, alles war bedeutungsvoll, wenn nicht zu scharf, zu stechend, auch zu widersprechend der äußern Befangenheit.

Der Director ermunterte sie.

Als der Vorhang aufgezogen und der Dialog im Beginn war, durfte sie schweigen. Sie konnte sich 350 Muth fassen, die zahlreich versammelte Menge zu übersehen.

Statt jedoch jetzt nach Serlo’s Anweisung mit aller Gewalt an die Abwesenden zu denken, in die Höhe und gen Himmel zu blicken, unterschied sie gerade die Anwesenden. Ihr scharfes Auge zeigte ihr diese Persönlichkeit und jene, sie sah die Plätze, wo sie früher selbst gesessen. Ihr Sinn wurde zerstreut und der erste wohlthuende Eindruck, den sie machte, hielt sich nicht. Man fand sie hager, eckig, unsicher, man sah Verstand, wo man Gefühl er­wartete. Die begeisterte Kraft eines hohen Willens schien ganz zu fehlen …

Das Vorspiel ging wol ohne Störung vorüber, der Ton hinter der Scene wurde jedoch schon spöttisch. Um ihr gleichsam zu schmeicheln und sie für den ausgebliebenen Beifall zu trösten, sprach man laut von der Indolenz des Publikums. Hier und da hörte sie Worte aus der bekannten Parodie des Abschieds Johannens von ihrer Heerde. Auch die Schlußworte wiederholte jemand: „Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!“

In Harnisch und Helm sah Lucinde imposant genug aus. Dies schöne natürliche Haar in schwarzen Locken, diese dunkeln Augen, dieser schlanke, jetzt für die Kriegerin nicht mehr zu hohe Wuchs … Sie hätte sich nur zu ermannen, die Stimme zur Kraft und Entschiedenheit zu erheben brauchen und würde sich vor Demüthigung gerettet haben. Aber sie blieb zerstreut, muthlos, außerhalb der Situation, versäumte die Stichwörter, sah und hörte nur auf das, was sie umgab. Von allem, was 351 Serlo ihr angerathen, that sie das Gegentheil. Sie liebte auch die Menschheit nicht, sie haßte sie ja! So schleppte sie sich durch den ersten Act, schwunglos, und bei aller Schärfe ihres äußern Ausdrucks, ihres Verstandes, bei allem Reichthum ihrer Lebenserfahrung erschien sie ein großes, unreifes Kind.

Der Schluß des Actes blieb ohne Beifall, ja er erweckte im ganzen Theater das laute Ausbrechen einer Verwunderung …

Hatte sich ihre erste Jugendgeschichte verbreitet, ihr Ursprung von einem Dorfe der Nachbarschaft, ihr Dienstverhältniß im Hause des frühern, exilirten Stadtamtmanns, oder war das Publikum durch eine Darstellerin der Isabeau zur Heiterkeit gestimmt … im zweiten Acte wurde die Aufnahme bedenklich. Das Lager der Engländer wird vorgeführt, der Streit der Heerführer folgt, ihre Aussöhnung. Nun muß dem Darsteller des Lionel einfallen, zu betonen: „Glück zu dem Frieden, den die Furie stiftet!“ Es war dies eine von den feinen Nuancen, die entstehen, wenn unsere „Künstler“ zu „denken“ anfangen. Alles lachte hellauf. Jeder sah die Erscheinung der corpulenten und so grimmigen Isabeau im Geiste als Furie vor sich. Nun kam die Verwandlung. Johanna sollte Burgund und Frankreich versöhnen. Kein Ton war jedoch Lucinden fremder als der, Streitende zu versöhnen. Bei den schwach gehauchten Worten: „Und einen Donnerkeil führ’ ich im Munde“ klatschte jemand ironisch. Man lachte aufs neue, sie verliert die Besinnung und kann sich zu den letzten Worten nicht mehr sammeln. Der Vorhang fällt, ehe sie die 352 Scene ganz beendet hatte. Sie taumelte in die Garderobe zurück … Der Gaukeltraum ihres Lebens war zu Ende.

Als der Vorhang wieder aufgehen soll und alles um sie her grauenhaft still ist, kommt der Vorstand der Bühne, ein freundlicher, wohlwollender alter Herr, dem die jüngere Generation den Ruf verschaffen wollte, daß er „einen Misgriff nach dem andern“ beging, und ließ die Frauen aus der Garderobe treten. Er sagte Lucinden mit mildem, aber entschiedenem Tone:

Liebes Kind! Sie werden nicht weiter spielen! Auf den Proben konnt’ ich diese Unsicherheit nicht erwarten! Sie sind entweder nicht bei der Sache oder talentlos! Unsere gewöhnliche Darstellerin hat sich bereits angekleidet und wird die Rolle zu Ende führen!

In dem Augenblick hörte man auch schon den stürmischen Beifall, mit dem die „echte Johanna“ empfangen wurde.

An Selbstbeherrschung fehlte es Lucinden nicht. Nun bekam sie Haltung! Doch wenn sie auch hätte in Vorwürfe oder Klagen ausbrechen wollen, der Director würde sie nicht angehört haben. Er wurde in die fürstliche Loge gerufen.

Hohn verfolgte die Unglückliche nicht, als sie sich umgekleidet hatte, ihrem Mädchen ihre Sachen gab und in Begleitung desselben nach Hause ging. Sie mußte die ganze Länge der hintern Bühnenwand passiren und vor allen denen, die zu dem kommenden Krönungszuge gehörten, vor mehr als hundert Menschen, vorübergehen. Der Spott schwieg: massenhaft verhöhnt der Mensch den Unglücklichen nicht. Einzelne lassen sich zwar den 353 Hufschlag des Esels auch dann nicht nehmen, und so sagte einer: Gute Nacht! Da lachten denn freilich alle, aber nur über den Muth, jetzt einen solchen „Witz“ zu machen … man sah, als sie durch die Leute ging, auf den Sprecher, nicht auf sie.

Lucinde war auf der Straße, in der Dunkelheit der Gassen. Die Menschen, die ihr begegneten, wußten nichts von ihrem Geschick und darin fand ihre starke Natur schon wieder Kraft, schon wieder Anhalt. Nur Serlo wiederzusehen, zu dem so zurückkommen zu müssen … das benahm ihr den Athem. Sie fühlte, daß sie, die sich der Zeit nicht mehr entsinnen konnte, seitdem sie geweint, jetzt in Thränenströmen sich baden müßte, wenn sie in sein Zimmer träte, der Schein der kleinen Lampe, bei dem er zu schlafen pflegte, auf sein Antlitz fallen würde und sie ihm berichten müßte, wie es ihr ergangen!

Mühsam stieg sie, keuchend, an der Lehne der Treppe sich haltend und die erstaunten Fragen der Dienerin, die aufrichtig gemeinten Trostgründe derselben, die von einer angelegten Kabale sprach, nur mit Stillschweigen aufnehmend, in ihre Wohnung hinauf. Je näher sie dem dritten Stocke kam, desto schneller ging sie. So hatte sie noch nie das Bedürfniß nach einer Stelle, um niederzusinken, so noch nie nach einem Menschen, dem sich auszuweinen, so noch nie die Wonnen des Trostes geahnt, der in einer einzigen rein, aber auch ganz rein und selbstlos mitfühlenden Seele liegen kann …

Niemand von den Wirthsleuten, bei denen sie wohnte, hörte sie kommen. Alles war im Theater! Sie drückt die Thür auf, sie stürzt auf das Sopha zu, sie hat 354 ihre ganze Kraft in dem Hülferuf: „Serlo!“ gesammelt …

Der aber lag, von der kleinen Lampe beschienen, auf dem Sopha … Er schlief nicht mehr … Stirne, Wange, Hand waren kalt …

Er war todt.

355 21.#

Die Schauspieler haben die schöne Art, in äußersten Lebenskrisen sich von der herzlichsten Seite zu zeigen.

Es ist dann fast, als gedächten sie der alten Zeit, wo sie noch zu den Verfemten gehörten, gedächten ihres eigenen, meist so schwankenden Looses.

Serlo war freilich schon so verbittert gewesen, daß er auch diese Erfahrung anders erklärte.

Er hatte zu Lucinden schon vor längerer Zeit einmal gesagt:

Wir Komödianten kennen die Wirkung, die auf der Bühne Edelmuth macht! Immer Schlangen im Herzen haben, erstickt uns auch zuletzt selbst. Wir athmen ja auf, einmal für unsere bessere Empfindung ein Zeugniß aufstellen zu können. Daß uns dann aber auch der Beifall, nicht nur des Gewissens in aller Stille, sondern auch der öffentliche und der Hervorruf nicht fehle, dafür sorgen wir schon! Gilt es ein bewiesenes Herz, gilt es unser Mitleid, unsere Aufopferung, dann wird sogar ein College einmal zum Claqueur des Collegen und das – will viel sagen!

356 Dieser bittern und menschenfeindlichen Aeußerung erinnerte sich Lucinde, als sie den Eifer sah, mit dem man Serlo bestattete, seine Angelegenheiten ordnete, für seine Anerkennung sogar durch die Presse sorgte. Jetzt hatte jeder das Ringen des Armen beobachtet, jetzt hatte jeder gefunden, daß er eines bessern Looses würdig gewesen war. O diese Grabredner! sprach Serlo einst schon früher einmal wie in Vorahnung. Man möchte diese Kerle immer fragen, warum sie nicht früher das Maul aufthaten?

Für alle diese Liebesdienste wurde ein Comité niedergesetzt und Lucinden selbst der Ueberschuß einer Subscription angeboten.

Sie nahm für sich nur, was für das „unterbrochene Opferfest“, wie ein bewunderter Witzbold und beliebter Zeitungsreferent von der Vorstellung der Jungfrau gesagt hatte, von der Direction gezahlt wurde. Sie wohnte dann noch dem Begräbniß und der theilweisen Versiegelung der Verlassenschaft bei, schrieb an Madame Serlo und die Kinder, ließ, was sie noch entbehren konnte, dem Todtengräber zurück, um einige Jahre lang Serlo’s Grab zu schmücken, und reiste ohne Plan, ohne Ziel blindlings in die weite Welt hinaus.

Zunächst nur über die düstern Berge hinweg, die waldigen, dunkeln Fichtennadelhöhen … Nur in freundlichere, sonnigere Thäler! Sie wollte womöglich die Stadt sehen, in der Serlo geboren war und noch Anverwandte hatte. Dann hoffte sie irgendwie und wo weiter zu kommen …

Was das Leben zur Schule machen kann, glaubte sie hinter sich zu haben. Eine Schülerin im großen Lehr-357gange des Schicksals erschien sie sich nicht mehr. Sie mußte schon wieder bitter lachen, als sie so im Eilwagen über die Schluchten des Rhöngebirges fuhr, dabei an die Wölfe des Revierförsters, an ihre Langen-Nauenheimer Wandlandkarte dachte und ihr immer die Klänge ihrer Rolle im Ohre summten. Auch andere Rollen wurden lebendig. Wie viel hatte sie nicht auswendig gelernt und studirt!

Diese Worte wiederholte sie am öftersten. Verirrung schien ihr alles, was sie bisher erlebt. Sie sah neue Ströme, neue Thäler, neue Ebenen; sie fühlte wieder die Kraft, ihr Schicksal sich selbst zu gestalten.

Wie aber und womit? Wo den Handschuh hinschleudern zur Fehde gegen Natur, Menschen, Erde, Himmel? Nach Schloß Neuhof zurückkehren? Dort dem Kronsyndikus, wenn er noch lebte, ein Wachtauf! Wachtauf! rufen? Thatsachen geltend machen, die nicht ganz aus ihrem umflorten Gedächtniß entschwunden waren? Dann hätte sie freilich nach Norden zurück müssen und schon hatte sie’s unwiderstehlich nach dem Süden gezogen.

Als man Serlo auf dem Friedhofe, dem katholischen, begraben hatte, war sie zugegen gewesen und hatte von fern gestanden. Sie gehörte dem Dahingegangenen zwar am meisten an, aber das auf der Bühne Erlebte zwang sie, an den Grabeshügel erst dann heranzutreten, als alle sich entfernt hatten, der Weihrauch verduftet, die schönen Gesänge des Theaterchors verklungen waren. Da hatte sie noch eine Thräne in ihrem brennendheißen 358 Auge gehabt. Dann warf auch sie drei Hände voll Erde auf das Grab, nahm jene Rücksprache mit dem Todtengräber und war nur noch eine Weile unter den Gräbern gewandelt. In der Nähe lag der Kirchhof, auf dem ihre Schwester begraben sein mußte … Er stand offen … Sollte sie hineingehen? … Ueberall las sie: „Friede und Glück“ … Wo es so viel Gräber gibt, so viel müde, gequälte, betrogene Herzen, Glück? Ja, Glück, unter der Erde im Nichts sich ausruhen! Im Nichts! So glaubte sie schon. Alles schien ihr Traum und Wahn. Verwirrung, Krieg, fester Wille nur, und den Fuß gesetzt auf jeden Nacken, der sich nicht beugen will! Das schien ihr eine Aufgabe, allein des Lebens würdig … Sie ging nicht auf den Friedhof.

In eine altberühmte Stadt kam sie und fand Verwandte Serlo’s. Diese fragten nach seinem Nachlaß.

Sie sagte, sie hätte nichts, ging und belächelte ihre Anwandlung von Gefühl.

Mit sich kämpfend, ob sie an den Kronsyndikus, vielleicht an seinen Sohn, den Oberregierungsrath, schreiben, bitten, vielleicht drohen sollte, las sie in der Zeitung des Orts folgende Aufforderung:

„Man sucht im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß. Näheres bei dem Director.“

Ein orthopädisches Institut! Eine Erziehungsanstalt für die Unarten des Körpers; eine Correctionsanstalt der Natur! Die hier gemeinte war weit berühmt. Sie 359 war eine der ersten gewesen, die man in Deutschland überhaupt anlegte; sie wurde vom Landesfürsten königlich unterstützt. Es strömten ihr aus allen Gegenden, selbst aus England und Amerika Pfleglinge, größtentheils junge Mädchen zu, von denen nicht einmal alle an ganz auffallenden, durch das Streckbett zu heilenden Fehlern litten; die Neigung, dem Körper seinen natürlichen Wuchs zu entziehen, ist ja leider tief in die erste Erziehungs- und Bekleidungssitte unserer Zeit eingerissen, so tief, daß bei einer Untersuchung, die jener Fürst einmal in einem adeligen Töchterinstitut anstellen ließ, fast die Hälfte von hundertachtzig jungen Mädchen keinen richtigen Wuchs oder Gang hatte!

Lucinde stellte sich dem Director vor und gab allerlei Auskunft über ihr vergangenes Leben. Da sie sich gewandt französisch ausdrückte, etwas Englisch verstand, vollkommen fertig Klavier spielte, war die Prüfung bald geendigt. Auch ihr bestimmtes Wesen gefiel. Man wurde über die Bedingungen einig. Von den Kennzeichen, die ihr sonst noch etwa mangelten, hatte man nicht gesprochen; daß sie katholisch war, schien sich von selbst zu verstehen.

Gleich schon am Tage darauf sollte sie beim Institut eintreten.

Da der Vorstand und Besitzer der Anstalt Arzt war, der seine Zeit geregelt hielt, so wurde die genaue Stunde angegeben, wo er Lucinden in die Säle einführen wollte. Morgen in der Frühe „um punkt neun Uhr“ wurde sie erwartet.

Es war um die Osterzeit. Der morgende Tag war, 360 wie sie im Gasthause hörte, ein Quatembertag. Schon früh wurde sie vom Geläut der Glocken geweckt und als sie sich angekleidet hatte, hörte sie, daß in der Kathedrale vom Bischof heute eine Priesterweihe vorgenommen wurde. Drei junge Diakonen sollten die letzten Weihen erhalten.

Nach acht Uhr stieg auch sie, von Unruhe und Ungeduld getrieben, die Anhöhe empor, auf welcher die Kathedrale lag, umgeben von Resten alter Bauwerke. Hier sollten deutsche Kaiser einst eine Pfalz, einen Palast gehabt haben, an derselben Stelle, wo jetzt nur eine Schwadron Chevauxlegers einkasernirt lag in allerlei Anbauten, die mit Galerieen hinausgingen auf einen Platz, den man den Schloßhof nannte und wo allerdings an einer Stelle ein alter Thurm mit Wendeltreppe und ein steinernes Portal, über welchem der Thierkreis abgebildet war, unmittelbar um tausend Jahre aus der Gegenwart hinausversetzten.

Die Kathedrale selbst war in byzantinischer Form angelegt, aber von dem Geschmack späterer Jahrhunderte mannichfach ergänzt durch Neubauten, Rundkränze und Thürme allerlei Stils. An den obern Stockwerken der Thürme sah man Säulen und Statuen, die Thüren waren nicht eben hochgewölbt, aber reich geschmückt mit Bildwerken. Die Nähe der kaiserlichen Burg schien Einfluß gehabt zu haben auf die Gegenstände dieser Reliefs; man sah Allegorieen mit den Attributen der Gerechtigkeit, Salomo, den Richtenden, eine verhüllte Gestalt mit der Wage in der einen Hand und dem Schwert in der andern ihm zur Seite. Dazu gesellte sich in noch nicht allzu 361 kirchlicher Ausdrücklichkeit der wunderlichste Schmuck von Thieren und manche humoristische Ausgelassenheit, die man am Eingang so heiliger Stätte am wenigsten gesucht haben würde … Ein Silen reitet auf einem Ziegenbock, ein Affe schreitet gravitätisch in Gewändern daher, ein Löwe spielt mit jungen Hasen … Es ist als wenn sich das alte Leben der Zeit in Markt und Wald nur in Stein verwandelt hätte und sich seinerseits der trauten Nähe des Allerheiligsten auch erfreuen, vielleicht aber auch an der Pforte andeuten wollte, wessen man alles, die heiligen Räume betretend, vom Ungeistlichen draußen uneingedenk werden sollte.

Ostern war spät gefallen, aber die reichen Blumenspenden, die Lucinde in den Straßen getragen fand, waren doch zu kostbar für die Jahreszeit. Hier mußten ganz besondere Opfer der Liebe stattfinden, wenn man diese Kränze und Kronen sah, die, aus den schönsten Blumen gewunden, noch wie verspätet eilends in die Kathedrale nachgetragen wurden. Die Menschen drängten sich, vorzugsweise eilten die Frauen. Eine Priesterweihe ist einer der anregendsten Vorgänge des kirchlichen katholischen Lebens, gleichsam eine geistliche Hochzeit, fehlt doch bei Ertheilung der ersten Grade selbst eine sichtbare Braut nicht, ein kleines Mädchen, dem der entsagende Priester angetraut wird, als dem Symbol der reinen, unentweihten, jungfräulichen Kirche. Hier handelte es sich um drei junge Diakonen, die schon die letzten Weihen erhielten und sozusagen nicht „ein-“, sondern, wie Lucinde auf Erkundigung vom Volke erfuhr, „ausgeweiht“ wurden.

362 Lucinde machte erst einige Gänge durch die alte Pfalz, betrachtete die geheimnißvolle Wohnung des Bischofs, hinter der ein Garten mit schon Blüten ansetzenden edeln Bäumen sich erhob, und umschritt die Kathedrale, die wie ein Sinnbild des Lebens selbst, abwechselungsreich und fast in ihrem ursprünglichen Zweck überladen und erdrückt erschien … fehlte doch selbst an einem Ausbau ein Schalter mit frischem Backwerk nicht, in der Kirche ein Bäckerladen! Einer alten Sitte zufolge mußte hier jeder neu gewählte Domherr weißes Brot kaufen und an die Schuljugend, die ihm Glück wünschte, selbst vertheilen … So bot die Kirche Brot des Lebens, geistiges und leibliches.

Lucinde, gedenkend, daß sie in ihrer neuen Lage die ihr mangelnde und von ihr als unwesentlich vorausgesetzte Bedingung ganz verschwiegen hatte, wollte das geistige wenigstens am Geschmack versuchen und trat in die Kathedrale ein.

Das Innere derselben war trotz der Sonne von Kerzen erhellt, mit Blumenkränzen durchzogen, von Orgelklängen durchbraust; Stimmen redeten laut und so voller neugierig sich drängender, auf den Zehen stehender Menschen war der Raum, daß Lucinde nur auch sogleich von dem, was vorging, angezogen wurde und der Betrachtung des Baues selbst, seiner hohen Gewölbe, seiner bunten Fenster, seiner Kapellen und Grabmäler sich jetzt nicht widmen konnte.

Die heilige Handlung war schon in vollem Gange. Der Bischof stand am Hochaltar in prächtigen Gewändern. Rings um ihn her eine Reihe junger Priester 363 niederkniend, vor ihm drei andere, die, welche eben die letzten Weihen empfingen.

Eben redete der Archidiakon den Bischof mit den Worten an:

Die heilige Mutter Kirche verlangt, daß die gegenwärtigen Diakonen zur Würde des Priesterthums geweiht werden!

Der Bischof sprach:

Weißt du, daß sie würdig sind?

Der Archidiakon erwiderte:

Soweit es die menschliche Gebrechlichkeit zu erkennen vermag, weiß ich es und bezeug’ es!

Nun wurden die Namen der drei zu Weihenden genannt, die mit Kerzen in der Hand vor dem Bischofe standen:

Joseph Niggl, Beda Hunnius, Bonaventura von Asselyn.

Der letzte Name machte die Hörerin lebhafter aufblicken. Dieser Name Asselyn war auf Schloß Neuhof nicht selten genannt worden. Der Sohn des Kronsyndikus, der Oberregierungsrath, hatte die Witwe eines Herrn von Asselyn geheirathet. Sie erinnerte sich, daß sein mitübernommener Stiefsohn Bonaventura von Asselyn genannt wurde, doch war er für den Militärstand bestimmt gewesen und hätte jetzt Offizier sein müssen.

Sie blickte näher …

Jetzt überfiel sie ein Schauer …

Alle ihre Umgebungen wandten sich, als sie einen zwar unterdrückten, aber doch genugsam hörbaren ängstlichen Schrei ausstieß …

364 Das ist … hatte sie erst ganz laut gesagt, … leiser aber und schon verklingend auf ihren plötzlich erbleichenden Lippen hinzugefügt: ja – Serlo!

Der Bischof sprach soeben von der Bürde und Würde des geistlichen Amtes …

Lucinde hielt sich an einen der dicht besetzten Kirchenstühle im Innern des Schiffes. Sie starrte auf den jungen Priester, den man Bonaventura von Asselyn genannt hatte. Er war wie Serlo! Serlo, wie er vor zehn Jahren hier hätte können gestanden haben! Derselbe schlanke Wuchs, dieselbe würdige Haltung, dieselben, als er sich wandte, ganz sichtbaren edeln Gesichtszüge, derselbe feine Schwung des Profils, dieselben dunkeln Augen, das Haar, das schon die Tonsur empfangen und ringsum rabenschwarz war …

Aller Augen theilten das Interesse für diesen jungen Novizen des Priesterthums. Wäre dies nicht gewesen, die Unruhe, die Lucinde verrieth, hätte noch störender auffallen müssen.

In der Litanei der Heiligen, die jetzt vom Bischof vor den niederknienden Priestern und während er selbst kniete, begonnen wurde und deren wiederholtes: Bitte für uns! die dichte Men­schenmasse volltönend und durch die nicht endende Gleichmäßigkeit fast die Sinne verwirrend nachmurmelte, fand Lucinde Zeit sich zu sammeln und die krankhafte Aufregung ihrer Gefühle zu beschwichtigen.

Als sich endlich die Betenden erhoben und wieder die lange schlanke Gestalt Serlo’s wie aus dem Grabe erstanden vor ihre fieberhaft erregte Phantasie getreten war, hätte 365 sie sich den mit Blumen bestreuten Aufgängen zum Hochaltar noch mehr genähert, wenn nicht einige das Gewölbe mächtig durchdröhnende Schläge der Thurmuhr sie zur Besinnung gebracht hätten. Neun schlug es, die Stunde, wo sie schon im Institut erschienen sein sollte.

Noch einmal sah sie an den Hochaltar, dann ringsum … es waren Hunderte von jugendlich erblühenden Mädchen anwesend, ganze Schulen, ganze Pensionate, … konnte nicht auch jenes Institut … nein, sie besann sich, die künftigen Pfleglinge, zu denen sie eilen mußte, führten ein Leben, das dem der andern nicht glich … sie lagen auf Betten, bewegten sich in Bändern und Maschinen … diese arme Kinder fehlten.

Nun riß sie sich los. Noch im Gehen war sie nur zu dem Priester hingewandt, der ihr Serlo schien … Serlo, wie er einst gewesen sein konnte, sein mußte!

Eben streckte der Bischof die Hand über die zu Weihenden aus, sprach Worte des Segens, begann die Ceremonieen an dem ersten der drei, indem er die Stola, die er als Diakon von der linken Schulter zur rechten trug, ihm kreuzweise über die Brust hängte und dann sprach:

Nimm auf dich das Joch des Herrn! Denn sein Joch ist süß und seine Bürde ist leicht!

Wie sie, mit dem Nachklang dieser Rede, der Anstalt zuflog und dort glücklicherweise noch nicht verspätet ankam, wußte sie kaum …

Das große Gebäude des orthopädischen Instituts nahm sie auf. Es war geschmackvoll und sogar luxuriös eingerichtet. Hinterwärts hatte man den Blick in einen Garten, wo der Rasen schon in üppigem Grün stand. 366 Durch eine geöffnete Glasthür trat man in einen großen Saal, den zierliche Treibhauspflanzen schmückten … Dann freilich kamen die trübern Eindrücke … Saal an Saal … Bett an Bett. Kinder darunter, die die Hoffnung ihrer Mütter auf Schönheit ganz betrogen hatten; aber doch viele auch, die sie wol noch einst erfüllen werden … Ein Jahr, und eine Neigung der Hüfte oder der kaum sichtbare ungleiche Wuchs einer Schulter ist geheilt! Einige dieser jungen ringsum liegenden Mädchen werden vielleicht ein wenig, ganz leise nur und unscheinbar mit dem einen Fuße weniger behend durchs Leben schweben; aber was thut das ihrem rosigen Lächeln? Was thut das ihrer neckischen Lust, die einen ganzen Kreis in gleicher Lage Befindlicher ringsum auf den Prokrustesbetten eben zum Lachen bringt! Diese schelmischen Augen dort, diese sinnigen hier, diese Rosen auf den Wangen, diese Lilien auf Arm und Nacken, jede eine Knospe voller Hoffnung für die Zukunft, jede so ganz das schöne, liebevolle, reiche Geheimniß eines jungen Mädchenlebens! … Wer kann sonst schon solche junge Mädchen im traulichen Verein spielend, harmlos dem Augenblick dahingegeben sehen, ohne nicht zu gedenken: Was wird euch allen noch einst beschieden sein? Welche Flammen werden in euren Herzen lodern? Wo waltet jetzt wol die Hand, die liebend einst die eurige erfaßt? Vor welchem Munde, der von Liebe spricht, wird euer Jugendmuth verstummen, und ach! welcher von euch allen sind noch die größten Leiden aufgespart? Der vielleicht, die jetzt die Glücklichste scheint? Der vielleicht, die ihr alle wie eure Schwester liebt, mit der ihr eure 367 Freuden, eure kleinen Geheimnisse theilt und der ihr, so oft ihr unter den Blumen des Feldes sein dürft, sein könnt, die schönsten bringen müßt, die ihr am Wege gefunden? – bringen selbst dann, wenn der Geliebten ein Fuß nicht so schnell gehorcht wie der andere?

Eine solche Königin unter dem jungen Volke, eine schon emporragende Lilie unter Maiblumen und Veilchen, ein Wesen schon voll Seele, während ringsum nur noch Gemüth, Verstand und Phantasie sich entwickelten, war die junge, zu früh emporgeschossene und deshalb in ihrem Wuchse ängstlich überwachte Sechzehnjährige, welche vorzugsweise der Obhut, der Gesellschaft, der Unterhaltung Lucindens angewiesen werden sollte.

Der Vorstand des Instituts hatte die neue Lehrerin und Gesellschafterin des Hauses im Wandeln durch die Säle laut eingeführt. Erst hatte er sie allen flüchtig vorgestellt, dann aber mit besonderm Vorzug einer unter ihnen, die in einem abgesonderten Zimmer lag und von ihm Comtesse Paula von Dorste-Camphausen genannt wurde.

Wie Lucinde auch diesen Namen hörte, erschrak sie. Auch diesen kannte sie ja schon! Es war ja jene Größere von den Mädchen gewesen, die sie am Weiher im Park von Neuhof beobachtet, jene Gräfin Paula, die reiche Erbin, die Nichte des Kronsyndikus, die vielleicht einst mit jenem österreichischen Offizier vermählt werden konnte, den sie vor zwei Jahren in Kiel gesehen … Kam das alles hier so wieder zusammen? Wie fügte sich Ring an Ring? Sollte sie die Kette festhalten, sich binden, aufs neue sich in das große, bewegte, thatsachenreiche Leben 368 um Schloß Neuhof und die uralte Stadt Witoborn hinüberziehen lassen?

Auf einem schrägliegenden Ruhebett, von einigen Gurten und Bandriemen, einigen eisernen Klammern in fester Lage gehalten, lag, weißgekleidet, das schlanke junge Mädchen, eine Gestalt zart, wie durchsichtig, ganz von jenen länglichen Formen, sowol im Oval des edeln griechischen Profils, wie des Oberkörpers und der Hände, die wir gelernt haben als Ausdruck des Seelischen zu nehmen.

Die Comtesse, die ihr eigenes Zimmer hatte, schien zu schlummern.

Der Director sagte leise:

Sie ist krank und mir ganz besonders empfohlen! Sehen Sie nur! … Sie neigt zum Traumschlafe … Sie spricht! Ganz deutlich! Und doch schläft sie!

Lucinde trat näher … Ihr Herz pochte …

Murmelnd sprach das junge Mädchen Worte, die einem Gebet gleichkamen.

Der Director schloß die Thür, die zu den lauten Sälen führte …

Nimm hin, sprach das junge Mädchen, leise und langsam betonend, nimm hin – das – priesterliche – Kleid – welches – die Liebe bedeutet! – Gott ist mächtig – genug in dir – die Liebe zu vermehren und sein Werk – zu – vollenden –!

Der Director horchte hoch auf; so zusammenhängend hatte die Kranke noch nie gesprochen.

Lucinde träumte noch von Neuhof, von der Kathedrale …

369 Die Schläferin schwieg eine Weile, dann fuhr sie deutlich fort:

Du willst, o Herr – diese Hände – weihen und heiligen – durch die Salbung – damit alles, was sie weihen – geweiht und geheiligt sei im Namen unsers Herrn!

Dann setzte sie mit einer andern, fast männlichen Stimme hinzu:

Amen!

Was mag sie beschäftigen? fragte der Director erstaunt.

Lucinden aber war es, als wäre sie an den Hochaltar zurückversetzt, wo sie Serlo gesehen zu haben glaubte, wie er von den Todten erstand.

Der Director winkte, daß sie nicht spräche; eben wollte sie an die Priesterweihe erinnern.

Die Schlafende fuhr fort:

Nimm hin – den Heiligen Geist! Welchen – du die Sünden – erlassen wirst, denen – sind sie erlassen! Welchen – du sie – behalten – wirst, denen – sind – sie – behalten!

Sie spricht dem Bischof nach, der in diesem Augenblick in der Kathedrale die Priesterweihe hält! … flüsterte Lucinde.

Sieh! Sieh! bemerkte jetzt der Director kopfschüttelnd und setzte dann leise und fast lächelnd hinzu: Es ist ein Verwandter ihrer Familie darunter, Zögling des hiesigen Convicts, ein junger ehemaliger Offizier, … er wird in diesem Augenblick ausgeweiht …

Ein Herr von Asselyn!

370 Ganz recht!

Der Director flüsterte nach einer Weile:

Sie hat eine große Verehrung vor diesem ihrem Landsmann … sie leidet entweder darunter, der Feierlichkeit nicht beiwohnen zu können, sieht sie aber im Geiste vor sich … oder … sie wünscht wol gar …

Auf dieses bedeutungsvoll gezogene: „Wol gar“, in dem Lucinde die Vermuthung erkannte, die Kranke litte darunter, daß der ihr Theuere überhaupt Priester wurde und Frauenliebe nun ein ganzes Leben lang nicht mehr erwidern durfte, schienen plötzlich die Empfindungen der Schlummernden Inhalt und Ausdruck zu verändern. Die Mienen verdüsterten sich, die Hände hoben sich als wollten sie irgendetwas Störendes verhindern. Der Rücken, den sie nicht bewegen konnte, schien sich erheben zu wollen. Zurückgehalten von dem Mechanismus des Bettes, mehrte sich ihre Angst. Seufzer entrangen sich der Brust, die sich mächtig hob. Der Mund blieb starr geöffnet als wollte er: Nein! Nein! Nein! rufen …

Da fuhr der Director sanft über ihr Antlitz und weckte sie.

Befremdet sah sie um sich, als hätte sie hier zu erwachen nicht vorausgesetzt.

Als dann der Director ihr die neue Pflegerin vorgestellt hatte, veränderten sich ihre Züge allmählich zur frühern Milde. Sie schien Lucinden nicht von früher zu erkennen. Sie lächelte gelassen, ergeben, sanft, ja dies Lächeln war wie jener lichte Hauch, jener sanfte röthliche Schimmer im Innern einer weißen Rose. Tief andachtsvoll, gläubig der Gruß ihres schönen Antlitzes. 371 Sie bewegte sich nicht, aber in den Augenwimpern lag etwas, wie wenn sie sich im Geiste verneigte. Sie verneigte sich wie einem Engel der Verkündigung.

Kommt aber wol der Engel, der sich in freundlicher Anrede jetzt über Paula von Dorste-Camphausen niederbeugt, aus den reinen Regionen des Lichtes?

Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen lichtgeborene gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem nachtdunkeln Gefieder, das an Lucindens Haupte, wie einer Tochter Lucifer’s, dämonisch aufzurauschen scheint!

Nachdem sie ihr Zimmer angewiesen erhalten und ihren Einzug geordnet hatte, machte sie einen ihrer ersten Ausgänge zum Bischof.

Sechs Wochen später holte sie für ihre neue Stellung die Bedingung nach, der katholischen Kirche anzugehören.

Ende des ersten Buchs.

Apparat#

Bearbeitung: Kurt Jauslin, Stephan Landshuter, Wolfgang Rasch#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Gutzkows Roman Der Zauberer von Rom liegt in drei voneinander abweichenden Druckfassungen (E1, E3, E5) bzw. fünf zeitgenössischen Auflagen vor, von denen die zweite Auflage von 1859 (E2) nur die ersten drei Bände umfasst. Die folgenden Angaben beziehen sich auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow (1829-1880). Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 1998. Bd. 1 (S. 119-123):

E1 Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Bd. 1-9. Leipzig: Brockhaus, 1858-1861. (Rasch 2.34)
E2 Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Bd. 1-3. 2. Aufl. Leipzig: Brockhaus, 1859. (Rasch 2.34.1-3a)
E3 Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 2. Aufl. Bändchen 1-18. Leipzig: Brockhaus, 1863. (Rasch 2.34a)
E4 Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Dritte Aufl. Bd. 1-9. (Bändchen 1-18.) Leipzig: Brockhaus 1869. (Rasch 2.34b)
E5 Der Zauberer von Rom. Roman von Karl Gutzkow. Vierte völlig umgearbeitete Aufl. Bd. 1-4. Berlin: Janke, [1872]. (Rasch 2.34c)

Vom Roman gibt es keine Vorabdrucke in Zeitungen oder Zeitschriften. Nachdrucke in Periodika (fast sämtlich in der Leipziger „Novellen-Zeitung“) listet Rasch in seiner Bibliographie auf: 3.58.10.27, 3.59.01.19, 3.59.02.02, 3.59.05.11, 3.60.05.26.1.

Noch vor Auslieferung des ersten Bandes von E1 in Leipzig ließ Brockhaus im September 1858 100 Exemplare des Romans mit dem Titelzusatz „Wohlfeile amerikanische Ausgabe“ in die USA schicken, um sich damit gegen amerikanische Nachdrucker zu schützen (Rasch, Bd. 1, S. 119). Diese ›amerikanische‹ Ausgabe ist für die Textgeschichte irrelevant.

Von den ersten drei Bänden der ersten Ausgabe (E1) erschien 1859 eine zweite Auflage (E2), für die Brockhaus den Satz der ersten Ausgabe verwendete und „in der Gutzkow lediglich einige Druckfehler berichtigte“ (Rasch, Bd. 1, S. 121). Nach Autopsie eines in der Österreichischen Nationalbibliothek zu Wien befindlichen Exemplars der zweiten Auflage (Sign.: 161394-B. Neu Mag) konnten wir feststellen, dass zumindest in Band 1 und 2 von E2 einige Druckfehler aus E1 berichtigt wurden.

1863 kam der ganze Roman auch äußerlich in veränderter Gestalt als zweite Auflage heraus (E3). Die Bände erschienen im Kleinoktav-Format, und die neunbändige Anordnung wurde zugunsten einer Aufteilung in 18 Einzelbändchen aufgegeben. Gutzkow unterzog den Text einer sorgfältigen Revision, bei der er die erste Auflage als bloße Grundirung des Romans betrachtete und besonders stilistische Schwächen der ersten Fassung bereinigte. In einem Fall griff er in die Kapiteleinteilung des Romans ein: Das sehr lange 23. Kapitel des fünften Buches wurde geteilt. So hat in der zweiten Auflage das fünfte Buch 24 Kapitel.

Die dritte Auflage des Romans (E4) ist – bezogen auf den Romantext – eine Titelauflage der zweiten, die aber um ein umfangreiches, römisch paginiertes Vorwort ergänzt wurde und in der durch Einsetzen neuer Titelblätter Autor und Verlag zur alten neunbändigen Bandstruktur zurückkehrten (ein Band = zwei Bändchen mit jeweils getrennter Paginierung). Obwohl der Romantext also hier in einer Titelauflage vorliegt, stellt er wegen des eigens für diese Auflage geschriebenen Vorworts eine neue Ausgabe dar, die eine entsprechende eigene Siglierung verlangt.

Wesentlich stärkere Um- und Überarbeitungen als E3 erfuhr die vierte Auflage des Romans von 1872 (E5). Gutzkow nahm einschneidende Kürzungen und gravierende Textänderungen vor. Das Werk schrumpfte rein äußerlich auf vier Oktav-Bände. Die Grundstruktur des Romans mit seinen neun Büchern ließ Gutzkow unangetastet. Allerdings änderte er die Kapiteleinteilungen der einzelnen Bücher erheblich. Zudem erhielten die Kapitel Überschriften.

Nach dem Tod von Papst Pius IX. im Jahr 1878 ließ der Verlag Otto Janke Reste der vierten Auflage mit einem neuen Umschlagtitel erscheinen. Diese Auflage weist im Impressum das Erscheinungsjahr 1878 auf und ist textgeschichtlich irrelevant.

Über die Motive und Grundtendenz der Textänderungen und Romanbearbeitung hat sich Gutzkow im Vorwort zur zweiten (1863) und zur vierten Auflage (1872) des Romans geäußert (vgl. S. 2749-2752 und S. 2765-2766 unserer Ausgabe).

1873 nahm Gutzkow neun Gedichte aus dem Zauberer von Rom in seine Gesammelten Werke (Rasch 1.5.1.2.5) auf. Sie erhalten hier folgende Überschriften: I. Klingsohr heinisirt. – II. Leben aus Tod. – III. Sehnsucht zum Tod. – IV. Des römischen Priesters Entsagung. – V. Lerchenjubel. – VI. Im Cölibat. – VII. Nur Einer, nur Eine. – VIII. Bonaventura. – IX. Ermuthigung. Eine erste und stark abweichende Fassung des Gedichts Ermuthigung (ohne Titelüberschrift auf S. 2543 unserer Ausgabe) erschien schon 1852 unter dem Titel Aufruf zum Lebensmuth in Gutzkows „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ (Rasch 3.52.11.25.4), eine gleichfalls stark abweichende Fassung von Sehnsucht zum Tod (ohne Titelüberschrift auf S. 2533-2534 unserer Ausgabe) veröffentlichte Gutzkow 1853 in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ unter dem Titel Das Schweigen der Natur (Rasch 3.53.08.13.3).

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E1. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch – wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit eckigen Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Sigle ›Rasch‹ im Apparat bezieht sich auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow (1829-1880). 2 Bde. Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 1998, sowie auf die → Nachträge zur Bibliographie.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Romans: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern. Hg. von Kurt Jauslin, Stephan Landshuter u. Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2007. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I: Erzählerische Werke, Bd. 11/I-III.)

2.1.1. Texteingriffe#

2,26-27 Aufnahme Au fahme Dieser Texteingriff ist in der Buchausgabe (GWB I, Bd. 11/3, S. 2902) irrtümlich nicht dokumentiert.

57,22 hin ihn

69,25 Worte: Worte.

105,18 ‘s ist recht! s’ ist recht!

117,29 Die Sonne Sie Sonne

120,33 Sein Genie Seine Genie

133,18 galoppirender galopirender

194,6 Gesinnungslosigkeit Gesinnungs osigkeit

211,31-33 der alten hamburger Bürgermeister verlorenen Nikolaus verweilte und der hamburger Bürgermeister verlorenen Nikolaus verweilte alten und

226,18 einiger iniger

277,7 laut luat

284,12 schien Einfluß chien Einfl uß

288,34 erfaßt erfäßt berichtigt nach E3

319,25-26 Wie Lucinde zerstörte, aus Kraftgefühl Wie Lucinde zerstörte aus Kraftgefühl berichtigt nach E3

329,5 St.-Wolfgang S.t-Wolfgang Dieser Texteingriff ist in der Buchausgabe (GWB I, Bd. 11/3, S. 2902) irrtümlich nicht dokumentiert.

335,27 vielleicht vielleich

413,30 „Unter Unter

485,14-16 „Die Stimmen sind getheilt“, fuhr Hunnius fast mit Lucinden über die Parodie seiner frühern Worte liebäugelnd fort. „Die einen sehen „Die Stimmen sind getheilt, fuhr Hunnius fast mit Lucinden über die Parodie seiner frühern Worte liebäugelnd fort. Die einen sehen

521,10 seiner Manschetten sei r Manschetten

524,1 soll oll

577,30 Wirthin wegen, Wirthin wegen berichtigt nach E3

588,14 Libori-Kapelle Ludgeri-Kapelle berichtigt nach Fußnote S. 950

589,10 dessen Thüren deren Thüren

597,2 wer den hat, der wer den hat der

598,17 und er ging, im Hochgefühl, und er ging; im Hochgefühl,

608,24-25 angstvoll seliges: Mutter! angstvoll seliges Mutter!

612,34 die ihre die re

653,28 dagegen dag gen

693,10 seine Stirn sein Stirn

737,3 St.-Libori St.-Ludgeri berichtigt nach Fußnote S. 950

737,12 St.-Libori St.-Ludgeri berichtigt nach Fußnote S. 950

808,30 St! St! Sie St! St! sie

812,23 strasburgisch-deutsche Muttersprache strasburgisch-deutsch Muttersprache

833,20 ihn störte nicht ihm störte nicht berichtigt nach E3

899,23 italienischen italieschen

910,6 Haushalt Hahusalt

915,30 Nervenkrankheit, fing zu Nervenkrankheit fing zu berichtigt nach E3

923,30 Armgart’s Armgar’ts

927,34-928,1 förmlich herausforderndes förmlichh erausforderndes

937,7 „Einundzwanzig“ „Einundzwanzig“,

959,18-19 oder nur Neugierigen gerade entgegengesetzte Gegend des Dieser Text wurde im Original versehentlich auf S. 93 als letzte Zeile anstatt auf S. 92 als letzte Zeile gesetzt.

1026,11-12 An einer „Heiligen Botanik“ schrieb er, An einer „Heiligen Botanik“, schrieb er,

1029,22 Mann!“, eine Mann!“ eine

1100,17-18 jede ihrer Mienen jede ihre Mienen

1108,21 machte sich zu schaffen machte sich schaffen berichtigt nach E3

1135,18 daß ich dich daß ist dich

1151,34 étroitement etroitement

1177,15 seit jener Stunde seit jeder Stunde

1194,23 Introibo Introito berichtigt nach einer gedruckten Anmerkung auf der Rückseite des Titelblatts von Band 5. Dieser Texteingriff ist in der Buchausgabe (GWB I, Bd. 11/2, S. 1194) irrtümlich nicht erfolgt.

1204,11 wunderliche wunder-derliche

1205,4 Enckefuß Enkefuß

1271,22 schloß schlioß

1302,17 ihre sogenannte seine sogenannte

1358,9 darunter, die nicht etwa darunter, die, nicht etwa

1386,21 Bonaventura Bonaventnra

1429,13-14 auf einer ansehnlichen auf einer ansehnliche

1448,1 ihresgleichen suchten ihresgleichen suchte

1481,33 die letzte dei letzte

1492,23 kam am

1511,19 Nun Nnn

1574,26 Bahn Bahu

1604,19-20 „Bei Tangermanns“ durch „Bei Tangermanns“, durch

1616,33 nein uein

1646,17 körperleidend“, fuhr körperleidend“; fuhr

1654,23 weil ihm weil ihn

1654,34 eine dumpfe ein dumpfe

1681,28 Function nicht so wohlgethan Function so wohlgethan berichtigt nach E3

1688,9 hinüber, den sie hinüber den sie

1699,6 Chroniken Chronkien

1700,14 in diesen in deisen

1713,5 Dorstes Dorstets

1729,22 dort ort

1739,5 „Freundin“... „Freundin“

1745,15 so wie das sowie das

1749,30 geglaubet geglaubest

1750,10 Empfindung Emfipndung

1773,26 Kärnthnerthor Kärthnerthor

1788,4 vergegenwärtigenden vergegenwärtigen den

1806,30 hämischer hämicher

1816,24 Ceccone – ... Ceccone – „ ...

1831,24 davongetragen daaongetragen

1844,5 abschmeicheln abschmicheln

1869,31 Kärnthnerthortheater Kärthnerthortheater

1890,11 Kärnthnerthor Kärthnerthor

1892,13 klatschten klaschten

1915,16 blätternd, fort ... blätternd fort, ...

1930,26-27 die Züge des Kronsyndikus die Todte des Kronsyndikus berichtigt nach E3

1951,31 zusammen – stoße zusammen-stoße

1958,20 Wie stehen Wiestehen

1963,5 Bedürfniß Vedürfniß

2033,7 Domkapitular Domapitular

2040,20 Bonaventura Benno

2071,13 Apenninen Apeninnen

2083,5 Frâ Frà

2090,24 Michel Miche

2105,16 öffentlichen öffentichen

2124,8 hier, hier;

2139,9 Seligkeit? ...“ Das Seligkeit? ... „Das

2164,2 gesetzt zu sehen gesetzt sehen

2195,1 Himmels Himmals

2284,19 einen lächerlichen eine lächerlichen

2286,29 gesagt ... gesagt ...“

2293,16 Shawl Shwal

2297,24 kommen ommen

2342,7 die Gesetze di Gesetze

2346,5 retrograde retrogade

2416,12 Hülse Hülfe

2458,5 Berggewässer Verggewässer

2458,10 keine ihrer keiner ihrer

2478,5 Stille ... Stille, ...

2478,22 jenem enem

2479,13 somit sowit

2520,24 Interesse Interresse

2526,8 Ihr Reformiren Ihr Reformen berichtigt nach E3

2544,13 nicht nich

2573,31 „Du altes Du altes

2584,15 fuhr fuhrt

2600,4 Ausführung Ausführnng

2620,5 Blätter Vlätter

2620,8-9 Auge. Es fanden sich Auge fanden sich In E1 findet sich nach Auge eine Leerstelle bis zum Zeilenende, die nach E3 ergänzt wurde

2639,3 Denkart gibt Denkart geben

2652,1 „Hexenmeister“, „Hexenmeister,

2656,28 Shawls Shwals

2659,13 Shawls Shwals

2659,22 Shawl Shwal

2717,9 daß ich aß ich

2719,30 Alpen zu Alpenzu

2738,19-20 beschwichtigen beschwichtigten

2743,27 zugleich als ein Symbol zugleich ein Symbol Berichtigt nach E3. Dieser Eingriff fehlt in der Buchausgabe.

Neben den hier dokumentierten Texteingriffen ist eine separate Liste nötig geworden. In E1 hat Gutzkow den Erzählfluss mit unzähligen Punktzeichen, fast ausnahmslos drei zusammenhängende Pünktchen, unterbrochen. Gemessen an der Vielzahl dieser drei Punkte bilden die Abweichungen davon mit zwei oder vier Punkten eine vergleichsweise seltene Anomalie. Wir haben es dabei vornehmlich mit zwei Problemfällen zu tun: Bei zwei nebeneinander stehenden Punkten ist oft eines der ursprünglich auf drei Punkte angelegten Zeichen nicht ausgedruckt oder nicht gesetzt worden, was man an den entsprechenden Abständen zu den vorherigen oder nachfolgenden Zeichen leicht erkennt. Bei allen anderen Fällen handelt es sich offensichtlich um Nachlässigkeiten des Setzers. Dass Gutzkow immer drei Punkte im Sinn hatte, macht eine Stelle in einem Brief an Brockhaus vom 25. Juli 1862 deutlich, in dem er begründet, warum er bei der Überarbeitung des Romans für die zweite Auflage die Vielzahl von drei Punkten tilgen will; Gutzkow zeigt dabei in runden Klammern ausdrücklich drei Punkte an: Den Zauberer möcht’ ich im Stil u. mit Weglassung der vielen Punkte (...) dem großen Publikum zugänglicher machen. (Vgl. Gerhard K. Friesen: „Der Verleger ist des Schriftstellers Beichtvater.“ Karl Gutzkows Briefwechsel mit dem Verlag F. A. Brockhaus 1831-78. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens. Frankfurt/M. Bd. 28, 1987, S. 152) Aus diesem Grunde haben wir uns entschlossen, konsequent drei Punkte zu setzen und die wenigen Stellen mit zwei oder vier Punkten zu korrigieren. Diese Texteingriffe werden im nachfolgenden dokumentiert:

508,12-13 alles ... Die Träger alles .. Die Träger

519,11 Schiene! ... Schiene! ..

543,14 Momente ... Momente . .

586,11 Köchern. ... Köchern....

601,33 getroffen hatte ... getroffen hatte ....

706,11 Attenzione cocchieri! ... Attenzione cocchieri!..

712,34 Mittagessen! ... Mittagessen!..

713,28 verläßt? ... verläßt?..

716,1 erheben? ... erheben?..

768,23 abstechen! ... abstechen! ..

774,2 allein! ... allein! ..

781,27 geben ... geben ..

834,27 Ringen! ... Ringen!..

835,6 Diner?! ... Diner?!..

846,14 gefärbt waren! ... gefärbt waren! ..

867,25 Amusement! ... Amusement!..

868,15 Insel! ... Insel!..

969,17 erscheint! ... erscheint!..

1012,28 selbst! ... selbst! ..

1015,27 Gott! ... war Gott!.. war

1015,31 O du mein Gott! ... O du mein Gott!..

1016,8 gesprochen! ... gesprochen!..

1017,6 Treudchen! ... Treudchen!..

1081,31 höher ... höher ..

1113,21 es ihm ... es ihm..

1168,6 wir schon! ... wir schon!..

1173,28 gewoben! ... gewoben!..

1173,29 wachsen! ... wachsen!..

1173,31 Herzens! ... Herzens!..

1173,31 Bim – bam! ... Bim – bam!..

1530,8 schwieg ... schwieg ..

1536,6 Sie da ? ... Sie da ?..

1665,13 Rolle ... Rolle..

1714,2 Einflüssen ... Einflüssen ..

1741,19 geschlossen hatte ... geschlossen hatte ....

1778,33 erbeben ... erbeben ..

1780,16 Bitte ... oder Bitte.... oder

1791,10 wurde ... wurde ..

1795,6 Beichtende ... Beichtende....

1803,28 mismuthig ... mismuthig . .

1856,34 zurück ... zurück ..

1858,20 Offizieren ... Offizieren ..

1869,20 Cardinäle! ... Cardinäle! ..

1923,13-14 verbunden ... verbunden ....

1924,7 beneidenswerth ... beneidenswerth ..

1924,24 durfte ... durfte ..

1925,12 erhob sich ... erhob sich ..

1929,4 gewähren ... gewähren ....

1932,31 käme! ... käme!..

1935,34 Grafen? ... Grafen? ..

1945,4 Ce – sa – re -? ... Ce – sa – re -? ..

1954,21 hatte ... hatte ..

1960,21 Armee ... Armee ..

1998,27 Kirche ... Kirche ....

2005,30 schweigen ... schweigen ..

2013,28 Zimmer ... Zimmer ..

2018,22 liebt! ... liebt! ..

2022,17 trage ... trage ..

2028,25 könnte ... könnte ..

2031,18 gegenüber ... gegenüber . .

2043,34 würde ... würde..

2049,13 aus ... aus ..

2057,25 „Maria zum Schnee“ ... „Maria zum Schnee“....

2111,15 Schatten ... Schatten ..

2113,30-31 Augen ... Augen ....

2123,24-25 geglitten ... geglitten ..

2129,30 fehlte ... fehlte ..

2153,18 Hubertus ... Hubertus ..

2158,32 Cabinetten ... Cabinetten ..

2269,5 ertragen! ... ertragen! ..

2302,31 Muth ... Muth ..

2334,7 geröthet ... geröthet ..

2416,24 erkaltet bist! ... erkaltet bist! ..

2489,20 Freund! ... Freund! ..

2498,21 Aerzte ... Aerzte ....

2590,20 gekommen ist ... gekommen ist ....

2607,10-11 flüsterte Hubertus ... flüsterte Hubertus ..

2745,25 Jubelruf des Volks ... Jubelruf des Volks ..

Abweichungen zwischen Exemplaren des Erstdrucks#

Die Kollation mehrerer Exemplare von E1 lässt den Schluss zu, dass im Laufe der Produktion Presskorrekturen vorgenommen wurden. So ist ein Druckfehler in der Vorrede, den Gutzkow sogleich nach Auslieferung der ersten Exemplare energisch bei Brockhaus reklamiert hatte, noch während des Herstellungsprozesses berichtigt worden. In dem Exemplar unserer Druckvorlage steht bei 2,26-27 Aufahme, während in einem uns vom Antiquariat Halkyone (Hamburg-Altona) zur Verfügung gestellten Exemplar dieser Fehler mit Aufnahme berichtigt ist. An dieser Stelle folgen wir dem ›Hamburger‹ Exemplar des Romans. In einem Exemplar der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin (Sign.: Pg 9430) sind folgende Abweichungen festgestellt worden (das Berliner Exemplar wird mit EBer bezeichnet):

350,15 dem Lande dem Larde EBer

368,16 Später, als Später, m ls EBer

368,21 herrliche Aussicht herrliche Ausbiht EBer

369,7 wagen könnte wagen en tte EBer

Errata#

Zur Buchausgabe (GWB I, Bd. 11/1-3) sind folgende Textkorrekturen zu vermerken:

3,13 Verhältnis lies: Verhältniß

179,1 [224]] lies: [224] (von 12 pt auf 11 pt reduziert)

249,10 Göthe‘s lies: Göthe’s

313,1 adoptiert lies: adoptirt

322,21 Si! Si! lies: Si! Si!

350,33 „gut gethanen“ lies: „gutgethanen“

351,2-3 Jüterbogker lies: jüterbogker

351,5 Begräbnis lies: Begräbniß

438,5 Begräbnis lies: Begräbniß

880,2 animarurm lies: animarum

1194,23 Introito lies: Introibo

1308,3 nach ganzes Sein ... muss ein neuer Absatz erfolgen

2743,27 zugleich ein Symbol lies: zugleich als ein Symbol Berichtigt nach E3.

5. Rezeption#
5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.1.1. Kritiken#
1. Ernst Kossak, 4. Oktober 1858#

E[rnst] K[ossak]: Berliner Wochenschau. In: Berliner Montags-Post. Berlin. Nr. 40, 4. Oktober 1858. (Rasch 14/34.58.10.04)

Auf unserem Büchermarkte beginnt es lebendig zu werden. Der Anfang zweier Werke lieg[t] vor, die für Berlin eine besondere Anziehungskraft besitzen. Wir nennen zunächst das erste Buch des neuen neunbändigen Romanes von Karl Gutzkow „Der Zauberer von Rom“ (Leipzig, Brockhaus.) Der berühmte Autor nennt diesen Band in der Vorrede nur ein Vorspiel des Romanes, und es wäre mehr als vermessen, schon jetzt irgend welches Urtheil zu wagen, wir bemerken daher nach aufmerksamster Lesung der Hälfte des Bandes, daß Gutzkow’s neuestes Werk mit sichtlichem großem Fleiße und energischem Aufgebot seines reichen Talentes geschrieben ist. Die Detailmalerei ist bewundernswürdig und von ächt humoristischen Streiflichtern belebt, welche wir in diesem Falle bei Gutzkow noch nicht wahrgenommen haben. Der entwickelte eigenthümliche Charakter der Lucinde ist vielversprechend, und wenn dem Dichter sein schweres Unternehmen geglückt ist, uns unter fortwährender Spannung auf die Höhe seines Werkes zu führen, so dürfen wir in dem „Zauberer von Rom“ einen der gewichtigsten Romane der neueren Zeit begrüßen. Schon in dem Schlusse dieses Bandes werden Andeutungen der zu erwartenden ernsten Ereignisse gegeben. Hoffentlich werden die nächsten Bände uns recht bald in den Stand setzen, ausführlicher über das fesselnde poetische Werk zu sprechen.

2. Ankündigung des Verlages F. A. Brockhaus, 10. Oktober 1858#

[Anon.:] Der neue Roman von Gutzkow. In: Bremer Sonntagsblatt. Bremen. Nr. 41, 10. Oktober 1858, S. 328. (Rasch 14/34.58.10.10.2)

Von dem großen Roman „Der Zauberer von Rom“ in neun Bänden, an welchem Gutzkow seit längerer Zeit arbeitet, haben die Blätter in mancher Notiz geredet. Jetzt ist das Werk so weit gediehen, daß es zu erscheinen beginnt. Da ihm ein großes Interesse von Seiten des Publikums entgegenkommen wird, so mag es angemessen sein, die von der Verlagshandlung ausgegebene Ankündigung, die allerdings im Entzücken über den Roman sehr weit geht, vollständig mitzutheilen: „In diesem umfassenden und großartigen Werke beginnt Karl Gutzkow auf’s neue eine Schilderung modernen Lebens, wie er sich mit einer solchen durch ‚Die Ritter vom Geiste‘ ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Vielfach ist der Dichter aufgefordert worden, in einer Fortsetzung dieses an Farben und Gestalten ebenso reichen, wie tief und wahr in seiner Wesenheit erfaßten Zeitbildes die Fragen, die jenes anregte, zu einer ferneren Lösung, die Charaktere, die im Verlauf ihrer Entwickelung die Liebe und das Interesse des Lesers für sich gewonnen hatten, zu einem weitern Abschluß zu bringen. Diese Fortsetzung bietet nun freilich Karl Gutzkow in seinem ‚Zauberer von Rom‘ nicht. Er hat es vorgezogen, einen neuen noch bedeutendern Kreis von Gestalten, eine neue Handlung zu schaffen, in denen andere Fragen und Stimmungen des Jahrhunderts zur Erscheinung kommen, in deren Wechselbeziehungen und Zuständen der Seele wie des Lebens sich das geistige Herz Europas offenbart. Ein Werk jahrelanger Studien, fortwährender Arbeit, entrollt es ein so reiches Bild der Welt, unsers Dichtens und Trachtens, als je eins in dieser Treue, mit Beobachtung aller kulturhistorischen Elemente geschaffen wurde: es ist eine moderne Epopöe, die in plastischer Anschaulichkeit und mit der dem Dichter allgemein zugestandenen Erzählungskunst eines Cervantes die Bestrebungen und das Wesen unserer Kulturepoche für die Nachwelt fixirt. Im Herzen Deutschlands, in Westfalen, auf altheiliger Erde beginnend, steigt die Erzählung von den Höhen des Teutoburger Waldes hinab an den Strand des Rheins, verweilt dort an Domen, Burgen und Städten, die in unserer Geschichte von fortwirkender Bedeutung waren, erreicht Wien, den Sitz der habsburgischen Macht, und endet nach einer Wanderung durch Nord-Italien im ewigen Rom, vor dessen mehr als zweitausendjährigen Grabsteinen untergegangener Kulturen und Herrlichkeiten das Leben und der Wechsel der Welt, dem wir Dauer zuschreiben, sich als hinschwindendes, nichtiges Atom erweist. So, im kleinsten Kreise, in deutscher Stille und Verborgenheit entsprungen, ist die Dichtung einem Strome gleich, durch hunderte von Bächen gewachsen, die ihr von allen Seiten durch Wirklichkeit und Phantasie zugeführt werden. Wie der Strom im Meer, so verrauschen endlich auch ihre Wellen in dem unermeßlichen Ocean jenes Alllebens und Alldurchdringens, dessen letzter und tiefster Born seit Jahrhunderten Rom ist. Es muß dem Leser selbst überlassen bleiben, die Fülle spannender und ergreifender Erfindungen, fesselnder Scenen und vor allen jener Herzenskündigungen und Seelenoffenbarungen, die in Gutzkow einen ihrer besten und feinsten Maler gefunden, in dem Werke selbst aufzusuchen und sich an ihrem überraschenden Wechsel zu erfreuen. Denn die Theilnahme, die der Stoff schon allein durch seine vielfachen Beziehungen in Jedem erwecken wird, erhält durch die künstlerische Bedeutsamkeit des Romans, die Kühnheit und Kraft seiner Conception, endlich durch seine kunstvolle Darstellung einen neuen Reiz und ihre echte Weihe. Der erste Band bildet gleichsam nur eine Vorgeschichte des eigentlichen Inhalts, den Entwickelungsgang einer weiblichen Hauptgestalt des Werkes. Wie einfach auch die Lebensbezüge derselben bis zu ihrem Eintritt in die vollere Handlung erscheinen mögen, sie haben den Reiz der Wahrheit und Natürlichkeit für sich. Indessen sind die Fäden des umfassendern Gewebes, das sich erst im zweiten Bande auszubreiten beginnt, auch in dem ersten schon mannichfach angelegt und auf jene, gleichsam zufällige und wie spielend harmlose Weise in die erzählten Vorfälle und in Aussicht gestellten Thatsachen verwoben, die bekanntlich eine ihr ganz eigenthümlich angehörende Kunst der Gutzkow’schen Darstellung ist. – Gutzkow’s ‚Zauberer von Rom‘ erscheint in neun Bänden, die in kurzen, ungefähr monatlichen Zwischenräumen ausgegeben werden. Der erste Band ist bereits erschienen und kostet, wie wahrscheinlich auch jeder der folgenden Bände, 1 Thlr. 10 Ngr.“

3. Katholische Literatur-Zeitung (Wien), 18. Oktober 1858#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 1. Band. In: Katholische Literatur-Zeitung. Wien. Nr. 42, 18. Oktober 1858, S. 336. (Rasch 14/34.58.10.18N)

[…] In welcher Art Herr Gutzkow zur Förderung der vaterländischen Einheit „beitragen helfen“ wird, läßt sich aus dem ersten Bande, den er selbst nur als Vorspiel bezeichnet, noch nicht absehen, ohne Zweifel geschieht es aber im Geiste der erwähnten Kriegserklärung seiner Vorrede, und in der Richtung seiner früheren Werke, besonders der „Ritter vom Geiste“, oder „Wally, die Zweiflerin“. Der Roman beginnt zu Langen-Nauenheim in Kurhessen; die Heldin in diesem Vorspiel ist die schöne und begabte Tochter des dortigen Schulmeisters, die durch ihre Schönheit in die vornehme Welt, durch ihre Laune in die Misère des Schauspielerlebens geräth.

Am Schluß des Bandes kommt eine Schilderung einer Priesterweihe vor. Die Worte bei der Weihe sind richtig, der Verfasser hat sie vielleicht einem Ritual entnommen; die Kränze und das weißgekleidete junge Mädchen hat er wohl bei einer Primiz gesehen und verwendet sie nun irriger Weise auch bei der Weihe in der Kathedrale. Dieser Verstoß ist zwar von keinem großen Belang, da aber der Roman in Rom spielen soll, und in den Zeitungen bereits die Notiz vorausgeschickt worden ist, daß Herr Gutzkow bei seinem jüngsten Winteraufenthalt in Rom Stoff zu seinem Roman gesammelt habe, so ist der kleine Verstoß im Vorspiel wahrscheinlich auch nur das Vorspiel zu größeren, mit der nämlichen Sicherheit vorgetragen.

4. Edmund Judeich, 27. Oktober 1858#

[Edmund Judeich; Chiffre:] Karl Gutzkows Zauberer von Rom. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 300, 27. Oktober 1858, Beilage, S. 4851-4852. (Rasch 14/34.58.10.27).

Wenn sich Goethe zu den Worten: „Sie wollen euch glauben machen die schönen Künste seyen entstanden aus dem Hang, den wir haben sollen, uns zu verschönern. Das ist nicht wahr! Denn in dem Sinne, darin es wahr seyn könnte, braucht wohl der Bürger und Handwerker die Worte, kein Philosoph!“ – bei Betrachtung von Erwins Münster veranlaßt fühlte, so lassen sie sich vorzugsweise auch bei Anschauung eines jeden Dichtungswerkes wiederholen das auf größeren Dimensionen beruht, und mit wirklichen Lebensmächten verkehrt. Aus einem rein nur das Daseyn verschönern wollenden Triebe, d. h. dem der äußern Spannung und Unterhaltung, ist wenigstens nicht der erste Band des neuen Romans von Karl Gutzkow: „Der Zauberer von Rom“ (Leipzig), der aus neun Bänden bestehen soll, hervorgegangen.

Die Vögel pickten nach des Zeuxis reifen Trauben. So müssen auch wir die Kritik dieses ersten Bandes aus dem ästhetischen Bereich in den der Anschauung bannen, und einfach referiren: Wir lasen – Leben! „Das [4852] junge Dämmerleben einer weiblichen Seele hüpft spielend auf und nieder,“ wie der Autor von der ersten seiner Erscheinungen, von Lucinde, selbst sagt. Es ist ein Treiben des Schicksals, ein unbewußtes Seyn im Guten und Bösen, unter Dornen und Nesseln, das sich nicht richtet, denn nur das Bewußte ist frei. Die Freiheit soll der Seele dieses Weibes noch kommen, und ihr Erwachen wird auf keinem Bett ahnungsvoller, unschuldiger Knospen läuten, sondern auf halb entblätterten Rosen. Wie verirrt ist all dieses erste Leben! Wie zerstört – am Ende oder Anbeginn? Von Lucindens Vater, einem früher idealistischen Schullehrer, beginnt es: „Die wilden Verzweiflungen, wo der Mensch sich in die Haare fährt; und: Gott, Gott, Gott! Ist’s denn möglich! oder dergleichen dumme Redensarten ausstößt, hat Gottlieb Schwarz hinter sich.“ Gehe in deine Fuhrmannsherberge, alter Knabe, sieh dich aber vor daß du bei der Heimkehr nicht in den Bach fällst! Stecke deine Tochter hinaus in die Welt; wohin – ist gleichviel! Ob das Kind zur Gefangenen einer Hexe wird, die ihr vergangenes Daseyn auch noch der Zukunft zu schenken scheint, ob die trotzige Seele Lucindens verdirbt oder erblüht, ist gleichviel! Es erblüht, in Trotz und leichtem Sinn. Da packen es die Mächte des Lebens. Eine schaudervolle Wildheit, welche die üppige Vergangenheit der westfälischen Ritterburg in die Gegenwart des Mädchens hinüberträgt; der mit dem Tode endigende kleine Wahnsinn des vornehmen Anbeters; das schwankende, aber gewaltsame Eingreifen in des Mädchens Daseyn vom sinnlichen Freunde (Klingsohr), dessen letzte Jugendprotestationen in eine einschränkende, fast vom Leser geahnte Zukunft hinüberzudämmern scheinen – das sind die Mächte die sich um die Frühe des Lebens von Lucinden streiten, so daß wir von einer kleinen Schicksalstragödie, von einem Fatum reden müßten, stünde eben der Heldin nicht noch das Auferstehen ihres bis jetzt nur instinctartig waltenden Willens in Aussicht. Die Woge des Lebens steigt in einer seltsamen Nacht bis zur Orgie; dann strömt sie in den trockenen, geistarmen und goldreichen Sand des Nordens, und dann in die Hütte der Künstlerarmuth. Lucindens arme Künstlerschaft stirbt mit dem neuen kranken Freunde der sie ihr angeheftet. Jetzt kommt der stille Anfang neuer Tage, und diese Tage werden die ferneren Bücher bringen.

Ein gewöhnlicher Romantiker würde aus alle dem allein ein Buch geformt haben. Mit der letzten Seite wäre er fertig gewesen, und nirgends hienge er in seiner wilden Ritterburg den Krystallspiegel auf, in dem die vorüberwandelnden Bilder sich zum Ganzen reihten. Ersichtlich aber drängt sich bei Gutzkow die Ueberzeugung der Ordnung hinein in das Chaos der Gebilde und Gedanken, und Bild an Bild steigt hinauf in das Reich der Verhältnisse, von denen Goethe sagt: „die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptaccorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann.“ ...

5. Eduard Hanslick, 27. Oktober 1858#

[Eduard Hanslick:] Gutzkows „Zauberer von Rom“. In: Die Presse. Wien. Nr. 247, 27. Oktober 1858, [S. 1-2]. (Rasch 14/34.58.10.27.2N)

= Ein neuer Roman von Gutzkow erregt in der literarischen Welt ungefähr jenes Maß und jene Art des Aufsehens, womit der Eintritt einer neuen Oper von Meyerbeer in die musikalische Welt begleitet ist. Beide können darauf zählen, von vornherein willkommene und gefeierte Erscheinungen zu sein, leidenschaftlich verschlungen vom Publicum und – in anderem Sinne freilich – von der Kritik. Die negativen Eigenschaften, welche Gutzkows Schaffen zu dessen künstlerischem Nachtheil charakterisiren, sind zu bekannt und zu oft dargelegt, als daß wir darauf zurückzukommen brauchten. Allein die Heftigkeit, mit welcher in neuester Zeit von Seiten der Kritik systematisch gegen Gutzkow verfahren wird, übersteigt so sehr jedes Maß, daß, wo nicht Persönlichkeit, doch eine auffallende Verkennung des großen Talents und der seltenen Bildung dieses Mannes obwalten muß. Ist es doch notorisch, daß nicht der große Lesepöbel, sondern die Aristokratie der Gebildeten sich auf die Novitäten Gutzkows stürzt, und zwar mit der sicheren Ueberzeugung, darin nicht etwa blos Amüsantes, sondern Bedeutenderes und Geistvolleres zu finden, als die herrschende Kritik geneigt ist, ihnen zuzugestehen.

Es fällt Gutzkow nicht bei, in seinen Romanen Typen ewiger Schönheit, classische Ideale hinstellen zu wollen; seine Zeit will er in ihren geheimsten Gedanken und Gefühlen treffen, und wie der musikalische Meister, an den er uns oben erinnerte, so versteht es Gutzkow seine Zeit zu packen. Die „Ritter vom Geiste“ waren ein merkwürdiges Zeugniß dieses Talents, ihr äußerer Erfolg ein großer und dennoch lange nicht ausreichender Maßstab ihrer Wirkung auf das deutsche Publicum, Deutschland, von der politischen Bewegung des Jahres 1848 noch erzitternd, fühlte sich magnetisch an jedem Nerv berührt durch dies Buch, das auch verschweigend so deutlich zu predigen verstand. Gegenwärtig sind uns die „Ritter vom Geiste“ durch die veränderte politische Atmosphäre, und die zahlreichen immer mehr verblassenden persönlichen Anspielungen, schon etwas entfremdet. Dieses Interesse zum zweitenmale in nicht geringerer Stärke wachzurufen, beabsichtigt Gutzkow mit seinem neuen Roman: „Der Zauberer von Rom“. Das Werk ist gleichfalls auf neun Bände berechnet, von denen bisher nur der erste ausgegeben wurde. Mehr als voreilig wäre es, von diesem kleinsten Theil des Werkes Schlüsse auf das Ganze machen, oder gar Lob und Tadel darüber schon feststellen zu wollen.

Allein dieser „Zauberer“ wirkt schon durch seinen Anfang zu anziehend und spannend, als daß die Kritik stillschweigend daran vorbeigehen könnte.

Es sind keine kleinen Dinge, die der Verfasser mit dem Buche vorhat. Manches, was uns die Vorrede davon verräth, hätten wir lieber weggewünscht; es bedurfte nicht dieser sybillinischen Geheimsprüche und mystischen Begrüßungen, um ein Interesse zu erregen, das ja der Lectüre dieses ersten Bandes unfehlbar auf dem Fuße folgt.

Gutzkow widmet den „Zauberer von Rom“, dessen „feindseligste Aufnahme von einer Seite aus“ er vorhersagt, „seinem Volke und seiner Zeit“. Er will damit, soweit dem Worte eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen, die vaterländische Einheit zu fördern. Seine Dichtung will „die Gefahren aufdecken einer trügerischen Lockung. Sie will den lieblichen Ton der Pfeife des Vogelstellers nachweisen, selbst in dem Busch, wo Tannenzapfen, nicht Orangen reifen. Sie will einem großen sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Drang der christlichen Völker würdigere Ziele zeigen, als sie sich bisher in der fernen Fata Morgana spiegelten. Sie will für jene heraufziehende Entscheidung den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz nähren helfen, will den Verräthern unseres eigenen Heerlagers auf ihren geheimsten und nächtlichsten Pfaden folgen.“ Die Wege, auf denen der Verfasser diesem hochgesteckten Ziele zustrebt, sind in dem ersten Bande noch gänzlich versteckt. Er soll „ein Vorspiel“ sein zu dem eigentlichen, erst mit dem zweiten Bande beginnenden Roman.

Es war vorauszusehen, daß Gutzkow in Form und Inhalt den Anforderungen treu bleiben werde, die er in den Rittern vom Geist an einen „Roman des 19. Jahrhunderts“ stellt. Er weiß sehr wohl, daß dies 19. Jahrhundert nicht mehr an abstracte Ideale der Tugend und des Lasters glaubt; aus der wirklichen, zwischen Gut und Böse so unberechenbar oscillirenden Welt greift er seine Erzählung, deren Träger daher auch vorzugsweise „gemischte Charaktere“ werden. Wir können uns keinem von ihnen (soweit der erste Band reicht) unbedingt oder gar begeistert hingeben: allein fast jeder fesselt uns durch die wirksame Verschmelzung von Naturtreue und Eigenthümlichkeit.

Ein „interessanter“ Charakter par excellence, dessen weiterem Schicksale der Leser mit lebhafter Spannung entgegensieht, ist Lucinde, die Heldin des Romans. Wir lernen sie als die älteste Tochter eines verkümmerten deutschen Schullehrers kennen, und begleiten sie auf ihrem ersten, nothgedrungenen Ausflug in die Welt. Ihr Vater schickt sie nämlich, zur Erleichterung seiner Familienlast, als „Gesellschafterin“ zu einer alten Dame in die Stadt. Diese „Frau Hauptmännin v. Buschbeck“, an raffinirter Bosheit jedenfalls ein „ungemischter“ Charakter, mißhandelt das junge Mädchen so unmenschlich, daß Lucinde durch die Hilfe des Gerichts aus ihrer Gefangenschaft befreit werden muß. Sie wird Dienstmagd bei dem Stadtamtmann, und schon in dieser Stellung beginnt sie auf ihre Umgebung eine unleugbare Autorität auszuüben. Wir sehen vor unseren Augen den [2] Charakter des merkwürdigen Mädchens durch frühe Selbstständigkeit und schwere Schicksale sich immer bestimmter herausbilden. Lucinde imponirt durch Schönheit, Geist und Willenskraft, durch eine ungemeine Geschicklichkeit, sich in die wechselndsten Lagen und Rollen zurechtzufinden. In gleichem Schritt mit ihren Geisteskräften bildet sich aber ihr Egoismus, ihre unweibliche Gefühlskälte, ihr abenteuernder „Flunkergeist“ aus. Sie durchblickt schnell die Schwächen ihrer Umgebung, – allmälig nennt man sie stolz. „Ihr Stolz bestand darin, daß sie sich selbst emporhob, es versuchte, mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reicheren Erfahrung gleichzukommen. Sie wußte so Vieles mehr und besser als viele andere, und da sie doch an formeller Bildung zurückstand, auch zu träge und unstät war, vielerlei noch zu lernen und nachzuholen, so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch, und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das, was ihr fehlte.“ Als sie über ihre niedere Stellung in jeder Hinsicht hinausgewachsen ist, läßt sie sich, aus purer Sucht, die Welt zu sehen, von einem hübschen Commis entführen, der im Begriff ist, mit der Kasse seines Principals nach Amerika durchzugehen. Erst auf der Reise entdeckt sie die Schlechtigkeit ihres Begleiters und weiß ihm zu entkommen. Nach langer Fußwanderung in Fieber und Müdigkeit hinsinkend, wird sie von dem Pastor des nahen Dorfes aufgefunden und vorläufig in den Familienkreis desselben aufgenommen. Hier findet Lucinde ganz neue Aufgaben, zieht ganz neue und immer weiterreichende Kreise ihres magischen Einflusses. Dieser berührt zunächst auf das wohlthätigste einen jungen, geisteskranken Cavalier, Jerome v. Wittekind, welcher der Pflege der Pastorsfamilie anvertraut ist und für Lucinden eine Art abgöttischer Verehrung fühlt. Das Mädchen wird dadurch dem jungen, und bald auch dem alten Freiherrn, seinem Vater, unentbehrlich; sie folgt beiden auf deren Stammschloß Neuhof.

Die innere Unruhe, mit welcher Lucinde immer neuen und bedeutenderen Verhältnisses zustrebt, läßt sie nirgends lange verweilen; auch werden ihre Beziehungen bald zu verwickelt, ja zu bedenklich für irgend eine feste Heirat. Auf Neuhof lernt die Heldin einen jungen Literaten, Dr. Klingsohr, kennen, den ersten Mann, der tieferen Eindruck auf ihr wenig empfindliches Herz macht. Dieser junge Mann besticht sie und manchen Kreis von Verehrern durch seine glänzenden Improvisationen und geistvollen Blitze, durch geniale Aeußerlichkeiten endlich, welche ihn aus der Menge hervorheben. Die Enttäuschung soll jedoch auch hier nicht lange ausbleiben. Klingsohr erweist sich als einen haltlosen Renommisten, der, gewohnt Inspirationen aus der Weinflasche zu holen, sich systematisch dem Trunk ergibt. Lucinde muß anfangs ihre Beziehung zu Klingsohr geheim halten, da sein Vater und der alte Freiherr in erbitterter Feindschaft einander gegenüberstehen. Der „Deichgraf“ (so wird der alte Klingsohr meist genannt), früher durch lange Jahre Pächter auf des Freiherrn Gut, wird von der Regierung als Vertreter der Bauern bei dem Grundablösungs-Geschäft aufgestellt. In dieser Eigenschaft tritt der redliche Mann bei jeder Gelegenheit den Ansprüchen des eigenmächtigen, in allen aristokratischen Vorurtheilen aufgewachsenen Freiherrn entgegen. Man sieht, die Fabel rückt hier in politischen Vordergrund. Eines Abends findet man den Deichgrafen im Walde ermordet unter Umständen, die alle auf den Freiherrn als Thäter hinweisen. Um jeden Verdacht von sich zu lenken, trachtet dieser vor allem, den Sohn des Ermordeten für sich zu gewinnen. Lucinde muß hiezu die Hand bieten. Sie wird die Verlobte Klingsohrs, verläßt ihn jedoch, als sie in ihm den Trunkenbold und Opiumraucher entdeckt. Indem der alte Freiherr sofort seine Hand von ihr abzieht, sieht sich Lucinde abermals auf sich selbst angewiesen und geht harten Prüfungen entgegen. Das Mitleid und die Freundschaft für einen kranken Schauspieler, den gemüthvollen und geistreichen Serlo, veranlaßt sie, sich seiner Familie auf deren Wanderungen anzuschließen, ja sogar selbst die Bühne zu betreten. Der beschämende Ausgang dieses Versuchs und Serlo’s Tod treffen am selben Abend zusammen. Der letzte Schritt Lucindens, von dem wir erfahren, führt sie als Lehrerin in eine orthopädische Anstalt für Mädchen, wo sie bald darauf, unter dem Eindrucke einer ergreifenden kirchlichen Feier, zum Katholicismus übertritt.

Hier verlassen wir die Wunderliche, Vielgeprüfte am Eingange eines neuen Lebens, von dem wir hoffentlich bald nähere Kunde erhalten werden. Konnten wir hier den Gang der vielverzweigten Begebenheiten kaum andeutungsweise mittheilen, so müssen wir uns die Hervorhebung einzelner künstlerischer Details vollends versagen. Nach dem Erscheinen der folgenden Bände wird es uns vielleicht möglich sein, das Fehlende nachzuholen. Nur im allgemeinen müssen wir noch dem ersten Band des „Zauberers von Rom“ das naturtreue, fleißige Detail, die echt realistische Darstellung nachrühmen, die wir seit dem köstlichen ersten Band von „Blasedow und seine Söhne“ kaum in gleicher Anschaulichkeit bei Gutzkow wiedergefunden haben.

6. Julian Schmidt, Oktober 1858#

[Julian Schmidt:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von K. Gutzkow 1. Bd. Leipzig, Brockhaus. In: Die Grenzboten. Leipzig. Bd. 4, Nr. 44, [Oktober] 1858, S. 188-192. (Rasch 14/34.58.10.1)

Lucinde ist die Tochter eines armen Schulmeisters in einem hessischen Dorf, der seine starke Familie nur mit Mühe ernähren kann und der es daher wie eine große Wohlthat begrüßt, als eine Dame aus der Residenz seine älteste Tochter entführt, um sie gewissermaßen zu adoptiren und ihr Glück zu machen. Leider ist diese Dame eine zweite Chouette, die wegen ihrer Mißhandlungen gegen die Dienstboten so verrufen ist, daß sie in der Stadt keine Magd findet und sich daher auf diese Weise eine vom Lande holt. Anderthalb Jahr hindurch mißhandelt sie Lucinde auf jede erdenkliche Weise, hauptsächlich durch Hunger: einmal muß sie sich mit Pflaumenkernen sättigen, wobei die gnädige Frau ihr empfiehlt, Wasser nachzutrinken, damit sie im Leibe aufquellen; einmal wird auch angedeutet, daß sie sie mit Mäusen füttert, obgleich man über diesen Umstand nicht ganz ins Klare kommt, da die Erzählung zuweilen undeutlich ist. Jedenfalls hat die gnädige Frau die seltsame Eigenschaft, die Mäuse auf dem Boden eigenhändig zu fangen und reihenweise an den Schwänzen aufzuhängen. Endlich befreit die Polizei Lucinde von ihrer Peinigerin, und sie tritt bei einer wohlhabenden Familie in Dienst, wo sie fast wie ein Fräulein behandelt wird. Doch lernt sie bald die Schattenseiten des Lebens kennen. So belauscht sie z. B. eine vornehme Dame, die sich sehr stark aufs Stehlen legt und den Kaufmann, der sie angeben will, dadurch beschwichtigt, daß sie ihm ihre Gunst schenkt. Wegen einer starken Neigung zur Koketterie wird Lucinde endlich der Familie lästig, und es findet sich grade ein junger Commis, der ihr schon lange den Hof [189] gemacht und der sie entführt. Bei dieser Gelegenheit nimmt er die Casse seines Principals mit, wird endlich von den Häschern erreicht, arretirt und ins Zuchthaus gesteckt; Lucinde gelingt es zu entspringen, sie klettert in der Angst auf einen Baum, was sich um so seltsamer ausgenommen haben muß, da sie im phantastischen Ballcostüm ist. Endlich sinkt sie im Walde in Ohnmacht.

Beim Erwachen sieht sie einen seltsamen Mann vor sich, der sie in einer fremden Sprache anredet und sie in ihren zerrissenen Kleidern als eine Waldgöttin anzubeten scheint. Dieser Mann ist ein Kammerherr von Wittekind, mit dessen Verstand es nicht recht richtig ist, und den sein Vater, der Kronsyndikus von Wittekind, deshalb einem Landpastor zur Pflege übergeben hat. In diese Familie wird auch Lucinde aufgenommen, und der Herr Pastor findet keinen Anstoß darin, daß sie eine Vagabundin ist, daß sie sich sehr bald als arge Lügnerin herausstellt, daß sie von dem Kammerherrn sehr reiche Geschenke annimmt und sich von ihm die Ehe versprechen läßt. Erst als sie bei der Nachricht vom Tode ihrer Schwester gefühllos bleibt (beiläufig erfährt man am Schluß etwa jedes zweiten Capitels den Tod irgendeines Familiengliedes, bis endlich die letzten Brüder im Correctionshaus endigen), sieht der wackere Geistliche ein, daß ihre Entfernung wünschenswerth sei. Der Kronsyndikus kommt, seinen Sohn abzuholen und ihn mit einem reichen Fräulein zu verheirathen, aber Lucinde findet Gnade vor den Augen des alten Epikureers, und er schlägt ihr vor, mitzugehn, zunächst solle sie in einem Pavillon des Schlosses untergebracht werden, dann werde man schon „auf die eine oder andere Weise“ für sie sorgen.

In den Umgebungen des Schlosses erregt sie nun als „Elfenkind“ ein großes romantisches Interesse; Vater und Sohn verharren in ihrer Neigung, dazu lernt sie auf einem Spaziergang einen Doctor Klingsohr kennen, den Universitätsfreund des Kammerherrn, der aber jetzt mit der Wittekindschen Familie zerfallen ist, weil sein Vater, ein ansehnlicher Patriot, das Landvolk gegen den Gutsherrn aufwiegelt. Der junge Klingsohr imponirt Lucinden, theils durch seine Bildung, theils durch die Glut seiner Anbetung. Er nennt sie eine Heilige, eine Nymphe, eine Göttin und benimmt sich ganz wie sein Nebenbuhler, der geisteskranke Kammerherr, nur daß er fortwährend Citate aus Homer anbringt. Sie gibt ihm für einen Abend im Schloß ein Rendezvous. An demselben Abend sprengt der Kronsyndikus höchst aufgeregt nach Hause, schließt sich sodann in sein Zimmer ein, verbrennt die Kleider, die er anhatte, befiehlt schleunigst eine Kalesche anzuspannen u. s. w. Endlich sieht er den jungen Klingsohr ankommen, der sich aus Bequemlichkeit zu seinem Rendezvous im offnen Wagen begibt, obgleich es zum Schloß einen steilen Berg hinaufgeht. Im Anfang erschrickt der Schloßherr darüber aufs furchtbarste, [190] doch fällt ihm ein, daß der junge Mann wol zu einem Rendezvous komme, er lobt Lucinde sehr, empfiehlt ihr, ihn festlich zu bewirthen, übergibt ihr die Schlüssel zu Keller und Küche, weist die Domestiken an, ihr in allen Dingen zu gehorchen, und reist darauf mit seinem Sohn auf einem andern Wege ab. Vorher hat er ihr eröffnet, daß Klingsohr eigentlich sein Sohn ist und sie bevollmächtigt, ihm dies Geheimniß mitzutheilen.

Klingsohr wird zu seiner Verwunderung feierlich empfangen, Lucinde läßt auftragen, was nur in Küche und Keller vorräthig ist, namentlich viel Champagner, der zuletzt aus Biergläsern getrunken wird. Er declamirt Verse aus Heine, sie entdeckt ihm das Mysterium seiner Geburt, die Lakaien warten dazu auf. Endlich liegen beide schon unterm Tisch, da tritt bestürzt ein Diener ein, der dem Doctor mittheilt, man habe seinen Vater ermordet im Walde gefunden. Er sucht Lucinde aufzurütteln, aber sie ist so betrunken, daß es ihm nicht gelingt; zuletzt läßt er sie auf dem beschmuzten Boden liegen und eilt fort. Als sie erwacht, erfährt sie gleichfalls die schreckliche Begebenheit und ist bald mit aller Welt davon überzeugt, daß der Kronsyndikus der Mörder sei; auch uns läßt der Dichter darüber kaum in Zweifel.

Den andern Tag kommt der Kronsyndikus zurück, und hat mit dem Doctor eine Conferenz, wobei stark Burgunder getrunken wird. Diese endigt damit, daß beide Arm in Arm sich zum Untersuchungsrichter begeben und ihm die Sache so darstellen, daß sich gegen den Kronsyndikus kein Verdacht erhebt. Der Hauptgrund des Verdachts liegt in einem Fetzen Tuch, den man bei dem Ermordeten gefunden und den der Doctor heimlich auf die Seite zu schaffen weiß. Anstatt ihn aber zu verbrennen, verwahrt er ihn sorgfältig in einer Brieftasche. Der Kronsyndikus erkennt nun die Verlobung der jungen Leute (der verrückte Kammerherr ist in Gewahrsam gebracht) feierlich an, und schickt beide, reichlich ausgestattet nach Hamburg, wo Lucinde ihre Bildung vervollkommnen soll, und wo der Doctor Vorlesungen über Aesthetik und Geschichte hält. Lucinde bewegt sich viel in feiner Gesellschaft und wird immer kühler gegen ihren Bräutigam, dessen Citate aus Heine ihr nicht mehr imponiren. Infolge dessen führt er mit seinen alten Universitätsfreunden ein ziemlich dissolutes Leben. Hier trifft ihn eines Tages der Kammerherr, der seinem Gewahrsam entsprungen ist, und prügelt den Entführer seiner Geliebten öffentlich durch. Klingsohr fordert ihn auf Pistolen, obgleich er weiß, daß er sein Bruder ist, und schießt ihn ohne Weiteres todt. – – –

Er erhält dafür ein Jahr Festungshaft, die er sonderbarerweise – in Kiel abzubüßen hat. Der Kronsyndikus, nun ganz weich geworden, (man erfährt bei der Gelegenheit, daß er noch eine Frau in Italien hat und überhaupt in ebenso bunte genealogische Verwicklungen verstrickt ist, wie die Ritter von Geist) – ermahnt Lucinde, den Doctor, der trotz des Brudermordes doch [191] ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst wolle er seine Hand von ihr abziehn.

In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler, der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt sich mit der Schauspielerfamilie auf die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco, in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu besuchen, („alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des Lebens würdig,“) geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, „man sucht im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß.“ Sie tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen, wer der Zauberer von Rom sein wird. „Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen lichtgeborene gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers dämonisch aufzurauschen scheint.“ So schließt der Dichter den ersten Band.

Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues, sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prädestiniren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr bei der Mäusefängerin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. „Nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie finden können und ... stelle doch, du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ...“ – Der erste Band enthält nur den „ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten Charakters,“ „das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!“ „Denn in solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten nicht, die es im Licht der Wahrheit wirft.“ – Ebenso sagt er bereits in [192] Werner, seinem ersten Drama nach dem Vorbild Kotzebues: „Wir alle sind des Staubes schwache Söhne und niemand ist, der sich rühmen könnte, die Gedanken Gottes zu errathen.“

Aber der Dichter hat noch einen höhern Zweck.

Der erste Band ist nur das Vorspiel: „die nachfolgende Dichtung will, so weit dem Wort eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen, die vaterländische Einheit zu fördern ... sie will einem großen sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdige Ziele zeigen, sie will für jede heraufziehende Entscheidung den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz nähren helfen“ ...

Der Verfasser widmet das Buch seinem Volke und seiner Zeit.“

Also Einheit des Vaterlandes! höheres Christenthum! germanischer Kampfesmuth! – –

Als Heine im Wintermärchen die hamburger Zustände bespricht, erzählt er, wie ihn die Göttin Hammonia vor eine runde Oeffnung führt, in welche er den Kopf stecken soll:

Was ich gesehn, verrathe ich nicht,

Ich habe zu schweigen versprochen,

Erlaubt ist mir zu sagen kaum,

O Gott! was ich gerochen – – –

Ich denke mit Widerwillen noch

An jene schnöden, verfluchten

Vorspielgerüche, das schien ein Gemisch

Von altem Kohl und Juchten u. s. w.

7. Europa (Leipzig), 6. November 1858#

E-l.: Neue deutsche Romane. I. In: Europa. Leipzig. Nr. 45, 6. November 1858, Sp. 1447-1450. (Rasch 14/34.58.11.06)

Das litterarische Ereigniß dieser Woche war die Ausgabe des ersten Bandes von dem wieder auf neun Bücher berechneten neuen Gutzkow’schen Romane: „Der Zauberer von Rom“ (Leipzig bei Brockhaus). Abermals auf dem Boden der germanischen Welt spielend, verheißt das neue umfassende Weltbild, das der Erzähler von unserer Gegenwart entfalten will, mehr die religiösen Conflicte der Zeit ins Auge zu fassen, während die „Ritter vom Geist“ mehr die politischen Zustände einer hinter uns liegenden Bewegung erörterten. Der erste Band schließt mit dem Uebertritt der Heldin zum römischen Dienst; somit drängt Alles von Anfang an aus dem deutschen Norden nach dem Süden. Der Roman beginnt im Jahre 1832 und wird, voraussichtlich, einen sehr häufigen Wechsel in der Localität herbeiführen, insofern bereits im vorliegenden 1. Bande ein solcher mehrfach stattfindet. [...] [1448] – Ueber die Tendenz des Romans erlaubt dieser erste Band noch kein Urtheil zu fällen und die Andeutungen der Vorrede sind wenig geeignet, uns darüber aufzuklären. Nebenbei weckt sie in uns die Furcht, daß die weitbauschige Fülle ihrer Verheißungen in demselben Mißverhältniß zu dem schließlich wirklich Dargebrachten stehen werde, wie dies bei derjenigen der Fall war, mit welcher der Dichter in den „Rittern vom Geiste“ debütirt hat; doch wollen wir recht gern unser Urtheil darüber bis auf Weiteres suspendiren, und werden es gewiß mit Freuden offenbaren, wenn unsere Furcht sich später als ungegründet herausstellen sollte. – Die Handlung scheint sehr planmäßig angelegt und ebenso weitverzweigt als spannend zu werden; nur wird sie es, wie schon der erste Band darthut, gleichfalls nicht an jenen grausigen Ereignissen und geheimen Verbrechen fehlen lassen, die in den „Rittern vom Geiste“ fast zu oft die Luft trübten und das Athmen beschwerten. In des geistvollen Verfassers Weltauffassung mischt sich stets bei aller Feinheit und Schärfe ein Ton der Erbitterung und Hypochondrie, der ihn bei allem Wahrheitsdrang zum scheelsüchtigen Pessimismus drängt. Wir hoffen, es in der Folge mit keinem blos criminalistischen Roman zu thun zu haben. Daß die Hauptperson der Erzählung noch mehr in den Vordergrund trete, steht zu erwarten; vielleicht wird dann auch [1449] die ganze Zeichnung bestimmter und gediegener. In Doctor Heinrich Klingsohr erscheint wieder einer jener „modernen Titanen“, jener „Zerrissenen“ und „gemischten“ oder „gebrochenen“ Charaktere, für die Gutzkow noch aus seiner jungdeutschen Zeit her eine unüberwindliche Vorliebe hat; aber bis jetzt macht dieser Phantast, an dem wir wohl die auch vom Verfasser erwähnte „Ueberschwenglichkeit“, doch noch nicht die „Bedeutsamkeit“ und den „Beruf zum Edlen“ wahrnehmen, auf uns durchaus nicht den beabsichtigten Eindruck. Viel mehr angezogen fühlen wir uns von der Lucinde Schwarz, mit deren Charakterentwickelung von frühester Kindheit an bis ins zwanzigste Jahr sich eben dieser erste Band, der nach des Dichters Ausspruch nur ein „Vorspiel“ sein soll, vorwiegend beschäftigt. Diese weibliche Gestalt ist von Anfang an die Heldin des Ganzen, wenigstens die Trägerin des Stoffes, an deren Schicksalen sich der intriguenvolle Faden des großen Weltbildes unserer Zeit abspinnen soll. In ihrer Zeichnung hat sich der Dichter eine höchst eigenthümliche psychologische Aufgabe gestellt; – und wir trauen seiner Seelenkunde zu, daß er sie löst. Lucindens Heldenthum ist nämlich, wie es der Roman gestattet, passiver Art; sie handelt nicht, sie läßt mit sich handeln, ja es wird stets mit ihr und über sie verhandelt. Sie hat den eigenthümlichsten Reiz der Anziehungskraft für ihre Umgebung und ist selbst eine Natur, die nichts fesselt, die für nichts empfindet. Sie geht aus einer Verbrecherhand in die andere, und von früh auf an den grellsten, schreckhaftesten Einblick in die Verworfenheit der Menschen gewöhnt, läßt sie, hülfsbedürftig und elend, alle Unthaten und geheimen Gebrechen, deren Zeuge sie wird, an ihrer jungen Mädchenseele objectiv und mit marmorner Ruhe vorübergleiten, indem sie ihr besseres Selbst verschließt, und dieses bessere Selbst in ihr gar nicht zur vollen Blüthe kommen zu können scheint. Sie hat etwas Unberührtes, behauptet mitten in der Welt der Verworrenheiten und Ausartungen eine geistige Jungfräulichkeit, die sich nirgends hingiebt und doch alle Schattirungen des Bösen an sich vorübergleiten läßt, ohne gleichsam Uebung im Guten und Edlen zu erlangen. Somit ist sie fähig, das Aeußerste in Glanz und Elend zu erleben, und doch ihren eigentlichen Inhalt nicht zu erschöpfen. Sie hat das Magnetische einer Mignon und ist doch ohne romantische Phantasie, erlebt Alles um sich her, ohne ergriffen zu werden, höchst ruhig und verständig kühl und gelassen. Je mehr der nüchterne Verstand sich bis zum Dämonischen in ihr schärft, desto unentwickelter bleibt ihr Gefühlsleben. Nur Eines erschien uns an der sonst feinen und sinnvollen Zeichnung bedenklich; der Verfasser setzt seine Heldin einige Male in allzu gewagte Situationen. Schon daß er ihr, einem erst 16jährigen, wenngleich frühreifen Mädchen die ihrem Alter wenig zustehende Rolle ertheilt, einem jungen Mann das Geheimniß seiner illegitimen Geburt enthüllen zu müssen, erregt in uns Mißtrauen. Für Viele abstoßend wirkt vielleicht die Scene des wilden Champagnergelages mit Klingsohr, welche mit der Trunkenheit Beider, mit ihrer freilich nur angedeuteten Verführung und mit der Schilderung der schweren Träume endigt, die den Schlaf der Berauschten beunruhigen. Dadurch kommen in das Bild der sonst so interessanten und [1450] sogar anmuthigen Abenteurerin Flecke, die wieder weggewaschen werden müssen. In künstlerischer Hinsicht ist die Darstellung der Scene höchst bedeutend. – Der Styl des Romans ist reich an witzigen und schlagenden Pointen, stellenweise sehr gefeilt, durchgängig charakteristisch.

8. Ost-Deutsche Post (Wien), 10. November 1858#

[Anon.; Chiffre:] Feuilleton. Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. (Leipzig, Brockhaus. Erster Band.) In: Ost-Deutsche Post. Wien. Nr. 258, 10. November 1858, [S. 1]. (Rasch 14/34.58.11.10N)

Wo die Harmonie der Kräfte fehlt, um das milde Licht der Schönheit leuchten zu lassen, da wird der Künstler zum Feuerwerker, er schafft ein vergänglich glänzendes Werk, welches rauscht und verpufft, ohne zu zünden, leuchtet, ohne zu erwärmen. So erscheint uns der erste Band von Gutzkows neuem Roman: „Der Zauberer von Rom.“ Schon die Vorrede ist ein stylistisches Kuriosum und ein literarischer Anachronismus. Der sonst so scharfsinnige Autor verkennt offenbar seine Zeit und sein Publikum, sonst könnte er unmöglich glauben, daß man heut zu Tage noch immer mit solchem Schwulst und Bombast fesseln oder verblenden könne.

Diese Vorrede verkündet, der Dichter wolle im ersten Buche den ersten schweren Irrlichtstraum einer aus Gutem und Bösem gemischten Seele geben, denn „nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserem Erfahrungsbuche nie finden können … stelle doch, du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! (!!) Sprüche urtiefer Weisheit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren …“ In unserem Erfahrungstagebuche kommen wohl Menschen vor, die mehr schwarz als weiß, und andere, die mehr weiß als schwarz sind, aber keiner, der weder weiß noch schwarz ist wie die Heldin dieses Romans, welche der Autor selbst von einem seiner Helden sehr richtig und vernünftig als „ein Weib ohne menschliches Blut, ein Halbgeschöpf von Feuer und von Wasser, eine Fischnatur“ bezeichnen läßt.

Der Schluß der Vorrede aber ist wörtlich folgender: „Sei ihre Irrlichtsnatur auch dafür Bürge, daß jetzt wie früher der Verfasser nichts um der nächsten Deutung willen schrieb, oder mit grober Absichtlichkeit dem freien Schwebegange der Muse (!) Zwang anthun wollte! Wie sonst wird auch hier das Gesetz des Lebens walten und jede freie Lust am Dasein, jede Regung der natürlichen Empfindung den Keim ihrer höheren Deutung in sich selbst oft völlig unbewußt tragen (!), denn in solchem Humor leben wir. All’ unser Denken und Handeln ahnt die Schatten nicht, die es im Lichte der Wahrheit wirft.“

Wir nicht „Engverbundenen“ kennen den Keim dieser höheren Deutung nicht, wir ahnen auch nichts von den Schatten, die unser Denken im Lichte der Wahrheit wirft. Darum sind wir so leichtsinnig, es gerade heraus zu sagen: Wir finden, daß dieser erste Band nicht frei und fröhlich aus innerer Fülle produzirt, sondern gewaltsam und mühevoll kombinirt ist und daß das Buch im Lichte der Wahrheit weder den Autor selbst, noch seine Leser erfreuen kann. Man merkt es auch: die Vorrede ist ja nichts als die Entschuldigung des ersten Bandes, und die Lobhymnen seiner Freunde sind nichts als Variationen jener mystischen Vorrede (s. „Allg. Ztg.“). Allerdings beginnt, wie uns der Verfasser mittheilt, „der Roman selbst sowohl in Form wie Bedeutung nach den Anforderungen an einen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, wie ihn der Verfasser in seinen „Rittern vom Geiste“ zu definiren wagte (!), erst mit dem zweiten Buche. Die kleinen Funken, die in den Vorgängen des ersten Bandes nur spielend auf- und niederhüpfen, sind dort erst zu zünden bestimmt.“

Allein da liegt es eben, wozu müssen denn diese Funken auf- und niederhüpfen, wozu diese Raketen, bevor die Fronte abgebrannt wird? Warum sollen wir uns durch 371 Seiten mit Irrlichtern herumschlagen, warum ein ganzes Buch hinabwürgen, das nach des Verfassers eigener Aussage weder Form noch Bedeutung eines Romans hat? Wir sehen die Nothwendigkeit für uns nicht ein, noch weniger für den Autor. Hält er es für nöthig, sein Publikum zuerst durch „allerhand Brimborium“ zu zerkneten und mürbe zu machen, damit es sich ihm dann desto leichter ergebe? In „solchem Humor“ leben wir nicht. Man gebe uns gleich etwas Tüchtiges, wir hätten nicht gemurrt, wenn er uns statt der neun Bände nur acht versprochen hätte, es ist immer noch genug und fast mehr, als unsere ungeduldige Zeit vertragen kann, vorausgesetzt, daß der Autor nicht auf die gewissen hungrigen Leser rechnen wollte, denen Angst wird, wenn sie nur neun Bände vor sich haben.

Gutzkows Werke werden insofern kulturhistorischen Werth behalten, als sie, wie Byron und Werther den Weltschmerz ihrer Zeit, so die blasirte und darum raffinirte Geistreichheit unserer Zeit abspiegeln. Wir fragen uns erstaunt, sind wir denn in einer Irrenanstalt?

Was soll uns dieser Kronsyndikus, dieser Deichgraf, dieser Klingsohr – halb oder ganz Irrsinnige, vor Allem die Heldin des Buches Luzinde, das widerwärtige Mittelding von Fee und Gaunerin, die geschminkte Gemeinheit, zu tief stehend, um selbst durch ihre negativen Eigenschaften zu ergreifen! Und so sind sie Alle – lauter verdrehte, verzeichnete und vermalte Figuren, nicht eine Person, an der wir warmen Antheil nehmen könnten. Der Grund aber ist einfach der, weil sie der Geist ohne Gemüth komponirt hat. Wenn Gutzkow über Schillers „Jungfrau von Orleans“ die sonderbare Bemerkung macht: „Es ist kein Werk des Genius, dies Drama; es lag dem Schöpfer im Gemüthe, nicht im Verstande,“ so muß man den Satz umkehren, um Gutzkows Werke zu erklären.

Die einfachen Zustände des Dorfes, der kleinen Stadt liegen ganz außer seiner Wirkungssphäre. So der Anfang des Buches, da ist Alles nur mit Witz gemacht, ohne Empfindung, selbst das Landschaftliche ohne allen poetischen Duft. Gutzkow kann nicht wie Auerbach das Geringe mit dem Sonnenscheine der Poesie verklären, er macht das Gemeine noch gemeiner, das Häßliche noch häßlicher, so daß man nirgends wirkliche Menschen sieht, nur Karrikaturen; nirgends einen Hauch des Lebens fühlt, nur den Geruch der Studirlampe. Erst wo die ganze moderne Korruption der Residenz mit ihren von Witz und Tendenz zerfressenen, von den Kämpfen des Egoismus ausgehöhlten Existenzen darzustellen ist – da wo Auerbach ermattet, beginnt das Gebiet, wo Gutzkows Sterne leuchten. An diesem Punkte ist er noch nicht angelangt; deshalb der matte Flügelschlag seines Geistes, deshalb das erzwungene Brausen und Rauschen, das über die Lahmheit täuschen soll.

Denn der Styl dieses Buches flattert wild herum, er klingt, klappert und wüthet, um die innere Leere zu verbergen, er ist gesucht und affektirt bis zum Aeußersten. Wie soll man es anders nennen, wenn es von Luzinden heißt: „Sie wandte den Kopf zu dem Sprecher empor. Er hatte ihr den Hut abgenommen, weil der Rand desselben ihn hinderte, sich fester an sie zu schmiegen. Letzteres that er mehr, als sie dessen erwiederte. Sie fand ihn schwankender, haltloser, als sie von Männern seiner Art geglaubt hatte. Und bei dem geisterhaften Scheine der Wellen auch ihres unglücklichen Vaters gedenkend, schüttelte sie’s fast wie Frost. Sie sagte fast wie mit bewußter Prosa:

Warum denn sterben!“

Oder: „Daß in ihm Leidenschaften zuckten, daß in dem großen wie luftblauen Auge eine Unbestimmtheit schwamm, so groß und weit, wie eben die Luft und das Meer selbst, konnte sie mit ihren jungen Jahren noch nicht unterscheiden, aber das Gefühl einer außerordentlichen Kraft strömte ihr aus diesem an sich harten und unschönen Antlitze, aus diesen unabsehbar weiten, hellen und wie schwimmenden Glaskugelaugen entgegen.“

Oder: „Die Zauber des Fesselnden waren ihm plötzlich für sie abgestreift.…. Und doch gerade in ihm hatte sie Ausdehnung und Raum zu finden gehofft, wie im Universum, das er sonst auf seinen Schultern zu tragen schien!“

Noch mehr, es findet sich da ein Auftritt zwischen Luzinde und Klingsohr, der reine Fieberphantasie ist, die Leute sprechen wie Typhuskranke oder wie Irrsinnige, die eben ihren Anfall haben, und dies Alles über kleine Krähwinkler-Verhältnisse und dazu Blitz und Donner und Toben der Elemente! Diese erhabene Szene endet mit einem Schluß-Tableaux, das uns bei Montépin und Konsorten nicht befremden würde, hier aber sehr sonderbar anmuthet. Wenn wir erst zu Ende des Buches erfahren, daß Klingsohr ein Opiumesser und sein ganzes Reden und Thun eine Art Irrsinn sei, so ist dies ein nicht unbedeutender Kompositionsfehler; denn man konnte dies nicht voraus wissen, zumal die andern Leute auch sehr verrückt sprechen, und der Leser wird dem Autor einen solchen Mißbrauch seiner Theilnahme nicht leicht verzeihen. Im Romane will man nicht willkürlichen Räthseln nachspüren, sondern die vernünftige Entwicklung eines Lebensbildes verfolgen.

Diese Halbnarren aber haben zugleich eine höhere Ausgabe: sie sollen beitragen helfen, die vaterländische Einheit zu fördern. Bis jetzt sieht diese Tendenz zwar überall durch, aber mit der erkältenden Maske der hohlen, gemachten Phrase. Dies sind Funken, die nicht zünden; wenn die deutschen Flammen der späteren Bände ebenso künstliche Spiritusflammen sind, so werden sie wohl Niemanden erwärmen und „die vaterländische Einheit“ nicht im Geringsten weiter bringen. Ueberhaupt liegt eine Sache, die so ganz ernst und praktisch ist, außer dem Bereiche derartiger Gefühls- und Phantasie-Anregungen.

Die poetische Literatur hat dabei nur das Eine zu thun, daß sie an der Läuterung und Veredlung des deutschen Charakters arbeite. Wie wir von diesem Standpunkte den deutschen Charakter des vorliegenden Buches beurtheilen müßten, wollen wir aus Rücksicht auf Gutzkows literarische Verdienste nicht weiter aussprechen.

Daran ist wohl nicht zu zweifeln, daß ein Mann von Gutzkows Talent, wenn er dahin kommt es zu entfalten, noch Ideen und Anregungen in Fülle, gewiß auch noch wahrere und interessantere Charaktere bieten wird; auch ist zu erwarten, daß er in den folgenden Bänden die deutsche Tendenz seines Werkes in besserer und vernünftigerer Weise zur Geltung bringen werde. Dann wird uns nichts abhalten ebenso gern anzuerkennen, als wir ungern getadelt haben.

9. Klagenfurter Zeitung, 13. November 1858 #

[Anon.; Chiffre:] Wiener Briefe. [Darin:] Der Zauberer von Rom – Lucinde. In: Klagenfurter Zeitung. Klagenfurt. Nr. 260, 13. November 1858, S. 1037. (14/34.58.11.13N)

Gutzkow’s neuester Roman wird in Wien mit einer seltenen Aufmerksamkeit besprochen, was beweiset, in welch’ hohem Grade man hier schon Deutsch fühlt, denkt, arbeitet, urtheilt. Er ist vom Titel angefangen, einer jener Griffe in’s Leben, wie sie allein der kräftige, gesunde Deutsche Geist zu machen wagt. Der „Zauberer von Rom“ ist eine Bezeichnung, welche nur Gutzkow wagen konnte, ohne an Spieß zu erinnern. Unter seiner Hand fließt aber der ganze Roman schon in dieser Pointe, wie in dem Brennpunkte eines Zauberspiegels zusammen. Alles was Rom besitzt, Alles was magisch, traditionell, verstandesmäßig nicht gerechtfertigt, von der Tiber herüber auf den Deutschen Geist wirkt, was vor der Deutschen Philosophie, vor der Nord-Deutschen Nüchternheit nicht bestehen kann, ist Zauberei; und der verlebendigte Begriff, der Swedenborg’sche Himmelsmensch, welcher wieder aus unzähligen Specialgeschöpfen und geistigen Unterkreaturen besteht, ist dann der „Zauberer von Rom“, der Unsichtbare, der Alte vom Berge, welcher listig und gewandt bis in die Nord-Deutschen Tannen­ und Fichtenwälder hinüberspielt und seine geistige Kraft an Allem übt, was ihm begegnet. Mittelpunkt des Romanes scheint eines jener Wesen zu sein, welchem zu begegnen, Glück und Verhängniß ist, je nachdem man den Verstand hat, es zu begreifen oder nicht. Göthe begnügte sich mit dem Versuche, im zweiten Theile seines „Faust“ einen Homunculus entstehen zu machen. Gutzkow bat sich vom Schöpfer ein Wesen, eine Kreatur, ein weibliches Geschöpf aus, ungefähr wie Mephisto den Faust, oder der Satan den Job, um nach angestellten Experimenten das ewige Ich dem Himmel zurückzustellen. Lucinde kömmt früh genug in des Dichters Hände, um das Mädchen ganz nach Belieben zu bilden. Es ist darauf angelegt, sie gründlich zu ruiniren. Mit der Vorbereitung dazu schließt der erste Band, in welchem Lucinde einige Liebschaften hatte und mehrere Menschen starben. Es ist wie ein großer, langer, schmaler Streifen Papier, auf welchem Geburten, Todesfälle und andere Ereignisse verzeichnet sind. Uebrigens kann man an Lucinde nicht denken, von Lucinde nicht lesen, ohne an Schlegel’s Lucinde erinnert zu werden. Damit kommen wir auf das Kapitel der Sinnlichkeit in der Deutschen Literatur, welcher Gutzkow einen weiten Raum, wie es scheint, zu gestatten denkt. Wenn man von Boccaccio bis Crebillon diese Literatur durchgeht, muß man gestehen, daß wir große Fortschritte gemacht haben. An die Stelle der offenen Zweideutigkeit ist jenes Halbdunkel, jenes Zwielicht, jener Dämmerungsschein getreten, welcher die Sache noch anziehender macht. Publikum und Dichter verstehen sich auf halbe Worte. Die Poesie hat hierin ihre Grenzen, über welche hinaus sie nicht geführt werden darf. Praxiteles bedurfte einer Phryne, um Venus Anadyomene zu schaffen. Das Volk von Athen sah die Statue, aber nie das Original. Lucinde ist nach diesen Gesetzen bearbeitet. Wenn Gutzkow von ihr schreibt, wird er kokett. Er hat dabei offenbar eine Deutsche Gouvernante vor Augen gehabt. Bis in das Detail des Anzuges ist sie so beschrieben, daß man sie auf der Promenade suchen möchte. Welches Unheil dieses wie Zuckermehl behandelte Wesen anrichten wird, bis es in den Stand der Raffinade kömmt, läßt sich voraus bestimmen. Uebrigens bringt Gutzkow schon im ersten Bande drei Menschen um, macht für neun Bände siebenundzwanzig Todesfälle. Eine wahre Epidemie! –

10. Deutsche Allgemeine Zeitung, 14. November 1858#

[Anon.:] * Leipzig, 13. Nov. [Korrespondenz.] In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 267, 14. November 1858, S. 2257. (Rasch 14/34.58.11.14)

Wir haben über Karl Gutzkow’s in successiver Veröffentlichung begriffenen Roman „Der Zauberer von Rom“ absichtlich bisher noch keine eingehendere Besprechung gebracht, obwol uns mehrere zukamen, halten uns aber dazu jetzt um so mehr für verpflichtet, als demselben neben zahlreichen höchst anerkennenden Besprechungen auch nicht nur feindselig absprechende Beurtheilungen zu Theil geworden sind, die vorauszusehen waren, sondern selbst gehässige Entstellungen, die das Urtheil des Publikums irre führen sollen, wiewol der ganze Ton und Charakter derselben über die Motive niemanden in Zweifel lassen werden. Indem wir uns also eine eigene Besprechung vorbehalten, theilen wir aus einer uns zugegangenen Correspondenz über den soeben erschienenen zweiten Band folgende Stelle mit:

„Der durchgängige Charakter dieses Bandes ist das Genrebild. Immer überraschend und fesselnd ist die vortreffliche Charakterisirung des Einzelnen; Benno, Hunnius, die jungen Kaufleute, der Dechant treten in vollster Lebenswahrheit auf. Die anziehendste und correcteste Zeichnung des Bandes möchte unstreitig die liebenswürdige Persönlichkeit des Dechanten sein; die Dechanei ist geschildert wie ein Zimmer von Watteau. Rechten ließe sich darüber, ob die in der Tendenz bedeutendste Scene des Bandes, die Pastoralconferenz, genrebildlich gehalten werden durfte. Die Sturmreden Hunnius’ und des Mönchs Klingsohr sind vortrefflich, würdige Seitenstücke zu Dankmar’s berühmter Weiherede in den ‚Rittern vom Geist‘. Voll Poesie und ergreifender Rührung ist Lucinde auf den Stufen des Doms von St.-Zeno! Diese Scene beweist schlagend die Ungerechtigkeit der hier und da erhobenen Anklagen gegen diesen Charakter. In solchen Augenblicken hat jeder dieselben Gefühle, dasselbe Schwanken und Schlagen des Herzens, und auf das tiefste und schmerzlichste erkennt man wieder die ewige Verworrenheit menschlicher Geschicke und an welchen Fäden das hängt, was wir als gut und böse unterscheiden müssen! Wer bei solchen Stellen nicht Mitleid, tragisches Mitleid fühlt, wer in dieser dämonischen weiblichen Erscheinung nicht Vorbildliches eigener Natur findet, kann nicht mehr über Poesie mitsprechen. Fragen über die Erfindung selbst, Fortgang der angesponnenen Fäden lassen sich bisjetzt weder recht aufwerfen, noch beantworten. Das in sich Fertige des ersten Bandes fehlt natürlich; wir sind in ein Gebäude getreten, das wir erst durchwandern müssen, um über die Lage, die Größe, das Ebenmaß seiner einzelnen Gemächer richtig urtheilen zu können. Gutzkow’s Meisterschaft, Personen eigenthümlich in Scene zu setzen, plötzlich zurücktreten zu lassen und dann in neuem Lichte aufzuzeigen, beweist sich auch hier wieder. Vorzüglich ist die Vertheilung von Licht und Schatten. Gegen das Springende in den ‚Rittern vom Geiste‘ hat die Composition Ruhe und Gediegenheit gewonnen. In der Kunst der Composition findet dieser Dichter keinen Meister; in Einzelheiten wird er von andern erreicht, von manchem übertroffen; aber Beziehungen, Verhältnisse, Gegensätze zu ordnen und zu gruppiren, ist keinem so wie ihm gegeben. Nur in einem Punkte hat uns dieser ganze zweite Band eine eigenthümliche Ueberraschung geboten: Ist der Dichter katholisch? Fühlt er nur gegen den Ultramontanismus und räumt er der jenseitigen Kirche so außerordentlich vieles ein? Wird Bonaventura auch die volle Kraft haben, der Träger von Ideen zu werden, deren Tragweite sich jetzt noch nicht absehen läßt? Endlich: warum ist Benno nicht Protestant? So aufregend wirkt auf uns die Lectüre nach allen Seiten hin!“

11. Deutsches Museum (Leipzig), 18. November 1858#

EB.: Aus Dresden. Ende October 1858. In: Deutsches Museum. Leipzig. Nr. 47, 18. November 1858, S. 777-779. (Rasch 14/34.58.11.18.1)

[...] [778] An dergleichen scharfsinnigen und treffenden Bemerkungen ist das Buch reich, das hier überhaupt großes Glück macht und über das Sie mir wol noch einige Worte verstatten. Nicht von weitem kommt es mir dabei in den Sinn, Ihren kritisirenden Mitarbeitern ins Handwerk zu fallen; es sind eben dresdener Eindrücke, die ich hier wiedergebe, und so wollen Sie auch die nachstehenden Bemerkungen über das vielgenannte und (was nicht immer zusammengehört) vielgelesene Buch nicht als eine eigentliche Kritik desselben, sondern lediglich als eine bescheidene Stimme aus dem Publikum aufnehmen. Lucindens „junges Dämmerleben“ ist der Inhalt dieser „Vorgeschichte“ des neuen Werks; langsam, aber sicher bildet der Dämon künftiger Intriguen sich in ihr heran, und die Wucht dieser Erscheinung lastet alpartig auf dem Busen mancher jungen Dresdnerin, die neben Lucinden auch gern einige (wie man zu sagen pflegt) „gute Herzen“ hätte – sind wir Sachsen doch selbst gar ein so gutes Völkchen! Indessen auch ohne diese versüßende Zuthat „guter Herzen“ ist das Buch ungemein reich und fesselnd. Das Hauptorgan der hiesigen Kritik freilich, das „Dresdner Journal“ meint, da der Autor selbst den ersten Band nur als eine „Vorgeschichte“ bezeichne, so lasse sich überhaupt noch nichts über das Werk sagen. Dem gegenüber preist Julius Hammer in unserer „Constitutionellen“ das Buch so überdiemaßen und überschüttet es dergestalt mit Lobsprüchen, daß er darüber sogar die frühern Productionen des Dichters in Schatten stellt. Beiden vermag ich nicht zuzustimmen, am wenigsten freilich dem zurückhaltenden Kritiker des „Dresdner Journal“; das Jugendbild, das uns hier von Lucinden gegeben wird, ist in sich vollkommen abgeschlossen und fertig. Mit markigen Zügen wird uns das älterliche Haus gemalt, das der armen verschlossenen Seele nichts auf den Weg mitgibt als einen Sack voll gedörrter Zwetschen. Lucinde wird Magd; sie muß sich unter die rohe Gewalt einer Frau von Buschbeck beugen, einer Tyrannin, vor der das Herz der Kleinen sich immermehr verschließt und verstockt. Nach kühner Weiterreise erobert sie unbewußterweise die Neigung eines vornehmen Wahnwitzigen, der das junge scheue Mädchen in vornehme und glänzende Kreise einführt und mit dem Triebe nach Bildung und geistiger Entwickelung zugleich ihren Ehrgeiz weckt. So vorbereitet, trifft sie zum ersten male mit einem geistig begabten Manne zusammen, einem Doctor Klingsohr, der, sinnlich und doch blasirt, aus seinem bisherigen burschikosen Treiben nach dunklern Lebenssphären strebt. Diese Bekanntschaft wird entscheidend für Lucinde; begabt mit einer leichtempfänglichen bildsamen Natur, die sich unter anderer Leitung vermuthlich zum Guten und Großen entwickelt hätte, eignet sie sich hier eine verhängnißvolle Vorliebe für das Seltsame und Düstere an. Einstweilen irrt die Rastlose, Schicksalsreiche weiter und weiter. Sie reißt sich los von Schloß Neuhof, wo der verdorbene alte Kronsyndikus sie für seinen tollen Sohn festzuhalten sucht; auch dem einförmigen, vom Dichter prächtig veranschaulichten hamburger Landhausleben, dessen „respectable“ Bande Klingsohr um sein „hehres Gnadenbild“ gelegt hat, entwindet sie sich. Den poetischen Schauspieler Serlo, mit dem die Gequälte von dannen geht, muß sie begraben und mit ihm den Traum eigener Künstlerschaft. Das Einzige, was ihre Seele noch erwärmt und woran der bessere Theil ihres Wesens sich noch klammert, Serlo’s Bild ersteht wieder in der Gestalt des [779] jungen Priesters Asselyn; auf dem frommen Getäfel der Krankensäle eines orthopädischen Instituts beginnt Lucinde ihr erwachendes Eigenleben, während sie ein somnambules Wesen hütet, die junge Comtesse Paula von D[or]ste-Camphausen, welche kindlich von demselben Priester Asselyn träumt. So öffnet sich die Pforte eines neuen Daseins, wir schauen in die kommende Welt, deren Keime in dieser „Vorgeschichte“ ausgestreut liegen und in der auch die bisjetzt noch vermißten „guten Herzen“ um so gewisser nicht ausbleiben werden, je vollständiger die Genesis ist, welche der Dichter uns hier von dem Charakter Lucindens gegeben hat. Nachdem wir dieselbe so gleichsam vor uns entstehen sahen, nachdem wir die Umstände kennen gelernt, deren zwingende Nothwendigkeit diesen Charakter so und nicht anders gemacht, werden wir um so leichter die dämonische Thätigkeit ertragen, zu der Lucinde am Schluß des Bandes gerüstet ist.

Aber auch die zahlreichen Nebenfiguren, die wir in diesem ersten Bande kennen lernen, sind vortrefflich gezeichnet. Dieser Klingsohr, bei all seiner romantischen Nebelhaftigkeit, dennoch wie sicher, wie lebenswahr! Frl. von Gülpen, der vornehme, mit sich zerfallene Kronsyndikus, dessen beide so ganz verschieden geartete Söhne, welch Leben in allen diesen Figuren, welche Fülle scharfer Beobachtung und Menschenkenntniß! Nicht minder verdient die architektonische Anlage des Romans, soweit dieser Punkt sich bisjetzt beurtheilen läßt, die lebhafteste Anerkennung. Organisch schließen sich Theil an Theil, die Theile zum Ganzen; wir werden gefesselt durch eine Kette einzelner fertiger Gemälde, aber auch der klare leuchtende Edelstein fehlt nicht, der die beiden Enden verknüpft: in das düstere Gemälde spielen wohlthätig die ersten Strahlen einer großen idealen Welt hinein, welche die Dichtung aus dunklen Gründen emporsteigen lassen wird in freie heitere Regionen; man ahnt die Luft der Städte am Rhein, man weissagt Rom! Die wilde italische „Zauberin“ wird in altgewohnter Weise die deutschen Regungen erfassen; wohlan, die Hexen für den alten Sabbat sind geboren, der Dichter wird uns auch seine Engel senden!

Das Buch ist hier der allgemeine Gegenstand des Gesprächs; Freunde der Heimat und Fremde stehen theilnehmend an seiner Wiege und nur das furchtsame vereinzelne Augenzwickern heiliger Aesthetiker deutet auf kommende „böse Wetter“, die sich entladen werden, sobald der Muth des Autors den ersten Riegel zu der Pforte zieht, die nach dem tiefern Schachte seiner Dichtung führt.

12. Levin Schücking, 21. November 1858#

[Levin Schücking:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. In: Westfälische Zeitung. Dortmund. Nr. 275, 21. November 1858. (Rasch 14/34.58.11.21)

Die zwei ersten Bände des großen neuen Gutzkow’schen Romans, worin uns schon vorlängst ein Seitenstück zu den „Rittern vom Geist“ verheißen wurde, liegen vor uns, und wenn sie irgendwo ein hervorragendes Interesse in Anspruch nehmen, so ist dies in unserem westlichen Deutschland der Fall, denn sie haben mit ausgesprochener Tendenz sich zur Aufgabe gemacht, westdeutsches, d.h. westfälisch rheinisches Leben zu schildern, namentlich dabei kirchliche Verhältnisse und Aristokratie als Hintergrund der Fiction zu spiegeln. Damit ist denn ein kühner Griff „in’s volle Menschenleben“ gethan, und nachdem der Griff gethan, müssen wir gestehen, daß er von unserem geistreichen Autor meisterhaft ausgebeutet worden ist. –

Gutzkow beginnt sein Werk damit, die Entwicklung eines jungen Mädchens aus niederem Stande, einer protestantischen Dorfschulmeistertochter, zu schildern, welche zu jenen amphibischen, für das Gute und Edle, wie für das Schlechte und Verwerfliche mit gleichen Anlagen vorgeschaffenen, „gemischten Charakteren“ gehört, deren Richtung ganz von ihren Verhältnissen und Schicksalen abhängt. Lucinde Schwarz wird ihrem heimathlichen Dorfe als blutjunges Ding entführt, lernt früh bei ihrer vorgeblichen Beschützerin, einer Frau v. Buschbeck (die, nebenbei gesagt, ganz vortrefflich gezeichnet ist, wie sie Mäuse mit den Händen fängt und nächtlich den Tauben die Hälse umdreht), menschliche Verworfenheit kennen, wird von einem durchgehenden Cassirer zur Theilnahme an seiner Flucht beredet, trennt sich aber von ihm, als die Justiz auf seine Fährte geräth, und kommt nun unter höchst spannenden Umständen ins Innerste unseres guten Westfalenlandes, in die Gegend von „Witoborn“, welches auf Paderborn zu deuten dem Leser sehr nahe gelegt wird. Sie tritt in die Familie des Freiherrn von Wittekind auf Schloß Neuhoff, und hier taucht nun vor uns eine Fülle der merkwürdigsten Charaktere und Thatsachen auf. Es ist namentlich bewundernswürdig, mit welchem Umfang der Conceptionskraft der Dichter hier die vielverschlungensten in alle möglichen Welt- und Lebenskreise übergreifenden Beziehungen dieser Menschen in sein Gewebe zu ziehen weiß, und wie drastisch, wie scharf markirt, wie genial – oft mit wenig Strichen – gezeichnet, alle seine Gestalten vor uns hintreten! Es wird uns hier so recht klar, was unser Autor unter dem von der Kritik viel erörterten „Roman des Nebeneinander“ versteht. Während der Roman sich früher damit begnügte, eine bestimmte Gruppe von Menschen isolirt, lediglich in ihren Beziehungen zu einander darzustellen, losgelöst von der übrigen Welt und einer geschlossenen Gesellschaft gleich, erblickt Gutzkow die Einzelnen durch hundert Fäden mit hundert anderen Menschen, Interessen und Erscheinungen ihrer Zeit verbunden, von diesen bedingt und abhängig oder auf sie wirkend und sie bestimmend. Er kann also keine abgeschnittene Gruppe schildern, sondern er muß, nach seiner Anschauung, wenn er ein wahres Lebensbild geben will, gleich ein ganzes Stück Welt in den Rahmen seiner Darstellung ziehen. So entsteht das breite Nebeneinander seiner Dichtung, über dessen ästhetische Bedeutung zu debattiren hier nicht der Ort ist, dem aber seine Berechtigung nicht abgeleugnet werden kann.

Verfolgen wir weiter den Charakter, welcher in den uns vorliegenden zwei Bänden unseres Romans den Mittelpunkt bildet, um dann im Verfolg, wie uns angedeutet scheint, idealeren Naturen in der Behauptung der Heldenrolle zu weichen. Ihre Schicksale führen sie nach mancherlei Wendungen und Zwischenfällen, deren Nothwendigkeit man nicht recht einsieht, die aber wohl durch die späteren Bände ihre Rechtfertigung erhalten werden, endlich in den Schooß der katholischen Kirche. Sie wird Gesellschafterin einer jungen Dame in einem orthopädischen Institut und kommt dann in gleicher Stellung an den Rhein, in die Diöcese, endlich auch in die Stadt Köln, wo sie inmitten eines kirchlich stürmisch bewegten Lebens gestellt ist – es ist um die Zeit der großen Streitfrage wegen der gemischten Ehen! All das bunte, gestaltenreiche und spannend anziehende Leben nun, welches hier vor unseren Augen auftaucht und vorüberzieht, ist wieder so außerordentlich scharf, mit solcher photographischen Treue, mit solcher psychologischen Meisterschaft, in so geistreicher, pikanter, pointirter Form geschildert, daß wir die Bürgschaft haben, der „Zauberer von Rom“ wird eine Bereicherung unserer Literatur von weitgreifendster Bedeutung werden, und durch seine fesselnde Actualität nicht allein, sondern als culturhistorische Sittenschilderung eines Zeitabschnitts und eines Interessen-Complexes des 19. Jahrhunderts für alle Zeit einen hohen Rang unter den Erzeugnissen unseres schaffenden Geistes behaupten. Aber es wird auch bittere Angriffe erfahren; es wird, was man nennt, „böses Blut“ setzen! Es wird weder den Welfen noch den Ghibellinen, deren uralten Kampf der Autor durch unsere Tage unversöhnt sich fortspinnen sieht, gefallen, denn es schmeichelt weder der einen noch der anderen Partei. Doch – auf die Angriffe erklärt sich Gutzkow in der Vorrede gefaßt! –

13. Europa (Leipzig), 27. November 1858#

[Anon.:] Gutzkows Zauberer von Rom. 2. Bd. In: Europa. Leipzig. Nr. 48, 27. November 1858, Sp. 1561-1562. (Rasch 14/34.58.11.27.1)

– Der zweite Band von Gutzkows umfassendem Weltgemälde unseres Zeitalters setzt uns in Staunen über die ebenso weitgreifende wie eingehende Kenntniß der deutschen katholischen Welt, – eine Kenntniß, die wir dem Autor nicht zugetraut, eine Kenntniß von mittelalterlichen Zuständen, die im abstracten Gedanken, keineswegs aber in der Wirklichkeit, ebenso wenig in der Gemüthswelt Deutschlands überwunden sind. Diese Satyre auf die römische Priesterherrschaft ist weder kalt, noch ungerecht und einseitig; sie verräth auch die Sympathien, die dem Arzt mit dem kranken Object eigen sein müssen, will er es heilen oder auch nur seine Erscheinungen erklären. Die deutsche katholische Welt wird diese Schilderungen lesen müssen und nicht – verbieten können. Gutzkow schildert die geheimen Verschwörungen des Katholicismus am Rhein wider das Preußenthum des dritten Friedrich Wilhelm, wider den abstracten Rationalismus des Polizeistaates, der sich sogar zutraute, den sieben Millionen seiner Angehörigen neue kirchliche Festtage decretiren zu können, während er im Streit des Glaubens gegen die Philosophie in Bonn und in der Sache der gemischten Ehen auf Seiten ächter Bildung und Humanität Partei nahm. Wir erleben die ganze Wirkung dieses Kampfes, der mit der Gefangennehmung des Cölner Erzbischofs ein blos äußerliches Ende nahm. Die Conventikel der Klerikalen mit dem Fanatismus ihrer Beredsamkeit sind in bedeutsamen Scenen geschildert. Zugleich überblicken wir die Parteiung im Lager der Priester Roms, die wohlwollend begütigende Wessenbergsche Richtung, in einem alten vornehm behäglichen Prälaten vertreten, und die fanatisch dürre Tendenz der neuen Eiferer, welche den Jesuitismus zu Hülfe rufen. Die passiv zuschauende Heldin des Romans steht bereits im Focus eines doppelten Brennpunktes; sie fürchtet die Anziehungskraft, die Heinrich Klingsohr über sie übt, der, wie sie Convertit, den ganzen glühenden Eifer des Franciscaners für seine neue Ueberzeugung ins Gefecht bringt, während sie ihr bisher marmorkaltes Herz dem ruhig milden Bonaventura gegenüber zu verlieren Gefahr läuft. – In all diesen bewegten Scenen ist auch die Sprache Gutzkows bedeutsam, scharf und doch schwungvoll; in anderen [1562] Partien des Romans haben wir eine Ausartung des Styls zu rügen, die dem müßigen Geschlepp hundertfach angehäufter Beziehungen von Menschen ihre Entstehung verdankt, die schattenhaft in dem weitbauschigen Stoffe herumschlendern, ohne Gestalt zu gewinnen, und weder mit ihren weitläufigen Verwandtschaftsgraden, noch mit ihren vagen Sym- und Antipathien für und wieder einander unser Interesse in Anspruch nehmen. Für den Realismus des Kleinlebens im Genre fehlt es Gutzkow bei der Hetzjagd seiner leidenschaftlichen Malerei an der Ruhe des Behagens und am Glück jener Empfindung, die sich gern ins Einzelne versenkt und mit Liebe daran verweilt. Die Dorfgeschichte unserer Zeit hat den Optimismus ihres Behagens bereits bis zur äußersten Grenze, bis zur Coquetterie mit dem Detail, getrieben. Gutzkow umgekehrt schildert am liebsten, fast vorherrschend, mit der Geißel heißer Satyre die Verkümmerungen ursprünglich heiliger Güter; sein Pinsel macht fast Jagd auf die Genesis des Bösen. – Sollen wir am Styl des Buches einen einzelnen Zug aufdecken, der uns Ausartung scheint, so ist es, um einfach grammatikalisch zu sprechen, der gehäufte Gebrauch eines doppelten Plusquamperfects; z. B. ein ehemals weiß „angestrichen gewesener“ Tisch, – Dinge, die ein Jeder schon gern „errathen gehabt“ hätte. Der Erzähler hat bei jedem neuen Punkte soviel aus der Vergangenheit zu recapituliren, soviel Vergangenes, wenn er zurückgreifen muß, in eine noch entlegnere Zeit zu verlegen, soviel Verschwundenes im Stoffe wieder wie aus tiefem Brunnen herauszuholen, daß dieses doppelte Plusquamperfectum ihm zum Nothbehelf, fast zur üblen Angewöhnung wird. Auch seine sonstigen Participialconstructionen deuten auf einen nicht immer correcten oder schönen Nothbehelf bei der unbeholfenen Zeitwortstructur unserer Sprache. Weiland Johannes Müller und König Ludwig glaubten damit Tacitisch zu sein. Bei Gutzkow entspringt dieser Usus aus der Nöthigung, möglichst viel Beziehungen im müßig aufgehäuften Stoff straff zusammenzufassen.

14. Friedrich Hebbel, 27. November 1858#

[Friedrich Hebbel]: Literaturbriefe. XII. Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Erster Band. Leipzig, Brockhaus. In: Illustrirte Zeitung. Leipzig. Bd. 31, Nr. 804, 27. November 1858, S. 349. (Rasch 14/34.58.11.27.2)

Dieser Roman gehört dem neuen Jahre an, nicht dem alten, darum haben wir ihn uns bis zuletzt verspart. Es ist bei der Bedeutung des Autors und des Themas, das er sich gewählt hat, eine Unmöglichkeit, auf den vorliegenden ersten Band hin ein Urtheil über das Werk abzugeben. Nach der Vorrede sind es die kirchlichen und konfessionellen Konflikte, die der Verfasser zu behandeln denkt; gelingt es ihm, sie rein und rund darzustellen, ohne dem protestantischen oder dem katholischen Prinzip, aus dem sie hervorgehen, in dem beiden gemeinschaftlichen urchristlichen Kern zu nahe zu treten, so wird er sich ein schönes Verdienst um die deutsche Kultur erwerben. Der erste Band verräth noch wenig oder nichts von seinem Plan, doch das ist gerade gut, denn es beweist, daß wir uns hier vor der fatalen tendenziösen Spitze, die durch so viele Arbeiten des jungen Deutschlands wie eine Stecknadel hindurchging, nicht zu fürchten brauchen. Er ist aber, und mehr will die Lesewelt einstweilen gar nicht wissen, höchst fesselnd und der Mord, der seinen Mittelpunkt bildet, erschließt nach allen Seiten hin eine wunderbare Perspektive, von der wir nur wünschen, daß sie gehörig erschöpft werden möge.

15. Edmund Judeich, 28. November 1858#

[Edmund Judeich:] Karl Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 278, 28. November 1858, S. 2342 [Paginierungsfehler, recte: 2352]. (Rasch 14/34.58.11.28)

[Chiffre] Leipzig, 24. Nov. Im Nachklang der vielen über den obgenannten Roman laut gewordenen Stimmen wurde uns die lebendige Ueberzeugung, daß dem künstlerischen Erfassen der reichen Lebenswirklichkeit vorzugsweise Geister zweierlei Richtung entgegentreten. Einmal wird allezeit ein lyrischer Zug gerade die Menschen beherrschen, welche mitten in dem Treiben des Tages stehen. Keine Zeit wie die unsere producirte so viele Leser für subjective Lyrik und Gefühlsunwahrheit. Der forschende Gelehrte, der arbeitsame Kaufmann, der Mensch der Maschine und des Dampfes, die salonmäßige Frau, das in den Unbilden bürgerlicher Lebensnoth aufwachsende Mädchen – allen bleibt nur die Minute für Kunst und Poesie, und auf diese Minute concentrirt sich das Herz mit jedwedem Schlage; es weint mit Geibel, klagt mit Lenau und schwärmt mit tausend kleinen Dichtungen, die aus der heitersten Anregung geboren, die, aus dem heitersten Kreise zurückkehrend, doch eine Riesenfülle des leidenden Ich über die schmachtende Menschheit ergießen.

Entgegengesetzt dieser Richtung ist eine andere: die Neigung zur historischen Kunst und historischen Dichtung. Sie bewegt sich nicht mehr in den Höhlen des Polyphem und auf dem Grunde des Rhein, sondern hört am liebsten eine Geschichte von der jungfräulichen Königin Elisabeth, von der sündigen Herzenszauberin Maria Stuart oder weiter hinaus von der zopfigen Maria Theresia und dem Kaiser todter Liberalität in Oesterreich.

Bei aller Anerkennung dieser Richtung, wenn sie ein wahrer Genius vertritt, darf man dennoch fragen: Hat unsere Zeit keine gewaltigen Ideen, deren Verlebendigung die Menschen als Träger dienen könnten? Hat unsere Zeit nicht Menschen des Gedankens und der That, denen wiederum die Ideen als Hintergrund dienten? Wenige Dichter haben es versucht, die kalte Meinung zu überwinden, daß unsere Tage der Materie und nicht dem Geiste gewidmet seien. Die es gekonnt – sie standen mitten im Treiben der Partei und verloren darüber den großen Begriff: Objectivität. Aber handelte es sich vollends um das Gebiet des Gedankens, der psychischen Entwickelung auf Basis heutiger Reife der Anschauung, da fand sich nirgends eine Feder. Eine „Poesie des Geistes“ gäbe es nicht, unken sie allerorten.

In der That, unter wenigen ist einer, der seit Anbeginn die schöne Sühne des Gedachten in allem Geschehen suchte, unberührt dem Streben treu geblieben: in unsern Menschen Gedanken und für unsere Gedanken Menschen zu finden – Karl Gutzkow.

Sie werden es nach uns rühmen, wer für uns geschrieben. Das Urtheil des deutschen Volks über die „Ritter vom Geiste“ hat jedoch die Gerechtigkeit der Gegenwart bereits dargethan. Ein Mann auf der Höhe der Zeit ist ein Großes, ebenso ein Mann, der seiner Zeit diese Höhe im dichterischen Spiegel vorzuhalten vermag. Das, was wir thaten, klärt sich dem Talente oft zu befriedigender Gestaltung; das, was wir wollten, bedarf des Genius, um sich zu zeigen. Das Werden ist immer zur Hälfte Reflexion, und das ist die Schwierigkeit des Autors, das Gravamen seiner Gegner.

Wir reden aber nicht davon, daß und wie Gutzkow im Drama gerade reflectirende Menschen doch poetisch schön gegeben. Unsere Worte überdauernd spricht hier ein Uriel Acosta für sich. Aufgabe ist uns die Beurtheilung der Weise des Gutzkow’schen Romans. „Die Ritter vom Geiste“ liegen abgeschlossen vor uns, „Der Zauberer von Rom“ in seinen beiden ersten Bänden, deren Lectüre wir voraussetzen. Die Theorie lebt im allgemeinen, auch uns also liegt es nur ob, Grundzüge zu geben.

Wir brauchten oben das Wort: „Poesie des Geistes“. Dieses scheint recht eigentlich auf Gutzkow’s Weise anwendbar; schon liegt in dem, was wir vorausschickten, die Möglichkeit des Verständnisses dafür. Unsere Zeit, soweit sie die Materie beherrscht, ist Gedankenleben. Selbst die Gefühlswelt sucht sich ästhetisch zu begreifen. Die Wissenschaft war nie wie heute. Sie zu verneinen ist die sisyphische Qual aller, deren Urtheilskraft in der Trägheit des Daseins, in der weibischen Empfindelei eines Traumlebens falscher Ideale stecken bleibt. Ist Bejahung des Wissens aber das Wesen der gebildeten Welt und ist das Streben nach Wahrheit eine Glaubenszuversicht, ein warmer Herzenstrieb, so ist der „zeitgemäßen“ Dichtung und Künstlerschaft hierdurch auch sichere Bahn vorgezeichnet. Man gebe, was wir sind. Versteigt sich die Philosophie zur poetischen Betrachtung, so thut sie es leicht auf Kosten der wissenschaftlichen Wahrheit; unsere Wiederschöpfer aber, die Dichter und Künstler, haben poetische Wahrheit nur insoweit sie uns bejahen.

Die Kritik hat bei Gutzkow’s „Rittern vom Geiste“ oft gesagt: das ist Radowitz, das ist Hengstenberg, das ist der Hr. v. Manteuffel – wie wenig mag dem Dichter an diesen Personen liegen, auf welche einzelnes, nicht alles paßt! Aber daran war ihm gewiß gelegen, Menschen zu schaffen, die symbolisch die verschiedenen Richtungen der Zeit verträten. Sowie das einzelne Geschöpf nach Plato nichts ist und aus ihm nur seine, das ist die Idee des Schöpfers, das Urbild der Gattung herausgelesen werden kann, so liegt Gutzkow’s Wesen in der Versinnbildlichung einer Gedanken-Gattungs-Richtung durch einzelne Persönlichkeiten und die Verknüpfung letzterer zu einer einigen Aktion. Die plastische Concentration der Lebensmassen auf engem Piedestale, das Aufeinmalgeben der überreichen Fülle, die poetische Wahl des einzig Möglichen unter bestürmender Vielheit, die symbolische Verdichtung des rauchenden Kohlenstoffs unserer Zeit zu leuchtenden Diamanten: das sind Werke der Poesie des Geistes, welcher Gutzkow huldigt. Wo sind denn bei ihm jene gescholtenen Reflexionen, die nicht aus dem Innern der Gestalten herauswüchsen? Wo hört der Dichter auf und begönne der Philosoph? Nirgends. Andere haben dies an den „Rittern“ nachgewiesen, aber der neue Roman des „Zauberer“ bewegt sich in so situationsreichem Zauber der warmen Wirklichkeit, daß selbst principiellen Gegnern diese Bedenken gar nicht aufsteigen können.

Nicht „katholisch“ ist der „Zauberer von Rom“; denn es bedürfte ja außer der Ahnung des Kommenden nur des Hinweises auf den liebenswürdigen Dechanten v. Asselyn, dessen menschenfreundliches Herz die gelinde Verneinung der Kirche in sich trägt. Aber mit gemüthvoller und zu bewundernder Objectivität hat der Autor die katholischen Ideen im zweiten Bande erfaßt und durchgearbeitet. Der Dichter fühlt hier mit den Millionen seiner deutschen katholischen Brüder; er klärt auf über die edlern Triebe der gegnerischen Kirche ebenso gut wie über die Ausschreitungen des katholischen Gedankens, denen sinnig gerade der Convertit Klingsohr in sprühender Weise angehört. Ehe Gutzkow hier gab, hat ihn ein gewaltiges Studium der katholischen Welt in allen Nuancen beschäftigt. Die „rothe Erde“, die „Stadt des Doms“, die Sitten der zu behandelnden Volksschichten, ja mehr und weiter: italische Gedanken, hinunter vom St.-Bernhardskloster bis zur ewigen Roma – das ist des Dichters Vorarbeit gewesen. Und nicht aus Büchern, mit den Augen ist geschaut worden. Fürwahr, bequemer ist es, mit mystischem Seufzer und sprachlos nach dem alten Olymp oder nach den Höhen von Palästina zu zeigen; Willenskraft und männlicher Eifer gehört dazu, die Wege zu ergründen, auf denen sich Abertausende der lebendigen, irrenden und sehenden Gegenwart einen müssen, das Ziel zu finden! Die wenigen Urtheile gegen Gutzkow rühren meist von solchen her, an denen die höhere Schulbank in unbegreiflicher Weise haften blieb, oder von denen, welche ein Aergerniß am unverwüstlichen Können überhaupt nehmen.

Der „Zauberer von Rom“ wird von dem Kampfe getragen sein, den seine zweitausendjährige Idee mit dem Widerstreite der Zeit ficht. Und weil die Zeit reich an Gedanken ist, so ist jener Kampf im Buche so reich wie die Zeit. Gutzkow ist hier wie früher der „Verdichter“ unserer Gedanken, d. h, der Dichter seiner Zeit und – ihr einziger in dieser Art!

„Neun Bände“ – so segensreich ist Gutzkow’s Halten an der Realität, daß von einem Mangel an Gestaltung viel weniger für ihn die Rede ist als von einer Ueberfülle. „Lucindens Jugend“ erzählt der erste Band, die Vorgeschichte des Werks. Mannichfach ist bereits das Urtheil zu lesen gewesen: andere Leute hätten drei Bände aus dem ersten einen gezimmert. Und wie man mit Recht überall aus dieser Vorgeschichte eine äußerst lebendige Schöpferkraft des Autors herausgelesen, so ist das gerade so vom zweiten Bande des Werks zu sagen. Es ist für den denkenden Kritiker kaum möglich, diese Vielseitigkeit des Dichters zu resumiren; man vermag nur einzelnes aufzuzählen. Der verschlossene, von dem einen Gefühle der Liebe zu Bonaventura getragene, eigenthümliche Charakter Lucindens, welcher schon vorher in allerlei vom Autor, scheint es, in bestimmter Absicht gesuchter Verwilderung der Umgebung sich ewig gleich geblieben und selbst im Unbewußtsein der berühmten Orgie des ersten Bandes vor dem Gemeinen, vor dem jungfräulichen Falle bewahrt blieb (was der Dichter allerdings schon dort mit wenigen Worten hätte andeuten sollen); der meisterhaft gezeichnete, lebenswarme Dechant v. Asselyn, dessen liebenswürdige Behaglichkeit vom edeln Herzen getragen wird, sodaß alle Reflexionen dieses Mannes sich mit innigen Gefühlsäußerungen identificiren; Bonaventura v. Asselyn, das Sinnbild, die plastische Statue eines katholischen Priesters, der das ganze Ideal dieser Gattung in sich vereinigt und im Kampfe mit aller Anfechtung so fleckenlos bleibt wie die milde Mondscheibe des Friedhofs hinter den beschattenden Wolken; der Bruder desselben, Benno v. Asselyn, der edle, humoristische, pflichtgetreue Mensch mit seinem biedern, soldatischen Diener Hedemann; und ringsum die kleinere Welt: die wirthschaftende, in ihrer altjungfräulichen Neigung zum Dechanten aufgehende Frau v. Gülpen, die großen und kleinen Diener der protestantischen Gerechtigkeit; die Region des kölnischen „Soll und Haben“ mit dem lieben Menschen Thiebold de Jonge u. a., das alles umsäumt mit der künstlerisch porträtirenden Schilderung von Sitten, Orten und Gegenden, verknüpft das alles von dem ultrakatholischen Zusammenwirken eines Hunnius, eines begeisterten Mönchs (Klingsohr), dessen Reden trotz aller Wissensfülle doch poetisch die Schauenswelt verklären, wie der innere gute oder böse Kern den äußern Einzelmenschen – dem Leser reden sich diese Gestalten in ihrem Wesen und ihrer oft wunderbaren Wandelung von selbst ein zu warmem Empfange.

Von der Kunst Gutzkow’s, den Unterhaltungsstoff zu verarbeiten, ist bei alledem noch gar nicht die Rede. Die Meisterschaft des Autors, alle die Effectmittelchen des Tags, alle die breite Behaglichkeit im Ausspinnen angeregter Situationen zu vermeiden und dennoch das Bessere zu leisten, ist allbekannt. Dennoch sei es uns vergönnt, schließlich noch einen kurzen Blick auf die Methode zu werfen, welche die Einigung der Idee und Gestaltung bei unserm Dichter charakterisirt.

Namentlich in dem von den edelsten Intentionen angehauchten neuen Werke, welchem wir uns hier widmen, ist eine Eigenthümlichkeit des Dichters zur Klarheit gelangt, die früher mehr als unbewußte Empfindung des Lesers gewirkt haben mag. Man lege mit uns hierauf um so mehr Gewicht, als es eine Verdeutlichung des „Nebeneinander“ enthält, das Gutzkow sich schon in der Vorrede zu den „Rittern vom Geiste“ als ein ihm Wesentliches vindicirte. Wir sagten oben, der Dichter verstände „das Aufeinmalgeben der überreichen Fülle“. Jeder, der Gutzkow’s „Ritter vom Geiste“ und sein neuestes Werk mit Hingebung liest, findet allüberall ein Etwas, das zwischen den Zeilen liegt. Alle die einzelnen Charaktere tragen auf jedem Schritte ihre ganze Vergangenheit und auch ihre Zukunft in sich. Letztere deuten oft drei anscheinend unbedeutende Worte an, und ebenso die erstere. Wer hat, wo auch Lucinde auftritt, nicht sofort ihre ganze Jugend wieder vor sich? Wem öffnen sich nicht bei dem einen Worte: „An der Schwelle der Peterskirche will ich sterben“, unabsehbare Fernen, sowie man solche ahnte am Schluß des ersten Bandes, wo Bonaventura Lucinden der wiedererstandene Serlo schien? Wer trägt nicht ein ahnendes Gefühl in sich, daß der Deutsche unter den Eichen von Castellungo zu Benno und Bonaventura in heiliger Beziehung steht? Wem bleiben bei der Lectüre des zweiten Bandes nicht noch eine Menge von Unterlagen aus dem ersten, die Kommendes begründen werden? Wir deuten nur an. Man kann sich in solchen Dingen hier und da täuschen; aber dem Kenner von des Dichters Weise geschieht das selten. Das organische Verweben und Verknüpfen der Wurzel mit der Wurzel und mit dem Stamme wie Blatte, das Ruhen der Blüte schon in dem vor dem Leserauge gestreuten Samenkorn, das ist das Wie der Gutzkow’schen Dichtung, das deutet auf die Schärfe seines sichtenden Verstandes, auf die Zartheit seines Bauens. Nichts ist deus ex machina; alles ist musikalischer Mitklang.

Wie das Wesen der „Dichtung des Geistes“, der plastischen Verwirklichung großer Ideen, so ist auch die Offenbarung dieses Wesens eine durchaus eigenthümliche, und hätten wir in dieser unserer Betrachtung erreicht, das Verständniß des auf erhabenen Pfeilern ruhenden Lebens zu erweitern, welches sich mit einschmeichelnder Wahrheit im Guten und Bösen vor uns in Gutzkow’s Romanen aufthut, in diesen Epen der denkenden und leidenden Gegenwart, so würden wir dankbar gegen uns selbst die Feder niederlegen, den Wunsch verbergend, dem Dichter selbst ein begeistertes Glückauf zugerufen zu haben für den Fortbau seines Werks, das mit unwägbarer Wucht, wenn auch mit beseligender Freude des Gelingens auf einem Menschengeist ruhen muß.

16. Der Humorist (Wien), 30. November 1858#

S–T.: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Carl Gutzkow. (Erster u. zweiter Band. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1858.) In: Humorist. Wien. Nr. 274, 30. November 1858, S. 1-2. (Rasch 14/34.58.11.30N)

Einen neunbändigen Roman stellt man eben so wenig unvorbereitet auf den Tisch einer Dame, als einen ganzen Zuckerhut. Der letztere wird zerschlagen und in sehr kleinen Crystallen in die purpurgläserne Büchse geleert. Zwischen Camelienbouquets und Nähwerkzeugen haben neun Bände keinen Platz. Und wer soll in Deutschland und für Deutschland lesen, wenn nicht die Damen. Sie allein haben die Geduld dazu. Das weibliche Wesen wird erst aus dem, was es gelesen hat. Der Zauberer vom Rom hat hiemit allen Anspruch darauf, nicht nachlässiger behandelt zu werden als eine für rosige Lippen bestimmte Zuckerdüte. Gutzkow kündigte allerdings schon im ersten Bande das Gemälde des großen, Süden und Norden von Deutschland trennenden Zwiespaltes, des Romanismus und Germanismus an. Diese Empfehlung war die letzte, die er sich selbst geben konnte. Neben dem Carnevalsjubel der französischen Literatur und der praktischen Büchermacherei Englands mußte dieses Wiederaufgähren des alten deutschen Sauerteiges nur unbehaglich erscheinen. Mit dem zweiten Bande des Romanes hat Gutzkow nun aber selbst – wir glauben es wenigstens – alle Bedenken zerstreut, alle Befürchtungen widerlegt, alle Gegner beseitigt, welche der erste hervorrufen konnte. Es ist damit wirklich ein großes, nationales, kühnes, geniales, und dabei so weit innerlich wahres Werk im Anzuge, als Gegensätze da richtig aufgefaßt werden können, wo der an ihrer Darstellung arbeitende Geist Partei ergreifen, eine subjektive Stellung und Anschauung festhalten muß. Der erste Band des Werkes brachte eine ganz zeitlos gehaltene, in jedes Decennium passende Vorgeschichte der Schulmeisterstochter Lucinde Schwarz, einer prädestinirten geistreichen Vagabundin, welcher acht weitere Bücher des Romanes zur Disposition standen. Herumgeworfen durch Schicksale aller Art, Verhältnisse anknüpfend und lösend, wurde die kaum zwanzigjährige Lucinde schließlich katholisch. Der zweite Band führt sie nun nicht allein in die katholischen Rheinlande, bringt sie, die devote, warme Katholikin mit fast ausschließend priesterlichen Kreisen in Berührung, sondern es ist noch mehr geschehen. Der Roman selbst hat innern Halt bekommen und wir blicken beruhigt vorwärts und zurück. Als Pulsknoten der Erzählung ist die Epoche festgehalten und bestimmt, in der unter König Wilhelm dem Dritten die Frage der gemischten Ehen einen wohlbekannten rheinischen Kirchenfürsten in die Räume einer preußischen Festung führte. Damit ist das katholische Leben der Rheinlande von der Stereotypie der liturgischen Ruhe und Einförmigkeit losgelöst, Bewegung und Leidenschaft in das Gemälde geworfen. Ein großer Kampf ist ausgebrochen, die clericale Welt ruft ihre Streitkräfte von allen Seiten zusammen. Ahnen läßt uns der Verfasser, daß er uns in diesen neun Bänden die hauptsächlichen Stufen und Etappen, die Stapelplätze und Brennpunkte des katholischen Lebens und der damit verbundenen Gesellschaft in Europa durchwandeln lassen will. Schon sind wir am Ende des zweiten Bandes in Köln angelangt und dämmert Rom als letztes Ziel herauf. Eben so scheint es, daß Gutzkow von unten nach oben, in den Gesellschaftsschichten selbst, aufsteigen will. Vorläufig haben wir es nur mit dem minderen Clerus zu thun. Da sind nun auch die meisten Typen desselben vertreten. Weßenberg’s Schule angehörig ist der Dechant, Franz von Asselyn, mehr Aristokrat als Priester, gemäßigt, mit allen Consequenzen seiner Anschauung; neben ihm der Stadtpfarrer in Kocher, Beda Hunnius, in schweren „Kanonenstiefeln“ einherwandelnd, Geistesgenosse von Joseph Görres, donnernd und scheltend wie dieser. Eine Erscheinung für sich bildet Bonaventura von Asselyn, des Dechants Neffe, an dessen Beichtstuhle Lucinde Schwarz, des Romanes bevorzugte Heldin, und die seherhaft begabte Paula Gräfin Droste-Camphausen erscheinen. Herrscht in der Dechantei ein ungezwungen wohlwollendes Leben, in welchem Lolo der Pfau eine große Rolle spielt, so ist dagegen an Bonaventura den jüngeren, wohlgebildeten und dabei strengen Priester, der feine, sentimentale Mysticismus geknüpft, welcher die sehnsuchterfüllten Herzen durchzieht.

Hier lernen wir alle geheimen Beziehungen, tröstenden Verständnisse, leitenden Einflüsse kennen, welche das katholische Leben auf gewissen Stufen seiner Entwickelung in persönlichen Beziehungen zuläßt. Eine Unzahl von Fäden knüpfen sich an, welche in weite Ferne reichen. Gutzkow kennt kein Geheimniß. Er hebt die schweren Riegel der Klosterpforten auf und führt jene Mönchsgestalten heraus, [2] welche mit dem schwarzen Haarreste auf der hohen bleichen Stirne allein an die irdische Stunde der Lebensmännlichkeit erinnert. Dazwischen spielen viele andere untergeordnete Gestalten, welche kommen und gehen, auftauchen und verschwinden, um den Markt des Lebens, die Populationsfülle eines hochgebildeten Landes, wirksam nahezulegen.

Wie vor mancher alten Prachtbaute eine Marmortreppe baut sich Gutzkow’s Roman vor der noch verschlossenen ehernen Pforte des Vatikan’s auf. Stufe für Stufe steigt als Führerin Lucinde (Schwarz) hinan. Sie trägt das dunkle Haar in Flechten mit einem hohen Thurme, wie eine Krone, ihr Wuchs ist hoch, elastisch ihre Haltung, glühdunkel die Augen. Sie ist im zweiten Bande schon eine Dame mit Glaceehandschuhen, aber immer noch im Vorbereitungskurse für eine Rolle, der sie entgegenzieht. Sie trägt „einen Strohhut mit einem blauen Schleier“ und ein großes goldenes Kreuz am Busen. Sie hat, früher Protestantin, die Welt in jener Zeit schon hinlänglich kennen gelernt, um in den katholischen Kreisen nicht unterthan zu werden – Zwecke begreifen, verfolgen zu können. Eine unsichtbare Macht jagt sie durch das Leben. Es geht rasch und schnell mit ihr vorwärts. Sie ist kaum beim Dechant Franz von Asselyn eingebürgert, als sie der Pfau Lolo wieder vertreibt, sie geht unaufhaltsam großen Geschicken entgegen, und sammelt nur Personenkenntniß um die so durchschrittenen Kreise schließlich selbst beherrschen zu können.

Mit dem zweiten Bande des Romans wissen wir, woran wir sind, und damit ist sein Erfolg im Allgemeinen gesichert, denn die Einzelnheiten desselben sind mitunter von magischer Wirkung, so vor Allem die erste Berührung mit Cöln, wo sich – „fing, Schiffssegel blähend und den Handel der Welt belebend, Nordsturm vom eisigen Island brausend, Ostwind, der aus der Levante weht, und den Weg an den Ufern Spaniens, Frankreichs und Hollands entlang, die Waaren nehmen ließ, die sonst über Venedig kommend nur Augsburg und Frankfurt bereichert hatten.“ Hier und nicht im secundären Südosten begreift man die Welt, die Gutzkow entfalten will, hier, wo sie Römerboden und Estruskergräber unter sich, wo sie Maurenpaläste und africanische Küsten vor sich hat, Umwälzungen miterlebte, der Sprachenverwirrung trotzte, wo die Mitra dem Weltsturm gegenüber stand, und stehen blieb, während in den Thüringerwäldern und an den Palästen des deutschen Ordens, am Fuße des Hörselberges und in dem einst widerwillig heidnischen Sachsenlande die neue Lehre siegte.

Was Gutzkow noch bringen kann in all der Gliederung der Hierarchie, in welcher die Weiblichkeit so reich vertreten ist, welche Oratorien und Klostergitter er aufschließen wird, mag erwartet werden. Der Grundgedanke ist jedenfalls epochemachend, der zweite Band urkräftig gewachsen, tieffärbig und schattig. Allerdings geht es, wie in der Winsdsbraut Gefolge dahin und Lucindens Haarkronenschmuck umweht es wie Nachtschattenblüten. Aber wir folgen dem Faust-Goethe kühnem Geiste um so lieber, als er Mäßigung einzuhalten verspricht und für jene Kreise möglich zu bleiben sucht, aus welchen er schreibt. Bewiesen wird am Schlusse wohl nur sein, daß das fest gegliederte Leben dieser Kreise noch immer wie ein Cyclopenbau steht und nur Gehorsam oder Lossagung für Jene zuläßt, welche sich in ihnen bewegen sollen.

17. Levin Schücking, Illustrirtes Familienbuch, November 1858#

Levin Schücking: Literatur-Bericht. [Darin:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern. Von Karl Gutzkow. Erster Band. (Leipzig 1858.) In: Illustrirtes Familienbuch zur Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise. Triest. Bd. 9, [Heft 2, November 1858], S. 71-72. (Rasch 14/34.58.11.1N; neu datiert, bislang unter 14/34.59.02.1)

Ein seltsames Buch! werden die meisten Leser sagen, welche diesen ersten Band aus der Hand legen. Ein Buch, dessen zahllose Gestalten an uns vorüberschreiten, nicht wie die Charaktere eines Epos, richtig entwickelt, in stätigem Sein, sondern aufgestürmt, gejagt, hastig, wie ein Rudel Wild vor der Klapper des Treibers, wie ein Volk Rebhühner, in welches ein Schütz seine Schrotkörner geworfen hat. Der Verfasser ist auf die Jagd nach Charakteren gegangen und mit seinem psychologischen Spürtalent, seinem Glück im Finden, seinem scharfen Jägerauge treibt er sofort einen ganzen Schwarm vor uns auf, der uns umflattert, umgaukelt, verwirrt, ja erschreckt. Das ist, um dies vornherein auszusprechen, was wir auszusetzen haben, an diesem ersten Bande, der freilich nur das Vorspiel des eigentlichen Romans enthält. […]

Gutzkow liebt die „gemischten Charaktere,“ an denen die Virtuosität psychologischer Analyse sich bethätigen kann. Charaktere, wie Hackert in den „Rittern vom Geist“. Ein solcher Charakter, diesmal ein junges Mädchen, ein weiblicher Hackert, bildet das Band seiner Erzählung, den zusammenhaltenden Faden. Es ist Lucinde, die Tochter eines armen Schullehrers aus dem Hessischen. Zuerst Magd einer alten Dame, welche sie mißhandelt und deren Furienhänden die Polizei sie entreißt, wird sie etwas wie Bonne oder Gesellschafterin im Hause des rettenden Polizeichefs; in dieser Situation macht sie die Eroberung eines jungen Mannes, der Buchhalter eines bedeutenden Handlungshauses ist, und wird von ihm – zusammt der Casse seines Principals entführt. Auf der Reise nach America werden die Flüchtigen eingeholt. Lucinde ergreift die Flucht, ganz allein, ohne Ziel, in Bergwaldungen hinein, bis sie endlich ermattet, ohnmächtig zusammensinkt. Erwachend findet sie einen Mann an ihrer Seite auf den Knien liegend, der ihre Erscheinung wie die eines übernatürlichen Wesens begrüßt, der eine Fee, eine Heilige des Himmels in ihr erblickt. Sie folgt ihm in eine Pfarrwohnung in der Nähe, wo er sich aufhält und wo sich dann herausstellt, daß dieser verehrungdurstige Mann ein Kammerherr von Wittekind ist, der an Monomanien leidet, namentlich an Anfällen von Tobsucht. Lucinde wird nun für ihn, was David’s Harfe für Saul’s Paroxismen. Sie allein kann ihn besänftigen, ein Laut ihrer Stimme beruhigt seine wildesten Anfälle. Wegen dieser Macht über den Kammerherrn wird nach einiger Zeit Lucinde von dem Vater desselben, dem Kronsyndicus Freiherrn von Wittekind auf sein stolzes hochragendes Schloß geführt, wo nun auch der kranke Sohn wieder weilen soll. Mit dem Eintritt in das Schloß Neuhoff compliciren sich aber Bezüge und Zustände und Personen auf’s mannigfachste. Der Kronsyndicus ist ein mächtiger, einflußreicher Herr vom wunderlichsten Charakter; er ist die Blüthe einer westphälischen Baron-Natur – denn Schloß Neuhoff liegt im Herzen des katholischen Westphalen –; tyrannisch, jähzornig, phantastisch steht er inmitten von Verhältnissen, welche uns die buntesten Verwicklungen ahnen lassen; von wunderlichen Menschen und wunderlichen Thatsachen, in denen sich westphälisches Adelsleben spiegelt, mitunter schlagend scharf, ja genial gezeichnet. Der Kronsyndicus ermordet in einem seiner Wuthanfälle, die ihn zum würdigen Vater des tobsüchtigen Kammerherrn machen, seinen Hauptpächter, weiß aber der Verfolgung durch die Gerichte auszuweichen und sucht, von seinem Gewissen bedrängt, nun das Glück des hinterlassenen Sohnes des Ermordeten, der Rechtsgelehrter ist, zu machen. Dieser, Klingsohr, liebt Lucinde; der Kronsyndicus willigt ein, daß der junge Mann sie seinem Sohne, dem Kammerherrn entführt; Lucinde und Klingsohr begeben sich nach Hamburg, wo Klingsohr Geschäfte für den alten Freiherrn besorgen soll; hier aber ereilt sie der seiner Aufsicht entlaufene Kammerherr, er mißhandelt den jungen Mann, dieser duellirt sich mit ihm und erschießt ihn. Lucinde aber wird ihres Verehrers überdrüßig; während er in Kiel seine Strafe für das Duell verbüßt, entflieht sie ihm, indem sie sich an eine Schauspielerfamilie anschließt; sie versucht dann selbst die Theaterlaufbahn, scheitert bei dem ersten Schritt, den sie auf der Bühne wagt, und nimmt nun eine Stelle als Gesellschafterin eines jungen Mädchens in einer orthopädischen Heilanstalt an. Dieses junge Mädchen ist Paula von Dorste-Camphausen, die Nichte des Kronsyndicus, allen Andeutungen nach bestimmt, die eigentliche Heldin des Romans zu werden.

Dies ist das dürre Geripp der Thatsachen, welche die Fabel unseres Vorspiels bilden. Umkleidet sind sie mit einer Fülle episodischer Gestalten, und alle diese Gestalten tragen das Gepräge jener scharfzutreffenden Darstellungskunst, womit Gutzkow es versteht, Menschen zu zeichnen, Menschen mit ihren Tugenden und noch mehr mit ihren Schwächen, Menschen inmitten glänzender Verhältnisse und noch mehr inmitten der kleinen und großen Misère des Lebens. Namentlich ist die Schilderung der Schauspielerfamilie hervorzuheben, dieses armen, kranken, endlich sterbenden Serlo und seiner eitlen, kalten, herzlosen „ersten Liebhaberin“, der Gefährtin seines verkümmerten Lebens; und zunächst möchten wir als meisterhaft die Skizze des Hamburger Lebens bezeichnen, welche sich an Lucindens Aufenthalt in der großen Handelsstadt knüpft. Ueberhaupt scheinen uns alle die Partien unsres Buches die gelungensten, welche den Vorzug der ruhigeren Entwicklung vor den bewegteren phantastischeren Episoden, wie z. B. dem Leben und Treiben der tobsüchtigen Familie Wittekind haben. Was die Charaktere angeht, so dürfen wir nicht vergessen, der [72] Heldin selber zu gedenken, dieser Entwicklung des jungen Dämmerlebens einer weiblichen Seele, worin der Verfasser sich ein Problem stellte, wie man es nicht schwieriger denken kann.

Gutzkow’s Buch ist darauf angelegt, die katholische Cavalierwelt Westphalens und des deutschen Südens, ihre über die Alpen gehenden Verbindungen zu zeichnen. Die Dichtung geht dabei von einem patriotischen Gedanken aus. „Sie will,“ sagt das Vorwort, „soweit dem Worte eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen, die vaterländische Einheit zu fördern. Sie will warnen, will ermuntern. Sie will die Gefahren aufdecken einer trügerischen Lockung .... Sie will für die heraufziehenden Entscheidungskämpfe (zwischen Union und Liga, dem Welfen- und dem Ghibelinenthum), den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz nähren helfen, will den Verräthern unseres eigenen Heerlagers auf ihren geheimsten und nächtlichsten Pfaden folgen.“

So eine ausgesprochene Tendenz an der Stirn tragend, wird sie sich gefaßt machen müssen auf die verschiedenartigste und widersprechendste Aufnahme. Es kann nicht ausbleiben, daß diese Aufnahme die feindseligste von jener Seite sein wird, der sie den Kampf bietet. Desto mehr ist im Interesse des Buches als literarischer Schöpfung, als nationaler Romandichtung von bleibender Bedeutung zu hoffen, daß das Werk sich als eine tüchtige und feste Arbeit erweise, die einen feindlichen Anprall aushalten kann!

18. Kölnische Zeitung, 1. Dezember 1858#

[Chiffre:] Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. In: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 333, 1. Dezember 1858. (Rasch 14/34.58.12.01). - Der Beitrag wurde kurz darauf ungekürzt in der konservativen „Berliner Revue“ (Heft 10, 4. Dezember 1858, S. 412-413) nachgedruckt, mit der einleitenden Bemerkung: „Gutzkow, der Held der Liberalen, erfährt von einem (katholischen?) Mitarbeiter der Cöln. Z. folgende Würdigung [...]“.

„Os magna sonaturum“ – –

Indem wir auch unsererseits uns der Pflicht entledigen, die Thatsache dieses Phänomens zu constatiren, fühlen wir uns durchaus nicht in der Lage, mit den hellsehenden Offenbarungen zu wetteifern, die, kaum daß der erste von den verheißenen neun Bänden ans Licht getreten war, schon über den wunderbaren Kunstbau und die weltumfassende Tendenz des Ganzen so merkwürdige Dinge phantasirten. Die bloße Neunbändigkeit allein, die bei den „Rittern vom Geiste“ hinreichte, den wohlberechneten Effect der spannungsvollsten, aufgeregtesten Neugier zu erzielen, hat nicht die gehörige Zugkraft mehr. Es mußten diesmal noch energischer auch die Reizmittel eines großartig zeitbewegenden Inhalts im Voraus angestrengt werden. Nichts Geringeres als die bedeutungsschwere Frage der großen Geistesspaltung des Vaterlandes wird hier ins Spiel gebracht. Und der Autor, von dem wir gewohnt sind, daß er in aller Bescheidenheit sich immer nur des Gewaltigsten vermißt, lockt uns mit keiner geringeren Hoffnung in die weite Bahn seiner neunbändigen Abenteuer, als daß wir durch dieselbe zu einer Zauberformel der Sühne und Einigung gelangen werden. Die drohende Gefahr einer neuen Schlacht von Mühlberg darf das deutsche Herz sich getrösten durch den „Zauberer von Rom“ noch einmal abgewandt zu sehen. Ja, was nicht sonst noch alles! – Aber, wie gesagt, wir sind nicht im Geheimniß und verzichten deßhalb vor der Hand, wie billig, auf alle Ergießungen über die unberechenbare politisch-religiöse Tragweite des Werkes, von welchem eben der zweite Band erschienen ist. Nur mit ein paar Anmerkungen, wie man sie jetzt schon unbedenklich wagen darf, wollen wir die Notiz begleiten, die wohl für Niemanden mehr eine Neuigkeit enthält.

Unverschwiegen bleibe vor Allem das Erstaunen, die Lösung eines Problems, das in so hochtönenden Orakeln verkündet worden, sich irgendwie an die Gestalt dieser „Lucinde“ geknüpft denken zu sollen, die den engsten Familien-Zusammenhang mit Seraphine einer- und Auguste Ludmer andererseits, den hinlänglich bekannten Doppel-Typen des Gutzkow’schen Frauen-Ideals, so wenig verläugnen kann. Der Antheil an dieser durchtriebenen, abgefeimten Creatur, einem Kinde der Lüge und kältesten Herzlosigkeit, wie es nur je von gleicher Feder mit dem glänzendsten Aufwand zärtlicher Virtuosität geschildert ward, als Brennpunct der weitverzweigten Interessen hingestellt, für die man uns jedes tiefere Mitempfinden und ernste Aufmerksamkeit abverlangt! Gutzkow ist nun freilich der Mann, von einer solchen durch den Schmutz aller möglichen entwürdigenden Situationen hindurchgeschleiften Gauklerin mit der vollständigsten Unbefangenheit zu versichern: „Sie war jungfräulich geblieben.“ Sollte denn auch der also wohlerhaltenen achtzehnjährigen Unschuld für den Weg durch die folgenden acht Bände nichts mehr übrig bleiben?

Von Gutzkow’s Art, mit den Auserwählten seiner schöpferischen Laune umzuspringen, liefern die ersten Bücher des Romans Proben, die uns auf Alles gefaßt machen. Figuren, die im einen Augenblick mit vollem Anspruch auf Respect als Würdenträger, Gott weiß welcher höheren Lebensanschauung, eingeführt werden, im anderen mit dem pfiffigsten Lächeln weltkundiger Ironie an die Trivialität und Gemeinheit zu verrathen, ist der Witz der psychologischen Geheimlehre, nach deren Grundsätzen Gutzkow seine Charaktere bildet und die ihn allerdings gegen jede Gefahr der Monotonie gründlich sicher stellt. Schon sind auch bis zum zweiten Bande Fäden der Geschichte in den verschiedensten Weltecken angesponnen (den Rhein und unsere uralt-heilige Colonia nicht vergessen!), und selbst der geübte Romanleser wird Noth haben, den Ueberblick über den bereits eröffneten Kreis merkwürdiger Bekanntschaften nicht zu verlieren. Der Künstler des „Nebeneinander“, das gelegentlich stark ans Durcheinander hinstreift, nimmt wenig Rücksicht auf langsame Fassungskraft. Er befolgt eine Methode des Erzählens, die ihren Stolz darein setzt, jenen Begriff des Dichters, den Ludwig Tieck scherzend vom Verdichten, Dichtmachen ableitete, möglichst fern zu halten. Absolute Scheu vor dem, was Göthe nannte: „die Sache ins Enge bringen“, bildet den Grundcharakter dieser Darstellungsweise. Reichthum und Mannigfaltigkeit der Gestalten, Beziehungen und Motive, wie sie dem Roman zukommen, heben aber doch keinesfalls die künstlerische Verpflichtung auf, im einzelnen Bilde wie im Gesammt-Entwurf nach Klarheit, Bestimmtheit und Einfachheit zu streben. Gutzkow sucht im Gegentheil augenscheinlich das wahre Verdienst des Romanschriftstellers darin, das zweifelhafte, trügerisch unstäte Licht, wodurch die Wirklichkeit die meisten Dinge und Verhältnisse einer deutlichen Auffassung entzieht, möglichst getreu zu reproduciren. Kaum ist er im Stande, irgend eine Thatsache, einen Vorgang rund und reinlich auszusprechen; überall werden die hundertfachen Möglichkeiten, Vergleichspuncte, Hintergedanken und Seitenblicke, die jedem menschlichen Thun von selber sich anschließen oder in Verbindung damit bringen lassen, in den Vortrag dessen, was geschieht, verwirrend hereingezogen, so daß uns oft nicht anders zu Muthe wird, als jenem Manne, „der im Traume träumend zu träumen träumte den Traum eines Andern, den dieser auch im Traume zu träumen geträumt.“ Und dieser in einer unabsehbaren Kettenreihe künstlich vermittelter Vorstellungen sich abhetzende Styl, voll ewig schillernder Unruhe, Clauseln, Limitationen, Parenthesen zu den willkürlichsten Satzgeflechten in einander schlingend, – es ist derselbe Styl, welchem man vor zwanzig Jahren nachrühmen konnte, daß er, obwohl Prosa, dennoch den Zauber aller Versarten absorbirt zu haben scheine! (Vergleiche Briefe über die neueste Literatur von D. Alex. Jung. 1837. S. 130.) –

Der Mechanismus der Fabel wird, so weit sich bis jetzt absehen läßt, wie bei den „Rittern vom Geiste“, auf allgemeine Wiedererkennung und Entknotung verwickelter Verwandtschafts-Verhältnisse hinauslaufen. Irgend ein Hugh von Trautwangen muß zuletzt als Allerweltspapa der illegitimen Descendenz, von welcher der neue Roman uns wieder zahlreich bevölkert scheint, die aus einander fahrenden Lebenslinien um den natürlichen Mittelpunct sammeln. Freilich dürfte daneben immer noch dem Einen und Anderen unversehens ein verfänglicher Vaterschafts-Antheil zufallen, selbst den würdigen Dechanten von „Kocher am Fall“ haben wir bereits im dringendsten Verdacht, daß er bei Weitem nicht so kinderlos ist, als im Interesse seines geistlichen Ansehens zu wünschen wäre.

Doch – wir versprachen, uns aller vorgreifenden Divination zu enthalten, und gerathen nun gleichwohl auf diese unsichere Fährte. Es ziemt uns, abzuwarten und dem Autor, der so geringe Ursache hat, mit unserer Aufnahme des Dargebotenen zufrieden zu sein, wenigstens nicht in das noch Darzubietende hineinzureden.

19. Rudolf Gottschall, 16. Dezember 1858#

Rudolf Gottschall: Karl Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. [Mit einer Nachschrift der Redaktion.] In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Nr. 51, 16. Dezember 1858, S. 925-933. (Rasch 14/34.58.12.16)

Wenn ein französischer Autor von Ruf, wie Eugène Sue oder Alexandre Dumas, einen neun- oder mehrbändigen Roman ankündigt, so ist man gespannt auf eine Fülle abenteuerlicher Verwickelungen, die schon in den ersten Büchern eingeleitet sind; man weiß, daß von Band zu Band der Knoten sich spannender schürzt, die Beleuchtung greller wird, mit einem Worte, der Autor seinen Leser nicht im Stich läßt und ebenso wenig der Leser seinen Autor. [...] Auch kein deutscher mehrbändiger Roman wird bestehen können ohne diese energische Spannung, welche aus der Verkettung ungewöhnlicher Ereignisse hervorgeht. Dennoch erwarten wir, wenn ein namhafter deutscher Schriftsteller einen unfangreichen Roman ankündigt, mehr als Befriedigung für den prickelnden Reiz der Neugier, für jene eigenthümliche Stimmung des Gemüths, welche sich so gern aus dem einförmigen Gange des Lebens durch glänzende Spiele des Zufalls, durch die Räthsel des Menschengeschicks, durch seine oft witzigen Combinationen herausreißen läßt; wir erwarten eine künstlerische Fassung, welche dem Grundwesen des epischen Stils gerecht wird und einen Inhalt, der sich zum Gemälde der Zeit ausbreitet, ihre tiefsten Probleme in sich aufnimmt und in Fleisch und Blut verwandelt.

Am berechtigtsten sind diese Erwartungen einem Autor wie Gutzkow gegenüber, welcher schon durch seine „Ritter vom Geiste“ bewiesen, daß es ihm nicht um müßige Phantasiespiele zu thun ist, sondern daß er nach Art und Weise der alten Epiker ein Culturbild der ganzen Epoche zu entrollen sich bestrebt. Sein Talent hat sich groß und bedeutend genug gezeigt, die Klippe dogmatischer Abhandlungen und Excurse und den Schein doctrinärer Selbstgefälligkeit zu vermeiden, die geistigen Richtungen und Strömungen der Zeit an lebensvolle Persönlichkeit zu knüpfen und einem farbenreichen Panorama des ganzen, unter den Fahnen des Vorwärts dienenden Geisterreichs zugleich den Reiz romanhafter Spannung zu verleihen. Alle diese Bestrebungen, denen der Bund der „Ritter vom Geiste“ einen innern Zusammenhalt gab, waren indeß nur auf dem Boden des Protestantismus möglich. Hier nur konnte diese höhere Freimaurerei, dies Templerthum des Geistes, welches auf freier Selbstbestimmung ruht und dabei das zarteste Recht der einzelnen Persönlichkeit und ihrer innern Entwickelung respectirt, Wurzel schlagen. Es war die Poesie der Zukunft und die Freudigkeit des Ringens nach einem Ziel, das sich nicht in eine bestimmte Formel bannen, aber doch im allgemeinen als das Ideal der Humanität charakterisiren ließ, welches bereits unserer classischen Tafelrunde präsidirte! So singt Goethe von Schiller:

Nun glühte seine Wange roth und röther

Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,

Von jenem Muth, der früher oder später

Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,

Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter

Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,

Damit das Gute wirke, wachse, fromme,

Damit der Tag dem Edeln endlich komme!

Dem großartigen Gemälde des Protestantismus will Gutzkow nun ein Gemälde des Katholicismus gegenüberstellen, der Poesie der Zukunft die Poesie der Vergangenheit, dem Streben nach Gestaltung eines innern, aus freier Bildung herausgeborenen Ideals das Festhalten an einer großen geschichtlichen Institution und das Bestreben, ihre Macht zu erhöhen, ihre Geltung zu erweitern. Eine wichtige Aufgabe, würdig eines großen Talents! Aber der Dichter der „Ritter vom Geiste“ kann sie, ohne seiner Fahne untreu zu werden, nur lösen, indem er diese Poesie der Vergangenheit als der Vergangenheit angehörig [926] behandelt und ihre Eingriffe in die Rechte des fortschreitenden Geistes zurückweist: eine Tendenz, die nicht in äußerlicher Phrase seinem Werke aufgeklebt sein, sondern seine innere Seele bilden wird. [...]

Wie aber kann sich die Kritik zu den ersten Bänden eines so umfangreichen Romans verhalten? Diejenige Kritik, der es darauf ankommt, liebevoll in eine größere Dichtung einzugehen, zu verfolgen, wie die Intentionen des Verfassers allmählich warmes Leben gewinnen, wie die Fäden geknüpft sind, die in die Zukunft hinausweisen, sich an schönen und glänzenden Einzelheiten zu erfreuen, ebenso auf Verfehltes hinzuweisen, soweit es einem abgeschlossenen Theile des Werks angehört, wird auch an den Anfängen desselben bereits einen festen Anhalt für ihre Thätigkeit finden. Diejenige Kritik dagegen, die in Pausch und Bogen, in allgemein gehaltenen Orakelsprüchen abzusprechen liebt, welche nur den Werken der Vergangenheit ein zusammengelesenes Verständniß entgegenbringt, an die Poesie der Gegenwart in ihrer Phantasielosigkeit und ihrem Mangel an ästhetischem Sinn nur philiströse Maßstäbe anlegt, kann über einen ersten Band eines neunbändigen Romans kein Urtheil haben und wird sich daher damit begnügen müssen, zu ihrem eigenen Vergnügen einige Caricaturen an die Wand zu malen und dann, voll Bewunderung für ihr kritisches Zeichentalent, in die Hände zu klatschen!

Als Gutzkow von der „feindseligsten Aufnahme“ seines Romans sprach, dachte er gewiß nicht an die „Grenzboten“, sondern vielleicht an das wiener Kirchenblatt, welchem das Organ der leipziger Aufklärung den Vorsprung abgewonnen hat. Die Kritik, welche die „Grenzboten“ über den „Zauberer von Rom“ brachten, hat in den meisten Kreisen gerechtes Befremden hervorgerufen! Denn man mußte sich natürlich wundern, wenn die Todfeinde der liederlichen Genies, diese ernsten und gesetzten Männer des gesunden Menschenverstandes und der sittlichen Solidität, sich mit den Federn Heinrich Heine’s zu schmücken begannen! Auch stieg bei allen Billigdenkenden die Frage auf, wohin es mit der deutschen Literatur kommen solle, wenn diejenigen, die sich als ihre kritischen Autoritäten geberden, die einer, wenn auch vorübergehenden und schon vorübergegangenen Epoche den Glauben an ihre Unfehlbarkeit aufzudrängen wußten, die vornehme Würde und wissenschaftliche Haltung ihrer Kritik auf einmal so vergaßen, daß sie, dem bedeutenden Werke eines namhaften Schriftstellers gegenüber, in den Ton burlesker Vorstadttheater-Parodien verfielen? Sind dies Reminiscenzen an die absolute charlottenburger Kritik, deren Geister noch bisweilen im Tegel der „Grenzboten“ spuken, die auch immer sehr vornehm, sehr wissenschaftlich, sehr feierlich war und dann plötzlich in einen recht derben und flotten Cynismus verfiel, wenn Edgar Bauer, an dessen Kritiken sich Julian Schmidt herangebildet, des trockenen Tones satt wurde und nun einmal den „lustigen Teufel“ spielte? Oder ist dieser flotte Ton nur die Consequenz der Ueberzeugung, daß die deutsche Poesie, nachdem sie in vier Auflagen einer Literaturgeschichte todtgeschlagen worden, unmöglich noch ein Recht haben könne, wieder aufzuleben und alles, was mit dieser lächerlichen Prätension auftrete, nur als belachenswerthes Gespenst zu behandeln sei?

Dies burleske Referat über Gutzkow’s neuen Roman in den „Grenzboten“ hat um so mehr befremdet, als man darin eine Rücksichtslosigkeit erblicken mußte, deren sich der eine Herausgeber gegen den andern schuldig machte. Julian Schmidt durfte nicht vergessen, daß Gustav Freytag, der Verfasser von „Soll und Haben“, Mitherausgeber der „Grenzboten“ ist. Das Publikum, gewöhnt gerade durch die Brille der „Grenzboten“ in unserer Literatur nichts als Coterien und Reclamen zu sehen, konnte ja in einem schwachen Augenblicke auf den Gedanken kommen, diese vernichtende Kritik über den „Zauberer von Rom“ sei in Wahrheit nur eine Reclame zu Gunsten von „Soll und Haben“; und wenn man die Ueberschwenglichkeit des Lobes, das Julian Schmidt unsern Classikern abgespart hat, um es auf diesen Roman zu häufen, mit der gänzlich wegwerfenden Art und Weise vergleicht, mit welcher er Gutzkow’s Schriften behandelt, so wird wol niemand mehr an die Unparteilichkeit und Billigkeit dieses Kritikers glauben, oder ihm mindestens die für einen Kritiker sehr bedenkliche Hinneigung zu Monomanien zuschreiben müssen. Es ist kein Zweifel, Julian Schmidt leidet an einer Monomanie gegen Gutzkow, wie Pustkuchen, Menzel und viele andere an einer Monomanie gegen Goethe litten. Und wenn Julian Schmidt Gutzkow mit Kotzebue zusammenstellt, so ist auch dies nichts Neues und Unerhörtes. Von sehr [927] vielen Kritikern ist Goethe seinerzeit mit Kotzebue zusammengestellt worden. Man war aber stets der Ansicht, daß dadurch jene Kritiker nur sich selbst und nicht diese Dichter charakterisirt haben.

Die „Grenzboten“ haben offenbar in der Literatur ihre Mission verfehlt. Ein so liebenswürdiges Talent wie Freytag, ein so scharfsinniger Kopf wie Schmidt konnten durch kritisches Zusammenwirken und gegenseitige Ergänzung ein wahrhaft förderndes Organ für unsere literarische Entwickelung gründen, um so mehr, als sie gerade durch ihre politische Richtung der liberalen Schule, welcher auch Gutzkow angehört, innerlich verwandt waren und sich durch ihren trefflich redigirten politischen Theil stets ein großes Parteipublikum sicherten. Statt dessen überließ Freytag, der als producirender Autor empfänglichen Sinn, Geschmack und Phantasie besaß, die literarische Kritik fast gänzlich an Julian Schmidt, der von Haus aus mit Gervinus und der charlottenburger Kritik auf alle neue Poesie mit Verachtung herabsah. Geübt in scharfsinniger Analyse, brachte er dies zersetzende Element in seine Kritik: ein Element, das vielen Verirrungen, mancher krankhaften Richtung, ja dichterischen Incorrektheiten und Ueberschwenglichkeiten gegenüber nur vortheilhaft wirken konnte, aber ebenso oft, bei dem Mangel an phantasievoller Auffassung, in die größten Einseitigkeiten verfiel. Noch weniger besaß dieser Scharfsinn den Maßstab für die Größe und Bedeutung eines Talents; denn auf dem Secirtische liegt immer nur ein Cadaver, ohne Glanz und Blüte des Lebens, und wo das zergliedernde Messer sein Werk beginnt, ist immer der Reiz der Individualität schon erloschen. So kritisirte Julian Schmidt stets mit derselben ätzenden Schärfe; aber er charakterisirte nicht; er konnte kein lebensvolles Bild der Dichter schaffen. Anders auf dem Gebiete der Wissenschaft, besonders der historischen und philologischen. Hier genügten Studium, Verstand, Scharfsinn, Bildung, Sinn für die Auffassung von Richtungen und Tendenzen, um die literarischen Porträts der Autoren treffend zu zeichnen: und in der That sind es diese Abschnitte seiner Literaturgeschichte, welche verdiente Anerkennung fanden und dem Werk in kurzer Zeit eine große Verbreitung gewannen. Der Poesie gegenüber blieb die Stellung der „Grenzboten“ nicht immer dieselbe. Die Lyrik wurde mit Maßstäben gemessen, deren Ungehörigkeit klar an den Tag kam, wenn man sie an die großen Dichter alter Zeiten anlegte; Drama und Roman wurden in ihren Hauptvertretern, Hebbel und Gutzkow, heftig angegriffen, dagegen manche Mittelmäßigkeit protegirt und mit einer lobenden Schulcensur begnadigt. Nach dieser ersten Epoche der Grenzbotenkritik kam die zweite. In ihr erwärmte sich Julian Schmidt für die realistische Richtung und modificirte sein Verdammungsurtheil der neuern Poesie zu Gunsten von Berthold Auerbach, Otto Ludwig, Jeremias Gotthelf. Die dritte Epoche datirt von den neuen Auflagen der Literaturgeschichte, in denen theils angedeutet wird, daß es mit der deutschen Poesie wirklich zu Ende sei, theils in dieser Epoche des totalen Verfalls die mirakulöse Erscheinung von „Soll und Haben“ mit kritischer Korybantenmusik begrüßt wird. In dieser Epoche schweigen die „Grenzboten“ die neue Poesie zu Tode. Man findet in ihnen Artikeln über Handelskrisen, Festungsbaukunst u. s. f., aber nicht mehr über moderne Literatur. Sie haben aufgehört, ein kritisches Organ zu sein. Diese Kritik könnte ja nur noch „die Todten begraben“. Höchstens wird eine Hand voll kritischer Erde, deren chemische Beschaffenheit oft sehr zweifelhaft ist, ihnen in die Grube nachgeworfen. Große Werke werden in drei Zeilen recensirt; Versicherungen wie: „Dies Werk ist kein Fortschritt des Dichters“ und andere derartige Behauptungen gelten für Kritik. Um so auffallender war die Ausführlichkeit, mit welcher sich dies Blatt auf den ersten Band von Gutzkow’s neuem Roman einließ. Ein neuer Roman nach „Soll und Haben“ – eine „Ilias post Homerum“! Und gar Gutzkow noch immer am Leben, so oft er mit kritischer Keule todt geschlagen, mit der Zähigkeit eines Reptils wieder zusammenwachsend! „Kerls, wollt ihr denn ewig leben?“ rief Friedrich der Große seinen Grenadieren zu! Unsere deutsche Poesie ist dieser Kritik nur Futter für Pulver! Aus solcher Stimmung ging die im Blumauer’schen Stil abgefaßte Travestie des ersten Bandes des „Zauberers von Rom“ hervor, welche die „Grenzboten“ brachten. Ebendeshalb aber ist sie von doppeltem Gewicht; denn sie scheint anzudeuten, daß die Grenzbotenkritik an jenem vorgerückten Stadium ihrer Entwickelung angekommen ist, wo ihr Verwesungsproceß beginnt. Die Reife des Urtheils, mit welcher sie kokettirt, geht jetzt in Fäulniß über!

Der Schaden, den die „Grenzboten“ unserer literarischen Entwickelung zugefügt, ist bedeutender als der Nutzen, den sie durch die Bekämpfung verderblicher Richtungen geschaffen. Es gibt eine Oekonomie der Literatur, wie der Natur, und auch der Haushalt der ersten ist so organisirt, daß dieselben kritischen Geschöpfe, die unsern dichterischen Pflanzungen auf der einen Seite Schaden thun, indem sie dieselben abfressen, auf der andern Seite wiederum durch die Vertilgung schädlichen Gethiers ihnen Nutzen schaffen. Indeß wenn auch die Sperlinge noch so viel Raupen fortfressen, es kommt die Zeit, wo man unsere Weinberge und Kornfelder durch Vogelscheuchen gegen sie sichern muß. Es ist unglaublich, welch ein „Laich“ von Schülern oft hinter den unproductivsten Köpfen herschwimmt! So hat auch Julian Schmidt eine Schule, eine Coterie oder wie man’s nennen will, hinter sich: seichte Köpfe, ohne die Bildung und den Scharfsinn ihres Meisters, aber ihre Orakel mit unfehlbarer Sicherheit verkündend! Gestützt auf eine dem idealen Streben abgewendete Zeitrichtung, ohne alle poetische Begabung, vielleicht durch einige literarische Fiascos davon belehrt, voll Haß gegen die Production und den Erfolg und mit giftigen Stichen über alles herfallend, was das Niveau ihrer eigenen Mittelmäßigkeit überragt, bildet dieser kritische Schwarm eine Geisel für unsere Literatur. Man kann dreist sagen, es gibt in ganz Deutschland nur noch eine Coterie: die Coterie der „Grenzboten“! Sie hat alle andern vertilgt und sich an ihre Stelle gesetzt; aber auch ihre Stunde dürfte geschlagen haben.

[928] Wenn wir, angeregt durch ihre jüngste Kritik des obigen Romans, die Anklage gegen die kritische Wirksamkeit der „Grenzboten“ formuliren sollten, so würden wir folgende Punkte hervorheben müssen:

Sie haben durch eine einseitige, oft sogar erbitterte und parteiische Kritik die Production der Gegenwart zu entmuthigen und im Publikum, welches sich stets durch Sicherheit der Behauptungen imponiren läßt, den Glauben an ihre Berechtigung, ihren Werth und ihre Triebkraft zu untergraben versucht.

Sie haben, im Gegensatz zu einer Entwickelung und Richtung, der wir Schiller’s und Goethe’s classische Meisterwerke verdanken, einer einseitigen realistischen Richtung mit vollkommener Ueberschätzung einzelner Leistungen das Wort geredet.

Sie haben, wie auch ihr neuester kritischer Versuch beweist, stets den moralischen und ästhetischen Maßstab verwechselt und einem engherzigen Philisterthum die Stätte bereitet, die nur der Genius einzunehmen berechtigt ist.

Diese Anklagen zu beweisen, ist hier nicht der Ort. Es wird uns vergönnt sein, dies an einer andern Stelle zu thun. Hier müssen wir von einem keineswegs überflüssigen Excurse zu unserm Roman zurückkehren.

Die beiden vorliegenden Bände unterscheiden sich in der Darstellungsweise und dem Grade des epischen Behagens, mit welchem die Ereignisse ausgemalt sind. Der erste ist ein Cyklus von Novellen und Abenteuern in raschem Wechsel, in bunter bewegter Schilderung, mit jener Spannung, welche sich an die Märchenwelt des Orients, an die altitalienische und neufranzösische Novellistik knüpft. Wie in einer Camera-obscura fliehen Bilder und Gestalten an uns vorüber, aber nicht, um auf immer von uns Abschied zu nehmen, sondern indem sie auf ein künftiges bedeutungsvolles Wiedererscheinen hinweisen. Ein flüchtiges biographisches Skizzenbuch einer bestimmten Lebensepoche voll kecker Randzeichnungen, deren Bedeutung für das Bild erst aus dem Fortgange des Romans erhellt!

Das erste der neun Bücher ist nur ein Vorspiel, der erste schwere Jugendtraum eines in solcher Art (aus Licht und Schatten) „gemischten“ Charakters. Der Roman selbst, sowol in Form wie Bedeutung nach den Anforderungen an einen Roman des 19. Jahrhunderts, wie ihn der Verfasser in seinen „Rittern vom Geiste“ zu definiren wagte, beginnt erst mit dem zweiten Buche. Die kleinen Funken, die dort erst zu zünden bestimmt sind und die in den Vorgängen des ersten Bandes, dem jungen Dämmerleben einer weiblichen Seele, nur spielend auf- und niederhüpfen konnten, wird des Kenners Auge leicht herausfinden.

In der That erläutert der zweite Band diese Worte der Vorrede. Hier ist die Darstellungsweise echt episch, ohne Sprünge in Raum und Zeit, behaglich verweilend und ausmalend, ähnlich wie in den „Rittern vom Geiste“. Das Interesse knüpft sich an die allmähliche Entfaltung der Charaktere und der Handlung, mit welcher sich gleichzeitig ein Culturbild des katholischen Lebens abrollt. Der erste Band ist, wir möchten sagen, im Stile des subjectiven Romans geschrieben, die Heldin ist der Mittelpunkt; alle Ereignisse erhalten nur Werth durch ihre Beziehung auf sie. Der zweite Band hat die echt objective Haltung, welche für das ganze übrige Werk in Aussicht gestellt ist. Die Erlebnisse der Heldin bilden nur den Faden, der uns in und durch jene großartige Welt führt, welche darzustellen die Aufgabe des Dichters ist. Nun könnte man fragen, warum der Dichter eine solche Vorgeschichte der Heldin in glänzenden Skizzen für nöthig gehalten und so dem Publikum gegenüber gewissermaßen den Standpunkt seines Werks verrückt habe? Warum er es nicht vorgezogen, in echt epischer Weise durch spätere Einschachtelungen diese Jugenderlebnisse nachzuholen? Doch gewiß hätte dies den geistigen Schwerpunkt des Romans verlegt und ihm einen zu großen Ballast von persönlichen Antecedentien aufgebürdet, während er bereits zu den größern Dimensionen eines Weltbildes sich erweiterte. So zog es der Autor vor, diese Jugendgeschichte als eine Art biographischer Ouvertüre dem Werke vorauszuschicken, auf die Gefahr hin, die Phantasie des Publikums durch den raschen Wechsel spannender Ereignisse zu verwöhnen und übelwollenden Kritikern Gelegenheit zu voreiligen Angriffen zu bieten.

[...] [929] [...]

Dieser Lebensgang ist in der That reich an auffallenden und befremdenden Dissonanzen; selten hat wol ein groß angelegtes Werk eine so kecke Ouvertüre gefunden. Es ist unschwer, das Publikum über diese Keckheit in gerechtes Staunen zu versetzen und nachzuweisen, daß das Buch an allen Ecken und Enden über die moralische Schablone hinausrage, die eben bei soliden Firmen im Schwang ist. In der That hätte Gutzkow besser gethan, die Häufung des Bizarren in dem ersten Buche zu meiden, obwol der Kern seines Werks nicht dadurch berührt wird. Dies erste Buch hat eine vollkommene künstlerische Einheit, und erweckt die dichterische Stimmung, die der Tendenz des Verfassers entspricht: die Stimmung eines wildbewegten wüsten Jugendtraums, der an seiner passiven Heldin vorüberrauscht! In ein Leben voll Sturm und Drang verstrickt, an allen seinen Abgründen vorübergeführt, bringt sie diesem noch kein vollentwickeltes Bewußtsein entgegen. Ihre Seele ist zwar kein unbeschriebenes Blatt, aber ihr fehlt noch für die Chiffren, die das Schicksal daraufgeschrieben, das volle Verständniß. So bilden die Ereignisse dieses Buchs in der That eine wunderliche Chiffreschrift, deren vollständige Lösung auch für die Seele der Heldin erst der Fortgang des Romans bringen kann. Aber der Eindruck, den sie machen, ist traumhaft; traumhaft die ganze Darstellungsweise, dies Rasche, Skizzenhafte, Blitzartige der Begebenheiten; diese Naivetät, [930] womit der Traum das Ungewöhnliche aneinander reiht, diese seltsamen Menschenbilder, die auftauchen und verschwinden, diese grellen Schlagschatten, die auf das Leben fallen! Und mitten in diesem Traum die Träumende, mit den wechselnden Gaukelbildern, die des Herzens wachsendes Bedürfniß ihr vorführt und unter all den Beängstigungen, die auf sie einstürmen, angewiesen auf den Kampf um die Existenz, ein Kampf, der das einzig Bleibende ist in allem Wechsel und in den Täuschungen des Herzens, den angeborenen Instinkt des Verstandes schärft und zuspitzt. Der Dichter hat das Recht, auf ein Verständniß seiner Intentionen zu rechnen. [...]

Was die Heldin selbst betrifft, so kann es dem Aesthetiker nur darauf ankommen, ob ihre psychologische Entwickelung folgerichtig und interessant ist. Lucinde ist kein Backfischideal, kein wohlerzogenes Töchterchen alter Familien oder Firmen. Es ist ein Proletarierkind, hinausgestoßen in das Leben, fortwährend genöthigt, sein Recht der Existenz durch die That zu beweisen. Ein Proletarierkind muß aber viel erleben, was seinem Kopfe, auf Kosten seines Herzens, zur Selbständigkeit verhilft, muß viel mit ansehen und mit anhören, was die feinern Nerven der Töchter höherer Stände nicht zu ertragen brauchen. Lucindens Vater stirbt an den Folgen des Trunkes; selbst arm muß sie noch für die Geschwister sorgen. Ihr Märtyrerthum bei Frau von Buschbeck macht sie zur Lauscherin, sie sucht den Schlüssel für das Unerklärliche; die Scene bei dem Kaufmann macht sie stolz auf die Mitwissenschaft so unerhörter Dinge. Als sie sich klug dünkt und von ihrer frühern Dummheit spricht, ist sie selbst noch so urtheilslos, dem betrügerischen Kaufmann nach Amerika zu folgen. Später weihen sie die Verhältnisse selbst in die Verdorbenheit der höhern Kreise ein. [...]

Die Liebe Lucindens zu krankhaften Naturen, dem genial überreizten Opiumesser Klingsohr oder dem elegischen schwindsüchtigen Serlo kann nicht von Dauer sein. Bedeutsamer kündigt sich am Schlusse ihr Interesse für Bonaventura an.

Wir wiederholen, Lucinde ist kein Muster für Confirmandinnen, sie hat nicht einmal einen empfehlenswerthen Charakter. Sie ist durch ihr Geschick in eine beobachtende, lauschende, kritische Stellung gedrängt; sie wühlt, wie der Autor sagt, mit dem Verstande vor; durch die Fülle des Ungewöhnlichen, das ihr begegnet, hat sie sich mit einem starken Panzer von Indifferenz und selbständigem Sinne gewaffnet. Sie spielt mit dem Leben, sie hat etwas von einem Alp, einem Gnom und gefällt sich, bisweilen Verwirrung und Verwüstung anzurichten. Es ist der Stolz des Proletarierkindes, daß sie es vermag. Ihr Aeußeres hat etwas Elfenhaftes, Lacertenartiges, den Reiz einer aparten Natur. Die kieler Offiziere sagen: sie hat Rasse. Von einem dichterischen Offizier wurde sie als eine „künftige Sibylle“ bezeichnet. Klingsohr selbst nannte sie oft in seinen Zornausbrüchen ein Weib ohne menschliches Blut, ein Halbgeschöpf von Feuer und von Wasser, eine Fischnatur, eine Melusine. Sie kennt keine Uebereilung der Sinne, doch hat sie Lust an Spuk und Schadenfreude. In der That, sie ist keine weibliche Dutzend- und Schocknatur, und bestimmt unter die Haube zu kommen und dadurch bei fühlenden Herzen die unvermeidliche Rührung hervorzurufen. Der Autor selbst warnt vor ihr.

[...]

Aber diese Tochter Lucifer’s ist ja auch nicht die Heldin eines gewöhnlichen Heirathsromans; sie ist die Heldin einer großen Epopöe des Katholicismus. Und wie fein hat sie der Dichter bereits mit dem Instinct des Jesuitismus ausgestattet; wie ist ihr ganzer Charakter darauf hin angelegt, sie zu einer bedeutenden Rolle in der ultramontanen Welt zu befähigen! Wie geeignet zeigt sie sich zur Trägerin der tiefern Intentionen des Verfassers, sie, die schlaue Ariadne, deren Faden uns durch die geheimsten Labyrinthe jenes kolossalen Wunderbaues führen wird, dessen innere und äußere Architektonik und verschlossenste Mysterien der Dichter darlegen will.

Was nun die Sittlichkeit betrifft, so haben die wackern Mouchards der Moral in den „Grenzboten“ bereits den nöthigen Lärm geschlagen und den ersten Band als anstößig, schmuzig u. s. w. denuncirt. In der That sollte man an eine Seelenwanderung in Bezug auf literarische [931] und kritische Geister glauben. So feiert der kritische Urphilister immer wieder eine neue Auferstehung und heißt bald Gottsched, bald Nicolai, bald Wolfgang Menzel, bald Julian Schmidt. Es ist immer derselbe, in der Retorte erzeugte Homunculus, der aus einer zugepfropften Flasche hinaus in die Welt das imposante Licht seines abstracten Vaters Wagner ergießt! Es muß einmal in der Literatur derartige Gensdarmen geben, welche hinausrufen: „Die Polizeistunde hat geschlagen; ihr poetischen Geister, Marsch nach Hause!“ Die Verwechselung des moralischen und ästhetischen Maßstabes ist so alt, wie die Geschichte der Literatur und Kritik! Und doch ist es ein einleuchtendes Axiom der Aesthetik, „daß die Sittlichkeit eines Dichtwerks erst aus der Stellung beurtheilt werden kann, die das Ganze zur sittlichen Idee einnimmt“. Wenn man dagegen anführt, daß schon Einzelheiten, daß schon das wohlgefällige, breite Ausmalen frivoler Situationen gegen die Moral verstößt, so wird sich das immer nur bei Autoren finden, denen diese Frivolität letzter Zweck ist, und daher auch das ganze Werk in diese schiefe Stellung zur Sittlichkeit rücken. Ueber den ganzen Roman Gutzkow’s abzuurtheilen, wäre voreilig; doch zeigt bereits die ausgesprochene Tendenz des Verfassers, wie die hindurchgehenden moralischen Dissonanzen zu deuten sind. Im einzelnen bewegt sich die Heldin – und dies gilt auch vom zweiten Bande – zwar fortwährend in Lebensstellungen, die man zweideutig nennen muß, gegenüber allen Verhältnissen, die auf dem gesicherten Boden des Familienlebens ruhen, aber nirgends greift die Muse Gutzkow’s zur Feder eines Crebillon und Louvet oder nur eines Wieland, Friedrich Schlegel und Heinse, um durch wollüstige Bilder die Phantasie zu erregen und Nuditäten zu malen für das Bedürfniß feinschmeckender Weltmänner. Will man aber auch aus den Werken der Poesie freiere Bewegung des Lebens verbannen, will man auch sie zurückführen auf jene scrupulöse Solidität, welche mit den nöthigen Trau- und Taufscheinen und sonstigen Legitimationspapieren durch das Leben wandert und die zu allem, was sie thun will, erst den Consens der Aeltern und des Vormundes einholt; nun, so schlage man alle großen Romanpoeten von Boccaccio bis Goethe todt und bekenne mindestens, daß Goethe’s „Wilhelm Meister“ mit seinen Philinen und Mariannen – ein Roman, der gleich mit einer polizeiwidrigen Schwangerschaft beginnt – ebenso gut wie der „Zauberer von Rom“ die travestirende Kritik der „Grenzboten“ herausfordert.

[...]

Der zweite Band führt uns an den Rhein. Lucinde Schwarz soll Gesellschaftsdame des Dechanten von Kocher am Fall werden. Hier bewegen wir uns langsam in Raum und Zeit mit dem echten Behagen des Epikers, der mit offenem Auge das Größte und Kleinste der Welt, alles, was Gestalt und Seele hat, betrachtet und in den Kreis der Dichtung zu ziehen weiß. [...] [932] [...] Es würde einen größern Raum erfordern, als der uns hier zu Gebote steht, um auf die Fülle geistvoller Bezüge im einzelnen einzugehen. Nun aber die Gestalten auf diesem Boden des Katholicismus, die kirchlichen Würdenträger! Nur ein Dichter, der im geistigen Mittelpunkte des Lebens steht, kann über seine Charaktere diesen Reiz, die Fülle von Contrasten ausgießen, während die sogenannte realistische, das heißt meistens flache, äußerliche Darstellungskunst rasch mit ihren Mitteln zu Ende ist. Da ist zuerst die ideale, wie von einem Altarbild losgelöste Erscheinung des Bonaventura, um welche der Dichter einen fesselnden milden Zauber gebreitet. Wie groß ist seine Kunst, den edeln Priester uns nur in Situationen vorzuführen, um welche die echt menschliche Poesie des Katholicismus schwebt! So an der Leiche des alten Mevissen, so wie er, vom magischen Lichtglanz umflossen, aus der Sakristeithüre mit dem Hochheiligsten tritt, wie er der Sterbenden die letzte Oelung ertheilt. Ihm gegenüber im grellen Gegensatze der fanatische Klopffechter Beda Hunnius, der Dichter der „Jerichorosen“ und der „Lacrymae Christi“, der mit pfundschweren Stiefeln durch die Straßen schreitet, mit gewaltiger Hand auf das Kanzelpult schlägt und als Redacteur des Kirchenblattes seine Kämpfe mit der Censur wacker und in beständiger Aufregung durchficht. Dann wieder der Pater Sebastus, der Proselyt Klingsohr, der Jesuit, der sich die Dialektik norddeutscher Philosophie angeeignet, mit seinem logischen und doctrinären Fanatismus, und ihm gegenüber der Dechant, mit dem ästhetischen Anflug des französischen Abbé aus dem vorigen Jahrhundert, mit dieser wohlwollenden, echt humanen Gesinnung und dem feinen Lächeln des Epikuräismus! In der That, wer Charaktere so aus dem Geist heraus zu schaffen und zu gruppiren versteht, der erweist sich als echt deutscher Romandichter, der nicht jenseit des Kanals in die Schule gegangen. Auch Gutzkow hat Humor, doch es ist nicht der Humor Cruikshank’scher Gestalten, nicht der realistische Humor von Dickens und Thackeray; es ist ein deutscher Humor, der aus geistigen Tiefen kommt und nicht in einer Tonart aufgeht, sondern die verschiedensten Töne anzuschlagen weiß, von der feinen Ironie und dem ätzenden Sarkasmus bis zur übersprudelnden Lebendigkeit des heitersten Sinnes. Sein Gensdarmenwachtmeister Grützmacher, der Lebküchler, Wachslichterfabrikant und Meßgewandsticker Schnuphase, der Figaro des Domstifts und andere volksthümliche Episoden sind mit einer Fülle realistischer Züge ausgestattet und brauchen Herrn Pix nicht um seinen stereotypen Pinsel zu beneiden. Vortrefflich ist die Schilderung des Gelags der jungen kölnischen Kaufleute: hier ist echte Lebenswahrheit und feinste Ironie, allerdings eine andere Auffassung der Sphäre von „Soll und Haben“, als die Freytag’sche, aber mindestens ebenso berechtigt. Ueberhaupt zeigt hier Gutzkow eine Seite seines Talents, die für einen Culturmaler der Gegenwart unentbehrlich ist: den Sinn für das feinste Arom der provinziellen Unterschiede, der eigenthümlichen geistigen Lebensatmosphäre, die über den einzelnen Städten ruht. Wer fühlt nicht gleich am Anfange seines Romans das Aermliche, Gedrückte des kurhessischen Lebens in Land und Stadt heraus? Wie meisterhaft ist die Schilderung der hamburger Zustände, eine so treffende Genre- und saftige Stillebenmalerei, daß jeder, der das Leben und Treiben der Hansestadt kennt, sich wie angeweht fühlt von seinem Hauche. Solche Wirkungen lassen sich nur durch eine realistische Darstellungsgabe erreichen, die, von geistiger Feinfühligkeit und Feinspürigkeit getragen, nicht in den Aeußerlichkeiten aufgeht, die sie schildert, sondern in ihnen das Siegel geistiger Bedeutung ahnen läßt. Vergleicht man mit dieser Schilderung des hamburger Lebens die des rheinländischen, welches sich in denselben kaufmännischen Kreisen bewegt, so wird man die Kraft genialer Individualisirung anerkennen müssen, die sich nicht blos auf einzelne Gestalten erstreckt, sondern auch die verschiedenen Schattirungen unsers nationalen Lebens mit großer Treue wiedergibt.

Ueber die eigentlich romantischen Verwickelungen, deren Fäden jedenfalls mit wachhaltender Spannung geschlungen sind, wäre es voreilig, vor ihrer endlichen Lösung ein Urtheil fällen zu wollen. Doch daß auch sie alle in enger Beziehung zur Grundidee des Ganzen stehen, zu seiner geistigen Centralsonne, dafür bürgt uns das künstlerische Verständniß, das der Autor in den bereits übersehbaren Partien seines Werks an den Tag legt. Wir leugnen nicht, daß einzelne grelle Stellen des ersten Bandes sich in ihrer Nothwendigkeit noch später rechtfertigen müssen, daß hier und dort eine vielleicht überflüssige Bizarrerie und herausfordernde Keckheit die große Masse der Leser befremdet: aber diese Einzelheiten verschwinden in dem vollen Gusse eines großartigen Ganzen.

Was den Stil betrifft, so ist er fortwährend von dem gewürzhaften Duft eines scharfen und feinen Geistes durchzogen und trägt überall den Stempel einer dichterischen Originalität, die zwar weniger für das Gewaltige und Hochaufrauschende des Gedankenwogenschlags, als für die fein ausgesponnene Dialektik der Empfindungen und Gedanken organisirt, dennoch an geeigneter Stelle über ein entschiedenes Pathos gebietet. Die Darstellungsweise ist von einer Lebendigkeit, welche mit allen Stilmitteln den Zauber und die Bewegung des realen Lebens zu erreichen sucht. In diesen geistreichen Verknüpfungen der Reflexionsfäden, in diesem Wiederaufnahmen von Gedankenmaschen, die der Dichter anscheinend fallen ließ, in diesen kurzen, hastigen, abgebrochenen Sätzen bei der Schilderung lebhafter innerer oder äußerer Vorgänge, welche die Phantasie unwillkürlich gefangen nehmen, in diesen behaglich ausgedehnten Perioden bei humoristischen Excursen und in den wohlgeordneten, logisch schlagkräftigen Sätzen bei tiefer gehenden Entwickelungen liegt mehr stilistische Kunst, als die Sorglosigkeit des Lesepublikums ahnt und die Böswilligkeit parteiischer Kritiker einzuräumen für gut findet. Was man diesem Stil – der offenbar bewegter und lebendiger ist, als der Stil der „Ritter vom Geiste“, aber auch unruhiger, arbeitender und gährender – allenfalls zum [933] Vorwurf machen könnte: dies Ineinanderwinden geistiger Arabesken, die oft verwirrende Fülle von Beziehungen, welche in die Perioden hineinreflectirt; das sind Fehler des Reichthums, von denen frei zu sein der Armuth nicht zu sonderlichem Lobe gereicht.

In Deutschland muß jeder Autor mit jedem Werke wieder von vorn anfangen, er bedarf immer wieder einer neuen Legitimation. Wohlerworbener Ruhm gilt gar nichts und wird von der tonangebenden Kritik ignorirt oder in die Pfanne gehauen. Doch die sterilste Periode deutscher Kritik wird bald vorübergegangen sein. Noch eine solche Kritik, wie die über den „Zauberer von Rom“, und das ganze Publikum wird mit Indignation das testimonium paupertatis acceptiren, das sich eine einseitige, gehässige, allen poetischen Verständnisses bare Kritik ausstellt. Die Zote im Munde des Pedanten – das ist der kritische Bankrott! *)

20. Alexander Jung, 28. Dezember 1858#

Alexander Jung: „Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Erster Band. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1858.“ 371 Seiten. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 303, 28. Dezember 1858. S. 1907 (Rasch 14/34.58.12.28).

Karl Gutzkow ist ohne Zweifel derjenige Schriftsteller, in dem sich die deutsche Literatur der Gegenwart am vollständigsten zusammenfaßt, so jedoch, daß in ihm die reichen Saaten unseres klassischen und romantischen Zeitalters ununterbrochen fortwachsen, vor allem aber die Jetztzeit zu demjenigen Ausdrucke gelangt, der ihren ganz eigenthümlichen Grundcharakter und Schmelz zur Erscheinung bringt. Man muß freilich, um dieses zuzugeben, in keinem Vorurtheile befangen sein, man muß sich durch keine Parole irgend welcher Coterie bestimmen lassen, man muß urtheilen nach dem Vielen, Vortrefflichen, das von Gutzkow bereits vorliegt, um daraus die günstigsten Schlüsse für das Weitere zu ziehen. Ein gewisses Entferntsein, dem Orte nach, von der Hauptströmung unserer heutigen Literatur-Ereignisse, um nicht auch in die Schatten jener tobenden kritischen Strudel und Klein-Neidereien hineingewirbelt zu werden, bei denen der Sprecher oft sein eigenes Wort nicht versteht, geschweige das des Andern, kommt dem allen zu Statten. Hiesige Autoren sind mit es zuerst und auch später gewesen, welche auf den außerordentlichen Beruf unsers Dichters aufmerksam gemacht haben; der Verfasser dieser Kritik darf sich zu denselben zählen. [...] Gutzkow vereinigt in sich etwas von Lessing, Göthe und Jean Paul. Mit Lessing theilt er die Eminenz und Reinheit des Verstandes, mit Göthe die Kunst der Gruppirung, die Klarheit und Sauberkeit der Darstellung, mit dem Großmeister des Gedankens und der Landschafterei, mit Friedrich Richter, die Resonanz des Gemüths, die Vielzahl der Gesichtspunkte, den satirischen Humor, die innige Hingebung an die Natur und lebendige Wiederbringung ihres Lebens, ihrer Gestalten, bis in Zeichnung und Farbe. Das jedoch, was Gutzkows Eigenthümlichkeit ganz besonders ausmacht, ist dieses, daß er bei seinem Schaffen auch mit dem Blicke des Denkers unverkennbar auf dasjenige gerichtet ist, woraus die Menschheit herkommt, was sie selbst mit all’ ihren dämonischen Verborgenheiten bedeuten mag, daß er das ganze Panorama seiner Zeit zusammen[baut? Textverlust des Verbs in Zeitungsvorlage], stets auf den Zeitgeist lauscht, nie auch im Romane – wo es so nahe liegt – ihm sich bequemt, daß er die Charaktere seines Jahrhunderts trifft, sie aber stets mit Ironie zeichnet, malt, meisterhaft dialogisch aneinander bringt, [was? Textverlust] da beweist, daß er ihre Endlichkeit und Schranke mitgeschaut hat, so daß er sie auf höhere Ziele als die heutigen, auf jene großartigen der Menschheit hinlenkt, die er als die ewigen Ideale hindurchleuchten läßt. Freilich mußte Gutzkow, um das zu leisten, höher und tiefer greifen, als die bisherige Charakterdarstellung erlaubte, höher und tiefer sogar als die geltende Skala der Sprache hergebracht hatte, da deren gesammte Instrumentirung für dergleichen nicht ausreichen wollte. Gutzkow ist daher auch in seinen Romanen nicht gemeint, gewissen Schichten der Gesellschaft zu behagen, ihnen zu schmeicheln, er hat mindestens zunächst seine Nation vor Augen mit all’ der Bildung, die er in ihr voraussetzen darf, jedoch auch mit der, welche sich aus dem allgemeinen Fortschritte ergeben wird. Es ist daher Verschrobenheit, Verwechselung des eigenen, engen Horizonts mit dem eines solchen Dichters, wenn man aus einem gewissen Feuilleton- und Publicisten-Tik und Behaben heraus behauptet, Gutzkow gebe Zeitgemälde. Er giebt sie, aber mit Ausstellung dessen, was der Zeit fehlt, und bringt daher stets Gestalten herauf, die urneu, und das sind, was überall sein sollte, oder auch solche, deren hinreißende Parodie und Dämonie nur die Satyrhüllen abgeben, welche den Menschen der Zukunft in sich tragen. So schafft Gutzkow stets mit dem selbstbewußten Stolze des Genius, unbekümmert, wie Viele ihn völlig verstehen werden. Auch der Beginn des vorliegenden Romans ist die reiche Bewährung des Gesagten. Der Verfasser bemerkt in dem Vorworte bescheiden und doch viel verheißend, sein Werk „wolle beitragen helfen die vaterländische Einheit zu fördern.“ Sein Roman beginnt einfach genug mit der Idylle eines Schulmeisters, der auch seinen Rosenmonat gehabt hat, jetzt aber ist seine Idylle von Sorgen, Dornen und Hecken umzogen. Aber er hat unter andern Kindern eine Tochter, in der Außerordentliches angelegt ist, welche die ganze Misère ihrer Umgebung durchschaut, das Wenigste von dem ausspricht, worüber sie grübelt, und sich jedenfalls zu helfen wissen wird. Lucinde könnte leicht die Zukunft dieses Romans in Händen haben. In ihr regt sich ein gewaltiger Dämon. Sie hat Verstand, hat Phantasie; sie hat einen hartnäckigen Charakter. Es fehlt ihr sicher nicht an Gemüth, aber sie läßt sich nie durch die Empfindung bestimmen, am wenigsten fortreißen. Sie ist sich selbst noch unberechenbar, und liebt es in jeder Lage, einen lustigen, neckischen Taubenflug von Launen und Einfällen in die Höhe zu jagen, da aber sofort zu weichen, wo man sie einengen oder gar beherrschen will. Auch daheim hält sie es nicht aus. Sie begiebt sich zu einer „Frau Hauptmännin“. Bald jedoch entfernt sie sich von dieser Gräe, deren Inneres unheimliche Geschichten birgt. Sie begiebt sich in die Familie eines Stadtamtmann’s. Wir finden sie dann auf der Flucht mit Oskar Binder, der sie jedoch auch bald mit Grauen erfüllt. Sie entflieht ihm, und wir sehen sie auf der Hangematte eines Baumes in anmuthiger Zuversicht und Abenteuerlichkeit. Wunderbare Schauer, die solche Resolutheit und Natureinsamkeit umweben. Der Aufenthalt beim Pfarrer, die Sympathieen eines gemüthskranken Kammerherrn für sie, Scene für Scene spannende, glänzende Erfindungen! Der Kronsyndikus potenzirt das alles; eine Figur höchst eigenthümlich ersonnen, eine köstliche Bereicherung des Geschlechtes jener „tollen Hagen“, von welchem Göthe berichtet.

Auf dem Schlosse Neuhof, wo wir mit Lucinden verweilen, werden wir mit alter Aristokratie bekannt, ein ganzer Stammbaum säuselt und rauscht um uns, versperrt uns fast den Weg, doch die Schlaglichter, welche in seine Aeste und Zweige fallen, sind so ergötzlich, daß wir in heiterster Stimmung mit Lucinden den See des Parks durchfahren. Wir verdenken es unserer Freundin nicht, daß sie an Dr. Klingsohr Behagen findet, daß sie ihn lieben könnte. Aber sie wittert mit ihrem frischen Natursinn an jener modernen Eleganz und Weltschmerzlichkeit alles Nöthige bis auf den Opiumrausch und wird bald wieder frei sein. Die Ermordung des Deichgrafen, die Aufgestörtheit des Kronsyndikus, die absolute Herrschaft, in die er die Liebenden setzt über das ganze Hauswesen, für das ausgelassenste Banquet, das je gegeben ward, mit Worten, die S. 176 wie aus der Hölle hervor dröhnen, es sind Anschauungen und Darstellungen, die den höchsten Genius bekunden. Doch – Lucinde stößt schon wieder diese ganze Welt hinter sich, als wäre ihr innerster Mensch davon empört. Wir finden sie in oder bei Hamburg. Was soll ihr aber auch die Aristokratie des Geldes, der Hansa, die Börsenspekulation? Noch dazu Knappheit, Beengtheit in aller Fülle. Hinweg aus diesen Philister- und Jungfern-Scenen, die schon am Theetopf ihre Befriedigung erfahren. Tragisches wirft sich so wie so dazwischen. Wir treffen Lucinde in Kiel. Ihr Bekanntwerden mit Serlo’s, Mann und Frau, ist ein kühner Griff des Dichters. Es ist stets gewagt, vollendete Charaktere noch einmal bei Namen zu rufen. Wer erinnert sich nicht der beiden Serlo, Schwester und Bruder, aus Wilhelm Meister? Gutzkow aber wagt es, und giebt uns Ausgezeichnetes. Endlich finden wir Lucinden gar auf dem Theater. Noch dazu fällt sie durch, doch nimmer wird sie an sich selbst irre. Ja, wir finden sie in einem orthopädischen Institut als Lehrerin. Sie wird katholisch. Hier schließt der erste Band. Ueber dies Finale ist ein wunderbarer Duft und Liebreiz ausgegossen, ein Duft, der freilich über dem Ganzen liegt, ungeachtet der Klarheit der Gestalten. Wer ahnt es, was kommen wird? Keiner. Alles in Allem. Dieser erste Band, das Produkt eines Meisters, könnte uns gemahnen, wie eine prächtige Gobelin-Tapete, die uns noch alles verdeckt, wie ein Vorhang, auf dem der Meister in seiner seelenvoll-herrlichen Malerei wie Rubens und Rembrandt verfuhr. Alles ist auf die Wirkung in die fernste Ferne berechnet, und doch steht alles so nah und so sauber und detaillirt vor unsern Augen, und doch ist auch wieder nichts bloß berechnet, alles und jedes so tief gefühlt. Wenn aber auch schon der Vorhang uns in dem Grade fesselt, daß wir seine Gestalten studiren, daß er uns eine entzückende Perspektive vorhält, welche Scenen werden sich erst aufrollen? welche Perspektive wird er uns eröffnen und zur mit erlebten Welt werden lassen? Glück und Dank dem Genius, der uns so spannen konnte!

21. Deutsche Allgemeine Zeitung, 8. Januar 1859#

[Anon. Notiz.] In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 6, 8. Januar 1859, S. 52. (Rasch 14/34.59.01.08)

* Von Gutzkow’s „Zauberer von Rom“ ist soeben der dritte Band erschienen. Der Roman hat bereits so zahlreiche Leser gefunden, daß die Verlagshandlung, wie wir hören, sich gleichzeitig zu einer zweiten Auflage der ersten beiden Bände entschließen mußte, obwol die erste Auflage schon eine viel stärkere war, als sonst bei deutschen Romanen üblich ist. Uebrigens ist diese zweite Auflage der ersten Bände im wesentlichen als eine unveränderte zu bezeichnen, da sich der Verfasser dabei nur auf die Correctur einiger Druckfehler beschränkte. Auch im Auslande hat der Roman bereits Aufsehen erregt, namentlich in Nordamerika, weshalb sich die Verlagshandlung, um zugleich den Nachdruck des Romans daselbst unmöglich zu machen, zum Druck einer amerikanischen Originalausgabe entschlossen hat, welche ihre Firma und zugleich die von B. Westermann u. Comp. in Neuyork trägt.

22. Karl Frenzel (?), 16. Januar 1859#

[Karl Frenzel?:] × Leipzig, 15. Jan. [Korrespondenz]. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 13, 16. Januar 1859, S. 112. (Rasch 14/34.59.01.16)

Der dritte Band von Gutzkow’s „Zauberer von Rom“ überragt an Spannung und Fortschritt der Handlung unstreitig noch den zweiten Band. Die große Scene bei dem Kirchenfürsten hat noch ein tieferes Colorit als die allgemein gewürdigte Priesterversammlung in Kocher am Fall. Auf das glücklichste verbindet sich in ihr das allgemeine, politisch-kirchliche Interesse mit dem Geschick der einzelnen, mit der Entwickelung Bonaventura’s, für den wir zu sorgen, Klingsohr’s, den wir zu bemitleiden beginnen. In welches Elend, welche geistige Verkommenheit hat diesen seine Schuld und sein Wesen gestürzt! Die Vorwürfe gegen diese Gestalt erhalten hier eine glänzende Erledigung. Das Räthselhafte dieses Charakters in seinen scheinbar wilden, unmotivirten Sprüngen löst sich: es ist das Umtreiben eines eiteln, selbstgefälligen Subjectivismus, dem alle Stützen brachen und der nun willenlos bald dieses, bald jenes, Schatten oder Wesenheiten, Opium oder Kirche, als ein ihn rettendes und sicherndes Positives ergreift. Wer gedenkt da nicht gewisser neuester Conversionen, z. B. von – Hafis zu Rom! Und neben dem Bedeutsamen, Tragischen fehlen dann auch weder die lieblichen Züge, wie die reizende Scene zwischen Treudchen und Madame Delring, Armgart’s ganze, elfenhafte Erscheinung, die Fahrt auf dem Rhein, noch jene charakteristischen Zeichnungen mit dem eigenthümlichen Halbdunkel, in dem der Dichter Meister ist. Da ist dieser Jodokus Hammaker, der ewig grüßend, unruhig und unstet an Benno vorüber dem Franciscanermönch nachschleicht, einen Morde als That auf der Seele und wie viel in Gedanken umwälzend! An die Häuser drückt er sich scheu entlang – die That mit dem ganzen und unendlichen Gefolge des Vorangegangenen und Kommenden hinter ihm, die Weise, in der dieser Geisterzug geschildert ist und der Dichter die Verbrecherseele wie im Wirbel getrieben sein läßt, hat etwas unnachahmlich Düsteres und Ergreifendes. Daneben Stephan der Küfer, dem in seinen Kellern das Gesicht des Deichgrafen erscheint, den alte Beleidigung nicht ruhen läßt und der endlich jenen Streifen grünen Tuchs aus dem ersten Bande sieht, seine Rechtfertigung und wahrscheinlich auch – den Beginn einer Schuld. Soviel Irrungen, Wandelungen des Lebens und darüber in einer Trödelbude die alte jüdische Jungfrau, wie eine Schicksalsschwester, Spinoza’s Ethik in der Hand; der Gott Spinoza’s, vor dem das alles, solch reiches und vielgestaltiges Dasein, nur die letzte Wirkung seines Wesens ist, kein Sandkorn, nicht einmal der tausendste Theil eines Sandkorns, ein substanzloses Nichts. Wir würden nicht fertig, wollten wir auf alle Einzelheiten eingehen. Löb Seligmann, die Familie Fuld sind köstliche humoristische Gestalten. Der Kirchenfürst treu wie ein Kopf von Denner. Selbst Angelika gewinnt trotz ihrer Mathematik und funfzehnjährigen Brautschaft an Leben und Wärme. Die Flucht Armgart’s, die Mondscheinscene im Gebirge mit den vorbeijagenden Reitern schließen das Ganze mit poetischem Hauche und romantischem Glanze ab. Die Scenen auf Schloß Neuhof und die Erscheinung Serlo’s im ersten Bande abgerechnet ziehen wir in Form und lebendig gewordener Gestaltung, auch an geistigem Gehalt, diesen dritten Theil selbst dem ersten, der uns hochsteht, vor. Benno, Thiebold sind vortrefflich, Armgart liebenswürdig und ohne Ekstase gezeichnet. Auch für Bonaventura sorgt man jetzt; man erschrickt, wenn auch diese edle Gestalt gebrochen werden sollte; er erscheint uns fast wie ein Polyeukt. Nur in Kapitel I und III staut sich die Erzählung ein wenig und das Nebensächliche gewinnt zu sehr die Oberhand. Würde vielleicht die Mordgeschichte nicht mit ihrem Grauen bedeutender wirken, wenn sie nur zweimal erwähnt würde, einmal von den jungen Leuten bei Benno und dann von Hammaker selbst? Nicht ganz klar ist uns die Stammbaumliste der Camphausen in Benno’s Auseinandersetzung. Wir glauben, hier könnte mit einigen Strichen geholfen werden, indem der Autor alles nicht streng dazu Gehörige an dieser Stelle fortließe; wir glauben, es ist eine Schwierigkeit für viele Leser. Zuletzt kommt dann immer wieder aufs neue die Hoffnung, auch den „Ghibellinen“ einen geistigen Vertreter gegeben zu sehen, für den man dasselbe Interesse gewänne wie für die so trefflich gezeichneten „Welfen“.

23. Levin Schücking, Illustrirtes Familienbuch, Januar 1859#

Levin Schücking: Literatur-Bericht. [Darin:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Zweiter Band. (Leipzig 1859). In: Illustrirtes Familienbuch zur Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise. Triest. Bd. 9, [Heft 4, Januar 1859], S. 144. (Rasch 14/34.59.01.1N; neu datiert, bislang unter 14/34.59.04.2)

Wir haben den ersten Band dieses Werkes angezeigt, und den Eindruck von Unruhe und Hast, von forcirtem Wesen nicht verschwiegen, welchen die Anfänge der Dichtung auf uns hervorbrachten. Der zweite Band leidet unendlich weniger an der Ueberfülle an Gestalten und Motiven, und es treten nun desto glänzender die Vorzüge des Werkes hervor, das in eigenthümlicher Weise einen großartigen Erfolg feiert, während die Journalistik es mit offenbarem Mißwollen und wie mit dem geflissentlichen Vorsatz, es von vornherein schlecht finden zu wollen, aufnimmt. Denn, wie wir vernehmen, ist die 3000 Exemplare starke Auflage gleich beim Erscheinen vergriffen und es wird die zweite bereits versandt; und wir unsererseits gestehen gern, daß dieser seltene Succeß durchaus gerechtfertigt scheint durch die Fülle des Anziehenden und Genialen, was Gutzkow’s großes Sittengemälde enthält. Wenn man den Verfasser verantwortlich macht für die Schwächen seiner Charaktere, so ist das ein sehr banales, sehr unkritisches Urtheil. Er gibt sie eben als psychologische Probleme, deren Lösung sicherlich eine Aufgabe ist, weit schwieriger als die Zeichnung einer fertig dastehenden edlen und idealen Natur, wie sie in unseren Frauenromanen dutzendweise zu treffen. Man muß einen Roman von Gutzkow eben nicht in die Hand nehmen in der Erwartung, sich darin an schönen Seelen laben zu können. An edlen Helden, die, wenn Ihnen z. B. das Glück oder die Bemühung der Freunde die Thore des Kerkers öffnet, oder die, wenn man sie zum vollen Gastmahl des Lebens führen will, für Entsagung schwärmen und aus zartsinnigen Rücksichten nicht über die Schwelle wollen – an solchen und andern idealen Wesen sind Gutzkow’s Romane nie reich gewesen. Er hat nie seinen Ehrgeiz darin gesetzt, im Pensionate, eben so wie im Näh- und Bügelzimmer bewundert zu werden. Die Charaktere, welche er sich zu seiner Analyse auswählt, müssen in mehr als eine Facette geschliffen sein – vorausgesetzt, sie sind überhaupt Edelsteine. Er geizt nicht nach dem Ruhme, in einem künstlerisch abgeschlossenen Spiegelbild eine plastische Gruppe darzustellen, welche durch eine einzige Idee zusammen verbunden und durch ein tief poetisches Moment von allen Seiten beleuchtet ist. Er versteht den Roman nicht wie Goethe, nicht wie Sand. Er versteht ihn wie Balzac, wie Dickens. Er geizt nach dem Ruhme, der getreue Sittenmaler unserer Zeit zu sein. Wie jeder scharfe Beobachter, ist er Pessimist in gewisser Weise; auch Balzac, der erste aller Psychologen, ist das. Aber Balzac nimmt die Menschen als etwas Unverbesserliches, als gegebene Größen, als naturhistorische, nicht mehr zu ändernde Typen. Gutzkow liebt es, seine Charaktere sich entwickeln zu lassen, die Reaction zu verfolgen, welche die erziehende Macht der Verhältnisse auf sie übt und dabei den Druck und den Einfluß zu zeigen, den mitten in ihren Verirrungen noch das ethische Princip auf sie übt. Damit hat er freilich Aufgaben übernommen, welche zwei Nachtheile haben: erstens sind sie schwer, und zweitens werden Leistungen der Art vom großen Haufen nicht gewürdigt. Der Geist muß sich daran gewöhnt haben, das Leben mit einer gewissen contemplativen Weisheit zu betrachten, mit einer vollgereiften Bildung, sonst irritiren ihn diese Lebensbilder, die ihm zumuthen, dem natürlichen Wachsthum seiner Welt- und Menschenerfahrung um viele Jahre vorauszueilen. Daher erklärt sich vielleicht die Aufnahme, welche Gutzkow’s „Zauberer“ bei der Kritik findet, die viel weniger einer ruhigen, Schwächen und Vorzüge scheidenden, neben dem Fehler auch Gelungenes anerkennenden Beurtheilung als einer leidenschaftlichen, principiellen Partei-Opposition gleicht und dem Autor kurzweg jede Berechtigung zu leben abspricht. Sonst würde sie bereitwillig anerkennen, wie viel merkwürdiger frappanter Typen hier geschaffen sind; wie fesselnd jede Seite ist durch die scharfe, kecke, pointirte Pinselführung des Seelenmalers; wie gelungen Charakterschilderungen gleich der Heinrich Klingsohr’s, der im zweiten Bande als Mönch wieder auftritt, oder des trefflichen Dechants von St. Zeno sind; wie meisterhaft das Zechgelage der Jeunesse dorée Kölns, womit der zweite Band schließt, gezeichnet ist. In hohem Grade zu rügen sind dagegen freilich die großen, wie in der Hitze des Schaffens unbeachtet gebliebenen Nachlässigkeiten des Stils!

24. Europa (Leipzig), 26. Februar 1859#

[Anon.:] Gutzkows „Zauberer von Rom.“ In: Europa. Leipzig. Nr. 9, 26. Februar 1859, Sp. 325. (Rasch 14/34.59.02.26)

– Bei Wiederaufnahme der Lectüre des großartig und weitschichtig angelegten Werkes, von dem jetzt der dritte Band erschien, haben wir doppelt Mühe und Noth, uns unter den hundert Nebenpersonen mit ihren ebenso vielen flüchtigen Beziehungen zu einander zurechtzufinden. Es ist dies, was wir den müßigen Trödel nannten, der sich stellenweis auch im Styl ausprägt, wo die Schachtelperioden sich häufen, weil der Erzähler halb Vergessenes ängstlich und in Furcht, es könnte wirkungslos vorübergehen, wieder aufnimmt und in Erinnerung bringt. Selten war ein Autor so reich und zugleich so knauserig, – reich im Entwerfen großer, weltweiter geistvoller Pläne und Linien, knauserig, weil es uns auch nicht die kleinste Einzelheit, auf die er Gewicht gelegt wissen möchte, erspart. So wechseln bei Gutzkow Blicke in die Wolken und in die weiteste Ferne mit scrupulöser Besichtigung des kleinen Nagelabschnittsels, der vor ihm liegt. In Bd. 3 drängt sich der dritte Criminalfall in den Vorgrund des sachlichen Stoffes. Früher die schnöde nächtliche Bestehlung des Sarges, den sich der alte Mevissen mit Tresorscheinen ausgefüttert, und die mysteriöse Ermordung des Deichgrafen; jetzt ist das alte Scheusal, die Hauptmännin Buschbeck, erdrosselt, dieselbe, die der Lucinde die Tauben erwürgte. Wer der Thäter: geht als langer Faden durch Bd. 3, ohne Aufschluß. Es ist, als wenn des Erzählers Scharfsinn sich in dem Versuch gefiele, zu sehen, wie weit der gemeinste Criminalfall die Theilnahme der größten Menge in Athem erhalten könne. Lucinde Schwarz, die passive Heldin des Buches, geht, erscheint und schwindet nur flüchtig durch die Bilder des dritten Bandes, festgehalten und gebannt durch ihren doppelten Conflict mit einem Priester, in welchem sie ein Ideal erblickt, und mit einem gewaltsamen Convertiten, vor dessen wilder Natur ihr scheues Mädchenherz flüchtet, das im Anblick all’ der Gräuel im Schooße des halb verborgenen Menschenlebens starr und kalt wie Marmor wurde. Band 3 führt uns wesentlich diese beiden hierarchischen Männergestalten vor, dichtaneinander, scharf Stirn an Stirn und in meisterhafter Parallele ihrer Gegensätze nach Art, Gesinnung und Natur. Bonaventura, das aus der Richtung der romantischen Schule hervorgegangene Musterbild eines idealen römischen Priesters, und Klingsohr, der Franciscaner Sebastus, ein Gemisch von Görres und Zacharias Werner, nur criminalistisch bis zu jener Potenz gesteigert, wo das tragische Interesse für solche convulsive und revolutionäre Gestalten beginnt: diese beiden Extreme hierarchischer Stoffe sind vortrefflich zusammengeführt und entwickelt in Scenen, die novellistisch wie psychologisch und stylistisch zu den schönsten Partien im Roman gehören, während Beide in der Audienz beim Erzbischof von Cöln, der ebenfalls großartig gezeichnet ist, mit ihren Beziehungen und Gegensätzen zu einander ihren Abschluß und Hochpunkt finden. Hier gehen in Auffassung und Darstellung der Scharfsinn des Menschenkenners und der weite Blick des socialen Geschichtschreibers mit dem Pinsel des Novellisten in Gutzkow Hand in Hand. Wir dürfen diese Scene zu dem Besten zählen, was die Litteratur von heute aufzuweisen hat.

25. Theophil Piesling, 12. März 1859#

[Theophil Piesling:] Prag, 9. März. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 60, 12. März 1859, S. 506. (Rasch 14/34.59.03.12)

Während Gutzkow’s „Zauberer von Rom“ in Oesterreich eine immer größere Verbreitung und eine immer regere Theilnahme findet, sind dieser Tage im Verlage von K. Bellmann in Prag „Briefe über Gutzkow’s ‚Zauberer von Rom‘“ erschienen, die sich bemühen, den Dichter in den Augen der Leser zu verdächtigen, und als deren Verfasser sich auf dem Titelblatt „Alexander Alt“ nennt. Schon aus diesem Pseudonym des obscuren Verfassers, der es auf eine läppische Parodie der trefflichen „Briefe über die Ritter vom Geiste“ von Alexander Jung abgesehen hat, ist der Zweck dieses Pamphlets ersichtlich. Daß dasselbe nur der Ausdruck persönlicher Rançune ist, bedarf keines Beweises, denn nur bei einer Animosität, die sich selbst nicht mehr beherrschen kann, ist der Fall möglich, über eine poetische Schöpfung den Stab brechen zu wollen, von der erst ein Drittheil in die Oeffentlichkeit gelangt ist. Der Verfasser gesteht es ferner selbst ein, daß sich kein Organ zum Abdruck seiner Schmähschrift hergeben wollte und daß diese Erfahrungen ihn veranlaßt, sie in dieser Art zu veröffentlichen. Daß er einen Verleger gefunden, nimmt uns nicht wunder, denn es ist eben keine schlechte Speculation, Briefe über ein Werk erscheinen zu lassen, das den Buchhändlern in Oesterreich aus den Händen gerissen wird, und von welchem die Leihbibliotheken nicht genug Exemplare haben können. Allein gerade dieser ungewöhnliche, aber constatirte Erfolg eines Werks, das, wie der Pamphletist hämisch bemerkt, an dem Publikum „spurlos vorübergeht“ – diese Behauptung sucht ihresgleichen – gerade dieser Erfolg ist es, der den Herrn so sehr in Harnisch zu jagen scheint. Er will sich an dem „Zauberer von Rom“ wahrscheinlich für die Erfolglosigkeit mancher specifisch österreichischer Romane neuesten Datums rächen. Was in aller Welt kann aber Gutzkow dafür, wenn sein Buch in Oesterreich häufig begehrt und nach Verdienst gewürdigt wird, während z. B. Hieronymus Lorm’s, Meißner’s und anderer Autoren Romane spurlos vorübergegangen? Die Schrift ist ein trauriges literarischen Zeichen unserer literarischen Zeit. Hrn. Gutzkow kann das Erscheinen dieses Pamphlets gleichgültig sein, oder vielmehr nicht gleichgültig, denn es ist ein Beweis, wie groß das Interesse ist, das seinem Werke in Oesterreich entgegenkommt. Uns aber kann die Möglichkeit solcher Schmähbriefe nicht gleichgültig lassen. Denn wir können eine gewisse Partei, die sich eifrig bemühte, dem Roman den Weg nach Oesterreich abzuschneiden, nicht von dem Verdachte freisprechen, sie habe nun versucht, dem „Zauberer von Rom“ durch einen Scribenten beizukommen, der nicht einmal den Muth hat, unvermummt zu erscheinen. Da er aber sich nicht einmal eines Messers bedient zu haben scheint, um dem „Zauberer von Rom“ an den Leib zu gehen, und sich statt dessen begnügte, den Gegner ins Gesicht zu schlagen, so wird die literarische Gerechtigkeit schwerlich etwas mit ihm zu schaffen haben wollen und sich durch seinen Mummenschanz vielmehr bereden lassen, den Anonymus für einen Hanswurst zu halten. Es war ja eben Carneval!

26. Julian Schmidt, Gustav Freytag, Mai 1859#

[Julian Schmidt, Gustav Freytag:] In Sachen des Zauberers von Rom. In: Die Grenzboten. Leipzig. 1859, 1. Semester, Bd. 2, [Mai] 1859, S. 267-277. (Rasch 14/34.59.05.1)

Nur ungern gehen wir heute an die weitere Erörterung eines Gegenstandes, der, an sich schon unerquicklich genug, doppelt unbequem wird in einer Zeit, wo es sich um einen ganz andern Zauberer handelt als den von Rom; wo unwillkürlich die Gedanken nach einer andern Richtung hinschweifen als nach der Analyse eines schlechten Romans. Die Schuld dieser Unbequemlichkeit bürden wir aber ganz und gar dem Verfasser des genannten Romans auf. Seit einem halben Jahr haben wir den dreistesten Provocationen mit Gelassenheit zugesehn, indem wir uns eine bestimmte Grenze steckten, die nun überschritten ist. Wenn sich sonst Dr. Gutzkow damit begnügte, in den ihm [268] befreundeten Zeitschriften sich als Deutschlands größten Dichter feiern zu lassen und seine Kritiker zu schelten, benutzt er jetzt einen vieldeutigen Passus des Preßgesetzes, als „Berichtigung“ seine Reclamen auch unabhängigen Zeitschriften zu insinuiren. – Die Grenzboten sind nicht das einzige Blatt, mit dem er das versucht. Vielleicht wäre es eine Pflicht gegen die Presse, die Art und Weise dieser Reclamenmanufactur näher aufzudecken, und wir werden uns dieser Pflicht vielleicht nicht entziehen dürfen; heute beschränken wir uns auf die Abwehr seines Angriffs; d. h. auf den Nachweis, daß die Grenzboten die Farbe des „Zauberers von Rom“ nicht greller als sie wirklich ist, sondern noch gemildert wiedergegeben haben.

Die Kritik dieses Bandes im vorigen Jahrgang unserer Zeitschrift beschränkte sich auf ein gedrängtes Resumé der hauptsächlichen Thatsachen, die nach unserer Ueberzeugung für sich selber sprechen mußten. Um unsere Empfindung diesen Thatsachen gegenüber nicht in Zweifel zu lassen, fügten wir ein Citat aus Heine hinzu, da dieser Dichter einmal das Privilegium hat, manches bestimmt auszusprechen, was man sonst nur andeutet, und da die beständigen Citate aus Heine und verwandten Dichtern im Zauberer von Rom uns unwillkürlich diese Stelle ins Gedächtniß riefen. Um nun aber dem Verlangen des Dichters Genüge zu leisten, sind wir bereit, diese thatsächliche Darstellung durch eine Analyse näher zu begründen. Am einfachsten wird es geschehn können, indem wir diejenige Stelle des Romans, auf welche sich die im vorigen Heft mitgetheilte „Berichtigung“ bezieht, das Trinkgelage zwischen Klingsohr und Lucinde, mit den eigenen Worten des Romanschreibers dem Leser vorführen.

[...]

[272] [...] Wer diese Scenen mit unserm früheren Bericht vergleicht, wird erkennen, daß wir anstatt zu übertreiben, vielmehr das Widerliche jener Scenen stark gemildert haben. Wir haben aus Rücksicht für unsere Leser eine Seite jenes Bildes ganz verwischt: die Lüsternheit. Es ist möglich, daß sich bei Eugen Sue schmuzigere Scenen vorfinden, obgleich wir sie nicht kennen. Schwerlich wird sich eine finden, die im Verhältniß zu dem, was vorhergeht und was nachfolgt, einen so widerlichen Eindruck macht. Hier ist nicht von jener offenen Sinnlichkeit die Rede, die zuweilen den Leser bezaubert, auch wenn er in Zweifel ist, ob sie ästhetisch zu billigen sei, sondern von jenen siechen Velleitäten, die aus dem Weinrausch und aus schlechten Reminiscenzen hervorgehn. Folgende Umstände sind es, die jener Scene den rechten Hautgout geben.

[273] 1) Klingsohr und Lucinde sind nach der Absicht des Verfassers geniale, kräftige, interessante, im Ganzen liebenswürdige Naturen, freilich durch ihre Phantasie der Verführung ausgesetzt, aber in diesem Augenblick noch so edel als möglich.

2) Lucinde wird beauftragt, dem Mann, den sie liebt, ein Geheimniß mitzutheilen, welches ihn in seiner tiefsten Seele tödtlich verletzen muß; ein Geheimniß, welches die Ehre seiner Eltern vernichtet. Um diesen Moment vorzubereiten, denkt sie hauptsächlich daran, ihm eine brillante Tafel zu decken, ihm glänzende Möbel zu zeigen, ihm eine Masse Champagner aufzufahren. So empfindet nach Dr. Gutzkow das Weib, das den Mann liebt, im Augenblick, wo seiner Ehre ein tödtlicher Schlag versetzt werden soll! Sie empfängt ihn mit der göttlichen Zweideutigkeit: „Sie sollen bewirthet werden wie – ein Sohn vom Hause!“ Sie zeigt während der ganzen Scene keine Spur von tieferem Mitgefühl, keine Spur von widerklingendem Schmerz, keine Spur von Scham. Sie macht den Eindruck einer Dirne.

3) Nun Herr Klingsohr. Wenn ein anderer Mensch, nicht etwa ein besonders edler, sondern ein Mensch von leidlich natürlichem Gefühl plötzlich hört, deine Mutter ist entehrt und du bist die Frucht eines Ehebruchs, so wird dieser Mensch, selbst wenn er im Zustand der Trunkenheit sein sollte, plötzlich nüchtern werden, er wird alles von sich stoßen und davoneilen, dem Geheimniß vollständig auf die Spur zu kommen oder Rache auszuüben, oder irgend etwas thun, nur das nicht, was Herr Klingsohr thut. Herr Klingsohr setzt seine Völlerei fort bis er lallt, radotirt über verschiedene philosophische Gegenstände, übt Zärtlichkeiten gegen Lucinde aus u. s. w. Herr Klingsohr ist Lucindens würdig.

Freilich treibt ers im Folgenden noch schlimmer. Von jener Orgie wird er zur Leiche desjenigen gerufen, den er bis dahin für seinen Vater gehalten hatte. Er findet daselbst als Zeugniß des Mordes ein Stück von dem Tuchkragen des Mannes, der er jetzt für seinen Vater hält (S. 333). Wahrscheinlich mit diesem Zeugniß ausgerüstet, das sich nachher in seiner Brieftasche vorfindet, kommt er zum Kronsyndicus und bleibt lange mit ihm eingeschlossen; das Einzige, was der Roman über die Unterredung bemerkt, ist, daß sie sich zwei Flaschen Burgunder kommen lassen S. 215. Ein anderer ist als des Mordes verdächtig eingezogen, Klingsohr und der Kronsyndicus besprechen untereinander und mit dem ältesten Sohn des Kronsyndicus die ganze Mordangelegenheit, sie halten zusammen einen Termin in der Criminaluntersuchung gegen den als verdächtig Eingezogenen, wo zu Protokoll genommen wird, jener Tuchkragen sei durch eine unverzeihliche Nachlässigkeit plötzlich abhanden gekommen S. 221, sie kommen sehr bleich und der Querfragen müde vom Amt zurück und trinken Champagner. Lucinden aber thut es wohl, so trau-[274]lich hinter dem Champagnerglase zwei feste, kraftvoll verbundene Männer zu sehn! S. 225. Klingsohr lebt von da an auf Kosten des Kronsyndikus, dessen Sohn Jerome, den er doch für seinen Bruder halten muß, er im Duell erschießt.

Diese verschiedenen Charaktermomente sind in einer so erstaunlichen Weise miteinander combinirt, daß man zum Verständniß derselben die dichterische Production Gutzkows überhaupt ins Auge fassen muß. Aus dieser Untersuchung ergibt sich, daß nicht sein böser Wille, sondern nur seine völlige dichterische Unfähigkeit solche Monstrositäten zur Welt bringt, daß es ihm infolge dessen ebenso wenig möglich ist, wirklich böse als wirklich gute Menschen zu schildern. Seine Gestalten von der ersten bis zur letzten sind nur Mollusken, sie haben keinen Knochenbau, und so stark sie in Empfindungen sind, fehlt ihnen doch die Seele.

Mit Recht tadelt man den Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, daß er, vielleicht ohne es zu wollen, den Glauben an die Seele untergräbt, den Glauben an jene individuelle Lebenskraft, die, uns allen bekannt obgleich uns allen wunderbar, aus innerer Naturbestimmtheit heraus der äußern Naturbestimmtheit widersteht, bald sie bezwingt, bald ihr unterliegt, und so ihr eignes Schicksal ist. Indeß ist diese Doctrin, weil sie vom Gefühl wie von der Wahrnehmung leicht widerlegt wird, viel weniger schädlich, als jene mißbräuchlich sogenannte Dichtung, die uns seelenlose Gestalten vorführt und uns daran gewöhnt. Der Glaube an die Freiheit ist von dem Bewußtsein der innern Naturbestimmtheit der Seele, die sich nicht in bloße sinnliche Eindrücke, in bloße Empfindungen zerbröckeln läßt, unzertrennlich verbunden: nur die Seele kann sich frei nennen, die ihrer eignen Nothwendigkeit folgt. Dichter mit Talent aber ohne schöpferische Kraft sind nie im Stande, das Bild einer solchen Seele hervorzubringen, sie sind auch nie im Stande, eine wahre Leidenschaft zu schildern, denn auch die Leidenschaft, die alle mitwirkenden Umstände überflutet, ist ein Ausfluß jener dämonischen Kraft, die zu verherrlichen von Alters her als die hohe Aufgabe der Tragödie angesehn wurde. Jene Dichter, die, unfähig den Kern des Wesens zu erfassen, alles, was geschieht, aus zufälligen Umständen, Eindrücken und Erregungen herleiten, verfallen eben deshalb nothwendig in Unsittlichkeit, denn Unsittlichkeit ist nichts Anderes, als der Atomismus des Willens. Ein solcher Dichter, an Talent und Erfindung Gutzkow überlegen, an Bildung freilich ihm nachstehend, aber seiner Zeit ebenso gefeiert als dieser, weil er ebenso dem Instinct der Menge huldigte, war Kotzebue: die Parallele würde sich bis ins Einzelne durchführen lassen. Auch Kotzebue ging nicht etwa darauf aus, die Sittlichkeit zu untergraben, im Gegentheil hatte er die beste Absicht, namentlich in seinen Trauerspielen tugendhafte Helden und Menschen zu schildern; aber weil ihm die [275] schöpferische Kraft abging, wurden daraus regelmäßig Eulalien, die im entscheidenden Augenblick sagten: „sie stoßen da auf eine Unbegreiflichkeit in meiner Geschichte.“

Dasselbe könnte man von Gutzkows Figuren sagen. Klingsohr und Lucinde, die einzigen Personen dieses ersten Bandes, in deren Seelenbewegung er uns einzuführen sucht, erregen in jedem Augenblick die Empfindung, daß sie ebenso gut das gerade Gegentheil von dem thun könnten, was sie wirklich thun. Es ist in ihnen, wie gesagt, keine Seele; sie tragen kein Gesetz der innern Nothwendigkeit in sich, und darum kennen sie auch keine Leidenschaft, obgleich namentlich der eine von ihnen alle Augenblicke tobt und lärmt, die Stühle zerbricht und dergl. Und von derselben Art sind seine sämmtlichen Helden vom ersten bis zum letzten. Darum ist es eben so schwer, sie zu analysiren, ohne den Leser zu ermüden, den er durch eine ungeheure Masse äußerer Erfindungen täuscht. Was aber Gutzkow von den übrigen Poeten seines Gleichen unterscheidet, ist, daß seine Bildung so weit geht, ihm auf Augenblicke die Erbärmlichkeit seines Helden klar zu machen; in solchen Augenblicken nimmt er den Anschein eines Satirikers an, den er aber in der nächsten Stunde über neuen Eindrücken, neuen Empfindungen wieder vergißt. Solche Züge finden sich auch im gegenwärtigen Band mehrfach, und Figuren wie Schlurk und Strohmer in den Rittern vom Geist, in denen sich wirklich einige brillante Einfälle finden, sehen ganz aus wie eine Satire auf seine eignen Schöpfungen; aber sobald er sich zusammenrafft, um einen tüchtigen Menschen zu schildern, wird wieder ein Schlurk oder Strohmer daraus, nur in anderem Costüm.

Wer nicht von innerer Nothwendigkeit ausgeht, verfällt dem Zwang der äußern Umstände, d. h. dem Atomismus, und man wird an den vierten König in Goethes Märchen erinnert, der, sobald ihm die Irrlichter die Goldadern aussaugen, in einen lächerlichen und unförmigen Klumpen zusammenfällt. Eine solche Gemüthsstimmung ist auch der wahren Satire nicht mächtig, denn auch diese verlangt ein festes Maß der Seele, das man auch im Uebermuth nicht aus den Augen setzt. Gutzkow, in seinem innersten Wesen ein Anempfinder, bemüht sich durchweg, sich selber in Rührung zu sprechen. Er lauscht gewissermaßen mit Behagen dem Klang seiner eigenen Worte. Nun wird er aber gleichzeitig von unzähligen sich widersprechenden Gedanken und Empfindungen heimgesucht und da er keinem derselben Widerstand zu leisten vermag, widerfährt ihm fast durchweg, daß er das Ungehörigste in den Vordergrund schiebt, daß seine Rührung plötzlich in blasirte oder gar in faunische Stimmung überspringt und daß seine Satire in schwächlicher, empfindsamer Rührung verklingt.

Diese Gesetzlosigkeit seines Geistes zeigt sich aber nicht blos in der großen [276] Composition, sondern selbst in seinem Stil, in seinem Wortbau, in seiner Satzverbindung; Beispiele auszuwählen ist nur wegen der ungeheueren Menge solcher Sätze schwierig: und zwar meinen wir nicht die Reden seiner Helden, die er vielleicht absichtlich Unsinn vorbringen läßt, wie denn z. B. aus Klingsohrs Munde nie ein vernünftiges Wort kommt, sondern wir meinen die Stellen, wo er in eigener Person spricht. Hier nur ein Beispiel aus dem dritten Bande des Zauberers von Rom S. 35. Man möge die Stelle selbst nachschlagen, um sich zu überzeugen, daß der Zusammenhang mit dem Uebrigen gleichgiltig ist.

„Die Pein des Fegefeuers mußte sie also glücklich und schnell überstanden haben, Dank der gründlichen Versehung mit den letzten Heilsmitteln durch den geliebten Priester, der täglich und stündlich von ihr und ihrer hochverehrten Freundin und Beschützerin Lucinde Schwarz erwartet wurde. Nachdem sie sich eben aus ihrem Danaezustande – Danae muß blond gewesen sein, weil ihre Schönheit Jupitern auf den Gedanken brachte, sie grade in ihrer eignen Gestalt zu überraschen – in die erste nothwendigste Kleidung geworfen und ihr auch Jupiter-Piters Zudringlichkeit dabei nicht mit allzu grellem Schrecken eingefallen war“ u. s. w.

Man überlege sich die Ideenassociation dieses Satzbaues. Zuerst heißt Danaezustand doch wol Nacktheit; wie er vom Nackten aufs blonde Haar kommt, das weiß der liebe Gott! Dann wird die blonde Farbe des Goldregens ihre eigene Gestalt genannt und dann soll wieder ihre Schönheit ihn veranlaßt haben, ihr blond zu erscheinen. Bei diesem Bilderwirbel vergeht einem wirklich Hören und Sehen! Und Sätze von der gleichen Stärke übernehmen wir aus jedem Band seiner Werke wenigstens zwanzig anzuführen. Daß sich das Publicum diesen Stil gefallen läßt, zeigt, wie sehr auch hier eine Reinigung des Geschmacks Noth thut.

Wenn aber solche stilistische Fehler durch nachträgliche Feile weggeschafft werden könnten, so ist das nicht möglich bei dem Organismus der Bilder und Gestalten im Großen. Sie alle sind von jener Krankheit angefressen, die nur den chemischen Proceß verstattet und jede Heilung unmöglich macht. Zu jenen Gebrechen gehört auch, daß seine Geschichten und grade die auffallendsten gar keine Folge haben. So auch jene Betrunkenheitsscene zwischen Klingsohr und Lucinde, die gar keine Folge hat – auch nicht die etwa zu erwartende – und nur um ihrer eignen Schönheit willen da ist.

Nun kommen wir aber auf einen ernsteren Punkt. Gutzkow hat es gewagt, seinen Roman dem deutschen Volke zu widmen: er soll „beitragen helfen, die vaterländische Einheit zu fördern.“ Bei der Breite, welche die Figuren des ersten Bandes einnehmen, macht er den Eindruck, als solle er eine Gesammtschilderung der deutschen Zustände sein, die uns der „Lockpfeife des römischen Vogelstellers“ aussetzen. Wie nun die beiden Helden Lucinde und Klingsohr beschaffen sind, haben wir gesehn; die andern Personen sind entweder Narren und Schurken oder ganz unbedeutend, nicht ein einziger Charakter, der uns [277] mit dem Leben und diesen Zuständen versöhnt. Ueberall eine wüste Unordnung, ein Gemisch von unreifem Hochmuth und Verschrobenheit. Wir glauben, es kann dem deutschen Volk nicht gleichgiltig sein, so geschildert zu werden, um so weniger, da die Schilderungen nicht wahr sind, ja es würde eine nicht geringe Kunst dazu gehören, in Deutschland eine solche Fülle von Zerrbildern aufzutreiben, als dieser Roman sie aufweist. Hochklingende Worte, an denen es in der Vorrede nicht fehlt, verrathen ihre Absicht zu deutlich; wie es ihnen aber gelingen kann, trotz ihrer Hohlheit wenigstens die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn – darüber Erklärungen zu geben, möchten wir noch gern vermeiden.

27. Edmund Judeich, 12. Juni 1859#

[Edmund Judeich:] Leipzig, 10. Juni. Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. II. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 135, 12. Juni 1859, S. 1196. (Rasch 14/34.58.11.28)

Wer mitten aus abtödtender Alltagsbeschäftigung in das Atelier eines Künstlers tritt, wird plötzlich von dem geheimnißvollen Walten einer andern Welt durchdrungen. Auge und Herz schließen ab mit allem, was draußen blendet und drückt, die Seele ruht im stillen Empfangen einer aus völlig anderer Sphäre uns entgegendringenden lebenswarmen Gestaltung. So führte uns aus dem Kriegsgewühle der Zeit die Lectüre des dritten und vierten Bandes des „Zauberer von Rom“ von Karl Gutzkow hinaus. Wir fürchteten, seit unserm vorigen Bericht (vom 28. Nov. v.J., Nr. 278) den Zusammenhang verloren zu haben. Aber die früher erwähnte Eigenschaft der Gutzkow’schen Darstellung, beim Neuen einen umfassenden Mitklang wieder des Alten zu besitzen, bringt bei Lesung der beiden letzterschienenen Bände sofort die Totalität der handelnden Personen und geschilderten Situationen wieder vor Augen, sodaß der Ausweitung des Stoffs irgendwelche Schwierigkeit der Auffassung nicht erwächst. Geschickt hält der Dichter die Fäden in der Hand, lenkt mit Präcision die Schritte jedes einzelnen und weist einem jeglichen Bausteine den Platz an in der großen Menschheitshalle, zu der sich sein Epos zu entfalten scheint.

Köln ist die Welt der beiden neuen Bände. Das Kattendyk’sche Kaufmannshaus mit dem sich (im vierten Bande) ergötzlich blamirenden jugendlichen Chef Piter; mit dem Seelenkampfe der den protestantischen Gatten über alles liebenden Frau Delring, mit der düstern Lebensfolie des Procurator Nück, mit dem Gewitter drohenden Hinbrüten der Gesellschafterin Lucinde, dieser in wahnsinniger Liebe zu Bonaventura sich ergehenden Gestalt ohne Furcht und mit vielem Tadel – alles das ist allein schon geeignet, warmes Interesse zu wecken. Zieht man hierzu das reichhaltige übrige Leben der kölnischen Stadt, sei es auf den dunkeln Proceßgängen der Nück’schen Advocatenexpedition, sei es in den feuchten Kirchenwegen unter der Erde, in der Zelle des Mörders Hammaker, im Austernkeller, wo Piter seine Freunde versammelt, im Gasthause der gefälligen Wirthin Zum Lamm, im Judenviertel, dem der heitere Löb Seligmann und ein spinozistisches „Veilchen“ erwuchsen, sei es in der Nachbarschaft im Verkehr mit störrischen, gläubig fanatischen Landleuten, sei es endlich im Mädchenpensionate zu Lindenwerth, wo sich in Armgart’s lieblicher Gestalt Benno’s Zukunft entfaltet – erweitert man, sagen wir, das alles zu einem Totaleindrucke, so bleibt nicht nur lebenswahr der Einzelne, sondern es rollt sich ein ganzes deutsches Culturbild vor den Blicken des Lesers auf.

In sich schon genügend bilden aber die einzelnen Erscheinungen auch wiederum die Basis zu einem Gesammtgemälde der Zeit, in welcher sich die Geschichte mit einer bestimmten Lehre bewegt. Wer kennt nicht die Zeit der kölner Wirren! Ein protestantischer Dichter trägt hier die Kraft des Historikers in sich, das fremde, wunderbare Gebiet katholischer Innerlichkeit (Bonaventura und der Kirchenfürst) mit seinen fanatischen Auswüchsen (Pater Sebastus, Hubertus, Hunnius) durch objective Wiedergabe vorzuführen, es zu all seinem harten Glanze, namentlich in jener hinreißenden Scene zwischen Bonaventura, dem Kirchenfürsten und Klingsohr, hinanzugipfeln, wo das Menschenthum erstarrend zurückweicht. Erschütternd tritt uns überall die leidende Gestalt des katholischen Rationalismus entgegen. Der Leser ahnt schon jetzt aus den idealen Bezügen ein gewaltiges Rauschen der freien Idee für kommende Tage und harrt mit Spannung der Entwickelung des Romans, welche der Gegenwart des heutigen Tages und sogar, wie Andeutungen zeigen, dem italienischen Kampfe immer näher zu rücken scheint.

Bezeichnend ist es, daß wir den eigentlichen Unterhaltungsstoff der beiden neuen Bände, die fortlaufende Erzählung, gar nicht zu berühren brauchten, um dennoch die Mächtigkeit des Werks zu schildern. Wir überlassen hier alles dem Genuß des Lesers. Die Gabe des Autors, in aller Fülle der Ideen doch immer zugleich die einzelnen thatsächlichen Spannungen seiner Historie und Anekdote zu wecken und zu halten, findet sich in gleicher Weise bei keinem andern deutschen Romanschriftsteller. Hinsichtlich des Ganges der Erzählung mag man allerdings die Basis des Streits der Linien Dorste- und Salem-Camphausen (auf S. 116, 121 fg. des dritten Bandes) zweimal ansehen, um im Zusammenhange folgen zu können.

Gutzkow’s Weise ist durch keinen Begriff der hergebrachten Theorien vollständig auszusprechen. Sein Roman geht eigene Bahnen. Sein „Zauberer von Rom“ enthält präcisirt die Cultur- und Lebensbilder Walter Scott’s und Sealsfield’s, enthält manches von den Menschen Eugen Sue’s, zugleich aber auch Gestalten der reinen Tragödie: Graf Truchseß, Bonaventura, Klingsohr, Lucinde; Gestalten der Idealwelt: Armgart, Monika, Hendrika Delring. Dabei vermeidet der Autor, wie es scheint, absichtlich die absolute Fertigkeit der Charakteristik. Als keck hingeworfene Räthsel treten die Gestalten auf die Bühne (wir erinnern an Klingsohr und Lucinde); wer aber das gebührende Vertrauen dem Dichter wahrt, dem wird in nach und nach klärender Analyse die fremdartige These zur lebenshellen, verständlichen Erscheinung. Gutzkow verschmäht das billige Mittel, seinen Personen, wie jene alten Maler, Zettel in den Mund zu hängen, daraus zu lesen: Ich bin ein vortrefflicher Staatsbürger, ich bin ein treuloser Geliebter, ich bin ein Schurke, ich bin ein bethörtes Weib! Gutzkow schreitet in seiner psychologischen Gerechtigkeit vielmehr bis zu der Lebenswahrheit vor, daß kein übler Charakter so ganz verdorben, daß er nicht einiges Gute, kein guter so ganz rein, daß er nicht Schwächen hätte, vor allem aber zu der Wahrheit, daß jeder noch in Gut und Böse getheilte Mensch Glauben an sich selbst hat. Unser Dichter vindicirt gerade dem Roman die volle Realität des einzelnen, aber niemand kann übersehen, daß all dieser leidenden Wesenhaftigkeit dennoch einst die poetische Versöhnung lächeln wird. Diese „Poesie des Geistes“, die Poesie des sich in bunter, realer Erscheinungsfülle offenbarenden doctrinellen Gedankens trägt ihre künstlerische Einheit (und das ist etwas Charakteristisches) nicht in diesem oder jenem Vorgange, nicht in der Entwicklung dieser oder jener Hauptperson; die Einheit liegt in etwas Erhabenerm, in dem Herantreten eines Gottesreichs auf Erden. Die einzelnen Gestalten, gut oder böse, wandeln in ihrer Willenskraft dahin, in ihrem Streben für sich, für andere, für Religion, für Staats- oder Kirchenmacht; sie dünken sich alle ein Großes, und doch, wie reiben sich ihre Wege aneinander, wie klären sich die Charaktere in ihren Gegensätzen, wie werden sie gerecht gerichtet! Was ist diese Lucinde? Die moralische und poetische Gerechtigkeit fragt vielmehr, wie sie es wurde. Und danach sicherlich soll „ihr gegeben werden“. Was ist dieser Klingsohr, der den Mörder seines Vaters schont? Ist er nicht ein Gebilde moderner Zerrissenheit, mit welcher er zuerst als bloßes Thesis des Autors auftritt? Wir kennen aber diese Convertirten aus der Geschichte ihrer fernern Entwickelung; es war immer ein Erstes, das sie in weltverwirrenden Irrwahn trieb, und hätte unser Autor nicht schon am Schlusse des vierten Bandes der Klingsohr’schen Gesinnung die poetische Möglichkeit gegeben, wir hätten sie geahnt. Dieselbe Macht, die den Beichtvater hindert, das von Mördern bedrohte Opfer zu warnen, dieselbe Macht, die Trappisten zu ewigem Schweigen verurtheilt, dieselbe Zaubermacht im römischen Leben, die das Menschliche abtödtet, sie schuf auch den Mönch Sebastus. Schon wandelt er dahin wie ein von Furien gepeitschter Orest. Wohin? Die Geschichte des deutschen Vaterlandes wird es sagen. Sie richten sich alle! Der Lebenskenner findet schon jetzt in diesen vier Bänden eine das Innerste versöhnende sittliche Befriedigung. Alles noch Düstere und Räthselhafte dieses Werks, wir ahnen es überzeugungsvoll, wird sich erhellen zum Glanze des reinen Menschenthums.

28. Beilage zur Augsburger Postzeitung, 22. Juni 1859#

[Anon.; Chiffre:] Literatur. Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Leipzig F. A. Brockhaus. Erster u. zweiter Band. 1858. In: Beilage zur Augsburger Postzeitung. Augsburg. Nr. 57, 22. Juni 1859, S. 218-219. (Rasch 14/34.59.06.22N)

Es gibt wenige Bücher, die in jetziger Zeit mit größerem Recht und in engerer Beziehung zu den obwaltenden Verhältnissen besprochen werden können, als das vorliegende. Frankreich hat die Fahne der Revolution, und diese selbst ihr Schwert, ein wirkliches Schwert zu einem blutigen Kampfe erhoben, nachdem sie es überdrüssig geworden, das Schwert der Verneinung auf dem Gebiete des Geistes zu schwingen. Die Schwester der Revolution, die Lüge, hat ihr Terrain, auf dem sie so lange schon sich breit und der Wahrheit jeden Schuh Bodens streitig gemacht, antikatholische Wissenschaft und Presse, um ein Bedeutendes erweitert und mit dem Gebiet der officiellen Presse eines ganzen großen Reiches vergrößert; sie hat einmal wieder Fleisch und Blut angenommen und will die Heerschaaren, die sie in zehnjähriger stiller Wirksamkeit sich angesammelt, auf den Kampfplatz führen. Sie hätte dieß noch kaum gewagt, wenn sich nicht ein gekröntes Haupt ihr zur Verfügung gestellt und als williges Werkzeug überliefert hätte. Will’s Gott, so schlägt Oesterreichs treuer und starker Arm die Lügenbrut noch einmal nieder, verhütet noch einmal, daß die Revolution das längst erstrebte Ziel erreiche und – nicht die Throne Europa’s wankend mache oder stürze, denn das ist am Ende nicht so gar schwer, sondern – die Kirche Gottes, die wahre Mutter und Königin der Völker, mit der schwersten Wunde schlage. Verliert aber auch der Erbfeind Gottes sein Spiel auf dem Schlachtfeld, so bleibt ihm noch immer der geistige Kampfplatz, bleibt ihm die Sclavenschaar, die auf den Kathedern und in der Literatur, auf dem Geldmarkt und in den Fabriken rastlos für ihn wirkt und schafft. Gutzkow’s „Zauberer von Rom“ ist nicht das erste und wird nicht das letzte Werk sein, welches in diesem Sinne geschrieben ist; aber es ist eines von den mit dem größten Aufwand der Geisteskraft, mit dem ingrimmigsten Hasse geschriebenen Büchern, deren gemeinsames Motto heißt: écrasez l’infame!

Gutzkow’s „Ritter vom Geist“, so viel Gift und Galle sie auch gegen die auf dem katholischen Christenthum basirte moralische und sociale Ordnung der Dinge speien, sind doch nur eine Wassersuppe gegen den höllischen Brodem, der im „Zauberer von Rom“ zischt und kocht. Jenes Werk läßt sich, bei allem principiellen Widerstreit gegen unsere Gefühle, Anschauungen und Ideen, sogar noch mit Nutzen lesen, denn es läßt doch noch Etwas neben der absoluten Verneinung gelten; einige seiner Gestalten flößen uns trotz ihrer bodenlosen Unsittlichkeit noch einiges Interesse ein, und selbst die Zerrbilder religiösen und irreligiösen Wahnes stoßen uns nicht zu sehr ab, weil wir uns recht wohl vorstellen können, wie weit von Natur edle Gemüther durch protestantische Religionsübung und Weltanschauung von der Wahrheit und Klarheit der Lehre Christi abirren können. Der Held der „Ritter vom Geist,“. Dankmar Wildungen, ist zwar nur ein Hansdampf, ein stelzbeiniger Phrasendrechsler; aber man kann mit seiner Bornirtheit doch noch Mitleid haben und bedauern, daß er sich vermessen will, eine bessere und reinere Religion als die von Jesus gestiftete herzustellen, der arme Tropf! Die Maurerei ist ihm gar nicht einmal gut genug; [219] er will noch etwas Besseres schaffen, und seine Tollheit ist von einer Art, daß man zu seinem eigenen Heil und Frommen wünschen muß, er möchte die Mittel erhalten haben, sie in’s Werk zu setzen. Aber die Million, die er dem Bunde der Ritter vom Geiste zu ihren Zwecken zuwenden will, geht in Rauch auf, und der ganze neunbändige Roman hat keine andere Entwickelung, als daß ein heidenmäßiges Vermögen, nachdem um dessen Erlangung eine Unzahl von Intriguen sich abgesponnen hat, auf ähnliche Weise zum Teufel geht, wie in Eugen Sue’s Jesuiten oder ewigem Juden, so daß also Gutzkow für die Katastrophe seines langausgesponnenen Werkes nicht einmal den Vorzug der Originalität vor dem Gespinnst des französischen Bandwurms beanspruchen kann.

Dem älteren Werke nun, das doch noch insofern eine Berechtigung hat, als es ein wirkliches, vorhandenes, tausendfach sich manifestirendes Streben wirklich lebender Menschen, nämlich das Streben nach vollständiger Emancipation des Geistes und des Fleisches schildert, stellt Gutzkow in seinem „Zauberer von Rom“ einen ultramontanen Bund der Geister entgegen, ebenfalls wie das der „Ritter vom Geist“ ein „harmonisches Vereintwirken, ein lautloses, geräuschloses und dennoch von ersichtlichen Wirkungen begleitetes.“ Während er in den „Rittern vom Geist“ auf einem Boden sich bewegt, Anschauungen, Stimmungen und Zustände, in denen er zu Hause ist, schildert und gegen einander wirken läßt, also immerhin noch seiner Erzählung einen Schein von Realität zu geben vermag, begibt er sich mit dem „Zauberer von Rom“ auf ein ihm ganz fremdes Gebiet, auf das des katholischen Glaubens und Lebens, das er gar nicht oder nicht anders als im Zerrbild wüthend feindseliger Anschauung kennen kann, und auf dem er daher naturgemäß sofort der Lüge verfällt.

Der erste Band erzählt die Jugendjahre Lucindens, der Tochter eines verkümmerten oberhessischen Dorfschulmeisters. Sie kommt in die Stadt, in den Dienst einer alten Hexe, nach einer Weile zum Stadtamtmann, entflieht dann mit einem Commis, der seinen Herrn bestohlen hat, läuft auch ihrem Entführer davon und einem verrückten Adeligen in die Arme, dessen Narrheit sie heilen helfen soll, verliebt sich halbwegs in einen Dr. Klingsohr, einen Rechtsgelehrten, den die Liederlichkeit nahezu auch um den Verstand gebracht hat, kommt mit diesem später wieder in Hamburg zusammen, wo man sie einer ehrbaren Familie in Verwahrung gegeben hat, geht dann unter die Schauspieler, nimmt fernerhin eine Stelle an einem orthopädischen Institut an und wird hier eines neugeweihten Priesters wegen, in den sie sich vom bloßen Ansehen verliebt, katholisch.

Im zweiten Bande finden wir Lucinde auf dem Wege zu einem alten Dechanten in der Kölner Erzdiöcese, dessen Gesellschafterin sie werden soll; in der Nähe desselben trifft sie den erwähnten Priester, Bonaventura von Asselyn, den Neffen des Dechanten als Landpfarrer, aber auch ihren früheren Geliebten, Klingsohr, als Franziscaner. Da sie vor den Augen der Haushälterin des Dechanten keine Gnade findet, so wird sie da verabschiedet und als Gesellschafterin der Besitzerin eines reichen Kölner Handlungshauses engagirt, und mit ihrem Eintritt in dieses Haus schließt der zweite Band. Dieß ist, eine Unmasse von nebenher laufenden Begebenheiten, Verhältnissen und Persönlichkeiten abgerechnet, der Hauptinhalt der zwei vorliegenden Bände.

Es erübrigt uns noch zu zeigen, wie Gutzkow die in vorstehender Skizze angedeuteten Personen charakterisirt; die Leser werden daraus am besten ersehen, in welchem Geiste das ganze Werk geschrieben ist. Beginnen wir mit der vorläufigen Hauptheldin, Lucinde, die wohl in den künftigen Bänden die zweitwichtigste Rolle neben dem „Zauberer von Rom“ spielen wird, so müssen wir uns vor Allem verwundert fragen, wie es möglich sei, daß eine Person wie Lucinde, ohne Grundsätze, ohne Charakter, ohne Glauben, nicht ein so liederliches Weibsbild ist, als nur jemals eines die Frauenwürde geschändet hat. Daß Gutzkow ein so armseliges, bei allem äußern Tugendflitter durch und durch geistig und sittlich verkrüppeltes Wesen katholisch werden läßt, ist einer jener Giftpfeile, die er gegen die katholische Kirche zu schleudern liebt, und er verschärft ihn noch durch die Bemerkung: „Wie gering auch die innere Treue Lucindens für Religion überhaupt war, Haß für (!) alle Norddeutschen und Protestanten hatte sie.“ Nur Ein Zug in der Charakteristik dieser Abenteurerin ist wahr und richtig: daß sie gerade nichts absolut Böses, aber auch nichts unbedingt Gutes thut, und daß die Gewissensbisse über ihre Todsünde der geistigen Trägheit sie nirgends weder zu äußerer noch innerer Ruhe kommen lassen.

Der Pfarrer Bonaventura von Asselyn, der vermuthlich den „Zauberer“ wird abgeben müssen, wenn nicht dem Franciscanerpater Sebastus diese Rolle zugedacht ist, wäre in diesem ganzen Gewirre von Halb- und Unmenschen, von Fexen, Spitzbuben und Lumpen noch die annehmbarste Persönlichkeit. Er hat wenigstens eine positive Ueberzeugung für seinen katholischen Glauben und empfiehlt sich durch Lauterkeit des Sinnes und Wandels, aber Gutzkow characterisirt ihn als einen Fanatiker für „Rom“, und bei allem Guten, was er ihm nachrühmt, läßt er doch durchblicken, daß er ihn von den Lesern als einen Einfaltspinsel, als ein willenloses und unbewußtes Werkzeug schlauerer Bösewichter oder Fanatiker angesehen wissen möchte.

Der alte Dechant Franz von Asselyn nimmt sich neben seinem Neffen Bonaventura schon armselig genug aus, wo möglich noch armseliger aber, wenn er allein ist. Einem Anhänger Wessenbergs, wie er einer ist, kann man schon etwas nachsehen, aber mit seiner Furcht, seinen Neffen an dem Kampfe des Erzbischofs Clemens August für die Freiheit und das Recht der Kirche – denn in dieser Zeit spielt der zweite Band –thätig sich betheiligen zu sehen, spielt er doch eine ganz miserable Figur, und das Gewinsel, mit dem er Bonaventura von der Reise nach Köln abzuhalten sucht, wäre mehr lächerlich, wenn es nicht gar zu dumm wäre. Sehr characteristisch für den alten schwachköpfigen Herrn ist es auch, daß er bei der Rückkehr von einer Conferenz glaubenseifriger, dem Erzbischof treu anhänglicher Priester seufzend ausruft: fiat lux in perpetuis! An einer andern Stelle deutet er den Wunsch an, Mann und Weib möchten wie Hunde zusammenleben, nämlich nur so lange es ihnen gefällt. Daß es nicht so ist und von der Kirche nicht so gestattet wird, ist, sagt er, „ein Abgrund, wie auch unsere Ehelosigkeit!“

Die Schilderung der oben erwähnten Conferenz ist eines der tölpelhaftesten und zugleich giftigsten Machwerke in dem an derlei überaus reichen zweiten Bande. Die rechtmäßigen, von Gutzkow aber mit einigen Federstrichen mitunter als absurd gezeichneten Klagen der Geistlichen über den damals auf der Kirche lastenden bureaukratischen Druck werden von ihm als die „sich immer gleich bleibende Rhetorik der Römlinge“ abgefertigt. Eben so hinterlistig verdreht er die an sich schöne und wahre Rede des bei der Conferenz anwesenden Franziscanerpaters Sebastus (Klingsohr), indem er nur Vordersätze gibt, denen der logische Nachsatz fehlt, oder umgekehrt, so daß das Ganze vom süßen Publikum, für welches Gutzkow schreibt, mitleidig belächelt werden muß. Die Umwandlung des verlumpten Klingsohr in einen Franciscaner ist ein nicht minder giftiger Hohn gegen den Katholicismus als die Conversion Lucindens.

Unsere Leser wissen nunmehr, was sie von dem neuesten Werke Gutzkow’s zu halten haben. Es ist um ein Bedeutendes auch in Form und Anlage schlechter als die „Ritter vom Geist“, hat aber mit diesem die Nachlässigkeit des Styls gemein und übertrifft sie noch durch eine, wo der Verfasser mit aller Gewalt geistreich sein will, unsinnige Verschwendung von Ausrufungszeichen. Von der Liederlichkeit des Styls mögen zwei Sätze Zeugniß geben. S. 166 im II. Band heißt es: „oder die dem, der sie empfohlen, zu sehr verklärt erschienen gewesen sein mochte“ – und S. 325: „nicht wie sie Moppes, der heute, da Thibald pausirte, die Oberhand hatte, paradirte.“ Das soll deutscher Styl sein! Vollends lächerlich erscheint neben solcher Liederlichkeit die sonst an vielen Stellen sich spreizende Geschraubtheit, und unter andern Dummheiten auch die, daß die Stadt Köln genannt, nie sondern immer als „die Residenz des Kirchenfürsten“ bezeichnet wird.

Hoffentlich wird kein Katholik, der etwas auf sich und seinen Glauben hält, für dieses Schandwerk auch nur einen Kreuzer Geld ausgeben oder ausgegeben haben. Leider können wir nicht umhin, auch von den ferneren Bänden dieses Productes der rasendsten Bosheit und Feindschaft gegen die katholische Kirche Act zu nehmen; es ist nothwendig, daß unser Publicum wisse, mit welchen Waffen mitunter unsere heiligsten Güter angegriffen werden, und daß es nicht vergesse, daß die Revolution nicht ausstirbt, auch wenn sie in Italien zu Boden geschlagen wird: dafür sorgt schon unsere „gesinnungstüchtige“ Presse, die zärtliche Herbergsmutter des antichristlichen Lumpacivagabundus.

29. Robert Prutz, 18. August 1859#

Robert Prutz: Karl Gutzkow und sein „Zauberer von Rom“. II. In: Deutsches Museum. Leipzig. Nr. 34, 18. August 1859, S. 273-283. (Rasch 14/34.59.08.18)

„Das alte blut- und thränenreiche deutsche Vermächtniß, die Spaltung in Süd und Nord, kann noch immer die Bresche werden, über welche hinweg unsere Heiligthümer, Sprache, Bildung, Nationalität, Volkstracht, im Völkersturme genommen werden und früher oder später ist die Stunde da, wo entschieden wird, ob die Welt den Slawen, Celto-Romanen oder Germanen gehört.

Die nachfolgende Dichtung will, soweit dem Worte eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen die vaterländische Einheit zu fördern. Sie will warnen, will ermuntern. Sie will die Gefahren aufdecken einer trügerischen Lockung. Sie will den ‚lieblichen Ton der Pfeife des Vogelstellers‘ nachweisen selbst in dem Busch, wo Tannenzapfen, nicht Orangen reifen. Sie will einem großen sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdigere Ziele zeigen, als sie sich bisher in der fernen Fata-Morgana spiegelten. Sie will für jene heraufziehende Entscheidung den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz mehren helfen, will den Ver-[274]räthern unsers eigenen Heerlagers auf ihren geheimsten und nächtlichsten Pfaden folgen. Sie will –

Doch spreche die Absicht des Buches aus ihm selbst.

Der Verfasser widmet es seinem Volke und seiner Zeit.“ ...

Karl Gutzkow hat kein Glück mit seinen Vorreden. In dem Vorwort zu seinen „Rittern vom Geiste“ stellte er bekanntlich jene Theorie von dem „Roman des Nebeneinander“ auf, welche bei der Kritik mit Recht so viel Anstoß erregte und sogar eine Zeit lang den Erfolg des Romans selbst zu beeinträchtigen drohte, indem der Leser natürlich nach einer so ungewöhnlichen und vielversprechenden Ankündigung ein ganz neues und ungewöhnliches Werk erwartete: bis der Dichter selbst für gut befand, die so pomphaft angekündigte Entdeckung ebenso rasch wieder fallen zu lassen, wie er sie gemacht hatte, und ist unsers Wissens von dem „Roman des Nebeneinander“ seitdem in unserer Literatur keine Rede mehr gewesen. Vielleicht rührt dies Vergreifen des Tons, das Gutzkow in seinen Vorreden und Einleitungen so leicht begegnet, von einer gewissen Schüchternheit her; wir kennen berühmte Schauspieler, gefeierte Virtuosen, die vor dem Publikum wie zu Hause sind und die doch regelmäßig, so oft sie auftreten, kaum einen Ton aus der Kehle kriegen können, bis das Lampenfieber überwunden ist und irgendein Zeichen des Beifalls, ein Applaus, ein Zunicken befreundeter Zuschauer ihnen über die Befangenheit des Augenblicks hinweghilft. Vielleicht aber hängt diese Erscheinung auch mit dem allzu großen Werthe zusammen, den der Dichter, nach unserer frühern Darstellung, auf den äußern Erfolg seiner Schriften legt; mit ängstlicher Spannung jede Miene des Lesers belauernd, aufs äußerste reizbar gegen jeden Luftzug der Kritik, immer besorgt, nicht richtig oder gar nicht verstanden zu werden, trägt er die Farben von vorn herein gern ein wenig stark auf und sucht die Aufmerksamkeit der Leser durch Mittel zu erregen, die ein etwas gewählterer Geschmack nicht immer billigen kann. Auch die obigen Sätze aus dem Vorwort zu seinem „Zauberer von Rom“ scheinen uns nicht ganz zweckentsprechend; sie athmen eine Hast, eine Leidenschaftlichkeit, ein welthistorisches Pathos, zu welchem der unbefangene Leser, der das Buch in die Hand nimmt wie man Romane heutzutage in die Hand zu nehmen pflegt, nämlich um sich zu unterhalten, überall keinen rechten Grund absieht. Die Zeit, wo wir von Romanen und Gedichten, von Theaterstücken und kritischen Abhandlungen Heilung oder auch nur Erleichterung der Beschwerden erwarteten, an denen unser politisches und sociales Dasein krankt, ist längst vorüber; wir wissen jetzt, daß der Poet wol die Macht hat, der kranken Zeit den Spiegel vorzuhalten, aber wir wissen auch, daß dies Spiegelbild niemand gesund macht und daß überhaupt niemand gesund wird, der nicht die Kraft der Genesung in sich [275] selber trägt. Die Literatur, vor allem die belletristische Literatur, hat heutigentags vor allem möglichst bescheiden aufzutreten; unter den großen praktischen Aufgaben, an deren Lösung wir arbeiten, ist die Poesie ja doch nur ein geduldeter Gast, und so wenig wir, mitten unter dem Schweiß und Blut dieser Tage, ihrer duftigen Kränze ganz entbehren mögen, so wird sie doch gutthun, dieselben nur für das auszugeben, was sie in Wahrheit sind: flüchtige, leichtverwelkliche Blumen, die unsere Stirn wol kühlen und unsere Wunden erfrischen, niemals aber den Kämpfenden selbst zum Werkzeug dienen können.

Indessen wäre es ja unrecht, wegen eines nicht ganz glücklich stilisirten Vorworts oder wegen einiger allzu emphatischen Sätze desselben ein Vorurtheil gegen das Buch selbst zu fassen; dies Unrecht ist, wie gesagt, den „Rittern vom Geiste“ widerfahren – und wir hüten uns natürlich, es zum zweiten male zu begehen. Uebertragen wir uns denn also die obigen etwas allzu schwunghaften Sätze in gewöhnliches simples Deutsch, so werden sie ungefähr so viel besagen, daß wir hier einen Roman zu erwarten haben, der sich zur Aufgabe die Darstellung jenes confessionellen Haders macht, an welchem das deutsche Leben seit Jahrhunderten gelitten hat und noch in diesem Augenblick leidet; der Dichter will uns schildern, wie Kirche und Staat sich von uralters her als Feinde gegenüberstehen, wie diejenigen, deren Reich nicht von dieser Welt, gleichwol ohne Aufhören dahin arbeiten, die Welt zu unterjochen, und wie in diesem unablässigen, bald offen, bald heimlich getriebenen Kampfe sowol Staat wie Kirche, Weltlichkeit wie Außerweltlichkeit in Verwirrung und Auflösung gerathen.

Gewiß ein ebenso bedeutungsvolles wie zeitgemäßes Thema: denn daß dieser jahrhundertalte Zwist auch noch heute nicht ausgekämpft ist, daß er vielmehr nur die Formen verwandelt hat, während er selbst noch immer unverändert unter der Asche glimmt und lodert, wer möchte es leugnen, der überhaupt einen Blick für das Verständniß unserer Tage hat? Selbst die politischen Parteien, die unter uns auftraten, sind demselben Stammbaum entwachsen; es sind dieselben Gegensätze, die zur Zeit der Hohenstaufen mit dem Schlachtruf der Welfen und der Ghibellinen die Welt erschütterten, die dann in der Reformation in offenen Kampf gegeneinander traten und die jetzt, in dem Zeitalter der Revolution, nur das geistliche Gewand mit dem weltlichen vertauscht haben – die Gegensätze zwischen Autorität und Freiheit, zwischen Glauben und Wissen, zwischen selbständiger Forschung und blinder Unterwerfung. Es ist mit Einem Wort der Ur- und Grundton aller geschichtlichen Entwicklung, ja des menschlichen Daseins selbst und können wir daher nur den richtigen Griff und den Muth des Dichters loben, der sich einen so [276] bedeutenden, in Vergangenheit und Gegenwart so tief eingreifenden Stoff zur Behandlung ausgewählt hat.

Diese Anerkennung muß sich noch steigern, der Fortschritt, welchen der Dichter gemacht hat, wird noch deutlicher, wenn wir uns das Thema ins Gedächtniß rufen, das den „Rittern vom Geiste“ zu Grunde lag. Auch der Grundgedanke dieses Romans stand bekanntlich zu den politischen und socialen Kämpfen der Gegenwart in engster Beziehung; der Dichter suchte, wenn wir anders die Idee des Buchs recht verstanden haben, darin auszuführen, daß zur Lösung der großen Aufgaben, die unserer Zeit gestellt sind, keine individuelle Kraft und keine einzelne Persönlichkeit ausreicht, auch nicht die wohlmeinendste und reichbegabteste, daß vielmehr in jedem einzelnen von uns die allgemeine Krankheit des Jahrhunderts wiederkehrt und daß daher das Ziel nicht anders erreicht werden kann als durch die gemeinsame Betheiligung des gesammten Volks, das sich von denselben Ideen ergriffen und hingerissen fühlt.

Gewiß ebenfalls eine schöne und große Idee und ein würdiger Stoff der Dichtung, aber wie viel Ungewisses, Unfertiges, Nebelhaftes klebt ihr noch an! Wie viel greifbarer, plastischer und darum auch poetisch fruchtbarer ist der große geschichtliche Gegensatz, den der Autor zum Vorwurf seines neuesten Romans gewählt hat! In den „Rittern vom Geiste“ handelte es sich wesentlich darum, den Staat und die Gesellschaft der Zukunft zu zeichnen und bei aller prophetischen Gabe, welche der Poesie ohne Zweifel innewohnt, bleibt ein derartiges Unternehmen doch immer in hohem Grade mislich. Hier dagegen stellt der Dichter sich wesentlich auf den Boden der vorhandenen Zustände, er wird uns die Gegenwart schildern, wie sie ist und wie sie geworden, er wird in den Schachten der Vergangenheit den Strömungen nachspüren, die unser heutiges Leben in Bewegung setzen, und wenn er auch, eben als Dichter, des versöhnenden Hinweises auf die Zukunft nicht wird entbehren können, so sind ja doch alle wirklich gebildeten und einsichtigen Köpfe über diese Zukunft, d. h. den endlichen und unausbleiblichen Sieg der Freiheit, so wenig in Zweifel, daß wir gern mit dem Dichter Nachsicht haben werden, wenn er uns auch den schließlichen Ausgang des Kampfes nur in allgemeinsten Umrissen, wiederum nur mit Prophe[ze]iungen und Weissagungen statt mit erfüllten Thatsachen zu zeichnen vermag.

Auch ist der Verfasser selbst sich dieser vorwiegend historischen Seite seiner Aufgabe offenbar vollkommen bewußt gewesen. Zwar liegt von dem „Zauberer von Rom“ erst die kleinere Hälfte gedruckt vor, wir halten überall erst die sehr verwickelten, um nicht zu sagen verworrenen Anfangsfäden der Fabel in Händen: doch genügen auch diese bereits, um uns erkennen zu lassen, daß der Verfasser den Erfindungen seiner Phantasie überall einen sehr derben realen Einschlag gegeben hat, mit anderen [277] Worten, daß wir uns auf wesentlich geschichtlichem Boden, inmitten wirklicher historischer Ereignisse und Zustände befinden. Da ohne Zweifel alle Leser unserer Zeitschrift auch die bisher erschienenen vier Bände des „Zauberer von Rom“ gelesen und wir also kein Interesse der Neugier zu schonen haben, so dürfen wir ja auch wol verrathen, daß der historische Kern des Buchs, wenigstens soweit dasselbe bisjetzt vorliegt, jenen bekannten, zu ihrer Zeit vielbesprochenen erzbischöflichen Streitigkeiten entnommen ist, die zu Ende der dreißiger Jahre stattfanden und durch welche auf den übrigens so ruhigen und milden Lebensabend Friedrich Wilhelm’s III. ein so beängstigender Schatten geworden ward. Freilich hat der Dichter es verschmäht, die von ihm benutzten historischen Zustände und Persönlichkeiten auch als solche zu bezeichnen; mit echt deutscher Zurückhaltung vermeidet er es, irgendeinen Namen zu nennen, und während für den Eingeweihten – und wer wäre das in diesem Falle nicht? – der Erzbischof Droste von Vischering, sein Secretär Michelis, Pfarrer Binterim und andere damals vielgenannte Persönlichkeiten vollkommen erkennbar sind, bedient er sich der weitläufigsten und wunderlichsten Umschreibungen, um nur ja nicht zu sagen, was er doch eigentlich sagen will. Wir vermögen diese Zurückhaltung, die z. B. so weit geht, daß er uns zwar ein bis ins Kleinste ausgeführtes Gemälde der Oertlichkeit von Köln sowie des dortigen Lebens und Treibens gibt, ohne doch den Namen Köln jemals auszusprechen – wir vermögen, sage ich, diese Zurückhaltung im Interesse der Dichtung selbst nicht zu billigen; es kommt dadurch in das Ganze eine Unruhe und Unsicherheit, die mit dem plastischen Charakter des historischen Romans im Widerspruch steht und für die auch, wenigstens nach unserm Dafürhalten, der Reiz des Pikanten, Geheimnißvollen, den der Dichter damit allerdings erreicht, keineswegs entschädigen kann. Möglich, daß andere darüber anders denken und daß gerade dies Halbenthüllte, Halbverschleierte, dies kokette Durchblickenlassen von Persönlichkeiten und Oertlichkeiten, die jeder mit Fingern greifen kann und die der Dichter doch zu nennen nirgends für gut befindet – möglich, daß gerade dies für einen gewissen Theil des Publikums etwas besonders Anziehendes hat. Von einem so erfahrenen, mit den Neigungen des Publikums so vertrauten Autor wie der Dichter des „Zauberer von Rom“ läßt sich wenigstens voraussetzen, daß er ein so wenig künstlerisches Mittel nicht anwenden würde, wenn er nicht des Erfolgs beim Publikum sicher wäre. Auch hat er ja bekanntlich schon in den „Rittern vom Geiste“ dasselbe Experiment angestellt, und da er trotz der Bedenken, welche die Kritik damals gegen dies Verfahren erhob, dasselbe hier im weitesten Umfange wiederholt, so muß er sich ja wol überzeugt haben, daß unser Publikum diese Art von Geheimnißthuerei wirklich liebt, und bliebe danach nur noch die Frage zu erörtern, ob dies wirklich derjenige Theil des [278] Publikums ist, auf dessen Stimme ein Autor, der sich selbst und die Kunst wahrhaft achtet, wie Hr. Gutzkow es doch ohne Zweifel thut, zu hören hat.

Allein gegen unsere ursprüngliche Absicht haben wir uns hiermit bereits einem Theil unserer kritischen Aufgabe genähert, den wir eigentlich für heute noch völlig unberührt lassen wollten: nämlich der Frage, wie zu dem interessanten und zeitgemäßen Grundgedanken des Werks die Ausführung sich verhält, welche der Dichter demselben gegeben hat. Ganz gewiß ist dies die eigentliche entscheidende Frage, die Frage, von welcher der ganze Werth oder Unwerth eines Kunstwerks abhängt; eine Faust in der Tasche ist keine Faust und eine Idee, welche der Künstler nicht genügend zu verwirklichen weiß, ist so gut wie nicht vorhanden, und ob es übrigens die allergrößte und allererhabenste Idee wäre, die sich denken läßt.

Und doch fordert in diesem Falle die erste und wichtigste Pflicht des Kritikers, die Pflicht der Gerechtigkeit, von der Beurtheilung dieser Frage bis auf weiteres abzustehen, nämlich bis dahin, daß der Roman, der bekanntlich gleich den „Rittern vom Geiste“ auf nicht weniger als neun Bände berechnet ist, dereinst vollständig vorliegt. Denn ohne Widerspruch müssen wir doch annehmen, daß der Dichter beabsichtigt hat, ein Kunstwerk zu schaffen: das heißt also ein Werk, dessen einzelne Theile in nothwendiger innerer Beziehung zueinander stehen und das sich nicht anders beurtheilen läßt als aus seiner eigenen Totalität. Weit entfernt daher, sei es in die Lobeserhebungen, sei es in die Schmähungen mit einzustimmen, mit welchen die vorliegenden Anfänge des Werks so reichlich empfangen worden sind, ziehen wir es vor, uns bis dahin zu gedulden, daß das Werk dereinst zum Abschluß gelangt sein wird; es ist dies, meinen wir, nicht eine Vernachlässigung, sondern im Gegentheil ein Beweis der Achtung, den wir sowol dem Dichter wie unsern Lesern erweisen, insofern ja die Fäden des Romans erst halb angesponnen, die Charaktere erst halb entwickelt sind und somit jedes Urtheil, das sich schon jetzt auf die Einzelheiten des Romans erstrecken wollte, nur ein vorschnelles und halbbegründetes sein könnte.

Leicht freilich, dies müssen wir zugeben, hat der Verfasser der Kritik diese Zurückhaltung nicht gemacht; es ist in diesen vier Bänden neben manchem Schönen und Anmuthigen, wozu wir namentlich den Charakter des jungen Priesters Bonaventura von Asselyn sowie überhaupt die ganze Schilderung der katholischen Kirche zählen, auch gar viel des Auffallenden und Verwunderlichen, und wenn es der Kritik angesichts mancher wenn auch nur scheinbarer Monstrositäten schwer fällt, ihr Urtheil zurückzuhalten, so hat auch der Dichter selbst es sich offenbar nicht leicht gemacht, wenn er anders wirklich die Absicht hat, diese – wir wiederholen es – wenigstens scheinbaren Caricaturen noch zu wirklichen Menschen zu entwickeln. Ganz [279] besonders gilt dies von der Heldin des Buchs. Es ist kein geringes Wagstück, ganz gewiß, und wir bewundern den Muth des Dichters und das gute Zutrauen, das er in seine Leser setzt, die Heldin eines auf neun Bände angelegten Romans gleich im ersten Bande so darzustellen, wie er gethan hat, sie vorzuführen in einem solchen Sumpf von physischer und moralischer Unsauberkeit, sie so von allem zu entkleiden, was menschliche Theilnahme und menschliches Mitgefühl zu erregen vermag – thut nichts, sie bleibt doch die Heldin! Wir sind begierig, in der That, wie der Dichter mit diesem Charakter zurecht kommen und welche Mittel er anwenden will, ihn im Interesse des Lesers wiederherzustellen, nachdem er selbst ihn gleich anfangs so tief herabgesetzt hat; in der Fortsetzung, soweit dieselbe bisjetzt vorliegt, sind dazu noch keine Anstalten gemacht, so viel Mühe der Verfasser sich auch offenbar gibt und so wenig es ihm selbst auf eine Hand voll Widersprüche ankommt, den ersten so über die maßen ungünstigen, ja widerwärtigen Eindruck zu mildern und die allzu grellen Farben einigermaßen zu verwischen. Man sagt sonst wol unsern Trauerspieldichtern nach, daß sie das Maß der tragischen Schuld, in das sie ihre Helden verfallen lassen, nicht gehörig innezuhalten wissen und sie zu tief im Interesse des Zuschauers sinken lassen, als daß am Schluß des Stücks eine rechte Erhebung überhaupt noch möglich. Nach diesem „Zauberer von Rom“ zu urtheilen kann dergleichen jedoch auch einem Romandichter passiren, selbst auch einem so gewandten und vielerfahrenen wie Hr. Gutzkow.

Ueberhaupt scheint das Buch, wir sagen nicht unter keinem glücklichen, aber doch unter keinem besonders heitern und hellen Gestirn geschrieben. Die Mehrzahl der Charaktere, welche uns darin vorgeführt werden, zeigt eine bedenkliche Verwandtschaft mit der ebenbesprochenen Lucinde; dieser Dr. Klingsohr, der sich später zum Mönch entpuppt und der, wie es bisjetzt scheint, das männliche Gegenstück zu der Heldin Lucinde bilden soll, dieser diebische Handlungsdiener Oskar Binder, mit dem Lucinde zuerst in die Welt geht, und der dann späterhin als reisender Industrieritter wieder auftaucht, dieser Kronsyndikus mit seinem wahnwitzigen Sohne, bis hinunter zu der Frau von Buschbeck, welche ihre Dienstmädchen mit getrockneten Pflaumenkernen und Wasser beköstigt, oder diesem Procurator Nück, der schon einmal aufgehängt gewesen ist, blos zum Plaisir versteht sich, und an dessen Hals, wenn die Kravatte sich verschiebt, man noch jetzt den blutig rothen Streifen sieht, den der Strick ihm gedrückt hat – welche Galerie von Verbrecherphysiognomien! welche Ungeheuer! welche moralischen Unmöglichkeiten!

Zwar der Dichter scheint diesen Einwurf vorausgesehen zu haben; er verwahrt sich im Vorwort gegen die einseitige Auffassung derjenigen, die „nur schwarze oder weiße Menschen“ kennen; mit jener etwas über-[280]schwenglichen Beredsamkeit, von der wir schon im Eingang unserer Besprechung eine Probe gegeben haben, wendet er sich an die andern, die „Wohlwollenden, Uebereinstimmenden, Gerechten“, die ihm „aus schöner Erfahrung“ bekannten Gemüther, „die den Autor gleichsam nur bevollmächtigten, das zu sagen, was schon lange ihnen selbst auf dem Herzen brennt“, die „nicht ermüden, die Anklage oder Vertheidigung der Charaktere“ allmählich erst aus sich selbst „aufsummen“ zu sehen – „stelle doch“, ruft er ihnen zu, „du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am Jüngsten Tage, nicht Schulcensuren .....“

Wir müssen zwar bekennen, diese „Sprüche urtiefer Weisheit“ nicht ganz zu verstehen, wir verstehen auch nicht, wie aus so bodenlos schlechten und widerlichen Charakteren gleich den ebengenannten sich noch irgendetwas, was zu ihrer Vertheidigung gereiche, „aufsummen“ soll, wir verstehen vor allem nicht, wie ein sonst so vorsichtiger, auf die Zeitströmung so aufmerksamer Schriftsteller wie Hr. Gutzkow in einen solchen Anachronismus verfallen und die Eugène Sue’schen Schaudercharaktere und Schreckgeschichten wieder auffrischen konnte zu einer Zeit, deren Geschmack offenbar nach ganz anderer Kost verlangt; wir verstehen überhaupt vieles, sehr vieles in diesen vier Bänden nicht, z. B. auch nicht die Art von Humor, den die Trinkgesellschaften der jungen kölner Patrizier athmen oder die Scherze des Hrn. Jean Baptist Maria Schnuphase, der das Unglück hat, gewisse Buchstaben nicht aussprechen zu können und darüber in einen Jargon verfällt, ungefähr wie der bekannte „Hörr Zwückauer“ des „Kladderadatsch“. Aber wir wissen auch, was wir dem Dichter schuldig sind und gedulden uns, bis der neunte Band des „Zauberer“ vorliegen wird....

Dagegen sei uns hier zum Schluß unserer heutigen Besprechung noch eine Bemerkung verstattet, mit der wir ja wol um so weniger zurückzuhalten brauchen, als sie lediglich etwas Aeußerliches betrifft. Der „Zauberer von Rom“, wenn er einmal vollendet ist, wird der zweite neunbändige Roman sein, welchen Hr. Gutzkow dem deutschen Publikum bietet. Unsers Wissens war Gutzkow der erste, der das herkömmliche Maß von drei, höchstens vier Bänden zu überschreiten wagte; sein Beispiel hat Anklang gefunden, wenigstens bei den Schriftstellern, sodaß wir seitdem mit einer ziemlichen Anzahl von sechs-, acht-, ja zehnbändigen Romanen beschenkt worden sind.

Und doch ist die von Hrn. Gutzkow eingeführte Neuerung in der That gar so neu nicht, wie sie aussieht. Im Gegentheil, wo der Roman zuerst bei uns auftritt, im Lauf des 17. Jahrhunderts, hat er schon ganz diesen für den heutigen Zeitgeschmack so überraschenden Umfang und sogar zum Theil noch einen größern. Da steht z. B. „Des [281] Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus und Herkuladisla. Auch Ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuthige Wunder-Geschichte. In sechs Bücher abgefasset Und allen Gott- und Tugendergebenen Seelen zur Anfrischung der Gottesfurcht, und ehrliebenden Ergezlichkeit aufgesetzet. Gedruckt und verleget Von Christoff-Friedrich Zilliger und Casper Gruber, Buchhändlern. Braunschweig im Jahre MDCLXXVI“, bekanntlich ein Product des ehrsamen braunschweigischen Pastors und Superintendenten Andreas Heinrich Bucholtz, auf dem Bücherbret neben mir; es ist nur ein einziger Band, aber welch ein Band! Funfzig Bände moderner lyrischer Gedichte, im heutigen Nippesgeschmack, würden noch nicht das Volumen dieses einen Bandes erreichen; es sind an funfzehntehalbhundert Seiten des stattlichsten Quartformats in Doppelspalten und so eng gedruckt, daß ein heutiger Setzer bequem zwanzig Bände modernen Romanformats daraus machen könnte. Oder beliebt hier vielleicht des berühmten Schlesiers Kaspar Daniel von Lohenstein’s „Großmüthiger Feldherr Arminius oder Hermann nebst seiner Durchlauchtigsten Thusnelda“? Es sind freilich nur zwei Quartbände, aber sie zählen zusammen über 3000 Seiten in gespaltenen Columnen und das wäre heutzutage ein schlechter Verleger, der nicht eine ganze Romanbibliothek von dreißig oder mehr Bänden daraus herstellte. Auch die ersten englischen Familienromane, die Romane eines Richardson, eine „Pamela“, eine „Clarissa“ etc., dieselben, durch welche die Gattung des Romans bekanntlich überhaupt erst populär in Europa wurde, zählen noch fünf, sechs und mehr Bände und zwar Bände von einem so respectablen Umfang, daß unsere heutigen Romane sich dagegen völlig verstecken müssen. Sollte es nun wol wirklich bloßer Zufall oder bloße Laune der Mode sein, daß die Romanschriftsteller der verschiedensten Nationen seitdem angefangen haben, sich auf ein bescheideneres Maß zu beschränken? Walter Scott z. B., dem denn doch kein neuerer Romandichter gleichkommt, weder an unerschöpflicher Productivität noch an Beliebtheit, hat sich regelmäßig auf drei Bände beschränkt; drei Bände waren ihm genug, seinen „Alterthümler“, sein „Mädchen von Perth“ und andere Meisterwerke zu schreiben, Werke, die obenein in erster Linie für das englische Publikum bestimmt waren, bekanntlich das ausdauerndste und solideste Lesepublikum der Welt. Es ist wahr, Eugène Sue hat dies Maß dann wieder überschritten, seine „Geheimnisse von Paris“ zählen, wenn wir uns recht entsinnen, sechszehn Bände: allein wir drückten auch schon vorhin unsere Zweifel darüber aus, ob Eugène Sue derjenige Schriftsteller ist, den ein deutscher Romandichter der Gegenwart sich zum Vorbild zu nehmen hat.

Sollte – wir wiederholen unsere obige Frage – das alles nun wirklich bloßer Zufall und bloße Sache der Mode sein? Oder sollte [282] auch vielleicht hier ein tieferes innerliches Motiv zu Grunde liegen? Auf die Romane der Bucholtz, Lohenstein und Consorten darf man sich dabei wol kaum berufen; Bücher im Besitz der Familie, Bücher, die dem Hause angehören, waren damals noch immer, abgesehen von Gebetbüchern und Postillen, eine große Seltenheit. Auch die Romanliteratur selbst war von der Fruchtbarkeit, welche sie heutzutage entwickelt, noch sehr weit entfernt; an einem Buch wie „Arminius und Thusnelda“ lasen noch ganze Generationen, es erbte wie ein Familiengut von Geschlecht zu Geschlecht, und wer es heute anfing, der wußte zum voraus, daß er unter Verlauf einiger Jahre nicht damit zu Ende kommen würde.

Ist das alles nun heutzutage noch ebenso? Oder sind nicht vielmehr ganz andere Verhältnisse und Bedingungen eingetreten? Wir glauben in der That. Die Lesefähigkeit und das Lesebedürfniß des heutigen Publikums ist allerdings unermeßlich größer als vor 200 Jahren: aber es ist dafür auch lange nicht mehr so ausdauernd und nachhaltig, der Geschmack ist nicht mehr so naiv, im Gegentheil, er ist bereits einigermaßen überreizt und sucht durch Mannichfaltigkeit zu ersetzen, was ihm an Einfachheit und Stetigkeit gebricht. Auch für den Romanleser, glauben wir allen Ernstes, gibt es gewisse Grenzen der Receptivität, die von dem Autor in seinem eigenen Interesse füglich nicht überschritten noch auf allzu harte Proben gestellt werden sollten. Hat man es für den dramatischen Dichter als eine Nothwendigkeit erkannt, sich in die Schranken eines Theaterabends zu fügen und sind fünf, höchstens sechs Acte das Aeußerste, was man ihm verstattet, so hat, dünkt uns, auch der Romandichter ähnliche Schranken anzuerkennen. Die Empfänglichkeit des Zuschauers würde sich verlieren und verliert sich, wie z. B. unsere großen Opern und gewisse langweilige Trauerspiele beweisen, in der That, wo man ihn fünf, sechs oder mehr Stunden vor den Lampen zu fesseln sucht – und ebenso, fürchten wir, verliert sich auch die Empfänglichkeit des Romanlesers, wo man ihm zumuthet, statt der herkömmlichen drei oder vier Bände deren acht, neun oder noch mehr zu bewältigen. Der Verfasser gegenwärtigen Artikels wenigstens muß ganz offen bekennen, daß weder sein Gedächtniß noch sein Interesse ausreicht für die Hunderte und aber Hunderte von Personen und Persönchen, die z. B. blos in diesen vier ersten Bänden des „Zauberer von Rom“ vorkommen, ja wir möchten einen Preis darauf setzen, ob es irgendeinem noch so gut geschulten Romanleser möglich ist, z. B. die verschiedenen Verwandtschaftsgrade der Familien Droste-Camphausen, Salem-Camphausen etc. zu behalten oder sich für diese zahllosen Vertreter des kölner Klüngels zu interessiren, deren jeder wiederum einen ganzen Rattenkönig von Aeltern und Großältern, von Vettern und Basen, Oheimen und Muhmen nach sich schleppt!

[283] Aber auch dem Dichter selbst ist diese allzu große Freiheit der Bewegung nicht zuträglich. Wer sich irgendeinmal selbst auf ähnlichen Gebieten versucht hat, der weiß auch, welch ein heilsamer Zwang darin liegt, wenn der Schriftsteller sich nicht allzu weit ausdehnen darf; es ist vollkommen wie jener französische Schöngeist sagte: er hatte keine Zeit gehabt einen kurzen Brief zu schreiben, darum war sein Brief so lang geworden. Das geistige Auge des Dichters unterliegt gewissermaßen denselben Gesetzen wie das leibliche Auge: wo die Grenzen des Raumes allzu weit gesteckt sind, verliert er das Augenmaß, die Perspective geht ihm verloren, er vergißt den Unterschied zwischen Haupt- und Nebenfiguren, zwischen Vorder- und Hintergrund, und indem er eins mit dem andern vermengt und nach Chinesenmanier Nahes und Fernes in derselben Größe und mit derselben Genauigkeit darstellt, verdirbt er sich selbst den Eindruck und zerstört den Erfolg seiner eigenen Arbeit.

Wie viel oder wie wenig von der vorstehenden Wahrnehmung auf den „Zauberer von Rom“ paßt und ob nicht namentlich die ermüdende Breite des Dialogs, an welcher die vorliegenden Bände leiden, sowie die nicht eben seltenen stilistischen Schnitzer und Unebenheiten sich großentheils aus dieser Ursache erklären, mag hier einstweilen unerörtert bleiben. Aber selbst auf die Gefahr hin, unserm eigenen Vorsatz untreu zu werden und ein vorschnelles Urtheil zu fällen, können wir doch nicht das Geständniß unterdrücken, daß nicht wenige Stellen des Buchs uns den Eindruck gemacht, als würde der Verfasser sie anders und zwar besser geschrieben haben, hätte er nicht zum voraus gewußt, daß ihm neun volle Bände zu Gebot stehen.

Inzwischen soll es uns herzlich freuen, wenn der Verfasser uns durch die Fortsetzung seines Werks nöthigt, auch diese Bemerkung als eine voreilige und unbegründete zu widerrufen.

30. Beilage zur Augsburger Postzeitung, 25. Oktober 1859#

[Anon.; Chiffre:] Belletristik. Der Zauberer von Rom. III. Band. 1858. In: Beilage zur Augsburger Postzeitung. Augsburg. Nr. 95, 25. Oktober 1859, S. 363. (Rasch 14/34.59.10.25N)

Nach dem, was ich bereits über die ersten zwei Bände dieses Werkes gesagt, bleibt über den dritten um so weniger zu berichten, als derselbe eigentlich die Handlung nicht weiter bringt. Lucinde befindet sich noch in Köln, eine glaubens- und gewissenlose Närrin wie von jeher, und liest zum Zeitvertreib die Selbstbekenntnisse eines Schauspielers, der in seiner Jugend bereits in einem theologischen Seminar gewesen war und darüber die boshaftesten Glossen niederschrieb. Der Pfarrer Bonaventura ist inzwischen vom „Kirchenfürsten“ nach Köln berufen worden, um nebst dem Franciscaner-Pater Sebastus (dem ehemaligen, vor Liederlichkeit halb wahnsinnig gewordenen Dr. Klingsohr) über die im Dienste der Kirche gegen den Staat und die gesellschaftliche Ordnung zu machenden Manöver instruirt zu werden. Im Uebrigen übertrifft dieser dritte Band an ingrimmigem Haß gegen alles Katholische die beiden ersten Bände noch weit, und wenn dieß in den folgenden Bänden sich noch höher steigern soll, so werden die letzten vor Eckel gar nicht mehr zu lesen sein. Und nicht bloß gegen die katholische Lehre und Disciplin, sondern gegen die Grundlehren des christlichen Glaubens überhaupt erhebt sich Gutzkow, indem er z. B. den Schauspieler in seinen Selbstbekenntnissen (S. 255) sagen läßt: „Ja wer nennt euch alle, ihre Verirrungen alle, die unausbleiblich sind, wenn man die Grundnatur des Menschen eine verdorbene nennt und das Leben darin gesetzt wissen will, diese Natur zu bekämpfen und auszurotten und mit einer geläuterten, mit einem Kleide voll Glanz und Durchsichtigkeit zu vertauschen! … In dem protestantischen Wesen findet die Lehre von der Erbsünde doch wenigstens nur noch im Allgemeinen eine Pflege; aber bei uns, den Treugebliebenen, ist darauf die ganze Heilslehre gegründet und der Teufel eine Macht, die man schon vom Kinde wegbläst und wegkreuzigt, wenn es getauft wird!“ Hr. Gutzkow ärgert sich also, daß man den Teufel „wegbläst und wegkreuzigt“; lieber wäre es ihm vielleicht, man ließe ihm den theuern Freund! – Das Priesterthum bekömmt natürlich auch wieder seinen gebührenden Theil an Hohn und Schmähung. So wird von Bonaventura (S. 104) gesagt: „Als ihm keine Thräne über diese (seine) weinende Mutter kam, fühlte er sich zum ersten Mal als – Priester.“ Von der Freundlichkeit einer Nonne gegen ein junges Mädchen heißt es (S. 80): Sie glich „dem Blick der Schlange, die ihr Opfer erst erstarren macht.“ Dazwischen redet ein preußischer Gerichtsreferendarius von Pfafferei und römischem Wesen, und ein anderer dieser Sorte weiß schon im Jahre 1837 von „Gesellen- und Lehrlingsvereinen“ und andern dergleichen Instituten zu reden, welche die Leute für die Klöster gewissermaßen aptiren, damit die Aufgabe Roms, die Klöster zu bevölkern, gelöst werde. Am Schlimmsten kommt dabei der „Kirchenfürst“ weg, dem auf Seite 107–108 eine Schilderung zu Theil wird, die mit ihrem wahren Namen anständiger Weise gar nicht bezeichnet werden kann. – Trägt somit das Buch den Pferdefuß ganz unverhüllt zur Schau, so gucken oben auch manchmal die Eselohren in ziemlicher Länge heraus. Daß Gutzkow den Rauchfaßträger beim Amte mit den eigentlichen Ministranten verwechselt und ihn z. B. allein respondiren läßt, ist ihm nicht so hoch anzurechnen. Greller tritt seine Unwissenheit da hervor, wo er den Pfarrer Bonaventura erzählen läßt, daß er, weil er die hl. Hostie in der Monstranze von Würmern zernagt fand, „die heilige Handlung unterbrechen und das Opfer unvollzogen lassen mußte“ (S. 125). Dabei kommt es Hrn. Gutzkow auch gar nicht darauf an, statt hl. Messe (S. 36) „Frühmette“ zu setzen und auf S. 19 den Geistlichen beim Begräbniß eines Erwachsenen „in weißem Ornat mit goldstarrendem Besatz“ prangen zu lassen!

31. Franz Jakob Kruger, 1859#

[Franz Jakob Kruger:] Der Zauberer von Rom. Roman in 9 Büchern von Karl Gutzkow. Leipzig bei Brockhaus 1858. Erster und zweiter Band. In: Teut. Jahrbuch der Junggermanischen Gesellschaft. 1. u. einziger Jahrgang. Nürnberg, Leipzig: 1859. S. 159-160. (Rasch 14/34.59.1)

Wir beanspruchen nicht den Scharfsinn, aus zwei oder gar aus einem Bande über ein Werk von 9 Bänden schon ein Lob- oder Verdammungs-[160]urtheil fällen zu können. Auch kann es uns nicht einfallen, auf ein Werk aufmerksam machen zu wollen, das den Namen des bekanntesten der lebenden deutschen Dichter an der Stirne trägt. Wir heben nur hervor, daß der Vorrede zufolge die Tendenz des Werkes eine solche ist, daß dasselbe auch die Theilnahme unserer eigenen Richtung im hohen Grade zu beanspruchen geeignet ist. [...]

Was sonst aus der Haltung der beiden ersten Bände ersichtlich ist, verdient gleichfalls in hohem Maaße unsere Theilnahme. Gutzkow sucht nämlich die Kluft der deutschen Einheit nicht durch die in neuester Zeit wieder so beliebt gewordenen Schmähungen auf den Katholicismus auszufüllen, sondern läßt, indem er einen höheren Standpunkt behauptet, auch dem Glauben der größeren Hälfte unseres Volkes Gerechtigkeit widerfahren. Von Seiten der Katholikenriecher, die hier i[m] Norden eine nicht minder zahlreiche und unliebenswürdige Narrenklasse bilden, als im Süden die Ketzerriecher, widerfuhr es ihm dabei freilich, selbst für einen heimlichen Katholiken gehalten zu werden. Ein vernünftiger Mann jedoch, welchem Glauben er angehöre, kann seiner religiösen Anschauung nur Beifall schenken.

32. Katholische Literatur-Zeitung (Wien), 20. Februar 1860#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 6. Band. In: Katholische Literatur-Zeitung. Wien. Nr. 8, 20. Februar 1860, S. 62-63. (Rasch 14/34.60.02.20N)

Wer sich anmaßt an der zweitausendjährigen Kirche, welche wohl auch „die Ritter vom Geiste“ überdauern wird, tödtliche Schäden aufdecken zu wollen, wer die Concordate durch einen Roman paralysiren will, wer eine Welt dem Fischzug Petri entreißen zu können vermeint, der, sollte man denken, hat wohl seine gründlichen Studien über die römische Kirche gemacht, und kennt ihre Verfassung wie ihre Satzungen genau.

Bei Hrn. G. ist das aber anders. Nicht nur, daß seine Franciskaner Guardians „und Kloster-Aebte“ haben (S. 205) und daß seine Domherrn zu Domcapitularen erhoben werden (S. 361), nein, nicht einmal die canones des Tridentinums kennt er. Sonst würde er es nicht wagen, in diesem 6. Bande einen neuen Knoten durch eine Scheinehe zu schürzen, welche der Kronsyndikus frevlerisch vor einem als Priester verkleideten Juden, dem ein verweltlichter Priester, wohlgemerkt aber nicht der parochus proprius des Kronsyndikus, als Meßner dient, mit einer Italienerin, um diese zu täuschen, eingeht. Denn in dem decreto de reform. matrim. (sess. XXIV.) [62] heißt es: qui aliter quam praesente parocho vel alio sacerdote de ipsius parochi seu ordinarii licentia et duobus vel tribus testibus matrimonium contrahere attentabunt, eos sancta synodus ad sic contrahendum omnino inhabiles reddit et hujusmodi contractus irritos et nullos esse decernit etc. Seither also gilt in der katholischen Kirche eine ohne Pfarrer abgegebene Ehe-Erklärung von Mann und Weib gar nichts; damit fällt das ganze Intriguenspiel, welches an das hier erzählte Factum Rom anknüpfen soll und damit fällt auch der Scrupel Bonaventura’s und seine Beweisführung (S. 240), welche nur für die vortridentinische Zeit Platz fände, nicht aber für die neueste Zeit und für ein Land, in dem zu allem Ueberfluß das Tridentinum publicirt und angenommen wurde, wie es in Deutschland durch den Augsburger Reichstag von 1566 geschehen ist.

Auch nach anderen Seiten hin schlägt Herr Gutzkow in’s Blaue; so in der Schilderung der rheinischen Aristokraten, welche noch 1837 das Papier eine Erfindung des Teufels genannt haben sollen. Wer so übertreibt, der bringt sich selbst bei Kindern um den Credit.

Weil aber die Extreme sich berühren, so wird unser Prophet des idealistischen Romanes hier zuweilen wieder sehr realistisch. Ja kein Dichter der letzteren Schule ist bisher so weit gegangen wie der Idealist G., welcher in einer seiner Localbeschreibungen auch die Anführung des Ortes nicht vergißt, den selbst Könige nur allein und zu Fuß betreten: „Sie sah von ihrem Alkoven aus noch einen kleinen Raum, wo sich sogar Geräthschaften zur Reinlichkeit befanden; selbst einen Verschlag, den sie rasch wieder schloß…“ Die Puncte hier sind nicht willkürlich, sie stehen im Buche an selber Stelle (S. 331); G. hat überhaupt eine Vorliebe für diese geistreiche Art, uncontrolirbar zu denken; auf eben angegebener Seite stehen diese drei Gedanken vertretenden Puncte 16mal; sie fehlen auf keiner Seite des Werkes und man fragt sich unwillkürlich: hat Herr G. dabei so viel gedacht, daß durch Niederschreiben aller Gedanken 20 statt 9 Bänden geworden wären, oder aber zahlt der arme Abnehmer des Werkes summa summarum in diesen 9 Bänden etwa einen ganzen Band Puncte, aber freilich Puncte des großen G.?

Und wie steht es hier mit dem Styl? Ohne den Hrn. Alex. Alt und Jul. Schmidt in’s Gehege zu gehen, seien zwei Citate, wie sie uns zufällig beim Aufschlagen unterkommen erlaubt: (S. 57) „Jetzt war sie so, wie sie schon seit einiger Zeit sich zu geben pflegte, ohne es zu wissen … Etwas Spinnenhaftes hatte sie bekommen, Mageres, Lauerndes, von „Schmerz Gekrümmtes“, wie sie es nannte, wenn man deßhalb ihr Vorwurf machte … Ihr hoher Wuchs sowohl, wie die religiöse Rolle, die sie mit immer größerer Uebung, Gewöhnung, ja sogar schon Einverständniß spielte, brachten es mit sich, daß sie zu den vielen mittleren und kleinen „erbärmlichen“ Wesen dieser Erde den Medusenkopf nieder beugte …“ Oder (S. 92) „In Lucinden’s Innern zog es wie eine himmlische Musik auf … Hubertus erschien ihr schön … Sie hätte ihn küssen mögen … Aber auch schon lachen vor innerstem Krampf und namenloser Freude …“ Derlei eben so unschöne als sprachlich falsche Wendungen kommen mit zahllosen Puncten und hervorhebenden ominösen Gänsestrichen schockweise in diesem Buche vor, so daß man lachen könnte, über die Frechheit, mit solchem Gesudel einen Literaturzweig geschweige denn ein unendlich Höheres umschaffen zu wollen, wenn es nicht gar so traurig wäre, daß aus albernem Romhaß die linksseitige Hälfte der auf Bildung Anspruch machenden Gesellschaft derlei Pfuschern zujauchzt. Da wird dann freilich Vieles begreiflich … (Herr G. wolle uns einige Puncte leihen) …

33. Louise Otto, Mai 1860#

Louise Otto: Karl Gutzkow und sein „Zauberer von Rom“. II. In: Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft. Leipzig. Bd. 5, [Heft 5, Mai] 1860, S. 199-204. (Rasch 14/34.60.01.1)

Während die deutsche Nation der Gegenwart stolz sein sollte, einen Geist wie Gutzkow zu besitzen, fehlt es nicht an Bestrebungen, den Glanz seines Namens zu verdunkeln, seine Verdienste zu verkleinern, ja ihm dieselben geradezu abzusprechen.*) Geschähe dies nur von jener Partei aus, von der er selbst „nur die feindseligste Aufnahme erwartet für seinen „Zauberer von Rom“, so würde das nicht im Mindesten befremden; die in Prag gegen dies Buch gedruckte Brochure, eine Schmäh- und Warnschrift, die aber doch den hervorragenden Eigenschaften des Werkes in manchen Stücken Gerechtigkeit widerfahren läßt, hat gewissermaßen ihre Berechtigung. Ein im Dienst einer bestimmten Idee, wenn auch noch so vielseitig, noch so unparteiisch geschriebenes Werk kann nicht verfehlen, alle Leidenschaften derjenigen Partei aufzustacheln, welche feindselig jener Idee sich widersetzt – widersetzen muß – und es ist nichts Widerwärtiges in einem solchen Kampfe. Es ist eben immer nur der alte Streit der Welfen und Ghibellinen. Ganz anders gestaltet sich aber die Sache, wenn „Schimpf und Schmach“ nicht von einer geschichtlichen Gegenpartei, sondern von einer literarischen Clique und von einzelnen Persönlichkeiten und Journalen gehäuft wird, welche sich sonst nicht auf die Seite – der Welfen stellen.

Die Grenzboten und wer sonst noch mit ihnen zum modernen Realismus geschworen, ergriffen schnell die Gelegenheit, einen Achilles, der ihnen auf der literarischen Arena im Wege ist, an seiner Ferse zu verwunden. Sie proclamirten die „Unsittlichkeit“ des „Zauberers von Rom“, um sogleich dadurch den Leser von dem Buche zurückzuschrecken. Gutzkow könnte sich den „modernen Kotzebue“ aus solchem Munde gefallen lassen, wenn es dieser Kritik nicht in der That gelungen wäre, [200] durch die erwähnte Art und Weise des Angriffs einen Theil des Publicums stutzig zu machen.

Sprachen wir vorhin von einer verwundbaren Stelle, so haben wir damit selbst schon zugegeben, daß der Verfasser in seinem Roman eine solche schwache Seite bietet. Auch außer jener vielbesprochenen Scene zwischen Klingsohr und Lucinde im ersten Bande enthält gerade dieser erste Band noch manches Schlüpfrige und unangenehm Berührende, das auch wir hinweggewünscht hätten. Namentlich wird uns unbehaglich dabei, daß wir uns fast durchweg nicht nur in „gemischter“, sondern geradezu in schlechter Gesellschaft bewegen, daß außer dem Deichgrafen und Serlo kein einziger achtbarer Charakter vorkommt; – denn Armgard und Paula sind nur flüchtig erwähnte Kinder und Bonaventura sehen wir nur von fern am Altare, wir können noch nicht wissen, wenn auch ahnen, daß wir in diesen Dreien Hauptpersonen des Ganzen finden, die zu den vollständig „edlen“ Charakteren gehören. Aber wir vertrauten der Vorrede: dem „zu viel Schatten werde das Licht schon folgen“, wir waren mit der Ansicht derselben einverstanden: „Nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserem Erfahrungsbuche nie finden können, und – stelle doch Du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am jüngsten Tage – nicht Schulcensuren“.

Jean Paul sagt einmal in seiner „Vorschule der Aesthetik“, daß jeder Schriftsteller seinen besonderen Engel und Teufel in sich trage und daß die Stufenleiter der dazwischenliegenden Mittelwesen über die umfassende Kraft seines Geistes entscheide. Wie weit ist es nun von Bonaventura bis zu Fräulein von Gülpen, und welche Fülle von Mittelwesen sind uns schon in diesem einen Bande geboten! Lob wäre hier mehr am Platze gewesen als Tadel, und wir können nicht anders, als dem Schlusse des Vorworts beistimmen:

„Wie sonst wird auch hier das Gesetz des Lebens walten und jede freie Lust am Dasein, jede Regung der natürlichen Empfindung den Keim ihrer höheren Deutung in sich selbst oft völlig unbewußt tragen. Denn in solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten nicht, die es im Lichte der Wahrheit wirft.“ Die Vertreter des Realismus sollten am Wenigsten ein Werk tadeln, das auch in manchen Lichtgestalten diese Schatten zeigt!

Es ist ferner – absichtlich oder nicht – übersehen worden, daß in derselben Vorrede gleich der erste Band, der uns so müde hetzt, nur [201] die Vorgeschichte, der erste schwere Jugendtraum eines in solcher Art „gemischten“ Charakters genannt wird, daß uns also über den weiteren Verlauf des Ganzen danach noch gar sein Urtheil zusteht. Was aber die vorerwähnte Abschreckungstheorie betrifft, die es allerdings dahin gebracht, daß, „wie wir staunend selbst erlebt“, zartfühlende Damen schon bei Nennung dieses Buches errötheten und erklärten, einen so anstößigen Roman nicht lesen zu können, so ist nur darauf hinzuzeigen, daß tausend andere Romane, die ihrem Werthe nach in gar keinem Verhältniß zu dem „Zauberer“ stehen, tausend schlimmere Scenen und anstößigere Dinge enthalten als dieses Werk; nur sind sie entweder noch in verzuckerten Portionen gegeben, die das Gift nur um so gefährlicher machen, oder schlüpfen mit durch, weil sie, wenn auch nur als Memoirenscandal, der Geschichte angehören. Können Bücher schädlich wirken, besonders auf Frauen- und Jünglingsgemüther, so sind es eben die übertünchten Schilderungen frivoler Verhältnisse, nicht aber deren naturgetreue Darstellung.

Je weiter wir aber im „Zauberer“ lesen, ja, je mehr wir, ohne darin zu blättern, uns nur seines Inhaltes erinnern, um so mehr müssen wir den Vorwurf zurückweisen, zu dem wir uns selbst beinahe nach Lesung des ersten Bandes hätten verleiten lassen: daß dies Buch einseitig realistisch sei und wir von einem Vertreter des Idealismus auch idealere Gestalten erwartet hätten, als diese. Darum noch keine Engel, keine unmöglichen Typen der Vollkommenheit! sondern Wesen auch von Fleisch und Bein, aber doch von einem hohen Streben begeistert und mit einem auf das Edle gerichteten Wandel; Wesen, wie wir so glücklich sind, selbst auf unserem Lebenswege deren gefunden zu haben, wie wir gewissensfroh uns ihnen selbst zuzählen. Aber solche Wesen finden wir nun in großer Anzahl, unter den Frauen nenne ich: die, Manchen vielleicht wieder zu ätherische Lichtgestalt, die geistersehende Comtesse Paula, dann ihre Verwandte, die sie anbetende, schwärmerische Armgard, die zu jedem Opfer fähig und bereit ist, nur um die getrenntlebenden Eltern wieder zu versöhnen, ihre Mutter, die geistvolle Monika v. Hüllerhofen, deren Freundin, die waldensische Gräfin v. Castellungo mit ihren, ihrer Abkunft entsprechenden Reformbestrebungen, das unschuldige, fromme Trudchen Ley, die in gemischter Ehe lebende Frau Dellring, die eben dadurch die schwersten Kämpfe zu bestehen hat, und die gute Angelika Müller, in der gewiß unzählige Leserinnen eine alte Bekannte zu erblicken meinen, so treu ist in ihr ein weitverbreiteter Typus alternder Jungfrauen geschil-[202]dert. So vielen edlen und würdigen Gestalten gegenüber können wir uns wol auch eine Lucinde und ein Fräulein von Gülpen gefallen lassen. Unter den Männern steht der begeisterte Priester Bonaventura oben an – und, wir sind seiner gewiß! – er wird und muß diesen Platz bis zu einem hochtragischen Ende behaupten. Ihm folgt sein Vetter Benno von Asselyn, der Jurist und Freiwillige, der auch in einer heiteren Lebenssphäre sich sittliche Haltung bewahrt hat, dann sein Freund, der Amerikaner Thiebold de Jonge, eine halb humoristische Gestalt, die vielleicht mit etwas Muthwillen des Verfassers auch jenen Helden carikirt, der in dem Normal-Roman und -Schauspiel des Realismus immer derselbe ist, mag er nun Georg heißen oder Fink, oder wie sonst auch immer, und sein braver Gefährte Hedemann. Und um nicht noch andere, minder hervorragende Personen zu nennen, oder solche, die neben ihrer Vortrefflichkeit doch eine schwache Seite haben, wie z. B. der Dechant von St. Zeno, die Nichten, so meinen wir, die angeführte Zahl genüge schon, die Leser darüber zu beruhigen, daß sie sich in den folgenden Bänden in „anständigerer“ Gesellschaft befinden als im ersten Bande.

Man hat ferner, und zwar auch von Seiten, welche dem Buche im Uebrigen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, dessen Styl und die Art der Darstellung getadelt, welche oft eine größere Aufmerksamkeit vom Leser fordert, als er in der Regel Lust hat bei der Lecture eines Romans aufzuwenden.

Was den Styl betrifft, so wünschten auch wir, manche Nachlässigkeiten, namentlich im ersten Bande, wären weggeblieben. Aber diese Nachlässigkeiten sind eben nur Ausnahmen, im Ganzen sind wir mit einem so theilweise schwungvollen und bilderreichen Styl, der es auch einmal mit dem Althergebrachten nicht allzu genau nimmt, tausendmal mehr einverstanden, als mit jenem nüchternen, gleichmäßigen und verdeutlichenden Styl, dem man allerdings keine Unrichtigkeit nachweisen kann, noch weniger aber einen rhythmischen Schwung oder poetischen Hauch und Reiz. Wir wollen lieber fliegen als kriechen.

In Bezug auf die Deutlichkeit der Darstellung, die im Einzelnen oft meisterhaft, ist allerdings zu sagen, daß die nicht seltene Unklarheit der Popularität des Buches Eintrag thun wird, und das haben wir allerdings sehr zu beklagen. Ist es schon den Schriftstellern zuweilen nicht ganz leicht gemacht, sich gleich in Allem zurecht zu finden, müssen sie selbst z. B., um darüber zu schreiben, immer wieder in allen Bänden rück- und vorwärts blättern, um auch gewiß zu sein: [203] dies bezieht sich auf Diesen und dies auf Jenen, – hier ward mit einem einzigen Wort ein Faden angeknüpft, der bedeutungsvoll durch das ganze Buch sich zieht, – dort ward wieder mit einem einzigen eine Erklärung gegeben oder oft auch nur angedeutet, die für das Ganze von äußerster Wichtigkeit ist und von der doch nirgend sonst eine Spur sich findet u. drgl., so müssen wir allerdings bedenklich werden, wie das große Leserpublicum das oft Verworrene sondern, und ob es nicht zuweilen an einer solchen Aufgabe verzweifeln wird. Jeder Dichter wendet sich an die Menge und muß sich an sie wenden, sonst versäumt er die höchste Aufgabe der Kunst, Allen Genuß zu gewähren: das Ideal der Popularität, den Höchstgebildeten zu genügen und der Menge verständlich zu bleiben, sie zu sich emporzuheben. Diese höchste Aufgabe hat Gutzkow gelöst in einigen seiner dramatischen Werke, ohne darin etwa dem großen Publicum Concessionen gemacht zu haben, z. B. in „Uriel Acosta“ und „Zopf und Schwert“; aber er löst sie nicht in seinem „Zauberer“, denn ein großer Theil dessen, was man das Leihbibliothekenpublicum nennt, (noch nicht das schlechtere, das nur am Drastischen oder an einer spielenden Lecture Gefallen findet, sondern dasjenige, das nach des Tages Last und Mühe Erholung und Genuß sucht in einem guten Buche, das weibliche zumal, das oft für lange einsame Winterabende keine andere Erquickung hat, oder gemeinsam am „häuslichen Heerde“ seine traulichen Leseabende hält), das wird zum großen Theil am „Zauberer“ scheitern, nicht an der Verwicklung der Handlung, sondern an der zu flüchtigen Andeutung derselben. Dieselbe Redensart, durch die einst Tausende von der Lecture Jean Paul’s auf unverantwortliche Weise zurückgeschreckt wurden: er sei zu schwer zu verstehen, wird man auch auf Gutzkow anwenden.

Schließlich sei noch gesagt, daß Verfasserin schon deshalb für den „Zauberer“ die größten Sympathien empfinden muß, weil sie eine Bestätigung ihrer eigenen Ideen, eine Rechtfertigung ihrer Bestrebungen darin findet. Ist doch auch seit diesem Werk der größere Theil derjenigen Aesthetiker verstummt, welche Kunst und Tendenz bisher für unvereinbar hielten,*) zugleich mit den Schriftstellern, die, um ja nicht für [204] Diener einer Tendenz zu gelten, lieber ganz auf jede Idee verzichteten und, statt ihr Priester zu sein, der uns ja auch höher steht, als der Kämpfer der Tendenz, im platten Realismus schwelgend das Ziel der Kunst zu erreichen glaubten.

34. Levin Schücking, Juni 1860#

Levin Schücking: Literatur-Bericht. Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Fünfter und sechster Band. In: Illustrirtes Familienbuch zur Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise. Triest. Bd. 10, [Heft 6, Juni 1860], S. 215-216. (Rasch 14/34.60.06.1)

Nach langen Zwischenräumen ist die Veröffentlichung dieses großen Zeit- und Sittenromans bis zum Erscheinen [216] des fünften und sechsten Bandes vorgerückt. Jene großen Pausen entstehen wohl dadurch, daß der Verfasser die einzelnen Bände einer sorgsamen Durcharbeitung unterwirft, bevor er sie dem Publicum zum Genuß und der Kritik zur Befehdung übergibt; sie sind aber jedenfalls ein Uebelstand, denn sie lassen die Theilnahme erkalten; bei einem Werke, welches so unendlich viele Gestalten vorführt, und dessen Fäden so bunt und künstlich verschlungen sind, ist es unmöglich, nach einer Unterbrechung von Monaten sich sofort wieder zurecht zu finden. Auf der andern Seite kann nicht geleugnet werden, daß die letzten Bände vor den ersten den Vorzug immer größerer Ruhe und Stätigkeit, und des sorgsamer behandelten Styls haben. Den Charakter des Ganzen haben wir früher anzudeuten versucht, derselbe ist sich gleich geblieben, das Interesse steigert sich aber in den vorliegenden Bänden, weil diese uns nicht mehr so durch die Masse des Stoffs überhäufen, wie die ersten, und weil in dem Maße, wie die Personen uns nach und nach vertrauter werden, sich das Ganze mehr abklärt. [...]

35. Katholische Literatur-Zeitung (Wien), 6. August 1860#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 7. Band. In: Katholische Literatur-Zeitung. Wien. Nr. 32, 6. August 1860, S. 256-257. (Rasch 14/34.60.08.06N)

Glaubt Herr G. als ein neuer Herkules oder ein Hirtenknabe David gegen den Riesen Kirche ausgezogen zu sein? In einem wie dem anderen Falle ist er im Irrthum, denn die Keule erweist sich als von Pappe und der Kiesel als Seifenblase! Bereits im 6. Band wurde durch die canonistische Unwissenheit des Autors ein ungeschickter Knoten geschürzt, den er nun, durch die Blätter belehrt, in kaum gelungenerem Einlenken zu lösen und durch einen anderen zu ersetzen sucht. Allein da er die Fäden nicht gut kennt, so kommt ein confuses Zeug heraus, das zu nichts zu brauchen, kein ordentlicher Strick für den Delinquenten und noch weniger eine Schlinge, nichts als ein verwirrter Knäuel für große Kinder zum Spielen. Und wirklich sehr kindisch muß der Leser sein, der daran Behagen findet! Herr G. läßt den Domherrn Bonaventura die Entdeckung machen, daß er zwar von einem Priester, aber von einem innerlich ungläubigen Judenchristen und aus Haß gegen die Christen contra intentionem ecclesiae, mithin, wie G. meint, ungiltig getauft sei, wonach also auch alle dessen priesterliche Handlungen keine Wirkung hätten. Nicht berechtigt anzunehmen, daß der Autor absichtlich falsche Theorien aufstellt, wollen wir uns daraus nur neuerdings abnehmen, was herauskommt, wenn belletristische Laien sich für berufen halten, ohne eindringende Studien über solche schon durch ihr Alter und durch die ungeheure Zahl ihrer Anhänger (um [257] dem Nichtgläubigen gegenüber selbst nur bei den natürlichen Gegengründen zu bleiben) geheiligte Institutionen zu urtheilen! Herr G. hat bei seinen touristischen Ausflügen in die terra incognita des katholischen Kirchenthums Spuren von den alten Streitfragen über die Bedeutung der von der Kirche zur sacramentalischen Wirkung nothwendigen intentio id faciendi quod ecclesia facere jubet gefunden und ohne zu erwägen, daß in dem Ausdruck facere Winkes genug liegt und daß zwischen intentio externa et interna unterschieden wird, ohne ferner den Satz: hic (Christus) est qui baptizat und ohne auf die Giltigkeit der von Ketzern ertheilten Taufe oder auf die Aussprüche des Ambrosius Catharinus und Alexanders VIII. und auf den Umstand, daß selbst in zweifelhaften Fällen nie ipso facto die Ungiltigkeit des Actes behauptet, sondern nach Benedict des XIV. Befehl die Einholung der päpstlichen Entscheidung gefordert wird, Rücksicht zu nehmen, frischweg die Folgerung gemacht, daß die Kirche alles Heil der Gläubigen von einem ganz außer ihnen liegenden, ja ihnen nicht einmal bekannt werdenden Umstand bei einem dritten abhängig mache, allerdings eine grause Theorie, aber auch eine so alberne und mit der kirchlichen Lehre von der Schuld und Freiheit so unvereinbare, daß sie der Kirche nur von der Böswilligkeit oder von albernem Blödsinn angemuthet werden kann. Setzt man sich über solche Felsblöcke von Thorheiten hinaus, ohne nur zu ahnen, daß man sich irrt, so sind freilich andere Ausgleitungen gar nicht zu verwundern, wenn sie auch nur reine Aeußerlichkeiten betreffen; wer wird erstaunen, wenn Einer, der den Königs-Löwen für einen gemeinen Esel hält, schwarz mit weiß, krumm mit gerade u. s. w. verwechselt? So geht bei G. der Domherr „im Ornat“ in’s Kloster, um die gewöhnliche Beicht abzunehmen (S. 37); der Priester hat „das Scapulier über dem Meßgewand“ (S. 52); Weihrauchduft erfüllt das Zimmer, wo dem Sterbenden die hl. Wegzehrung gebracht wird (S. 214) u. s. w. Aber auch in ganz greifbaren weltlichen Dingen hat sich Herr G. eine leichtfertige studienverachtende Schreibweise angeeignet, die ihn zu allerlei falschen Darstellungen verleitet. Man lese nur seine Beschreibung des Burgtheaters, oder wie er im Jahre 1838 seine Personen in der italienischen Kirche Wiens an dem Standbild Metastasio’s vorübergehen läßt (S. 378) das erst in den fünfziger Jahren errichtet wurde! Der Styl ist so grausig, wie wir es an Herrn G. gewohnt sind, seit er unter die Propheten und Reformatoren gegangen; er scheint das für nothwendig zu halten, um die höhere Inspiration zu bekunden. So lesen wir hier gleich im Anfang eine Walzerschilderung als wär’ sie im Opiumrausch geschrieben; dann S. 81: „das war eine Sprache, als sah man die kleine junge Frau ihre grauen Locken schütteln“ und später: „daß nicht Thiebold hinter sein neues zur Enthüllung noch nicht reifes, auch vor dem Tode des Dechanten wohl völlig unmögliches Leben kam“, Sätze, welche den schwächsten Grammaticalschülern der 4. Classe zur Uebung im Auffinden der Constructionsfehler aufgegeben werden können!

Wenn nichts desto weniger ein solches innerlich hohles und äußerlich verklextes Machwerk seinen Weg durch die Welt macht, so ist es eben nur durch die gegenwärtige Welt, deren Bestimmung es scheint, in Allem und Jedem mit möglichst tugendseliger pomphafter Phrasenhaftigkeit den hergebrachten Gesetzen Hohn zu sprechen. Dieser Roman der Zukunft ist also eine rettende That in der Literatur, wie jene des gleichzeitigen Civilisations-Verbreiters in der socialen Welt, und wird wohl das analoge schließliche Schicksal haben!

36. Katholische Literatur-Zeitung (Wien), 12. November 1860#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 8. Band. In: Katholische Literatur-Zeitung. Wien. Nr. 46, 12. November 1860, S. 370. (Rasch 14/34.60.11.12N)

In Nr. 22 d. Bl. wurde am Schluß der Besprechung des 7. Bandes dieser Roman als ein literarisches Seitenstück zu den rettenden Thaten moderner Civilisations-Verbreitung bezeichnet. Die Aehnlichkeit wird immer größer; und wenn wir auch keineswegs behaupten wollen, daß Hr. G. gleich einem anderen liberalen deutschen Schriftsteller in napoleonischem Sold stehe, so macht ihn doch dieses sein Buch würdig, Leibromantiker des re galantuomo zu werden, und als Vorsänger norddeutscher Freiheits-Michel in das Garibaldi’sche Musikkorps zu treten. Wer noch irgend einen Zweifel hegte, bis zu welchem Grad von Unverschämtheit deutsche Leihbibliothek-Literaten sich versteigen können, mit welcher Frechheit die commis voyageurs hohler Phrasen und subversiver Tendenzen wissen der wohlgezählten anderen Hälfte deutscher Stammesgenossen in’s Gesicht zu spuken, der lese hier S. 55 klar und deutlich, daß Herrn G.’s „Zauberer von Rom“ wirklich der Papst, und zwar Gregor XVI. sein soll, eine Infamie, nach welcher die S. 182 durchgeführte Parallele zwischen einem Cardinal Fefelotti und einem Wolf, der anfängt sich in den Gewohnheiten des Hundes zu versuchen, freilich nicht mehr befremden kann.

Herr G., durch das eckle Gesindel, das von der nicht-seligen Wally bis zu diesem „Zauberer“ in seinen Büchern sich herumtreibt, bereits in den ersten sieben Bänden weit hinter Spieß und Dellarosa zurückgeblieben, sinkt nun in der wüsten Composition des wiederum scheußlich geschriebenen achten Bandes tief unter die erbärmlichsten Sudeleien der noch vor kurzem so beliebt gewesenen Wiener Kreuzer-Literatur. Wirklich! „Das Testament des Gerichteten“, „Der Mann mit der weißen Leber“, „Das Gespenst auf der Bastei“ u. s. w. u. s. w. das Alles ist noch Kunstwerk gegen diesen „Zauberer“! Aber erweist Herr G. der Civilisation keinen Dienst durch seine Nachweisung, daß es im modernen Rom gerade so oder noch ärger zuginge als in der unglücklichen Periode, welche das katholische Leben im Centrum durch einseitige Pflege des wiedergeborenen Heidenthums erstickt zu sehen Gefahr lief? Nein! Denn diesen Beweis kann er, Gott sei Dank, nicht liefern! Seine der L. Mühlbach abgelernte Note: „Thatsache“ kommt nur selten, und bei ganz unbedenklichen Anführungen, nie aber bei den Kindern und Freundinnen vor, mit denen unser dickfäustiger Gegner die Cardinäle der Christenheit illustrirt, so daß wir noch immer berechtigt sind, diese letztere Staffage der – – – Einbildungskraft des Dichters zuzuschreiben. Spielt ihm diese doch auch sonst wieder allerlei Streiche, wie z. B. daß das Sanctissimum bei Leichenzügen mitgetragen werde (S. 345); sie läßt ihn in Rom (!) „die Janitscharenmusik der Hochämter“ (S. 161) hören und annehmen, daß die Pallien für alle Bischöfe gewoben werden (S. 178). Auch die Ethnographie wird durch Entdeckungen bereichert, wie S. 217 durch jene der „leidenschaftlichen und den Erwerb liebenden Ackerbauern in der Schweiz.“ Hoch aber über Allem steht wieder der Styl, und zwar in gebundener wie ungebundener Rede; siehe für jene das wahrhaft einzige Gedicht auf S. 164, worin der Vers: „Todmatt und krank, gedörrt die Lunge“ etc. Die freie Rede wird abermals durch zahllose … unterbrochen; ob weil Hrn. G. hier der Athem oder der Gedanke ausging? Natürlich ist der meiste Schwung wieder dort, wo wie S. 314, 373 u. ff. über Oesterreich und das Papstthum unter Aufwärmung alter Lügen, wonach der Despotismus die Revolutionen durch Einmengung socialistischer Elemente zu entweihen wisse, über das Heldenthum der unglücklichen Bandiera’s u. s. w. in gewohnter Unklarheit der Ritter vom Geiste gefaselt wird. In der That ist Held Benno mit Genossen um keinen Zoll breit der Einsicht und Aufstellung dessen was Noth thut, näher gekommen als dort der liberale Fürst und dessen Freunde. Wir haben alle Aussicht, daß am Ende des 9. Buches als G.’sches Credo statt klarer Neubildungs-Gedanken wieder nur die Negation des Alten verbleibt. Damit ist denn nach keiner Seite etwas gewonnen als Futter für die Leihbibliotheken und – Honorar für Herrn G. Wir gönnen ihm und Jedem gern was er braucht, meinen aber, daß kein Bedürfniß derlei Verunglimpfungen von Personen und Einrichtungen entschuldigt, welche Millionen Menschen ein Heiligthum und unter allen Umständen gewiß selbst nach der Anschauung billig denkender Andersgläubiger dem Urtheil eines solchen Dichterlinges um so unerreichbarer bleiben, als ja auch der gewandte Verfertiger einer Hundehütte oder Hühnersteige nicht über den gottgeweihten Erbauer eines mittelalterlichen Riesendomes, der Kleckser von Menagerieschildern und Bilderbogen nicht über Rafael und Dürer, der Bänkelsänger nicht über Homer und David zu Gericht sitzen darf.

37. F. v. H.: Italiänische Geschichte im Roman. Gutzkow’s „Zauberer von Rom“, 3. Juli 1861#

F. v. H.: Italiänische Geschichte im Roman. Gutzkow’s „Zauberer von Rom.“ In: Magazin für die Literatur des Auslandes. Berlin. Nr. 27, 3. Juli 1861, S. 313-314. (Rasch 14/34.61.07.03)

Mit der Sehergabe des Dichters hat Karl Gutzkow einen Stoff ergriffen, der von Jahr zu Jahr größer wurde, aus dem vollen Leben der Gegenwart erwachsend, den Höhepunkt des allgemeinsten Interesses gerade in dem Augenblick erreichte, als das Schlußkapitel seines Romanes die Druckerpresse verließ. Dasselbe ist denn auch keine geschlossene Thür, sondern eine weit geöffnete Pforte, durch die man wie durch einen Triumphbogen in die allernächste Zukunft blickt. Das Schlußkapitel von Gutzkow’s Roman enthält eine Prophezeiung, deren Erfüllung augenblicklich in den schwülen Tagen der neuesten Geschichte Italiens zu reifen beginnt.

Allerdings kann es nur einem wirklichen Zauberer von Rom gelingen, alle die Gährungen zu klären, die Streitfragen zu beschwichtigen, die Räthsel zu lösen, die Gemüther zu erheben, die Geister zu erleuchten, die Dämonen zu bannen, um endlich zu erreichen, was die Menschheit ersehnt!

Gutzkow’s Zauberer ist eine ideale Gestalt, eine seraphische Natur, wohl geeignet, die Welt zu überwinden, nicht sie zu beherrschen, wie es einem Zukunfts-Papst, ohne irdisches Reich, geziemt. Ob er dereinst wirklich so auf Erden wandeln wird, ist eine Frage an das Welten-Schicksal, die kein Sterblicher beantworten kann!

Daß Gutzkow einen katholischen Geistlichen, Bonaventura von Asselyn, mit dem Nimbus der höchsten Vollkommenheit verklärt, dargestellt hat, wird die Anfechtungen, welche sein Roman Seitens der Katholiken erfahren, wenn nicht entwaffnen, doch ihnen die Spitze abbrechen. Denn er macht dem katholischen Kultus damit das Zugeständniß, den Menschengeist läutern, entsündigen und erleuchten zu können, wie kein anderes Religions-Bekenntniß.

Das ahnungsvolle Intuitions-Vermögen des Dichters ist mit dem protestantischen Bewußtsein des Mannes offenbar mehrfach in Collision gekommen, wie das in jetziger Zeit nicht anders möglich ist bei Religion-Fragen; die Lichtgestalt Bonaventura’s ist das Erzeugniß des ersteren, die Schattenrisse römischer Priester und Zustände sind aus letzterem entstanden.

Der letzte Band des Zauberer von Rom hat ungeduldige Leser etwas lange auf sich warten lassen; nun er so eben erschienen ist, zeigt es sich, daß er fast nicht zeitgemäßer kommen konnte, als gerade jetzt, wo jede Mittheilung über Italien das Interesse der Gegenwart berührt. Gutzkow hat besonders die Geschichte der neuesten Verschwörungen, der Vorläufer der jetzigen Ereignisse, in seinem Roman erzählt, und namentlich der letzte Band desselben enthält die speziellsten Aufschlüsse darüber, verbunden mit einer so genauen Charakteristik des Landes und seiner Bewohner, daß man auf jeder Seite die Ueberzeugung erlangt, der Verfasser müsse seine Studien an Ort und Stelle gemacht haben. Gutzkow ist auch in der That zu diesem Zwecke nach Italien gereist und hat den ganzen Zauber des romantischen Bodens in seinem Romane wirksam gemacht.

Rom bildet natürlich den Mittelpunkt desselben; von der Priesterherrschaft und der vornehmen Gesellschaft werden sehr dunkle Schattenrisse gegeben, aber viele derselben sind, trotz ihrer veränderten Namen, auf den ersten Blick zu erkennen, ein Beweis, daß sie der Wahrheit gemäß gezeichnet sind. Die Lokalfärbung der römischen Bilder tritt besonders bei den charakteristischen Vorgängen der Papstwahl, der Verwerthung der Reliquien, der Kirchenfeste, als gelungen hervor, und so protestantisch, kritisch auch hin und wieder die Auffassung dabei ist, die Intuition des Dichters dringt doch durch dieselbe zu den poetischen Höhen der Seelenstimmung seines Bonaventura.

Man lese die Beschreibung einer Feier (Seite 245–252) im letzten Bande und sage, ob ein katholischer Schriftsteller mit richtigerem Verständniß so etwas nachempfinden und schildern könnte: „Es lag in seinem Beruf […] [314] […] des Geopferten, trauert! …“ – Die Geschichte dieses Jacopone da Todi wird dann ausführlich erzählt, sie hat Aehnlichkeit mit der bekannteren des Trappisten Rancé. Man muß dabei unwillkürlich ausrufen, die italiänische Geschichte ist wie ein Roman! Es ist nur zu verwundern, daß erst Gutzkow sie dazu verwendet hat.

Wenn man von dem neunten und letzten Bande des Zauberers von Rom auf seine acht Vorgänger zurückblickt, so wird man die Wege, welche den Verfasser nach Rom führten, allerdings etwas weit nennen müssen, aber er hatte augenscheinlich sein Ziel stets im Auge; es bestand wohl darin, alle Pflanzstätten des Katholicismus in das Rundgemälde seines Romanes mit aufzunehmen. Darum führt er die Leser nach Westfalen, namentlich dem Münsterlande, das man mit all seinen Eigenthümlichkeiten vor sich sieht und durch die schalkhaft versteckten Namen sich nicht irre machen läßt. Die Schlösser des westfälischen Adels sind eine dankbare Staffage für den Roman; Familien-Namen, wie Dorste, Hülleshoven, Ubbelohde, sind so wenig verändert, daß sie auch dem Unkundigsten bekannt erscheinen müssen und zu der Aehnlichkeit des Charakterbildes jenes originellen Landstriches wesentlich beitragen. Die meisten modernen Schriftsteller würden bei dieser Gelegenheit der Versuchung zur Karrikatur-Zeichnung nicht widerstanden haben, aber Gutzkow hat sich durchaus fern davon gehalten. Er giebt die liebenswürdigen Originale, die sich ihm darboten, mit Naturwahrheit und Verständniß wieder. Die echte Komik findet dadurch übrigens mehr Boden, als bei fratzenhaften Verzeichnungen, und die drolligen Scenen werden oft die Lachlust der Leser in diesem Theile des Zauberers von Rom erregen.

Würzburg, der schöne, alte Bischofssitz, wird sodann als eine weitere Station nach Rom in den Roman gezogen; diese Episode ist durch die Beschuldigungen, welche eine gräfliche Abenteurerin gegen den Verfasser erhob, bereits vielfach besprochen worden. Wenn derselbe auch nie ein Wort zu seiner Vertheidigung geschrieben hätte, die Grundlosigkeit der gräflichen Behauptungen geht auf’s Deutlichste aus diesem Theile seines Romanes hervor.

Köln und das Rheinland nehmen gleichfalls auf dem Wege nach Rom ihre Stelle ein. In den malerischen Seitenthälern des Rheins werden die Kirchdörfer geschildert, wo die katholischen Geistlichen der verschiedensten Gemüthsrichtung sich an den Bewegungen der Zeit betheiligen und zugleich ihr idyllisches Pfarrhausleben genießen. Die Dechanei zu Kocher am Fall (ein fingirter Name, wie die meisten Ortsbezeichnungen des Romans) ist ein in sich so abgerundetes Genrebild, daß es fast wie ein Konterfei nach der Natur aussieht; man kann sich leicht einbilden, an Ort und Stelle gewesen zu sein. Die vielen ,,Nichten“ und die alte Freundin des geistlichen Herrn streifen indessen doch sehr an die Karrikatur, die der Verfasser sonst so sorgfältig vermieden hat. Köln wird zwar nicht genannt, sondern heißt nur die Residenzstadt des Erzbischofs, aber es ist so deutlich gezeichnet, daß man nicht einen Augenblick über den Namen zweifelhaft sein kann. Die kaufmännische Aristokratie ist mit allen ihren Eigenthümlichkeiten kenntlich gemacht; das Fest, welches der junge Chef eines reichen Hauses giebt, ist unwiderstehlich komisch geschildert, ebenso ein Diner auf der Villa eines Banquiers, der Pariser Sitten auf kleinstädtischen Hochmuth gepfropft hat. Neben diesen heiteren Zwischenspielen geht das schauerliche Element des Romanes einer raschen Entwickelung entgegen. In Kölns engen, dunkeln Straßen wird ein Mord verübt und Verbrechen entdeckt, die das Interesse des Psychologen lebhaft in Anspruch nehmen.

Daß Wien nicht unberührt bleiben konnte, wenn man Rom im Auge hat, versteht sich von selbst, und die Rolle, die es im Roman spielt, ist völlig zeitgemäß ertheilt. Das komische Element tritt in der heiteren Kaiserstadt natürlich mehrmals auf, und Gutzkow hat den Ton genau getroffen, indem er die modern gebildete Banquiersfamilie mit dem selbst gemachten Adel „von Zickeles“ redend einführt. Das musikalische Wien, der Boden, den Beethoven und Mozart betraten, klingt und singt auch an gehöriger Stelle, wie denn überhaupt kein Charakterzug der merkwürdigen Stadt übersehen worden ist.

Auf dem Wege nach Rom, der gleichsam eine via dolorosa für den heiligen Zauberer Bonaventura ist, begleitet ihn in mannigfachen Irrgängen eine Frau, Lucinde Schwarz genannt, die man fast für eine Allegorie ansehen könnte. Sie ist das Bild des Egoismus; alle unreinen Elemente, die das Leben enthält, der Roman als dessen Spiegel also auch wiedergeben muß, hängen sich an diese Lucinde. Die Jugendgeschichte derselben füllt fast den ganzen ersten Theil des Werkes und giebt die Erklärung ihres Wesens ab. Sie ist spitzfindig und dämonisch, ein weiblicher Mephisto, der ein Quälgeist für Bonaventura wird, obwohl dieser die menschliche Faust-Natur frühzeitig überwunden hat. Daß solche Frauen in bewegter Zeit wirksam in die Geschichte eingreifen können, ist eine historische Erfahrung; die Rolle, welche Lucinde in Rom spielt, ist deshalb motivirt genug, wenn sie auch zuweilen nur als allegorisch zu betrachten ist und an einigen Unwahrscheinlichkeiten laborirt.

Die Geschichte, wie sie der Roman zu verarbeiten vermag, kann natürlich keine buchstäbliche Chronik der Ereignisse sein, sie darf sich nur auf die Schilderung des Einflusses beschränken, den dieselben auf die Menschenseele ausüben. Diese Aufgabe erfüllt der „Zauberer von Rom“ vollkommen; er hat die Pulsschläge der italiänischen Herzen gezählt.

38. Katholische Literatur-Zeitung (Wien), 29. Juli 1861#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. 9. Band. (Schluß). In: Katholische Literatur-Zeitung. Wien. Nr. 30, 29. Juli 1861, S. 239. (Rasch 14/34.61.07.29N)

Ein klägliches Ende! Der Roman der Zukunft ist fertig und – wohl auch sein Verfasser! Sollte der Titel nicht unglaublich trivial sein, so mußte er schließlich durch eine wenigstens scheinbar schlagende Widerlegung des römischen Systems, durch einen colossalen Reform-Plan gerechtfertigt werden. Allein man höre: Das 9. Buch, dessen ein paar Blätter des 9. Bandes füllende Kürze wohl auch einen materiellen Effect machen soll, schließt mit der Papstwahl – postPium nonum. Drei Heere, ein deutsches, französisches und ein italienisches (unter Garibaldi!) lagen vor und in Rom; sie schlossen einen Waffenstillstand zu Gunsten des Conclave. Der edle (!) Italiener-Häuptling beschwichtigt das Volk mit dem Versprechen, nur wenn die Wahl in seinem Sinn ausfalle, das Papstthum zu halten, sonst aber Preis zu geben. Der Gewählte nimmt an unter den Bedingungen: 1. allgemeines Recht der Bibel-Lectüre; 2. Messe in Volkssprache und 3. allgemeines Concil der Bischöfe! Darüber jubelt vor Allen der edle liebe tiefchristliche Garibaldi! Nun dafür hätte es nicht solchen Aufwandes bedurft; 1. und 2. sind so viel als es thunlich, erwünscht und nützlich schien ohnedieß ermöglicht, 3. aber ganz correct, wenn es einmal sein kann[.] Es scheint, daß sich Herr G. allmälig überzeugt hat, es gehöre zum Reformer mehr als das Nachtreten Spindler’scher Pfade („der Jesuit,[“] Roman von Spindler) als die perfide Vermengung von mehr oder weniger aus der Zeitgeschichte bekannten, wenn auch oft carrikirten Porträts mit Ausgeburten einer überreizten Romanschreiber-Phantasie, welche dadurch für die Massen ebenfalls den Schein der Wahrheit gewinnen und als die flüchtige Lectüre etlicher Capitel des Tridentinums. Daher gab er klein bei, zumal ihn seine Arbeit nicht mehr gefreut haben mag, nachdem ihm die schlechte Construction des Romans auf Grund ganz irriger Auslegungen katholischer Sätze nachgewiesen und damit das Gebäude zertrümmert wurde. Armer G.! Dazu der sich immer verschlechternde Styl! Freut euch, Käsestecher und Maculaturhändler, diese neun Bände, in Summe beiläufig dreihundert Bogen per Exemplar, sind euch gewiß, wenn auch der Ladenpreis ein kleines Capital erfordert hat! Uebrigens würde uns der demnächstige Beginn eines neuen G.’schen Romans, etwa unter dem Titel: „Die Magier in Tirol“ oder dergl. ebenso wenig als der Beifall gewisser schöngeistiger Leserkreise von Neujuda und Urchristenthum nicht im mindesten verwundern. Was thut man nicht Alles, um – – –!

39. Louise Otto, Juli 1861#

Louise Otto: Karl Gutzkow und sein „Zauberer von Rom“. III. In: Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft. Leipzig. Bd. 6, [Heft 7, Juli] 1861, S. 234-245. (Rasch 14/34.60.01.1)

Da liegt dies Riesenwerk nun vollendet vor uns; auch unser Urtheil kann jetzt erst Anspruch darauf machen, für ein vollständig abgeschlossenes zu gelten. Ein solches abzugeben und unseren Lesern den Gang der Handlung zu vergegenwärtigen, ist der Zweck dieser letzten Betrachtung. Vor Allem aber müssen wir den allgemeinen Standpunct scharf im Auge behalten, der aus einigen Stellen des Vorworts klar hervorgeht. […] [235] [...]

Wir haben es hier also mit – Tendenzpoesie zu thun, über deren Zulässigkeit vor dem höheren Richterstuhl der Aesthetik dereinst so viel gestritten worden. Wir wollen nicht zurückkommen auf das im vorigen Artikel Gesagte, sondern nur die Freude an einem Werke wiederholen, das allen Forderungen der Kunst genügt und doch nicht nur einer blosen Absicht nach, sondern durch sich selbst, durch die Fülle seiner Gestalten, durch die so meisterhafte Darstellung des wirklichen Lebens beinahe in allen Sphären der Gesellschaft – zumeist durch Träger des Katholicismus, des Clerus – diesen Kampf veranschaulicht und durch das dadurch erregte Interesse uns für die Idee begeistert, der dieser Roman gewidmet ist.

Jetzt freilich können vielleicht Manche sagen: nicht eines Romanes bedurfte es erst, uns diesen Kampf der romanischen und germanischen Welt vor die Seele zu führen, uns die alte Fehde zwischen Welfen- und Ghibellinenthum in neuen Gestalten – wir möchten buchhändlerisch „in einer neuen Auflage“ sagen – zu zeigen, uns Rom und Wien als Engverbündete zu schildern – jetzt, wo wir dies Alles mit erlebten und in den Zeitungen lasen, wo so Manches auch den Harmlosesten klar ward von der Zerrissenheit des deutschen Vaterlandes an bis auf die Bestrebungen Roms, dieselbe nur zu vergrößern – jetzt, wo auch die früheren italienischen Freiheitskämpfe neue Bedeutung gewinnen bei der Auferstehung Italiens. – Aber um wie viel mehr müssen wir nun einen Roman bewundern, der, indem er deutsche und italienische Zustände von zwei Decennien an bis auf die Gegenwart, ja – bis in die Zukunft schildert, und vor länger als drei Jahren begann, eigentlich nur die Zustände der Gegenwart commentirt, wie sie aus dem Vergangenen sich herausgebildet. Das, woran nur die Wenigsten zur selben Zeit gedacht, selbst die Wenigsten, welche diese prophetische Vorrede lasen, ward plötzlich erschreckende Wirklichkeit – und somit hat Gutzkow zugleich hiermit seinen echten Dichterberuf documentirt, der immer auch der des Sehers ist.

Das andere Wort der Vorrede, welches gleich selbst den ersten Band „nur ein Vorspiel, den ersten schweren Jugendtraum eines gemischten Charakters nennt“ und hinzufügt: „Der Roman selbst, sowol in Form wie Bedeutung, nach den Anforderungen an einen Roman des neun-[236]zehnten Jahrhunderts, wie ihn der Verfasser in seinen „Rittern vom Geiste“ zu definiren wagte, beginnt erst mit dem zweiten Buche“ – schien von allen Denen vergessen worden zu sein, welche nach dem ersten Band über das Ganze urtheilen wollten, Lucinde Schwarz zur alleinigen Heldin machten und nichts Anderes erwarteten, als daß die im ersten Band allerdings gehäuften Schlechtigkeiten der verschiedensten Menschen und die schaudervollen Scenen auf den mannigfachsten Schauplätzen in den folgenden Bänden sich fortsetzen und womöglich noch steigern würden.

Nun aber ist umgekehrt der erste Band nur ein Vorspiel. Von dem Augenblicke an, wo Lucinde das Schul- und ihr Vaterhaus von Langennauheim verläßt, um bei der Frau Hauptmännin von Buschbeck – einem Scheusal von Geiz und sittlicher Entartung – eigentlich als Mädchen für Alles zu dienen, werden wir mit Lucinden selbst durch ein Leben voll Abenteuerlichkeit, Wechsel und Unsittlichkeit, in dem sogar. Raub, Fälschung, Wahnsinn, Mord und Todtschlag nicht ausbleiben, gehegt, bis wir mit ihr in der katholischen Kirche ankommen, in der Bonaventura von Asselyn die priesterlichen Weihen erhält und Lucinde darnach selbst – katholisch wird. Aber wenn schon uns beim Lesen des ersten Bandes derselbe aufs Aeußerste spannte, wenn wir uns fesseln ließen von Heinrich Klingsohr’s dämonischer Gewalt, in dessen Zerfahrenheit noch Etwas umgeht vom nun überwundenen Geist des halb lebensvollen – oder mehr noch tollen –, halb lebensmüden „jungen Deutschlands“; von seinem Vater, dem redlichen Deichgrafen; von dem alten Kronsyndicus von Neuhof, dem Stammsitze der Wittekind, wohin Lucinde geräth, weil sie seinen Sohn, den wahnsinnigen Kammerherrn, gefesselt, und welche dann nach Hamburg geschickt wird, ihre Bildung zu vervollständigen; wenn wir uns dort ergötzen an dem Herrn Karsten, diesem „Exporteur in Kleesaat“, und seinen respectabeln Schwestern; uns interessiren lassen von der Schauspielerfamilie Serlo: so gewinnt doch alles Dies eben noch eine ganz andere Bedeutung, wenn wir die folgenden Bände kennen. Alle die Fäden, die im ersten Band sich gleichsam um Lucinde schlingen, daß wir versucht werden können, zu glauben, sie seien nur ihretwegen da, finden wir in den folgenden Bänden in Breite und Länge zum kunstreichsten Netz versponnen; wir erstau[n]en über diese mannigfachen Bezüge und Verwickelungen, die alle im ersten Bande sich an knüpfen, und was wir beim ersten Lesen übersehen konnten, oder für unnützes Bei- oder Nebenwerk hielten, wird uns jetzt erst klar – wir erkennen ein Gewebe von wunderbarer Feinheit und mit gewandten Händen [237] gearbeitet, die auch das kleinste Fädchen nicht unbeachtet herabhängen oder spurlos verschwinden lassen. So namentlich ging es uns selbst mit dem Gastmahl der österreichischen Officiere in Kiel, auf dem Graf Hugo von Salem-Camphausen, der muthmaßliche Verlobte der Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, der geistersehenden Nichte des Kronsyndicus, und Baron Wenzel von Terschka zum ersten Male auftreten – derselbe Terschka, der sich uns erst im fünften Band als Jesuit und eine der Hauptpersonen des Romans enthüllt. – Lucinde selbst, immer „aus einer Lebenssituation in die andere verpflanzt“, gewinnt an geistiger Kraft. Aber „gefahrvoll ist es einer geradezu auf die Wolken zugehenden Lebensbahn, wenn sie in den Motiven ihrer Handlungen einmal wechselt. Wer immer mit dem Verstande vorauswühlt, wohin er mit Hand und Fuß zur That nachschreiten soll, der verschüttet sich den Weg, wenn er plötzlich den Einfall bekommt, nicht dem Verstande, sondern dem Herzen folgen zu wollen. Eins darf man nur festhalten, entweder den Ruhm oder die Ueberzeugung. Alles zugleich erstreben, verdirbt eins das andere.“ In dieser Lage war Lucinde, sie war auch darin ein „gemischter Charakter“ – sie war und ist diese personificirte Subjectivität des Weibes, die immer ins Maaßlose geht, die nur Abenteuer und Erregungen sucht, der Egoismus, der sich selbst folgt als ein Fichte’sches Ich und aus Laune eben so oft gut und edel handelt, als aus Trotz und Hochmuth schlecht und rücksichtslos. Sie fühlt die Kraft in sich, ihr Schicksal sich selbst zu gestalten – sie handelt edel und aufopfernd an Serlo bis er stirbt –; und dann ist es, als wäre er ihr wiedererstanden in dem katholischen Priester, den sie die Weihen empfangen sieht und um dessentwillen sie selbst katholisch wird.

Im zweiten Bande ist es Lucinden’s neuer Entschluß: „Du wagst dich noch einmal in dein altes Leben zurück, siehst heller, was dir früher dunkel erschien, erschrickst vor keiner Begegnung mehr und wär es vor der alten Hauptmännin von Buschbeck, ja, vor der Oscar Binder’s nicht“ – in ihrem neuen religiösen Bekenntniß lag die außerordentlichste Kraft dieses Sichsicherfühlens; und dennoch wälzte sich ihr schon centnerschwer aufs Herz, sich zu sagen: „Armgart von Hülleshofen gehörte den Kreisen von Schloß Neuhof an! Sie war eine der innigsten Beziehungen der Comtesse Paula! – Benno von Asselyn war ein Cousin des Pfarrers zu St. Wolfgang – Bonaventura.“ In diesem Kreise finden wir sie, erst in St. Wolfgang, dann in Kocher am Fall in der Dechenei. Und schon stellt sich ein alter Bekannter von Schloß Neuhof ein – einer von den Ghibellinen – der Wachtmeister Grützmacher, eine präch-[238]tig gezeichnete Gestalt, neben dem Benno, der eben seine Zeit als Freiwilliger abdient, den „neuen Feiertag“ Lucinden erklärt: „Daß unser König in seinem ehrenwerthen Glauben die Gegensätze, die dreihundert Jahre alt sind, beim Läuten der Reformationsglocken 1817 versöhnt zu haben meinte und auch einige versöhnte, ist an sich ganz brav von ihm; nun aber glaubt er, wenn man nur schön gebunden die neue Agende auf die Altäre legt, so wäre sie auch deshalb ins Leben getreten und überall eine Wahrheit geworden! Meinetwegen drüben! Aber hüben! Ausgleichungen auch mit uns? Sein Gemüth gefällt sich in dem Gedanken, neue Festtage zu erfinden, die in seinen sämmtlichen Staaten mit derselben Gesinnung zu gleicher Zeit gefeiert werden; z. B. einen Buß- und Bettag! – Und nach zehn Jahren werden wir wieder weiter kommen, glaubte er, und nach wieder zehn Jahren noch weiter – und wenn Alles gut geht, geben die Consistorialräthe ein Bischen heraus und der Papst giebt ein Bischen heraus und die schönen Unionstage, die einst Leibnitz geträumt hat, gehen in Erfüllung.“

Und nun der herrliche Dechant von St. Zeno, der „nach seiner geistigen Richtung noch zu den wenig Ueberlebenden aus der Zeit Wessenbergs gehört“, der sich auch für die katholische Kirche „Reformen“ möglich gedacht hatte. „Für die jetzt angebahnte mittelalterliche Reaction fehlte ihm alle verwandte Gemüthsstimmung“ – da erhält er einen anonymen Brief, durch den ein römischer Priester gesucht wird, der nicht den Tod eines Huß, Savanarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um unsere Kirche von ihren Fehlern zu reinigen, der sich in Castellungo einfinden solle u. s. w. Bonaventura ist dieser Priester, obwol er zur Zeit des Empfanges jenes Briefes noch zu der Richtung gehört, „die an Rom irgend Etwas ändern zu wollen für leere Freigeisterei hielt.“ Aber schon seufzt im dritten Band der edle junge Mann, dieses Ideal eines Priesters, unter der Scene, deren Zeuge er im Nebengemach beim Kirchenfürsten sein muß, als dieser den Pater Sebastus – Heinrich Klingsohr ist Convertit geworden – demüthigt, abtödtet, niederschmettert; schon denkt Bonaventura dabei der Worte des Dechanten: „Die Römlinge wollen nichts Deutsches, nichts Nationales, nichts aus unserm Schooße Geborenes, nichts die Brüderstämme und die Confessionen durch die gemeinsamen Bedürfnisse des nationalen Volkslebens und des Geistes Versöhnendes.“ – Er bewunderte den Kirchenfürsten, aber seine Ideale wanken. Er verzweifelt an der Kraft, in den großen Vorstellungen von seinem Beruf, die ihn sonst wie mit Engelsflügeln emporgehalten, ein ganzes Leben lang noch mit seinem innersten Men-[239]schen aufzugehen. – Und im vierten Band ringt Bonaventura unter der Last des Beichtgeheimnisses. „Soll es denn sein? rief es wie ein Weheschrei in ihm auf, als dann endlich drei Stunden“ – des Beichthörens, die wir in allen Einzelheiten mit durchmachen – „vorüber waren. Darf es eine Institution geben, die uns der Sünde gegenüber nur zu Hörenden macht, nur zu Belauschern dieses bunten entsetzlichen Lebens? Soll der Bedrängte nicht sofort Entsatz erhalten von Jedem, der davon nur die leiseste Kunde vernimmt? Soll eine in Erfahrung gebrachte Wahrheit nicht sofort laut verkündigt, ein Verbrechen durch uns zur Bestrafung gebracht werden? – Wie viel Hilfeschreie verhallten nun schon so in seiner Brust! – Wozu das Alles! seufzte er – Wozu? Wozu? – Ein Erzittern, ein fieberhaftes Frösteln fühlte er bis tief in sein Allerinnerstes.“ – Und im fünften Bande fragt er sich nach einem Besuch im Franciscaner-Kloster Himmelpforte: „O ihr Klöster, seid ihr denn Zufluchtsstätten des Friedens und der reinen Menschenliebe?“ und denkt an das Wort, das einst der Onkel in Kocher am Fall gesprochen: „Wenn ich mich zuweilen in unsrer katholischen Welt umsehe, ists mir doch, als sähe ich in alten Verließen die Gebeine der Geopferten modern.“ Aber noch mehr, noch einige Capitel weiter, und er ist mit Paula allein, er darf sich sagen: „Dir, dir ist sie beschieden! Du würdest sie durch die Liebe erlösen können von den magischen Banden, die sie gefesselt halten! – Gott wollte die Ehe und gerade die deine mit ihr!“ – aber noch beugen sich Situation und Wille, Charakter und die Liebe selbst unter die Tyrannei des Gelübdes. Und wieder denkt er an die Worte des Dechanten: „Und wenn wir auch gestern beichteten, daß wir die thierische Natur austobten – diese Sünde ist uns heute vergeben. Nur keine reine, nur keine dauernde, offene Liebe zu einem Weibe im Herzen und so an den Altar getreten! Gatte, Vater – wie kann eine solche Hand noch die Geheimnisse der Wandlung vollziehen! Frauenwürde, so denkt – Rom über dich.“ – Und dazu noch die Drohung Lucindens am Ende des vierten Bandes, die im Besitz der Papiere von Bonaventura’s Vater ist, die Bickert aus dem Sarg des alten Mevissen geraubt – wozu ganz ahnungslos Lucinde, selbst nur so hinsprechend, die erste Veranlassung gegeben und so auch die zu einem ersten Zusammenstoß der Welfen und Ghibellinen im zweiten Bande – die Drohung: „Nichts betrifft die Schrift, was Sie hindern könnte, alle Prophezeihungen von Westerhof (Paula’s) wahr zu machen! Werden Sie Bischof, Erzbischof, setzen Sie sich die dreifache Krone aufs Haupt! Ein Wort von mir entwerthet Ihr Dasein! Ein Wort von mir nimmt Ihrem Segen die Kraft! Ein Wort von [240] mir, und was Sie blühend glauben, muß verwelken, was Sie für die Ewigkeit geschaffen wähnen, muß untergehen. – So nun schon wieder die kaum beruhigte Seele in Aufruhr versetzt! Schon wieder eine Mahnung des Zweifels? Wieder das Herz im Tumult wie damals, als der räthselhafte Brief aus Italien gekommen, der ihm von Fehlern der Kirche, von Huß, Savanarola, Arnold von Brescia gesprochen? „Mit dieser Aufregung im Innern finden wir ihn im Posthof – zu Paula zu reisen –, wo Alle sich sammeln und die Namen ausgerufen werden.“ So war das Ghibellinenthum. Höchst präcis geordnet, ganz im militairischen Geiste Grützmacher’s und Schulzendorf’s und wie Thiebold de Jonge bei den Freunden Piter Kattendik’s berichtet hatte; der Generalpostmeister (Bundestagsgesandter) sprach einst wirklich das historische Wort gegen Einführung der Eisenbahnen: „Mit solchen Neuerungen hört die Ueberwachung demagogischer Umtriebe auf!“ – Benno’s Kampf lag eben in diesem unvermittelten Gegensatz so vieles Hochherrlichen am Ghibellinen- und so manches Hochherrlichen im Welfenthum. – Wie sehnte sich Bonaventura nach dem Geiste eines Dritten, das über diesen Gegensätzen versöhnend schwebte! Er fuhr von dannen – tief unglücklich – das Räthsel der Welt im Herzen.“ –

Der sechste Band löst schon Manches, woran wir mit äußerster Spannung dachten. Paula’s Vision von dem Feuer und Bonaventura’s Beichtgeheimniß von einer Feuersbrunst und falschen Urkunde erfüllen sich; während Lucinde und Hubertus sich vergeblich bemühen, Bickert’s Verbrechen zu verhindern – dann ihn zu retten, zu entfernen, unschädlich zu machen.

Der Gegensatz von Paula und Lucinde wird uns hier zum ersten Male vollständig klar, als sie in Westerhof vor Bonaventura sich wieder begegnen: „Paula war die träumerische Nacht, die Nordlandsmaid, die Mondpriesterin; Lucinde der Tag, die Tochter tropischer Zonen, die Sonnenjungfrau – dort Gefühl und Ahnung in jedem Blick, gestaltungsloses Sehnen, krankhafte Gebundenheit der Sinne; hier Verstand, Wachsamkeit, Willenskraft und Beherrschung der Leidenschaften bis zur schneidenden Kälte.“

Am Schluß des fünften Buches (sechsten Bandes) dürfen wir einmal beruhigt aufathmen. Armgart, die – wie sie mit 16 Jahren einmal in der Pension einem andern Mädchen, das erklärte: „ich werde nur den heirathen, den ich liebe!“ antworten konnte: „trivial!“ – nun wirklich bereit war, sich mit Terschka zu verloben, nur um ihn dadurch von ihrer Mutter abzuziehen – Armgart braucht dies Opfer nicht zu bringen; [241] sie hat ihre Eltern auch ohne dies versöhnen können. Von Terschka erfährt man: er ist ein Jesuit und katholischer Priester.

Die Urkunde, der zu Folge sich Paula mit Hugo von Camphausen vermählen soll, ist gefunden – sie will es thun nur unter der Bedingung, daß Bonaventura den protestantischen Grafen prüfe. In einer Vision hat sie den Altar „der besten Maria“ in Castellungo gesehen, dann Bonaventura als Bischof – ein neues Bekenntniß verkündend: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden, an die Liebe, die Erhalterin der Welt, gelehrt durch Jesus Christus, an den Geist der Wahrheit, der uns zur ewigen Hoffnung führt.“

Auch Benno wird nach Wien gesandt, als Unterhändler die römische Curie zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Er hat eine Audienz bei Metternich und wird von diesem mit Depeschen nach Rom gesandt. In Wien hat er seine Schwester Angiolina als Hugo von Camphausen’s verstoßene, sterbende Geliebte entdeckt und ebenso seine Mutter: eine Römerin Signora Maldachini, Herzogin von Amarillas, Geliebte des Cardinals Ceccone – mit ihr geht er nach Rom. Benno’s Eltern, Wittekind und die Maldachini, hat Leo Perl, ein Jude, als Priester verkleidet, getraut; er ist dann selbst Christ und Priester geworden und hat als solcher auch Bonaventura getauft. Dies ist das Geheimniß aus dem Sarge des alten Mevissen, mit dem Lucinde droht, damit Bonaventura zu vernichten, da nach der Lehre von der Intention seine Taufe ungültig ist und es so auch alle heiligen Handlungen sind, die er selbst vollzieht. Auch Lucinde geht um seinetwillen nach Rom – sie wird die Geliebte des Bischofs Ceccone.

Und so sind wir denn im 8. Band mit fast allen Hauptpersonen in Rom. Die ganze ewige Stadt, das römische Leben des Adels, der Cardinäle, des Clerus breitet sich vor uns aus. Pater Sebastus (Klingsohr) und Hubertus sind in Rom im Kloster. Bonaventura ist Bischof von Robillante. Er hat Paula und Hugo getraut. Benno verbündet sich mit dem „jungen Italien“, dem Advocat Bertinazzi, den Brüdern Bandiera, den Logen in Rom – um die Bandiera zu retten, wirft er sich in die Liebesnetze Olympia’s, der Fürstin Rucca und Tochter Ceccone’s. Damit die italienische Erhebung unterliege, unterhandeln diese römischen Großen mit dem Räuber Pasqualetto und seinen Genossen – die Sache wird dann so dargestellt, als wären die Banditen im Einverständniß mit dem „jungen Italien“ und dieses selbst ihres Gleichen. Benno wird mit den Verschwornen gefangen genommen. Bonaventura beschuldigt die Dominicaner, daß Frâ Federigo – in dem er seinen Vater vermuthet – [242] in ihren Kerkern schmachte, seit er, der Einsiedler von Castellungo, aus dem Waldenserthale verschwunden ist, in dem ihn die Gräfin Erdmuthe, Hugo’s Mutter, beschützte.

Zehn Jahre später spielt der neunte Band. Alles, was in der Zwischenzeit geschehen, zieht wie im Fluge an uns vorüber – alle die tausend verworrenen Fäden, welche die handelnden Personen (von denen wir doch nur den kleinsten Theil erwähnten) aneinanderknüpfen, entwirren sich, Alles drängt zur Lösung, nicht nur das Geschick der dichterischen Gestalten, sondern auch der Völker, der Kirche – zur Lösung auf italienischer Erde.

Alle diese Gestalten, die uns lieb geworden, die gleichsam in den drei Jahren, die seit Erscheinen des ersten Bandes vergingen (da wir jeden Band gleich nach seiner Ausgabe lasen und jetzt wieder das ganze Werk durchblickten), – mit welcher Idealität auch viele vom Dichter geschmückt blieben bis zum Ende – Paula, Armgart, Hubertus, Frâ Federigo, Ambrosi und Bonaventura – sie alle erscheinen uns jetzt wie kleine Statuen im Riesenbau eines erhabenen Doms, dessen leuchtende Kuppel die Idee der Freiheit ist, die Erlösung von jeder Knechtschaft, auch von der des Papstthums innerhalb der katholischen Kirche. Die drei Letztgenannten wachsen auf zu den Trägern dieses erhabenen Gebäudes – der Papst ist „der Zauberer von Rom“, und Bonaventura, den wir stets als den Helden des Buches erkannten, wird zum letzten Papst gewählt.

Frâ Federigo ist Friedrich von Asselyn, der als Opfer der katholischen Ehegesetze sich selbst für todt ausgiebt, damit seine Gattin mit dem Mann ihrer Liebe glücklich werden kann. Das ist das eine Geheimniß aus dem Sarge des alten Mevissen, das andere ist die ungültige Taufe Bonaventura’s. Beides weckt in Beiden Zweifel an Rom’s Hierarchie und läßt Liebe, Glaube, Hoffnung ihr Evangelium werden; „wozu irgend etwas Anderes, das nicht auf diesem Grunde ruht?“ Ambrosi und Bonaventura sind durch Federigo katholische Priester im alten Sinne der Väter – „Arme Mönche und Landpfarrer haben keine Stimme im Rath der Kirche! Ein Cardinal, ein Papst muß es sein, der dem Schöpfer das Wort nachstammelt: Es werde Licht!“ Zu diesem Ziel streben Beide auf dem Wege der Heiligung und ihre Zunge hütend. Cardinäle sind sie, da der gefangene Federigo, der Greis, sie sterbend segnet und sein Testament ihnen hinterläßt. Im letzten Buch 18?? herrscht der Dictator in Rom und – duldet die letzte Papstwahl.

„Ist es ein Prätendent auf die weltliche Herrschaft Rom’s, wie sie [243] alle waren, so senden wir ihn zu den beiden Heersäulen draußen, Franzosen und Oesterreicher, deren Bajonnette ihn halten mögen; ist es ein Nachfolger Petri im Geiste Petri, ein Friedensfürst und Apostel, so soll die Welt seine segnende Hand nicht entbehren. – Unser ihm zujubelnder Beifall feiert eine Erlösungsstunde der Menschheit!“

Bonaventura ist der Erwählte – Liberius II. nennt er sich und beruft ein allgemeines Concil unter den Eichen von Castellungo (wie schon im ersten Buch die Forderung des Briefes lautete), als der letzte der Päpsteein Deutscher!

Noch nie vielleicht war der Eindruck eines Romanes am Schluß ein erhebenderer, als dieser – wer ihn nicht mitfühlt, der lebt nicht in seiner Zeit, wie der Dichter, der auch nur für solche Leser geschrieben, den kümmert das Erlösungswerk der Menschheit nicht, der hat den Glauben daran verloren und selbst die Ohren zu hören, was nicht nur ein Roman, was der Donner der Weltgeschichte wieder und wieder verkündet! Von diesem Standpunct aus verstummt auch die Klage, die wir von da und dort schon hören mußten: daß wir am Schluß über zu viel Gräber wandeln, daß wir zu viel geknickten Lebensblüthen begegnen und da nur Unterliegen und Entsagen finden, wo eine beginnende Lebensbahn zu ganz anderen Erwartungen und Hoffnungen berechtigte. Sind doch alle diese Opfer nicht vergeblich gewesen, siegt doch in jenen fast heiligen Priestergestalten die höchste Idee über alle die finstern Mächte des Welfenthums und der römischen Hierarchie, denen jene Opfer fallen mußten, gleichviel ob noch unschuldig oder schuldig gemacht durch eben diese Mächte. Der Tag bricht ja an, und die alte Macht ist vorüber – es ist jene Befriedigung, die uns Shakespeare bei seinen Tragödien auch nach dem grausigsten Schluß empfinden läßt.

Wer aber auch nicht zu jenen „Engverbundenen“ gehört, die mit Gutzkow am Erlösungswerke arbeiten, oder zu den Nahestehenden, die diese Arbeit zu schätzen wissen: jene Classe klügelnder Kritiker, die niemals mit dem Herzen, sondern nur mit zersetzendem Verstande lesen, jene gewissenhaften Aesthetiker, die überall nur die Form im Auge haben, nach den Linien der Schönheit und nach strengen Regeln spähen – auch sie müssen dennoch dies Riesenwerk als eines der außerordentlichsten anerkennen, das die Gegenwart geschaffen. Unserer Ansicht nach läßt es „die Ritter vom Geiste“ weit hinter sich zurück. Viel größer noch ist die Gestaltenfülle, viel einheitlicher die Abrundung des Ganzen. Verriethen sich in diesen nur genaue Studien deutscher Zustände, die wir ja Alle selbst mit erlebt, so müssen wir im „Zauberer“ über diese Fülle von [244] Wissen staunen, die nur durch die Studien ganzer Bibliotheken katholischer und italienischer Schriften erlangt werden konnte, wie über die Genauigkeit der Schilderungen aller Schauplätze, die nur Anschauungen und Erfahrungen an Ort und Stelle zu geben vermochten.

Wir müssen staunen über einen Geist, in dem dies Alles nur Platz hat, das uns da wie spielend gegeben ist – vor Allem aber über diese ihm allein eigenthümliche Art des dichterischen Schaffens. Wenn wir lesen, hören wir immer gleichsam ein ganzes Orchester spielen, ein vollständiges Ensemble; immer hält uns der Verfasser das Ganze gegenwärtig, dies ist in der That ein ewiges Nebeneinander. Alle Fäden hält er zugleich in der Hand, alle Personen im Kopfe; halten wir einmal Jemand für vergessen – ein paar eingeworfene Worte und wir sind sofort wieder über ihn und Alles, was ihn betrifft, orientirt. Diese Art zu schaffen ist tausendmal schwerer als jenes nur Aneinanderreihen einzelner Scenen, wie wir es in den meisten Romanen finden – sie erhält allerdings nicht nur den Verfasser, sondern auch den Leser in Athem; und das ist denn eine Klippe, woran gewöhnliche Romanleser, die nicht so viel auf einmal in ihrem Kopfe beherbergen können, immerhin scheitern mögen – gerade wie viele Hörer an einem Musikwerk scheitern, daß ihnen zu reich instrumentirt ist und Uebergänge enthält, die dem flüchtigen Hörer unvermittelt erscheinen. Es ist eben eine neue Art des Schaffens und einer solchen zu folgen sind träge Gewohnheitsmenschen auf keinem Gebiete schnell bereit.

So scheiden wir von diesem Werk mit dem Eindruck, den wir auf jedem Gebiet noch von dem Größten hatten, das auf ihm die Kunst geschaffen; Shakespeare’s Tragödien, Beethoven’s Symphonien, Kaulbach’s Wandgemälden: eine leuchtende Idee zur Darstellung gebracht in riesenhafter Anlage und dennoch ausgeführt mit einer Genauigkeit des Details, daß wir nicht wissen, ob wir mehr uns sollen fesseln lassen von diesen oder uns unwillkürlich beugen vor jener.

Ungern legt man die Feder weg, wenn man nur das Wenigste gesagt hat von Dem, was man auf dem Herzen hat – was man gedacht hat, ehe man zu schreiben begann; aber sehr richtig sagte neulich der Kritiker der „Novellenzeitung“, daß man wenigstens eine ganze Broschüre schreiben müßte, wenn man über den „Zauberer“ nur eine einigermaßen genügende Kritik abfassen wollte. Und darin liegt auch ein Grund, warum verhältnißmäßig viel weniger über das Buch geschrieben wird, als man erst vermuthet hatte. So verzichten [245] auch wir auf das Weitere und wünschen, daß man lieber das Buch selbst, als nur über das Buch lesen möge.

40. Gotthelf Häbler, 31. August 1861#

G[otthelf] Haebler: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Neun Bände. In: Dresdner Journal. Dresden. Nr. 203, 31. August 1861, S. 857-858. (Rasch 14/34.61.08.31N)

Wenn man an die Romane E. Sue’s denkt, welche insofern als Anregungen der letzten beiden großen Werke Gutzkow’s betrachtet werden können, als hier, wie dort, Schilderungen der Culturzustände der Gegenwart durch Vorführung ganzer Klassen der Gesellschaft versucht werden, so tritt lebendig jene alte Erfahrung vor die Seele, daß der Deutsche zwar meist der Anregung seines romanischen Nachbars bedarf, um Neues zu ergreifen, daß er aber dann ihr Bestes hinter sich läßt.

Wenn die „Geheimnisse von Paris“ und der „ewige Jude“ mit den rohesten Reizmitteln, besonders des Schreckhaften, eine merkwürdige Theilnahme des Publicums erlangten, welche kaum noch die Gegenwart versteht und welche einer nicht entfernten Zukunft völlig unbegreiflich erscheinen wird, so darf man dagegen nach den „Rittern vom Geiste“ auch dem „Zauberer von Rom“ mit Zuversicht eine langdauernde Theilnahme versprechen und gewiß ein viel herzlicheres Interesse der Gegenwart an diesen Werken behaupten.

Den Katholicismus in seiner thatsächlichen Erscheinung nicht nur, sondern vielfach auch in seiner dogmatischen Begründung vorzuführen, ist der Zweck des neuen Werkes, und eine Fülle von Gestalten bildet zusammen eine gewissermaßen symbolische Darstellung desselben, sowie ein Reichthum von Begebenheiten einerseits und von Reflexionen andererseits die mannichfachsten Lichter auf ihn fallen läßt.

Betrachten wir die erstern und beginnen von unten, so wird uns der Soldat der Kirche, wenn wir uns diesen Ausdruck erlauben dürfen, besonders in drei Repräsentanten vorgeführt. Beda Hunnius, der die Kirche mit Poesien verherrlicht, in denen die feiner organisirten Personen des Romans mehr das Arom seiner Pfeife, als das seiner Titel („Saronsrosen“ u. s. w.) finden; Norbert Müllenhoff, der seine Bauerngemeinde zu religiöser Haltung drillt, wie etwa ein Unteroffizier seine Recruten; Cajetan Rother, der, als Beichtvater eines Nonnenklosters, wie ein Vampyr der Sage, im Herzblute seiner Opfer schwelgt; das sind Gestalten von kraftvoller Lebenswahrheit, und der Dichter hat sich der Schwäche des Erstern in anmuthiger Ironie, der Häßlichkeit des Letztern in maßvoller Besonnenheit gegenübergestellt, so daß nicht nur das reale, sondern ein poetisch verklärtes Leben auch in diesen Gestalten uns entgegentritt.

Terschka, der heimliche Jesuit, der, unter Gauklern aufgewachsen, in die Arme des furchtbaren Ordens sich geworfen hat und dazu benutzt wird, einen jungen protestantischen Edelmann so zu erziehen, daß er in den Schooß der Kirche sinke und mit ihm ein reicher Besitz, charakterisirt diesen Orden in der Geduld seines Abwartens, der Mannichfaltigkeit seiner Mittel, der Unentrinnbarkeit seines Einflusses auf schwankende Naturen und der Energie, mit der er solche ausnutzt.

Ein freundlicheres Beispiel von der klugen Weise, wie die katholische Kirche die Menschen führt, ist Pater Hubertus, der „Abtödter“, dessen Gutmüthigkeit einerseits dazu dienen muß, eine furchtbare Zucht dem davon Betroffenen erträglich zu machen, und dessen Rastlosigkeit und Energie andererseits in weiten Wanderungen und gefahrvollen Abenteuern verwendet wird, aber auch in manchen selbstständigen Thaten der Liebe und des Zornes sich bethätigen darf: so, wenn er den Pater Fulgentius sterben läßt; so, wenn er einen Menschen, den man fast seinen Adoptivsohn nennen könnte, in frommen Freveln mit gewaltiger Faust ergreift und zuletzt auch ihm tödtlich wird; so, wenn er zu dem alten Ketzer, welchen päpstliche Söldner verhaften, in treuer Liebe sich gesellt.

Eine Gestalt von schönster Wirkung, in der Mitte stehend zwischen den Gehorchenden und den Gewaltigen, ist der Dechant Franz von Asselyn. Mit seiner alten Haushälterin und ihren zahlreichen Nichten, mit seinem Bedürfniß nach Musik und schönen Formen, mit seiner duftenden Correspondenz und seinen Reisen nach Wien ist er freilich ein bedenklicher Priester; und doch ist die menschliche Berechtigung liebenswürdiger Naturen zu solcher Flucht aus solchem Zwange reizend an ihm nachgewiesen, so daß wir ihn nicht nur lieb gewinnen, sondern kaum wünschen können, es möchte Seinesgleichen nicht geben.

Die mächtigern Gebieter dieses Staates werden uns in gleicher Mannichfaltigkeit vorgeführt. Graf Truchseß, der Kirchenfürst, eine halb bäurische, halb soldatische Gestalt, so wenig christlich milde er ist, besonders in der Erbarmungslosigkeit, mit der er den Einzelnen für das Heil des Ganzen zermalmt, ist trefflich motivirt durch die Rache, die er in offenem Widerstande gegen die Staatsgewalt übt, deren übermüthige Vertreter einst seinen Bruder ins Grab geschleudert haben. Man kann ihn nicht billigen wollen; aber man begreift ihn und betrachtet ihn ohne Haß.

Ein finsteres Bild ist neben ihm Cardinal Ceccone, der, von einer italischen Judith mit dem Schicksale des Helofernes bedroht, diese mit ihrem Kinde zusammen in ein Kloster verbirgt; der sich später nicht scheut, die Wolfsnatur dieses Kindes in seiner Nähe zu dulden und so Rom seine Schmach offen zu zeigen; der endlich an dem Degenstoße eines Mannes langsam hinsiecht, welcher sich nicht dazu verstehen will, Das alles zuzudecken. Er ist eine Gestalt, die kaum fehlen durfte, um zu sagen, daß das heutige Rom in Manchem noch dasselbe sei, vor dem sich Luther entsetzte und an dessen Luft die Hohenstaufen verkümmern mußten. Der Verfasser sieht im Katholicismus so sehr eine nach uralten Traditionen fortbestehende Republik, daß er der monarchischen Spitze derselben nur zwei flüchtige Blicke schenkt; Gregor XVI. und Pius IX. Man möchte deshalb vorschlagen, daß der Roman lieber der „Zauber“ statt der „Zauberer von Rom“ hieße.

Dieser Macht, diesem Zauber, der nicht nach dem Willen einzelner Herrscher, sondern nach einem, besonders auf Erwägung menschlicher Schwächen fast untrüglich begründeten Systeme waltet, verfallen die haltlosen Naturen, wie das Insect dem Einflusse der blendenden Kerze sich nicht entziehen kann. Der Dichter führt uns besonders zwei solche vor: Lucinde und Klingsohr. Dem weiblichen Charakter, dem der Schein der Unterordnung Gewohnheit und selbst ihr Wesen bis zu einem gewissen Grade Nothwendigkeit ist, wird die alleinseligmachende Kirche das Mittel zur Größe: die wilde Schulmeisterstochter stirbt als Gräfin Sariana, freilich nach bittersten Erfahrungen, und auch so noch in den Flammen. Der männliche Bekehrte, nicht tief genug im Denken und Wissen, nicht stark genug im Wollen, um einen stattlichen Weg durchs Leben zu gehen, und doch nicht fähig, der Eitelkeit des Wissens, dem Zauber der Freiheit zu entsagen, schwankt von Qual zu Qual: auf Ja und Nein beschränkt die Zucht der Kirche den Mann, dem Reden fast Athmen ist; den Bettelsack giebt sie dem Löwen des Salons in die Hände, und das ist sein ganzer Gewinn, daß sein geknicktes Dasein – in der schmeichelnden Luft Italiens zusammenbrechen darf.

Aber diesen Typen Dessen, was die Nothwendigkeit der katholischen Kirche zu sein diese selbst in Abrede stellen wird, stehen versöhnend drei Gestalten gegenüber, [858] welche darstellen, was doch immer, im Strahle günstigster Gestirne, in ihr erwachsen kann.

Vincente Ambrosi, der, von Ceccone’s Tochter verklagt, die Strafe für verleumderische Beschuldigung duldet, um für sündige Gedanken zu büßen, mag eine überspannte Natur genannt werden; aber eine ansprechende ist er gewiß. Er ist ein Christ nach dem Gebote: „Wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den linken dar“. Wir pflegen uns die wörtliche Befolgung dieses Gebotes zu erlassen; aber wen rührte nicht eine That, in der es ohne Heuchelei und geheimen Eigennutz befolgt wird!

Fra Federigo, der Ketzer, welcher die Zeiten des Petrus Waldus in den Thälern der Alpen und der Apenninen mit dem Klange alter provençalischer Lieder heraufbeschwört und doch wenigstens altern kann, ehe ihn die Sbirren fassen, und endlich freilich als Gefangener der Inquisition stirbt, aber eines natürlichen Todes und von zwei Cardinälen betrauert: auch er ist ein tröstendes Bild, ein Fleisch und Blut gewordenes: „Und sie bewegt sich doch!“ wider die Beschlüsse von Trident.

Zumeist aber ist es der Held des Romans, Bonaventura von Asselyn, ein Priester nach dem Herzen Gottes, in welchem reinste Menschlichkeit siegreich hervorgeht aus dem Kampfe mit den Gewalten, die seit grauen Jahrhunderten in der alleinseligmachenden Kirche mächtig sind. Furchtbar belastet mit den Sünden Anderer durch das Gesetz des Beichtgeheimnisses; stürmisch in tiefster Seele bewegt durch das Verbot der Ehe, zumal da an den männlich Schönen heftige Weiblichkeit wild begehrend, zarte in schmachtender Sehnsucht sich anschmiegt; auch von den Satzungen über die Unlösbarkeit der Ehe und die Macht des Priestergedankens über die Geltung der Sacramente schwer betroffen: mit allen diesen Lasten geht er unter allem Gewimmel der Befleckten seinen reinen Pfad. Und nicht nur den Dichter hat er bewältigt, dessen Begeisterung für sein Ideal bisweilen lyrisch ausbricht, der uns in der Einleitung einen Helden und, verschüchtert von den Geboten des Aristoteles, einen „gemischten Charakter“ in Aussicht stellte, und uns einen reinen Helden, im kühnsten Sinne der beiden Worte, giebt, ohne daß seine Schilderung uns irgend unwahrscheinlich wird: nicht nur ihn hat das Ideal bewältigt, sondern unfehlbar auch bewältigt es den Leser, und die Schlußphantasie, welche jenem Helden die dreifache Krone aufs Haupt drückt, wird zum Gebete, in das wir mit Rührung einstimmen.

Und welche Fülle von Gestalten und Bildern bewegt sich auch noch neben diesen Gruppen, die die Mitte des gewaltigen Gemäldes bilden!

Jener alte Kronsyndikus, herrisch wegschreitend über jedes Hinderniß seines Willens und zuletzt doch zusammenbrechend an dem Bewußtsein einer späten, kaum gewollten blutigen That, ist selber wieder der Mittelpunkt einer eigenen Welt. Der ältere, geistig bedeutendere Sohn, der dem Vater fremd, fast feindlich und zuletzt ihm Vormund wird; der jüngere, in dem ein Zusammentreffen väterlichen Starrsinns mit Schwäche des Geistes in Wahnsinn ausschlägt; der Sohn der mit einer falschen Ehe getäuschten Sängerin, der, als sich die Schleier seines Schicksals lüften, von der gewohnten Erde in Mannesjahren noch unter fremdes Volk sich verpflanzen muß, für dessen Bedürfnisse und Leidenschaften er als Opfer fällt; die Tochter derselben Aeltern, die, aus dem Reitercircus als Kind in liebende Arme gerettet, es nicht ertragen mag, als das Schicksal sie wieder aus diesen hinwegreißen will; die Mutter der Beiden, dem Namen nach eine Herzogin, in der That eines weiblichen Emporkömmling gemißhandelte Gesellschafterin: das sind die Planeten, welche um jenes Centrum sich bewegen, ohne darum von der Gesammtbewegung ausgenommen zu sein.

Man würde aber irren, wenn man fürchtete, lauter düstern Bildern zu begegnen. Neben den finstern und unheimlichen Gestalten stehen heitere Menschen und Scenen in reicher Zahl. Besonders ist der eigenthümliche Charakter der mercantilen Welt in großer Vollständigkeit dargestellt. Der gesangesfrohe Makler Löb Seligmann und sein baronisirter Vetter mit seiner jungen eleganten Gemahlin auf der Villa bei Köln; der fromme Herr Schnuphase, der die geweihten Kerzen an alle Altäre des Rheins liefert, dessen Töchter Cajetan Rother’s Jüngerinnen sind, den Metternich beruft, damit er gefährdete Tonnen seines Johannisbergers retten helfe, und den bei Alledem dennoch die Polizei aus Rom verweist; Piter Kattendyk, mit seinem Bedürfnisse, groß zu sein, und den einfachen Mitteln, durch die er es befriedigt, mit seinem Mißgeschick, einen lange vorbereiteten großen Tag durch unbedachtsamen Genuß einiger Gläser Burgunder sich zu zerstören, mit seinem Eindringen in verbotene Räume im Waschkorbe und als Nähmamsell; besonders aber Thiebold de Jonge, eine Natur, die für einen unverschuldeten Mangel an Tiefe durch das liebenswürdigste System der Anschmiegung und die unwandelbarste Gutmüthigkeit mehr als versöhnt: das sind wirkungsvolle Repräsentanten dieser Sphäre, und es schwebt über ihnen der liebenswürdige Humor eines Mannes, der aus reichster Lebenserfahrung gelernt hat, Manches zu dulden und selbst am Feinde zu lieben.

Noch möchten wir Vieles besprechen, was uns tief berührt hat; aber wir könnten nicht enden, wenn wir erschöpfend die Fülle dieses Werkes schildern wollten.

Möge die Nation dem Dichter dankbar sein für seine Gabe und möge der in voller Reife des Lebens Stehende noch lange Jahrzehnde fortfahren, uns die Gegenwart zu schildern und zu deuten, die er so klar zu schauen, die er so tief und so heiter zugleich zu erfassen weiß!

41. Julian Schmidt, November 1861#

Julian Schmidt: Der Zauberer von Rom. In: Die Grenzboten. Leipzig. Bd. 4. Nr. 46, [November] 1861, S. 241-248. (Rasch 14/34.61.11.1)

Die neun Bände sind nun abgeschlossen, und die Leser der Grenzboten würden unzufrieden sein, wenn über den Gesammteindruck des Romans hier nicht ein Bericht abgestattet würde. Man erwarte aber nicht eine Erzählung des Inhalts; sie wäre geradezu unmöglich. Die unendlich vielen Figuren, die trotz der Verschiedenheit ihres Costüms einander zum Theil bis zum Verwechseln ähnlich sehen, die unzähligen Begebenheiten, von denen eine die andere drängt und verwirrt, die ohne Zusammenhang in einander verlaufen, deren Fäden der Verfasser alle Augenblicke fallen läßt ohne sie wieder aufzunehmen, diese beständigen unmotivirten und resultatlosen Wandlungen der Charaktere, Ueberzeugungen und Situationen, das Alles hinterläßt in der Phantasie und dem Gedächtniß ein so wüstes und chaotisches Bild, daß es dem geübtesten Criminalisten, der an die verwickeltsten Rechtsfälle gewöhnt ist, unmöglich fallen würde, darüber zu berichten.

Desto bestimmter ist der Eindruck, den das Ganze macht. Ueber die widerlichen Dinge, welche der erste Band enthält, ist bereits das Nöthige gesagt worden. Es fehlt auch in den folgenden Bänden nicht daran, doch treten sie bei weitem zurück, und man empfängt eher den Eindruck eintöniger, gleichgültiger, zweckloser Erfindungen, als daß man mit einer gewissen Neugier auf eine Ueberbietung der Häßlichkeit durch die andere die Aufmerksamkeit spannte. Mit einem Wort, wenn der erste Band uns durch seinen Inhalt abstößt, aber doch ein gewisses Interesse erweckt, so sind die folgenden überwiegend langweilig.

Dennoch möchte ich, wenn ich den „Zauberer von Rom“ mit den „Rittern vom Geist“ vergleiche, im Ganzen dem erstern den Vorzug geben. Als Kunstwerk betrachtet, ist er werthlos, aber es sind Studien darin, die zu einem interessanten Gemälde hätten verwerthet werden können, wenn der Verfasser diese Details zu beherrschen und sie einem künstlerischen Plan unterzuordnen verstanden hätte.

Das Vorbild, welches Gutzkow bewußt oder unbewußt bei beiden Romanen vorgeleuchtet hat, ist Eugen Sue: die „Mysterien von Paris“, der „Ewige [242] Jude“, die „Memoiren eines Kammerdieners.“ Wie der französische Dichter, hat auch Gutzkow eine breite Masse von einzelnen Erfindungen zusammengestellt, die nicht durch ihre innere Beziehung auf einander, sondern durch einen ideellen Rahmen sowie durch eine durchgehende lyrische Grundstimmung zusammengehalten werden.

Dieser Rahmen war bei den „Rittern vom Geist“ die deutsche Reaction des Jahres 1850, die lyrische Grundstimmung das dieser Reaction gegenübertretende Gefühl, daß in irgend einer unbestimmten Zukunft Alles anders und besser werden müsse. Wenn man den Roman heute noch läse, so würde man wol allgemein eine Satire gegen die Demokratie darin finden; denn diejenigen politischen Zustände, welche der Verfasser selbst als schlecht und unhaltbar empfindet, werden nur obenhin skizzirt, und die Figuren, welche ihnen als Träger dienen, wie der Justizrath Schlurk u. s. w., gehören keiner bestimmten Zeit an; man findet sie in den Komödien und Romanen des vorigen Jahrhunderts wie heute. Dagegen sind die Ritter vom Geist, die Männer der Zukunft, aus deren geheimem Zusammenwirken ein besserer Zustand für Deutschland hervorgehen soll, mit allen ihren Gedanken und Empfindungen sehr ausführlich dargestellt, und der unbefangene Leser empfängt den Eindruck, daß nicht in ihren Gegnern, sondern in ihnen die Krankheit der Zeit sich offenbart. Denn sie gehn nicht etwa von einem bestimmten, sachgemäßen Willen, von einer politischen Ueberzeugung aus; sie suchen nur ihre eigenen subjectiven Stimmungen gegenseitig zu steigern und sich dadurch über die Menge zu erheben. Der Bund, den sie schließen, ist nicht eine Parteibildung zur Anbahnung und Durchführung politischer Reformen, sondern eine Coterie schöner Geister, sich gegenseitig zu hegen und zu fördern. Dieser Referendarius, der an der Spitze steht, diese Maler, Belletristen, Berliner Proletarier u. s. w., die unter sich durch Nichts zusammenhängen, als durch das Bewußtsein großer Velleitäten, sind den bestehenden Zuständen gegenüber, so schlecht sie auch sein mögen, entschieden im Unrecht, denn es sind durchweg Weichlinge, deren Kopf und Herz mit jeder volltönenden Phrase durchgeht, und die weder eines starken Willens noch eines bestimmten Urtheils fähig sind, weil sie in ihrer Zerstreutheit keinen Gedanken rein ausdenken, in ihrer Empfindsamkeit kein Gefühl voll ausströmen, in der ausschließlichen Beschäftigung mit der eigenen Seelenstimmung keiner Sache eine eingehende Aufmerksamkeit und eine concentrirte Willensthätigkeit widmen können.

Betrachtet man die Darstellung blos als Conterfey der Zeit, so liegt eine gewisse Wahrheit darin. Solche Individuen gab es damals in hinreichender Anzahl, und da die Zeit mehr für Phrasen und für Rhetorik gemacht war als für eine kräftige That, so spielten sie eine nicht unerhebliche Rolle. Berauscht von ihrer eigenen Stimmung und von der Stimmung der sie umge-[243]benden Menge, ließen sie ihre Reden über den allgemeinen Völkerfrühling und über die höhere Zukunft der Menschheit lebhaft ausklingen, und freuten sich, wenn das Publicum ihnen lauten Beifall rief. Ging dann der Beifall in gesetzwidrige Thätigkeit über, so überkam sie wieder die Besonnenheit, und sie sahen ein, daß sie für ihre Ideen, für welche das Jahrhundert noch nicht ganz reif sei, besser aus der Ferne wirken könnten, wohin sie sich denn auch zurückzogen. Wer das Tagebuch Ludwig Simons gelesen hat, wird zugeben müssen, daß die „Ritter vom Geist“ keine leere Erfindung waren.

Das Eigenthümliche an der Sache lag nur darin, daß die Schilderung von einem Ihresgleichen herrührte, daß sie von Bewunderung und Mitgefühl getränkt war. Trotz der seltsam unbewußten Ironie, daß die Ritter vom Geist selbst durch einen aus ihrer Mitte, der zur Regierung kam, auf die unverantwortlichste Weise maltraitirt wurden, und daß von jedem von ihnen, sobald er in eine ähnliche Lage gestellt wurde, das Nämliche zu erwarten stand, wurde doch dies geistreiche, schönrednerische Ritterthum als der Kern der Zukunft gefeiert. Die lebhafte Befriedigung, welche die Gleichgesinnten empfinden mußten, wenn sie ihr Portrait in einem solchen Verschönerungsspiegel fanden, läßt sich leicht ermessen.

Von dem großen Kampf, welcher allen Wirren unserer Zeit zum Grunde liegt, von dem Kampf der bürgerlichen gegen die adlige Gesinnung, war in dem ganzen Buch keine Rede. Das Bürgerthum, mit seiner soliden, sicher vorwärts schreitenden Arbeit, das unaufhaltsam in die Lücken des alten, immer morscher werdenden Staatslebens eindringt, das nicht blos nach jedem Sieg, sondern nach jeder Niederlage einen Fuß breit Landes weiter gewinnt, und darum mit Nothwendigkeit das Werk der Geschichte vollführt, hatten keinen Vertreter gefunden; wo es erwähnt wurde, geschah es mit Achselzucken, wie man es von „Rittern“ voraussetzen durfte, denen es neben dem Geist und der Beredesamkeit auch auf lackirte Stiefeln und parfümirte Visitenkarten ankam.

Wenn Gutzkow diesen Roman aus seinen eigenen Empfindungen herausschreiben konnte, ohne sich um die wirklichen Zustände viel zu kümmern, so stellte er sich bei seinem nächsten Werke die für sein Talent ungleich günstigere Aufgabe, sich in einen ihm fremden Stoff zu vertiefen, und basirte das Interesse desselben auf massenhafte Beobachtung des Details. Der „Zauberer von Rom“ ist der Papst, und der Zweck dieser neun starken Bände ein Gesammtbild der katholischen Kirche in Deutschland und Italien von den Kölner Wirren an bis auf unsere Zeit. Gutzkow läßt die Geschichte, die nur durch die verschiedenen Persönlichkeiten zusammenhängt, in allen möglichen Theilen des westlichen und südlichen Deutschlands spielen, und bemüht sich überall, die Personen und Sachen so zu charakterisiren, wie sie ihm seine Reisen gezeigt haben. Was an dem Buch zu loben ist, bezieht sich lediglich auf dies reali-[244]stische Talent. Für kleine Schwächen der Eigenliebe, der Koketterie u. s. w. zeigt Gutzkow schon in seinen früheren Schriften ein scharfes Auge; er hätte es noch bedeutend schärfen können, wenn er es nicht durch gefärbte und verkehrt geschliffene Gläser, d. h. durch Phrasen, durch schwungvolle, aber nichtssagende Redensarten verdorben hätte.

Es kam ihm aber nicht blos darauf an, was er vom katholischen Leben gesehen, dem protestantischen Publicum, welches keine Gelegenheit dazu hatte, mitzutheilen, sondern er wollte zugleich die historische Bedeutung der katholischen Kirche tiefer begründen, und durch eine Art von Inspiration das Problem lösen, an dem schon so viele Jahrhunderte gearbeitet haben.

Das Erscheinen der letzten Bände verzögerte sich sehr lange, und der Gedanke lag nahe, daß der Dichter diese Inspiration von den Begebenheiten erwartete. Seit dem italienischen Krieg schien eine ungeheuere Katastrophe des Papstthums unvermeidlich, und die nationale Umgestaltung der politischen Verhältnisse in Italien schien nur durch eine gänzliche Umgestaltung der Hierarchie möglich zu sein. Der Einzug Victor Emanuels oder Garibaldi’s in Rom wäre ein kräftiger historischer Schluß für einen Roman gewesen, der mit Lucinde, Klingsohr und ähnlichem Lumpengesindel begann.

Allein die Geschichte war nicht so gefällig, dem Wunsch des Dichters in die Hände zu arbeiten: die römische Frage wurde fortwährend vertagt, und der Roman mußte doch endlich zum Schluß kommen. Gutzkow läßt also auf den jetzt regierenden Papst noch mehrere andere folgen, dann aber besteigt der heilige Bonaventura den Thron; gewählt unter den Acclamationen und mit Hülfe der Drohungen des römischen Pöbels, gestützt von Garibaldi oder einem ähnlichen Dictator, der mit gezücktem Schwert das Heiligthum bewacht.

Bis dahin hatte der Dichter freies Spiel. Zwar ist nicht viel Chance dafür vorhanden, daß zu irgend einer Zeit die Wahl des Conclave auf einen Heiligen fallen wird, der neben seiner Heiligkeit auch ein arger Ketzer ist; allein da dies Ereigniß in eine Zeit verlegt wird, welche sich vorläufig der Controle des Publicums entzieht, so darf man mit dieser Erfindung nicht rechten. Es sei: ein Heiliger wird Papst, ein Heiliger, der zugleich äußerst aufgeklärte Grundsätze hat. Aber nun folgt die Phantasie, die an der Phrase geschult ist: dieser Heilige proclamirt die Aufhebung der bisherigen Hierarchie und die Einberufung eines allgemeinen Concils, und damit ist die römische Frage erledigt.

Es genügt doch noch nicht, wenn man die katholische Kirche in ihrer Machtfülle und in ihren Verwirrungen charakterisiren will, die Studien an Kölner, Wiener und römischen Physiognomien gemacht zu haben. Wenn man durch die wohlwollende Gesinnung irgend eines heiligen Mannes, er stehe auf der höchsten Spitze, eine Macht erschüttern zu können glaubt, die auf den [245] seltsamen Gegensätzen der ganzen europäischen Politik beruht, so zeigt das nur, daß die Bildung des historischen Sinns noch viel zu wünschen übrig läßt. Rom kann heute durch Rom ebensowenig reformirt werden, als zu den Zeiten Luthers; der Fels, auf dem die Kirche gebaut ist, kann unter dem äußeren Stoß zusammenbrechen, er kann sich aber nicht umwandeln. Glücklicherweise sind andere Kräfte vorhanden, welche das Werk unternehmen werden; wie vor drei Jahrhunderten die deutschen Stämme sich losrissen, so sind jetzt die romanischen Nationen im Begriff sich auf eigene Füße zu stellen.

Man thäte indessen dem Dichter einerseits zu viel Ehre an, andererseits bürdete man ihm eine zu große Verantwortung auf, wenn man annähme, dieser letzte Schlußeffect sei das nothwendige Resultat der vorhergehenden Erzählung. Er ist vielmehr im eigentlichsten Sinne des Worts angeklebt und verhält sich zum Inhalt des Vorigen ungefähr wie ein Ballet, das man zur Abwechselung auf ein Trauerspiel folgen läßt. Wenn man aus den 8 ersten Bänden irgend einen bestimmten Eindruck empfängt (was freilich bei Gutzkow immer nur bedingt der Fall ist), so ist es der, daß die Zustände der katholischen Kirche vollständig in Fäulniß übergegangen sind und nicht die mindeste Hoffnung geben.

In den „Rittern vom Geist“ hatte Gutzkow die Massenhaftigkeit der Episoden dadurch zusammengehalten, daß er eine bestimmte Intrigue in den Mittelpunkt stellte, sie scharf markirte und dem Leser beständig wieder in Erinnerung brachte. Diese Intrigue eignete sich auch darum zu ihrem Zweck, weil sie mit dem Kern der Frage eng zusammenhängt; um Europa zu reformiren, brauchen die Ritter vom Geist sehr viel Geld, und dieses Geld soll durch einen verwickelten Erbschaftsproceß gewonnen werden. Genau so hatte es Eugen Sue im „Ewigen Juden“ gemacht, nur daß bei ihm nicht die Liberalen, sondern die Jesuiten die Maschine dirigirten, wozu sie sich in der That mehr eignen.

Ein solcher Mittelpunkt fehlt in dem neuen Roman, der deshalb wei[t] mehr aus einander fällt. Die Personen, um welche die Geschichte sich dreht, die im ersten Bande vollständig charakterisirt werden, und die in den mannigfaltigsten Wandlungen von Neuem immer auftreten – Lucinde und Klingsohr – scheinen zu der eigentlichen Tendenz des Romans nicht die geringste Beziehung zu haben; die Breite, in welcher die Erbärmlichkeit und Verworfenheit ihrer Umgebung im ersten Bande geschildert wird, scheint mit der großen Frage, was aus der katholischen Kirche werden solle, nicht das Mindeste zu thun zu haben. Indeß irgend eine Absicht muß doch dabei gewesen sein, und wir wollen versuchen, sie zu entdecken.

Es scheint, als ob Gutzkow den Einfluß habe untersuchen wollen, den die Kirche auf das Gemüth als solches ausübt. Er wollte zeigen, wie be-[246]schaffen das Gemüth sein müsse, um ihren Schlingen zu erliegen, welche Veränderungen es dadurch erleidet u. s. w. Darum wählte er zum Mittelpunkt der Handlung nicht wirkliche Katholiken, sondern zwei Renegaten.

Die Kirche kann sich nicht sehr geschmeichelt fühlen durch die Erwerbungen, welche der Dichter sie machen läßt. Lucinde ist eine geborne Dirne, die freilich nach der Versicherung des Dichters, der es doch am besten wissen muß, bis an’s Ende ihres Lebens Jungfer bleibt, ungefähr in der Art, wie Voltaire’s Pucelle; Klingsohr ist ein hohler, seichter Schönredner, der mit seinen Empfindungen und Gedanken weibisch kokettirt, er ist ein Ritter vom Geist. Der Punkt, auf den eigentlich Alles ankäme, der Moment ihrer Bekehrung wird nicht charakterisirt. Bei Lucinde war es freilich nicht nöthig, denn sie thut es, um Geld zu verdienen; dagegen hätte man bei Klingsohr einige nähere Erläuterungen gewünscht. Verändert wird bei ihnen durch den Uebertritt nichts. Lucinde bleibt die Dirne, die sie war; selbst der Schauplatz ihrer Wirksamkeit wird nur wenig anders, und als sie zuletzt ihr höchstes Ziel erreicht, Maitresse eines abgelebten Cardinals zu werden, verliert man sie aus den Augen. Auch Klingsohr bleibt der alte Schönredner, der alte Ritter vom Geist, der alte blasirte Declamator, der durch hochklingende Worte mit einem gewissen Behagen aus seinem hohlen Innern Thränen hervorzupressen sucht; er compromittirt sich fortwährend durch vorlaute Reden, und wird zur Strafe genöthigt in einen immer noch strengeren Orden zu treten; einmal wird er sogar körperlich gezüchtigt, was dem Leser sehr wohlthut. Aber wozu wir uns eigentlich mit diesen höchst erbärmlichen und höchst uninteressanten Persönlichkeiten in dieser Breite beschäftigen sollen, das ist nicht zu errathen. Daß die Mehrzahl der Renegaten wirklich von der Art sind, läßt sich gar nicht bestreiten, aber um diese unzweifelhafte Wahrheit zu erkennen, hätte man uns doch nicht durch diesen entsetzlichen Schmutz durchhetzen dürfen, den wir durchwaten müssen, um sie in ihrem wenig beneidenswerthen Schicksal zu verfolgen.

Ein anderer Ritter vom Geist, ein Zwillingsbruder Dankmar Wildungens, gleichfalls ein Referendarius oder Assessor oder so Etwas, Benno von Asselyn, scheint nachher in den Vordergrund treten zu sollen. Auch er erfreut sich einer wunderbaren Unsicherheit über das, was er denkt, was er will, was er empfindet, und wird durch diese Unsicherheit in die zwecklosesten Abenteuer verstrickt. Aber er ist durchaus nichts Neues und wird zu obenhin behandelt. Dabei wird die Aufmerksamkeit fortwährend dadurch verwirrt, daß man sich in jedem Bande eine neue Genealogie einprägen muß: wie in den „Rittern vom Geist“, weiß auch hier fast kein Einziger, wer sein wirklicher Vater ist, und das zerstreut die Aufmerksamkeit zuletzt auf eine ganz unleidliche Weise. Die episodischen Figuren haben zwar eine kirchliche Färbung, aber diese Färbung ist ganz localer Natur; sie könnte als untergeordnetes Moment von [247] Interesse sein, aber die Charakteristik der Kirche im Großen kann sie nicht ersetzen.

Positive Momente des Katholicismus sind nicht geschildert. Der einzige Charakter, der mit wirklicher Vorliebe behandelt zu sein scheint, der künftige Papst, zeigt nichts weniger als eine durchgreifende Willenskraft; er ist ein stiller, wohlmeinender Träumer, ganz dazu geschaffen, in einer einsamen Pfarre über die Mysterien des Glaubens und des Gewissens zu grübeln und mit schönen Seelen zu verkehren. Mit der dreifachen Krone auf dem Haupt wird er eine seltsame Rolle spielen, da er selbst vor den Verfolgungen der lüderlichen Lucinde, die ihn mit ihrer Liebe beglückte, eine wahrhaft lächerliche Angst empfand. Alle Reformatoren waren Männer, eiserne Männer, Gregor der Siebente und wie sie alle heißen, diesem sanftmüthigen Bonaventura ist die Kirche zu stark.

Wenn man es unternimmt, eine so massenhafte Verwickelung der Fäden und Intriguen einzuleiten, so muß man auch im Stande sein, sie zu beherrschen; reißt der Faden fortwährend ab und muß fortwährend von Neuem angeknüpft werden, so hört die Geduld auf.

Ich habe schon mehrfach Gelegenheit gehabt, mich über Gutzkows dichterische Individualität auszusprechen, und da manche Dinge nicht wohl auf zwei verschiedene Weisen ausgedrückt werden können, so möge man mich entschuldigen, wenn ich mich hier einmal wiederhole.

Man tadelt den Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, daß er, vielleicht ohne es zu wollen, den Glauben an die Seele untergräbt, den Glauben an jene individuelle Lebenskraft, die, uns allen bekannt, obgleich uns allen wunderbar, aus innerer Naturbestimmtheit heraus der äußeren Naturbestimmtheit widersteht, bald sie bezwingt, bald ihr unterliegt, und so ihr eigenes Schicksal ist. Indeß ist diese Doctrin, weil sie vom Gefühl wie von der Wahrnehmung leicht widerlegt wird, viel weniger schädlich, als jene mißbräuchlich sogenannte Dichtung, die uns seelenlose Gestalten vorführt und uns daran gewöhnt. Der Glaube an die Freiheit ist mit dem Bewußtsein der innern Naturbestimmtheit der Seele, die sich nicht in bloße sinnliche Eindrücke, in bloße Empfindungen zerbröckeln läßt, unzertrennlich verbunden: nur die Seele kann sich frei nennen, die ihrer eigenen Nothwendigkeit folgt. Dichter mit Talent aber ohne schöpferische Kraft sind nie im Stande, das Bild einer solchen Seele hervorzubringen, sie sind nie im Stande eine wahre Leidenschaft zu schildern, denn auch die Leidenschaft, die alle mitwirkenden Umstände überfluthet, ist ein Ausfluß jener dämonischen Kraft, die zu verherrlichen von Alters her als die hohe Aufgabe der Tragödie angesehen wurde. Jene Dichter, die, unfähig den Kern des Wesens zu erfassen, alles, was geschieht, aus zufälligen Umständen, Eindrücken und Erregungen herleiten, verfallen eben deshalb in [248] ihren Werken nothwendig in Unsittlichkeit; denn Unsittlichkeit ist nichts Anderes, als der Atomismus des Willens. Nicht etwa, daß solche Dichter darauf ausgehen, die Sittlichkeit durch ihre Schöpfungen zu untergraben, im Gegentheil haben sie oft die beste Absicht, tugendhafte Menschen zu schildern, aber weil ihnen der Kern der schöpferischen Kraft abgeht, werden meistens daraus Figuren, die, wie Kotzebue’s Eulalia, im entscheidenden Augenblick sagen: „Sie stoßen da auf eine Unbegreiflichkeit in meiner Geschichte.“ Man hat in jedem Augenblick die Empfindung, daß sie eben so gut das Gegentheil von dem thun könnten, was sie wirklich thun. Es ist in ihnen, wie gesagt, keine Seele, sie tragen kein Gesetz der inneren Nothwendigkeit in sich.

Was Gutzkow von den übrigen Poeten dieser Art unterscheidet, ist, daß seine Bildung und sein Scharfsinn so weit geht, ihm auf Augenblicke die Erbärmlichkeit seines Helden klar zu machen; in solchen Augenblicken nimmt er den Anschein eines Satirikers an, den er aber in der nächsten Stunde über neuen Eindrücken, neuen Empfindungen, wieder vergißt. Solche Züge finden sich auch in dem „Zauberer von Rom“ mehrfach, und Figuren, wie Schlurk und Strohmer in den „Rittern vom Geist“, in denen sich wirklich einige brillante Einfälle finden, sehen ganz aus wie eine Satire auf seine eigenen Schöpfungen; aber sobald er sich zusammenrafft, um einen tüchtigen Menschen zu schildern, wird wieder ein Schlurk oder Strohmer daraus, nur in anderem Costüm.

Wer nicht von innerer Nothwendigkeit ausgeht, verfällt dem Zwang der äußeren Umstände, d. h. dem Atomismus, und man wird an den vierten König in Goethe’s Märchen erinnert, der, sobald ihm die Irrlichter die Goldadern aussaugen, in einen lächerlichen und unförmlichen Klumpen zusammenfällt. Eine solche Gemüthsstimmung ist auch der wahren Satire nicht mächtig, denn auch diese verlangt ein festes Maß der Seele, das man auch im Uebermuth nicht aus den Augen setzt. Gutzkow, in seinem innersten Wesen ein Anempfinder, bemüht sich durchweg, sich selber in Rührung zu sprechen. Er lauscht gewissermaßen mit Behagen dem Klang seiner Worte. Nun wird er aber gleichzeitig von unzähligen sich widersprechenden Gedanken und Empfindungen heimgesucht, und da er keinem derselben Widerstand zu leisten vermag, widerfährt ihm fast durchweg, daß er das Ungehörigste in den Vordergrund schiebt, daß seine Rührung plötzlich in blasirte oder gar in faunische Stimmung überspringt, und daß seine Satire in schwächlicher, empfindsamer Rührung verklingt.

42. Karl Hagen, 11. Januar 1862#

Karl Hagen: Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. In: Illustrirte Zeitung. Leipzig. Bd. 38, Nr. 967, 11. Januar 1862, S. 27-28. (Rasch 14/34.62.01.11N)

In Gutzkow’s Zauberer von Rom wie in seinen Rittern vom Geist glauben wir zwei der bedeutendsten Thaten zu erkennen, welche der deutsche Geist auf dem Gebiete der schönen Literatur vollzogen hat. Und zwar nicht nur auf die Gegenwart müssen wir dies Urtheil beschränken, sondern wir stellen es als ein allgemeines hin. Um zu diesem Urtheil zu gelangen, braucht man sich nicht etwa auf einen andern Standpunkt zu stellen, als die gegenwärtige Kritik einnimmt, sondern nur den Muth zu besitzen, die Consequenzen dieses Standpunktes zu ziehen. Die Poesie soll – darüber sind wol alle einverstanden – ein Spiegelbild des Lebens sein; und wenn man hinzusetzt: aber ein „verklärendes und versöhnendes“, so ist auch dagegen nichts einzuwenden, wenn man sich nur über das Wesen dieser Verklärung und Versöhnung verständigt. Nun, in diesen beiden Gutzkow’schen Romanen ist jene Forderung in dem größten Umfange und mit seltener Meisterschaft befriedigt: sie bilden aber zugleich nach unserm Dafürhalten eine Epoche in der Geschichte unseres Romans, oder besser gesagt, sie bilden den Gipfelpunkt dieser Epoche.

Unser Roman hat im Vergleich mit dem Standpunkt, den er im Anfang dieses Jahrhunderts oder noch in den zwanziger Jahren und der ersten Hälfte der dreißiger eingenommen, ungeheuere Fortschritte gemacht. Was den heutigen auszeichnet – ich spreche natürlich nur von den bedeutenderen, von Sudlern kann keine Rede sein – besteht einmal darin, daß er mit vollen Händen in die Wirklichkeit greift und uns nicht Schatten, sondern lebendige Gestalten vorführt; zweitens, daß er einen tiefern und umfassendern Gedankeninhalt besitzt. Das eine wie das andere ist offenbar das Ergebniß unserer seit den dreißiger Jahren ununterbrochen sich fortsetzenden mächtigen geistigen und politischen Entwickelung. Daß wir ein öffentliches Leben besaßen, wie verkümmert es auch wurde, daß wir den Drang fühlten, gegen die noch bestehenden Beschränkungen desselben anzukämpfen, daß wir diesen Drang bethätigten und zeitweise sogar siegreich, daß wir von allen Reactionen uns immer wieder ungebrochenen Muthes erhoben, dies alles ist auch unserer Poesie und insbesondere dem Romane zugute gekommen. Es entspricht dem Charakter der Zeit, daß der Roman vorzugsweise ein culturhistorisches Gepräge trägt: mag dieses nun in der Dorfgeschichte oder im geschichtlichen Roman oder im Zeitbild zum Vorschein kommen. Gutzkow, der von jeher mitten in den Bestrebungen der Zeit gestanden und sie verfolgt hat wie irgendeiner, hat nun dieser Richtung den großartigsten Ausdruck gegeben in den zwei Romanen, den Rittern vom Geist und dem Zauberer von Rom. Griffen die andern immer nur einen kleinern Theil des Gegenstandes an, so hat er sich die Aufgabe gesteckt, das ganze Leben der Gegenwart mit seinen zwei wichtigsten Centralpunkten, dem politischen und dem religiösen, in zwei großen umfassenden Bildern darzustellen. Es versteht sich von selbst, daß für diese ungeheuere Aufgabe auch eine neue Form gefunden werden mußte: es war unmöglich, den unermeßlichen Stoff in einen kleinen, leicht zu umspannenden Rahmen zu fassen. Er brauchte eine viel breitere Unterlage als die gewöhnlichen Romane: nothwendigerweise ging er in verschiedene Gruppen auseinander. Daß nun trotz alledem eine künstlerische Einheit gefunden wurde, zeugt eben von der großen poetischen Kraft unsers Dichters.

Der Gegenstand des Zauberers von Rom – denn diesem allein soll unsere Besprechung gelten – ist die katholische Kirche, ihr inneres Wesen, ihr Einfluß auf das gesammte private, sociale und politische Leben unserer Epoche, namentlich der Versuch, den eine Partei in derselben, die ultramontane oder jesuitische, seit den dreißiger Jahren mit dem Aufwand ungeheurer Kräfte gemacht hat, sich die Herrschaft über die Welt zu sichern. Daß Gutzkow bei der Durchführung dieser Aufgabe einen durchaus freien Standpunkt eingenommen, war von ihm nicht anders zu erwarten: aber sein Standpunkt ist nichts weniger als einseitig oder gar lutherisch; nichts weniger als akatholisch; es fällt ihm nicht ein, den Katholicismus beseitigen zu wollen: er läßt ihm vielmehr volle Gerechtigkeit widerfahren. Das Ziel ist, um dies gleich von vornherein auszusprechen, eine Reform, eine Läuterung des Katholicismus aus sich selbst, und zwar nicht von unten, sondern von oben. Gutzkow hat sich mit seltener Objectivität in das Studium der katholischen Formen und Gebräuche in das gesammte Kirchenwesen versenkt: die Gründlichkeit, mit welcher er dies gethan, ist hoch anzuschlagen, gerade bei ihm, dem Protestanten; denn in der Regel bekümmern wir uns um diese Dinge nicht, die wir als einen längst überwundenen Standpunkt ansehen; und doch sind diese Formen von einer ungemeinen Wichtigkeit: es sind die starken Fäden, an welchen die einzelnen mit der Kirche zusammenhängen und durch welche sie ihre Wirkung übt. Gutzkow hat also schon durch die Sorgfalt, mit welcher er diese äußere Beigabe behandelt, die tiefe Einsicht in seinen Gegenstand dargethan. Noch größere Meisterschaft erfordert aber die Inscenesetzung der ve[r]schiedenen Lebenskreise, in welchen die Wirkung der Kirche sichtbar wird, und der verschiedenen Standpunkte, welche die einzelnen der Kirche und dem Ultramontanismus gegenüber einnehmen. Hier wußte der Dichter einen solchen Reichthum von Situationen und Lebensanschauungen zu entfalten, die Quelle, aus welcher er schöpft, sprudelt so voll und mächtig, daß man im ersten Augenblick überfüllt wird und Mühe hat, das Gewonnene zu verarbeiten. Aber bei näherer Betrachtung sieht man, daß nichts überflüssig ist, sondern alles erforderlich, um den ungeheuern Wirkungskreis und die mannigfachen Beziehungen der Kirche nur einigermaßen zu veranschaulichen. Und dabei drängt sich uns nirgends das Gefühl des Absichtlichen auf: die Situationen und Charaktere stellen sich uns in ganz natürlicher Weise dar, abwechselnd gewürzt durch den köstlichsten Humor und durch tiefe Blicke in das Treiben der Stände und in das innerste Seelenleben der einzelnen. Was ich vorhin von unserem gegenwärtigen Romane überhaupt gesagt, daß er nämlich lebendige Gestalten vorführe, gilt ganz vorzüglich von den beiden Gutzkow’schen Romanen. Im Zauberer ist uns kein einziger Charakter vorgekommen, den man nicht vor sich stehen sähe, den man nicht malen oder mit Händen greifen könnte.

In all diesen Situationen und Charakteren kommt vieles Unerfreuliche vor: ja der Hintergrund selbst, auf dem sich die Geschichte bewegt, ist ein düsterer. Aber wollte der Dichter ein wahres Bild von dem Stück Leben geben, welches er darzustellen unternommen, so mußte er die Dinge in eben dieses grelle Licht setzen, als er gethan, und er war um so mehr berechtigt, die düstere Seite des Bildes hervorzuheben, als sie ihm die Folie für die Nothwendigkeit einer Reform gewährt. Die Forderung an den Dichter, zu verklären und zu versöhnen, kann und darf sich nur auf den letzten großen Endzweck, auf den Eindruck des Ganzen beschränken. Und dieser ist bei ihm allerdings ein versöhnender. Aber um zum letzten Ziele, zu dem großen Gedanken, der sich am Schlusse enthüllt, zu gelangen, durften uns die Motive dazu nicht vorenthalten werden: wir mußten durch diese ganze Welt von Schauern, Leidenschaften, Wahn und Unglück hindurchgehen; sie in ihrer ganzen Breite und Tiefe kennen zu lernen konnte uns der Dichter nicht ersparen. Besonders gegen einen Charakter, der in den ersten Bänden sogar der Held des Romans werden zu sollen schien, gegen Lucinde, ist viel Tadel ausgesprochen worden: wir konnten in dies Urtheil niemals einstimmen; im Gegentheil, Lucinde erschien uns nicht nur als eine vollkommen wahre, ja mit der feinsten Psychologie gezeichnete Natur, sondern wir haben es sogar als einen äußerst glücklichen Wurf angesehen, gerade sie als eine der Hauptfiguren der Geschichte erscheinen zu lassen. Leider fehlt uns der Raum, um dies Urtheil näher zu begründen. Der eigentliche Held bleibt aber Bonaventura von Asselyn, das Ideal eines katholischen Priesters, edel durch und durch, ein Heiliger im schönsten Sinne des Wortes, von der Tiefe seines Berufes erfüllt, der aber nach und nach in seiner Laufbahn die vielen Schäden der Kirche entdeckt und endlich zur Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Reform gelangt. Aber im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen, von unten herauf, durch Opposition der Niederen gegen die Oberen eine Läuterung zu bewirken, die nie gelang, sondern nur zur Trennung von der Kirche führte, hat er, wie noch manche andere Gleichgesinnte erkannt, daß nur im Schose der Kirche selbst, nur von oben herunter, die Reform mit Erfolg ins Werk gesetzt werden könnte. Der Dichter lässt daher zuletzt seinen Helden selbst zum Papste erwählt werden (in einer Zeit der allgemeinen Bewegung Italiens, wo dieses unter einem Dictator gegen Frankreich wie gegen Oesterreich zu kämpfen hat) und ihn sein Amt damit beginnen, daß er der weltlichen Herrschaft entsagt, ferner, daß er ein allgemeines Concilium beruft zur Reform der Kirche und sofort die Lesung der Bibel frei gibt, ja die Gläubigen darin unterweisen läßt.

Ueberblickt man von diesem Schlusse aus das Ganze, so tritt dies nun erst in seinem wohlberechtigten Gefüge hervor: die scheinbar ungeordneten Massen von Gestalten und Begebenheiten klären sich und erscheinen in ihrer Eigenschaft als Folien. Die Einheit ist gegeben durch den Grundgedanken und durch die Persönlichkeit, welche ihn ausführen sollte, durch Bonaventura von Asselyn. Daß das gewöhnliche Hauptelement der Romane, nämlich Liebschaften, die anfangs Hindernisse finden und zuletzt doch mit einer Hochzeit schließen, hier gar keine Rolle spielt – im Gegentheil, die Liebes-[28]verhältnisse enden mit Entsagung oder Unglück – brachte der Ernst und die Natur des Gegenstandes mit sich. Das gewöhnliche Lesepublikum, welches nur leicht und heiter unterhalten sein will, wenn auch mit einiger Spannung, wird also hier seine Rechnung nicht finden. Dieser Roman ist keine leichte Lectüre, er erfordert einen denkenden und gebildeten Leser. Ein solcher aber wird einen hohen Genuß darin finden, einmal wegen der Fülle von Anregungen, wegen der Reichhaltigkeit der Beobachtungen auf allen Gebieten des Lebens, kurz wegen der geistigen Kraft, welche das Ganze trägt; sodann aber auch wegen der Befriedigung jener Anforderungen, die man an jeden guten Roman macht, daß er nämlich durch die Fabel, in welche der Gedanke gekleidet ist, spannt und fesselt. In der That, auch hierin hat der Dichter Großes geleistet, und von diesem Theile des Werkes würde sich auch das leichtere Lesepublikum vollkommen befriedigt finden. Und so wiederholen wir unser beim Beginn dieser Anzeige ausgesprochenes Wort, daß der Dichter der Zauberer eine große That vollzogen hat. Dieser Roman wie Die Ritter vom Geiste sind ein bedeutendes Stück Culturgeschichte. Die Nachkommen werden dies vielleicht noch dankbarer anerkennen als die Gegenwart. Gutzkow hat in seinen beiden Werken gezeigt, was der moderne Roman leisten soll und was er leisten kann. Er soll eine Ergänzung der Geschichte sein. Die Geschichte, welche das Große und Ganze im Auge hat und mit der Darstellung der äußeren Begebenheiten und den großen Entwickelungen in Literatur, Staat und Gesellschaft vollauf beschäftigt ist, kann sich nicht mit der Darstellung der Einzelheiten befassen, wie sie im gewöhnlichen Leben vorkommen, und doch lassen erst diese so recht den Charakter einer Zeit erkennen. Hier, in der Ausmalung der Einzelheiten, in der Darstellung des Familienlebens, der socialen Beziehungen, der mannigfachen Wechselwirkung der einzelnen und der Gesammtheit, muß nun der Dichter eintreten, und je objectiver, d. h. je realer er verfährt, um so besser. Ich habe schon bemerkt, daß unsere Dichtung in dieser Richtung bereits begriffen ist. Gutzkow’s beide Romane sind ein glänzendes Muster, wie die Sache angefangen werden muß.

43. Beilage zur Augsburger Postzeitung, 9. April 1862#

[Anon.:] Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. (Leipzig, Brockhaus. 8°. 9 Bände. 1858–61.) In: Beilage zur Augsburger Postzeitung. Augsburg. Nr. 29, 9. April 1862, S. 113-114. (Rasch 14/34.62.04.09N) - Auszugsweise nachgedruckt u. d. T. „Blödsinn des Herrn Gutzkow“ in: Wiener Kirchenzeitung. Wien. Nr. 16, 16. April 1862, S. 250.

* Für Tausende unserer „Gebildeten“, welchen der Katholicismus, namentlich die geschichtliche Erscheinung seines besonders kräftigen und fühlbaren Wiederauflebens auch in Deutschland seit den dreißiger Jahren und den Kölner Ereignissen, ein Räthsel und ein geheimnißvolles mit sieben Siegeln verschlossenes Ding sein soll, hat es K. Gutzkow unternommen, in der Form eines Romans ein Bild zu entwerfen, wobei man sich immer einen Ausrufer denken möchte, der jeden ankommenden Trupp Neu- und Wißbegieriger, welche die Kunstausstellungen unserer deutschen Literatur besuchen, mit der obligaten Erklärung empfängt: Sehen Sie meine Herrschaften, hier ist zu sehen der moderne Katholicismus, wie er leibt und lebt, ganz nach der Natur und dem Leben gezeichnet, die Köpfe sind Porträte: hier mein Fräulein, links, sehen Sie die große Riesenschlange, Jesuitismus genannt, da hinten in der Ecke grinst die Inquisition hervor; hier ganz im Vordergrund, junger Herr, mache ich sie auf diese blassen, von Kämpfen, Opfern und Leidenschaften ganz verzerrten Gesichter und Gestalten aufmerksam, so hat sie der Katholicismus alle zugerichtet u. s. w.

Wer ein Bild des Katholicismus, auch nur in seiner jüngsten Erscheinungsform seit ein paar Decennien entwerfen will und wenn er sich wie Gutzkow auch nur auf Deutschland und theilweise auf Italien beschränkt, der muß schon ein großes Stück Leinwand zu seinem Carton aufspannen, um nur für die nothwendigsten Figuren und Repräsentanten desselben Raum zu schaffen. Von der Seite verdient nun Gutzkow keinen Tadel; neun, sage neun Bände mit gegen 4000 Seiten, dem modernen Katholicismus gewidmet, das heißt ihm alle Ehren angethan und ist wiederum aller Ehren werth. Es versteht sich, daß die Augsburger Postzeitung eine solche literarische Erscheinung sich nicht entgehen lassen darf und wir haben daher die Mühe nicht gescheut, durch dieses neunbändige Opus für sie uns von A bis Z durchzuarbeiten und jetzt darüber zu berichten. Vielleicht wahrscheinlich wieder ein sehr undankbares Unterfangen, darum aber, das können wir unsern Lesern versichern, war es überdieß auch nicht einmal das angenehmste.

Was wir schon im Eingange angedeutet, wiederholen wir hier mit voller Ueberzeugung, daß wir glauben, für Tausende, namentlich in Norddeutschland, zumeist für Protestanten, gewiß aber sogar auch für viele Katholiken selbst, werde das Gutzkow’sche Bild vom „modernen Katholicismus“ für lange Zeit die einzige Quelle bilden, aus der sie denselben kennen lernen, sie werden den letzten Band aus der Hand legen, nicht ohne mit einigen entschieden praktischen Vorsätzen für’s Leben laut oder still sich zu sagen: Das also ist der moderne Katholicismus; gut, daß man uns das einmal so ausführlich gesagt und gezeigt hat.

Fragen wir nun zuvörderst, ist dieses Bild, das unstreitig mit der Prätension ein großes philosophisch-historisches zu sein auftritt, und das nun allerdings eine Unzahl scharf markirter Züge und Gestalten aufweist, – ist dieses Bild seinem Gegenstand ähnlich oder nicht?

Mit bestem Gewissen können wir die Frage mit Nein beantworten, wenn wir auch gerne gestehen, daß wir zu diesem Resultate nicht auf einmal und beim ersten Anblick gelangt sind. Einzelne Gestalten und gerade nicht die edelsten und besten sind allerdings so richtig und treffend gezeichnet, daß wir uns aufrichtig gesagt namentlich Anfangs wundern mußten, wie richtig Gutzkow einzelne Erscheinungen im katholischen Leben der vergangenen dreißig Jahre kennt und aufzufassen weiß, je weiter wir aber in der Lectüre kamen, auf desto mehr Verzerrungen und Entstellungen stießen wir, so daß uns die Aehnlichkeit im Großen und Ganzen immer mehr verschwand und das Bild den Charakter einer nicht immer mit unverschuldeter Ignoranz in katholischen Dingen und boshafter Entstellung zusammengewürfelten Fiction annahm. Nicht daß er tadelt, manche Erscheinungen, Ursache und Wirkung, als zu beanstandende darstellt, hätte uns an dem Beruf Gutzkow’s dieses Bild zu zeichnen, irre gemacht, wohl aber, daß er dies mit theilweise enormer Unkenntniß thut, daß er in krasser Weise oft carrikirt und entstellt, das ist eine Species jenes wahnsinnigen Leichtsinnes, der sich in unserer Literatur so breit oft macht, der über die größten, die höchsten, die wichtigsten Dinge abspricht, und noch schlimmer, die Massen belehren will, ohne den innern oder äußern Beruf und die nöthigen Vorbedingungen erfüllt zu haben. Und ist das Werk nicht eine Frucht dieser schriftstellerischen Arroganz, ist es vielleicht dann die Ausgeburt von noch etwas Schlimmern? vielleicht pure Tendenzarbeit? Vielleicht auch ein Act des Gehorsams gegen die Parole: écrasez l’infame?

Um unsern Lesern ein recht schlagendes Beispiel von der völligen Unnatur mancher dieser Gutzkow’schen Gestalten zu geben, dürfen wir bloß die Umrisse der Zeichnung eines Jesuiten, Namens Terschka, geben, der eine Hauptrolle in diesem neunbändigen Romane spielt. Daß ein ehemaliger Kunstreiter und später päpstlicher Lanciersoldat Jesuit wird, ist nichts Unnatürliches und nichts Unrechtes, daß derselbe aber, nachdem er etliche Jahre als Priester im Jesuitencollegium zu Rom wirkt, von dem Pater General eines schönen Morgens den Auftrag erhält, sich in einen weltlichen Cavalier zu verwandeln und mit seinen Reiter-Erfahrungen sich bei einem Grafen in Wien zu insinuiren, um wegen einer immensen Erbschaft denselben aus einem Lutheraner zum Katholiken zu machen, daß dieser Kerl dann später selbst in London protestantisch wird, um ein katholisches Mädchen heirathen zu können, und nachdem dieses Vorhaben doch zu Wasser wird, wieder in den Schooß des römischen Jesuitencollegs zurückkehrt und zum Schlusse im Interesse einer halb persönlichen, halb politischen Intrigue bei einem angelegten Brande einen Documenten-Diebstahl begeht – das ist kein Bild der Wirklichkeit mehr, das ist sogar noch mehr als eine Carricatur, das ist ein Opfer auf dem Altar des Molochs einer gewissen Richtung des Zeitgeistes unserer Gebildeten, die zur Beruhigung von Zeit zu Zeit einen Jesuiten in der Gestalt des Gottseibeiuns mit reglementsmäßigen Hörnern, Klauen und Schweif zum Verspeisen sich dargebracht sehen will. Die Jesuiten müssen am ersten darüber lachen und sich trösten, daß, so lange man sie nur in solchen Gestalten aufsucht, sie noch gute Ruhe vor einem ernsten Kampfe mit der Mitwelt haben. Freilich sind nicht alle Gestalten des Gutzkow’schen Werkes so schlecht und verfehlt gezeichnet.

Unsere geehrten Leser, welche den Roman nicht selbst bereits kennen, werden übrigens längst schon auf den Lippen die Frage haben: wer ist denn eigentlich der „Zauberer von Rom“ und wovon hat denn das Buch seinen Titel? Diese Frage ist eigentlich nicht so ganz leicht zu beantworten, haben wir aber Gutzkow’s „edle“ Intentionen nicht ganz mißverstanden, so ist der Zauberer von Rom nicht bloß der jeweilige Papst allein, sondern es ist die „katholische Kirche“ selbst, welche, wie Gutzkow meint, noch ein gut Theil der europäischen Menschheit verzaubert hat und unter einem Zauberbau gefangen hält. Aber bereits, meint Gutzkow, nahe sich der Zauberschlaf seinem Ende, ein Dictator (Garibaldi?) und ein letzter (!) deutscher Papst, dessen Wahl der Dichter sogar noch in dieses Jahrhundert (18..?) versetzt, werden den Talisman zertrümmern, die gefangene Menschheit wird aus dem Schlafe erwachen, sich die Augen ausreiben und in der Bibel zu lesen anfangen, die natürlich jetzt dem gemeinen Mann zu lesen verboten (!) ist.

So sehr man nun aber auch über Gutzkow’s „letzten“ Papst (den er sicherlich nicht selbst erleben wird) und über die Aufhebung des Bibelleseverbots zu lächeln sich veranlaßt sehen möchte, so ist die Erfindung, uns als „Verzauberte“ zu verschreien, so verflucht gescheidt und so gut auf den „gebildeten“ und aufgeklärten Philister berechnet, daß alles Lachen über den Einfall und sein barrockes Beiwerk von selbst im Halse stecken bleibt. Wer das Mitleid einmal erregt, der hat seine Rolle ausgespielt, und uns Katholiken versetzt eben Gutzkow in diese rührende Lage, wir sind diese armen, verzauberten Geschöpfe, die man schon aus purer Menschenliebe und angestammter Ritterlichkeit dem bösen Zauberer entreißen muß. Sind wir Verzauberte, dann sind wir freilich die ärmsten und bemitleidenswerthesten Sterblichen, die es gibt, wir haben Augen und sehen nicht wie andere Menschenkinder, wir haben Glieder und rühren uns nicht, kurz, da wir nicht das sind, was wir sind, kann es unter uns auch gar keine einfachen, [114] natürlichen, harmonischen Verhältnisse geben, Alles muß einen vertrackten, verzwickten, verschrobenen Charakter annehmen, und in der That führt uns Gutzkow lauter solche Lebensbilder und Lebensverhältnisse vor, um gleichsam zu zeigen, daß nur ungesunde Früchte aus der katholischen Wurzel hervorwachsen können. Neben diesen armen Gequälten stehen dann die Knechte des „Zauberers,“ selten was Besseres, als Heuchler und Fanatiker, mitunter wahre Scheusale, die immer umhergehen, um die Stricke und Bande der Gefangenen zu revidiren, da und dort einen Knoten fester zu schürzen und ein neues Band anzulegen, damit Keiner zu früh erwacht und sich rührt und der Befreier seiner Mitgefangenen wird. Keine einzige Stelle hat Gutzkow auf seinem Gemälde angebracht, an der Aug’ und Herz mit Befriedigung weilen möchten, überall verzerrt Schmerz und geistige Qual oder glühende Leidenschaft die Gesichter. Freilich ist’s trotzdem ein historisches Gemälde geworden und trägt es die Züge seines Gegenstandes noch an sich, aber in der That nur, wie ein Ecce homo Bild. Zugerichtet ist das edle Antlitz genug dazu!

Die Mißhandlung, die Gutzkow in diesem Bilde seinem Gegenstande angedeihen ließ, hindert uns übrigens nicht anzuerkennen, daß abgesehen hievon viele der einzelnen Gestalten auf dem großen und figurenreichen Tableau mit Meisterhand gezeichnet und gemalt sind; aber gerade die Figuren, die eigentlich nicht zum Gemälde gehören, und von anderwärts gleichsam nur wie zur Ausfüllung hieher versetzt erscheinen, sind am Besten gelungen, ein neuer Beweis, daß sich Gutzkow eigentlich doch freventlich auf ein Terrain gewagt hat, auf dem er nicht zu Hause ist, und wo die im profanen Leben sonst gewohnte Meisterschaft ein Ende hat. Dieser Umstand übrigens, daß das Gemälde geradezu nicht mit Nothwendigkeit ihm angehörige Figuren zeigt, und daß die eigentlichen Träger desselben oft an gröbsten Zeichnungsfehlern kränkeln, läßt darum auch keine rechte Befriedigung an der Kunstform des Romans aufkommen.

Trotz aller Entstellungen und Karrikirungen möchten wir aber Niemanden rathen, in ächt pharisäischem Dünkel das Buch aus der Hand zu legen, ehe man etwas daraus gelernt hat. Wir gehen stets von der Ansicht aus, daß wo die kathol. Kirche nicht in ihrer Schönheit, Erhabenheit und segen- und heilbringenden Kraft erkannt wird, nicht allemal Diejenigen daran schuld sind, welche diese Qualitäten nicht erblicken wollen, sondern meist Die, welche daran schuld sind daß man die Vorzüge nicht sehen kann. Wir haben unter uns manche Eckel erregende Fanatiker, wie sie in den Hunnius und Müllerhofs so trefflich gezeichnet sind, wir haben Phantasten, die in allen Extremen schillern, wie die Pater Sebastus; Convertiten und Convertitinnen à la Frau von Sickengen haben unter uns schon Verwirrung genug angestiftet, Canone’s, Faselotti’s, selbst in feinerer Form Terschka’s sind gleichfalls zu finden, und um auf Principien zu reden zu kommen, fällt in praxi das Streben nach dem Ausbau des natürlichen Lebens und das Ringen nach übernatürlichen Qualitäten noch gar sehr auseinander, während doch gerade der Katholicismus danach angethan wäre, beides in ihrer Verbindung zur höchsten Vollendung zu führen, und das volle Ideal der wahren Humanität zur Darstellung zu bringen. Im großen Ganzen tritt uns die im Katholicismus principiell liegende Harmonie zwischen dem Natürlichen und Uebernatürlichen an den zu ihm gehörigen Personen, Institutionen und Bestrebungen nicht zu Tage, verzeihen wir es nun einem Außen stehenden Schriftsteller vielleicht jetzt leichter, daß er sie nicht zu fassen und darzustellen wußte? Bildet sich das natürliche Leben unter uns aus, so ist es meist mit der Gefahr und Neigung verbunden, das Uebernatürliche in Glaube und Gnade über Bord zu werfen, und wo das Letztere sich besonders in den Vordergrund schiebt, entbehrt es oft so sehr der natürlichen, rein humanitären Basis. Diese beiden Sphären zu verbinden, das ist die Reformation, die auch der Katholicismus, und dies sobald wie möglich, in capite und in membris durchmachen muß, und hierin haben die dunklen Ahnungen von einer Kirche der Zukunft allein ihre reale Erfüllung. Alles andere ist einseitig und darum nicht katholisch, und kann die Menschheit in und außer der Kirche nie in Wahrheit befriedigen.

5.1.2. Broschüren und Essays#
1. Alexander Alt: Briefe über Gutzkow’s „Zauberer von Rom“, 1859#

Alexander Alt [d.i. Joseph Gentz]: Briefe über Gutzkow’s „Zauberer von Rom“. 1. 2. 3. Prag: Bellmann, 1859. 47 S. (Rasch 14/34.59.03.1)

Vorwort.

Der Verfasser dieser Briefe ist jeder literarischen Koterie wie jedem persönlichen Beweggrunde fremd und weit entfernt, gegen das gesammte Wirken Gutzkow’s auftreten zu wollen. Aber schon größere Dichter als der Autor des „Zauberers von Rom“ haben mißlungene Werke geschrieben, nur haben sie diese Werke nicht selbst als große die Nation rettende Thaten proklamirt. Die nachfolgende Besprechung will beitragen helfen, diese Anmaßung auf ihr rechtes Maß zurückzuführen, dem Hang und Drang des Autors und des Publikums würdigere Ziele zu zeigen, die Reinheit der deutschen Kunst vor Mißbildungen zu bewahren, und der Wahrheit ihr Recht zu verschaffen ohne Ansehen der Person.

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Wie lange hat die romanbedürftige Welt nach diesem „Zauberer“ geschmachtet – wie hell und glückverheißend klangen die Notiz-Posaunenstöße, die sein Erscheinen verkündeten! Nun ist er da, und das undankbare deutsche Volk läßt ihn spurlos vorübergehen? Denn sehr schwach und vereinzelt ertönen jetzt die Klänge derselben Tuba, die ihn früher so kräftig und weithin verkündet. Dieß hat mehr als Einen Grund: Die Verehrer Gutzkow’s sind in Verlegenheit, das Buch entspricht dem Rufe so wenig, daß sich das schuldige Lob nur mühsam in wohlge-[4]drechselten Phrasen an das Tageslicht wagt. Die selbstständige Kritik aber, die sich durch das Ansehen der Person nicht bestechen läßt, die ihre wahre Meinung ausspricht – weil es sich nicht darum handelt, ob Gutzkow ein geistreicher Mann sei, was Niemand bezweifelt, ob er literarische Verdienste habe, was ihm Niemand absprechen kann; sondern ob der „Zauberer von Rom“, so weit er bis jetzt gediehen, den Forderungen der Kunst und den Bedingungen eines guten Romans entspreche oder nicht – diese Kritik findet in deutschen Journalen keinen Platz, aus Ursachen, die so sehr im Bereiche von Persönlichkeiten liegen, daß sie zur Ehre der deutschen Literaturverhältnisse besser unerörtert bleiben.

Genug – die Erfahrungen, die der Schreiber dieser Briefe selbst gemacht hat, sind eben die Veranlassung, sie in dieser Art zu veröffentlichen.

Man hat es an hämischen Ausfällen nicht fehlen lassen auf die Kritik, die sich herausnimmt ein unfertiges Werk zu beurtheilen. Allein wenn der Autor keinen Anstand nimmt, sein Werk stückweise dem Publikum vorzulegen, seine Freunde kein Bedenken tragen es stückweise zu loben, so ist nicht einzusehen, warum es verboten sein soll, auch vom anderen Standpunkte dessen allmälige Entwicklung zu beleuchten. Die folgenden Bemerkungen sind, wie sie nach der Lektüre jedes Bandes entstanden, zusammengestellt; daher der Titel „Briefe“, der sich nicht auf die äußere Form bezieht, sondern andeutet, daß sie nicht systematisch, sondern rhapsodisch entworfen wurden. Wenn sich dabei Wiederholungen finden, so ist dieß nicht die Schuld des Beurtheilers, sondern des Werkes, das sich in seinen Fehlern wiederholt hat.

[5] I.

Die Tochter eines Landschulmeisters wird nach des Vaters Tode nach Berlin verschlagen, wird dort von ihrer ersten Dienstfrau maltraitirt, schwingt sich im zweiten Dienste schon zur allgemein interessanten Person auf, man weiß nicht wie; geht mit einem Betrüger durch, der sie auf der Landstraße sitzen läßt; wird in Westphalen mit verschiedenen deutsch-altfreiherrlichen Figuren in allerhand Abenteuer verwickelt, wird immer interessanter und bedeutender, man weiß nicht weßhalb – doch es ist widerstrebend, von einer Person zu erzählen, die gar keine Person ist. Nicht ein menschlicher Zug von Güte oder Schlechtigkeit rückt uns diese hohle Fiktion näher; diese Lucinde ist ein wahres Musterbeispiel für die Unfähigkeit, einen Charakter zu zeichnen.

Der erste Band soll freilich nur ein Vorspiel sein. „Der Roman selbst, sowol in Form wie Bedeutung nach den Anforderungen an einen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, wie ihn der Verfasser in seinen Rittern vom Geist zu definiren wagte, beginnt erst mit dem zweiten Buche. Die kleinen Funken, die dort erst zu zünden bestimmt sind und die [6] in den Vorgängen des ersten Bandes, dem jungen Dämmerleben einer weiblichen Seele nur spielend auf- und niederhüpfen konnten, wird des Kenners Auge leicht herausfinden. Sei ihre Irrlichtsnatur auch dafür Bürge, daß jetzt wie früher der Verfasser nichts um der nächsten Deutung willen schrieb oder mit grober Absichtlichkeit dem freien Schwebegang der Muse Zwang anthun wollte!“

Daß der sehr unbedeutende und ungewöhnlich uninteressante Jugendtraum dieser Irrlichtsnatur 371 Seiten einnimmt, gehört nicht zu seinen Vorzügen. Nur die Wissenschaft kann verlangen, daß man nicht des unmittelbaren Genußes willen sondern für einen entfernten Zweck Zeit und Mühe opfere; der Roman hat kein solches Vorrecht, er muß verstehen uns gleich im Anfange zu fesseln, seine Anweisungen an die Zukunft müssen, um Kredit zu haben, mit Abschlags-Zahlungen Hand in Hand gehen.

Das Unterhaltendste an dem Buche ist ohne Zweifel die Vorrede. Sie ist so erhaben, daß sie den bekannten Schritt zum Lächerlichen nicht verfehlen konnte. In tiefen orakelhaften Aussprüchen, dem gewöhnlichen Menschen sehr dunkel, wahrscheinlich nur den „Engverbundenen“ verständlich, werden Charaktere in Aussicht gestellt, wie sie nicht in gewöhnlichen Romanen vorkommen, nicht etwa gute und böse Menschen, nein eine neue Menschengattung, „gemischte Seelen,“ die so besonderer Art sind, daß sie einer besonderen Rechtfertigung bedürfen.

„Was ist hier Gutes, was Böses? rufen wol schon im Beginne die, die gewohnt sind, nur sich selbst zu hören. Ihr“ (die Wohlwollenden, Uebereinstimmenden, Gerechten!) „ermüdet nicht, die Anklage oder Vertheidigung der Charaktere allmälig [7] erst sich aufsummen zu sehen. Nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundenen in unserem Erfahrungsbuche nie finden können und …. stelle doch, du gefallenes Titanengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren…“

Was ist hier Vernünftiges, was Affektirtes? rufen wol schon im Beginn die, die gewohnt sind, nur den gesunden Verstand zu hören? Wer glaubt denn überhaupt, daß es nur schwarze und weiße Menschen gebe? Wenn auch Julian Schmidt die gemischten Charaktere als eine geltende Kategorie aufstellt, so ist dieß bei ihm ganz am Platze und bestätiget nur seinen kritischen Scharfsinn. Es lassen sich mit dieser Formel gewisse feine Nüancen der Charakterzeichnung, gewisse produktive Verirrungen ausdrücken; allein man kann sie doch nur theoretisch gebrauchen als Werthzeichen zur Abkürzung kritischer Operationen, nachdem man sich vorher über die Geltung der Formel verständigt hat (nämlich: die vorwaltende Tendenz nicht die krystallinische Gestaltung um einen edlen oder schlechten Kern des Charakters walten zu lassen, sondern bloß einen Aggregatzustand der Seele).

Allein diese kritische Formel ganz schlicht und naiv seinen Lesern als eine faktische Kategorie hinzustellen, hat keinen gemeinverständlichen Sinn. Jeder menschliche Charakter ist ein gemischter, kein Dichter könnte nur mit Engeln oder Teufeln operiren, Tugend und Laster haben ihre inneren Berührungspunkte, wenn auch die äußeren Grenzen unverrückt bleiben. Kurz, im Menschen wiegt das Edle und Reine vor oder der Schmutz und die Niedrigkeit: die Menschen sind entweder mehr weiß als schwarz oder umgekehrt.

[8] Was ist nun das Neue und Unerhörte an Gutzkow’s Charakteren? In technischem Sinne sind sie jedenfalls gemischt und zwar in der schlechtesten Bedeutung, sie sind ohne geistigen Mittelpunkt, ein bloßes Konglomerat von Eigenschaften. Was macht sie aber für die Leser so merkwürdig, was unterscheidet sie von anderen Menschen, die auch nicht nur schwarz oder weiß sind? Der Unterschied liegt darin: daß diese Charaktere weder schwarz noch weiß sind. Ich nehme übrigens keinen Anstand, das Rezept zur Verfertigung so außerordentlicher Charaktere zu verrathen, es ist sehr einfach: Man zeichne Umrisse, die männliche oder weibliche Personen vorstellen, man lege ihnen Namen bei (dieß ist sehr wichtig, denn dadurch werden sie erst wirkliche Menschen), und man lasse diese Namen allerhand mehr oder minder geistreiche Dinge sprechen, die uns eben einfallen. Ob das was man sie sagen läßt, zu ihrem Charakter passe, ist ganz gleichgiltig, denn gemischte Charaktere haben keinen Charakter (darin liegt ja ihre Gemischtheit); ob es zu der Situation passe, ist ebenfalls gleichgiltig, denn gemischte Menschen unterstehen nicht den gemeinen Gesetzen der übrigen Welt, sie können sich in jeder Lage so oder so nach Belieben benehmen.

Doch ist dieß Alles noch nichts gegen die großartige und zeitgemäße Aufgabe dieser Dichtung.

„Sie will beitragen helfen die vaterländische Einheit zu fördern. Sie will warnen, will ermuntern. Sie will die Gefahren aufdecken einer trügerischen Lockung. Sie will den „lieblichen Ton der Pfeife des Vogelstellers“ nachweisen, selbst in dem Busch, wo Tannenzapfen, nicht Orangen reifen. Sie will einem großen, sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdigere Ziele zei-[9]gen, als sie sich bisher in der fernen Fata-Morgana spiegelten. Sie will für jene heraufziehende Entscheidung den germanischen Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Sängerstolz nähren helfen, will den Verräthern unseres eigenen Heerlagers auf ihren geheimsten und nächtlichsten Pfaden folgen. Sie will –“

Nun was will sie? Weiß das irgend Jemand, kann es Jemand aus diesem geheimnißvollen, hochtrabenden Phrasen-Register erkennen? Vielleicht die „Engverbundenen“, wir andern beschränkten kurzsichtigen Menschen nicht. Wo ist der Hang und Drang – die religiöse Spekulation? Wo die heraufziehende Entscheidung – der Kampf des Staates mit der Kirche? Wer sind die Verräther des eigenen Heerlagers – die orthodoxen Protestanten? Sollte dieß gemeint sein – dann konnte er die Mühe sparen, dieß Alles haben wir aus den Berichten des Tages zur Genüge kennen gelernt, wir kennen das Treiben der kirchlichen wie der politischen Parteien so genau, daß uns jede poetische Darstellung nur ein abgeblaßtes Bild der Wirklichkeit geben könnte.

Allein es soll auch eine politische Warnung sein:

„Das alte blut- und thränenreiche deutsche Vermächtniß, die Spaltung in Süd und Nord, kann noch immer die Bresche werden, über welche hinweg unsere Heiligthümer, Sprache, Bildung, Nationalität, Volkswohl, im Völkersturme genommen werden“….

Ein neunbändiger Roman ist zwar ein gewaltiger und schwer zugänglicher Damm, aber einen Völkersturm wird er doch schwerlich aufhalten. Die Gefahr ist übrigens nicht so groß, man geht nicht so leicht unter als es die Fantasie der Romanschreiber glaubt. Sollte man aber Präservativmittel [10] brauchen, so wolle man die deutsche Geschichte von Häußer, die Geschichte des 19. Jahrhunderts von Gervinus und andere historische Werke lesen – man wird das finden, was der Autor zu wollen scheint und mit seinen Mitteln nicht leisten kann.

Diesem theatralisch-pompösen Pathos möge man die einfachen Worte Fröbel’s*) entgegenhalten: „In der That, wenn wir weiter nichts wollen als die Schulmeister der anderen Nationen zu werden, so haben wir dieß bis zu einem gewissen Grade schon jetzt erreicht, und selbst das Minimum politisch-nationaler Existenz, deren sich Deutschland rühmen kann, ist dazu noch überflüssig. Ist aber die Nation mit dieser Rolle nicht zufrieden, verlangt sie nach einem konkreteren Dasein, so muß sie aufhören sich so sehr mit dem abstrakten zu schmeicheln, sich selbst zu besingen und zu bespiegeln, und sich der Täuschung hinzugeben, daß auch die anhaltendste abstrakte Beschäftigung mit dem Ideale, die gelungenste künstlerische Darstellung desselben, die innigste Begeisterung für dasselbe, jemals einen direkten Uebergang in die Wirklichkeit zu Stande bringen könne. Die Wirklichkeit entwickelt sich nur aus der Wirklichkeit, und das Ideal hat auf deren Gestaltung nur einen Einfluß, indem es in dieselbe hineingebildet wird. Die abstrakte Nationalität des deutschen Volkes ist eine wahre Romanexistenz, der nur durch eine gründliche Beschäftigung mit der Wirklichkeit ein Ende gemacht werden kann. Diese aber setzt ein klares Begreifen der neuen Weltstellung Deutschlands ostwärts von der Mitte des ganzen Systems, und ein Anknüpfen an die wirklich [11] historischen Bildungen, also an die Existenz Preußens, Oesterreichs, der Mittel- und Kleinstaaten und des Bundes, voraus. Die Hineinbildung des Ideals in die Wirklichkeit verlangt eine anhaltende und ernste Arbeit, welche weder durch Revolutionen noch durch Revolutionslieder ersetzt werden kann.“

Nein, überhaupt nicht durch Lieder, noch weniger durch Romane, am wenigsten durch neunbändige! – Die Deutschen sind alt und reif genug, um der Beihilfe der Fantasie in Sachen der reinsten Praxis entbehren zu können. Was die Fantasie im politischen Leben der Völker gilt, hat uns die Erfahrung genugsam gelehrt. Hier gilt es gerade nüchtern zu sein, und außer dem Ehr- und Rechtsgefühl dürfen keine anderen Gefühle walten. Ein übermüthiges Wort von Paris wirkt mehr für die deutsche Einheit, deren wir bedürfen, als alle Romane; denn es handelt sich eben nicht um die ideale Existenz, die gar nicht bedroht ist, sondern um die reale, die bedroht werden kann. Und auch dafür sind drohende Worte noch zu wenig, nur die That von Außen wird die innere Thatkraft erwecken. Nur die Noth, die Eisen bricht, wird auch die deutschen Sondergelüste brechen, und am Tage der Gefahr wird Deutschland einig werden. Beitragen helfen könnte allerdings die Poesie – Arndt und Körner sind die Beweise – aber diese Poesie hat ihre bestimmte Zeit und ihr bestimmtes Ziel; sie muß praktisch und präcis sein, sie muß populär werden können, das vermögen einige Strophen, die wie der Blitz leuchten und zünden, nicht aber ein neunbändiges Ungethüm, welches neun Monate braucht um sein Tendenzfeuerwerk abzubrennen.

Will man aber nicht mehr und nichts Anderes als das ideale deutsche Bewußtsein nähren und stärken, dann muß [12] man auf dem Wege fortgehen, den unsere großen deutschen Dichter und Denker gebahnt haben. Werke, die indirekt politisch wirken wollen, müssen wie in einem Brennpunkte die Strahlen aller der edlen Eigenschaften vereinen, welche das deutsche Volk zum ersten Kulturvolke machen und ihm die Selbsterhaltung als Pflicht nicht nur für sich sondern für den Welttheil auferlegen. Sie müssen unseren Nationalstolz dadurch erhalten und befestigen, daß sie selbst wieder ein Beleg sind für die Tiefe des deutschen Geistes und für die Reinheit des deutschen Gemüthes.

Zu dieser wahren und einzigen Aufgabe unserer poetischen Literatur steht der „Zauberer von Rom“ bis jetzt im direkten Gegensatze. Eine gemeine, herzlose, betrügerische Person kommt mit gemeinen, herzlosen, verrückten Personen in Berührung,– es entwickeln sich Verhältnisse und Situationen, deren Zweideutigkeit und Frivolität eines modernen Pariser Romans würdig ist. Niemand, glaube ich, wird sich mit diesen Leuten, deren Niedrigkeit durch keine Art von Größe poetische Berechtigung erhält, abgeben können, ohne eine andere Anregung zu erhalten, als die des tiefsten Abscheues und der widrigsten Langweile.

Die Frau von Buschbeck ist eine ganz unnatürliche und unangenehme Karikatur; der Kronsyndikus ein halb wilder halb toller, jedenfalls ganz roher Mensch; der Kammerherr irrsinnig; Klingsohr halb irrsinnig und Opiumesser; Serlo, zwischen Irrenhaus und Spital, der Typus einer faden geckenhaften Komödianten-Zerrissenheit; in dem Buche, das ein Zeitgemälde sein will, ein offenbarer Anachronismus, um so widerlicher, weil er als ein erhabener Geist fungiren und sentimental wirken [13] soll. Endlich die Hauptperson Lucinde, eine gemeine fahrende Dame, deren Bildung und Abenteuer sie zur Heldin einer etwas anrüchigen Romangattung, der sogenannten Gaunerromane qualifiziren.

Wir sind in der drückenden Atmosphäre eines Tollhauses und freuen uns am Ende des Buches wieder frei athmen zu können.

Dieß Urtheil ist nicht mein vereinzelntes, es ist das Urtheil Vieler, die in Kunst und Leben übereinstimmen. Dieß sind unsere „Schulcensuren“, denn „in solchem Humor leben wir“, daß wir in der Dichtung nicht das Elend der Wirklichkeit photographirt sehen wollen, oder die krankhaften Auswüchse der Menschennatur, die Kunst soll erheben und befreien und nicht wenn wir das Buch verlassen, sollen wir freier aufathmen, sondern während wir es lesen. Die „Sprüche urtiefer Weisheit“ aber, die im Jenseits fallen, können nichts Anderes sagen, als: „Alles verstehen heißt Alles verzeihen“. Verziehen wird schlechten Menschen wie schlechten Büchern werden; denn es ist ja ihr Unglück, daß sie nicht gut waren, aber nie kann das Elende und Verkümmerte für edel und vollkommen erklärt werden, sonst müßte dort ein anderer Maßstab für Wahrheit und Schönheit gelten, als der im Geiste der Menschheit lebende, und wir wären ohne Maß und Norm.

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[14] 2.

Der Vorhang des Vorspieles ist gefallen, das Schauspiel soll beginnen! Allein der alte Tanz geht nur von Neuem an. Dieselben gehaltlosen Personen führen dieselben werthlosen Konversationen, dabei treten sie alle mit der Prätension großer Wichtigkeit auf, wodurch sie dem Leser bei ihrer totalen Nichtigkeit geradezu unerträglich werden. Damit uns die stehende Karikatur der widrigen alten Frauensperson nicht fehle, erhalten wir statt der Frau von Buschbeck, die wir so gern verloren, die nicht minder unangenehme Frau von Gülpen. Auch hier bringt die außerordentliche, schwarzweiße Lucinde, wo sie nur hinkommt, Alles in Staunen und Aufregung – die Passagiere des Dampfschiffes, den Gastwirth, ja sogar den Kutscher zum weißen Roß, – nur den Leser nicht, dieser staunt vielmehr nur über jenes Staunen; denn die Gefeierte verräth etwas von gemeiner Keckheit und Verschlagenheit, sehr viel von grober Koketterie, nichts von Geist, Herz und wahrer Bildung und doch auch nichts von jener höheren Gaunerei, die sie, wie es scheint, interessant machen soll. Und die Andern – die Armgart und Paula, der Benno und Hedemann und Thiebold de Jonge [15] – alle durch die merkwürdigsten Beziehungen mit den interessantesten Vorgeschichten verknüpft, kann man sie denn für wirkliche Menschen halten, diese Bleistiftumrisse, die nach dem erwähnten Rezepte verfertigt sind? Die Gespräche des Verfassers sollen sie lebendig machen, allein sie hauchen ihnen nur ein Scheinleben ein; die bestimmte Form und Farbe, die individuelle Seele fehlen, und es ist geradezu unmöglich, an diesen Nichtexistenzen irgend einen Antheil zu nehmen.

Und doch wird uns nicht das geringste Detail über diese höchst merkwürdigen Leute erlassen, ja wir müssen selbst über den Pfau der Frau von Gülpen eine sehr weitläufige Abhandlung aus der Pfauen-Psychologie geduldig hinnehmen. Dazu die beharrliche Anforderung, daß man die sehr verwickelten Beziehungen der Linien Dorste-Camphausen, Salem-Camphausen u. s. w. gründlich studire, und mit dem trockensten Ernste sich in fingirte Familienverhältnisse einweihen lasse, die selbst in der Wirklichkeit, wie in Vehse’s chronique scandaleuse, nur dem Betheiligten von Interesse, dem Fremden aber völlig ungenießbar sind und wie jeder gemeine Klatsch dem Gebildeten widerstreben. Wer dem Autor von S. 89 bis 102 mit Gelassenheit folgen kann, wo er glaubt uns „in alte und neue Verhältnisse mit der größten Spannung einblicken zu lassen“, der muß gestählte Nerven haben und sehr bescheidene Ansprüche an den „Roman der Gegenwart“ machen.

Die Handlung des Romans dreht sich wie in einem Wirbel herum und kommt nicht von der Stelle. Die geniale Lucinde kommt und geht, und wird überall den erdichteten Personen so verdächtig wie dem Leser. Der ganze zweite Band hat nichts Bedeutenderes zu thun, als ihre Reise in die Dechanei [16] zu Kocher am Fall wie ein welthistorisches Ereigniß zu beschreiben. Dort wird sie aber wieder vertrieben und zieht auf weitere Abenteuer in die große fromme Stadt,

„wo die Rosse Karl’s des Großen stampften, wenn sie rasteten vom Marsch aus den Thälern von Roncesvall und entgegenschnaubten den Wittekindsschlachten auf jenseitigem Ufer… Hier fing, Schiffssegel blähend und den Handel der Welt belebend, Nordsturm vom eisigen Island brausend, Ostwind, der aus der Levante wehte und den Weg an den Ufern Spaniens, Frankreichs und Hollands entlang die Waaren nehmen ließ, die sonst, über Venedig kommend, nur Augsburg und Frankfurt bereichert hatten“ u. s. w.

(Zugleich ein gutes Stilmuster: Alle Winde der Windrose werden losgelassen, die ganze Geographie und etwas urdeutsche Geschichte muß herhalten um möglichst unnatürlich und undeutlich den Namen einer Stadt zu bezeichnen!)

Als Ersatz für die ganz stillstehende Handlung erhalten wir die Misère der spießbürgerlichsten Konversation, die umständlichen Lebensläufe jeder neu auftretenden Karikatur, selbst die genauen Stammbäume aller der hochwichtigen Personen, endlich – das was Gutzkow für Humor hält. Er hat nämlich einen entschieden ausgeprägten Sinn für das Häßliche, eine besondere Sucht, widrige, triviale Personen, kleinliche, unnatürlich verkrüppelte Krähwinklermotive zu erfinden, wie die Leichenräuberei und sie zu großen aufregenden Begebenheiten aufzubauschen. (S. 113.)

„Nun gab das einen Schwung der Spannung und Erregung!“

eine Vorliebe für platte Gemeinheit, wie die Gesellschaft beim [17] Dechant in Kocher S. 200 u. f. und die Abendunterhaltung der jungen Kommis S. 330.

Der Autor oder seine Freunde dürften sich bei diesem Anlasse nicht auf Dickens berufen, denn wenn zwei dasselbe thun, ist es nicht dasselbe; nur der wahre Humor ist im Stande das Gemeine zu veredeln. Allein der Humor ist bekanntlich eine Geistesrichtung, die mit einem Pole zum Himmel strebt, mit dem andern fest in der Erde wurzelt; er ist nur jenen seltenen Menschen eigen, die echte Lebensfreude mit wahrem Tiefsinn vereinen, und das Leben herzlich lieben, indem sie es kräftig verlachen. Davon ist hier nichts zu finden. Gutzkow ist viel zu blasirt, um mit so reinen Elementen des Gemüthlebens operiren zu können.

Und ein solches Konglomerat von absichtlicher Aufgeregtheit und natürlicher Trockenheit, behängt mit einigen unechten Flittern, die poetisch sein sollen, aber „fast bewußteste Prosa“ sind; bar aller edlen, reinen, schönen Züge, aller Kraft und alles sittlichen Ernstes, ohnmächtig und zwitterhaft im Guten wie im Bösen, fern von Allem was Geist, Herz und Fantasie ergreifen könnte – dieß soll der Roman werden, der den Bedürfnissen der deutschen Nation abhilft, der dem Hang und Drang der christlichen Völker die würdigen Ziele zeigt?

Man hat den mitunter zu derben Realismus in Gotthelf’s Werken mißbilligt, aber lieber eine Stunde mit ihm im Kuhstall und in der Wirthsstube – es ist wenigstens gesunde Natur – als bei den krankhaft unwahren Figuren dieses Buches! Nicht die Geltung nach Außen ist es, um die es sich handelt, die Leute jener Dorfgeschichten sind ja gar nichts für die Welt, aber sie werden etwas für uns, sie sind nach außen aber nicht [18] innerlich unbedeutend, im Gegentheile sie nehmen durch Kraft und Muth, Tugend oder Laster, Liebe oder Haß, durch die Felsenhärte ihres Charakters oder die lodernde Flamme ihrer Leidenschaft unser ganzes Mitgefühl gefangen. Auch ist dieß nicht so leicht, mit dem Abzeichnen der Wirklichkeit ist es nicht gethan. Man versuche es – wer nicht die Gabe hat, Menschen zu studiren und aus sich wieder herauszubilden, der kann sich wochenlang in Bauernhäuser setzen und das Gehörte nachschreiben – er wird doch nicht eine Gestalt von der kernigen Wahrheit bilden, wie sie Gotthelf hinstellt. Und doch will Gutzkow realistisch sein, wie seine Theorie der gemischten Charaktere und die sehr gemischte Gesellschaft seines Werkes erkennen läßt; allein es fehlt ihm jede Begabung für realistisches Schaffen, er ist insofern Idealist als durchaus nur die vom Esprit und einer Art literarischer Ueberkultur angefressenen Kreise der Gesellschaft seiner Beobachtung zugänglich sind.

Es ist natürlich, daß der Stil dieses zweiten Bandes sich nicht verbessert hat; die Hohlheit der Handlung erzeugt Unwahrheit und Verschrobenheit der Darstellung, der Mangel inneren Lebens muß durch äußere Unruhe ersetzt werden. Daher die forcirten, zerhackten, unnatürlichen Formen des Ausdruckes – man ist gespreizt und geziert, man will geistreich sein um jeden Preis, keine der Personen spricht aus ihrer Seele, alle sind nur Gutzkow und reden den bizarren Feuilletonstil des Autors. „Pauvres enfans! leur nature est trop maigre, leurs ailes sont trop courtes! Ils se battent les flancs pour être exaltés, romanesques, poétiques, et ils restent comme devant, très vulgaires et très prosaiques.“ (Revue d. d. M. Montégut über Feydeau). Daher auch die trostlose [19] Einfärbigkeit der beiden Bände. Die Belege für diese Behauptung könnte ich nicht vollständig liefern, ohne mich des Nachdruckes von 722 Seiten schuldig zu machen; um aber nicht ohne Beweis anzuklagen, sei es gestattet, wenigstens eine kleine Blumenlese von Schönheiten des zweiten Bandes beizufügen.

Lucinde ist in einer gothischen Kirche

„Nachdem sie, wie andachtversunken, ihr Gebet verrichtet, erhob sie sich und musterte die Malereien. Auch zu einer Krypte stieg sie nieder, die ihr nicht minder beengend, fast furchterregend vorkam. Eine besondere Aufforderung zur Gottesandacht lag nicht in dem Eindruck dieses Innern eines so gefälligen Aeußern. Doch senkte sie die Wimpern und verrieth keine Kritik.“ (S. 25)

„Bei näherem Hinblick auf das Pensionat, das sich neugierig an den arbeitenden Maler wie verlor –“ (S. 26.)

Des gefühlvollen Knechtes aus dem weißen Roß habe ich schon erwähnt, er führt Lucinden in einem Wägelchen über das Waldgebirg nach St. Wolfgang. Zwei entfernt bekannte Herren, die denselben Weg vorausgehen, ohne sich weiter um Lucinden zu bekümmern, bringen diese abenteuerbedürftige Dame ganz außer sich.

„Lucinde pflückte vor Aufregung am Wege Kreuzkräuter und Rispengräser zu ihrem gewohnten Zerzupfen, das ihre Natur immer als Ableiter zu bedürfen schien, um die in ihr arbeitende Unruhe zu dämpfen“… „Mit dem Knecht war sie schon lange in einem Gespräch“… „Und der Knecht nahm an ihr ein gleiches Interesse. Wie Lucinde zerstörte aus Kraftgefühl und ungeduldiger Spannung auf ihr nächstes Schicksal, jetzt auf die schon hoch über ihr hinwegschreitenden Wanderer, so auch dieser. Blatt um Blatt zerzupfte er einen Zweig, den er in der Hand [20] hatte, machte eine Ruthe daraus und warf sie zuletzt weg, auch sich, wie es schien, aus grübelnden Gedanken aufraffend und wieder dann zur Peitsche greifend“… (S. 35)

Ein Gegenstück zu dieser seltenen Zeichnung eines schwärmerischen Kutschers ist die Beschreibung eines vollendeten jungen Gentlemans (S. 38).

„Fein, vornehm und doch natürlich ist sein Benehmen. Die Art, wie er jetzt seine Cigarrentasche zieht und um die Erlaubniß zum Rauchen bittet, hat einen so weltmännischen Schliff, daß sein Begleiter unversehens zu seinem Bedienten wird, obgleich er ihn wie einen intimen Freund behandelt.“

(Zauberhafte Verwandlung! Durch das Ziehen der Cigarrentasche wird der Freund zum Bedienten.)

S. 44. „Drei Jahre einer nicht etwa erfahrungsarmen, aber doch sehr in sich selbst bedingten Zeit lagen hinter ihr.“

S. 106. „Es war ein Duft um Armgart her, soviel Unwiderstehlichkeit, daß Benno sie auch bis zum Erobernmüssen geliebt und angebetet haben würde“...

Die Stelle S. 46 müßte man ganz abschreiben, sie ist ein wahres Ungeheuer von Affektation, nicht minder die Beschreibung Bonaventura’s S. 53.

Eben so der Eintritt Lucindens in den Garten des Pfarrers zu St. Wolfgang S. 58.

„In fast verstohlenem Vorüberhuschen wagte sie die Bücher, die Bonaventura vergessen zu haben schien, anzusehen“… Sie findet einen Band von Göthe’s Gedichten und Spee’s Trutz-Nachtigall. Daran scheint gar nichts Besonderes, allein für sie ist Alles ganz besonders vielbedeutend, „Ertappt! lag in [21] dem fast listigen Blicke ausgesprochen, mit welchem Lucinde die Bücher an sich nahm“ ...

Man sollte doch glauben, ein Blick könne nur listig oder nicht listig sein, aber fast listig! Ueberhaupt spielt dieses fast eine große Rolle und gibt dem Stile einen besonders gezierten Anstrich.

„Sie verließ die Kapelle und flüchtete sich fast in die warme Luft zurück“ (S. 27) … „und sie mit einem nur durch Verlegenheit abgebrochenen lauten und erschreckten Ach! fast anredete.“ (S. 30) – „dem von ihm fast erzogenen Adoptivsohn

(Wie kann man Jemanden fast erziehen?) Ja, einer der jungen Männer dieser Geschichte kommt zu dem Andern herangesprungen

„ihm die Hand zu schütteln und ihn fast zu umarmen.“

Man wolle dieß nicht für Silbenstecherei halten, solche Kleinigkeiten bezeichnen den Charakter des Stiles. Jenes „fast“ und seine Verwandten wurde übrigens schon von Göthe perhorrescirt. Unter der Ueberschrift: „Redensarten, welche der Schriftsteller vermeidet, sie jedoch dem Leser beliebig einzuschalten überläßt“, gibt er ein Verzeichniß von Wörtern, welche die Halbheit des Schreibers bezeichnen: „Gewissermaßen, einigermaßen, beinahe, ungefähr, kaum, fast“ u. s. w. Er fügt bei, daß auch Fichte diese Redensarten haßte. „Dieser kräftige entschiedene Mann konnte gar sehr in Eifer gerathen, wenn man dergleichen bedingende Phrasen in den mündlichen oder wohl gar schriftlichen Vortrag einschob. So war es eine Zeit, wo er dem Worte: gewissermaßen einen heftigen Krieg machte. Dieß gab Gelegenheit näher zu bedenken, woher diese [22] höflichen, vorbittenden, allen Widerspruch des Hörers und Lesers sogleich beseitigenden Schmeichelworte ihre Herkunft zählen. Möge diese Art Euphemismus für die Zukunft aufbewahrt sein, weil in der gegenwärtigen Zeit jeder Schriftsteller zu sehr von seiner Meinung überzeugt ist, als daß er von solchen demüthigen Phrasen Gebrauch machen sollte.“

Ein nicht minder sonderbares Stil-Effektmittel ist der logisch und rhythmisch absurde Periodenbau durch ineinander geschachtelte Sätze. So S. 104:

„Armgart begleitete bis an die Maximinuskapelle mit dem ganzen Institute den guten Hedemann (der Wunderdinge von den Wilden und den Wäldern und Wasserfällen Canadas auch bei der Hinreise nicht oft genug eine große Rettungsthat des Vaters, die einem jungen, im Institute durch Verwandte bekannt genug gewordenen Kaufmann aus der nahe gelegenen handelsreichen Residenz des Kirchenfürsten gegolten, wiederholen konnte – auf der Rückreise war er schweigsamer geworden –); dort aber war sie freilich von ihrer löblichen Absicht, ganz und allein nur den Fragen nach Vater und Mutter zu leben, abgekommen; denn am Ufer sah sie Benno“ u. s. w.

Man wolle diese und die folgenden Stellen laut lesen oder sich das Lautlesen vorstellen, die sicherste Probe für den stilistischen Werth.

„Wenn er dann gedachte, daß die Kirche die Ehe, auch die unglücklichste, auch die seit Jahren auf einer gegenseitigen Unfähigkeit, die Leidenschaften zu unterdrücken, beruhende und unmöglich gewordene in keiner Weise freigäbe und löste, so hatte schon Bonaventura geglaubt, sein Vater hätte sich den Schein des Todes gegeben, nur um zwei Menschen glücklich zu machen, die auf eigenthümliche Art und, wie er es aus den [23] Erzählungen der alten Renate, sich entnehmen zu müssen glaubte, keine mehr zu vermeidende Weise in die engste Beziehung gekommen waren.“ (S. 112.)

Die affektirte Stilisirung geht hier so weit, daß das auf durch einen langen Zwischensatz von seinen Angehörigen getrennt wird.

„In anonymen Briefen liegt, wenn sie uns nicht aus feigem Versteck mit Grobheiten regaliren oder die Ansicht eines einzelnen Dummkopfes zu einem „Es geht das Gerücht“ aufblasen, ein eigener Reiz, zumal wenn sie, wie dieser, ein verschwiegenes Abenteuer provociren, ein Stelldichein, das freilich in dem vorliegenden Briefe aus dem Canton Tessin in der Schweiz (so gern der Dechant alle drei Jahre an die Ufer der Donau reiste und sich in seinen „St.-Zeno-Angelegenheiten“ einige Monate lang von den Wirbeln und Strudeln des Wiener Lebens wie der Jüngsten einer und dann ohne alles Uebergewicht treiben ließ – Frau von Gülpen blieb daheim –) etwas beschwerlich war und über das ohnehin im Dunkeln gehaltene Alter des Dechanten hinauslag.“ (S. 154)

„So groß auch immer sein Vertrauen zu sich selbst war und so sehr er sich vorgenommen hatte, sich in seiner ganzen künftigen Haltung im Leben einen wenn nicht großen, doch eigenthümlichen und merkwürdigen Charakter zu geben, so geschah ihm doch immer, daß sein erstes Erwachen von irgend einer der vielen, nicht blos durch den natürlichen Schlaf verursachten Besinnungslosigkeit regelmäßig eine geringfügige Vorstellung über die gerade obwaltende Situation begleitete, der dann die völlig decontenancirte Miene entsprach…“

Ist dieß vielleicht die deutsche Sprache, die „der Roman der Gegenwart“ erfordert? Dann wären beide zu bedauern. Dagegen wäre es unbillig nicht zu erwähnen, daß uns der [24] Autor mit einem sehr genauen Rezept zur Chokolade-Bereitung bereichert hat (S. 266).

Was Frau von Gülpen betrifft, die Liebliche, von der wir ohne Schonung Alles erfahren müssen, nicht nur was sie denkt und thut sondern auch was sie in diesem und jenem Falle denken und thun würde – so verweise ich auf S. 159 bis 167 und fordere Jeden heraus einen geschmackloseren Klatsch irgendwo nachzuweisen. In demselben Krähwinklerstile bewegt sich die erbärmliche Gesellschaft beim Dechant S. 200 u. flg. Das Aeußerste in schlechtem Realismus und humoristischer Ohnmacht leistet wohl die Kommis-Konversation S. 330–337. Für welches Publikum sind solche Trivialitäten bestimmt? Dabei die Konsequenz; – die Gesellschaft ist dem letzten Stadium der Betrunkenheit nahe:

„Gruppen bildeten sich… der eine lag von der Karikatur sprechend da, der andere von der Liebe überhaupt dort… man flüsterte… man hatte jetzt Geheimnisse… ja es senkte sich über die wüste Atmosphäre mancher reinere Sonnenstrahl…

Gleich darauf aber sagt der Autor:

„Folgen können wir diesen Gesprächen nicht. Sie enthielten zu viel von dem, was, wenn Männer zwischen zwei und drei Uhr Morgens von Frauen sprechen – die Nacht „bedeckt mit Grauen.“

Stil- und Charakterproben finden wir vereint in der Zeichnung der ehrenwerthen Lucinde. Zuerst die gründliche Motivirung S. 114–127. Das selige Hoffen Lucindens auf die Nähe Bonaventuras, der lange, hoffnungsvolle Blick den sie dem Pfarrhause zuwirft, sind auf einmal da, Niemand weiß [25] woher. Diese plötzliche Schwärmerei ist weder in dem Charakter Lucindens noch in dem Benehmen Bonaventura’s begründet. Eben so das augenblickliche Umschlagen des Urtheiles bei Benno, bloß weil sie einige Göthe’sche Verse „fast mit Rührung“ gesprochen. Man sehe das ganze höchst alberne Gespräch im Wagen S. 120–125. Sie sagt endlich:

„In der Dechanei? Um so mehr müssen wir auf ihn vorbereitet sein! Wer ist gerettet worden? Wer hat gerettet? Erzählen! Erzählen!“ – „Diesem Humor ließ sich nicht widerstehen…“

Wenn das Humor sein soll, dann dürfen wir uns wohl freuen auf das was uns noch ferner als humoristischer Genuß bevorsteht. Endlich zur Charakterzeichnung selbst:

„Sie hatte mit der Denkweise, die sie Klingsohrn, Serlon selbst verdankte, eine resolute Entschlossenheit der Menschen für die Abwehr ihrer gegenseitigen Schlechtigkeiten für vollkommen gerechtfertigt zu halten gelernt. Sie lachte oft schon über den kleinen Hunnius und nahm ihn für einen Erzschelm, der mit der Menschheit gerade so verfuhr, wie man mit derselben verfahren müsse und wie sie einst selbst sich gegen die Tücke der Frau von Buschbeck half.“

Ferner die sehr zarte Betrachtung S. 260:

„… und er sagte nichts als: Gute Nacht, Fräulein! Sagte das ihr, die noch jung, noch schön war, die Huldigungen erlebt hatte, wo sie nur irgend erschienen war, eine Siegerin über so viele Männer von Reichthum, Ansehen, Geist.. Gute Nacht, Fräulein… Und das in tiefster Stille… im nächtlichen Dunkel…“ Die zweite Stiege in ihrem Entresol glaubte sie allein gehen zu können … Sie hauchte ihm das in stammelnden Worten so hin… Sie ging langsam… halb ohnmächtig vor Schmerz über das eine „Gute Nacht, Fräulein!“

[26] Nun fragt man sich, was will sie denn eigentlich? Man muß bedenken, daß, wie bemerkt, von dieser Leidenschaft gar nichts früher angelegt und motivirt, und daß Bonaventura ein respektabler ernster Mann ist, der Lucinden, die ihm sogar mißfällt, nie das mindeste Zeichen von Theilnahme gab. Auch ist zu bemerken: Die Männer von Reichthum, Ansehen, Geist waren, ein Dieb und Betrüger, der mit der Kasse seines Prinzipals durchging, der ganz irrsinnige Kammerherr, der halb irrsinnige Opiumesser Klingsohr, der rohe, halb wilde, des Mordes verdächtige Kronsyndikus, endlich der Gastwirth und der Pferdeknecht zum weißen Roß. Nach solchen Siegen kann sie freilich nicht begreifen, daß nicht Jedermann augenblicklich bezaubert ist. Dieß führt sie zu folgender seltsamen Reflexion:

„Bitter sagte sie sich: daß doch diese Männer ewig nur dieß Eine in uns finden können –! Nur dieß Eine –! Nie und nirgends etwas Anderes!“

Nun haben wir genug von dieser Lucinde. Der Autor sagt selbst gegen Ende des zweiten Bandes:

„Ihr Herz war vielleicht nicht mehr gut, aber auch noch nicht böse…“

(Dahin kommt es, wenn man weder schwarz noch weiß ist.) „Sie war das, was ein starker Bildner aus ihr hätte formen können“. Abgesehen von der neuen Logik, daß man das ist was man sein könnte wenn man es geworden wäre, kann man nur wünschen, Gutzkow wäre ein starker Bildner, was er nicht ist, und hätte aus ihr etwas Besseres geformt, als er geformt hat.

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[27] 3.

Es ist möglich, ja nach Maßgabe der früheren Arbeiten Gutzkow’s sogar wahrscheinlich, daß in der Anlage des Ganzen eine mehr als quantitative Größe liege, die uns über die Erbärmlichkeit dieser Anfänge endlich hinausheben werde. Nicht anders war es bei den Rittern vom Geist. Wer die ersten zwei Bände zu überstehen fähig war, der konnte nicht nur die sieben anderen aushalten, er konnte sogar für einige Partieen ein lebhaftes und berechtigtes Interesse fassen. Auch in diesem Romane zeigt sich ein sozialer Hintergrund, der ihn lebensfähig machen könnte. Allein dießmal wird die Geduld doch auf eine zu harte Probe gestellt, schon drei Bände – und immer sollen wir noch an der bitteren Schale nagen, in der Hoffnung, doch auch einmal zu einem Kern zu gelangen! Man glaubt, es werden die hüpfenden Funken des Vorspieles doch einmal zu Ende gehen und die Sache zum Anfange kommen, aber die Funken hüpfen fort, das Vorspiel spielt fort, die Asselyn’s und Wittekind’s, die Dorste- und Salem-Camphausen, die Kattendyk’s, Enkefuß Nücke – umschwirren uns wie feindliche Gespenster, ihre Stammbäume, ihre Geld- und Familienverhältnisse verwirren [28] sich wie ein Weichselzopf: so daß man endlich nicht mehr begreift, wie ein vernünftiger und gebildeter Mann und ein Mann von Gutzkow’s literarischer Erfahrung die empörende Zumuthung an die Leser stellen kann, dieß Alles wirklich zu lesen. Es ist eine wahrhaft aufregende Lektüre, man findet sich von Blatt zu Blatt aufgelegt, das Buch auf Nimmerwiedersehen hinzuwerfen. Der Mangel an geistigem Gehalte und an Stoff-Interesse würde den Leser nicht so indigniren, wenn sich dabei nicht so viel Affektation und Selbstgefälligkeit in den scharfen Accenten ausspräche, die all den verschrobenen Figuren aufgesetzt sind. Das fortwährende Hindeuten auf die feinen Fäden der Verwicklung, das bedeutungsvolle Zuwinken über die besondere Wichtigkeit jener uninteressanten Leute, die nur im Nebel vor uns schwimmen und kein bestimmtes Bild geben; die trockene pedantische Ausführlichkeit, womit ganz erbärmliche Familien- und Lokalverhältnisse wie weltbewegende Ereignisse mit wohlgefälliger Breite behandelt werden, das verkümmerte Krähwinklerthum, das uns als Volksleben geboten wird: dieß zusammen muß endlich die Geduld des Gelassensten zerreißen. In dem Grade als die ironische Behandlung des Kleinlebens bei echten Humoristen wie Dickens komisch und unterhaltend ist: liegt in der ernsten und wichtigen Darstellung solcher Nichtigkeiten eine abstoßende Unausstehlichkeit, die in der Geschichte des Romans kaum ihres Gleichen hat. Ja in dieser Welt der Unnatur, die kein dichterischer Hauch belebt, vergißt man ganz, daß viele der Einzelnheiten „fast“ überflüssig geistreich gemacht sind. Was aber diese Bücher auch dem gutwilligsten und opferfähigsten Leser unlesbar macht, ist der traurige Umstand, daß man sie nicht verstehen kann. Die unzähligen körperlosen Namen des Romans lassen keinen Eindruck zurück, der [29] Leser hat sie schon lang vergessen, und doch sollen sie ihm im dritten Bande noch immer so wichtig sein, daß er den Verhandlungen über ihr Geld und Gut mit weihevoller Aufmerksamkeit folge. Und welchen Abhandlungen!

Wenn man solche Dinge nicht als Jurist sondern als Poet darzustellen hat, so muß man es verstehen, sie übersichtlich zu machen, das Ueberflüssige von dem Nothwendigen zu scheiden, dieß geschickt zu gruppiren und zu einem Bilde abzurunden.

Und wenn man dem Publikum zumuthet, seine Zeit auf Romane zu verwenden, so muß man ihm ein Kunstwerk bieten oder doch wenigstens eine Unterhaltungslektüre; aber solche gemischte Bücher, die keines von beiden sind, die zugleich langweilen und moralisch deprimiren, sind ein wahres Attentat auf die ohnedieß genug geplagte und geärgerte Menschheit.

Ich führe nur einige Stil- und Gehaltproben des dritten Bandes an, um den Leser nicht zu ermüden; wo man das Buch aufschlägt, bieten sich Belege für die aufgestellte Ansicht: S. 15, 16 der Bericht über die Geldverhältnisse des Herrn von Enkefuß, S. 19, 20 die Erinnerungen Benno’s. S. 66 werden zur Charakterisirung des Seligmann Späße produzirt, die man in einem Kalender des Kladderadatsch oder in einem Almanach zum Lachen nicht zu trivial fände, während sie sich im Romane als unberechtigte und ungewaschene Eindringlinge sehr schlecht ausnehmen. – Ist denn der Roman ein Sack, in den man Alles was uns eben zur Hand kommt nur so hineinfüllen darf? Gibt es hier kein Gesetz, kein Maß, keine Unterordnung – darf sich jeder beliebige Einfall an jedem beliebigen Orte breit machen, und die werthlose Nebenfigur eben so heraustreten wie die Hauptträger der Handlung? Dieser Mangel [30] künstlerischer Anordnung geht bisher durch alle drei Bände, nirgends wird das Zufällige durch gedämpftere Farben gegen das Wesentliche in den Hintergrund gestellt, und der trivialste Patron, der dem Autor in die Feder läuft, wird mit gleichem Pathos behandelt wie die Helden des Buches. Oder sollte hier etwa die Berufung auf Jean Paul gelten? Auch bei seinem Mangel an Kompositions-Talente kommen ähnliche Fehler vor, aber wie werden sie ersetzt durch den Reichthum an edlen, tiefen, originellen Ideen, die wie Perlen und Diamanten aus dem Schutte seiner kunstwidrigen Romane hervorleuchten!

Ein Beispiel von falschem und unnöthigem Pathos finden wir wieder in dem Monologe Lucindens (S. 248):

„Serlo’s Kinder! Auch bei ihnen verweilte sie… Klingsohr’s Verrath an seinem Gelübde… um ihretwillen!… Sie lächelte befriedigt, doch sprach sie zu sich: Mäßige Dich nur! Sei nur still! Lächle nicht, weder vor Freude noch vor Schmerz! Laß Alles über Dich ergehen! Laß den Wolkenwagen des Geschicks dahinrollen wie im Gewitter! Zuck’ im Weltbrand nicht mit der Wimper! Ertrage, was auch komme, selbst das Seligste, mit Gleichmuth“ u. s. w.

Man halte nur die Situation entgegen, womit ist diese gigantische Reflexion gerechtfertigt, wo sind die ungeheueren Ereignisse, wo der Weltbrand? Außerdem lächelt man gewöhnlich nicht „vor Schmerz“.

S. 253-255 werden wir durch drei Seiten des ärmlichsten hors d’oeuvre geschleppt, womit ein witziger Einfall illustrirt wird, und Lucinde hatte sogar oft diese Stelle gelesen (wir sind froh, daß wir sie einmal überstanden haben) ja mit Lachen [31] gelesen, wahrscheinlich mit so hölzernem Lachen, als es diese hölzerne Erfindung verdient (S. 267).

„Mit zärtlich winkender Geberde wiederholte Armgart ihr Anliegen. Sie zeigte ringsum in die Gegend, deutete mit dem Hut auf die wunderbare Luft und beschrieb mit dem einen Arm, den sie frei hatte, einen Kreis, als wollte sie sagen: Gibt es denn etwas Schöneres in der Welt, als so auf dem schönsten Strom der Erde an einem Sonnabend Nachmittag im Kahn durch die Wellen zu kreuzen! Gibt es denn etwas Vernünftigeres, da du doch immer die Vernunft im Munde hast, als eine Erlaubniß zu benutzen, die die gestrengen Englischen Fräulein mir Unverbesserlichen zugestanden haben! Ist denn der Antonius Hilgers trotz seiner unverkennbaren Bestimmung zum Priester nicht der beste und kundigste Ruderer der Insel? Meiden wir denn nicht sorglichst die Dampfschiffe, obgleich, im Vertrauen gesagt, nichts über das Schaukeln geht, wenn sie vorüber sind und der Nachen in ihre zurückgelassenen Furchen geräth? Hüten wir uns denn nicht vor Thiebold de Jonge’s großen Holzflößen, mit denen nicht zu spaßen ist? Und ist denn nicht jetzt die Stunde, wo wir möglicherweise drüben –“

„Alles das sagte ihre Geberdensprache und ihr Blick, aber die grausame Dame zeigte auf eine Näharbeit, die sie hoch emporhielt…“

Wenn schon diese Leistung alle Wunder des Telegraphen bei weitem übertrifft, so folgt nun doch eine noch merkwürdigere Produktion, mit welcher ein Gutzkow’sches Sonntags-Feuilleton pantomimisch ausgedrückt wird:

„Ach was! war Armgart’s Geberdenantwort. Sonnabend Nachmittag! Die seligste Zeit im Leben lernensgeplagter Jugend! Sonnabend Nachmittag mit seinem Stillstand aller theo-[32]retischen und praktischen Lehrkurse, mit seinem Wonnegefühl vollbrachter geographischer und linguistischer Anstrengungen, mit seinem erhebenden Rückblick auf wenig Lob und viel Tadel, mit seiner zurecht gelegten Sonntagswäsche, seinem erquickendsten Reinigungsbehagen, auch dem geistigen, dem abgelegten Sündenbekenntniß in der Beichte; Sonnabend, Sonnabend mit seinen Ahnungen und Hoffnungen auf Sonntag, auf die Extramehlspeise, Nachmittags auf die Landpartien der Philister, denen diese schöne Natur Feiertagskuchen ist, uns das tägliche Brot!… Alles das wurde durch Deuten auf Himmel, Wasser, Erde, Luft, Ohr, Auge, Herz und ähnliche Mimoplastik ausgedrückt.“

Dieß übertrifft wohl Alles was bisher dagewesen, warum geht denn Armgart nicht zum Ballet? Und warum schreibt Gutzkow seinen Roman nicht lieber in achtzehn Bänden, bei dieser Methode kann es ihm doch sicher an Stoff nicht fehlen.

Das Gespräch zwischen Benno und Armgart (S. 295 u. flg) ist abgesehen von seiner absoluten Gehaltlosigkeit ein ganz reaktionäres Gebahren.

„Im Tone seiner Frage, im Leuchten seines blauen Auges lag eine so ausdrucksvolle Schwere, daß plötzlich Armgart wie etwas Unsichtbares sich auf sie niedersenken fühlte…“

„Ja, wie konnte Benno nur in das einfache „Was sprechen Sie denn?“ so viel Ausdruck legen? Was konnte diese Wendung seines Hauptes, diese Glut seiner Augen bedeuten? So wenig Worte und soviel seltsamer Ton in ihnen!“

Dieß ist doch die wahre Putzmacherpoesie für Freundin[n]en schöner Seelen, wir kommen später darauf zurück.

Unsere realistische Gegenwart aber ist solchem Phrasenthum [33] so entschieden entfremdet, wie ihm die Zeit, da Gutzkow seine Triumphe feierte, leidenschaftlich zugethan war.

Der Schluß des Buches, die Flucht der Armgart mit allem Zugehör ist wahrhaft haarsträubend, eben so willkürlich ungenügend motivirt als affektirt dargestellt. Die tolle Fieberphantasie die hier aus jedem Satze spricht, läßt sich nicht einmal mehr durch das Opiumessen des ersten Bandes entschuldigen. Und doch ist es so, als ob alle diese Leute, oder vielmehr ihr Schöpfer so lang Opium verzehrt hätten, bis ihr Pensum abgewickelt und die 396 Seiten zum großen Troste des nicht Opium essenden Lesers endlich abgethan sind.

Dagegen muß man Gutzkow zugestehen, daß die wenigen Stellen, die zur Tendenz des Werkes in nächster Beziehung stehen und den konfessionellen Charakter der handelnden Personen bezeichnen, sehr geistreich gemacht sind und zu den Oasen in der Wüste dieser drei Bände gehören. So namentlich die Rede des Pater Sebastus im zweiten, die Audienz beim Kirchenfürsten im dritten Bande. Hier gelangt das publizistische Talent des Autors zur Geltung und zeigt, in welcher Sphäre er wirken könnte.

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[34] Es ist dieß kein mildes Urtheil, aber ein gerechtes und ich glaube es nicht leichtfertig ohne Angabe der Gründe ausgesprochen zu haben. Dem Autor und seinen Freunden wird es ohne Zweifel für eine „feindselige Aufnahme“ gelten, „in die er seine Widmung mit ruhiger Ergebung“ gestellt hat.

„Häufe sie Schimpf und Schmach – ein Theil der angestrebten Wirkung wird dann erreicht sein.“

Wer sind aber dem Verfasser die „Wohlwollenden, Uebereinstimmenden, Gerechten“?

„Der Verfasser kennt aus schöner Erfahrung das Glück, für Gemüther zu schreiben, die den Autor gleichsam nur bevollmächtigen, das zu sagen, was schon lange ihnen selbst auf dem Herzen brennt. Eine der seligsten Wonnen – Uebereinstimmung! Ein nur leise angeschlagener Ton und die Hingebung und Liebe führen ihn weiter! Wissen: hier lächelt der Leser wie du: hier feuchtet sich dein Auge wie dir: hier erräth er sein Räthsel, noch ehe du zu Ende warst es zu stellen: hier könnte er deiner einfachen Andeutung eine Fülle eigener Erfahrung an die Hand geben: welche Kraft entströmt diesem sicheren Bewußtsein!“

Auch dieß ist veralteter Stil aus der Jean Paul’schen Zeit auf schwärmerische, naive Seelen berechnet, so unmännlich [35] und so unwürdig des Volkes und der Zeit, denen das Buch gewidmet ist, daß es wie eine Bitte klingt die literarische Sünde zu verzeihen. Wenn sich nach diesen drei Bänden Jemand findet, der sagen kann: da ist etwas ausgesprochen was mir schon lange auf dem Herzen brennt, oder: da habe ich gelächelt, da hat sich mein Auge gefeuchtet, dann wäre es in der That interessant die Bekanntschaft dieses seltenen Wohlwollenden zu machen, dem so sonderbare Dinge auf dem Herzen brennen. Wir nicht Uebereinstimmenden fanden keine Stelle, die uns nur die mindeste Anregung zu Freude oder Schmerz, ja nur zur einfachsten Theilnahme geben konnte; das ganze Marionettenspiel zog kalt und ohne Eindruck auf das Gemüth vorüber, so wie es kalt und ohne Gemüth in Szene gesetzt war.

Damit soll die literarische Bedeutung Gutzkow’s nicht unterschätzt werden. Gutzkow ist ein Mann von Geist, Talent und vielseitiger Bildung, aber ohne Gestaltungskraft. Er ist reich an Gedanken, aber arm an Ideen, er hat sehr viel Scharfsinn aber keinen freien großen Umblick. Gutzkow ist nicht für eine Richtung prädestinirt, man kann sich ihn auch in jeder andern Laufbahn denken, ohne mehr als die äußeren Umstände zu ändern. Im politischen Leben wäre er ein ausgezeichneter Diplomat geworden aber kein großer Staatsmann; als Geschichtschreiber ein zweiter Vehse, der sich aber mit dem Nimbus des Historikers und Diplomaten umgäbe. Als Musiker wäre er für Franz Lißt ein gefährlicher Rival; beide sind ganz entschiedene Virtuosen und sehr problematische Komponisten, beide stoßen das Gesetz um aus Ohnmacht es zu erfüllen, sie suchen durch forcirte Effekte das zu erreichen, was ihnen die Natur [36] versagt hat, beide verlassen die Sphäre, in der sie ausgezeichnet sind um da zu glänzen wo sie es nicht sind.

Auch die dramatischen Verdienste Gutzkow’s sind nicht zu läugnen, nur zu begränzen. Das Theater kann nicht Jahr für Jahr und Tag für Tag von den wenigen großen Meisterwerken der Kunst leben; wer für dessen tägliches Brot sorgt, der hat viel gethan, wenn auch nicht direkt für die Bildung seiner Nation, so doch für die Bildungsmittel, die Bühne und ihre Künstler, zugleich aber für jene Unterhaltung, welche der Bildung so nothwendig ist wie Ruhe der Arbeit. Im Drama ist Gutzkow zwar nicht wahrer aber formell besser als im Romane, er kann dort mit Geist wirken auch ohne Gemüth – mit Komik auch ohne Humor, daher ihm das Lustspiel am meisten zusagt und am besten gelingt. Dabei wird er von Außen genöthigt sich zu konzentriren, und das ist wesentlich für seinen Erfolg; denn wenn die ersten Akte seiner Dramen den ersten Bänden seiner Romane gleich stünden an Leere und Zerfahrenheit: so könnten die Stücke nicht zu Ende spielen, während der Roman ruhig weiter geht im Vertrauen auf den ruhigen Charakter deutscher Leser und ihre Stärke in Geduld und Hoffnung.

Als Literat und Journalist ist er ganz an seinem Platze – reich an Geist, Witz und Beobachtungsgabe, eine reflektirende Natur, stets anregend und belebend, ein feinfühlender Kritiker, der den Kern der Sache trifft. Er verstünde es sehr gut, Parteibestrebungen und Tendenzen der Gegenwart den Zeitgenossen zur Anschauung zu bringen, wenn er als Publizist, nicht als Künstler wirken wollte. Er ist großer Entwürfe fähig, [37] aber sie werden klein in der Ausführung, das beabsichtigte Historiengemälde zersplittert sich in lauter Genrebilder. Er hat viele Eigenschaften die dem Romandichter günstig wären, es fehlt ihm nur Eines: das Talent Romane zu schreiben; Leute besitzen es, die in allem Uebrigen weit unter ihm stehen, sie übertreffen ihn in der Gabe anmuthig zu erzählen, die einzelnen Partieen in Harmonie zu bringen, den Leser in Spannung zu versetzen und zu erhalten, vor Allem aber wirkliche lebendige Menschen zu bilden. Wenn dessenungeachtet die „Ritter vom Geiste“ einen so großen Erfolg hatten, so beweiset dieß nur, welches Uebergewicht im Felde des sozialen Romans vielseitige Bildung gibt, und daß nicht nur die deutsche Sprache für ihren Dichter „dichtet und denkt“, sondern auch die deutsche Kultur für ihn Romane macht.

Soll diese Ansicht „Feindseligkeit und prinzipielle Partei-Opposition“ sein, wie Gutzkow’s Lobredner behaupten? Die Kritik müßte sich selbst aufgeben, wenn sie sich nicht mehr für fähig hielte, ohne persönliche Rücksicht zu urtheilen – sie müßte sich selbst, den Autor und das Publikum geringschätzen, wenn sie sich herabließe, Partei zu werden, wo sie zum Richteramte berufen ist, und geringen Interessen zu dienen, da sie die höchsten zu bewahren hat. Nur die Wahrheit ist es, die man dem Schriftsteller wie dem Publikum schuldig ist, nur das Schmeicheln und Heucheln ist Mißachtung beider; für den Autor aber ein doppelter Nachtheil, denn es erhält ihn auf Irrwegen und erbittert die öffentliche Meinung.

Dieß führt mich zu einigen Bemerkungen über das Verhalten der deutschen Kritik zu diesem Romane. Die meisten [38] seiner Bewunderer haben sich dießmal in der Defensive gehalten und den Mangel wirklicher Begeisterung hinter wohl klingenden Phrasen versteckt. Nur die Augsb. Allg. Zeitung feierte gleich den ersten Band mit einem Artikel der sich so verzückt geberdete, als ob ihn Klingsohr in der blühendsten Opiumzeit geschrieben hätte. Diese Rezension, die wir in einer psychiatrischen Zeitung eher gesucht hätten als in der alten praktischen Allgemeinen, schließt mit den Worten:

„Wir hören, das Buch will an den Rhein, wir hören, nach dem Süden, nach Rom – nach der ewigen Stadt! Rom bedarf der Geister vor allen denen nicht graut etwas und alles zu werden, oder denen Lechzung kommt nach einem Ende des Hangen und Bangen in schwebender Pein (!) „Nach Rom nach Rom!“ ruft auch der Tannhäuser. Warten wir diese Entwicklung ab.“

Zwei ganz tüchtige Männer aber, selbst Namen von gutem Klange in der poetischen Literatur, treten für den Roman sehr aggressiv auf und hauen unbedenklich Jedermann nieder, der an der Vortrefflichkeit des Buches zu zweifeln wagt.

Der Eine ist Levin Schücking (im Familienbuch des österr. Lloyd). Er spricht von dem „großartigen Erfolge, den das Werk in eigenthümlicher Weise feiert, während die Journalistik es mit offenbarem Mißwollen und wie mit dem geflissentlichen Vorsatz, es von vornherein schlecht finden zu wollen, aufnimmt“. Er behauptet ferner: „Wenn man den Verfasser verantwortlich macht für die Schwächen seiner Charaktere, so ist das ein sehr banales, sehr unkritisches Urtheil. [39] Er gibt sie eben als psychologische Probleme, deren Lösung sicherlich eine Aufgabe ist; weit schwieriger als die Zeichnung einer fertig dastehenden edlen und idealen Natur, wie sie in unsern Frauenromanen dutzendweise zu treffen. Man muß einen Roman von Gutzkow eben nicht in die Hand nehmen, in der Erwartung sich darin an schönen Seelen laben zu können. An edlen Helden, die, wenn ihnen z. B. das Glück oder die Bemühung der Freunde die Thore des Kerkers öffnet, oder die, wenn man sie zum vollen Gastmahl des Lebens führen will, für Entsagung schwärmen und aus zartsinnigen Rücksichten nicht über die Schwelle wollen – an solchen und andern idealen Wesen sind Gutzkow’s Romane nie reich gewesen. Er hat nie seinen Ehrgeiz darin gesetzt, im Pensionate, eben so wie im Näh- und Bügelzimmer bewundert zu werden“. Wirklich eine schöne Aesthetik und noch schönere Moral! Rechtschaffene, tüchtige, edle Charaktere, deren Leben fest auf einer sittlichen Basis steht, Menschen die zu entsagen fähig sind, weil ihnen die Pflichten gegen Andere höher stehen als ihr eigener Genuß – solche armselige Schwärmer gehören nur in Näh- und Bügelstuben; die zartsinnige Rücksicht, die nicht um jeden Preis zulangt beim Gastmahle des Lebens, gehört nur in Mädchenpensionate! Wir höher Gebildeten geben uns nicht mit so langweiligen schönen Seelen ab, nichts von Entsagung, nichts von schaler Tugend – für uns gehört das Lumpengesindel, die Entwicklung von Gaunern und Schwindlern, Dummköpfen und Irrsinnigen jeder Art, die Bewunderung hoher Zerrissener wie Serlo – das ist unsere Domaine.

Wenn edle Charaktere ein Vorwurf sind, dann sind freilich Gutzkow’s Romane tadellos und einzig in ihrer Art. Seine [40] edlen Menschen werden uns keine moralische Indigestion machen; darum fort mit allen anderen Romanen der Gegenwart, auch mit den Romanen und Novellen von Levin Schücking, fort damit in die Nähstuben und Töchterschulen!

Schücking, wie Alle die in diesem Tone sprechen, verwechselt absichtlich den Abscheu vor der Gemeinheit, die jedem Kunstwerke fern bleiben muß, mit einer lächerlichen Prüderie, die nur in höheren Sphären schweben will. Er verwechselt die in unserer realistischen Zeit längst verschollene Schwärmerei für edle Seelen und hohe Menschen mit der stets berechtigten Forderung, daß ein männlicher, sittlicher Geist das Kunstwerk durchdringe, der sich nicht in Phrasen sondern in Charakteren kundgibt. Er übersieht, daß gerade Gutzkow an dieser schwindsüchtigen Schwärmerei leidet, daß gerade seine gefühlvollen Stellen, wie schon öfter bemerkt wurde, für Männer von ungenießbarer Fadaise sind; ja, daß es auffällt, wie er Jean Paul nur in seinen gröbsten Fehlern nachahmt, Schücking vergißt, daß Dickens’ Romane, die er als das Vorbild Gutzkow’s aufstellt, nur durch die Fülle des Gemüthes, die sie erwärmt, so drastisch wirken. Nicht aus den Kreisen verzärtelter Kultur, aus dem einfachen Volksleben fördern sie einen Schatz von schönen und edlen Zügen zu Tag. (Um nur ein Beispiel anzuführen: In Nickleby – Nicholas Nickleby, Newman Noggs, die Brüder Cheeryble, John Browdie), und dieß sind keine schönen Seelen, sondern echte natürliche Menschen, denen Wahrheit, Güte und Ehrlichkeit nicht wie die Tendenzen gewisser anderer Figuren in Zetteln aus dem Munde hängen, sondern Fleisch und Blut geworden sind.

[41] Schücking sagt: „Er versteht den Roman nicht wie Göthe, nicht wie Sand. Er versteht ihn wie Balzac, wie Dickens.“ Nein, er versteht ihn nicht wie Göthe, das ist sicher und wenn er ihn auch so verstünde, so könnte er ihn nicht so machen, denn das Verstehen fehlt ihm überhaupt nicht, nur das Können. Und die Sand, diese reich begabte, wahrhaft geniale Dichterin, selbst in ihren Irrthümern groß und hinreißend! Wie kann man nur als Freund Gutzkow’s ihn in das ungünstige Licht stellen, das solche Größen der Poesie auf ihn werfen. Und warum nicht wie Göthe; sind die Wahlverwandtschaften zu schwärmerisch, sind im Wilhelm Meister zu ideale Menschen? Aber, er ist Balzac oder Dickens! Balzac! in beschränktem Kreise der größte Menschenkenner; kein Mann der Idee, aber ein Mann der That; ein Meister im niederländischen Stile; der uns mit fester Hand Figuren malt, die voll und kräftig aus dem Bilde heraustreten, Menschen, die ganze Menschenklassen, Charaktere, welche die gemeinen Leidenschaften der Massen typisch repräsentiren. – Und daneben die verschwindenden kernlosen Nebelgebilde des Zauberers! Wo ist da der Vergleichungspunkt?

Endlich Dickens, der Meister wahrhaft realistischer Darstellung; Dickens, dem der Humor aus allen Poren dringt, und Gutzkow, dem er gänzlich mangelt, – jener lebensfreudig, heiter, gemüthswarm; dieser blasirt, reflektirend, kühl – jener Gestalten schaffend, die ihm selbst Freude machen, weil sie nicht Er selbst, sondern seine Geschöpfe sind, dieser nur sein Ich in wechselnden Masken produzirend – wo ist da die Aehnlichkeit?

Den Verfasser für die Schwächen seiner Charaktere ver-[42]antwortlich machen, wäre „ein banales Urtheil“? Nun, so wären ja die Pariser Grisetten-, Gauner- und Spieler-Romane ganz in der Ordnung; denn dargestellt ist da der Bodensatz des Pariser Lebens sehr tüchtig und naturwahr, von diesen Leuten hat einer mehr Leben und Wahrheit, als alle Gutzkow’schen Personen zusammengenommen, und mehr kann man vom Autor nicht verlangen, es wäre banal und unkritisch, er hat das Recht, uns in allem Schmutz des Lebens herumzuziehen. Und dennoch wird kein gebildeter Mann behaupten, daß solche Romane ihren Urhebern oder ihrer Nation zur besonderen Ehre gereichen. Sie können höchstens einen psychologischen oder sozialen Werth erlangen, insofern sie die trüben Elemente aufdecken, die sich unter der glatten Oberfläche der Gesellschaft herumtreiben.

Der „Zauberer“ aber will doch ganz etwas anderes, er will … kurz er will ein Nationalwerk sein. Da aber Romane nicht mit Sentenzen, sondern mit Charakteren wirken müssen, so ist der Verfasser, der sich solche Ziele setzt, für die Haltung seiner Charaktere verantwortlich. Er hat nicht die Pflicht, langweilige Tugendmuster hinzustellen, der wahre Dichter entflammt das Gefühl für Wahrheit, Recht und Ehre eben so kräftig durch Haß wie durch Liebe, durch seine schlechten wie durch seine guten Charaktere; aber dafür ist jeder Autor schwer verantwortlich, wenn er das Schlechte nicht verachtenswerth, das Gute nicht begeisternd darstellt, sondern einer nichtswürdigen Halbheit der Gesinnung durch die sittliche Indifferenz seiner Personen und durch den Mangel jedes edleren Auf[s]chwunges Vorschub leistet.

[43] Aber „die 3000 Exemplare starke Auflage ist gleich beim Erscheinen vergriffen und es wird die zweite bereits versandt“! Diese Ziffer kann doch nur die Größe des Rufes ausdrücken, den sich Gutzkow bis jetzt gemacht hat, nicht aber den Werth eines Werkes, welches die Käufer noch gar nicht kennen. Fragen wir nur diese 3000 Leser, wie ihnen das Buch zusagt; die Hälfte wird antworten: Wir warten ab, die andere Hälfte: Wir fallen ab! Wie Viele leiden im Stillen, sie nagen sich mühsam von einem Abschnitte zum andern durch, sie legen das Buch verzweifelt hinweg und nehmen es hoffnungslos wieder vor; denn durch müssen sie kommen, gelesen muß es werden! Es sind die wahrhaft schönen Seelen der Literatur, ihnen ist es nicht um den Genuß zu thun, nur um die Pflichterfüllung. Dreitausend edle Seelen lesen so aus Pflichtgefühl und in der Hoffnung, für ihre Leiden in den nächsten sechs Bänden Lohn und Ersatz zu finden! Vergebliches Opfer! Sie finden den Lohn nicht, sie können ihn nie finden, denn Schücking sagt es selbst: „Leistungen der Art werden vom großen Haufen nicht gewürdigt. Der Geist muß sich daran gewöhnt haben, das Leben mit einer gewissen kontemplativen Weisheit zu betrachten, mit einer vollgereiften Bildung, sonst irritiren ihn diese Lebensbilder, die ihm zumuthen, dem natürlichen Wachsthum seiner Welt- und Menschenerfahrung um viele Jahre vorauszueilen. Daher erklärt sich vielleicht die Aufnahme, welche Gutzkow’s Zauberer bei der Kritik findet“… Hieraus ergibt sich Folgendes: entweder der große Haufen ist das unglückliche Opfer des Gutzkow’schen Rufes oder dreitausend Leser sind lauter Greise. Mir und den andern Böswilligen ist in keinem Falle zu helfen, uns fehlt die kontemplative Weisheit, uns irritiren diese Lebensbilder, sie eilen unseren Erfahrungen [44] voraus: wir gehören also zur Kritik oder zum großen Haufen und beide stehen auf derselben Stufe der Unfähigkeit. Nur wissen wir nicht, wohin eigentlich Levin Schücking gehört, der kritische Ordinarius des Familienbuches?

Noch wüthender geberdet sich eine Rezension in den Blättern für literar. Unterhaltung. Sie erhebt den Zauberer von Rom maßlos, obgleich erst die besprochenen drei Bände vorliegen, erklärt es aber für sehr anmaßend ihn zu tadeln, weil erst drei Bände da sind. Das Lob ist übrigens nur konsequent, Rudolf Gottschall, der Verfasser dieser Kritik, kann seinen Klassiker nicht fallen lassen, den er in seiner Poetik (einem übrigens ganz vorzüglichen Buche) zu den „ersten Nachtretern“ unserer größten Dichter zählt. Eine absprechende Beurtheilung des Werkes in den „Grenzboten“ bringt ihn, der sonst nicht so kriegerisch gestimmt ist, zu der herausfordernden Aeußerung: Noch eine solche Kritik wie die über den Zauberer von Rom und das ganze Publikum wird mit Indignation das testimonium paupertatis akzeptiren, das sich eine einseitige, gehässige, allen poetischen Verständnisses bare Kritik ausstellt. Dieß ist mehr als Kriegserklärung, es ist Empörung im „eigenen Heerlager“! Und dieß führt endlich dahin, daß sich die Kritik selbst aufreibt zur großen Freude der Autoren, die diesem häuslichen Vernichtungskampfe mit dem erhebenden Gefühle zusehen, daß, wenn ein Kritiker den andern niedergeschlagen hat, sie dann ohne Aufsicht sind und schreiben können was ihnen beliebt. Allerdings war der Ausspruch der „Grenzboten“ mehr witzig als zart, aber die Indignation des Publikums war doch nicht so aufregender und gefährlicher Natur, daß zahlreiche Unterschriften unter jenem Armuthszeugnisse der [45] Kritik zu erwarten wären. Der Abscheu gegen die feindliche Demonstration der „Grenzboten“ war doch etwas gemildert durch die schlagende Wahrheit jenes unzarten Witzes, oder durch den Gedanken, daß diesem Zauberer, der uns seine Künste so langweilig produzirt, eine kleine Ermunterung nicht schaden könne. Unter solchen Umständen hat sich schwerlich Jemand von Gottschall verleiten lassen, unverständliche Phrasen als „klassischen Lapidarstil“ zu bewundern, eine nüchterne, studirte Komik für die Himmelsgabe des Humors zu halten und mit der Gemeinheit als berechtigtem Realismus zu verkehren. Es ist nämlich auch hier noch die Rede von dem „Halbgeschöpf von Feuer und Wasser“, von der wunderbaren Lucinde, die zwar „Rasse hat“, wie die Offiziere in Hamburg von ihr sagen (was die verehrende Rezension noch besonders hervorhebt), die aber doch wahrhaft abstoßend auf jeden Leser wirkt, nicht durch ihre moralische, sondern durch ihre ästhetische Schlechtigkeit.

Wenn auch Gottschall es wagt, dabei auf Göthe und namentlich auf dessen Philine hinzuweisen, so braucht man dieser Verirrung nur zu erwähnen, damit sie sich selbst richte. Gerade Philine ist der richtige Maßstab für den Abstand Beider. So tief Lucinde unter Philinen steht, so weit entfernt ist Gutzkow von Göthe. Philine ist das lebendige, warmblütige Geschöpf eines großen Dichters, Lucinde der blasse lebensarme Tendenz-Schatten eines geistreichen Schriftstellers. Was endlich den Stil des „Zauberers“ betrifft, so ist es schon weit gekommen, wenn man es der „Sorglosigkeit“ (soll heißen: der Dummheit) „des Lesepublikums“ und der „Böswilligkeit parteiischer Kritiker“ aufbürdet, daß diese stilistische Kunst nicht gewürdigt wird. Es ist fatal wenn sich die Kritik gegen einen Autor verschwört, [46] um so fataler weil die Verschwörung unmöglich ist ohne geheime Theilnahme des Publikums (so sehr es auch nach Außen sich den Schein der Zufriedenheit gebe); das Schlimmste aber was dem Autor widerfahren kann, ist der übermäßige Eifer seiner Freunde, die ihn damit vertheidigen, daß sie das Publikum der Unwissenheit, die Kritik der Bosheit beschuldigen. Dieß ist ein Mißgriff, der die Niederlage proklamirt und künftige Siege erschwert.

Nun meint aber Gottschall: „In Deutschland muß jeder Autor mit jedem Werke wieder neu anfangen, er bedarf immer wieder einer neuen Legitimation. Wohlerworbener Ruhm gilt gar nichts, und wird von der tonangebenden Kritik ignorirt oder in die Pfanne gehauen.“ Kommt dieß etwa nur in Deutschland vor, es ist überall so, weil es natürlich und berechtigt ist. Wird etwa Lamartine von der Pariser Kritik noch gefeiert, seit er um Geld oberflächliche Dinge schreibt? Ist Bulwer’s mißlungener Roman Night and morning nicht vollständig durchgefallen, vom Publikum und der tonangebenden Kritik in die Pfanne gehauen worden?

Der wohlerworbene Ruhm hebt den Autor über die Tausende hinaus, die erst nach Beachtung ringen müssen: dieß ist sein verdienter Vortheil – allein man bringt auch Erwartungen mit, die befriedigt sein wollen, man ist nicht nachsichtig sondern anspruchsvoll gestimmt: dieß ist sein ehrenvoller Nachtheil. Der erworbene Ruhm ist kein Privilegium für die Indolenz des Autors, der berühmte Autor hat sich keine Sinekure erschrieben, die ihn jeder weiteren Anstrengung enthebt. Will er von den Zinsen seines Ruhmes leben, so muß er sich von der Produktion [47] zurückziehen und auf seinen Lorbeern ausruhen – will er das Kapital vermehren, so muß er streben seines Rufes würdig zu bleiben. Es ist die auszeichnende Stellung jedes Produzenten, daß er Alles was er gilt, nur dem verdankt was er leistet. Dieß stete Fordern könnte nur den Schwachen erdrücken, den Starken erhebt es, sonst würde bei keinem Autor auf ein großes Geisteswerk ein anderes von Bedeutung folgen.

Die „tonangebende Kritik“ aber spielt hier immer nur die Rolle, welche der Presse überhaupt zukommt; sie kann nur der Ausdruck der öffentlichen Meinung sein. So wenig es ihr gelingen wird, durch die feinsten Bemerkungen dem Gehaltlosen Werth zu verleihen, so wenig wird es ihr möglich sein, durch den gröbsten Tadel den Erfolg zu hintertreiben, den eine wahrhaft gehaltreiche und geniale Dichtung erringen muß.

Aber der Maßstab dieses Erfolges ist nicht die Zahl der abgesetzten Exemplare – sondern die allgemeine, unverfälschte, begeisterte Zustimmung der Mitlebenden.

2. Franz Dingelstedt: Gutzkows Zauberer von Rom. Eine kritische Reisenovelle, 1.-8. Januar 1862#

Franz Dingelstedt: Gutzkows Zauberer von Rom. Eine kritische Reisenovelle. In: Morgenblatt für gebildete Leser. Stuttgart. Nr. 1, 1. Januar 1862, S. 6-12; Nr. 2, 8. Januar 1862, S. 25-30. (Rasch 14/34.62.01.01)

I.

Es war einer jener unerbittlich heißen Hochsommermorgen, mit denen am Himmel die Tage von dreißig Grad Reaumur im Schatten, auf Erden die Leihbibliothekromane unter dem Gefrierpunkt zu beginnen pflegen, als sich im Bahnhof zu Prag der Wiener Frühzug, gemächlich und gemessen, wie es einer „Staatsbahn“ ziemt, ordnete. Die Reisenden hatten mit christlich-germanischer Geduld die vorschriftsmäßigen drei Feuerproben ihrer Aufnahme bestanden: die erste vor dem verschlossenen Schiebfensterlein des „Kassa-Biamten,“

Bis der Liebliche sich zeigte,

Bis das „theure“ Bild

Sich durch’s Gitter niederneigte,

Ruhig, engelmild;

die zweite an den nicht minder verrammelten Pforten der mit Fug und Recht also benamseten Wartesäle; die dritte vor den Wagenthüren, die nur der magische Schlüssel eines Hermes Trismegistos, des Condukteurs, aufzusperren vermag. Endlich, endlich schien Alles „fertig,“ sogar der Kaffee des Herrn Oberzugführers; sein Horn ertönte, das Armesünderglöcklein läutete den zu zwölfstündiger Zellenhaft verurtheilten Verbrechern, die Lokomotive pfiff sie verdientermaßen hohnlachend aus, – und dahin schnob, flog, stürmte der aus sechsundzwanzig Riesengliedern zusammengekettete Eisendrache, zum Bahnhof hinaus, durch die Vorstadt hindurch, über Viadukte, unter Brücken hinweg, in’s Weite, Blaue hinweg, die ächte Signatur unserer so frei sich wähnenden und doch ehern geknechteten, so rasch fortdrängenden, aber überall „zu spät“ kommenden Zeit.

In einem Coupé für Nichtraucher hatte sich folgendes Vierkleeblatt bunt zusammengefunden: erstlich ein schwarzer Herr in hohen Stiefeln und violetter Halsbinde, mit einem blitzenden Fischerring am Finger, mindestens ein Prälat, vielleicht ein Bischof; zweitens ein grauer Herr, grau von Haar und Paletot, der ein Luftkissen und ein Wasserbäuchlein mitschleppte, welches letztere Teplitz oder Karlsbad weniger erleichtert hatte, als das Portefeuille des Inhabers; drittens ein grünes Fräulein, vom Papa, der die Morgencigarre nicht entbehren konnte, unter den Schutz des geistlichen Herrn gestellt; viertens der unschuldig und sommerlich weiße Erzähler gegenwärtiger Reisenovelle.

Wir waren noch nicht über die neue Kirche in der Vorstadt Karolinenthal hinaus, als wir uns schon, nach einer verstohlenen, stummen Recognoscirung, in ein harmonisches Reiseterzett verstrickt sahen. In Oesterreich thut sich das halt nicht anders. Der Tourist kann durch die gesammte preußische Monarchie, mit Annexen und Annectenden, dampfen, ohne mit den Gefährten mehr als ein militärisches Salutiren beim Ein- oder Austritt zu wechseln. Nicht so innerhalb der schwarzgelben Grenzlinie; da muß die dritte Klasse ihren Plausch, I. und II. ihren Dischkurs haben. Ländlich, [7] sittlich. Der unsere begann mit den Kurialien jedes Eisenbahngesprächs: Wetter, Ernte, Badesaison, Valutajammer, Typhus- und Photographienepidemie, Theurung der Wirthshausrechnung (zu deutsch: Hotelnote), und was dergleichen ausgiebige Stoffe mehr sind. Die kleine Reisegefährtin, welche bescheidentlich nicht einstimmte, zog, um sich eine Haltung und ein Ansehen zu geben, aus der Stramintasche ein Buch hervor, roth eingebunden, mit gelbem Schnitt, auf dessen Deckel in eingermaßen schiefen und ehemals vergoldeten Lettern zu lesen stand: „K. K. priv. Musterschule.“ Mit beichtväterlicher Vertraulichkeit fahndete der geistliche Herr auf den Titel der Pensionatslektüre, die sich als die Beatushöhle des wackern Schmid ergab, ein bei der afrikanischen Hitze ungemein empfehlenswerther Aufenthalt; es war eine Schulprämie, die aber nicht die Lesende selbst, sondern „eine Freundin zu ihr“ verdient und ihr „auf die Reis’ zu leihen gegeben hatte.“ Da bekanntlich nichts ansteckender wirkt, als Lesen und Gähnen, war alsbald sowohl der schwarze wie der graue Herr hinter einem Prager Morgenblatt verschwunden, so daß meiner Wenigkeit nichts übrig blieb, als ebenfalls in eine Beatushöhle zu kriechen. Der „Zauberer von Rom“ führte, noch schneller als die Eisenbahn, in seinem siebenten Band, sechsten Buch, mich nach Wien.

Mein geistliches Gegenüber, das bei der ersten Station bereits erkannt hatte, welch wunderthätiger Magus aus den Tiefen meines Nachtsackes emporgestiegen war, bemerkte, daß ich vor zwanzig Jahren dergleichen Contrebande noch nicht so offen hätte bei mir führen dürfen; die Mauth zu Bodenbach würde kurzer Hand alle neun Bände confiscirt haben. Worauf sein weltlicher Nachbar erwiederte: „Doch nur, um sie Ihnen beim Austritt aus Oesterreich wieder zuzustellen oder gar erga schedam dienstfertig nach Wien nachzuschicken.“ Denn das vormärzliche Oesterreich, meinte er, consumirte und goutirte solche Werke so gut, vielleicht besser als das heutige, nur nicht auf dem Markt, sondern im Kabinet des Kenners.

Dieser Rückblick führte zu einem Excurs über den Fortschritt im Allgemeinen, über den österreichischen insbesondere; worauf der geistliche Herr, den der Zauberer im gleichen Grade anzuziehen wie abzustoßen schien, einlenkend weiter fragte, ob ich wirklich bis zum siebenten Bande „fortgeschritten“ sey? – „Ich habe,“ war meine Antwort, „die einzelnen Bände bei ihrer Erscheinung statarisch gelesen und wiederholte jetzt cursorisch das Ganze.“

„Eine Arbeit, worin es wenige Leser Ihnen gleich thun dürften. Nach eigener und fremder Erfahrung pflegt es so umfangreichen Werken zu ergehen wie unserer Eisenbahnfahrt: auf jeder Station steigt eine Anzahl Passagiere aus; von den Tausenden, die den ersten Band angefangen, langen vielleicht nur eben so viele Hunderte im neunten an. Das ist in unserem Fall, abgesehen von dem Inhalt und dem Werth des Buches, die Folge seiner Erscheinungsweise, die mir wider die Natur und wider die Kunst zu gehen scheint. Ich begreife einen Feuilletonroman, der durch zwei, drei Jahrgänge einer Zeitung geht; der Leser erhält und verdaut da täglich seine Portion, und wenn die Gänge einander auch langsam folgen, so hängt doch die Mahlzeit immer als ein Ganzes zusammen und kann als solches genossen werden. Wie wäre das möglich bei einem Werke, das durch drei Jahre in viermonatlichen Pausen herauskommt? Dabei verliert der aufmerksamste, ausdauerndste Leser den Faden; jede Composition, auch die einfachste, verwirrt sich, so weit ausgesponnen, so oft abgerissen.“

Der weltliche Herr hatte nicht übel Lust beizupflichten; er protestirte gegen den Umfang an sich, indem er sprach: „Es ist ein verbreiteter und charakteristischer Irrthum unserer Zeit, daß die Größe der Dimensionen an sich schon eine Schönheit der Form sey. Unsere Baumeister glauben Wunder was zu leisten, wenn sie unabsehbare Fronten hinstellen, mit einer Unzahl von Fenstern, von denen eines ausschaut wie das andere. Die Historienbilder werden gewissermaßen an der Elle gemessen: je mehr Leinwand, desto näher an Raphael. Und die neumodischen Opern gar! Welcher Sänger, welcher Zuhörer hält sie aus? Alle Kunst will heutzutage durch die Masse, will auf die Masse wirken. Meines Erachtens eine verkehrte Absicht, die nicht außer Zusammenhang stehen mag mit der Großmannssucht, vielleicht gar mit der Großstaatssucht unserer Zeit. Die Kunst bedingt aber ein gewisses Maß. Was darüber ist, ist vom Uebel. Einen neunbändigen Roman statuirt sie so wenig wie ein fünfzehnaktiges Trauerspiel oder ein Haus in neun Stockwerken. Ein solches kann ein Zuchthaus seyn, aber kein Kunstwerk. Wie wollen sie am neunten Stock die Zierrathen noch erkennen? Wie soll der Architekt nicht selbst im Plan irre werden? Nein, nein; der Thurm von Babel hatte keine Oekonomie, und alle Kolosse der alten und neuen Welt, von dem zu Rhodos an bis zu jenem auf der Theresienwiese, haben weniger Ausdruck und machen weniger Eindruck als die kleine Medicäerin in der Rotonde der Ufficien.“

Meine Replik auf diesen Angriff von zwei Seiten führte zuerst Beispiele gleich „langer“ Romane aus der Vergangenheit und Gegenwart an: Richardsons Clarissa. [8] „Ein didaktisches Werk,“ duplicirte man, „ein moralischer Tendenzroman, bei welchem die Kunstform zufällige Nebensache.“ – „Consuelo von der Sand, Balsamo oder die drei Mousquetaires von Dumas, die ihren vielverwickelten Faden durch drei Menschenalter fortspinnen.“ – „Jedoch mit Gliederung des Stoffes in bestimmte Abtheilungen, wie es Goethe in den Lehr- und Wanderjahren gleichfalls gethan.“ – „Die humoristischen Romane der Engländer aus dem vorigen wie aus dem jetzigen Jahrhundert.“ – „Sie besitzen einen festen Mittelpunkt in ihrem einzelnen, einzigen Helden, der obendrein in eigener Person, mit dem großen I der Engländer zu erzählen pflegt, so daß der Leser an diesem durchgehenden Faden den Zusammenhang niemals verliert.“

„Wenn nun aber,“ rief ich endlich aus, mit dem Wetter draußen wärmer werdend, „wenn nun die umfangreiche Form unseres Zauberers weder Nachahmung auswärtiger Muster, noch unwesentliche Aeußerlichkeit überhaupt wäre, sondern eine nothwendige Folge des Stoffes, oder ein Kennzeichen des modernen Romans? In der Vorrede zu den „Rittern vom Geiste,“ die wir doch wohl als Zwilling des Zauberers betrachten dürfen, hat es der Verfasser ausgesprochen, daß er von dem französischen Feuilletonroman in vier Abtheilungen und zwölf Bänden nicht die Form seiner Romane borgt, wohl aber den Muth, mit einer so umfangreichen Offenbarung seines innersten Wesens vor das Publikum zu treten. Beachten wir das wohl! Denken wir uns einen Schriftsteller, der seit einem Menschenalter an allen geistigen Kämpfen des Jahrhunderts theilnimmt, nicht leidend allein, auch handelnd, nicht von einem festen Mittelpunkt aus, sondern von einer Stellung in die andere, aus einem Wohnort in den andern, von einem Feld der Thätigkeit auf das andere gedrängt! Wie muß der ganze, volle, bewegte Inhalt des Lebens auf eine ebenso reizbare, wie fruchtbare Natur einwirken! Die Masse von Thatsachen, in deren Mitte sie steht, der Wechsel und die Bewegung, von welchen sie fortgerissen wird, welche „Fülle der Gesichte“ mag sie erwecken! Sich ihrer zu entäußern, genügt die knappe, straffe Form des regelrecht geschlossenen Kunstwerks dem schaffenden Dichtergeiste ebenso wenig, wie seinem Vor- und Urbilde, dem schaffenden Weltgeiste, die überlieferten Formen des Staats, der Gesellschaft. So bleibt ihm nur eine Alternative: entweder er zersplittert, er verflüchtigt sich, er geht im Moment auf; oder er sammelt sich und sucht einen, seine ganze Weltanschauung, den ganzen Reichthum seiner Erfahrungen und Empfindungen umfassenden Ausdruck, der denn freilich in Umfang und Erscheinung so gut wie unbeschränkt seyn möchte. Jenes, das Zersplittern, thut die Mehrzahl unserer zeitgenössischen Schriftsteller, übereinstimmend mit dem allgemeinen Hang des Publikums. Wir essen nicht mehr, wir naschen nur noch. Wir trinken nicht, wie unsere Altvordern, ernsthafte, edle Weine vom Rhein oder aus Burgund, kaum noch Champagner, „das Bier der Franzosen“, wie der Zauberer sagt, sondern vorzugsweise Sodawasser oder Bier, das Opium der Deutschen. Dem entsprechend lesen wir auch nicht mehr, wir blättern. Daher die Herrschaft des Feuilletons: Feuilleton auf der Bühne, Couplets, Genrebilder, Tableaux, an Inhalt nicht schwerer, wie Ein Akt eines kunstgerechten Schauspiels, in Wirkung Einen Abend selten überdauernd; Feuilleton auf dem Büchermarkt, Zeitungen, Kalender, Magazine, die in jeder Nummer ein Ganzes bieten müssen, wo möglich illustrirt, damit Publikus weder seine Denkfähigkeit, noch seine Einbildungskraft anzustrengen braucht. Nicht wahr, wenn inmitten solcher Bagatellenliteratur und ächten Vanityfair-Wirthschaft eine Muse sich einmal Muße nimmt, wenn ein Schriftsteller sich selbst Gewalt anthut, indem er, und das zum zweitenmale, zu einem Kunstwerke sich sammelt, das über alles herkömmliche Maß hinausgreift, so zeugt diese Erscheinung an und für sich schon von ungewöhnlicher Kraft, und solch ein gesammeltes, ununterbrochenes Schreiben begründet doch zum allerwenigsten einen Anspruch auf ein gleich gesammeltes, ununterbrochenes Lesen?“

„Zudem: wir leben in einer Epoche, welche Weltgeschichte macht, nicht, wie einst, feines Handgespinnst „am sausenden Webstuhl der Zeit,“ sondern Fabrik- und Maschinenwaare, en gros, mit Dampf, auf dem Telegraphendraht. Ungeheure Massen sind im Fluß, dämonische Kräfte in Bewegung. Kriege werden geführt mit so vielen Tausenden, wie ehedem Hunderten, und doch geschlossen in sieben Monaten, während sie sonst sieben Jahre dauerten.“ – „Aechte Siebenmonatskriege,“ lächelte, in Parenthese, der graue Herr. – „Die Karte von Europa verändert sich im Handumdrehen.“ – „Dank dem volteschlagenden Zauberer von Paris.“ – „Versuch’ es einmal ein Schriftsteller, den Eindrücken solcher Persönlichkeiten und Ereignisse das Gleichgewicht zu halten durch Novellen und Erzählungen der guten alten Zeit! Mitten in der Windstille der Restaurationsepoche mochte ein Dichterleben auf- und ausblühen in einem einzigen Liederfrühling, einem zarten Novellenstrauß. Aber gegenwärtig erschrecken Hoffmann’sche Gespenster niemanden mehr, ergötzen die Kapriolen der Romantiker niemanden mehr. Wir sind ketzerisch genug, zu behaupten, daß sogar den glücklichen, goldenen Classikern unsere Zeit an Inhalt und Bedeutung über [9] den Kopf gewachsen ist, mögen sie in Fragen des Talents, der Form, der Kunst auch noch so hoch über den Epigonen stehen. Die Gegenwart hat Stoffe, Bewegungen, Richtungen in sich aufgenommen, von denen an dem klaren Horizont unserer classischen Literatur noch keine Ahnung dämmerte, die aber mit unabweislicher Gewalt in den stillen Frieden unseres Kunstlebens hereingebrochen sind und uns auf andere Bahnen, zu höheren, – ja doch zu höheren Zielen treiben.“

„Darüber kommen die alten Regeln, die überlieferten Formen abhanden, unter der Hand abhanden. Daß dieß in allen Kunstgebieten zugleich geschieht, beweist für die innere Nothwendigkeit der Erscheinung. Oder wären die Wandgemälde im Berliner Museum, die „großen“ Opern, welche jetzt aus Deutschland nach Frankreich wandern, also auf umgekehrtem Wege wie sonst, – wäre diese so vielgeschmähte Programmenmusik und Welthistorienmalerei nicht Geschwisterkind mit den Rittern vom Geist, dem Zauberer von Rom? Kann doch selbst die keuscheste und strengste aller Künste, die Bildhauerkunst, in den alten Schranken sich und andern nicht mehr genügen: sie muß Gruppen bilden, Reliefs häufen, um das Zeitalter der Reformation darzustellen, indeß ihre Schwester, die Baukunst, über Nacht, aus dem sprödesten und farblosesten Material, aus Eisen und Glas, Paläste zaubert und fertige Gärten mitten im Winter improvisirt. In diesem Zuge und Drange auf das Volle, Große, Ganze geht die freieste aller Künste, die Dichtkunst, in ihr wiederum die freieste Form, die epische, bahnbrechend voran, so daß der moderne Roman, wenn er die heilige Dreizahl der Bände überschwellend verläßt, äußerlich nicht mehr und nicht weniger thut, als was das romantische Drama innerlich gethan, da es die drei Einheiten des Vater Aristoteles über den Haufen geworfen.“

II.

In Pardubitz wurden „zehn Minuten Aufenthalt“ kommandirt. Alsbald stürzte ein Theil der Freigelassenen nach jenen stillen Zufluchtsorten reisender Menschheit, welche das obrigkeitliche Zartgefühl so versteckt und so abgelegen wie möglich anzubringen pflegt, augenscheinlich nur, um durch allseitiges Fragen, Rennen, Drängen auch auf diesem Gebiete modernen Lebens eine angemessene Oeffentlichkeit zu erzielen. Ein anderer Theil, abgehärmte und verschmitzte Physiognomien, die dem berühmten Gefangenenchor in Fidelio Ehre gemacht haben würden, ergoß sich in die gastlich offenen Pforten des „Bahnhofrestaurants.“ Unserem Coupé war ein gemüthlicheres Loos beschieden. Ein Diener in discreter Reiselivrée entwickelte vor dem grauen Herrn, der sich bei dieser Gelegenheit als eine Excellenz demaskiren lassen mußte, aus einem zierlich geflochtenen Handkorbe ein „Dejeuner,“ das sich sowohl dem Inhalt nach – kaltes Geflügel, Sandwichs, eingemachte Früchte – wie in der Form feinster Damastservietten, silberner Becher und Bestecke mit Wappen, der appetitlichen Feder unseres Freundes Hackländer würdig erwies. Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten theilte davon in gastfreier Nöthigung mit; mir bot er das erste Rephuhn des Jahrs, allerdings noch in dem bescheidenen Format einer Leipziger Meßlerche, und bemerkte dazu, daß wir über den Zauberer von Rom manches Hühnlein zu pflücken haben würden, weßhalb eine vorläufige Herzstärkung um so angezeigter erschiene, als das officielle Mittagsmahl in Böhmisch-Trübau mehr dem wehmüthigen Namen dieser Station als dem culturhistorischen Standpunkte internationaler Kochkunst entspräche.

Mit dem Zuge setzte sich denn auch unsere Kritik wieder in Bewegung. Der Prälat eröffnete ihren zweiten Gang mit dem Geständniß, daß der Zauberer von Rom wohl in allen Kloster- und Stiftsbibliotheken Zutritt gefunden und unter seinen Standesgenossen überall Aufmerksamkeit, stellenweise Zustimmung, häufiger aber leidenschaftlichen Widerspruch erweckt hätte; ein Resultat, das die graue Excellenz kurzweg der Tendenz des Werkes zuschrieb.

„Der Zauberer von Rom,“ sagte er, „ist ein Tendenzroman.“ – Ich versuchte zuvörderst über diese oft gebrauchte, nicht selten mißbrauchte Bezeichnung eine Verständigung einzuleiten. „Was ist Tendenzpoesie? Doch wohl, schlicht erklärt, eine solche, die innerhalb und mittelst eines Kunstwerkes Zwecke verfolgt, welche außerhalb desselben gelegen sind. Diese Art von Tendenzpoesie erscheint und verschwindet überall mit der Censur, deren natürliche Tochter sie ist. Gegenwärtig macht Frankreich in diesem Artikel. Seine Guizots donnern gegen Tiberius oder Cromwell, während ihre Witze den zweiten December treffen möchten. Das ist tendenziöse Beredtsamkeit. Herr Augier deklamirt auf dem Théâtre français: „Le despotisme seul féconde le chaos,“ und meint mit diesem verherrlichenden Alexandriner wiederum den zweiten December, obgleich er unter Adresse des Cardinals Richelieu ausgegeben wird. Das ist tendenziöse Dramatik. Solcherlei Poesie der Anspielung, der Phrase, der Controverse für und wider dürfen wir bei uns als „überwundenen Standpunkt,“ als eine, ihrer Zeit sehr nützliche, sogar sehr nothwendige, aber glücklicherweise hinter uns liegende Uebergangsphase betrachten. Die [10] deutsche Dichtkunst ist realistisch geworden, wie mehr oder weniger jede Kunst; sie strebt dem historischen Style zu. Die Zwangsjacke der Tendenz aber hat sie verwachsen.“

„Tendenz in diesem alten Sinn macht auch der Zauberer von Rom nicht; weder positiv: Propaganda für Protestantismus und Germanenthum (beide selbst sind in der Wirklichkeit im Propagandamachen nicht geschickt und nicht glücklich); noch negativ: Opposition gegen Hierarchie und Römerthum. Er behandelt eine offene Tagesfrage, die brennendste unter allen, die römische; allein er thut dieß nicht tendenziös gebunden, sondern dichterisch frei, nicht für den einen oder den andern, fremden Zweck, sondern nur für seinen eigenen, künstlerischen. Lösen will und kann er die Frage nicht, weder theoretisch, noch praktisch; am Ende haben jenes die Flugschriften, dieses die rothen Hosen der Franzosen bis jetzt auch nur gewollt, nicht gekonnt. Aufrichtig gesagt, wir zweifeln, ob die weißen Röcke der Oesterreicher glücklicher seyn, ja, ob die preußische Pickelhaube auf dem Capitol die richtige Pointe einer so überaus spitzigen Frage bilden, und das um den Fels Petri stürmende Meer der Kirche sich besänftigen würde, wenn über Nacht der heilige Vater in einem Generalsuperintendenten oder Oberconsistorialrathsvicepräsidenten aufginge. Aber, wie gesagt, nach dergleichen Zielen strebt auch der Zauberer von Rom nicht, so wenig wie sein Berliner College. Allerdings hat er eine bestimmte Aufgabe, Richtung und Parteistellung (der Zauberer von Rom, mein’ ich), und wenn das unter dem Namen Tendenzpoesie begriffen werden soll, so wird er sich diesem nicht nur nicht entziehen können, vielmehr eingestehen müssen, daß er ein protestantisches, nach alter Kategorie ein „welfisches“ Werk ist, – wie Dante’s großes Heldengedicht ein katholisches, ghibellinisches gewesen.“

„Worin besteht aber diese Aufgabe, diese Richtung?“

„Die „Ritter vom Geist“ kämpften, wenn sich der Sinn eines neunbändigen Romans in zwei Worten ausziehen läßt, gegen die romantische Politik. Parallel damit stellt sich der Zauberer das Thema: Deutschland, ein Opfer Roms. Wobei ein absonderlicher Zusammenhang, meinethalben nur ein Zusammentreffen von Wahrheit und Dichtung beobachtet werden mag: die Ritter vom Geist erschienen 1850 und 1851, nicht lange Zeit vor dem Untergang jener romantischen Politik; der Zauberer von Rom begann im Herbst 1858, also ganz kurz vor den Entwicklungen oder Verwicklungen in Italien. Beide Romane sind Akte einer culturhistorischen Polemik, der es als kennzeichnendes Verdienst nachgerühmt werden muß, daß der Verfasser, obgleich er seinen eigenen Standpunkt wahrnimmt und bezeichnet, doch dem Gegner in allen Stücken gerecht wird, die er zu dessen Gunsten anzuführen weiß, ja daß er seine Polemik erst auf die vorangegangenen Zugeständnisse an den Gegner baut.“

„Niemand wird läugnen, daß die Ritter vom Geist mit Anstand, schier mit Sympathie und Pietät gegen Sanssouci zu Felde zogen. Gerade so der Römerzug des Zauberers. Ein Tendenzroman, ein Tendenzdrama von grobem Schrot und Korn (wir haben deren genug) packt plumpweg den Katholicismus als gleichbedeutend mit Jesuitismus an und stellt in diesem wiederum eine Vogelscheuche in schwarzer Kutte hin, mit Ketten rasselnd, mit dem Dolch drohend, von Blut triefend, Gift schwitzend. Siehe unter andern Meister Sue’s ewigen Juden. Wie ganz anders unser Zauberer! Er schildert die ultramontane Welt, wie sie ist, schildert sie selbst in idealem Lichte, wie sie werden kann, wenn sie aus sich selbst heraus sich bessert, keineswegs schattirt durch Germanenthum und Protestantismus, noch weniger in der grellen Beleuchtung confessioneller oder politischer Vorurtheile. Der Dichter treibt sogar seine (ächt deutsche) Unparteilichkeit so weit, daß, wo er nicht umhin kann, Rom im Gegensatze mit dem „großen nordischen Reiche“ darzustellen, er als Träger der Staatsidee, des Preußenthums der dreißiger Jahre, nur Land- und Regierungsräthe, nur den Gendarmen von Jüterbogk aufzubringen weiß, subalterne Geister, denen gegenüber die römische Seite in dem verführerischen Farbenspiele schöner Frauenbilder und idealer Priestergestalten schillert. Wenig fehlt, so kann die Apostaten- und Convertitenriecherei einer hohen Literaturpolizei, dieser würdige Rückschlag vormaliger Demagogenriecherei, in Gutzkow, so sorgfältig er seinen persönlichen Standpunkt, den an der Kirchenthüre zu Wittenberg, festzuhalten sucht, einen Kryptokatholiken wittern: so tief ruht auf vielen Partien seines Gemäldes der katholische, romantische Duft, so heiß weht uns aus den römischen Nächten die südlich, sinnlich lockende Luft entgegen, so geheimnißvoll klingt aus Paulas und Armgarts Seelenleben die Poesie der Gebundenheit, des Auctoritätsglaubens, des geheiligten Willens. Nur an seltenen Stellen bricht, gleichsam eine unwillkürliche Dissonanz, aus der vorherrschenden Grundstimmung, worein das Buch gesetzt ist, des Verfassers eigener Ton hervor; aber auch da nicht als starre lutherische Negation, noch weniger als frivole Ironie im Tone Voltaires, nein, aus dem Geiste reiner Humanität, aus dem eigenen Heilbedürfniß der katholischen Kirche, also aus dem Rüstzeug des neunzehnten Jahrhunderts, werden die Waffen geholt, mir denen Rom bekämpft werden [11] soll. Was über Ohrenbeichte, Mischehe, Priestergelübde, Klosterleben, Jesuitentreiben im Zauberer gesagt wird, ist unzweifelhaft vielen Katholiken, und nicht den schlechtesten unter ihnen, aus der Seele geschrieben.“

„Von dieser Seite, der culturhistorischen, betrachtet, erscheint uns also der Zauberer von Rom wie ein freies, lebendiges, gestalten- und farbenreiches Panorama der großen Schlacht, welche Jahrhunderte lang in der Luft, mit geistigen Waffen, geschlagen worden, und die gegenwärtig vor unsern eigenen, sehenden Augen mit materiellen Waffen auf Erden weiter gekämpft wird. Ob ausgekämpft? wann und wie ausgekämpft? Die Geschichte ist uns auf diese Frage die Antwort bisher schuldig geblieben, so daß wir es dem Dichter nicht verargen dürfen, wenn auch er, statt thatsächlicher Vermittlung der großen, Welt und Zeit bewegenden Gegensätze, statt eines sogenannt befriedigenden Endes, nur einen perspektivischen, allegorischen Abschluß zu bieten vermag. Allerdings spielt dieser Abschluß, das neunte Buch, Anno 18??, wiederum in der Luft. Allein können wir über diese Vision oder Allegorie, über den letzten Papst, mit Recht lächeln, Angesichts der Dinge, welche sich auf dem Schauplatz des Romans, romanhafter als dessen kühnste Fictionen, bereits erfüllt haben und allstündlich erfüllen? Liegen nicht zwei der drei Völkerheere, welche der Dichter in der Campagna erblickt, das fränkische und das italische, in der That vor den Thoren Roms, bereit, die große „Abstimmung“ vor sich gehen zu lassen, während das dritte Heer, das austrogermanische, nur „wegen plötzlich eingetretener Hindernisse“ daheim geblieben? Die Linien der Wahrheit und der Dichtung verschwimmen hier in der That so wunderlich in einander, daß das neunte Buch unseres Zauberers uns vorkommt wie eine Kuppel, ein goldenes Kreuz, eine Strahlenglorie, dergleichen die Baumeister auf die höchsten Thürme zu setzen pflegen, ebenfalls um einen „Abschluß“ zu finden. In nebelhaften Morgen- oder Abendstunden scheint dieser „Abschluß“ in der Luft zu schweben; man erkennt das Ende des Thurmes nicht, nur einen lichten Punkt über demselben, in der Höhe, in Wolken. Plötzlich zerreißen diese, und siehe da, die Verbindung ist hergestellt, das Kreuz ruht fest auf dem Thurme. Dann haben sich die Zeiten erfüllt.“

„Neben der culturhistorischen Seite hat der Zauberer von Rom auch eine nationale. Er erscheint uns, abgesehen von dem berechtigenden à propos seines Auftretens, wie das so zu sagen internationale Produkt einer in Natur und Geschichte tief begründeten, fruchtbaren, unauflöslichen Wahlverwandtschaft zwischen Römerthum und Deutschthum. Seit unsere Altvordern, langhaarigen und bärenhäuterischen Angedenkens, auf ihren geflochtenen Schilden den jenseitigen Abhang der Alpen jählings hinunter rutschten, ist das ein stätes Hin und Her, Auf und Ab, Besuch und Gegenbesuch, Stoß und Gegenstoß zwischen beiden Völkern, ein ununterbrochener Wechsel von Ebbe und Fluth, worin der arbeitende Weltgeist seine tiefsten Athemzüge schöpft. Der Franzose kann uns knechten in Tracht, Sitte, Sprache; wir äffen ihn äußerlich nach, ohne daß innerer Zusammenhang zwischen ihm, dem nächsten Nachbarn und uns obwaltet: beim ersten besten Anstoß werfen wir sein Joch jauchzend ab. Besser – jedoch, trotz der gerühmten Stammverwandtschaft, nicht viel besser – stehen wir zum Briten; er schickt uns seine Rasirmesser, seine Lederfabrikate, gelegentlich einmal seine Macdonalds; aber über die Beziehungen eines Marktverkehrs, des Tauschhandels mit Waaren und mit Grobheiten, gelangen Deutschland und England selten hinaus.“

„Wie ganz anders Wälschland und Deutschland! Da wirken anziehend und abstoßend tiefe magnetische Kräfte; da lebt das Bewußtseyn innerer Zusammengehörigkeit bei äußerer Geschiedenheit, gegenseitigen Bedürfens und gemeinsamer Schicksale! Seit beinahe zwei Jahrtausenden senden sich beide Länder die Boten und Träger ihrer Gesittung zu, erobernd, lehrend, handeltreibend, Künste pflegend: eine lange, bunte Carawane von Kaisern, Feldherrn, Gesetzgebern, Priestern, Dichtern, Denkern, Tonkünstlern, Malern, Bildhauern, Steinmetzen. Unser Recht spricht römisch, unser Gebet lateinisch, unser Verkehr italienisch. Italien, die Madonna der Staatenfamilie Europas, trägt in ihrem Schooße die Stoffe aller deutschen Palingenesien. Hermann, liberator Germaniae, und Luther, reformator Germaniae, wo anders als in Rom haben sie ihr Schwert geschliffen, ihre Fackel angesteckt? Denn, obgleich das unsere Dramatiker noch nicht begriffen haben, nicht in den Morästen des Teutoburger Waldes steckt der Kern der Hermanntragödie, sondern in den Kaiserpalästen des Palatin, im Boudoir einer römischen Prinzessin oder Patrizierin, im Cabinet eines Augusteischen Staatskanzlers. Dort wurde, durch den Gegensatz, Hermann ein Deutscher, wie Luther, in den Mysterien des Vatikans ein Protestant, wie – ohne zu vergleichen – unsere Flüchtlinge erst in der Verbannung, an den Wasserbächen Babels, ihr heimisches Volksthum erkennen und lieben lernen. Deutschlands müde, Italiensüchtig, pilgern wir, einem überlieferten Herzweh folgend, über die Alpen. In dem Schatten der ersten Pinie umfängt uns der weiteste jener magischen Kreise, die sich immer enger, immer mächtiger um Hand und Fuß, um Auge und Ohr, Sinn und Geist schlingen, [12] bis zum großen, leuchtenden Mittelpunkt, der Kuppel von Sanct Peter. Schwache Seelen, Conradine, verlieren in diesem Banne Kopf und Krone, oder was sie sonst mitgebracht; die starken, die Helden, eben die Hermänner und Luther, oder auch die Goethe, die Mozart, die Cornelius kehren siegreich, gekrönt, verjüngend und verjüngt zurück. Das ist „der Zauber von Rom;“ ihn will der „Zauberer“ verkörpern, versinnlichen, verewigen, ihn, in seiner ganzen Herrlichkeit und Verderblichkeit. Schon um dieser nationalen Tendenz, um einer so hochgreifenden Aufgabe und Anlage willen ist das ein Werk, wie es wenige in der Literatur gibt, welches in der unsrigen seine Stelle behaupten, vielleicht die rechte erst einnehmen wird, wenn ihrerseits die Weltgeschichte ihr römisches Problem gelöst hat.“

[25] III.

Ueber böhmische Dörfer und Wälder waren wir denn mit Dampfeshülfe glücklich hinaus. Der Schmerzensschrei tschechischer Nationalität: „Wodu, wodu,“ zu deutsch, in singendem Tone: „Fri-schés Was-sér,“ fängt an reiner Schriftsprache Platz zu machen, als zum Exempel: „Schaff’n’s a Bier? Schaff’n’s an Kaffeh? Kipfel, Ribisel, Marüll’n!“ Die zahlreichen Bahnhöfe sehen aus wie fliegende Volksversammlungen, worin, sonntäglich aufgedonnert, ein Stamm den andern verdrängt. Auf die Enkel Primislavs und Libussa’s folgen die Mähren, vollberechtigte Erben ihres heiligen Swatopluk, als welcher sammt seinem selbstständigen Reiche, vor kaum eintausend Jahren, zu Zeiten Caroli Magni, einbalsamiret worden; es folgt hannakisches Landvolk, unstreitig noch zu großen Dingen in der Weltgeschichte berufen, da aus seiner Mitte die Ammen für das vornehme Wien beschrieben zu werden pflegen;*) folgen wahre Prachtexemplare von Slowaken, dieser biedern, immer noch an Draht gebundenen, in Mausefallen befangenen Nationalität; folgen walachische Sauhirten, mit und ohne die lieben Ihrigen, nicht alle dem „göttlichen“ Eumaios vergleichbar; folgen sogar Zigeuner in hellen, vielmehr in dunkeln Haufen, denen ihr selbstherrschender Stammesältester stolz voranschreitet, einen hohen, metallbeschlagenen Portiersstab in der braunen Hand, auch er das Urbild einer zum Rechtsbewußtseyn erwachenden historisch-politischen Individualität. Welcher fruchtbare, so zu sagen jungfräuliche Boden für den Kunstreiter auf dem ungesattelten Nationalitätsprincip! Freilich, ob für diese wandernden Söhne des Ostens, da die Zeit des geigenden Virtuosenthums vorbei, die Tuilerien nicht die geeignetste Stätte wären, als dasjenige Domicil unter Culturvölkern, das seit einem Jahrhundert am meisten nomadisch besessen worden?

Schon zeigten sich am Rande des Horizonts die Umrisse der ungarischen Höhenzüge, so unbestimmt und duftblau wie die Dinge hinter ihnen. Die Nähe Wiens wurde mit jeder Station deutlicher; es war als fühlte man den fiebernden Pulsschlag der Reichsmutterstadt, in deren Herzen das aus den erkaltenden Extremitäten [26] zurückgetretene Blut heiß und heftig zusammen strömt. Militärtransporte empfing und beförderte jeder Bahnhof, zumeist Urlauber, die ihre von der Sonne des Banats verbrannten Wangen an den Gletschern Tirols kühlen wollten, auch Gefangene in Ketten, Kranke, die sich aus den Sanitätswagen in den Waggon tragen ließen. Ein buntes Gewühl und Gewimmel. Endlich kam Musik zum Vorschein; ein ganzes Orchester wurde verladen, der ehrwürdige Rücken des Contrebasses mit Eisenbahnkarten über und über bedeckt. Nun wußten wir, daß Wien nimmer fern, wie der Seefahrer aus einem Zuge von Landvögeln auf die nahe Küste schließt. „Musik ist der erste Gruß in Oesterreich, auch in Wien.“

So las ich laut aus der Ouverture des siebenten Bandes, und lebhaft angeregt durch die schlagende Aehnlichkeit zwischen Original und Copie, theilte ich den Reisegefährten die schöne Hymne oder Elegie an Oesterreich ganz mit, die das sechste Buch einleitet, hierauf aus den folgenden Kapiteln eine und die andere Stelle, welche die alte, die „einzige Kaiserstadt“ abconterfeit.

Die Anschaulichkeit der Darstellung fand Beifall. Doch bemerkte unsere Excellenz, – in ästhetischen Dingen ein Feinschmecker, überhaupt ein Jünger Epikurs im besseren Sinne, gleich den meisten Resten des alten, noch halb und halb josephinischen Wien, – die Schreibart des Zauberers von Rom sey ungleich, das Buch lese sich für eine Unterhaltungsschrift nicht „leicht“ genug. Eine Aeußerung, die mir eher ein Lob, als eine Ausstellung schien. Die vielgepriesene Eigenschaft eines sogenannt fließenden Styls oder einer schönen Sprache schließt denn doch immer eine gewisse Seichtigkeit des Gedankens ein. Tiefe Anschauung und eigenartige Auffassung bedingt Schwere des Ausdrucks, die dem oberflächlich genießenden Leser immerhin unbequem werden mag. Unser Roman ist ein Strom, dessen Ausdehnung an sich schon Untiefen, Strudel und Wirbel mit sich bringt.

Die Excellenz gestand, daß derlei „Lesen mit Hindernissen“ ihre Sache nicht sey. „Ich habe,“ fuhr sie fort, „das Buch nach den ersten Bänden nur stellenweise an mich kommen lassen, in Auszügen, wie sie hie und da eine Zeitschrift mittheilte. Zwei – Kleinigkeiten, wenn Sie wollen, störten mich, machten mich unterweilen geradezu „deschparat“: die vielen Gänsefüße, und die wunderlichen drei Punkte (...), welche den Text unzählige mal unterbrechen. Ohne für den Reiz eines wohl angebrachten Citats unempfänglich zu seyn, meine ich, dergleichen Würze müsse sparsam angewendet werden. Was soll es bedeuten, wenn ein simpler Kellner ein „Gleich, Herr, gleich,“ wenn ein westphälischer Eichencamp die „roßprangende“ Flur heißt? Wie viele aus der Masse des Publikums, an die sich der Roman doch wendet, haben Shakespeare oder gar Sophokles so rasch bei der Hand, um dem schriftgelehrten Verfasser in seine Intentionen folgen zu können? Wir wollen die Natur unvermittelt sehen, die Personen einfach bei Stand und Namen genannt wissen. Ein Buch ist kein botanischer Garten, wo neben jedem Strauch und Baum ein Taferl steckt oder hängt, mit Linnéscher Terminologie. Und nur gar diese verflixten drei Punkte! Sagen Sie mir, was Sie aus denen machen?“

„Sie sind,“ antwortete ich, „Stimmungszeichen, Pausen in der Musik, in welchen der angeschlagene Ton nach- und ausklingen soll. Wie der Tonsetzer eine sogenannte Couronne hinschreibt, wo er dem ausübenden Künstler, dem Sänger, die Weiterführung seines Gedankens, die Anbringung einer Fioritur ausdrücklich überlassen haben will, so rufen die drei Punkte dem Leser Namens des Dichters zu: „Mein Gedanke ist nicht abgeschlossen; gehe ihm nach, verfolge ihn in seine letzten Schwingungen, laß neben dem gedruckten Worte die Stimmung, welche es weckt, in obligater Gedankenharmonie austönen.“ Die allerdings ungemeine Menge dieser Zeichen deutet an, wie sich der Verfasser selbst in einem steten Stimmungstremolo befindet. Er kann mit sich, mit seinem Stoffe nicht fertig werden. Ist es denn aber das Leben? Kommt es immer und überall zum völligen Abschluß? Erst der Tod macht ein rechtes, volles Punktum.“

Ein anderes, gewichtigeres Bedenken hatte der geistliche Herr auf dem Herzen; dasselbe berührte bereits mehr die Composition, als den Styl des Zauberers. Er stieß sich an dessen symbolisirender Manier. „Warum unbestimmte oder fingirte Namen neben wirklichen? Im siebenten Bande sind wir in Wien, im achten, neunten in Italien. Vortrefflich; da hat der Leser festen Grund und Boden unter den Füßen, er orientirt sich. Bis er aber dahin gelangt, muß er sich durchtasten. „Eine mitteldeutsche Residenz mit schnurgeraden Straßen, voll Schilderhäuser und Wachtparaden:“ weßhalb nicht „Kassel,“ wohin doch jeden Blinden das zu Anfang des ersten Buches genannte hessische Dorf weist? „Der Bischofssitz, die Residenz des Kirchenfürsten:“ warum nicht „Köln,“ welches so deutlich genannt, so nahe gerückt ist, daß es männiglich mit Händen greifen kann? Warum Lindenwerth, statt Nonnenwerth, Witoborn, statt Paderborn? Der Dichter begibt sich durch die Vermischung bestimmter und fingirter Oertlichkeiten, durch die Verkleidung geschichtlicher Thatsachen und Personen in Fiktion, eines Hauptreizes: des Reizes der Wahrheit in der Dichtung. Wie [27] sicher und fest grundirt der englische, der französische Roman! bis auf das Stadtviertel und die Hausnummer in London oder Paris!“

„Hierauf könnte ich entgegnen, daß in Frankreich wie in England Leser und Schriftsteller den für ihre Beziehungen zu einander unschätzbaren Vortheil genießen, auf dem einheitlichen Schauplatz der meisten Romane zu Hause zu seyn, wogegen der deutsche Dichter sein Terrain erst schaffen, seine Scene sich aufbauen muß. Ich suche aber einen tieferen, allgemeineren Grund für das Clairobscur unseres Zauberers. Man erinnert sich wohl, daß dieselbe Unbestimmtheit, richtiger Namenlosigkeit, in einem andern Roman der Gegenwart, in Freytags „Soll und Haben“ sich wiederholt: auch er nennt sein „Breslau“ nicht, die Oder heißt ihm nur „der Fluß.“ Dem Deutschen bleibt eben, bei aller realistischen Richtung, ein Hang zu idealisiren, sagen wir lieber: zu generalisiren. Er strebt darnach, die einzelne Erscheinung des Lebens im dichterischen Abbild zur Allgemeinheit zu erheben. Damit wird eine in allen Stücken uns so theure individuelle Freiheit gerettet: dem Leser in der Imagination, dem Schriftsteller in der Composition; jener mag sich denken was er will, dieser gestalten wie er will, ohne daß beide an eine fest umschriebene Wirklichkeit, an die Bedingungen des Realismus gebunden sind.“

Diese Betrachtung führte auf die Composition des Zauberers von Rom. Sowohl der geistliche als der weltliche Reisegefährte stürmten gegen diese, wie sie behaupteten, schwächste Seite des Werkes mit den hitzigsten Angriffen ein. Der eine fand im Zauberer dieselbe geheimnißvolle Truhe mit Papieren wichtigen Inhalts wie in den Rittern vom Geiste; durch acht Bände verfolge sie uns, um in dem neunten buchstäblich in Rauch aufzugehen. Der andere verwarf als ein abgenutztes Motiv die ausgehöhlten Pilgerstäbe, welche wiederum bedeutungsvolle Schriftstücke verbergen. Jenem war des romantischen Spuks in Terschka, dem abenteuernden Jesuiten, und in Bruder Hubertus, dem Abtödter, zu viel; dieser nannte die Entwicklung, im Verhältniß zur Verwicklung, überstürzt. Es wurde eine Seite im neunten Bande aufgesucht und nachgeschlagen, die 48ste, wo vier Personen innerhalb zehn Zeilen kurzer Hand abgethan werden. Ein paar Kapitel später springt Hubertus, der mit Recht den Beinamen „der Abtödter“ führt, in die Flammen, unter jedem Arm eine Hauptfigur des Romans haltend. Neben diesem summarischen Schlußverfahren wollte es nicht passend erscheinen, daß noch im letzten Bande eine gewissermaßen neue Exposition, die Geschichte Federigos, das eilfertige Ende unterbricht. Und so weiter, und so weiter, in allerlei Bedenken und Ausstellungen, so daß ich, in die Enge getrieben, bittend rief: „Gemach, gemach, meine Herren! Sie setzen mir auf die Letzt’ hart zu. Lassen Sie uns die Sache einmal in Ruhe überlegen!“

„Die Composition des Zauberers ist, wie es die allmähliche Herausgabe des Buches mit sich bringt, theils ausgedachter Plan, theils aber auch Improvisation, die in aller künstlerischen Arbeit eine so unabweisbar mächtige Rolle spielt. Nicht jeder Incidenzpunkt der neun Bände konnte im ersten Druckbogen vorgesehen, nicht jede Person vom Auftritt bis an ihr seliges oder auch unseliges Ende von vorn herein fix und fertig ausgearbeitet werden. Der geübte Blick wird in der überwältigenden Masse von Personen und Zuständen herausfinden, was ursprüngliche, was schöpferische Eingebung gewesen, und was ein Zwang aus Prämissen, aus vielleicht gewagten und unbedachten Voraussetzungen geworden ist. Ich möchte hier, mit Vergunst unserer citatenscheuen Excellenz, das Wort Mephistos anführen: „In Einem sind wir frei, im Andern Knechte.“ In Einem, das heißt in der Erfindung, in der Anlage, in der Untermalung, sind wir „frei;“ da verwickeln wir leicht und lustig drauf los, kein Knoten ist uns fest genug geschürzt, keine Situation zu bunt und zu gefährlich. Warum? Publicus will „gespannt“ seyn, Publicus begehrt „Stoff.“ Nun kommt aber das Andere, das uns zu „Knechten“ macht, die Entwicklung, die Auflösung, das Ende: der romantische Kram soll logisch Rede stehen und Antwort geben, und zwar so bündig, daß der Recensent nicht über Unwahrscheinlichkeit greinen kann, und daß die „schöne Leserin“ fein Rechenschaft über Alles und Jedes empfängt. Auf diesem kritischen Punkte läuft denn allerdings so mancherlei Menschliches, Mißliches mitunter, daß man es dem Dichter nicht übel nehmen kann, wenn er, von seinen eigenen Geschöpfen gedrängt, sich eines oder das andere mit einem gesunden Dolchstoß, einer heilsamen Feuersbrunst vom Hals schafft. Ja, wenn der fatale fünfte Akt, der leidige letzte Band nicht wäre! So lange wie möglich drückt man sich drum herum; muß man aber an’s Messer, je nun, so bleibt nichts übrig, als den Knoten, der nicht zu lösen ist, zu zerhauen.“

„Die Hand auf’s Herz, meine Herrn: nicht einmal unsere vornehmen Classiker wissen am Ende recht aus oder ein. Die letzten Kapitel der „Lehrjahre“ sind auch, wie man zu sagen pflegt, mit Wasser gekocht: die Lösung eines Romans durch die Flasche, woraus Meisters ungezogener Junge trinkt, kann einem ehrlichen Kritiker Angstschweiß auspressen. Und doch [28] besteht ohne Romanhaftes kein Roman; Abenteuer muß er bringen, von Dingen, die alle Tage passiren, lebt er nun einmal nicht. Hat der Leser die Wahl zwischen zwei Uebeln, dem Zuviel und dem Nichtgenug, so wird er in der Regel jenes, das Zuviel, vorziehen, selbst wenn er es am Schluß mit einem Zuwenig sollte bezahlen müssen. Was muthen uns die Franzosen nicht zu, sie, unsere Meister im Verwickeln, wie die Engländer im Entwickeln! Die Franzosen, mit der überall auf Handlung, auf das Dramatische drängenden Spannkraft ihres Volks, häufen in ihrem Roman Abenteuer auf Abenteuer, bis sie am Ende durch einen Gewalts- oder Staatsstreich der gesammten tollen Wirthschaft das Garaus machen. Die Engländer, in ihrer breiten Behaglichkeit recht eigentlich prädestinirte Epiker, spinnen den Faden ihrer Romane aus dem Charakter des Helden gemüthlich ab, unbekümmert um langweilige „Strecken,“ wo gar nichts geschieht; dafür bringen sie denn im letzten Kapitel jedes, auch das kleinste Endchen in’s Klare, sämmtliche Frauenzimmer unter die Haube, die untergeordnetsten Figuren nach Haus. Man weiß genau, „was aus allen wird.“ Das glaubt niemand, wie tiefe „Befriedigung“ ein solches altenglisches Schlußkapitel in dem Leser gewöhnlichen Schlages zurück läßt, während er den blassen Schluß der Pariser Geheimnisse – diesen Hof von Geroldstein, mit welchem Meister Sue, um einem tiefgefühlten Bedürfnisse entgegen zu kommen, den Gotha’schen Almanach bereichert hat – mißmuthig in die Sophaecke wirft.“

IV.

Eine „Wasserstation“ schnitt mir meine literaturgeschichtliche Parallele vor dem Munde ab. Wir warteten geraume Zeit, bis die Locomotive verschnauft hatte, dann fuhr sie fort, und neugestärkt mit ihr unsere Excellenz.

„Gestehen Sie zu,“ sagte sie, „daß auch der Zauberer von Rom seine Wasserstationen hat, Lücken in der Fabel, über welche uns irgend ein sauber gemaltes Genrebild oder eine stimmungsvolle Landschaft hinweghelfen, wenn nicht täuschen soll. In der Hauptsache, der Erfindung, oder, wie Sie es technisch ausdrücken, in der Composition bleibt der Roman, gleich jedem deutschen, zurück.“

„Ich möchte,“ erwiederte ich hierauf, „nicht mißverstanden werden. Erfinden kann der Deutsche so gut wie der Franzose, der Engländer; er besitzt sogar mehr Phantasie als diese. Dichtet er nicht Mährchen, in denen die ungeheuerlichsten Dinge sich begeben? Aber der Roman ist kein Mährchen; er hat eine andere Aufgabe, als nackte Thatsachen zusammenzustellen. Sein Held ist das Seelenleben, die menschliche Natur, die volle Tiefe, der weiteste Umfang aller Leidenschaften. Auf diesem Felde, dem der Psychologie, der Charakteristik, ist der Deutsche Meister, ist der Zauberer von Rom ein Meisterwerk.“

„Vergleichen wir uns doch, auch unter diesem Gesichtspunkte, mit unsern Nachbarn. Der Engländer gefällt sich in Excentricitäten, in Carricaturen, Sonderlingen, ja Mißgeburten, wie die Pickwickier von Boz. Der Franzose hängt im Gegentheil an der conventionellen Form; sein Roman schafft keine Menschen, nur Typen: types du moyen age bei Victor Hugo, types du demi-monde bei Dumas Sohn, bei George Sand die femme incomprise, bei Paul de Kock der betrogene Ehemann; – Typen überall, im Roman und im Drama, bis hinab in die Schablonenmalerei der kleinen Theater, welche, wie die alte italienische Comödie, ihre stehenden Masken haben, le vieux grognard, l’épicier, le gamin, la mère noble, höchstens ein Dutzend an der Zahl. Dagegen, welche Mannigfaltigkeit, welch unerschöpflicher Reichthum an Individualitäten in einem deutschen Roman, in unserem Zauberer! Gutzkow baut eine ganze römische Kirche auf, schafft seine eigenen Cardinäle, Priester, Mönche, gibt eine chromatische Tonleiter von Geistlichen aller Würden und aller Farben, jede Intervalle charakteristisch bezeichnet. Auf der höchsten Stufe steht Bonavenura, des Dichters Lieblingskind, mit unsäglicher Fürsorge ausgeführt und in das hellste Licht gestellt; vielleicht in so fern eine allegorische Figur, als sie die Unvereinbarkeit des Humanitätsbegriffs mit dem Priesterthum darzuthun bestimmt ist, dabei aber doch eine menschlich wahre, natürlich warme Lichtgestalt. Neben ihm, in Ergänzungsfarbe, ebenfalls hell, Cardinal Ambrosi, wie Bonaventura in bedeutungsvolle Beziehung gebracht zu reinigenden Elementen innerhalb des kirchlichen Lebens, und zu den Thälern von Piemont, aus denen die nationale und politische Wiedergeburt Italiens begonnen. Hinter beiden im Schlagschatten Ceccone, Fefelotti, die Repräsentanten der faulen Hierarchie mit ihren weltlichen Verirrungen. Dann, in den klaren, kühlen Farbentönen des vergangenen Jahrhunderts, der alte Dechant, so liebenswürdig in seiner, allerdings an Indifferentismus streifenden Toleranz. Tiefer unten der wilde Zelot Cajetan Rother; Müllenhof, der streng geschulte, noch strenger schulende Soldat der Kirche; der ästhetisirende und polemisirende Beda Hunnius; meisterhaft gezeichnet der Convertit Klingsohr und Bruder Hubertus, ein so ungleiches Paar, daß es gerade durch seine Zusammenstellung sich [29] trefflich illustrirt; der einsiedelnde Schwärmer Federigo, dessen Ketzerthum die Vermittlung zwischen der katholischen und protestantischen Seite tragen muß; der proteisch alle Farben spielende Jesuit Terschka, – welch eine Fülle von Bildern und Zuständen aus dem kirchlichen Leben!“

„Es fragt sich nur,“ warf der geistliche Herr ein, „ob unsere Kirche in ihnen ihre Kinder erkennt? Das fragt sich nicht, daß Bonaventura und das von ihm ausgeschriebene Concil so wenig Rom, wie Italien zu retten vermöchten, wollte man den Maßstab der Wahrheit an die Dichtung legen. Vielmehr hat es den Anschein, als wüchse sich dieser Papst Bonaventura in einen ärgeren „Tyrannen“ aus, als die Gregore oder Innozense gewesen. Doch, gehen wir darüber hinweg; zeigen Sie uns lieber die weltliche Seite, welche jener kirchlichen gegenübergestellt ist.“

„Sie ruht,“ versetzte ich, „außer auf Benno und Thiebold, dem tragischen und dem humoristischen Helden, auf den Frauengestalten. Daher mag es kommen, daß diese vorwiegend scharf gezeichnet und gefärbt sind. Die weiblichen Figuren, welche in erster Linie stehen, Lucinde voran, Erdmuthe, Monika, Armgart, Olympia, Fulvia, Angiolina, – alle, bis auf Eine, Paula, die in absichtlicher Schwebe zwischen Himmel und Erde gehalten wird, – tragen so feste Züge, treten so bestimmend auf, so handelnd ein, daß die Männer neben ihnen stellenweise zu verschwimmen, zu verschwinden drohen. Doch wollen wir dafür nicht den Verfasser verantwortlich machen, eher eine feine Absicht desselben ahnen. Die Zeit der dreißiger Jahre, worin der Roman spielt, war nicht, wie die jetzige, auf Eisenbahnen heranwachsende, eine fertige, positive Zeit, sondern eine der allgemeinen Gährung, die Werdezeit der gegenwärtigen Zustände. Unsere heutige Jugend hegt keine Zweifel, aber auch keine Illusionen mehr; sie weiß, was sie will, sie ist oder wird eben auch „realistisch.“ Das gibt denn sogenannt feste Charaktere. Anders vor einem Menschenalter. Da herrschte noch gerade in höher stehenden oder strebenden Naturen die Fauststimmung vor, die Byron-Ironie, der übelberufene Weltschmerz. Aehnliche Dissonanzen sind es, die Klingsohr aus einem Extrem in das andere treiben; in den Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit, Freiheit und Polizeistaat geht Benno unter: zwei Charaktere, für welche sich lebendige Originale unzweifelhaft finden lassen. Der Grundton jener Zeit erklärt wohl auch die wehmüthige, herbstliche Färbung des ganzen Gemäldes. Die Helden und Heldinnen des Romans bekommen alle graue Haare, vor der Zeit, unter den Augen des Lesers. Vier große Sterbescenen, Erdmuthe, Angiolina, Benno, Federigo, werden mit augenscheinlicher Vorliebe, im höchsten Style ausgeführt. Dagegen fehlt es an den heitersten Bildern, an komischen Cabinetsstücken ebenfalls nicht; Löb Seligmann, die Kattendyks, die Karstens, Schnuphase mit Töchtern, Familie Zickeles, Gebrüder Pötzl sind von unwiderstehlicher Wirkung, so daß wir in unserer, nach dem Lustspiel lechzenden Zeit bedauern, ihnen nicht auf der Bühne zu begegnen.“

„Dieß mahnt an eine weitere Anerkennung, die wir Gutzkow schulden: als gewiegter Dramatiker versteht er sich auf einen guten Schauplatz des Romans; seine Scenerie ist bewundernswürdig. Nicht allein, daß er die Physiognomie deutscher Städte und Länder im Kopf und in den Fingern hat, wie kaum ein zweiter (wie treffend schildert er Hamburg, Köln, Westphalen); nein, seine Dekorationsverwandlungen sind auch mit der weisesten Umsicht geordnet und dem Grundgedanken des Werks angepaßt. Um den Zauber Roms zu entfalten, stellt er uns nicht etwa gleich auf die Höhen des Vatikans; er zeigt, nach einem Vorspiel in Kurhessen, das nur der Einführung der Heldin gewidmet ist, diesen Zauber Roms zuerst in seiner Spiegelung in Norddeutschland, gebrochen durch den Kampf mit der Staatsgewalt, dann in seinen Reflexen in einer homogenen Sphäre, in Wien, und zuletzt erst, fast zu spät, jedenfalls zu kurz, im Mittelpunkt, in Italien. Höchst charakteristisch sind Land und Leute in den verschiedenen Kreisen geschildert. Die berühmte „rothe Erde,“ von Immermann poetisch urbar gemacht und seitdem ungemein fruchtbar an dorfgeschichtlichen Hofschulzen, erscheint in Produkten und Originalen von dergestalt eigenthümlicher Art, so dicht von Weih- und Höhenrauch umhüllt, daß wir an der Wahrheit der Schilderung zu zweifeln geneigt seyn würden, wenn uns nicht ein Seitenblick, zum Beispiel in die „katholische Fraction“ gewisser Kammern, diese Wahrheit schlagend bewiese. Was Wien betrifft –“

Hier fiel die Excellenz ein, lebhaft, beinahe leidenschaftlich. „Was Wien betrifft,“ sagte sie, „so erlauben Sie wohl mir ein letztes Wort. Das Gemälde von Wien im siebenten Band ist, bei guten einzelnen Zügen, nicht ähnlich, oder vielmehr, es ist nicht umfassend, nicht erschöpfend. Gutzkow hat uns allezeit stiefväterlich behandelt. Ich vergesse nicht so bald auf seine „Eindrücke,“ die unserem Scholz sogar seine Komik abstritten. Mein guter, alter Scholz! Wären um seinen Tod so viel Thränen geweint worden, wie bei seinen Lebzeiten Thränen über ihn gelacht worden sind so läg’ er im Wasser, nicht in der Erden drinnen. Das im Vorbeigehen. Aber daß auch der Zauberer nicht mehr über Wien, über Wien in Beziehung zu Rom, [30] zu bringen weiß, als eine Vorstellung im Burgtheater, die recht artig ist, aber nicht zur Sache gehört, eine Vorstellung bei Metternich, unwahrscheinlich bis zur Unmöglichkeit, eine Vorstellung bei Zickeles und Compagnie; wiederum recht artig, aber wiederum zur Sache nicht gehörig – das ist eine poetische Ungerechtigkeit, an die wir freilich, wie an so manche unpoetische, vom Reich aus schon gewöhnt seyn könnten. Wir wollen annehmen, der Zauber von Rom habe unsern Dichter blind gemacht für den Zauber von Wien. Und schau’n Sie nur, wie prächtig der just sich aufthut!“

So war es, prächtig in der That, prächtig über jede Beschreibung. Ueber die lange Taborbrücke donnerte unser Zug. Zur Rechten Kalenberg, Lepoldiberg, aus dunklem Wald und Wein heraus dem Ankömmling heiter herabnickend. Links die Auen des Praters, ein grünes Meer, voll Sang und Klang; als Wimpel flatterten die bunten Fähnlein der Schenken drin, als Segel weiße Sonntagskleider und Uniformen. Unter uns der breite, rasche, kaiserliche Strom; hie und da in den Weiden am Ufer ein Hirtenfeuer und zerstreute Lustlager jausender Spaziergänger. Vor uns – Wien, das verwandelte, verjüngte Wien: Stadt und Vorstädte, seit die starre, steinerne Scheidewand gefallen, über ihren Trümmern liebend in eins geflossen und in entfesseltem Wachsthumsdrange sich frei ausstreckend in die weite Ebene. Ueberall Licht und Luft, „himmlische Luft, Freiheit!“ Kein Schatten in dem reizenden, riesigen Bilde, als die ferne Rauchsäule des nach Ungarn stürmenden Dampfers. Der Himmel wie in flüssiges Gold getaucht; hoch oben in einem Lichtwölkchen schwebt ein dunkler Punkt, ein Luftballon.

Dafür fehlte ein anderer Augen- und Höhenpunkt, die Spitze von Sanct Stephan. Sie ist abgetragen, um auf alten Grundlagen neu aufgesetzt zu werden. „Möge es nicht eine Vision seyn, wie das neunte Buch des Zauberers von Rom,“ so sagte, halb für sich, die Excellenz, nachdem sie mir Auskunft über das vermißte Wahrzeichen gegeben. Ich blickte dem alten Herrn in’s Auge und begegnete einem Strahl jener glühenden Vaterlandsliebe, welche dem Oesterreicher so schön steht, die sogar auf dem heitern Antlitz der Wienerinnen ein Feuer anfacht, höher und edler als das des heißesten Straußischen Walzers. Hier hatten wir einen Machthaber des alten Systems, der aber um die Zukunft des neuen tief bekümmert war, wie wenn er selbst es führte; hier ein Wiener Kindel, grau geworden auf dem Pflaster des Kohlmarkts und dem Kies der Bastei, und doch, nach einer sechswöchentlichen Trennung, des Wiedersehens sichtlich, wahrhaft kindlich froh.

Im Bahnhof schieden wir, mit Gruß und Handschlag, beide Reisegefährten außerdem mit dem Gelübde, eine nochmalige Wallfahrt in und durch die bewußten neun Bände anzutreten. Die Excellenz wurde von einer zahlreichen Familie, von Söhnen, Schwiegertöchtern, Enkeln, jubelnd eingeholt, der geistliche Herr durch einen handküssenden Hofstaat von Caplanen und dienenden Geistern, beide in einer stattlichen Equipage. Gleichzeitig rollte ich, auf dem standesgemäß höchsten Platze, der Imperiale eines Omnibus, wie in einem Feenwagen durch den ganzen Zauber von Wien: über den Praterstern, dessen Strahlen bunte Menschenfunken nach allen Seiten aussprühten, durch die Jägerzeil, am jungen Franz-Josephs-Quai vorbei, in und durch die innere Stadt, über die Burghöfe mit ihren Denkmälern, die Glacis mit ihren Neubauten, die wachsenden, wimmelnden Vorstädte, zur Mariahilfer Linie hinaus, bis gegenüber der Gloriette von Schönbrunn. Eine Stunde dauerte die Fahrt von der Nordbahn zur Westbahn; sie gab Stoff zu Träumen für eine ganze weitere Reisenacht. In diesen Träumen schwammen das alte und das neue Wien gleich Nebelbildern in einander. Jenes, das alte, vormärzliche Wien, setzte sich mir, trotz allen Ausstellungen der ortskundigen Excellenz, aus den Zügen des Romans doch sehr klar und treu zusammen. Hinter einer Reihe heller Fenster am hohen Markt sah ich mit vollständiger Illusion eine Zickeles-Soirée und auf der dunkeln Schottenbastei den Schatten des melancholischen, selbstmörderischen Chorherrn. Aber dieses, das neue, nachoktoberliche Wien, wie es mir im Vogelfluge erschien, mit Sommerabendbeleuchtung und Sonntagabendstaffage – Zauberer von Rom, wann malst du uns dieses Bild? – Ist es dann auch frei vom „römischen“ Zauber – (des Concordats, zum Exempel) – so hat der Zauberer, so hat Wien um so sicherer seine große Aufgabe gelöst!

3. Ludwig Seeger: Der Zauberer von Rom und die römische Frage, September 1862#

Ludwig Seeger: Der Zauberer von Rom und die römische Frage. In: Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur. Berlin. Bd. 4, [September] 1862, S. 474-480. (Rasch 14/34.62.09.2)

Gutzkow’s neunbändiger Roman, der Zauberer von Rom, befindet sich schon allzulang in den Händen des Publikums und unter den anatomischen Messern der Kritik, als daß wir den Anachronismus begehen und jetzt noch etwa eine Analyse desselben, ein Referat über den Gang der vielverzweigten Fabel des Romans zu geben uns veranlaßt sehen könnten. Wir wollen nur, wie so Viele vor uns, jeder von seinem Standpunkt aus, hinweisen auf die Großartigkeit des Werkes, das Gutzkow unter den Augen seiner Zeitgenossen im lebendigsten Wechselverkehr mit der Zeitgeschichte und den dieselbe bewegenden Kräften, aus der reichen Welt der Wirklichkeit mit sicherem Auge und erfindungsreicher Künstlerhand herausgearbeitet hat. In der That, man hat nur mit gerechtem Maße die Leistungen eines Mannes gemessen, dessen Verdiensten, vielleicht nicht ganz ohne seine eigene Schuld, nicht immer die gebührende Anerkennung der Mitwelt geworden ist, wenn man im Zauberer von Rom und in den Rittern vom Geist zwei der bedeutendsten Werke zu erkennen glaubte, welche der deutsche Geist in neuester Zeit auf dem Gebiet der schönen Literatur hervorgebracht hat.

In beiden Romanen sehen wir ein Spiegelbild des Lebens der Gegenwart, das heute noch beherrscht ist von der romantischen und der romanischen Politik, und dessen Inhalt die Kämpfe wider das romantische Prinzip im Staat wie der Kirche bilden. Die Verkörperung der politischen Romantik auf dem Gebiet der Kirche ist die römische Hierarchie. Die katholische Welt, ihr Leben und Wesen, der Einfluß des Romanismus, Papismus, Ultramontanismus, Jesuitismus, der kanonischen Partei im weitesten Sinne des Worts auf das Familien-, Gesellschafts-, Staats- und Volksleben der Gegenwart, vor Allem auf das deutsche Leben ist der Gegenstand der kulturhistorischen Dichtung, die uns hier beschäftigt. Der Dichter hat sich mit bewundernswürdigem Fleiß in das Studium der katholischen Weltanschauung, Sitte und Unsitte vertieft, ja, man kann sagen, er ist mit Liebe in seinen Gegenstand eingedrungen, und selbst die Subtilitäten des kanonischen Rechts sind seinem Gedächtniß so präsent, daß er spielend die Waffen aus dem großen, dunkeln Arsenal der Gegner schwingt und gelegentlich damit gute deutsche Hiebe austheilt, die um so tiefer sitzen, als diese Streiche mit einer Gewandtheit und Sachkenntnis geführt werden, zu der man nur durch längeres Verweilen und Beobachten, ich möchte fast sagen, durch ein Zuhausesein auf dem ultramontanen Fechtboden kommt. Er hat [475] das nöthige gelehrte Wissen, ohne damit zu prunken, er hat „mit voller Hand geschöpft und läßt nur gelegentlich die Tropfen durch die Finger rinnen.“

Eben noch hat uns der Dichter die ganze blendende Herrlichkeit, das ganze phantasiebetäubende, sinnverwirrende Farbenspiel dieser katholischen Romantik vor das Auge geführt, mit einer poetischen Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Vorurtheilslosigkeit, deren nur ein Deutscher und ein moderner Protestant fähig ist. Aber gleich darauf klingt auch wieder die warnende Stimme des treuen Eckart durch die verführerisch lockende Musik hindurch, und seine Worte der Mahnung haben ungefähr den Sinn der Goethe’schen, die dem Mephistopheles in den Mund gelegt sind: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft, Laß nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken, So hab’ ich dich schon unbedingt“, und wir kennen diese Blend- und Zauberwerke von Rom, wir kennen sie aus allerneuesten wie aus allerältesten Erfahrungen.

Der Gutzkow’sche Roman, der uns diese Blend- und Zauberwerke in ihrer ganzen Schönheit zugleich und Verworfenheit schildert, umfaßt die Zeit etwa vom Jahre 1832 an bis in die neueste Zeit mit einer visionären Perspektive in die nächste Zukunft. So lange ungefähr ist es auch her, daß wir das Wühlen der schwarzen Maulwürfe in Deutschland und der Schweiz in allernächster Nähe zu beobachten und zu bekämpfen Gelegenheit hatten. Wir sahen immer, wie mit der politischen Apathie der Völker die Macht Roms über die Staaten und die Seelen diesseits der Alpen wuchs; wie aber mit der Kräftigung des nationalen Geistes und der volksthümlichen Elemente den Händen des Zauberers von Rom die magische Ruthe entglitt, mit der er die Völker abwechselnd streichelte und geißelte. Seit den Jahren 1849 und 1850, wo das Hagelwetter der Reaktion die jungen Saaten des nationalen Geistes fast bis auf den letzten Halm zerschlagen hatte, und nicht nur die Fürsten, sondern auch die Völker, voran die obersten und die mittleren Schichten, die „hablichen“ Klassen, die letzteren aus blinder Angst vor der Herrschaft des Proletariats, sich den Staatsrettern in die Arme warfen, selbst solchen, die sie tief verachteten, ist der Ultramontanismus planmäßig zur Wiedereroberung seiner mittelalterlichen Obergewalt über Fürsten und Völker vorangeschritten. Die oberrheinischen Bischöfe eröffneten im Namen der Selbständigkeit und Autonomie der Kirche den Feldzug gegen die Regierungen ihrer Sprengel, und diese Regierungen, anfangs zum Widerstand geneigt, ließen aber, bei der immer noch herrschenden, vorher freilich von ihnen selbst künstlich und gewaltsam herbeigeführten Gleichgültigkeit der Völker, selbst der protestantischen, bald die Waffen sinken, und wir haben sie erlebt, diese ekelerregende Zeit der Konkordate, die zum Theil unter den Schürzen alter Theaterprinzessinnen (selbst diesen Zug hat der Dichter nicht übersehen) waren ausgebrütet worden. In der Mitte der vierziger Jahre war dem lebendigen Eifer des Volkes, seiner Theilnahme z. B. an der deutschkatholischen Bewegung, die eine durchaus nationale Farbe hatte, gelungen, was der bureaukratischen Polizeigewalt, die einen Erzbischof von Köln, von Posen zu verhaften, aber nicht mit den entsprechenden geistigen Waffen zu besiegen vermocht hatte, mißlungen war. So war es auch in den letzten Jahren wieder. Als die Regierungen die Knechte der Knechte Gottes geworden waren und die kirchliche Reaktion und die politische Arm in Arm [476] mit einander ihr Jahrhundert in die Schranken forderten, als der ultramontane Klerus, mit dem Adel, dem Fürstenthum, der Bureaukratie, ja selbst mit dem höheren protestantischen Klerus verbündet, sein schwarzes Leichentuch, die Konkordate, über ein Land nach dem andern ausbreitete, da war es wieder das Volk, das plötzlich für den ekeln Modergeruch wieder eine Nase hatte, da der italienische Krieg ihm seine Sinne wieder gereizt, geschärft hatte.

Die Sturmglocke des Kriegs, der Aufschwung des nationalen deutschen Lebens läutete bald die Konkordate, die zum Theil zur Rettung Oberitaliens für Oestreich geschlossen worden waren, zu Grabe, und der Uebermuth der klerikalen Partei, die Hybris, die den Neid und Zorn der Götter und den Haß der Menschen herausforderte, erfährt eine Züchtigung nach der andern. Das badische, das württembergische Konkordat, die Kettler’sche Konvention, – wo sind sie jetzt? Nur Eins steht noch, das östreichische Konkordat, und auch dieses kann fallen über Nacht. Der Papst will es nicht revidiren lassen, er hat Recht; wozu das Flickwerk? Nicht den Schneider, den Todtengräber muß man rufen. Diese Attentate auf unser nationales Leben, auf unsere Denk- und Gewissensfreiheit, durch welche selbst unsere Universitäten in Jesuitenseminare und die Schulen des Volks in Erziehungsanstalten für Kretins und Leibeigene verwandelt werden sollten, – welchem deutschen Manne von Kopf und Herz hätten sie nicht die Röthe der Scham und des sittlichen Zorns auf Stirn und Wange getrieben?

Hier ist ein Dichter, der zugleich ein Mann der freien Bewegung ist, und er hat, was das Herz der Nation bewegt, nicht gefühllos an sich vorüberrauschen lassen, er hat, wie der Herausgeber dieser Revue1) vom „wahren Dichter“ mit Recht fordert, wie vom „wahren Volksfreund“, er hat die poetischen Keime in der Gegenwart erkannt und hat die schöne Mannigfaltigkeit des Lebens auf die Freiheit der Bewegung zu begründen gesucht. Er ist keiner jener „halben Poeten, die sich in die Vergangenheit versenken und über die Gegenwart jammern, die sie nicht verstehen“. Gutzkow versteht die Gegenwart, er liebt sie selbst in ihren fremdartigsten, abnormsten und verworrensten Erscheinungen, er studirt sie, und das Studium eines wahren Dichters kann nie unfruchtbar sein, er empfängt „der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit“. Er liefert einen werthvollen Beitrag zu jener wahrhaft volksthümlichen Literatur, von welcher in diesen Blättern (am angegebenen Orte) gesagt war: „Wenn ich die Wahl habe zwischen einer wahrhaft demokratischen Verfassung und einer wahrhaft volksthümlichen Literatur, so wähle ich letztere: denn mit dieser ist jene sicherer zu erreichen, als umgekehrt.“

Gutzkow selbst hat sich gelegentlich als ein Kind seiner Zeit bezeichnet und seine Laufbahn als eine Zwischenstation auf dem Wege, den die Muse, die nach Schiller und Goethe wieder neue Kränze vertheilen wolle, zu ihrem wahren Heiligthum auf den olympischen Höhen zu wandeln habe. Gutzkow hat ein Recht, so von sich zu reden; denn – „es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.“

Er stellt sich die höchsten Aufgaben, die ein moderner Dichter sich stellen kann und er löst sie mit kühner, zuweilen vor Aufregung zitternder, aber im Großen und Ganzen glücklicher Hand. Wenn die Ritter vom Geiste norddeutsche Zustände [477] in den ersten Jahren der Reaktion zeichneten, so liegt im Zauberer vor uns ein Panorama, ein großes Sittengemälde, umfassend den katholischen deutschen Süden an sich und in seinen Beziehungen zu Rom, oder, wie man kürzer noch gesagt hat: „Deutschland, ein Opfer Roms“; ein Gemälde, das in vier größere Lebenskreise, vier Gruppen sich gliedert: das Leben in Westphalen (beiläufig auch Hamburg), das Leben am Rhein mit dem Mittelpunkt Köln, das Leben in Wien und zuletzt das Leben in Italien, in Rom. Ueberall ist der Dichter zu Hause, überall schildert er uns Land und Leute mit gewissenhafter Treue, frappant oft zum Erschrecken ähnlich; seine ethnographischen Charakteristiken, liebevoll ausgemalt bis ins Einzelnste und mit feinfühlender, gerecht ausgleichender Vertheilung von Licht und Schatten, überraschen und entzücken uns durch den Reichthum an Anschauungen und Studien nach der Natur, durch die scharfen Umrisse und Mannigfaltigkeit der kulturhistorischen Genrebilder, die er bietet – Bilder, naturwahr, deutlich und klar, realistisch, wie gelungene Photographien, farbenreich, wie Freskogemälde und doch in idealen Aether getaucht, wie dissolving views.

Man hat schon anderwärts auf das merkwürdige Zusammentreffen von Wahrheit und Dichtung, auf einen merkwürdigen Zusammenhang zwischen Geschichten und Gedichten aufmer[k]sam gemacht, man hat daran erinnert, daß die Ritter vom Geist 1850 und 1851, nicht lange Zeit vor dem Untergang jener nordisch romantischen Politik erschienen seien, der Zauberer von Rom aber, die ersten Bände wenigstens, im Jahre 1858, am Vorabend der italienischen Verwickelung. Zur Zeit, wo die römische Frage immer mehr eine brennende wurde, da ist auch der politische Dichter, – ein ächter Zeitgenosse seiner tiefaufgeregten Zeit, die unendlich größer und reicher an Kräften und Stoffen ist, als die verhältnißmäßig idyllische, einfach beschränkte Zeit unserer ersten klassischen Dichter, die sobald sich von der Theilnahme an ihrer, ihnen unangenehm gewordenen Gegenwart in die stille Welt der schönen Formen zurückgezogen hatten – zugleich mit den geheimnißvollen weltbewegenden Mächten der Gegenwart, in seiner Weise an die Lösung der römischen Frage gegangen. Diese seine Weise ist keine prosaisch „tendenziöse, propagandistische“; er verfolgt in seinem Kunstwerk keine Zwecke, die außerhalb der Kunst liegen, er behandelt seinen Stoff, die ultramontane Welt, nicht um irgend einer Sache zum Sieg zu verhelfen, nicht als Oppositionsmann, nicht gebunden durch irgend ein Parteiprogramm, sondern in freiester künstlerischer Bewegung und Entfaltung. Kein Wunder, daß, eben wegen dieses geistig freien Standpunkts, die Einen in dem Werk kryptokatholischen Anschauungen begegnet sein, andere darin willkommenes Material für protestantische Kontroverspredigten gegen katholische Dogmen und Ansprüche gefunden haben wollen. Ich kenne selbst gelehrte Geistliche der evangelischen Kirche, die den Zauberer von Rom, nach ihrem eigenen Eingeständniß, mit Vergnügen gelesen haben und als gute Protestanten unverholen preisen. Andererseits haben wir (im Morgenblatt) die Aeußerung aus dem Munde eines katholischen Prälaten gelesen, die, was das Thatsächliche betrifft, wohl nicht ins Gebiet der Fiktion gehört, daß Gutzkow’s Zauberer von Rom in allen Kloster- und Stiftsbibliotheken Zutritt gefunden und unter den Standesgenossen des katholischen Würdeträgers überall Aufmerksamkeit, vielfach zwar leidenschaftlichen Widerspruch, aber doch stellenweise auch Zustim-[478]mung erweckt habe. Diese Erscheinung erklärt sich allerdings nur aus dem poetisch-objektiven Standpunkt, auf dem Gutzkow steht, der aber darum die subjektive Betheiligung und Wärme nicht ausschließt, vielmehr zur Voraussetzung hat. Der Dichter hat Charakter, hat seine eigenthümliche Weltanschauung; also wird auch sein Werk Charakter haben, aus einer bestimmten Weltanschauung heraus geschrieben sein. Dies ist nun freilich auch Tendenz, aber Tendenz im besten Sinne des Worts. Der Verfasser, der schon im Jahre 1838 gegen Goerres und Konsorten „die rothe Mütze und die Kapuze“ geschrieben hat, ist derselbe, der im Jahre 1858 seinen Zauberer begonnen, während des italienischen Kriegs weiter und im Jahre 1861 zu Ende geschrieben hat.

Was die Komposition dieses Werks betrifft, so ist sie nicht fehlerlos; die Verwicklung – sie ist so komplizirt, daß sie ein förmliches Studium erfordert – befriedigt ungleich mehr, als die Entwicklung, die zuletzt auf ein wahrhaft summarisches Verfahren hinausläuft. Es geht z. B. über das Romantische hinaus und tief ins Melodramatische hinein, wenn auf einer Seite (Bd. IX. S. 48) vier Personen hintereinander, man möchte sagen, abgeschlachtet werden, wenn der „Abtödter“ Hubertus mit zwei Hauptpersonen der Geschichte, unter jedem Arm Eine, sich ins Feuer stürzt. Der Roman ist allerdings von Figuren – ihre Zahl geht in die Hunderte – so überwuchert, daß am Ende eine gewisse poetische Husarenjustiz unvermeidlich, zum nothwendigen Uebel wird. Es geht dem Dichter ähnlich, wie seinem Kronsyndikus, von dem er sagt: sein Umfang an Lebensbezügen und Erinnerungen sei so außerordentlich groß, daß er unausgesetzt Neues aufs Tapet bringe. Man hat auch, und wie uns scheint, nicht mit Unrecht, „die symbolisirende Manier“ getadelt, die unbestimmten oder fingirten Namen statt der wirklichen: da ist eine „mitteldeutsche Residenz“ mit schnurgeraden Straßen, voll Schilderhäuser und Wachtparaden: warum nicht Kassel? – so gut wie Hamburg, Kiel, Wien, Rom u. s. w. Die „Residenz des Kirchenfürsten, der Bischofssitz“ – Jedermann muß auf Köln kommen – warum will der Name nicht heraus? Warum Lindenwerth und nicht Nonnenwerth, Witeborn und nicht Paderborn? – Wir hätten noch Manches zu sagen über etwas gar zu wohlfeile und verbrauchte Hebel und Fiktionen, wie die geheimnißvollen Familienurkunden, um die sich die ganze lange Geschichte dreht u. dergl. Doch „ubi plura nitent“, da wird man leichter derlei Menschlichkeiten übersehen.

Nicht so leicht können wir hinweggehen über gewisse Nachlässigkeiten des Styls, die bei einem sein Instrument, die Sprache, sonst so meisterhaft spielenden Künstler doppelt unangenehm auffallen. In vielen, zumal in bewegten Scenen ist die Sprache schwungvoll, hinreißend, edel. In anderen Stellen stören uns langathmige Perioden mit in einander gefilzten Zwischensätzen, ein sprachliches Gestrüpp, durch das man sich nur mühsam und verstimmt hindurcharbeitet. Bei aller Herrschaft über die Sprache, die wir dem Verfasser zuerkennen müssen, vermissen wir manchmal das Wirken jenes feinen, hoch sensitiven Sprachgefühls, das dem Dichter auch in der hastigen Unruhe des Schaffens, auch in unbewachten Augenblicken, auch „wenn der Kopf raucht“, die Hand führen und ihn vor Inkorrektheiten und Unebenheiten der Schreibart, vor Versündigungen gegen unser „geliebtes Deutsch“, unsere herrliche Muttersprache bewahren wird, die ja so bereitwillig oft für uns dichtet und denkt, [479] wenn wir liebevoll und zart mit ihr umgehen. – Soll ich Belege anführen? Ich muß es, um nicht in den Verdacht unmotivirten Tadels zu gerathen, und so am Ende auch das Lob verdächtig erscheinen zu lassen. Was sagen Sie zu einem „aufgeregt umstandenen Haus“ (III. 14)? Was ist ein „mannigfach verpflichtetes Andenken “ (19), „ein gefertigt gewesener Sammthut“ (47)? Die „Nuraufgottbezogenheit“ (162) hat uns an die Waßmannsdorf’schen „Vorschläge zur Einheit in der Kunstsprache des deutschen Turnens“ erinnert, in denen wir auch Wortungethüme finden, wie: „Flügellinkshalbhangsitzhaltung“, „Wechselkletterstreckstellung“ u. dergl. m. V. 187 finden wir: „Das Wiedersehen war hoch erfreut .... sogar mit ironischem Lächeln“. III. 291: „Wir Frauen heben nicht den Arm auf, ohne nicht zu berechnen, wie unser herabströmendes Blut ihn weißer machen muß“. Wir finden IX. 38: „Bücher, die ich früher geflohen war“; ib. 469: „der helle Sonnenstrahl des immer höher und höher über dem Meeresspiegel heraufgegangenen Sonnengeschirrs“, „nachdem er sein Befinden als wohl bezeichnet“, „um daß“, „Armgart starrte dem Allem“, „meerumbuchtete Landzungen“, „Bewunderung der aufgetragen gewesenen Erbsen“, „eine von mir arrangirt gewesene Uebung “, „der .... hat es selbst an die Leute gesagt“, „Erinnerung auf Etwas“, „schauerlich durfte es ihr erklingen“, „sie durfte damals noch das Aeußerste für Benno fürchten“, „sie durfte erbangen über ein Wiederbegegnen mit Hubertus“, „selbst am brausenden Donnerton des Wassersturzes nistet ein Vogel“..... Diese ewigen .... und die zahllosen „fast“ haben uns fast zur Verzweiflung gebracht. Ihre Zahl ist wie Sand am Meer..... Doch genug, damit wir nicht allzuschulmeisterlich auf Solözismen Jagd zu machen scheinen. – Das sind lapsus calami, die mit der Entstehungs- und Erscheinungsweise des Werkes zusammenhängen mögen. Die Letztere hat überhaupt dem Erfolg des Romans mehr geschadet als genützt. Doch das sind vorübergehende Mängel, die sich bei jeder neuen Auflage ausmerzen und wieder gut machen lassen.

Das Bleibende an dem Buche ist das Schöne, das Große. Und das tritt am klarsten hervor, wenn wir uns vergegenwärtigen, was der Dichter geleistet in Schilderung von Personen und Sachen, der Charakter- und Situationenzeichnung, der Enthüllung der Mysterien der Psychologie, der Leidenschaft in allen ihren Höhen und Tiefen, der plastischen Ausprägung der interessantesten, mannigfaltigsten und gemischtesten Individualitäten, der nahezu erschöpfenden, unübertrefflichen Darstellung großer kulturhistorischer Erscheinungen, wie die römische Hierarchie eine ist. Ueber die immerhin psychologisch höchst interessanten Gestalten der beiden Hauptcharaktere, des idealen Priesters Bonaventura und der abenteuerlichen Lucinde, die „blaue Eidechse“, die alle Zauber Roms, „jener Welt, die von Schiller und Goethe Nichts weiß“, und alle Zauber der raffinirtesten modernen Kultur in sich vereinigt, wird man sich noch lange hin und her streiten. Das wird nur für den psychologischen Reichthum und Scharfsinn sprechen, aus dessen Fülle heraus der Dichter seine Charaktere gezaubert hat. Die klerikale Welt, die der Dichter, „kennt wie seine Hosentasche“, schwebt in den mannigfaltigsten Gestalten, als heilige, als Karrikaturen des Heiligen von allen Nuancen an uns vorüber. Wir sehen den weltmännisch gebildeten, epikureischen, von Wessenberg’schen Reformideen angehauchten feinen Pastor, „fast“ Abbé, den deutschen Bauer in der Soutane, den poltern-[480]den, rülpsenden Kontroversprediger gegen alle protestantische und moderne Kultur, der aber unter der Hand die zartesten Sionsklänge ersäuseln und drucken läßt, – Ketzerhammer und Stimmhammer zugleich; wir sehen den schwarzen Gamaschenknopf, den strammen, unerbittlichen Soldaten der Kirche, den Konvertiten Sebastus (Klingsohr), einen Verwandten der Zacharias Werner und Friedrich Schlegel, den nomadischen Eremiten und Abtödter, Bruder Hubertus, den waldensisch infizirten, kaum noch katholischen Einsiedler Federigo, den Jesuiten1) im kurzen und langen Rock, die ganze lange Reihe italienischer Priester- und Pfaffengestalten, Kardinäle von der Sorte der Ceccone (der Lambruschini und Antonelli) und Fefelotti, Repräsentanten der hierarchischen Fäulniß, aber auch, neben Bonaventura, Ambrosi, Einen der Vertreter der Reform und Reformfähigkeit des römisch-kirchlichen Lebens und endlich – wo bleibt der Zauberer von Rom selbst?

„Seine Heiligkeit ließ damals den Kardinal Ceccone schalten und walten – und, um Nichts zu verschweigen, sagen wir es offen und aufrichtig: der Zauberer von Rom war bitter krank..... Der „Träger der Himmelsschlüssel“, der „Patriarch der Welt“, der „Vater der Väter“, der „Erbe der Apostel“, der „Hirt der Heerde“ war ein armer Mensch, er fürchtete den Gesichtskrebs zu bekommen“2) ..... VIII. 55. Das ist Gregor XVI.

Also das wäre „der Prospero von Rom? Nicht doch! Es ist nur sein Kleid.“ ....

Wir machen auch eine Papstwahl mit, wir sitzen mit im Konklave und sehen, wie man einen wunderlichen Homunculus, einen neuen Zauberer von Rom macht. Ob es der letzte ist?

4. Edmund Judeich: Eine kritische Studie über Karl Gutzkow’s Zauberer von Rom, 1862#

[Edmund Judeich:] Eine kritische Studie über Karl Gutzkow’s Zauberer von Rom. Cassel u. Göttingen: Georg H. Wigand, 1862. 1 Bl., 67 S. (Rasch 14/34.62.09.1) - Die Broschüre kam Mitte September 1862 heraus. Die Arbeit erschien (gleichfalls anonym) zuerst fortsetzungsweise in der „Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung“ vom 6. Oktober 1861 bis zum 9. Februar 1862 (Rasch 14/34.61.10.06).

Die vorliegende kritische Besprechung des „Zauberer von Rom“ setzt die Lektüre dieses großen Werkes unseres Gutzkow voraus. Die Studie soll erläuternd dem denkenden Leser zur Hand gehen, soll das Verständniß des Ausgesprochenen erleichtern, das Gefühl für das Unausgesprochene, nur Angetönte wecken. Angeregt durch Herrn Regierungsrath von Witzleben in Leipzig, den für alles Bedeutende im literarischen Leben thätigen Leiter der Leipziger Zeitung“, ließ der Verfasser gegenwärtige Abhandlung zunächst in einzelnen Artikeln in der „Wissenschaftlichen Beilage“ des genannten Blattes erscheinen. Der große Werth des besprochenen Gegenstandes lockt die kleine Gabe jetzt vor das nachsichtige Auge eines ausgedehnteren Leserkreises. Gelingt es der Besprechung, „die Idee“ des Zauberer von Rom und die Weise ihrer Entfaltung dem Leser nahe zu legen, so ist die Aufgabe des Verfassers erreicht.

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[1] „Das alte blut- und thränenreiche deutsche Vermächtniß, die Spaltung in Süd und Nord, kann noch immer die Bresche werden, über welche hinweg unsere Heiligthümer, Sprache, Bildung, Nationalität, Volkswohl im Völkersturm genommen werden, und früher oder später ist die Stunde da, wo entschieden wird, ob die Welt den Slawen, Celto-Romanen oder Germanen gehört“ – mit diesem schwerbedeutenden Worte leitet Karl Gutzkow seinen neuen Roman, den „Zauberer von Rom“ ein. Ein deutsches Buch also wollte der Dichter uns bringen im vollsten Sinne, ein Schwanken tilgendes für die Zeiten des Kampfes. Die Dichtung „will warnen, will ermuntern; sie will einem großen sehnsüchtigen, auch von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdigere Ziele zeigen, als sie sich bisher in der fernen Fata Morgana spiegelten.“ Das Werk sollte also keineswegs ein antikirchliches, antireligiöses, aber ein die Kirche klärendes werden; wollte Wege bahnen, die „noch unausgefüllte Kluft der deutschen Einheit, der germanischen und lateinischen Welt überhaupt“ durch den Geist modernen Lebens, durch die edelsten Früchte der Jahrhunderte zu füllen. Hat der Autor diese großartigen Ziele gewonnen? und hat er die Aufgabe als Dichter gelöst, sich fernhaltend von der Speculation des Philosophen und Staatsmannes? Das sind die Hauptfragen eingehender Besprechung.

[2] Eine ausreichende Beantwortung ist nicht möglich, ohne Gutzkows dichterische Vorwürfe und seine Weise vorerst im Allgemeinen zu betrachten. In seinen Anfängen schon der gedankenreichste, schärfste und productivste Jünger des sogenannten „jungen Deutschland“ schien sich später der anderer Entwickelung unterworfene Autor ursprünglich nur zum geistvollen Kritiker, zum Journalisten erster Linie heranbilden zu wollen. Nicht mit ungelehrter Frische des Lyrikers, sondern herausredend aus einer staunenswerthen Fülle von Kenntnissen; nicht als übersprudelnder Genius, sondern als verarbeitender Denker schrieb der junge Gutzkow, ohne freilich die Skepsis zum Selbstzweck zu machen, sondern sie allerdings für poetische Aufgaben ausbeutend. Jene Zeit war die des stürmischen Ueberganges aus der Romantik. Die Zauberhöhlen- und Märchenpoesie, die Verneinung der realen Welt, das Himmeln war vorüber, und – das Bessere nicht gefunden. Das Bessere lebte nur im Triebe der vollständigen Abtödtung des Alten, in einem unsichern Haschen nach neuen Idealen, in einem Aburteln der Empfindelei, leider aber nicht gepaart mit fruchtbringenden Nachwehen der classischen Zeit. Das rauschende Leben war reich an neuen Gestaltungen und an Ausbildung von tausend Gebieten des Wissens und Könnens, Alles, was bisher Dichtung hieß, stand mit diesen Anforderungen der Zeit aber noch in Widerspruch; die Romantik war Flucht aus der Zeit, der Eingang zu den modernen Ideen wurde andrerseits der Dichtung durch nichts erschlossen. Der Gegensatz des Lebens und Denkens zu überlieferten Herzensdingen bewegte heftig die Jünger des Tages, und Gutzkow ist vor allen das jugendliche Gemüth gewesen, in dem sich dieser Zeitkampf austobte. Die „Briefe eines Narren an eine Närrin“ und „Maha Guru, Geschichte eines Gottes“, auch „die öffentlichen Charaktere“, „Säkularbilder“, die „Vorrede zu Schleiermachers Briefen über Schlegels Lucinde“, die schwer zu nennende „Wally“ und andere Productionen offenbaren das im Geschmack noch nicht geklärte, novellistische Drängen nach einer [3] neuen, sinnlich greifbaren Welt an Stelle der für immer unbrauchbaren alten. Ein großes Leiden lag auf den Geistern, ein Unbefriedigtsein von Welt und eigenem Können; und es steigerte sich bei Gutzkow dieser innere Kampf bis zur Geburt eines Schmerzensdrama. „Nero“ ist ein unerhörtes Wollen der Menschenbrust. Die riesenhafteste Sünde begehen und dabei elegisch sterben wollen – fast ist es die indische Wollust des Versinkens in ewiges Nichts, wenn Nero, die Leier in der Hand, beim Brande Roms singt: „Ich fühle, wie den Lawaweg allmälig die Wonne der Vernichtung in mir findet. Ich möchte sterben, möchte untergehn, am Winde wie der Staub verwehn.“ Ein Wissen vom Ueberschwänglichen, ein Dichten des Unzulänglichen, philosophische Dialektik, rechts- und staatwissenschaftliche Kenntnisse, scharfe Beobachtungsgabe für alle Erscheinungen des Lebens, Ueberschreitung hergebrachter Grenzen, ein weicher Nachklang theologischer Studien, Sehnsucht nach sinnlicher Wahrheit und menschlicher Gerechtigkeit, Heine’sche Abschwächung des Dichterglühens, pointirter aber grübelnder Styl, das ist es, was die Werke unseres Autor damals charakterisirte und bezüglich auszeichnete. In und an Gutzkow, wie seinen Zeitgenossen, arbeitete das Erwachen eines modernen Ideals. Aber während nun Viele in allerhand Ausschreitungen verharrten, war es speciell Gutzkow, in dem sich nach und nach die Wolkenschleier klärten, war er es, der den edlen Drang nach ungeschminkter Wahrheit und Realität doch mit jenem unsagbaren Hauche des künstlerischen, weicheren Wirkens zu vereinigen wußte und nach Vollendung des inneren Processes bald mit einer Reihe von Schöpfungen hervortrat, die für die Geschichte der Literatur die Lehre vom Wesen einer neuen Dichtungsweise bieten, einer Weise, welcher, wenn sie auch zum Theil abweichend vom hergebrachten Ausdruck, man den Stempel des Genius nicht absprechen kann. Wenn man „Blasedow und seine Söhne“ in Hinsicht auf Styl, überreife Wissensbeziehungen und etwas erkünstelte Situationen noch der ersten Periode [4] beizählen will, so sind doch hier bereits Planmäßigkeit und künstlerische Abrundung des Ganzen sichtlich; noch mehr tritt das in „Seraphine“ hervor. Die hohe Bedeutung, welche der Schriftsteller später auf dem Gebiete des Romans erreichen sollte, keimt in alle Dem. Zunächst war es aber das Drama, in dem Gutzkow den Geist der Verneinung verließ, und zu haltbaren, positiven Gestaltungen griff. „Richard Savage“, „Werner, oder Herz und Welt“ und das historische Drama „Patkul“ begannen den Reigen. Ihnen folgten „Ein weißes Blatt“, das mustergiltige historische Lustspiel „Zopf und Schwert“, dem sich später „Das Urbild des Tartüffe“ anschloß, und unterdeß die berühmte Tragödie des Dichters: „Uriel Acosta“. Alle diese Dramen sind dem Boden reicher Geistesbildung und reinster Auffassungsgabe entsprossen; und der Umstand, daß der Denker Gutzkow überhaupt ein vortrefflicher Lustspieldichter werden konnte, beweist allein seinen Beruf zur Dichtung. Was den Helden des Hauptdrama, Uriel, anlangt, so ist dieser ein moderner Geisteskämpfer, in alte Tage übersetzt. Und wenn der Dichter auch hinsichtlich dieser Gestalt einen Zug leidenden Zwiespalts, ein menschliches Schwanken vorwiegen läßt, so haben wir nie zu denen gehört, die daran Tadel knüpften. Der Held unserer Zeit ist Mensch geklärten Gefühls und Gedankens, nicht des Fanatismus in Religion, Liebe, Haß, Rache. Der Panzer des Kreuzfahrers, das Schwert des Shakespeare’schen Schlachtenbezwingers weicht heute dem Gedankenblitze und der That des Herzens; die durch das classische Fatum und durch Mord und Todtschlag mittelalterlicher Kräfte gebrachten Lösungen der Conflicte tragen sich heute äußerlich sanfter, innen desto härter und erschütternder aus. Ein Uriel, der nicht hätte zum Beginn des Widerrufs schreiten können, wo die heiligsten Mächte des Lebens dazu lockten, wäre der Mensch nicht geblieben, den Gutzkow dem Denker vorzog. Schwankungen, welche die Sympathie nicht abtödten, bewegen sich in erlaubter Grenze. Der Mensch des alten Drama wollte nicht, aber handelte stets; der Held unserer Tage will [5] und wählt, handelt deshalb also nicht immer. Schwächt sich dadurch zuweilen einigermaßen der äußere Effect, so erhöht sich die innere Lebenswahrheit. Wohlverständlich ist Gutzkows Ausspruch im Vorwort zu seinem Zauberer: „Was ist hier Gutes, was Böses? rufen wohl schon im Beginn die, welche gewohnt sind, nur sich selbst zu hören. Ihr (Wohlwollende und Uebereinstimmende) ermüdet nicht, die Anklage oder Vertheidigung der Charaktere allmälig erst sich aufsummen zu sehen. Nur schwarze oder weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserem Erfahrungsbuche nie finden können, und – stelle doch, du gefallenes Menschengeschlecht, Menschheit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefer Weisheit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren.“ Niemals hat Gutzkow sich unwandelbarer Gradlinigkeit in Schilderung seiner Charaktere bedient, nie nach dem Grauen oder Entzücken erregenden Effecte der Bühnenwelt gehascht. Zu wenig fast ist ihm von dem „Andenpulsfühlen“ des Publikums zu eigen, denn mehrere seiner neuesten Bühnendichtungen, wie z. B. das fein nuancirte Lustspiel: „Lorber und Myrthe“, sind in der That nicht durch Schuld des Dichters erfolglos geblieben, und dem „Philipp und Perez“ dürfte weiter nichts fehlen, als Vereinfachung der Fabel und Aufsetzung einiger frappanter Sonnenlichter des Effects.

Sehen wir in all den erwähnten Productionen den Drang, die Welt, wie sie jetzt ist, mit ihren Kämpfen, ideellen und materiellen Richtungen, Schwächen und Vorzügen, dichterisch wiederzugeben, so wird begreiflich, daß Gutzkow, vor dessen überaus geschärftem Auge sich die Totalität mit tausend wichtigen Einzelbeziehungen aufthürmte, auf den Gedanken kommen mußte, in andere Kunstform als die des Drama, die sich aufdrängende Fülle der Gestaltungen einzugießen. Der Dichter griff naturnothwendig zu dem culturhistorischen Roman. Hier war ein „Nebeneinander“ zu schaffen, d. h. ein ununterbrochenes Sichdurchdringen der mannigfaltigsten Lebenselemente. [6] Hier war die Welt zu spiegeln, ohne die im Drama nothwendige Abglättung und Herabsetzung dessen, was sich um die Hauptgestalten gruppirt. Die „Fülle der Gesichte“ konnte in einem Spectrum concentrirt, mit Einemmale gegeben werden. Es ist jedoch höchst erstaunlich, eine wievielfache intensive Bedeutung Gutzkow seinen Romanen einzuimpfen wußte. Treten wir hier an unsere Aufgabe heran, speciell über den „Zauberer von Rom“ zu sprechen, so treffen doch verschiedene allgemeine Gesichtspunkte auch seinen Vorgänger, die „Ritter vom Geiste“.

Nach hergebrachter Weise ist es nicht die Idee, über welche man einen Roman schreibt, sondern die Begebenheit, die Erscheinung. Gutzkow hat sowohl in den Rittern als im Zauberer die Entwickelungsgeschichte einer erhabenen Idee in dichterischer Form gegeben. Das geistige Ritterthum des protestantischen Deutschlands, insbesondere Preußens in den Jahren 1848 und folgenden, insofern es sich loslöste von der materiellen, grobrevolutionairen Fortschrittspartei, zusammengefügt trotz aller Verschiedenheit der Richtungen und Lebensanschauungen zu einem unbewußten, ideale Ziele erstrebenden Bunde, ist in reicher Gestaltung das Substrat der Idee, welche aus Gutzkow „Rittern vom Geiste“ emanirt. Der rechts, links oder im Centrum stehende Staatsmann, der Rechtsphilosoph, der von den Schwingen allgemeiner Erhebung ergriffene Künstler, das in Frömmigkeit oder in freier Entfaltung athmende Weib, die noble, bedeutende Ziele fassende Speculation aller Glieder des Volkes, auch im Sinne der amerikanische Anschauungen gewinnenden Welt des Ackerbaues und Handels, kurz Alles, was diese unsere Phase der deutschen Geschichte nur aufzuweisen hatte, findet sich selber wieder im Spiegel der reinsten Lebenswahrheit und im geschichtlich unabweislichen Verkehr mit dem Minderguten und Argen des Daseins. Wohl nicht genug ist bisher trotz Bewunderung, die solche Schöpfung fand, die Doppelerscheinung gewürdigt worden, einmal, daß, trotz des stür-[7]mischsten und oft entsetzlichsten Wogens des Zeitgeistes, der Geist der Menschen Zeit fand, sich mit Hingebung in die ruhige Lectüre eines besonnenen, jedem französischen Phantasiekitzel fernen, neun Bände füllenden Romans zu vertiefen – in der That das glänzendste Zeugniß für den Inhalt des Werkes; das andere Mal, daß der Dichter selbst sich eine so große Objectivität zu bewahren wußte, wo die gesammte deutsche Welt in ihren Fugen zitterte! Gutzkow, der liberalste Dichter unserer Tage, hat dadurch eine Charakterstärke, einen weder nach oben noch unten blickenden Geistes-Conservativismus bewiesen, der insbesondere in dem Lande, dessen Kind der Autor ist, bessere Anerkennung verdient hätte, als daß man dort noch heute die besten Dramen desselben den Theatern zweiten Ranges überläßt. Es heißt das einem Dichter Unverwüstlichkeit zutrauen.

Wie in den Rittern vom Geiste, so geschieht es auch im „Zauberer von Rom“, dessen specieller Betrachtung wir uns hinzugeben haben, daß der Dichter die Entwickelung einer mächtigen Idee vor Augen führt. Gutzkow sind wahrscheinlich schon bei Ausarbeitung des Stoffes der Ritter sociale Momente an der Feder vorübergegangen, die nicht in den Rahmen dieses protestantischen Zeitbildes sich fügten, Entwickelungsmomente des Katholicismus in Deutschland. Sein wissensreger Geist fand dabei Anstoß zum tieferen Studium des katholischen Wesens überhaupt, das dem Protestanten bisher ferner liegen mußte, obwohl der jede Zeitregung in sich nachklingen lassende Autor bereits im Jahre 1838 auf Anlaß der Kölner Wirren gegen Görres „die rothe Mütze und die Kaputze“ hatte drucken lassen. In den Rittern vom Geiste verarbeitete der Dichter die positive Idee des Humanismus in Staat und socialem Leben, die katholische Welt bot ihm einen weit schwierigeren, weil negativen Stoff. Sollte hier ein Werk entstehen, das nicht grausame Verneinung der abgeschlossenen, ruhenden, katholischen Kirche wäre, mußte der Autor selbst das positive Element seinem spröden Stoffe hinzutragen. Und das hat [8] unseres Erachtens Gutzkow mit so warmer Hingebung an die Sache gethan, daß Kurzsichtige hier sogar von einer „Schwenkung nach rechter Seite hin“ gesprochen haben, während man sich richtig wohl nur so ausdrücken kann: daß dem Zauberer von Rom der dichterische Vorwurf einer Verklärung des Katholicismus aus sich selbst heraus zu Grunde liegt. Nicht mit protestantischem oder wohl gar rationalistischem Raffinement, sondern aus der Macht herzlicher Empfindung heraus ist Gutzkow an den Katholicismus herangetreten, und gerade dieser seiner inneren Objectivität verdankt der Autor den sonst schwer erklärlichen Umstand, daß vorzüglich die katholische Welt es ist, das gebildete Volk Oesterreichs z. B., welches mit großem Interesse dem Erscheinen des Romans bisher folgte. Der Lutheraner muß sich gewissermaßen erst durch das Werk in fremde Sphäre hineinleben, während der Katholik den Boden seiner Erziehung, seiner Jugenderinnerungen, seines socialen und kirchlichen Lebens von vorn herein wiederfindet*). Es mag hierin die Ursache auch manchen schiefen, protestantischen Urtheils über das Buch zu finden sein. Wenn die Ritter vom Geiste nicht ganz unrichtig der Vorwurf treffen mag, daß ihre Idee auf so zu sagen etwas verschwommene Resultate auslaufe, so war die Idee des Zauberer von vornherein eine begrenztere, präcisere, und hat deshalb auch eine künstlerischere Abrundung der Dichtung, einen befriedigerenden Abschluß derselben gestattet.

Object des Gutzkow’schen Romanes ist also, wie wir soeben entwickelten, die Idee, nicht die Begebenheit. Die mächtigen Ideen der Zeit haben jedoch eine unzählige Menge von Trägern. Der Dichtung war deshalb die andere Aufgabe gestellt, Gestalten als typische Stützen aus der Menge herauszugreifen, mit sichtender Phantasie zu [9] bilden, um den Gedanken zur Anschauung zu bringen. Wie der Gedanke humanen Fortschritts in der realen Welt sehr verschiedene Auffassung erleidet, so sind auch die Ritter vom Geiste nur Eines im Streben und lebendig verschieden in der Art desselben. Der Geschichte unserer Tage ist diese Mannigfaltigkeit der Gestaltung abgelauscht, und die Wahrheit der einzelnen Figuren ist so groß, daß der Leser allenthalben preußische Porträts gespürt hat. Während der alte Roman sich begnügt, Eine Lebensgeschichte, Einen Helden zu geben und um diesen nur Staffage zu gruppiren, so allerdings auch bei Begabung des Autors leichter künstlerische Einheit zu erreichen, hatte Gutzkow die eminente Schwierigkeit: trotz des gewissermaßen in einer Linie geschehenden Vorrücken eines Regimentes dennoch den Gesetzen der Aesthetik zu genügen und Hauptcharaktere durchzuführen, für die Idee des Ganzen wichtige Nebenfiguren in nicht störender und doch durchsichtiger Ferne zu halten. Während sich nun nicht leugnen läßt, daß die Ritter vom Geiste, der erste großartige Wurf nach allen diesen Zielen, hierin die volle künstlerische Abrundung nicht überall erreicht haben, sondern das Interesse des Beschauers in einiger Hinsicht zersplittern, so ist es dem Dichter im Zauberer von Rom gelungen, neben der idealen Einheit auch die reale Einheit der Gestaltungen noch enger festzuhalten, Hauptfiguren zu schaffen, deren Charakterdurchführung, wie wir später sehen werden, zu der vollendetsten der deutschen Literatur gehört, und die zur Basis der Grundidee nothwendigen Nebenfiguren trotz fast überwältigender Reichhaltigkeit in den engsten, künstlerisch nothwendigen Zusammenhang mit den Hauptmomenten des Romans zu bringen. Wir erinnern vorläufig z. B. nur an die Figur des in idealer und doch lebenswahrer Charakterzeichnung vollendet dastehenden Geistlichen Bonaventura und den Zusammenhang anderer Träger der katholischen freien Idee mit dieser Gestalt.

Neben diesen beiden Hauptaufgaben des Gutzkow’schen Romans [10] lebt noch die dritte, welche speciell dem Charakter der culturhistorischen Erzählung entspricht: Sitten und Zeitbilder ganzer Sphären des Lebens zu geben; so im Zauberer des westfälischen Katholicismus, des Hamburger materiellen Wesens, der Wiener „Gemüthlichkeit“, des norditalienischen und des römischen Lebens u. s. f. Und zu alle dem kommt schließlich noch die gewöhnliche Anforderung an jeden Roman: eine phantasiereiche, spannende Fabel zu besitzen, die für unseren Autor sich wesentlich und Schritt vor Schritt nach der idealen Grundlage des Werkes zu richten hatte. Erwägt man das Alles, so muß man in der That staunen, wie ein Schriftsteller sich überhaupt derartige Riesenaufgaben stellen konnte; sieht man schließlich aber den Gordischen Knoten gelöst, so kann neben dem durch die Lectüre erreichten Genusse nur das Gefühl dankbarer Anerkennung für den in dieser Richtung ganz einzig dastehenden Genius unserer Tage übrig bleiben, welcher im Stande war, solch mächtige Entwürfe zur Ausführung zu bringen.

Man kann wohl fragen, ob derartige Schöpfungen eine neue Kunstgattung auf dem Gebiete des Romans begründen; und diese Frage möchten wir allerdings nicht bejahen. Romane, wie die Ritter vom Geiste und der Zauberer von Rom, vermag nur ein Geist wie Gutzkow zu schreiben, der Reichthum im Wissen von allen Dingen der Zeit, philosophisch durchbildete Lebensanschauung und eiserne Arbeitskraft mit jener Gabe glücklich vereint, die wir „Verdichten“ oder Dichten nennen, und deren Ingredienz die gestaltenschaffende Phantasie ist. Es wäre thöricht auszusprechen, daß ein Romandichter nur der sein könne, welcher dies alles in sich vereinigt, aber einen Rückschlag auf alle fernere Dichtungsweise unserer Generation werden Gutzkows Romanschöpfungen ausüben. Der Autor hat wohl einmal von einer „Poesie des Geistes“ gesprochen. Man kann darunter das vom Schriftsteller auszuübende Rechnungtragen der philosophischen Idee, des modernen Bildungsgedankens verstehen. [11] Soll der Dichter wahre Gestaltung bieten, muß er uns geben wie wir sind. Wir sind eine „Nation von Denkern“, unsere Bildung vermag aus sich die Macht der Speculation nimmermehr wieder hinauszustoßen, und, um an Eingangsworte wieder anzuknüpfen, der einfache, kindliche Held der griechischen Tragödie genügt uns nicht mehr, er steht zu uns wie ein Mensch der Idylle. Wir wollen all seinen Herzensreichthum, seinen Muth, seine Gefühlstugenden; wir wünschen aber ein Etwas hinzu, was der Lauf der Jahrhunderte geboren hat: die Macht der Idee, das Haben vom Geiste. Unser Gefühl ist Mann geworden und drückt seinen Schmerz nicht aus wie Hektor oder Achilles, deren Mannheit auf anderen Vorzügen beruht. So lange wir an den Fortschritt des Menschengeschlechts glauben, so lange müssen wir Andere sein wollen als vor zweitausend Jahren. Eine Poesie des Herzens und der einfachen Thatsachen will auch das neunzehnte Jahrhundert, associirt ihr aber die geistige Frucht, welche die Geschichte vom Baume der Menschheit gepflückt hat. Stand über den Helden des Alterthums das Fatum, das Gängelband des Geschickes, so schwebt über den Geistern von heute die im Bewußtsein der Einzelnen wurzelnde, aber zur Herrin über Alle werdende Idee. Und das ist es wohl, was Gutzkow unter „Poesie des Geistes“ versteht, das ist es, wonach sein willenskräftiges Wesen als nach einem modernen Ideale trachtet. Seit unser Autor dieses Triebes sich bewußt geworden, ist er herausgetreten aus seinen „kritischen“ Anfängen, aus dem Geiste der Section und Verneinung. Hat er einen anderen als hergebrachten Begriff von dichterischer Wahrheit und Schönheit, so steht es dem, der seine Schöpfungen kennt, nicht zu, in hergebrachter Anschauungsweise darüber zu klügeln. Die Ideale, welche schaffen und wirken, haben sicher guten Kern. Gutzkow sagt einmal in seinen vielgelesenen, an Anregungen reichen „Unterhaltungen am häuslichen Herd“: „Was ist schön? Dasjenige, was in einem und demselben Augenblicke die Phantasie überrascht, dem Gemüthe [12] wohlthut und den Verstand durch seine Richtigkeit befriedigt.“ Es dürfte das eine Selbsterläuterung sein. Der Proceß freilich, den das moderne Ideal, welchem Gutzkow nachstrebt, durchläuft, ist noch nicht abgeschlossen, aber wir fühlen, daß diese neue, gewaltig in die Gebilde der Zeit eingreifende Dichtungsweise Saiten angeschlagen, deren Nachklingen unser Bildungsstand nicht verleugnen kann. Den letzten Urtheilsspruch fällt über den ausgehenden Proceß die Nachwelt, die Geschichte.

Neben dem didaktischen Gedicht erfreut sich noch „der Roman“ als Dichtungsform des Zweifels mancher Aesthetiker, ob man ihn überhaupt zu den Kunstformen rechnen dürfe. Haben schon hinsichtlich des ersteren Leopold Schefer, Sallet u. a. bewiesen, daß man mit allgemeinen Formelurtheilen in der Poesie nicht wohl durchkommt, sondern, daß es schließlich der schaffende Genius ist, welcher den beweisenden Stempel den Papieren aufdrückt, die Frau Dichtung auf sich selber ausstellt, so ist auch mit dem Roman die Frage, ob er Weihe in sich trage, eine casuelle. Ihn schlechthin, wie in Selbstüberhebung das kleinere Epigonenthum sagt, als das neue „Epos“ auszupredigen, dürfte ebenso fehlgegriffen sein, als ihm kraft seiner Form von vornherein die höhere Wesenheit abzusprechen. Das Epos ist vermöge seiner Präcision der Gestaltung dem classischen Ideale verwandter und wird stets seine Selbständigkeit behaupten. Ebenso wenig zu leugnen ist aber, daß Dichtergriffe in unsere Zeit, in die Massenhaftigkeit unseres Seins und Lebens Berechtigung haben, eine dem Stoffe angemessenere Form zu wählen; und das bezieht sich auf geschichtliche Darstellungen ganzer Epochen überhaupt. Wer hat nicht mit Begeisterung jene herrliche Wiedergabe der das Christenthum zum Durchbruch bringenden Zeit gelesen, die Kingsley in seiner „Hypatia“ bietet? Drei Epen hätte der hochbegabte Pfarrer von Eversley schreiben müssen, wenn er statt des Romans hier die Form des Heldengedichts gewählt hätte, und immerhin würde es ihm dann [13] nicht gelungen sein, „die Gedanken“ jener Zeiten der Dichtung einzuimpfen, dem Bilde die philosophische Farbe anzuhauchen, welche „die Poesie des Geistes“, wie wir oben besprachen, unabweislich fordert. Der Gedanke einer ganzen Epoche verlangt eine so großartige Gliederung hinsichtlich derer, die ihn tragen sollen, daß der Dichter hier nach innerem Instincte die Form des Romans wählen muß und des letzteren poetische Berechtigung decretirt. Wenn Ritter Josias Bunsen auf Veranlassung der Lectüre der Hypatia sagt: „Ich habe seit mehreren Jahren kein Hehl daraus gemacht, daß Kingsley mir der Genius des Jahrhunderts zu sein scheine, berufen, jenem erhabenen dramatischen Epos der Neuzeit von Johann ohne Land bis Heinrich VIII. eine ebenbürtige Reihe von Eduard VI. bis zur Landung Wilhelms von Oranien an die Seite zu stellen“ so mag man daraus ersehen, daß Kingsley gewiß der Mann ist, zu beurtheilen, wo man ein Drama, wo ein Epos zu wählen hat, und zu beweisen, daß für manche Stoffe beide nicht ausreichen. Der Roman ist eine vollberechtigte Kunstform, sobald man dabei nicht an die Dessert und Mittagsruhe bietende „historische“ Unterhaltungslectüre der heutigen Damenwelt oder an die Erholungsstudien jener Männer denkt, denen am Ende doch ein guter Dumas lieber ist, als das Nachdenken fordernde Werk eines Kingsley oder Gutzkow. Wir nennen absichtlich beide, denn wir unterschreiben nicht das Wort Bunsens: „Hypatia und Hope’s ‚Anastasius’ sind die beiden einzigen geschichtlichen Lebensbilder des europäischen Schriftthums, welche die Nachwelt lesen wird.“ Gutzkows „Zauberer von Rom“, welcher unsere Feder und unser Herz in Bewegung setzt, wird auf dem Lesepult der Zukunft nicht fehlen.

Welche Ideenentwickelung Gutzkow mit diesem seinen culturhistorischen Romane hat geben wollen, ist bereits im Allgemeinen besprochen worden. Wir wenden uns jetzt zu dem Besondern. Der Roman zerfällt in eine Vorgeschichte und in den die Hauptaufgabe [14] lösenden Theil; erstere wird im ersten Bande geboten, die folgenden acht Bände bilden den wesentlichen Inhalt des Werkes. Der erste Band hat die doppelte Absicht, erstlich die Vorgeschichte der drei Hauptpersonen des Buches zu geben, zweitens aber der Idee des Ganzen den düstern, historischen Hintergrund zu bereiten, von dem alle Hauptbegebenheiten ausgehen, in dessen Gegensatz sich aber auch die Hellseite des Gemäldes abklären soll.

Das ideale Gefäß für die sich läuternde Idee des Katholicismus ist die Predigergestalt Bonaventura’s von Asselyn. Ihm zur Seite steht mit allem magnetischen Duft innerer Beseligung und weiblicher Reinheit die junge Gräfin Paula von Dorste-Camphausen; ihm und ihr gegenüber bewegt sich ein nicht böses, nicht gutes Wesen, Lucinde, die jedoch genug des Dämonischen hat, um den zwei Heiligen Stand zu halten, die ihre Lebensbahn durchkreuzen. Wenn nun das edle Princip nur der Setzung bedarf, um Sympathie zu erwecken, so sah der Dichter wohl ein, daß die Dämmergestalt Lucinde sich vor des Lesers Augen entwickeln mußte, um den Reiz zu beanspruchen, der ihr im Haupttheile des Werkes von vornherein zukommen soll. Und so mag es mit dichterischem Scharfblick geschehen sein, daß sich der die Grundidee einleitenden Vorgeschichte des Ganzen speciell die Jugendgeschichte Lucindens einwirkte, vor deren „jungem Dämmerleben nur Funken spielend auf- und niederhüpfen“, welche vom zweiten Bande an zünden sollen. Der historische Hintergrund aber, den der erste Band zugleich bietet, ist für uns Deutsche in trauriger Beziehung wichtig. Das westfälische Schloß des Freiherrn von Wittekind-Neuhof ist es, des Kronsyndikus des ehemaligen Königreichs Westfalen, auf dem sich die Keime des Romans entwickeln. Die dort jetzt düsteren Zimmer verrathen alte Eleganz, ihre verhangenen Gemälde und Ausschmückungen sind keineswegs von nazarenischem Geschmack. Alles erzählt, daß die Blüthezeit des jetzt alternden Kronsyndikus eine wilde, dem französischen Königthum [15] nachbildende gewesen war. Damals kamen über Kassel Französinnen und Italienerinnen als angebliche Verwandte des Stammherrn; sie kamen zu Lichterglanz und Freudenfeuern, verschwanden aber über Nacht nach einer Scene wie Mord und Todtschlag; aus düsteren Parkpavillons entfernten verschlossene Wagen die von ihrem Glanz Herabgestürzten. Ein nun längst verschollenes Fräulein von Gülpen regelte alle diese Affairen, die dem Habitus des alten Kronsyndikus einen unauslöschlichen Stempel roher Härte und geselliger Unzartheit, wie herrschsüchtigen, gewaltthätigen Temperaments eingeprägt haben. Jeder Neuerung seiten der Regierung hält er sein widersetzliches: Ihr Ghibellinen mit Euren Kaisern! entgegen, und: wir Welfen mit unserem Rom! Sein eigener Sohn, der Regierungsrath von Wittekind, und sein alter Freund und Generalpächter, der sogenannte Deichgraf Klingsohr selbst werden ihm feindliche Phantome der Neuzeit, weil sie den Rechten der Bauern und Gemeinden Rechnung tragen. Das letzte Austoben des alten Freiherrn und seine Beziehungen zur stürmischen Vergangenheit – hört man doch, daß jetzt noch eine ihm Angetraute in Italien leben soll – das düstere Leben auf Schloß Neuhof und im „Düsternbrook“, einem dahinter liegenden Walde stämmiger Eichen, das ist der Ausgang der großen Entwickelungen, welche den Roman tragen. Hier ist es, wo die sechzehnjährige Lucinde auftaucht nach dunklen Kinderjahren, und wo sie den Grund legt zu all’ dem intriguanten, leidenschaftlichen Treiben ihrer späteren Jahre. Hier ist zugleich der Boden, wo die ersten Zauber Roms wirken, das erobernd uns Deutsche da packen kann, wo wir im Geiste verkommen oder barock sind.

Lucinde, die Tochter eines armen Schullehrers zu Langen-Nauenheim in Hessen, fährt als Dreizehnjährige zur „Frau von Buschbeck“ nach der Residenz, bei dieser Hexe die Behandlung als Magd und schlechtere zu finden, bis die städtische Behörde sie ihrer Peinigerin entreißt, in welcher letzteren wir die obenerwähnte, bei [16] den Lastern des Kronsyndikus großgezogene Gülpen wiederfinden, die sich nur fälschlich den Namen ihres Liebhabers Buschbeck, eines jetzt bei Neuhof im Kloster Himmelpfort verborgenen Mönchs („Hubertus“) beigelegt hatte, wie Lucinde später auf Neuhof erfuhr. Aus der Residenz als Fünfzehnjährige mit ihrem Anbeter Oskar Binder die Reise nach Amerika antretend, macht Lucinde die Erfahrung, daß dieser ein Spitzbube, der seinen Herrn bestahl, und entflieht dessen Schicksale durch Selbstrettung in Waldeinsamkeit, wo der jüngere geistesschwache Sohn des Kronsyndikus von Wittekind, Jerome, sie auffindet und als anbetungswürdige Fee in die Pfarrei bringt, welche ihm selbst Schuß und Herberge gewährt. Von hier werden Beide durch den alten Kronsyndikus nach Neuhof geführt, wo Lucinde als geduldetes und bezähmendes Anbetungsobject Jerome’s bleibt, bis zur Zeit einer tragischen Katastrophe. Der Deichgraf Klingsohr wird im Düsternbrook mit dem Nickfänger erstochen gefunden, der Verdacht fällt auf den Kronsyndikus; dieser, der seinen Jerome versorgt, schließt jedoch auffallenderweise ein enges Bündniß mit dem Rechtsgelehrten Klingsohr, dem Sohne des Gemordeten, sodaß sich die Welt dabei beruhigt, der eingezogene Küfer Lengenich, ein Anhänger der herrschaftlichen Ideen und deshalb heftiger Gegner des alten Klingsohr, werde der Mörder sein. Auch Lucinde glaubt daran und gibt sich den Wünschen des jungen Klingsohr, sowie des Kronsyndikus hin, des ersteren, eines unschönen, aber geistreichen Menschen Braut zu sein; wird zunächst in einem Hamburger Pensionat herangebildet, sie, die vorher schon französische und lateinische Brocken Jerome’s aufgelesen hatte, und begibt sich, nachdem Klingsohr den ihn hier schmählich beleidigenden Jerome im Duell erschossen, nach Kiel, wo ersterer Festungshaft erleidet.

Ueberall erregt Lucinde, die in so seltsamen Verhältnissen „Herangebildete“, zumal feuriges Wesen und kokette Augen sie auszeichnen, das größte Aufsehen der Männer- und Antipathien der Frauen-[17]welt. Klingsohrs Wesen fängt ihr an unerträglich zu werden; sie entflieht ihm und dem alten Kronsyndikus, treibt sich mit einer Schauspielerfamilie herum, deren Haupt, Serlo, ein edel angelegter, aber kranker Mensch, ihr platonischer Freund und Lehrer wird; macht einen unglücklichen Versuch, selbst die Bühne zu betreten, und gelangt sodann, da sie Serlo durch den Tod verloren, in ein orthopädisches Mädchenheilinstitut, leicht die hier gestellte Bedingung des Uebertretens zur katholischen Kirche erfüllend.

Nicht durch, diese trockene Lebensskizze irgendwie Wiedergabe bezwecken zu können, sondern um die Möglichkeit basirten Urtheils über den ersten Band des Werkes zu gewinnen, geben wir solch kurze Mittheilungen gerade über Lucindens Lebenslauf. Das Fertigmachen ihrer und der mit ihr zusammenhängenden Personen, wie namentlich des jungen Klingsohr, zum großen Turniere der Geister, welches vom zweiten Band an beginnen soll, ist ein Meisterstück. So lebendig reiht sich Situation an Situation und Charakterzug an Begebenheit, daß der Leser nach und nach in jenen Champagnerrausch geräth, in dem Klingsohr zum ersten Male stürmisch dem jungen Mädchen auf Schloß Neuhof seine Liebe erklärt. Diese Vorgeschichte wäre ein selbständiger Roman, eine menschliche Dämonologie, wenn das ihr Zweck hätte sein sollen. Und glänzend offenbart sich hier nicht nur Gutzkows Erzählungsgabe, sondern vor allem sein Beruf zur dramatischen Charakteristik der Personen und Ereignisse. Das erste Kapitel, die Schulmeisteriade von Langen-Nauenheim, enthält auf elf Seiten ein ganzes, ausreichendes Lebensbuch über Gottlieb Schwarz, den von hohen Intentionen zur Fuhrmannskneiperei herabgekommenen deutschen Schulmeister. Man muß freilich an Gutzkow mit jener Fähigkeit herantreten, zum angeschlagenen Tone die darunter und darüber liegenden Terzen, Quarten, Quinten und Octaven zu hören. Auf elf Seiten eine ganze „Dorfgeschichte“, in Einem Kapitel die nüancenreichste Charakteristik des alten, harten Kronsyn-[18]dikus, bei erster Begegnung Klingsohrs die durchsichtige Anatomie seines Wesens, nach Vergangenheit und Gegenwart gemessen. Und dabei wird nie über die zu schildernden Personen geredet, wie das lang und breit ganze Abschnitte der Romane anderen Schlages bildet, sondern die Handelnden treten vor, aus der Coulisse so zu sagen, und spielen ihre Scene mit jener packenden Plastik ab, die große Bühnendichter auszeichnet. Rede und Gegenrede, dazu ein Stück präcis benannter Staffage ist Alles, und doch weiß der Zuschauer stets, was ist und sein soll, überall lichtet durch die dunklen Blätter der Erzählung die Ahnung der Zukunft, die Klarheit, warum die einzelnen Züge so und nicht anders gegeben werden konnten. Daß man es, wie nach Erscheinen dieser Vorgeschichte unbedachtsame Kritik vermißte, nicht mit ruhig dahinfließendem Familienglück, sondern mit in sich leidenden Menschen zu thun haben sollte, war der Aufgabe gemäß, dem Zaubernetze Roms geblendete Schmetterlinge zu schaffen. Wie ist es erklärlich, daß Lucinde der transalpinischen Centralsonne zuläuft! Wann hätte ihre Jugend ihr einen deutschen Halt geboten? Vergangenheit und Gegenwart der großen, sie plötzlich umfangenden Umgebung auf Neuhof spiegelte sich im gewaltigen Abglanze einer hierarchischen, allmächtigen Welt voll finsterer aber lockender Geheimnisse. Das junge Mädchen, eine verschlossen angelegte, aber durchaus unsinnliche Natur, erblühte an einer nur ihren Ehrgeiz nährenden Stätte; Verwirrung war Alles, was sie erlebte, und wenn dieses Kind ihrer Zeit an Serlo’s Grabe seufzt: „Verwirrung, Krieg, fester Wille nur, und den Fuß gesetzt auf jeden Nacken, der sich nicht beugen will, das ist allein eine Aufgabe des Lebens werth!“ so will der Dichter damit sagen: so mußte Rom diesen herben Charakter finden, um durch ihn sich den Zeitbestrebungen gegenüber zu stellen. Im Ganzen ist auch damals, als der erste Band des Zauberer erschien, die nennenswerthe Kritik diesem Ideengange mit Anerkennung gefolgt, und wir stimmen nur einem kleinen Tadel der Entwickelung [19] dieses weiblichen Wesens bei. Lucindens Jungfräulichkeit wird einer großen Liebe aufgespart, entwindet sich deshalb in selbsterhaltener Würde allen verführlichen Angriffen eines Binder, eines geistvollen Klingsohr. Der später einen Bonaventura Anbetenden mußte demgemäß aber die Liebesscene mit Klingsohr auf Schloß Neuhof weniger Flügelstaub nehmen. Die für Klingsohrs Offenbarung bezeichnend und überaus fesselnd angelegte Scene durfte sich nicht zu kraftlosen Abwehrungsversuchen stürmischer Zärtlichkeiten und zur Bewußtlosigkeit Lucindens verlieren. Es läßt sich nicht leugnen, daß Gutzkow hie und da noch heute in das Hyperraffinement einer abgethanen Periode seiner schriftstellerischen Entwickelung verfällt, welches Schaden bringt. Erst nach Durchlesung weiterer Kapitel gelangt man zu der Ueberzeugung, daß die Gefährdete kraft ihrer starken Natur und wohl auch kraft der geistigem Gebiete treu bleibenden Ueberschwänglichkeit des Liebhabers an der Klippe glücklich vorübergeschwommen ist. Der Eindruck ist zunächst störend und verwirrend, jedoch leicht abänderlich. Es wäre passend, daß nicht Lucinde, sondern der durch finstere Offenbarungen und durch Weinrausch bis in des Lebens Mark erschütterte Klingsohr in einen Zustand bewußtloser Erstarrung verfiele, und daß Lucinde hier schon, wenn auch noch unbewußt, eine Grenze zwischen sich und ihm zöge und selbst seine Entfernung aus dem Schlosse veranlaßte. Der wilde Schlummer und bestrickende Traum des ebenfalls erregten Mädchens könnte trotzdem nachfolgen.

Wie Lucindens, so ist auch des Doctor Klingsohr Hinführen zu der ihm bestimmten Aufgabe ein durchaus gelungenes und mit außerordentlicher Charakteristik durchgeführtes. Der burschikose vormalige Göttinger Student, der noch heute bramarbasirende, angeblich etwa zwanzig Schriften auf einmal schreiben wollende Bierstubenbegeisterte ist auf Schloß Neuhof, in Hamburgs Alsterpavillon, in Kiel derselbe, der Göttingen mit einer ihn erdrückenden Ueberfülle von Anschauungen [20] verließ. Schon nennen ihn seine Freunde den „Abadonna“ vor gänzlichem Fall oder vor seiner – Läuterung. Ein „hohes Gnadenbild“ betet er in der ihm nur um des Kronsyndikus willen und, weil keine wahre Liebe hemmt, eine Zeit lang sich nicht völlig entziehenden Lucinde an. Und als er nach und nach seine Ohnmacht über das schöne weibliche Irrlicht empfindet, fängt er, der Protestant, in Verzweiflung und Lebensüberdruß schon an, mit Ludwig von Haller gegen Luther Schimpfworte auszustoßen, sich im Kerker wohlzufühlen und zu schreiben: „Es liegt ein Zauber im Dulden und Gehorchen, im Müssen, die wahre Freiheit im Sichgefangengeben.“ Dazu konnte der moralisch Bodenlose sich mit dem Kronsyndikus, dem Mörder seines Vaters – denn ihm enthüllte sich der Alte mit der Vorspiegelung, Klingsohr sei vielmehr sein, des Freiherrn, Sohn – verbinden und so die letzte Kraft der Ehre von sich selber streifen – – was fehlt nun noch? was lassen alle die feinen Streiflichter, welche auf des von Lucinden Verstoßenen Zerrissenheit fallen, ahnen? Die Vorgeschichte sagt es noch nicht. Wer sieht in dieser Gestalt nicht aber lebendige Beispiele unserer Tage vor sich? Geistreiche, hochgebildete Köpfe, mit sich selbst zerfallende Herzen, die in jene vom Mittelalter her in Deutschlands Geisterströmung tauchende Angel Roms beißen, und, weil sie sich selber entfliehen möchten, freiwillig den Käfig des Convertitenthums suchen! Ein Zauber liegt in dem selbst dem freisinnigen Katholiken verschlossenen Formelwesen der alten katholischen Kirche, wie diese dem durch das Leben ermüdeten Wandrer entgegentritt. Der bereuende Sünder, der des Denkens Ueberdrüssige, der sogar des Wollens nicht mehr Mächtige – und Klingsohr wandte sich schon zum Opiumrauchen – erblickt in seiner Wüste plötzlich die Erquickung, Ruhe und Frieden bringende Oase. Was künftig zu glauben, zu wollen, zu handeln sein wird, ist dictirt, ist befohlen, ist eine Erholung von dem eignen selbstwilligen Drange, der zu so namenlosem Elend führte. Was dem im Katholicismus Gebornen ein schöner Kindheitstraum [21] ist vom Gnadenlächeln des Schutzheiligen, vom süßen Trost des Rosenkranzgebetes, vom Duft der Blumen, die man gläubig dem geliebten Priester weihte, das ist dem abgehärmten Convertiten das ersehnte unerschlossene Paradies, in dem er zum Kinde werden will, und in dem, wehe, wenn das Gesuchte dann dem älteren Geiste sich doch nimmer findet, zum – Dämon werden kann!

Wie tönt die Litanei der Heiligen durch die Kathedrale, wo jetzt der Bischof dreien jungen Priestern die Weihe giebt. Lucinde steht in der dichten Menschenmenge und stammelt mit ihr das wiederholte „Bitte für uns!“ Wohl scheint die warme Tagessonne in den Tempel, aber heiliger scheint das Kerzenlicht an den Altären, die tausend fromme Frauenhände mit köstlichen Blumen schmückten. „Bonaventura von Asselyn“ ist es, der gesegnet wird. „Nimm,“ ruft der Bischof, „nimm auf dich das Joch des Herrn! denn sein Joch ist süß und seine Bürde ist leicht!“ Vor dem sich hingebenden Mädchengeiste Lucindens schwinden alle die Schreckbilder der vergangenen Tage, eine höhere Eingebung kommt über die Friedensuchende – die begnadete Erscheinung des schönen Priesters vermischt sich in ihren Gedanken mit denen an den besten, edelsten Freund, an Serlo. Das ist Serlo! der arme, getreue; so hätte er vor zehn Jahren hier stehen können, er, der seinem Seminar aus Abneigung gegen dessen Lehren und Treiben damals entfloh. „Derselbe schlanke Wuchs, dieselben edlen Züge.“ Eine neue, heilige Welt ersteht der Geblendeten: die der erhabensten Liebe, aber der Liebe zu einem – katholischen Priester! Der Dom hat sich geöffnet, in dem Lucindens irre Bahnen münden; die Bühne der großen katholischen Welt harret des Aufzugs. Das Auge des Lesers schaut im Geiste unendliche Perspectiven; und hiermit endet die Vorgeschichte zu Gutzkows Zauberer von Rom.

Gutzkows Roman durcheilt unsere eigenen Tage, allein es ist ein glücklicher Griff des Dichters, die Entfaltung der „Idee des Katholicismus“ hauptsächlich in die Zeit der Kölner Wirren zu legen [22] und diese als den Ausgangspunkt der Darstellung vorzuführen. Der zweite und dritte Band des Werkes gruppiren ihre Erscheinungen näher oder entfernter der „Residenz des Kirchenfürsten“. Zuerst ist es „Kocher am Fall“, wohin Lucinde, die in sich abgeschlossene Convertitin, als „Nichte“ der Gesellschafterin des dort in unruhiger Zeit sein friedliches Lebens-Ausruhen feiernden Dechanten Franz von Asselyn eilt. Der alte Geistliche, dem protestantischen, gouvernementalen Aufklärungsthum des preußischen Staates ebenso Feind, wie dem kühn und rücksichtslos sich regenden Treiben der Römlinge, ein klarer Kopf Wessenbergischer Richtung, zeigt sich hier im Frieden ländlicher Stille, verträglich mit einzelnen Personen des den Rheinlanden unangenehmen östlicheren preußischen Beamtenthums, hält aber trotz idyllischer Behaglichkeit ernste Warnungsrufe für seinen geliebten Neffen, den Pfarrer Bonaventura von Asselyn, in Bereitschaft, ihn abzuleiten von der mittelalterlichen Strömung der Zeit. „So viel Schönes, so viel Erhabenes in unserer Kirche,“ ruft er aus, „so vieles, was den poetischen Menschen in uns mit den tiefsten Ahnungen und Schauern durchrieselt – wenn nur so vieles Andere, was dem Menschengeiste von unsterblichem und göttlichem Werthe sein darf und muß, nicht in ihr verloren ginge!“ Der Dechant „mochte nicht den Protestantismus, hätte aber gern eine katholische Kirche gehabt, in der Licht und Aufklärung, alle Künste und Wissenschaften, die den Menschengeist, vorzugsweise den deutschen, ehren, Platz behalten hätten.“ Bonaventura, viel inniger vom Geiste der katholischen Welt durchdrungen, vermag harte Urtheile des geliebten Onkels über das ernste Zusammenwirken der Geistlichkeit nicht zu unterschreiben. „Es muß eine Pflanzschule des Geistes der Aufopferung geben, irgend eine magische Zauberformel muß alle halten und regieren. An dem Muth, dort unter den Gerippen und dem Schnee des St. Bernhard auszuhalten, arbeitet der streitende Geist derer hier unten mit! Das ist ja das Geheimnißvolle in unserer Kirche, daß sie ein Zu-[23]sammenwirken tausendfacher Kräfte ist, wo sie wunderbar durch die Formen ersetzt, was an den Personen sich heute findet, morgen fehlt. Unsere Kirche befreit den Geist von den Launen des Zufalls, der Natur!“ „Sie werden,“ warnt der Dechant, als sein Liebling einen Ruf erhält, Sr. Eminenz dem Kirchenfürsten in Köln Aufwartung zu machen, „deine Liebe zur Religion mit einem neuen, dir fremdartigen, verfälschten Stoffe schüren! Sie werden dich in ihre Bahnen reißen, die Bahnen der Zerstörung, des Kampfes, der Auflehnung gegen Gesetz und Obrigkeit, des Kampfes gegen das theure Vaterland.“ Und gewaltig schürt man ringsum allerdings schon den Brand. Wie eifert auf der Pastoralconferenz Beda Hunnius, der dereinst vor Lucinden mit Bonaventura zum Priester Geweihte. Dieser fanatische Herausgeber „des Kirchenboten“ und der „Jerichorosen“, „sieht das Volk Gottes in der babylonischen Gefangenschaft“ und erblickt im protestantischen Herrscher „einen assyrischen König“. Seiner Meinung nach wüstet die Regierung in den Besitzthümern der Kirche, wirthschaftet mit ungerechten Steuerauflagen und mit Säcularisiren, begeht eine Sünde durch Duldung der Philosophie und in der Frage von den „gemischten Ehen“. „Es ist ja nicht Proselytenmacherei, die uns gebietet, eine Ehe zwischen Rechtgläubigen und Heterodoxen nur dann einzusegnen, wenn ein Versprechen vorangegangen ist, daß die Kinder, gleichviel welchen Geschlechts, katholisch werden. Fühlt ihr uns denn die tiefe Verpflichtung nicht nach, die wir haben, gleichsam aus dem katholischen Dasein erst das wirkliche menschliche Leben überhaupt zu machen und das blos natürliche, thierische, irdische, unerlöste, durch Christi und der Märtyrer Blut nicht erkaufte Leben aufzuheben?“ Und was ist Beda Hunnius gegen jenen, nach langen Geißelungen der Klosterhaft entlassenen Pater Sebastus, in dem wir den Doctor Klingsohr wieder erkennen. Wie geistvoll schriftstellert und redet dieser Convertit gegen das deutsche Ghibellinenthum. Als bittender Franziskaner sein Brod suchend, alle Erinnerung an menschliches [24] Bedürfniß in sich abtödtend, durch Pater Hubertus im Kloster Himmelpfort von allen alten Sünden gereinigt, die Füße nur mit Sandalen umfassend, den alten geistigen Schwung aber concentrirend in dem heißen Fanatismus für „die heilige Roma“, predigt Pater Sebastus für Wiedereinführung der Jesuiten allerorten, eifert er gegen alle Neuerungen der sogenannten Volkswohlfahrt, die er mit den „Fleischtöpfen Egyptens“ vergleicht, hofft, daß der Kirche als Siegerin „gegen die Neuerungen des sich souverain dünkenden Menschenverstandes“ sich zuletzt auch die Pforten der Thronsäle im jenseitigen Lager öffnen werden, und daß die Vorkämpfer der Kirche mit Triumphbögen eingeholt werden als die Retter des Gesetzes und der Ordnung. Auch er, der tapfere Ueberläufer, muß freilich, wie wir sehen werden, noch eine andere Macht der vergötterten Kirche empfinden lernen: die gegen die eigenen Glieder, die nach innen gewandte. So wie Gutzkow mit bewundernswerther Charakteristik diese so eben berührten Priesterbestrebungen der Kölner Zeit schildert, gelingt es ihm nicht minder, die noch schwierigere Aufgabe zu lösen, den strengen Kirchenfürsten selbst vorzuführen. Der dritte Band spielt in Köln selbst, und hier ist es, wo Pater Sebastus (Klingsohr) und Bonaventura vor dem Erzbischof zusammentreffen. Hier ist es, wo sie sehen, wie dieser gewaltige, mit aller Macht der Ueberzeugung vorschreitende, selbst ein Ultimatum seines Königs dann, wo es die Belehrung und Fesselung eines fehlenden Gliedes der Kirche gilt, gern uneröffnet lassende Mann den Geist dieser Mutter Aller auffaßt. Armuth des Geistes predigt er dem geistreichen Convertiten und auch dem seelenvollen Bonaventura, der künftig den Beichtvater des Pater abgeben soll. „Die Dienste, die ihr Poeten und Künstler dem römischen Glauben geleistet habt, verkenn’ ich nicht, doch waren und bleiben sie gefahrvoll. Sie entbehren nachhaltiger Wirkung. Oder glauben Sie, daß alle die Fortschritte, die wir in diesen Tagen in Frankreich, Deutschland, Spanien gemacht haben, gemacht haben mitten unter den Stürmen der poli-[25]tischen Bewegungen, nur Folgen der wiedergebornen schönen Künste sind? Diese Fortschritte verdanken wir nur dem bei so vielem Flitter der Bildung gerade zum wahrhaften Herzensbedürfniß gewordenen Bekenntniß der geistigen Armuth. Armuth, Armuth! Nüchternheit, Entbehrung, Gefangengabe unserer Ueberzeugungen an ein Gegebenes, Wiedererweckung der Würde des Beichtstuhles, der geregelte Kirchgang, die Wiederherstellung alles dessen, was über religiöse und politische Dinge in dem gesundesten Theile des Volks, dem Bauernstande, diesem plötzlich nun ja auch von eurer Poesie verklärten, lebte, Ascese, Wallfahrten, wiederhergestellte Bruder- und Schwesterschaften, das ist der Geist der Stetigkeit, der allein die Kraft zum Glauben wecken und darin die Ausdauer bestärken kann.“ Wie wankt der von des Kirchenfürsten Spähern bei einer weltlichen Anwandlung, bei „dem Besuche des Theaters!“ beobachtet gewesene Klingsohr von dannen, nachdem ihm der Fürst vorgeschrieben, ferner und bis Weiteres nicht mehr zu sprechen als ein Ja und Nein auf seines Beichtvaters Frage! wie ist der strebsame, fanatische Geist verkohlt bei dem Flammenrufe des Erzbischofs nach „Armuth im Geiste“; wie ist das Letzte genommen und der durch tausend eitle Selbstpeinigungen gewonnene Glanz vor sich selber dahin; wie seufzt der Pater an seiner geistigen Kette, wie – tönt es leise auch schon in Bonaventura’s mildem Geiste an vom Zweifel an der Unfehlbarkeit der eisernen Kirche! War nicht immer die furchtbare Last des Wissens von Sünde und Schande Hunderter aus dem Beichtstuhle und des Nichtverrathendürfens dem Pfarrer als ein beängstigendes Etwas erschienen? Fanden nicht zuweilen die reformirenden Worte des würdigen Dechanten einen Wiederhall in der stürmisch erregten Brust des gewissenhaften Bonaventura? Und warum mußte der Strebsame heute gerade jenen räthselhaften Brief auf seinem Pulte finden, den schon der Dechant zugesendet erhalten hatte: „Sub sigillo confessionis. Fiat lux in perpetuis. Quando quis tibi occurit fidei romanae sacerdos, der nicht den Tod eines [26] Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um unsere Kirche von ihren Fehlern zu reinigen, so theilen Sie ihm unter dem Siegel der Beichte mit, daß sich am 20. August 18** unter den Eichen von Castellungo zwischen Coni und Robillante am Fuß des Col de Tende aus allen Theilen der Welt eine Versammlung gleichgesinnter Freunde und Wetteiferer um die Ehre unseres neuen Martyriums einzufinden gedenkt. Es werde Licht in Ewigkeit!“ Freiheit, Freiheit riefen tausend Stimmen in Bonaventura’s Brust. „Alle Creatur schien ihm zu schmachten nach Erlösung. Die gefesselte Zunge der ganzen Menschheit schien ihm nach Sprache zu ringen.“

So die Hauptträger der Idee im zweiten und dritten Bande. Es ist schwer, das Charakteristische aus der Ideenentwickelung herauszuheben und zugleich eine Gesammtanschauung zu ermöglichen. Der gebotene geistige Stoff ist ein reiches Meer von Gedanken, aus dem der Leser selbst schöpfen muß, ohne sich zu tief in die verlockenden Seitengänge des spannenden Unterhaltungsstoffes einzulassen. Die Entfaltung des Gemäldes wird übrigens durch eine Menge interessanter anderer Personen und Situationen unterstützt. Da ist vor allen ein raffinirter Procurator Nück in Köln, der, kein Mittel scheuend, zu bewirken sucht, daß nicht nur die Güter der katholischen Linie der Grafen Camphausen der Kirche zufallen, sondern sogar die Erbin derselben, Gräfin Paula von Dorste-Camphausen, sich dem Kloster zuwende, während eine andere Partei diese Güter der süddeutschen, protestantischen Linie Salem-Camphausen zuspricht und Ausgleichung durch eine Verheirathung des Sprossen der letzteren, des Grafen Hugo, mit Gräfin Paula anstrebt, so namentlich der jetzt allerdings hinsiechende Vormund der Gräfin, der uns aus der Vorgeschichte bekannte Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof. Da ist das reiche „christliche“ Handlungshaus Kattendyk in Köln, ein praktisches Beispiel für den in das Familienleben tief eingreifenden Streit der „gemischten Ehen“. Da sind die verlassene blühende Mädchen an-[27]lockenden Klöster, die Tausende von Missionszettelchen die, neugeschlagenen zinnernen Athanasiusmedaillen. Da arbeitet der „dienende Figaro“ der Geistlichkeit, Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase, ohne dessen Beisteuer an Wachs, Meßgewändern, Weihnachtsbaumzierden, Gottesmutter-Toiletten, Stickereien, keine Priesterweihe kein geistliches Zweckessen, kein Leichenbegängniß, keine Wallfahrt oder Glockenweihe, keine Reliquien-Ausstellung vor sich gehen kann auf zwanzig Meilen in der Runde. Schnuphase, ein „Brauns-weiger“, steht weinselig auf dem „erhöbendsten“ Standpunkte, so mit dem grünen „Römerglöse“ allen „Köpöllen“ und „Dömen“ und „S-tiften“ und „Köthödrölen“, die er erleuchtete und schmückte, sein Hoch bei hundert festlichen Gelegenheiten auszubringen. Und wie kann man Stephan Lengenich, den endlich ab instantia vom Verdachte des Mordes am Deichgrafen Freigesprochenen benutzen! ihn, den durch die „schlechte“ Staatsjustiz (nicht, wie es wirklich war, durch die verwickelten Umstände) unschuldig leidenden, jetzt erst durch den praktischen katholischen Pfarrer in Drusenheim öffentlich vor der Gemeinde vom letzten Makel Erlösten! Das wühlt und agitirt; eine große „geheimnißvolle geistige Werkstatt“ thut sich vor Lucindens Blicken auf. Die Haß gegen alles Norddeutsche und Protestantische nährende „Neugewonnene“ sieht nahe und entfernte Ziele, ein harmonisches Vereintwirken, das durch alle Verwirrungen zügelnd aus der Ferne herüberleuchtende Nebelbild Roms, der ewigen Mutter wunder Herzen, des „Centralnervensitzes“ des historischen Europa. Schon ist Lucinde selbst den Behörden als gefährliche „Emissairin“ annoncirt, es fehlt nur noch der sie in all das Treiben verwickelnde Anstoß. Was sie im Innersten drängt und treibt nach unbestimmten Zielen, das ist ihre trostlose Liebe zu Bonaventura, dem „kalten“ Diener des Herrn, der die „geistige Freundschaft“ taktvoll abweist, die ein weibliches Wesen bietet, das ihm selbst deutlich genug die brennendste Liebe im – Beichtstuhl kundgegeben. Was sie unversöhnlich stimmt, das ist die [28] eifersüchtige Vermuthung, daß ihr Abgott dennoch liebe, daß er die leidende, „hellsehende“ Gräfin Paula liebe, vielleicht ohne sich darüber Rechenschaft zu geben. Und doch, wie könnte gerade sie, Lucinde, die überschwängliche Tiefe jener Empfindungen ermessen, nur ahnen, welche Bonaventura, der „Heilige“, für die ihm allerdings verklärte Erscheinung der unter seiner Hand magnetisch träumenden Paula hegt. Lucinde, der dämonische Anatom des Herzens, hat vielleicht Recht, daß das Alles dennoch Liebe sei, aber es wuchert in Engelsreinheit nur mit dem schon vorgefundenen geistigen Reichthum des Geistlichen: der Krone werkthätiger Tugend und Religiosität noch den Demanten der Entsagung einzufügen. Lichtvoll schreitet die herrliche Priestergestalt vor unsrem Auge hin und reift ihrer plastischen Vollendung zu.

„Ein sinnend Haupt, ein edel Angesicht!

Ein Auge, das sogleich zum Herzen spricht.

Das Haar wie Rabenfedern, unbeschnitten,

Soweit es strenge Priesterregeln litten.

Ein Leiden in der Miene, still entsagend;

Ein Bitteblick, wie des Erlösers Flehn,

Da er zum Vater sprach im Garten klagend:

Laß diesen Kelch an mir vorübergehn!

Die Stirne rund, die Wange ein Oval,

Bald blaß, bald von der Seele Gluthenstrahl

Mild überhaucht mit frischen Rosenlichtern,

So leuchtend nur bei Denkern und bei Dichtern“ –

So steht Bonaventura vor uns, alle Sympathien des Herzens weckend. Und verständlich ist Gutzkows Andeutung im Eingange des zweiten Bandes, daß er diese Gestalt einst in Versen schildern wollte, von denen jene obigen wohl die schönen Nachklänge bilden, daß er aber, übermannt vom Stoffe, die Feder niederlegte. Die zauberische Mächtigkeit der Erscheinung macht die rückhaltlose Hingebung der im Uebrigen so kalten Lucinde an ihr trostloses Idol poetisch wahr. Wo [29] Bonaventura auftritt, kann nur Liebe und Verehrung ihm entgegentreten. Er tritt an alle Wirren seiner Zeit heran, wie ein warmer Pulsschlag ruhiger, beseligender Gefühlsausströmung, und kein Katholik wäre im Stande, ein erhabeneres Bild des ideellen Priesters zu zeichnen, wie hier Gutzkows Feder entflossen. Wo Bonaventura schwankt, das ist es, wie wir schon sahen, im Sinne des bei edel angelegten Naturen unbesiegbar quellenden Humanitätsgefühls. Und vorgreifend können wir hier andeuten, daß dieser Herzens-Geist auch künftig nur insoweit mit seiner Kirche in innere Conflicte kommt, als aufgedrungene Unnatur und Unwahrheit der Lauterkeit von Bonaventura’s Seele entgegentreten.

Der Dichter hat Raum behalten, der Weise des historischen Romanes gemäß charakteristische Cultur- und Lebensbilder des Reiches „der rothen Erde“ dem Hauptgange der Schilderung einzuflechten. Das Leben auf dem Vater Rhein beginnt im zweiten Band; ihm folgt die oben berührte reizende Kleinstadt-Geschichte des heiteren Priesterdaseins zu Kocher am Fall, im Hause des Dechanten, aus dem „die Nichte“ Lucinde als unruhiger Gast von der sorglichen Haushälterin bald verstoßen wird, um nach Köln versetzt zu werden in das „erste, christliche“ Handlungshaus der Familie Kattendyk, in nächster Nähe dort den zum Kirchenfürsten berufenen Bonaventura wiederfindend. Das letzte Kapitel des zweiten Bandes führt nach Köln, und zwar zunächst an den unterhaltenden Punschtisch der reichen Kaufmannssöhne. Das ganze interessante Treiben der Stadt und Umgebung entwickelt sich im dritten Bande vor unseren Augen, und geschickt sind die Hauptpersonen der Erzählung den kleinen Nebensituationen verbunden, ja es weisen die zarten Erinnerungen des jüdischen „Veilchen“ Igelsheimer in der Judengasse auf alte, düstere Zeiten des Freiherrn von Wittekind hin, der ihren Verlobten, den geistreichen Juden Dr. Perl, zum Convertiten und römischen Priester umzuwandeln wußte. Geheimnißvoll mögen diese dunklen Vorgänge [30] gewesen sein, die uns hauptsächlich deshalb interessiren, weil der getaufte Jude es ist, der dereinst Bonaventura getauft hat, ein Umstand, welcher später für diesen unseren Ritter vom Geiste nicht ohne Wichtigkeit zu bleiben scheint. Die komische Arien trällernde Figur Löb Seligmanns, das reiche Landhaus der jüdischen Banquiers, Gebrüder Fuld, im Enneper-Thale, die sogar eine christliche Kirche erbaut haben (was ihnen seiten der Christenjugend das Spottbild eintrug, mit einem Heiligenscheine von Dukaten um den Kopf dazustehen), die gewürzte Schilderung eines reich besetzten Mahles bei diesen gastfreien Gebrüdern, das Freundschaftsleben Thiebolde und Benno’s – all diese Einzelnheiten umsichtig durchleuchtet vom Kampf des modernen Ghibellinen- und Welfenthums – bewähren, daß der Dichter bereits in den vorliegenden ersten Büchern der Hauptgeschichte erreicht hat, was wir vorn herein als eine seiner eminenten Aufgaben hinstellten. Sogar die alten Gestalten Binders, des Kaufmanns, jetzt Barons Guthmann, tauchen wieder auf; und die alte Kröte, Hauptmännin Buschbeck, Lucindens Peinigerin, wird herübergepflanzt, um durch den Vertrauten Nücks, einen gewissen Jodocus Hammacker, eines seligen Abends durch gelinde Anwendung einer Halsschlinge geradeso „hinüber“ befördert zu werden, wie Hochdieselbe einst Lucindens Tauben liebreich erwürgte.

Wild und unbändig ist die äußere Welt, auf der die Entfaltung der Ideen lagert. Trotz Bonaventura’s heller Gestalt, fängt man an sich nach einem „ewig weiblichen“ Lichtbilde zu sehnen, das dem Herzen Wonne brächte. Und als solches tritt Armgart von Hülleshoven gegen Ende des dritten Bandes herein in die düster rauschenden Fluthen der Erzählung. Wie eine kleine geistige Venus Anadyomene löst sie ihren zarten kindlichen Bau los von den dunklen Strömungen der Zeit und hüpft an Benno’s von Asselyn Seite dahin, wie der junge Frühlingsvogel, der noch vom Nesterbau nichts weiß und sich die Feuerblicke des geliebten Vetters nur ahnend erst als den Aus-[31]druck unbekannten Sehnens deutet. Und doch auch auf diese zarte, zur Jungfrau heranblühende Blume muß ein Tropfen aus dunklem Leidenskelche fallen. Mitten aus dem Lachen des Frohsinns ruft die heimliche Thräne, daß Vater und Mutter getrennt leben; mitten im friedlichen Pensionsleben auf der herrlichen Rheininsel „Lindenwerth“ reift das edle Gelübde des kindlichen Gemüths, weder dem suchenden Vater, noch der in Sehnsucht nach der Tochter dahereilenden Mutter allein anzugehören, sondern nur beiden, sich als Lohn den Aeltern für die Vereinigung hinstellend und diese Vereinung der Geliebten dadurch herbeilockend. Die Idee wäre fast zu schwärmerisch für ein protestantisches Mädchen, aber für das geistvolle Kind der katholischen Erziehung, für Armgart, ist sie natürlich und erhöht die Bedeutung der Erscheinung. Auf wenige Blätter hat Gutzkow hier eine Idylle hingeworfen, die zu dem Lieblichsten gehört, was man sich so von einer jungen, lebenskräftigen Frühlingsknospe erzählen kann.

Auch der vierte, fünfte und sechste Band beschäftigen sich mit Entfaltung des katholischen Lebens auf deutschem Boden, auf der „rothen Erde“. Die eingetretene Gefangennehmung des Kölner Kirchenfürsten wird kurz als fait accompli berührt, ohne daran nach irgendwelcher Seite hin verletzende Deductionen zu knüpfen, wie sich das ganze Werk Gutzkows überhaupt dadurch auszeichnet, die immanente Opposition gegen den mittelalterlichen Katholicismus Roms nicht durch Phrasen und oft gehörte Raisonnements zu führen, sondern durch dichterisches Geschehen an den Geistern zur Geltung zu bringen. Das Sacrament der Ehe, die Frage der Kindererziehung bei gemischten Ehen, die Beichte, das Kloster, die Stellung des Priesters, das Gelübde und der Jesuitismus sind diejenigen Erscheinungen des katholischen Wesens, welche, tief eingreifend in das Leben der auftretenden Personen, ungesucht an den Beschauer des großen Gemäldes herantreten und ohne tendenziöse Aufforderung die bangen [32] Zweifel an der Kirche wecken; an der Kirche, sagen wir, nicht am katholischen Glauben, er bleibt den kindlichen Gemüthern unberührt und wandelt sich in ihnen nur zur eigenen Klärung. Bonaventura, welcher der Held des Ganzen bleibt und einer großen Zukunft entgegenzugehen scheint, ist es, der vor Allen leidet unter der Macht jener Erscheinungen des Kirchenlebens. Namentlich die Ohrenbeichte und die Stellung des Geistlichen zur Welt und zu dem eigenen Innern legen diesem reinen Menschengeiste außerordentliche Pein auf und wecken im Priestergemüthe den Gedanken an die Nothwendigkeit von Kirchenreformen. Indessen vermag dieser Gedanke den Priester nur als ein negatives Bewußtsein, als ein Wissen vom Unzulänglichen seiner Welt zu beherrschen. Denn bekanntlich wird in Rom der ganze Mensch auf den Index gesetzt, sobald er seinem Gedanken Ausdruck gibt. Daher kann Bonaventura nur ein leidender Träger der Idee sein, nicht der leitende. Ob er auch letzteres schließlich werden könne, ist hier noch nicht ersichtlich. Ihm scheint zunächst bestimmt, durch die sanfte, segnende Macht, welche er über die Menschen ausübt, nach und nach auch Staffel um Staffel auf dem Gebiete der Würden in der Kirche emporzusteigen. Zunächst erobert der junge, schöne „Domherr“ das Kölner kirchliche Leben, wird als milder Lenker dann nach Sct. Libori gegeben, auf das Land hinaus, wo der eifernde „Jungkatholicismus“ das starre Bauernvolk und die unwissende, adelige Welt terrorisirt, schon aber deutet Alles darauf hin, daß der sich auch hier Bewährende ausersehen ist, Rom viel näher zu treten. Wie dornenvoll ist dieser Weg! Auf dem gewissenhaften Manne Gottes ruht das Amt der Buße wie eine nimmer endende Qual. Zu dein Leichteren wohl gehört es, eine zweifelnde Seele zurückzuführen zum Glauben an die Vorsehung, und es gibt nichts Schöneres, als was Bonaventura hier der beichtenden Monika von Hülleshoven, der Mutter Armgarts, zuruft: „Wenn Sie die Begegnung Gottes in kleinen Dingen stündlich suchten, würde das [33] Aberglaube werden. Aberglaube kann es sein, die ganze majestätische Größe Gottes immer auch bei kleinen Leiden und Freuden sich gegenwärtig zu denken. Aber jenen Fußtapfen der wandelnden Gottheit nachgehen, die im Ernsten und Wichtigen liegen, gibt Erhebung. Nehmen Sie Gott zu Ihrem steten Begleiter, nur daß er einige Schritte vorangeht, nicht immer zur Seite, nehmen Sie ihn zum Erfüller aller der Pausen, die Ihnen das Leben läßt, zu der zweiten Person, die in Ihrem Gewissen mit Ihnen redet, zu dem unsichtbaren Freunde, der in einem dunklen Zimmer, wo Sie über ein Vorhaben brüten, mit Ihnen Rath hält.“ Schwerer schon war es, die geistvolle Monika über Zweifel an der „Kirche“ zu beruhigen. Wenn sie sagt: „Ich werfe es den Protestanten vor, daß sie sich die Bürde auch des Ballastes an ihrem Lebensschiff viel zu leicht gemacht haben. Ist man Christ, so soll man auch die Geschichte seines Glaubens tragen. Aber – plötzlich tritt doch ein Widersacher in uns auf, unser Herz stößt plötzlich einen Hilfsschrei aus und lechzt nach der – Natur!“ Was sollte Bonaventura sagen, der die Abtödtung jeder natürlichen Regung um sich sah in Klöstern und Priesterschulen? was sollte er dazu sagen, der ahnungsvoll auf seinen eigenen, geliebten Vater schauen mußte, welcher, die Mutter glücklich zu machen, sich wohl in der Ferne lebendig begrub, um – der Mutter eine zweite Ehe zu ermöglichen mit dem Präsidenten Wittekind (dem Sohne des Kronsyndikus)? Er antwortete, aber ungenügend, unzufrieden mit sich selbst. Und Andere nahen schon dem Schemel. Wie ist der liebenswürdigen Frau Delring zu rathen, die beichtet, daß sie in schwerem Kampfe ringe, ob sie ihr noch unter dem Herzen ruhendes Kind der Religion des geliebten Gatten, eines Protestanten, schenken, oder ob sie, wie ihr katholisches Gewissen rathe, es in den Schooß der allein selig machenden Kirche aufnehmen lassen solle? Wie ist Lucinde zu dämpfen, die in verzweiflungsvoller Generalbeichte zu den Füßen des angebeteten Priesters ruht und die Flammen ihrer [34] Leidenschaft verräth? Was dem Leichenräuber Bickert zuzurufen, der andeutet, daß er ein Schloß in Brand stecken und eine falsche Urkunde dabei einschmuggeln will, die über das Schicksal – Bonaventura ahnt das Wo – der verehrten Gräfin Paula entscheiden soll? Wie ist das Gemüth des Mörders Hammacker zu erweichen, der, wie wir wissen, die alte Hauptmännin Buschbeck erschlug? Mitleiden muß der Priester die Sünden der Welt, und darf sie nicht einmal der Gerechtigkeit überweisen, darf projectirte Verbrechen nicht verhindern! Leise Warnungen an die Bedrohten reichen, wie er sieht, nicht aus – und hier geschah es, daß Paula’s Schloß angezündet wurde, daß die falsche Urkunde sich vorfand, die zur Folge haben wird, daß die heilige Schwärmerin Paula dem ungeliebten Manne, Grafen Hugo von Salem-Camphausen, sich vermählen muß – Bonaventura mußte schweigen; ein Wort von ihm, und die Unächtheit der Urkunde, der Welt verborgen, wäre entdeckt worden. Tiefer und tiefer wird das Wehe in des geheiligten Mannes Brust. Aber das drängt ihn nur desto lebendiger nach dem zu greifen, was die Kirche in der That des menschlich Erhebenden bietet. Wie herrlich ist z. B. die Deutung des Mariacultus, die der von Lucindens geistiger Unlauterkeit überfallene Priester der Beichtenden vorhält. „Wir wissen, wer die heilige Anna, die Mutter Maria’s war, wir kennen die Schleier, die auf ihrer Verbindung mit dem heiligen Joseph ruhen; aber alles das schwindet gegen das, was Maria in den wilden Geburten der Geschichte wurde. Die Civilisation der Sitten ist durch sie gewonnen und erhalten worden. Und erst in unserer Zeit! Der Mariencultus ist der lebendig gewordene, reine weibliche, sittliche Sinn. Gerade die Reinheit Mariä zu verehren, drängt es diese unreine Zeit, die Zeit der Frivolität, der Emancipation von der Sitte, die Zeit der Nivellirung der Familie und Erziehung. Und nun frage ich Sie: Finden Sie den Weg zwischen Ihrem Innern und diesem Frauenbilde ganz frei und ungehindert? Fühlen Sie sich so, daß Sie den [35] ob milden, ob strengen, immer sittlich reinen Blick unserer Himmelskönigin nicht zu fürchten brauchen?“ u. s. f. Lucinde, die nur äußerlich Gläubige, von Liebe zum Priester Bethörte, entgegnete freilich kalt: „Warum sagte Jesus: Weib, was habe ich mit Dir zu schaffen?“ Und es folgte eine Scene mächtigen, weiblichen Wahnsinns – aus Wuth über verschmähte Liebe stürzte das wildschöne Mädchen bewußtlos zu des Priesters Füßen. In St. Libori hörte Bonaventura Niemandes Beichte mehr, sein Gemüth war zu tief erschüttert. Und hatte er doch neben der schweren Last seines Berufes gerade dort, in der Nähe Paula’s, deren Schloß Westerhof benachbart, mit sich selbst einen unendlich schweren Kampf zu bestehen. Der Priester kann und muß die Liebe zum Weibe, und wäre sie wie hier auch rein wie Himmelsäther, unterdrücken. Aber es naht doch die Stunde der Versuchung und es folgt doch die Stunde der den inneren Menschen zerschmetternden Entsagung! Paula, die magnetisch Träumende, liebt in lieblicher Weibesreinheit den theuren Priester, und Bonaventura durfte sich sagen: „Dir ist sie beschieden! Du würdest sie durch die Liebe erlösen können von den magischen Banden, die sie gefesselt halten. Gott wollte die Ehe und gerade die Deine mit ihr“ – – armselig schleicht der unglückliche Levit von dannen!

Wie mancher im Leiden minder Starke mag die Einsamkeiten des Klosters gesucht haben, um den Qualen seines an Ketten gelegten Erdlebens zu entfliehen. Und wie wenig ist auch dort wiederum Trost gegen die sich ewig rächende Verleugnung der Natur zu finden. Der jetzt im Kloster Himmelpfort wieder aufgehobene Pater Sebastus wenigstens (Klingsohr) fand dort nur harte Strafen, tödtende Abspannung und floh schließlich auf Lucindens Rath im Winter mit Mönch Hubertus in den hohlen Stamm jener Eiche im Düsternbrook, an der der Kronsyndikus des Paters Vater, den Deichgrafen, erschlagen hatte. So entgingen die heiligen Einsiedler den Strafen [36] des Klosters, fristeten ihr büßendes Dasein, um später zu Fuße nach Rom zu wandern. Nach Rom, nach Rom! dahin deutet jetzt überhaupt schon alles. Lucinde will nach Rom, Bonaventura’s Bahnen gehen über Wien nach Italien; die Geister der düstern Vergangenheit tauchen auch über Benno’s Haupt von dort herüber. Man entdeckt, daß er der Sohn des Kronsyndikus und dessen jetzt noch lebender, durch eine Spiegelfechterei ihm scheinbar angetrauten Frau, der jetzt verwittweten Herzogin von Amarillas ist. Und wer ist jener um Monika und Armgart, sowie um den Grafen Hugo in Lebenslust sich herumtummelnde, doch so geheimnißvolle Wenzel von Terschka? dem Armgart sich als Verlobte in die Arme werfen will, seitdem sie seine Werbungen um ihre Mutter sieht? Mit Schaudern vor dieser übernatürlichen und Allen so gefährlichen Verstellungskunst des Unheimlichen vermag selbst ein Priester, Bonaventura, nur zu entdecken: Terschka ist Jesuit! von Rom gesandt, den Grafen Hugo zum römischen Glauben zu bekehren. Die Lebensgeschichte Terschka’s, welche ausführlich gegeben wird, gehört zu dem Fesselndsten, was man lesen kann. Es sind mit ihr auf Anschauung und Studium beruhende Mittheilungen über die römische Jesuitenheranbildung verknüpft, welche, gerade weil sie nicht übertrieben sind, die Entrüstung der ganzen Menschennatur wecken. Und je weniger Terschka selbst ein schlechter Mensch ist, nur ein den Willen der Andern in all dieser bewußten Heuchelei vollziehender, desto größer ist das Interesse, welches man an einem solchen Werkzeuge der jesuitischen Idee nimmt, das sich ausgestoßen fühlen muß von Allem, was offen und edel heißt im Menschenleben.

Leiden kommt über den Menschen, wo man die Natur, die Wahrheit verleugnet. Gutzkows Buch ist eine große Passion: die der bedeutenden Geister unter dem Drucke der von Menschen geschaffenen und sich für göttlich ausgebenden Unnatürlichkeit. Selbst die heitere, lebensmuthige Armgart wird eingehüllt in die Nebel-[37]schleier all dieses Wahnes. Ihre Aeltern leben getrennt, weil sich ihre Naturen nicht verstehen. Sie flieht vor der Mutter, die sie sucht, vor dem Vater, der sie sucht. Sie gelobt sich, daß sie nur Beiden gehören wolle, setzt sich vor, durch diese ihre Entziehung die geliebten Aeltern wieder zu binden. Die große, herrliche Aufgabe zu lösen, fleht sie den Schutz der heiligen Jungfrau an und gelobt dieser: zum Danke ihr ganzes Leben zu weihen. So scheidet sie von dem sie anbetenden Thiebold, so trennt sie sich unter tausend Thränen von dem Manne ihrer Liebe, von Benno. Wohl wird ihr Beginnen gekrönt; wohl gelingt es ihren Weigerungen, endlich der Mutter Bitte zum Vater zu führen: wir wollen gemeinsam unser Kind aus seiner Selbstverbannung lösen; wohl jauchzen die Engel Gottes und die Herzen der Menschen bei der Scene, die endlich Aeltern und Tochter einigt; wohl entbindet Terschka’s entdeckter Priesterstand die glückliche Tochter von dem Wahne, sie müsse diesem Manne sich als Gattin bieten, da er der Mutter nachstelle und das mit dem Vater wieder zu knüpfende Band Monika’s aufs Neue zu lösen drohe – aber es bleibt dem armen, der Jungfrau Maria verfallenen Kinde in Zukunft ein langes, ödes Leben! Sie, die von dem edlen Benno heiß Geliebte, ist für ewig getrennt von der Glückseligkeit des Lebens, von den Aufgaben der Frauenwürde; das ist die Macht des – katholischen Gelübdes, das zu brechen einer Gläubigen um so weniger beikommen kann, als harte Kirchenstrafen den Brechenden in den „Stand der Todsünde“ versetzen.

Die Blüthen des Menschenlebens welken und sinken, wo anmaßender Witz des Menschen die ewigen Gesetze der Natur corrigirt! Wo wird der arme, verstoßene Benno hinfliehen? Durch die Sünden des jetzt verstorbenen und noch auf dem Wege zur letzten Ruhe von dem falsch angeklagten Küfer Lengenich verfolgten Kronsyndikus geboren, in stetem Widerspruch gegen die listigen Aufgaben seines advocatorischen Chefs, des in Liebe zu Lucinden entbrannten Procu-[38]rator Nück, dahin lebend, ist dem deutschen Wanderer durch den Verlust von Armgart wohl die letzte Stätte des Friedens genommen. Nach Rom, nach Rom – dessen Zauber über der rothen Erde des deutschen Nordens Unheil bringend walten, scheint auch ihn der Zug zu locken, der sich über seine Umgebung breitet wie ein unausweichlicher Hauch höherer Gewalten.

Es fällt uns auf, daß Gutzkow sein Werk: „Der Zauberer von Rom“ genannt hat. Schon auf Grund des Inhalts der sechs ersten Bände, die wir nun vor uns haben, möchten wir zweifeln, daß dieser Titel den Kern des großen historischen Gemäldes trifft. Dieser Titel deutet fortwährend auf Eine bestimmte Person, und kaum ist man im Stande zu ahnen, daß der Papst schließlich unter dem „Zauberer“ gemeint sein soll. Die Kirche in ihrer Totalität ist es, die hier wirkt, nicht der Papst. So gut wie letzterer, arbeitet auch der General der Jesuiten, arbeitet der schon auftauchende Cardinal Ceccone, arbeitete der nun gefallene Kölner Kirchenfürst am Ganzen. Der Dichter bietet weit mehr als der Titel verspricht: er entfaltet die Idee Roms, die Idee der Kirche, nicht blos die Macht Eines Gliedes derselben, und wäre es des obersten; bezeichnender würde, will man dem Titel das allerdings Charakteristische des geheimnißvollen Einflusses Roms belassen, jedenfalls der Titel sein: der „Zauber“ von Rom. Auch die Schlußentwickelungen des letzten, neunten Bandes, sind dieser Bezeichnung nicht hinderlich.

In den zuletzt besprochenen drei Bänden gruppiren sich ebenfalls alte und neue Nebengestalten um die erwähnten Hauptpersonen. Der geistliche Reigen füllt sich z. B. mit der Erscheinung des Landpfarrers Norbert Müllenhof, dessen Bearbeitung der Bauernwelt und dessen Anbahnung frommer „Exercitien“ im vornehmen Kreise äußerst charakteristisch sind. Das Culturgemälde des Landes bringt Gasthausscenen, ein gelungenes Jagdbild, das Treiben der Gendarmerie, der dem Pfarrer zürnenden Hebamme Schmeling, des vom [39] Katholicismus sich zum Bibelglauben wendenden Hedemann, Dieners des Vaters von Armgart, jenes Obersten von Hüllershoven, der sich nun endlich wieder zur Gattin fand. Alte Bekannte treten in den neuen Rahmen, wie der lebenslustige, biedere Thiebold, eine der gelungensten Figuren des Romans; wie der Escheder Philosoph Laurenz Püttmeyer, der auf Hegel’s Lehrstuhl speculirte, den die Vermathematisirung des Glaubens aber schon in Conflicte mit der Kirchengewalt brachte. Seine bizarren Vorlesungen und Figuren haben Methode und fesseln. Wir sehen ferner den alten geschminkten Landrath von Enkefuß, den Freund des Kronsyndicus, enden; wir erblicken, staunend über dessen Körperstärke, allüberall wie einen rettenden deus ex machina den Mönch Hubertus in seinen, reichen Erzählungsstoff bietenden Beziehungen zu Fräulein von Gülpen, zu Terschka und Bickert, dem Schloßanzünder. Wir verweilen mit Grauen bei der Verbindung Nücks mit Hammacker, welches letzteren verstockte Sündernatur der Dichter vortrefflich zeichnet. Und all’ dies Nebenwerk ist mit demselben Fleiß wie die Hauptpartien des Buches behandelt; mit ganz besonderer Begabung weiß unser Autor einmal anscheinend geringerem Beiwerk eine geistvolle, pikante Färbung zu geben, das andere Mal durch Labyrinthe des Stoffes hindurch den Faden der spannenden Erzählung immer klar und deutlich zu führen. An sich, für Anderes und vor Allem für die Hauptidee des Werkes ist jede Einzelnheit geboren und vorgeführt, so daß die dichterische Einheit nirgends leidet. Daß wir an der Stellung Lucindens gegenüber der großen Aufgabe des Romans etwas auszusetzen haben, sei unsere Besprechung noch vorbehalten. Hier möge berührt werden, daß die im vierten Bande eintretende und vor der Hand wieder verhallende Erscheinung der alten Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen eine überaus gelungene Gegenspiegelung protestantisch-pietistischer Ideen gegenüber der orthodoxen katholischen Richtung bildet. Diese kalte, formelle Bibelfestigkeit, wie ähnelt sie [40] im Drange, Proselyten zu machen, im Hange, den Buchstaben des Glaubens festzuhalten, dem römisch-festen Jungkatholicismus. Aber wie wenig hat diese protestantische Richtung Mittel der Sühne für die große Kluft, welche zwischen der natürlichen Schwäche des inneren Menschen liegt und der äußeren Bethätigung des Glaubens. Die Sünden und Fehler des Römers bringt der Priester wieder in Ordnung; der Bibelpietist bleibt auf sich selber verwiesen, er klagt Niemandem seine Noth, und es kann ihm passiren, daß er mitten in den herkömmlichen Anrufungen „des Herrn“ gegen den Greuel der Welt bei der Kunde von den doch argen „Zerstreuungen“ eines verzogenen Kindes stecken bleibt, wie das der alten, braven Gräfin Erdmuthe passirt ist. Wer dann nicht Naivetät genug besitzt, sich schnell wieder in den gläubigen Horreur vor den Sünden der Welt zurückzufinden und sich dabei weiszumachen, daß das, was man selbst begeht, oder was sich unsere lieben Kinder zu Schulden kommen lassen, nicht mit zu diesen Sünden gehört, der wird freilich ein Heuchler werden, während der durch die Beichte gesühnte Katholik nicht nöthig hat, fortdauernd mit Beschämung auf sich selbst zu blicken. Gutzkow hat der Gräfin Erdmuthe, welche übrigens in regem Glaubenseifer Kaiser und Könige aufsingt, die Waldenser auf ihrer italienischen Besitzung Castellungo zu schützen, jene Naivetät in befriedigender Weise gewahrt; und ihre Versuche, Monika zu bekehren und zu Eingehung einer zweiten Ehe mit Terschka zu vermögen, dessen Bestimmung, ihren Sohn Hugo für die römische Kirche zu gewinnen, sie nicht kennt, werfen feine Lichter auf das Frauengemüth. –

Der siebente und achte Band des Werkes bilden, ohne dahin gehende äußere Bezeichnung, den zweiten Abschnitt der großen Entwickelung, welche im Romane die Idee des Katholicismus durchläuft. In den bisher besprochenen Bänden ruht diese Idee auf den Schultern eines markigen, norddeutschen Stammes; jetzt tritt sie ein in die tändelnde Metropole des österreichischen Kaiserstaates und von da [41] hinüber nach ihrer Heimath, nach Rom. Andere Charaktere verbinden sich den Hauptpersonen der Geschichte und geben die neue, dem südlicheren Himmel entsprechende Färbung der Gedanken. Es ist bewundernswerth, wie dieser innere Gegensatz des Lebens dem Dichter, offenbar instinctiv, sich aufgedrängt hat. Er malt uns die Wiener „G’müthlichkeit“, hinter der oft weniger als Aufrichtigkeit steckt, und das leichtfertige wie ernste Feuer Italiens mit derselben Wahrheit und überzeugenden Charakteristik, die in den ersten Bänden die norddeutschen Erscheinungen auszeichnete. Ganze Klassen der Gesellschaft durch Individuen zu fixiren und dabei dennoch nüancenreich zu verfahren, ist Gutzkows Stärke. Was ist der Herr „von“ Pötzl für ein gemüthlicher, dienstwilliger Mann. Welchen Theil nimmt er an unserem Benno von Asselyn, dem Nück wichtige Papiere für den allmächtigen Staatskanzler mit nach Wien gegeben. Und Harry Zickeles, der junge Banquier, wie lebt er für Kunst und von ihm geförderte Jünger derselben. Harry ist ein homme pour tout, er geht auf für Andere; freundlich flüsterte er dem verwunderten Benno ins Ohr: nehmen’s halt in Acht vor Herrn von Pötzl, man sagt er sei ein Spitzl. Der liebe Mann? Und doch kann es sein. Das Banquierhaus Zickeles – ein interessantes, komisches Gegenstück zu dem der Gebrüder Fuld im Norden – findet für Benno Interpretation durch den Hausfreund Pötzl. „Leo Zickeles ist ganz Metalliques, Abends Wohlthätigkeitsschwärmer; Percival, der Träumer, ist dichterisches Genie, er hat Romanzen geschrieben wie Heine, blos daß er zur Abwechslung den Palmenbaum einmal statt von einer Tanne von der Akazie geliebt sein läßt; wissen’s von wegen der Grazie. Professor Bianchi? ist der Lehrer von Jenny; er „laßt“ sich die Stund’ mit einem Dukaten bezahlen.“ Jenny singt: der Hausfreund Pötzl war Fanatismo vor Bewundrung, in’s Ohr raunte er aber dem erstaunten Benno: pitoyable! Was ist das für eine Welt? Benno wird es nicht wohl dabei; er sieht in Wien den „immerfort sich [42] drehenden Bratspieß“, den Vergnügungstaumel der Bevölkerung, und darüber das unbeschränkte Herrsein der hohen Hierarchie und des politischen Absolutismus. Man werfe Gutzkow nicht vor, daß er diese Metternich’sche Zeit zu grell gemalt; der Dichter spottet mit alledem nicht; auch hier nur tönt die große Passion fort, wie wir den ganzen Roman nannten. Gutzkow empfindet warm für das österreichische Volk. „Was lachst du so traurig ?“ ist die Herzensfrage, die der Dichter beim Eintritt in Wien dem Leben vorhält. In der Zither sieht er das Symbol dieses Lebens. „Wenn so rührend die bebende Saite unter kraftvoller Finger ihre Schwingungen austönt; wenn der Ton, immer gebrochen, immer in der Geburt des Halls schon halb erstorben, und doch, neu gefaßt, Riesenfermaten aus lauter kleinen zitternden Tremolos hält“ – da spielt die Zither Oesterreichs „ein Ahnen, Suchen, Sehnen nach unbestimmten, dem Land und Volk selbst nicht klaren Zielen.“ Und in diesem Sinne hört man einen alten freundlichen Chorherrn zu Benno sagen: „Aus all dieser Lustigkeit hören Sie heraus: Wien ist krank! mein junger Freund, ganz Oesterreich ist es. Der Wahrheitstrieb, der tief in diesem Volk begründet ist, findet keine Befriedigung.“ „Die Masse ist gemüthvoll, ist gerechtigkeitliebend, aber von beängstigender Unbildung und Maßlosigkeit.“ „Man erbaut gegen den Josephinischen Geist Gegengebäude; man hört die Rathschläge aus dem Al Gesù in Rom, und dem allen stimmt die öffentlich geheuchelte Loyalität gleichsam zu, doch im tiefsten Grund ist’s nichts als Lüge – an der Lüge geht mein herrliches Oesterreich zu Grunde!“

Benno, jetzt im Vordergrunde der Geschichte stehend, der Erwachte, seitdem ihm schonend der Freund, Bonaventura, mitgetheilt, daß der verstorbene Kronsyndicus von Wittekind sein Vater, und daß eine Sängerin, Fulvia Maldachini, durch frevelhaftes Spiel dem wilden Manne dereinst angetraut, seine Mutter sei, ferner, daß er eine Schwester Angiolina habe, als Kind durch Graf Hugo von [43] Salem-Camphausen den Seiltänzern entzogen und „Herrn von Pötzl“ in Wien zur Erziehung anvertraut, bis das schöne, wilde Kind endlich des Grafen – Geliebte geworden, Benno, der kalt Erwachte, hart Herangereifte, hat nichts mehr auf Deutschlands Boden zu suchen, besonders weil er, wie wir wissen, die holde Armgart verlor. Vom unwiderstehlichen Drange nach der Einzigen, die ihm geblieben, nach der jetzt in Rom als verwittwete Herzogin von Amarillas lebenden Mutter geleitet, bricht er mit seinem Dasein, mit seiner Stellung zu Nück, dem aus Liebesgluth für die ihn abweisende Lucinde jetzt toll und lächerlich gewordenen bedeutenden Juristen der Heimath, übernimmt in Wien einen Auftrag des Staatskanzlers nach Rom und eilt dahin, seinem neuen Leben, wohl seinem Verhängniß zu, denn mit der ihn ernst und flüchtig in Wien begrüßenden Mutter findet er in Rom Olympien, genannt Maldachini, die natürliche Tochter des Cardinals Ceccone, erzogen von Benno’s Mutter; Olympien, die, beim ersten Schauen in Wien, in voller italienischer Sinnesgluth für den schönen Deutschen entbrannte, obwohl sie die Verlobte, später Frau des römischen Fürsten-Affen Ercolano Rucca ist. Benno’s innerer, edler Mensch leidet unter der ihn umgarnenden Leidenschaft Olympia’s, aber er kann ihr um so weniger entfliehen, als er die Stimme der mächtigen jungen Frau, deren Winken ein Ceccone gehorcht, und deren Bitten selbst der Papst nie widersteht, dazu bedarf, zwei bedrohte Freunde zu schützen, die dem „Jungen Italien“ angehörenden Brüder „Bandiera“. Seit Benno weiß, daß er eine Römerin zur Mutter hat, wird er selbst Römer; die trüben Erfahrungen der Jugend, den letzten Dornen sammelnd, als der Bruder Angiolinen, die liebliche Schwester, bei Wien auf Graf Hugo’s Schloß sterben sehen mußte, lassen einen anderen Menschen übrig als den gemüthvollen Freund Thiebold de Jonge’s. Benno reift dem Schicksal entgegen, und auch ihm muß es aus Rom kommen.

Nachdem wir das Wiener Leben als ein Vorspiel an uns haben [44] vorüberziehen sehen, treten wir ein in die allmächtige Hauptstadt des Mittelalters, zu einer Zeit, wo die ersten modernen Regungen des Einheitgedankens die Welt Italiens durchglühen, wo in den „Logen“ der geheimen Verbündeten auch jene Napoleoniden sitzen, die unlängst ihr damals gegebenes Wort dem Italiener halb und halb gehalten haben. Und über dem stillen Abgrunde schwebt in Pariser Ueppigkeit das Leben des römischen Adels, der römischen weltlich gesinnten Hierarchie, im Gefühl der Uebermacht Anschläge ersinnend gegen den leise wuchernden Gedanken der Freiheit und nationalen, wie religiösen Erlösung. Diesen Gegensatz der Stimmungen hat unser Dichter in herrlicher Weise geboten. Und nicht mit behaglicher Breite gelehrter Novellistik, sondern mit knapper Anpassung an die jeweiligen Erscheinungen der Erzählung ist die Tiefe all dieses Lebens gegeben. Anklänge des Ganzen finden sich bereits in früheren Bänden. So enthält der Eingang des vierten Bandes für Italien geradezu eine Prophetie. Als Gutzkow diesen Band schrieb, wußte noch Niemand etwas von der Verbannung Oesterreichs und den jetzigen reformatorischen Bestrebungen wider Rom. Einem Italiener, Marco Biancchi, dem einfachen Manne des Volkes, legt der Dichter dort Worte der glühenden Begeisterung unter gegen alle Fremdherrschaft, gegen die weltliche Herrschaft des Papstes, zugleich aber auch für die Erhaltung der römischen Religion. „Ich weiß,“ sagt Marco, „es giebt Italiener, die unserem Glauben untreu geworden sind. Ich will den wahren christlichen Glauben, und ich will, daß er eine große Macht besitzt. Aber ein geistiges, verjüngtes Rom soll herrschen! Der heilige Vater in Wahrheit ein Vater der Menschheit, erhalten von seinen liebenden Kindern.“ „Durch Rom wird das Christenthum erhalten bleiben, aber nicht, Signora, das jesuitische Rom, das ich hasse, weil die Jesuiten die Freiheit hassen und die Unabhängigkeit der Völker und die wahre Größe des Menschen.“ „Wir wollen nur das Joch von Fremden brechen. Ein Volk von Brüdern, von den Alpen bis zum [45] Meere!“ Bald, nachdem der Dichter diese Worte gesprochen, haben sie laut an die Pforten der alten Roma geklopft und das Echo hallt noch heute fort und fort von Alpen und Apenninen. Zur Zeit unserer Erzählung brütete das Alles im Stillen, riß aber schon manches junge Blut hinein in den Strudel der Bewegung. Auch der Römer gewordene Benno von Asselyn schwört im Hause des alten Volkstribunen Rienzi, jetzt von dem Advocaten Bertinazzi bewohnt, zu den Göttern des jungen Italien und wird, so schließt der achte Band, deshalb – dem Arme der päpstlichen Gerechtigkeit überliefert!

Benno hatte in der vornehmen, herrschenden Priesterwelt die von einem Grafen Sarzana angebetete Lucinde wieder gefunden, welche als Gesellschafterin seiner Mutter Rom und den mächtigen Cardinal Ceccone gewann, dessen Tochter (!) Olympia, vermählte Fürstin Rucca, den von kühnen Regungen durchtobten Benno umstrickt und nur deshalb um das erste Stelldichein kommt, weil Benno in der „Loge“ entdeckt und verhaftet wurde. Und Thiebold de Jonge hatte nicht lange ohne seinen Freund sein können und umschwärmt als williger Kammerdiener die mit ihm Benno liebende Olympia. In dieses römische „Familienleben“ hinein klingen die interessanten Feindschaften der Cardinäle Ceccone und Fefelotti, die Verbindungen dieser vornehmen Herren mit der Räuberwelt, die Ränke der damals namentlich auch den Turiner Hof beherrschenden Jesuiten, die Geheimnisse der Klosterwelt. Das also ist Rom! denkt der Seligkeit suchende Pilger, das ist „die Stadt der Wunder!“ Wohl „triumphirt das Kreuz über Cicero, Cato, August, Seneca, und ohne Rache, denn St. Michael auf der Engelsburg hält sein Schwert nicht drohend empor, sondern senkt es versöhnt zur Erde“ – aber wie sticht das Alltagstreiben der Priester- und Menschenwelt vom Himmel der Ideale ab! Unser Dichter hat in Rom nicht mehr nöthig, das geistige Für und Wider im Munde geistvoller Priester und Laien zu geben, wie auf dem ernsten Boden Deutschlands. Er giebt das Leben, und [46] dieses Leben ist der eigene Richter. In Rom muß jeder denkende Mensch zum Reformator werden. Das Wie wird freilich immer die große Frage bleiben. Wie man es damals beantwortete, darüber giebt ein geistiger Kampf jener Logensitzung Auskunft, der Benno beiwohnte. Dort hieß es wohl: „Von dem Tage an, wo sich ein einziger Bischof über die Rechte der andern erheben konnte, gestützt auf das alte Ansehen Roms und so manche Fälschung, die der Uebermuth schon damals wagte, hat das Christenthum seine Segnungen für die Menschheit verloren.“ Aber es tönte auch die Stimme: „Aendert die Gesetze Roms, bessert die Sitten, laßt den apostolischen Stuhl theilnehmen an allen Fortschritten der Zeit, macht unmöglich, daß die Greuel von Porto d’Ascoli die Kunst des Regiments in Italien heißen, und wieder ein Segen kann der Menschheit werden, was man jetzt nur zu voreilig ihren Fluch nennt!“

Die Charakteristik der einzelnen Personen, welche Gutzkow zu Trägern des italienischen Wesens macht, ist wieder ganz vorzüglich, so die der sinnlichen Olympia, die der feurigen alten Mutter Benno’s (der Herzogin Amarillas), die des schlauen Cardinals Fefelotti und des aller sittlichen Basis entbehrenden Ceccone. Als vortreffliche Priestergestalt tritt diesen Geistlichen entgegen der heilige Pater Vincente, der sich strafen ließ, weil Olympia behauptete, daß er ihr einen Kuß in der Beichte gegeben. Vincente hatte ihr diesen Kuß nicht gegeben, war aber in jener Beichte nicht völlig frei von einem unlautern Gedanken gewesen. Deshalb unterwarf er sich zur eigenen Sühne schwerer über ihn verhängter Strafe und bejahte fälschlich den Kuß.

Wie der einzelnen Personen, so ist auch die Schilderung der Situationen höchst fesselnd. Etwas Großartigeres als die im siebenten Bande zu lesende Scene, in welcher Benno an der Leiche seiner Schwester Angiolina der nichts ahnenden Herzogin in Angiolinen die Tochter und in sich selbst den Sohn zeigt, erinnern wir uns in keinem [47] Romane der Zeit gelesen zu haben. Und nun die Römischen Ränke der Geistlichkeit, in die sich Lucinde mischt, die Bilder des Lebens in Palästen und Kirchen der ewigen Roma – alle oft gerühmten Vorzüge der Gutzkow’schen Darstellungsweise vereinigen sich in diesen Gemälden, deren Reiz überdies durch geistreiche Aphorismen über Alterthümer, verfehltes römisches Künstlerstreben, Plastik und Baukunst gehoben wird.

Die alte deutsche, uns liebgewordene Welt entflattert im Eingange des siebenten Bandes. Da lesen wir Bonaventura’s Stunden der heiligsten Entsagung – er segnet Paula ein und den Grafen Hugo von Camphausen zum unauflöslichen Bunde. Der anfangs beängstigte Graf findet in Bonaventura den reinen Menschen und leidet nicht unter seiner Nähe auf Castellungo, dem piemontesischen Stammsitz der Ahnen. Bonaventura ist Bischof im benachbarten Robillante geworden, und nur andeutungsweise spielt sein segenvolles Wirken herüber in die vor uns ausgebreitete römische Welt. Gutzkow versteht es, ein Leben zu schildern, wo er nur Anklänge über Stunden gibt. Der Ton wird angeschlagen und lange klingt die offenbarende Saite nach in der Seele des Hörers. –

Wir wenden uns zum neunten Bande des Werkes.

Als Luther im Jahre 1510 in Angelegenheiten seines Ordens nach Rom reiste, enthüllte sich ihm dort die Irreligiosität und Sittenlosigkeit eines Theiles der höheren Geistlichkeit, und staunend sah der damals noch echte Katholik, was er lieber nie gesehen hätte. Bei aller Ehrfurcht vor dem Papste, die Luthern damals noch blieb, erwachte doch in dem bibelkundigen Geiste der reformatorische Drang, und bei ihm, dem Gewaltigen, mußte sich bald Alles zur That umwandeln. Doch zielte selbst das Anschlagen der 95 Thesen wider den Ablaßkram an die Schloßkirche zu Wittenberg keineswegs auf eine gänzliche Lossagung von der Kirche. Noch nach der Disputation mit Eck schrieb der Reformen aber nicht Umsturz spähende Geist an Papst [48] Leo X. einen Brief der Anhänglichkeit an Papst und Kirche. Da wurden aber des Reformators Schriften verbrannt, wider ihn selbst der Bannstrahl geschleudert. Die starre Kirche hat aus Luther den Abfälligen gemacht; die Kirche selbst hat im Festhalten an allem Unlauteren, gegen das Luther allein ankämpfte, sich die „lutherische“ Gegenkirche geboren, hat, um mit Gutzkow zu reden, „die Kluft der germanischen und lateinischen Welt“ (s. Bd. 1) im Glauben und Handeln erzeugt. Die edelste Aufgabe eines Reformators unserer Tage würde offenbar die sein: diese namentlich für das germanische Wesen unheilvolle Kluft wieder auszufüllen. Und wir deuteten schon in unserer ersten Besprechung des „Zauberer von Rom“ an, daß sich Gutzkow die Riesenaufgabe gestellt, hier Wege zu bahnen. Der Genius des Dichters ist als priesterlicher herangetreten an den mächtigsten, widerstrebendsten Stoff, den die Zeit bietet. Der Dichter arbeitet an dem geistigen Strome, dessen Wellen den vulkanischsten Krater der Welt löschen sollen. Die ersten Blüthen, welche uns die Dichtung bringt, sind die eines falschen Frühlings. Welken muß das Treiben des Jung-Katholicismus in Deutschland. Wie der würdige Kölner Kirchenfürst selbst, so müssen verhallen oder sterben die Klingsohr, Hunnius, Nück und Müllenhof. Was den Brand schürt muß untergehen. Selbst der im Kleinen, und deshalb oft so Großes wirkende Jesuitismus erstirbt dem Dichter in den letzten Anstrengungen eines Wenzel von Terschka. Der neunte Band bietet in erstaunlicher Gestaltungsfülle das Ende dieser Welt. Mit ihr aber läßt er zugleich auch die zweite falsche Blüthe welken. So edel gehalten Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen vor uns steht: ihr Streben, auf lutherisch-pietistischem Wege das Heil der Welt zu suchen, muß fruchtlos bleiben wie jenes andere. Die geistreiche Monika von Hülleshoven, jetzt treue Gattin ihres lang entbehrten Gemahls und hinübereilend über den Col de Tende mit ihm, mit dem kranken Hedemann, mit der unvermählt gebliebenen Armgart an das [49] Sterbebette der alten Gräfin, ist im Gegensatz zu dem einseitigen Wortbibelglauben des protestantischen Pietismus „Deutsch-Katholikin“ geworden. „Von dem Tage an, schreibt sie, wo ich priesterlich fühlte, von dem Tage an ist mir die Erscheinung unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi aufgegangen, wie die meines besten Freundes. Ich wandle mit ihm am See Tiberias, ich spreche mit ihm bei seinem Freunde Lazarus vor, ich sehe die Fußtapfen, die er hinterlassen hat. Sein Leiden ist ganz persönlich das meine; seinen Todeskampf ring’ ich mit; er lehrt mich am Kreuz lieben und vergeben – auf Liebe, Glaube, Hoffnung, begründet durch Christus und einen persönlichen Gott, müssen wir unsere Kirche erbauen.“ Und der nun längst geschiedene Onkel Dechant (zu Kocher am Fall) schrieb damals mit seiner alten, zitternden Hand darunter: „Im Grunde ganz unverfänglicher Glaube des Petrus Waldus, in Ruhe gestorben um 1200, aber in seinen Anhängern, den Waldensern, gekreuzigt, gerädert, geviertheilt, verbrannt bis auf den heutigen Tag. Fiat lux in perpetuis!“ Da liegt nun die alte, würdige Herrin von Castellungo, die Freundin Fra Frederigos, des unter ihren Eichen angesiedelten deutschen Schwärmers, auf dem Todtenbett. Seitdem er, der treue Freund, dahingegangen, und Niemand weiß, wo er geblieben, litt es die eifrige Förderin des Waldenserlebens in Norditaliens Thälern nicht mehr auf der Erde. Wohl reihte sich nach wie vor Bibelspruch an Bibelspruch im Munde der alten Dame, wohl kämpfte sie wie sonst mit harten Worten gegen das Belialthum der Römlinge, allein hatte sie im langen Leben mehr als fußbreiten Boden gewonnen? Mußte sie nicht sogar fürchten, daß nach ihrem Tode selbst der geliebte Sohn Hugo, Gemahl der Gräfin Paula, hinüberwandern würde in das bestrickende Lager der römischen Welt? mußte sie, die Altlutheranerin, nicht bis zum Todtenbett den Stachel im Herzen fühlen, daß ihr Sohn eine katholische Schwärmerin zum Weibe und diese ihren, wenn auch noch so reinen Seelenfreund in unmittelbarer [50] Nähe hatte, den zuletzt sogar zum Erzbischof erhobenen Bonaventura? War die Weise, in der Gräfin Erdmuthe gewirkt, die rechte, versöhnende gewesen? der Dichter scheint alle die fragen zu wollen, die jetzt den Namen „des Herrn“ stündlich im Munde führen, und innerlich sind voll des Hasses und der Intoleranz gegen Andersgläubige. Weiter und immer weiter wird die Kluft des Glaubens in der Menschheit auf den Wegen des protestantischen Pietismus. Die Virtuosität im Glauben ist verderblich, hier, wie dort im jungrömischen Lager; sie ist die Sünde wider den heiligen Geist, den die Zeit begeht, möchten wir im Dogmenstyle sagen. Hart aber richtig trifft der Spott Lucinden’s jene fromme Wortwelt der Gräfin Erdmuthe: „Ist die alte Gräfin auf Castellungo entschlafen in jenem „HErrn“, bei dem nur sie allein courfähig war? o des Hochmuths dieser Frommen!“ Und Onkel Dechant, so innig er von den Mängeln der katholischen Kirche überzeugt ist, nennt den Kampf des Hyperlutherthums gegen Rom: Einen Teufel durch den anderen austreiben wollen. Der gebildete Katholik unterschreibt echte Reformen seiner Kirche, aber nimmermehr die Wortgläubigkeit der England abgeborgten Kunst, Tractätlein zu machen. Ehe er sich durch nüchterne Wortfrömmelei die Poesie seiner Kindheit und Jugend nehmen läßt, verharrt er bis auf Weiteres beim Alten und denkt am Ende in Lucinden’s leichter Weise: „Die katholische Kirche ist gerade darum so schön und rührend, weil sie ganz und gar eine Antiquität ist. Mir ist sie nun auf die Art eine alte, wurmstichige Kommode geworden, in der ich meine lieben Sieben-Sachen, meine alten verblaßten Bänder, meine zerknitterten Ballblumen liegen habe. Aus meinem im Herzen noch manchmal wiederkehrenden Frühling leg’ ich dann und wann eine Rose in die alten Schubläden hinein, und deren Duft durchzieht die alte beweinenswerthe Herrlichkeit. Ein bischen moderig bleibt’s immer, nun ja, aber der Duft der Rose dringt doch auch in das alte, wurmstichige Holz mit den messingenen Ringen und schnörk-[51]ligen Schildern daran ein – ach, auch schon manche Thräne ist mir in den alten Rumpelkasten gefallen. Lassen Sie doch Ihre Prinzipien, hochverehrter Freund (Bonaventura wird angeredet), der alte Gott sorgt ja schon selbst für seine Anerkennung!“

Wir sahen allenthalben, die Kirche verneint sich innerlich an den Trägern der Idee des Werkes, so namentlich auch an Bonaventura. Die Leiden der Seele, welche diesem Geiste der Verneinung und welche den ihn zeugenden und ihm folgenden Lebensverhältnissen entspringen, machten das ganze Gemälde zu einer großen Passion, die der Dichter nüancenreich uns vor Augen führt. Hat man nun früher den „Rittern vom Geiste“ vorwerfen wollen, daß sie so zu sagen im Skepticismus stecken blieben und keine positiven Ziele erreichten, so würde dieser Vorwurf hinsichtlich des „Zauberer von Rom“ völlig unbegründet sein. Der Autor gibt uns im Verlauf seines Werkes ein mächtiges, dichterisches Etwas, das mit schöpferischem Flügelschlage nicht nur in das Buch, sondern in das wirkliche Leben hineinrauscht; der Dichter stemmt die Säulen an zu einem erhabenen Tempel, in den wir Alle beten gehen können.

Ehe unsere schwache kritische Feder jedoch dem Dichter auf diesem Felde folgt, sei es uns angelegen, die Einzelngestalten des höchst umfänglichen neunten Bandes in das Auge zu fassen. Spielte das Leben des Helden der Erzählung, Bonaventura’s von Asselyn, in den letzten beiden Bänden nur andeutungsvoll herüber in den neuen Bereich der geschichtlichen Entwickelung, war es die mächtige sinnliche römische Welt, waren es die Aeußerlichkeiten der Cardinäle Ceccone und Fefelotti, die Abenteuer des der Fürstin Olympia und der italienischen Revolution verfallenen Benno, die vorzüglich unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, so führt uns der neunte Band des Werkes einestheils wieder zurück zu den uns liebgewordenen deutschen, jetzt in Castellungo und dem benachbarten Coni weilenden Menschen, anderntheils eröffnet er uns eine neue, fremde Welt: die des brennen-[52]den Bodens und Gedankens in Süditalien. In seiner Verknüpfung spinnen sich die in den ersten Bänden des großen Romans aufgenommenen Fäden weiter und bis zu Ende. Der von Fefelotti angefeindete Bischof von Robillante, Bonaventura, hatte sich in Rom von der Anschuldigung, ein unkirchliches Gebahren mit seinen magnetischen Einflüssen auf Gräfin Paula ausgeübt zu haben, gereinigt, war zu Aller Erstaunen sogar als Erzbischof an die ursprünglich von Fefelotti eingenommene Stelle nach Coni zurückgekehrt, nachdem er in Rom Lucinden mit dem Grafen Sarzana vermählt. Es schien, als wenn die Einflüsse, welche Olympia, die Herzogin von Amarillas (Benno’s Mutter) und Lucinde ausübten, dem frommen Geistlichen in der weltlichen Stadt ohne sein Zuthun Hilfe geleistet haben möchten; bald klärte es sich jedoch auf, daß Bonaventura’s neugewonnener Freund, der zum Cardinal erhobene heilige Priester Vincente Ambrosi, sein Fürsprecher gewesen war. Im früheren germanischen Collegium zu Rom liegt die „Custodia der Reliquien und Katakomben“, und hier werden in vergitterten Sälen die alten steinernen Knochensärge ihres Inhalts entleert, die vermoderten Knochen werden gesäubert, nach den Inschriften der Särge stellt man die Namen der Märtyrer fest, die hier entschliefen, und sendet die „Reliquien“ fort in alle Regionen der Welt als heilige Symbole des Glaubens. Soeben war Cardinal Ambrosi beschäftigt, einen von einem Professor des Collegiums, einem Jesuiten, „getauften“ Heiligen „Xystus“ nach Mexico für die dort neugebaute Kathedrale zu senden, die schweres Geld darum nach Rom gesendet hatte, als Bonaventura seinen Vorgänger in Robillante, den Cardinal, kennen lernte. Ein enger Freundschaftsbund schloß sich schnell um die geistesverwandten Seelen. Mußte es nicht Bonaventura mit heißen Banden des Lebens an den fesseln, der sich einen Schüler des Eremiten Fra Frederigo im Eichenhaine Castellungo’s nannte, der ihm berichtete, daß letzterer nach schwerer Bein mit Fra Hubertus im großen ,Silaswalde“ in Cala-[53]brien Zuflucht gefunden, der ihm versprach, die Verbindung mit dem Eremiten nach dorthin zu unterhalten? Bonaventura kehrte in Paula’s Nähe als hoher Würdenträger zurück. War sein Leben aber auch längst in Bezug auf diese das der strengsten Entsagung, lohnte ihn dafür auch die wärmste Freundschaft des Grafen Hugo selbst, so lag doch in dem ewigen Wiedersehen, in der nimmer weichenden Sphäre der Liebe eine unendliche Pein, unter der Graf Hugo, die Rechte des Gemahls nicht ausübend und doch längst Paula liebend, unter der Paula selbst, die ihren Gatten hochschätzte, und der Duldergeist Bonaventura ruhelos litten. Der Tod der Gräfin Mutter drängte zur Entscheidung. Zwar begleiteten Paula und ihr Gatte den Freund zunächst nach Rom zur sterbenden Mutter des letzteren, der Präsidentin von Wittekind, aber hochaufjauchzte Lucinde, als ihr lauernder Bote meldete: Graf Hugo ist nicht allein, sondern mit Paula nach Wien abgereist. Lucinde war klug genug, zu ahnen, daß von diesem Augenblicke an die Ehe Paula’s eine natürliche werden mußte.

Lucinde, Gräfin Sarzana? dem Namen nach. Sie hatte mit diesem Manne nur vor dem Altare gestanden. Cardinal Ceccone hoffte in der Gräfin Sarzana eine Maitresse zu finden, Sarzana spielte das Gaukelspiel der Verehelichung, und – erstach den Cardinal, als dieser Lucinden belästigte. Man erfuhr, daß Sarzana bei jener Logenscene, in der Benno von Asselyn gefangen wurde, nicht, wie es allen Anschein hatte, der Diener päpstlicher Gerechtigkeit, sondern, daß er vielmehr selbst ein Mitverschworner war und sich nur durch die Flucht rettete, in der Loge durch eine Versenkung, aus Rom nach Ermordung Ceccone’s auf dem Wege aller Jungitaliener nach London, wenige Wochen nach seiner Verheirathung mit Lucinden.

Die Erzählung ist mitten in die italienische Geschichte der Neuzeit eingetreten. Der letzte „Zauber von Rom“ schwindet durch die meisterhaft ausgeführte Schilderung einer neuen Papstwahl, und der [54] Dichter gibt sodann die auf wenige Seiten zusammengedrängte Geschichte des anfänglichen Liberalismus des neuen Papstes, der sich des Staatsunklugen bemächtigenden Reaction, der kurzen republikanischen Tage Roms, endlich der Eroberung der Stadt durch Oudinot (am 2. Juli 1849). Die hier auftauchenden Namen des Pater Ventura, des für Rom im Dienste der Republik fallenden Sarzana, des Helden Garibaldi, des Freiheitkämpfers Mazzini, erhöhen den Reiz spannender Realität.

Auch ein Anderer fällt noch vor Rom, unser Benno von Asselyn! Nachdem seine Freunde, die Gebrüder Bandiera, durch eine seiten Roms angefädelte, Räubern aufgetragene Verrätherei im Süden Italiens mit ihren Anhängern gefangen genommen und hingerichtet worden waren, eilte der den Armen Olympiens gleich einem italienischen Tannhäuser schon in London Entflohene, wohin er sich anfänglich mit der ihn stürmisch Liebenden, nachdem sie ihn aus der Gewalt der römischen Polizei befreit, begeben, zurück in die Freiheit athmende römische Welt. Ein stilles Fuhrwerk hält jetzt vor dem Thore des erzbischöflichen Palastes in Coni – bald steht der tiefergriffene Bonaventura an der Leiche seines Jugendgespielen und Freundes. Schöne, dichterische Sühne ist es, daß die schon alternde Armgart hier auf kurze Stunde den wieder findet, den sie einzig geliebt hat, und ihm die Augen zudrückt.

Man hat wohl geäußert, daß der am Nebeneinander der Gestaltenfülle reiche Roman Gutzkow’s dem Dichter nicht Gelegenheit biete, diejenige poetische Gerechtigkeit zu üben, welche nach ästhetischen Grundsätzen das unabweisbare Erforderniß eines Kunstwerkes ist. Wie soll, heißt es, wo Massen wirken, der Abschluß des Einzelnen und Ganzen ein die Forderungen der Tragik befriedigender werden? Wir wiesen schon früher darauf hin, daß Gutzkow nirgends Nebengestalten auftreten läßt, die so zu sagen aus der Idee herausfallen. Auch sie sind Werkzeuge für den sich verkörpernden Hauptgedanken [55] und bedürfen neben genügendem Abschluß des letzteren, keines besonderen. Was aber die hervorragenden, ihr ganzes Leben darbietenden Träger der Idee anlangt, so weiß unseres Dichters große Begabung, trotz der Vielgestaltigkeit der Wellen, die kommen und münden, doch jeder Woge ihren innerlich nothwendigen Platz in dem Strome anzuweisen. Poetische Gerechtigkeit ist keine andere als die des realen Lebens. Wie sich hier Woge an Woge reiht und reibt und schließlich die Sühne des geglätteten Spiegels offenbart, so kommt in Gutzkow’s Roman jede einzelne der Hauptgestalten, weil sie von vornherein den richtigen Schritt gegangen, zum poetisch nothwendigen Ziele. Wie richtig und warm ist Benno’s Ausgang. Ein Dämmerleben war seine unbestimmte Jugend; von dem Augenblicke an, wo er in einer Italienerin seine Mutter, die schließlich ebenfalls in Rom scheidende Herzogin Amarillas, findet, ist Benno Mann der italienischen That und geht nothwendig, aber in poetischer Verklärung mit Italiens damaligem Geschick zu Grunde. Seine Armgart – denn so kann man die ihm geistig trotz alle dem Gebliebene wohl nennen – lauscht dem Ende des im Leben für sie doppelt Verlorenen und gesteht dem Sterbenden die junge Liebe des alternden Herzens. Armgart söhnte dereinst durch ihr Gelübde die Aeltern, sühnt jetzt durch ihre Liebe die Fehler des Freundes aus, auch ihr Theil ist das poetisch gerechte. Paula, die lange Schwankende, einer unnatürlichen Ehe Geopferte, lernt ihren Gatten hochachten, reißt sich los von der tiefen Seelenschwäche, der geheiligten, fast unbewußten Liebe zu Bonaventura, und beginnt den trüben Zweifel des Lebens mit ihrem Gatten fliehend, in Wien ein gesundes Dasein. Ein munterer Knabe, mit dem die edle Wittwe des später dahingeschiedenen Grafen gegen Ende des neunten Bandes an Armgarts Seite dahinwandelt, lehrt, daß hier die natürliche Lösung gewonnen wurde. Thiebold, der ewig nur aufopfernde, liebenswürdige Freund, ist ihnen geblieben und findet nach wie vor in freudiger Hingebung an seine Lieben innere Befriedigung. Hat [56] er doch selbst der verblühten Armgart seine Hand geboten; die um Benno in jetzt glücklicher Erinnerung Trauernde schlug sie aus, des treuen Freundes Nähe immer aber herzlich empfindend. Monika’s Lebensschluß ist mit dem Wiederfinden des Gatten, der Tochter geboten; des treuen Hedemann irdische Arbeitszeit findet in Italiens milder Luft ein sanftes Aushauchen; die Herzogin Amarillas schließt nach unstetem Leben ihr Dasein schon mit dem Augenblick, wo der in Bonaventura’s Palast sterbende Sohn die an der Thür jammernde, ihm alles Wirrsal der Seele einst anrichtende Mutter entschieden von sich abweist. Von da an ists ein langsames, schon um die Kinder verdientes Sterben. Nück, der Römling, starb geistig an seinen Advokatenränken und an seiner sinnlichen, unerwiderten Liebe zu Lucinden. Er fristet seine alten Tage als Renegat, als Türke in Kleinasien, unter schönen Sklavinnen die verlorne Jugend betrauernd und sich das einzige Labsal gewährend, Lucinden nach Rom reiche Geschenke an Seidenstoffen zu senden, die ihrerseits durch deren Verkauf ihren Lebensunterhalt und die Möglichkeit gewinnt, als Gräfin Sarzana mit freien „Donnerstagabenden“ in Rom aufzutreten und alte Hoffnungen zu nähren, nach endlicher Entfernung Paula’s aus Bonaventura’s Nähe doch noch dem heiligen Priester für sich eine weltliche Seite abzugewinnen. Lucinde – wegen ihrer allein möchten wir mit dem Dichter rechten. Sie, deren jugendlicher Sinnesverwilderung ein ganzer Band des Werkes und in fesselndster Weise gewidmet wurde; sie, die, mit hohen, geistigen Anlagen Begabte, geschickt sich auf die Höhen der katholischen Gesellschaft Deutschlands und Roms Schwingende, schien uns bestimmt und geeignet, den dämonischen thatenreichen Gegensatz zu dem heiligen, weichen Leben des von ihr angebeteten Priesters Bonaventura zu bilden. Doch kränkelt die Aermste, selbst in Weichheit verfallend, dahin; aufgerieben von ihrer unseligen Leidenschaft, bis an das Ende in kleiner Intrigue thätig, dient sie nicht, wie Bonaventura, der mächtigen [57] Idee der Dichtung, sondern nur dem Interesse ihres eigenen Tages. Nicht verkennen wir das Gelingen dieser einen Seite ihres Lebens. Als liebendes, verschmähtes, hartes Weib ist Lucinde ein vollendeter Charakter. Aber ihr schien mehr bestimmt. Wenn Monika einmal schreibt: „Lucinde Schwarz hält das römische Staatsruder in der Hand“, so ist das nur in dem unbedeutenden Sinne wahr, daß die Jesuitesse durch den Reiz ihrer Person sich hie und da einigen Einfluß auf einen Ceccone, Fefelotti erwarb. Aber auch diesen beutet sie nur für das Idol ihrer Seele aus und fein gemeiselt sind diese Lichtseiten der unbeugsamen Anhänglichkeit und Güte gegen den geliebten, sie zurückstoßenden Priester. Möglich, daß des Dichters Absicht war, die Grenze des Weibes zu zeichnen; möglich, daß Lucinde, weil sie Weib ist, nicht zur männlichen That sich erheben sollte, aber ihre Gestalt ist so reich angelegt, daß man die Heldin in ihr schwer vermißt. Etwas Weltbewegendes liegt in ihrem Auge, und doch rückt sie keinen Stein von dem andern. Die Streiterin für Rom geht unter in der Kämpferin für die eigene kleine Welt. Ihre Liebe ist allerdings eine erhaben gezeichnete That; und zart empfunden ist es, wenn Lucinde in dem Augenblicke zu Grunde geht, wo sie an Bonaventura schreibt, um ihm die einzige Waffe zu senden, die sie wider ihn in der Hand hat und mit der sie ihm, wie wir wissen, einst drohte, das Bekenntniß des Priesters Leo Perl: daß er Bonaventura ohne die Absicht, ohne den die Taufe erst zu solcher heiligenden, auf sie gerichteten Priesterwillen getauft habe. Ringend mit dem Jesuiten Terschka, der ihr das Document entreißen will, während die Flammen eines von diesem angelegten Brandes schon im Zimmer emporlodern, werden beide ergriffen von dem Mönche Hubertus, den wir auf Westfalens Erde zuerst kennen lernten; letzterer stürzt sich, zu retten, mit beiden aus der Höhe auf die Straße, und alle drei finden ihren Tod, Terschka den verdienten, Lucinde den poetisch nothwendigen. Das verhängnißvolle Papier lodert in den Flammen auf, Lucinde haucht ihre letzten [58] Seufzer am Fuße der Peterskirche aus, als „Jungfrau“. Klingsohr, ihr feuriger, aber unerhörter Anbeter auf Schloß Neuhof, endigte an Hektik als geistvoller Uebersetzer auf dem Vatican vor ihr und hatte sie zur Erbin eingesetzt. So findet alles seine innerliche nothwendige und dichterisch gebotene Lösung. Das Ziel Bonaventura’s ist eng mit dem großen Endzweck des Ganzen verknüpft, welcher uns alsbald entgegentreten wird. Zunächst galt es, den dichterischen Ausbau des Einzelnen zu beleuchten und dem Autor unsere Bewunderung auszusprechen für das dem ästhetischen Gesetze gewährte Genügen: in aller Fülle der Gestaltung den poetisch gerechten Abschluß der einzelnen Charaktere zu ermöglichen.

Wir wenden uns jetzt zur Beleuchtung des positiven Ausganges, den die Hauptidee des Werkes gewinnt. Vor 700 Jahren, als die römische Kirche dem Gemüth des Menschen freieren Spielraum ließ, so daß die schönen Künste und Wissenschaften in Frankreich, England, Deutschland erblühten, geschah es zu Lyon, daß ein einfacher Bürger der Stadt, Pierre Vaux, die Bibel in provencalische Sprache übersetzen ließ und mit einer Anzahl von Freunden die einfachen Formen des ersten apostolischen Christenthums annahm. „Sein Vermögen gab er seiner Gemeinde, ihre Priester, denen die Ehe unverboten blieb, wählte die Gemeinde selbst, von den Sacramenten behielt man nur Taufe und Abendmahl; letzteres hörte auf ein mystischer Act zu sein und blieb nur noch ein Opfer der Erinnerung; es war eine Reformation ohne Schulgezänk, ohne Disputation der Theologen, eine Läuterung der Lehre allein durch das Herz. Mit reißender Schnelligkeit verbreitete sich das Wirken der Waldenser. Ein ganzer Gürtel Europa’s von den französischen Abhängen der Pyrenäen an bis nach Süditalien fiel vom herrschenden Kirchengeiste, vom westlichen Streit der Päpste mit dem Kaiser und den Geistlichen ab“ – so schildert Gutzkow in wenigen Zügen die große, dem Herzensbedürfnisse entsprungene Reformation der alten Zeit, beifügend, daß gerade die weit verbreiteten Waldenser-[59]gemeinden es waren, bei denen das Blühen der Künste, Erfindungen und Wissenschaften wie „ein lichtheller Iris-Bogen“ über Europa weiter und weiter erglänzte. Die römische Kirche wurde jedoch härter, grausam. Bald kamen die Vernichtungskriege gegen die edelsten Menschen der Zeit in Frankreich, Piemont, Calabrien. Das Blut und die Marter der „Ketzer“ wurde ein heiliges Opfer der Kirche. In die großen Ideen der Menschheit schneidet aber kein Schwert und es haftet an ihnen kein irdischer Brand; trotz aller fanatischen Verfolgung erhielten sich einzelne tapfere Gemeinden namentlich in den Thälern von Piemont.

Friedrich von Asselyn, der Vater Bonaventura’s, Deutschland fliehend, um sein Weib glücklich zu machen, das den Präsidenten von Wittekind, ihren späteren zweiten Gatten, den Freund des ersten, liebte, gab sich den Anschein, im Alpenschnee versunken zu sein, heuchelte den Tod, weil nach römischem Kirchenrecht das Leben keine Trennung der Ehe kennt; und der lebendige Todte floh nach Piemont, um von da nach Amerika zu wandern. Krank auf dem Schlosse der Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen niederliegend, lernte er die Lehre der von dieser edlen Frau beschützten, durch die Jesuiten noch jetzt verfolgten Waldenser kennen, siedelte sich als Eremit unter den Eichen von Castellungo an, belehrte die freundlichen Umwohner in Sprachen und praktischem Wissen, bald auch im reinen Glauben des Evangeliums. Die Menschen nannten ihn Fra Frederige. Ein Klosterschüler, Vincente Ambrosi, wandte sich an ihn, um Deutsch zu erlernen. Frederigo gewann ihn für einen großen Reformgedanken der gesammten katholischen Kirche. Hinblickend auf die einfache Lehre der Waldenser sollte ein großes Concil der Priester zur Reinigung der Kirche unter die Eichen von Castellungo berufen werden. (Bonaventura bekam damals, als er in Deutschland vor dem Kirchenfürsten mit Klingsohr die erschütternde Scene erlebt hatte, jenen Brief sub sigillo confessionis.) Wer aber vermag wirksam ein allgemeines Concil zu [60] berufen? Nur der Papst selbst. Drum „Werde ein Heiliger, mein Sohn!“ rief Frederigo seinem Schüler Ambrosi zu. Und dieser, die Idee der Reformation im Herzen, wurde ein Heiliger; er duldete harte Strafen, wie wir sahen, wegen des Olympien nie gegebenen Kusses und lebte in Dürftigkeit und Ordensstrenge zu Rom. Sein tadelloses Leben und sein ernster Sinn hob ihn bald von Stufe zu Stufe, und, wie unsere letzte Besprechung lehrte, fand Bonaventura den heimlich Strebenden im Rom bereits als Cardinal. Im Schweigen war Ambrosi gestiegen und fand seinerseits den Gleichgesinnten in Bonaventura. Der Reformgedanke verlebendigte sich in beiden. Beide schützten aber auch den nach dem Silaswalde in Calabrien entflohenen Fra Frederigo, dessen Verwandtschaft zu Bonaventura der Freund dem Freunde Ambrosi schließlich offenbarte. Geheime Briefe wurden gewechselt durch den sich mit Frederigo nach dem Süden wendenden Bruder Hubertus. Und ersterer wartete dort der Stunde, wo Gott sein geliebtes, krank nach Rom gewandertes Weib von der Erde rufen werde, um dann erst dem Sohne als Vater zu nahen und aufzuerstehen von den Todten. Von Castellungo aus war Fra Frederigo nur deshalb geflohen, weil Bonaventura, der Sohn, damals auf Deutschland als Bischof nach Norditaliens Fluren berufen wurde.

Die Charaktere des sanften, große Ziele wollenden Ambrosi und des entsagenden Frederigo gehören zu den interessantesten des Romans. Die Geschichte der Flucht des letzteren aus dem stillen Eichenhaine des norditalienischen Thales, durch Räuberhand hindurch über einsame Meeresfelsen-Eilande bis nach Neapel in den Silaswald, bildet eine der anziehendsten Partieen des neunten Bandes. Im Silaswald, unterstützt durch Paolo Vigo, einen als „ketzerisch“ angesehenen Priester und durch Fra Hubertus, den nimmer Rastenden, wurde Frederigo längere Jahre der Lehrer und Freund der aus alter Zeit in der Gegend verbliebenen Waldensernachkömmlinge. „Jährlich nur einmal, am 20. August, fanden sich die letzten Trümmer der einst so zahlreich im [61] unteren Italien ausgebreiteten Söhne des Peter Waldus zusammen. Drei Jahrhunderte waren feit jenen Scheiterhaufen verflossen, die auch die Fortschritte der Reformation in Calabrien geendet hatten. Fra Frederigo fand davon im Silaswalde, keine anderen noch ersichtlichen Spuren, als die „Bluteichen“, wo einst Hunderte der Reformirten und Waldenser – wie die Schafe mit dem Messer abgestochen wurden,“ erzählt unser Dichter. Da geschah es, daß die berüchtigte neapolitanische Polizei und daß die Hierarchie gedachte, auch diesen letzten Rest der alten freien Glaubenswelt zu vernichten. Gerade als Frederigo an stiller Waldeshütte seine Jahresversammlung hielt, stürzten sich die gedungenen Schweizersöldlinge auf die Männer des Friedens und schleppten sie in das Gefängniß. Den vorsichtigen Bemühungen Ambrosi’s und Bonaventura’s, dessen Mutter unterdeß in Rom verstorben, gelang es, Fra Frederigo, Hubertus und Vigo den südlichen Häschern zu entreißen. Der Greis Frederigo stirbt in Rom im Arme seines geliebten Sohnes, nachdem er von diesem, im erzbischöflichen Gewande Prangenden, den süßen Trost empfangen, daß er, Bonaventura, trotz des Gewandes den Reformgedanken im wahrheitstreuen Busen trägt. Es ist vom Dichter zart empfunden, daß das Wiedergewinnen von Vater und Sohn erst nach dem Tode der unbewußt in Bigamie lebenden Mutter erfolgen konnte. Hubertus starb, wie wir sahen, beim Brande des Palastes der Gräfin Sarzana.

So ist die Idee der Kirchenreform in den Seelen herangereift, in denen sich die Gedankenentwickelung des Romans verkörpert. Es fehlt nur noch das Schlußwort, die Verklärung der Geister im Sinne des erhabenen Zieles, das sich Gutzkow’s großes reformatorisches Werk stellt. Wir haben weiter oben bereits angedeutet, daß der Dichter nicht bei den Verneinungen stehen geblieben, die sich an die Idee des Werkes knüpfen. In dem so eben Mitgetheilten sehen wir die Keime und Grundlagen des schöpferischen Schlußgedankens, welchen Gutzkow’s Genius seiner Dichtung einflicht.

[62] Hatte dereinst schon Luther, ehe er aus der katholischen Kirche schied, sich auf ein allgemeines, ihm nicht gewährtes Concil der Geistlichkeit berufen; hatte schon der Bischof Scipione Ricci die Souveränität der Concilien gelehrt und war deshalb vom römischen Stuhl als Lutheraner verdammt worden, so lag es dem mit der Kirchengeschichte und den Sehnsuchten des heutigen Italien vertrauten Dichter nahe, den Reformatoren seines Buches den gleichen Ruf in den Mund zu legen. „Die Rettung der katholischen Kirche ist ein allgemeines Concil. In dessen Hände legt der Stadthalter Christi seine Gewalt nieder. Das war ihre Lösung und beide liebten das Kreuz.“ Die Unterlagen aber für ein solches Concil sind in dem einfachen, dem Gemüth der Gläubigen entsprossenen und das Lutherthum an Freiheit der Empfindung überflügelnden, vorhin geschilderten Waldenserglauben zu finden, dem der Dichter jedoch, in richtiger Würdigung historisch berechtigter Elemente der römischen Kirche, eine namentlich den südlichen Völkern unentbehrliche, phantasievolle Ausschmückung durch Messe und geläuterte Erinnerung an die Heiligen zufügt. Wie hinsichtlich seines Erzählungsstoffes, so namentlich auch in Betreff der abschließenden Idee des Werkes ist Gutzkow’s Dichtung ein allen Erfordernissen innerer Einheit und Nothwendigkeit entsprechendes Kunstgebilde. In leisen Fäden spinnt sich die Lösung des Ganzen an von Anbeginn, und dem aufmerksamen Leser entgehen die feinen Blicke auf das Endziel nicht, die sich schon in den ersten Bänden finden. Schon im zweiten Bande ist es Onkel Dechant, der geistreiche Aphorismen über eine katholische Kirchenreform giebt, wie wir früher berührten. Und seine überaus witzigen Briefe knüpfen allenthalben an persönliche Verhältnisse lehrreiche Schlaglichter auf das was zu bessern ist. Hohen Genuß gewährt in dieser Richtung z. B. sein Brief an Bonaventura im achten Kapitel des fünften Bandes, der traurige Enthüllungen über die karge lieb- und leblose Stellung der unteren Geistlichen in komischer Form bietet. Und im siebenten Bande schon klären sich [63] Bonaventura’s, des damals noch deutschen Priesters, innere Reformgebilde zu bestimmten Ueberzeugungen. „Bonaventura nannte,“ heißt es dort im vierten Kapitel, „die Erscheinungen des Protestantismus nur deshalb unvollkommen, weil dieser nur durch das Bedürfniß, einen polemischen Gegensatz aufzustellen, hervorgerufen wäre. Der Pietismus,“ sagt er, „das ist ein Versuch, aus dem Protestantismus wieder zur Religion zurückzukommen; denn Protestant sein heißt nicht: Christ sein, sondern nur: Nicht-Katholik sein. Und man müsse sich allerdings eine Zeit denken können, wo auch der Katholicismus in seiner jetzigen Gestalt aufhöre. Die Verbreitung der Philosophie würde dann bis in die kleinsten Hirtenthäler Spaniens und Siciliens gedrungen sein. Ich verstehe,“ fuhr er fort, „unter Philosophie eine Aufklärung, die ihre Resultate mit verständlichen Allgemeinbegriffen in die Welt hinausgehen lassen kann. Dann wird die Frage nur noch lauten: Was ist rein christlich? Dann werden sich Protestanten und Katholiken begegnen müssen im apostolischen Gemeindeleben. Auf welchem anderen Grunde soll man sich zuletzt wieder die Hände reichen, als auf dem der Bibel?“ Und später, in Castellungo, äußerte der würdige Priester einmal gegen die lutherisch-pietistische Gräfin Erdmuthe: „Allerdings, die Messe sollte in der Landessprache gelesen werden. Aber ich gebe auf die stummen Augenblicke in der Messe mehr als auf die gesprochenen. Ein Gottesdienst muß mehr als nur eine Predigt sein. Unsrer Messe ist lediglich der Schein, daß sie ein unblutiges Opfer wäre, sonst nichts von ihren mystischen Vorgängen zu nehmen. Oder soll die Religion ohne Formeln sein? Dann ist sie Philosophie. Eure Predigt wird sich die Messe zu Hilfe rufen müssen, um schon allein die Herrsch- und Streitsucht Eurer Parteien zum Schweigen zu bringen. Dann werden die Protestanten nicht mehr Nichtkatholiken, die Katholiken nicht mehr Nichtprotestanten, sondern beide erste wahre Christen sein.“ Und wie Bonaventura der Messe, so redet Vincente Ambrosi auch den Reliquien der [64] Heiligen das Wort; freilich nicht im Sinne der römischen Kirche. „Der Aufgeklärte und Denkende,“ sprach Ambrosi an den römischen Steinsärgen, „wird immer trauern, wenn er sieht, daß diesen todten Resten der Vergangenheit eine göttliche Ehre erwiesen wird. Aber trägt man denn nicht auch den Ring einer Geliebten, das Haar einer theuren Mutter, und treten Sie nicht mit feierlichem Gefühl in die Gruft der Scipionen, die Sie auf der Via Appia finden? Ist nicht der Besuch der Gräber die heiligste Gelegenheit, unsere irdischen Gedanken zu läutern? So möcht’ ich auch diese Gebeine, die man tausend Jahre lang heilig hielt, nicht sofort wie die Sanscülotten mit den Gräbern der französischen Könige in Sanct-Denis thaten, auf die Straße werfen. Aber den wahren Sinn des Sich-Erinnerns im Kirchenleben wünsch’ ich allerdings gedeutet und die Verehrung von den Reliquien nur zu einer Sache der Dankbarkeit gemacht. Bewundert doch, möcht’ ich rufen, den Zusammenklang der Zeiten! diese von uns fortgeführte Melodie alter Hoffnungen und Tröstungen! Wer kann die Heiligen mit einem Federstrich tilgen – sie leben so gut wie Christus.“ Die Stellung der Priester anlangend, lehrte Fra Frederigo unter Castellungos Eichen: „Unsere Gotteshäuser und die Priester, die in ihnen Lehren und Ceremonien abhalten, sollen nur Hüter und Wächter des Christenthums sein, gleichsam die Sänger, die Dichter, die Historiker der Kirche, ohne sich den mindesten Eingriff in die Lebens- und Gesellschaftsformen gestatten zu dürfen.“ Paolo Vigo, der durch Frederigo bekehrte Priester, aber ruft am Sterbelager des Meisters: „Priester, legt die Gewänder des Stolzes und der Ueppigkeit ab! werdet Menschen! redet die Sprache, die euer Volk versteht, auf daß der Ruf: Sursum corda! auch wahrhaft zum Empor der Herzen wird. Leset die geläuterte Messe, ein Zwiegespräch sei sie mit Gott. Bilder des Gekreuzigten, tragt sie im Herzen! und so lange die Völker der Erde nicht aus eitel Weisen bestehen, so lange noch Heiden und Muselmänner die strah-[65]lenden Ordenszeichen ihres Glaubens verehren, verehrt auch äußerlich das Kreuz!“

Nun bricht also an Tag des Heils, der die ehrwürdige, alter Zeit entstammende Lehre neu verkündet! Neuntägiges Trauergeläut gebietet dem Kanonendonner Schweigen, den Italiens, Frankreichs und Oesterreichs Heere in der Campagna tönen ließen, im Kampfe um die ewige Stadt, und Italien im Kampfe um die ewigere Idee. Der Papst ist wiederum heimgegangen, und Roma’s Dictator gab den Cardinälen freies Geleit zur Neuwahl an Petri Stätte. „Der letzte der Reihe!“ aber rief der gewaltige Held, „und ist es ein Prätendent auf die weltliche Herrschaft Roms, wie sie alle waren, so senden wir ihn zu den beiden Heersäulen draußen, deren Bajonnette ihn halten mögen, den Schatten ohne Macht und Würde. Ist es aber ein Nachfolger Petri im Geiste Petri, ein Friedensfürst und Apostel, so soll die Welt seine segnende Hand nicht entbehren!“ Spannend harrte das Volk Tage lang der Entscheidung vor dem päpstlichen Palaste. Da endlich fällt Stein auf Stein von der die Cardinäle einschließenden Mauer, Kanonenschüsse hallen durch die Lüfte, und alle ehernen Zungen beginnen von den Thürmen zu reden – Cardinal Ambrosi tritt hervor – Tausende harren seines Wortes – wie ein Johannes vom Ruhme seines Freundes Jesus redend, verkündet er: daß Bonaventura d’Asselyno zum Papst gewählt worden, daß er aber nur unter der Bedingung die Wahl angenommen, seine erste That dürfe die Berufung eines allgemeinen Concils auf den 20. August des Jahres auf das in Stille und Frieden gelegene Schloß Castellungo sein; ferner unter der Bedingung, daß in allen Sprachen der Christenheit das Lesen der Bibel gestattet werde. Endloser Jubel der Krieger und des Volkes! Und nun tritt der neue „Zauberer von Rom“ selbst hervor in der Sottana von weißem Moor unter rothsammetnen Baret, den mächtigen Fischerring Petri an der Rechten. Die Abendsonne beglänzt den Verklärten, er senkt vor ihr in Demuth [66] die Augen, und senkt sie auch vor den begeisterten Blicken zweier edlen Frauen – Paula und Armgart –, deren weiße Tücher aus gegenüberliegendem Fenster ihm zuwinken: Hosiannah, Sieger und Ueberwinder!

18?? ist dieser warm empfundene Schluß des Werkes überschrieben. Wer schreibt dem Flügel der Geschichte sein Schwingen vor! In edelster Verklärung tritt uns hier der Traum des jungen Italien entgegen. Wir aber fragen: hat der Dichter auch in Bezug auf unser theures, deutsches Vaterland gehalten, was er im Eingang des Werkes versprach? Liegt die Kluft der in uns selber waltenden romanischen und germanischen Welt ausgefüllt durch das wuchernde Erdreich der Dichtung? Spreche die Kritik muthig ihr Ja! Die Dichtung hat das Mögliche zu bieten, und möglich ist das Ziel, das hier ein Dichtergenius den Zeiten stellt. Ob heute, ob morgen, ob in funfzig, hundert Jahren: der Traum, den ein Leibniz schon zu Charlottenburg von der evangelischen Union der katholischen und protestantischen Kirche geträumt, kann zum Heile Deutschlands in Erfüllung gehen. Die große geistige Spaltung zwischen Süd und Nord kann und wird sich ausgleichen im heiligen Sinne des Dichters. Schon dämmert das Morgengrauen im „Lande der Zither“, in Deutschlands herrlichem Süden färben sich die Blüthen geistiger Freiheit, und vor wenigen Monden las der erstaunte Norden: daß Oesterreichs Ministerium die noch unterm 7. April 1852 erlassene Beanstandung der Bibelverbreitung aufgehoben habe. Unaufhaltsam ist die Hand der Freiheit, wenn wir nur einmal in sie die unsere gelegt.

Der Dichter hat sein Wort gehalten: die vaterländische Einheit durch sein Werk warnend und ermunternd zu fördern. Und er hat es – wir fragten das zum anderen Mal – eben als Dichter gehalten. Eine große poesiereiche Passion bietet er unserer Sehnsucht, und schließt daran den Jubelruf thatsächlicher Erlösung. Gutzkow hat [67] uns ein perlenhaltiges Buch gegeben, voll der Thränen des Leides, der Wonne, und die letzteren sind die unsern; mit reformatorischer Gewalt öffnet das mächtige Gebilde das innere Auge der Seele, und was wir gehört, das tönet wieder im tiefsten Herzensgrunde, und wird nachklingen, so lange deutsche Menschen sich an den Werken deutscher Dichtung freuen.

5. Jakob Frohschammer, 1862#

[Jakob] Fr[rohschammer] Recensionen. 5.) Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Leipzig. Brockhaus. 9 Bde. In: Athenäum. Philosophische Zeitschrift. München. Bd. 1, 1862, Heft 4, S. 688-900. (Rasch 14/34.62.1)

Wir machen es zwar unserer Zeitschrift nicht zur Aufgabe, Buch zu führen über all’ die endlosen belletristischen Erscheinungen, die jedes Jahr bei uns hervorbringt, wollen insbesondere unsere Leser verschonen mit dem jetzt so maßlos wuchernden literarischen Klatsch und „Kunstgeschwätz“, womit man gegenwärtig das Publikum nährt, geistig erschlafft und für die eine ernste, geistige Anstrengung erfordernden Schriften unempfänglich und unfähig macht; indeß wahrhaft bedeutenden Erscheinungen der Dichtkunst werden wir stets unsere Aufmerksamkeit zuwenden und sie den Lesern zur Kunde bringen. Dem genannten, ebenso Umfang- als Inhalt-reichen Werke wollen wir eine, wenn auch nur kurze Anzeige widmen sowohl um des Dichters willen, der unter seinen Zeitgenossen eine hervorragende Stelle einnimmt, als auch um des eigenthümlichen Inhaltes willen. Dieser Roman stellt sich nämlich die Auf-[689]gabe, eine umfassende Darstellung, ein umfangreiches Gemälde des katholischen Lebens und Strebens in der neueren Zeit und zwar bis in die Gegenwart herein zu geben; also zu zeigen, wie verschiedene Menschen in ihrer Weise von katholischen Ideen und Grundsätzen angeregt und geleitet werden in ihrem Thun, Lassen und Leiden, und noch mehr wie hinwiederum die Einzelnen nach ihrem Naturell, ihren Zwecken und Schicksalen sich zu denselben stellen. Die Handlung beginnt in den dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts, einige Zeit vor den Kölner Wirren und der Gefangensetzung des Erzbischof’s von Köln, und spielt bis in unsere Tage herein, ja endet eigentlich erst in der Zukunft, denn das letzte Kapitel des neunten Bandes oder vielmehr das neunte Buch hat die Ueberschrift „18??“ handelt also von Zukünftigem, nämlich von der neuen Papstwahl, die auf einen Deutschen, Bonaventura von Asselyn fällt, welcher der letzte in der Reihe seyn soll und der mit Ausschreibung eines allgemeinen Concils seine Regierung beginnt. – Den Inhalt des Ganzen, den Verlauf der Entwicklung auch nur sehr skizzenhaft zu geben, würde die Gränzen, die uns hier gesetzt sind, weit überschreiten. Es ist ein reiches Bild ineinander wirkender Verhältnisse und Persönlichkeiten – und auf die „Geschichte“ kommt es im Grunde dabei weniger an. Personen und Charaktere der verschiedensten Art treten da auf: Priester, liberale, mild gesinnte aus älterer Schule, jüngere, mit zelotischem Eifer für Erneuerung oder Repristination mittelalterlichen Katholicismus gegen Protestantismus und Staat wirkende, dann grundsatz- und sittenlose Intriguanten, aber auch ideal gehaltene Gestalten; ferner Convertiten, Jesuiten, christliche Advokaten und Kaufleute, pietistisch und rationalistisch Gesinnte, nicht minder endlich auch Juden. Vertreter des Protestantismus sind so gut wie ausgeschlossen; nur im zweiten Bande spielt derselbe, aber nur in untergeordneten, hochmüthige Geringschätzung gegen den Katholicismus zeigenden Repräsentanten herein. Der Schauplatz der Begebniße ist zuerst [890; recte: 690] hauptsächlich in Westphalen und am Rhein, in Köln (Bd. 1–6), dann vorübergehend in Wien, endlich in Oberitalien und in Rom (Bd. 7–9). Der erste Band gibt uns mehr nur eine Vorbereitung für das Ganze, die Jugendgeschichte der Lucinde, einer Hauptperson des ganzen Roman’s. Mit dem zweiten Band treten wir dann in die Begebenheiten selbst ein, die uns zuerst nach „Kocher am Fall“, dann abwechselnd nach Köln, „die Stadt des Kirchenfürsten“, und nach Westphalen insbesondere „Witoborn“ (Paderborn) und Schloß „Westerhof“ führen. Clerikale Agitationen, Hellseherei, Intriguen und Verbrechen treten uns entgegen nebst der mild versöhnenden seelsorglichen Thätigkeit des Haupthelden, Bonaventura’s von Asselyn. In Rom: Regiment, Intriguen und Eifersucht der Kardinäle, Geheimbündelei, liberale Agitation und schließlich Reaction.

Wir wollen nicht lange erörtern, ob Romane dieser Art wirklich als dichterische Kunstwerke zu gelten haben oder nicht. Uns scheint kein trifftiger Grund vorhanden, dieß in Abrede zu stellen, und überhaupt müssen die Gesetze in dieser Beziehung erst vom künstlerischen Genius durch Schöpfung von Werken selbst gegeben und können nicht a priori von der Kritik dictirt werden. Die Einwendung wegen der Länge solcher Werke ist zu äußerlich und oberflächlich als daß sie viel Beachtung verdiente. Der Umfang wird sich eben nach Zweck und Stoff zu richten haben. – Man nennt den Roman einen Tendenz-Roman, und das sicher nicht mit Unrecht; nur ist die Frage, welches denn die eigentliche Tendenz sey. Die Ansichten sind verschieden; die Einen möchten darin wohl eine Herabwürdigung und Carrikatur der katholischen Kirche erblicken, andere sogar eine Verherrlichung und Verklärung derselben. Beide dürften Unrecht haben. Eine Herabwürdigung oder gemeine Verunglimpfung findet sich nirgends, wenigstens nicht in den Hauptpersonen. Die Person des Erzbischof’s von Köln ist nicht unwürdig gehalten, sondern sogar nach ihrer heroischen [691] Seite aufgefaßt. Paula, Armgart und Treudchen Leu, die unter den Frauen hauptsächlich die Trägerinnen der katholischen Idee sind, sind jede in ihrer Weise rein und edel gehalten; ebenso Bonaventura und P. Vincente, die beiden Priester und schließlich Cardinäle. Daß nicht alle Priester, die Rollen spielen, so ideal, sondern auch als zelotisch, äußerlich und mit manchen Schwächen behaftet erscheinen, kann noch nicht als Herabwürdigung des Katholicismus gelten, da in der Wirklichkeit sich für all’ diese Charaktere die Belege finden lassen. Freilich sind mit der katholischen Bewegung auch schlechte Menschen, selbst Verbrecher in Verbindung gebracht. Allein auch die beste Sache kann eben von solchen ausgebeutet werden und wird es; sie erscheint dadurch nicht schlecht, daß sie von Schlechten mißbraucht wird, sondern nur dann, wenn sie die Menschen schlecht macht, zur Schlechtigkeit führt. Der Procurator Nück, dem jedes Mittel recht ist, durch katholische Agitation der Regierung Verlegenheiten zu bereiten, thut dieß nicht aus katholischer Begeisterung, sondern aus Haß gegen die Regierung, und er kommt schließlich auch dahin, daß er in der Türkei als Renegat endet. Am übelsten kommen die Jesuiten weg, die durch ihren Emissär mittelst jedes Raffinement’s und selbst Verbrechen ihre guten Zwecke zu erreichen streben, – doch ist auch hier wenigstens nirgends eine Identificirung dieses Jesuitismus mit der katholischen Kirche ersichtbar.

Aber freilich noch weniger können wir eine Verherrlichung oder Verklärung des Katholicismus in diesem mit so viel Talent und Kenntniß geschriebenen Roman erblicken. Man kann sagen, eine vollkommen gesunde, kräftige, den Katholicismus nach seinem tiefsten und reinsten Wesen auffassende und energisch zur Geltung bringende, geistig bedeutende Persönlichkeit treffen wir in demselben nicht an. Alle Personen kränkeln geistig mehr oder weniger, wenn sie auch sonst noch so rein und ideal gestaltet sind; – nicht gerade durch den Ka-[692]tholicismus, als dessen Opfer sie erschienen, sondern hauptsächlich auch durch persönliches Geschick. Der Hauptheld, Bonaventura, dem der Dichter eine so sichtliche Vorliebe und Sorgfalt widmet, ist doch zu sehr passiv, ist zu energielos und auch geistig kaum bedeutend genug; er erringt zwar Erfolg auf Erfolg, aber mehr durch eine Art magischer Wirkung seines seelenvollen Wesens, als durch geistige Thaten. Seine bedeutendsten Thaten werden uns eigentlich nur erzählt oder durch den Erfolg bekannt; – und allerdings geistige Heldenthaten vor den Augen der Leser vollbringen zu lassen, hat seine Schwierigkeit, da diese der Dichter, der bei einem solchen Werke zugleich Denker seyn muß nicht blos erzählen kann, sondern sie selbst zu vollbringen hat, – was eben die Schwierigkeit bietet. Doch soll damit nicht in Abrede gestellt werden, daß der Dichter Bonaventura in seiner Amtsthätigkeit, namentlich im Beichtstuhle viel Schönes, Treffliches aussprechen läßt – Die Verklärung oder Reform des Katholicismus, welche die beiden liberalen Kardinäle, Bonaventura und Ambrosi Vincente anstreben (der Dichter läßt beide mehr durch passives Verhalten und den Zauber ihrer persönlichen Erscheinung, als durch geistige Thaten die höchsten Stellen erringen, und, wie die Dinge jetzt stehen, wohl nicht ganz ohne Grund), – ist doch nicht aus der eigentlichen Tiefe des katholischen Wesens selbst geschöpft, sondern von den Waldensern entlehnt und geht zudem über den Katholicismus selber hinaus, wenn auch beide Katholiken bleiben wollen und durchaus keine Hinneigung zum Protestantismus haben. Wenn z. B. der Reliquien-Cult auf bloße Erinnerung an Vergangenheit und Tod und auf Dankbarkeit beschränkt werden, oder wenn die Messe zwar bleiben, aber ihr der Charakter eines unblutigen Opfers abgesprochen werden soll, so ist eben damit die katholische Auffassung verlassen.

Noch Andere finden im Romane die Tendenz, zu zeigen, wie Deutschland ein Opfer Rom’s sey. Es mag etwas der [693] Art zu Grunde liegen, aber der Hauptsache nach doch auch nicht. Am auffallendsten müßten als solche Opfer zunächst die Convertiten, Lucinde und P. Sebastus (Klingsohr) erscheinen. Allein diese beiden sind nichts weniger als Opfer des Katholicismus, sondern verfolgen als Katholiken ebenso, wie sie es zuvor gethan ihre persönlichen Interessen und folgen ihren individuellen Neigungen. Sie wollen die katholische Bewegung nur benützen, um sich in ihrer Eigenthümlichkeit geltend zu machen; man kann eher sagen, der Katholicismus sey ihr Opfer, statt umgekehrt (wie es demselben in solchen Fällen nicht gar selten widerfährt). Opfer sind sie eigentlich nur in sofern, als beide hauptsächlich von unerwiederter Liebe in all’ ihrem Thun und Lassen sich bestimmen lassen, und zwar in der Weise, daß die Nichterwiederung und Hoffnungslosigkeit derselben durchaus nicht durch die Grundsätze der katholischen Kirche veranlaßt ist. Eher könnte dieß angenommen werden bei dem Verhältniß zwischen Bonaventura und Paula. Allein auch hier erscheint das zum Opfer-werden wenigstens auf Seite Bonaventura’s als ein selbstgewolltes, wenn auch durch Schwärmerei veranlaßtes, denn er ist nicht durch Verhältnisse, Wünsche, Forderungen u. s. w. in den clerikalen Stand gegen Neigung und Willen hineingedrängt, wie es sonst allerdings mitunter geschieht. Sollten eigentliche Opfer in dieser Beziehung geschildert werden, so gab es ganz andere Fälle! Auch nicht ganz Deutschland erscheint als ein Opfer Rom’s in den geschilderten Verhältnissen, sondern allenfalls nur als Gegenstand der geheimen Pläne und Umtriebe der Jesuiten, die allein durch ihren Emissär Wenzel Terschka als solche erscheinen, die feste, klare Pläne verfolgen und um jeden Preis dieselben erreichen wollen. Und wollte deutsche Eigenthümlichkeit, deutscher Geist, deutsches Streben als ein Opfer Rom’s dargestellt und dem entgegengewirkt werden, dann konnte das jedenfalls nicht durch Annahme Waldensischer Grundsätze geschehen, oder durch einfache Rückkehr zu sog. primitiven christlichen Zustän-[694]den. Die katholische Kirche schließt Aufnahme geistiger Errungenschaften in sich nicht aus, und ihre Reform kann nicht einzig nur in Negation des Gewordenen und Neuen und in Conservation des Alten bestehen.

Wir dürfen wohl annehmen, daß keine dieser Tendenzen der Dichter recht ausdrücklich und ausschließlich verfolgt habe, sondern daß seine Tendenz eben darin bestund, den Katholicismus so zu schildern, wie er wirklich nach seiner Ansicht ist oder in dieser bestimmten Zeit sich bethätigte, wobei dann Einiges von dem mit einfloß, wie er nach der Meinung des Dichters seyn sollte und könnte. Ganz selbstverständlich wurde dieß dann theils zu einer Verherrlichung des Katholicismus, theils zum Gegentheil davon, wobei die Eigenthümlichkeit sich zeigt, daß nur die Frauengestalten, in welchen die Verherrlichung stattfindet, recht eigentlich von den gerade in den Vordergrund getretenen katholischen Ideen geleitet erscheinen, die Männer dagegen nicht so entschieden von diesen, sondern von anderswoher, (von den Waldensern) gekommenen, obwohl sie reformatorisch dieselben zur Verklärung des Katholicismus glauben verwenden zu können.

Dennoch aber ist in diesem Werke Gutzkow’s ein sehr starker Angriff auf den Katholicismus enthalten, ja das ganze Werk geht eigentlich thatsächlich darauf hinaus, denselben ad absurdum zu führen. Unseres Wissens ist dieß noch nirgends besonders hervorgehoben worden, und es kann sogar fraglich erscheinen, ob dem Dichter selbst es ganz klar geworden, daß er factisch dieß durch sein Werk zu thun versucht. Lucinde nämlich, die Bonaventura in hoffnungsloser Liebe zugethan ist, ja ihn eigentlich mit derselben verfolgt, ist in den Besitz geheimer Papiere gekommen, durch welche es ihr, wie sie droht, möglich ist, Bonaventura zu stürzen, möge er zu noch so großer Höhe gestiegen, möge er selbst Cardinal und Papst geworden seyn. Die Sache klärt sich dahin auf, daß diese Papiere das bei seinem Tode hinterlassene Geständniß des Pfarrer’s Leo [695] Perl, eines convertirten Juden, enthalten. Dieser war nämlich zur Conversion und zum Priesterthum gezwungen worden, zerfiel mit sich selbst und verwaltete nun das Priesteramt nicht im Sinne der katholischen Kirche. Er spendete also die Sakramente z. B. die Taufe nicht in der Intention der Kirche – aus Haß und Erbitterung. Von Bonaventura nun ist es bekannt, daß er das erste Kind war, daß Leo Perl in dieser Weise taufte. Da nun nach der Lehre der katholischen Kirche die Intention bei dem Sakramentespendenden zur wirksamen Ertheilung nothwendig ist, wenigstens die Intention das zu thun was die Kirche thun will, so folgt aus dem hinterlassenen Bekenntniß Leo Perl’s, daß Bonaventura von Asselyn nicht gültig getauft sey, also auch nicht zur Kirche gehöre. Da er nun dennoch Priester, Bischof, Erzbischof, Cardinal und zuletzt Papst wird, so ist, scheint es, damit die Möglichkeit gezeigt, daß nach katholischen Grundsätzen die Träger der Kirchengewalt, von denen alle übrigen Gewalten ausgeben, durch welche die Gnadenspendung vermittelt wird – allenfalls nicht einmal selbst zur Kirche gehören. Wäre aber dieß der Fall, dann könnte ein solcher Bischof oder selbst ein Papst, als selbst außer der Kirche stehend, auch keine Kirchengewalt an andere mittheilen und es könnten die kirchlichen Heiligungsmittel allenthalben nicht gültig gespendet werden; so daß allenfalls die Kirche äußerlich noch bestände und doch alle Gewalt in ihr erloschen, sie zur reinen Aeußerlichkeit herabgesunken wäre. Und so wäre, scheint es, die katholische Kirche mit ihren Grundsätzen in dieser Beziehung ad absurdum geführt. – Es entsteht nun die Frage, wie diese Schwierigkeit zu lösen, zu beseitigen sey. Die Einen wollen sich dieselbe einfach dadurch wegschaffen, daß sie sagen, das seyen nur leere Fictionen, solch’ ein Fall sey gar nicht möglich, weil eben die katholische Kirche die wahre, göttliche sey und die göttliche Führung derselben es nicht zulasse, daß durch Bosheit der Menschen solches eintrete. Das ist allerdings eine gläubige, aber zunächst doch nur [696] subjective und nichtwissenschaftliche Lösung, obwohl diejenige, mit der sich im Romane Bonaventura im Grunde selbst beruhigt. Anfangs, als er davon Kunde erhielt, ist er bestürzt und unsicher, dann aber allmählig setzt er sich darüber hinweg. „Wie kannst Du, sagt er sich, erbangen vor einer Anklage, die Du verachtest, weil sie die teuflische Verhöhnung der christlichen Idee ist?“ Und er wollte zur Widerlegung des tridentinischen Concils sich erheben und sagen: „Priester oder Gott – das ist die Frage! Hat Christus seine Vertretung in der Gemeinde oder nur im geweihten Vorstande derselben? Kann der Wille eines schwachen Menschen deßhalb, weil er gesalbt wurde, die Menschenseele zu seinem Spielball machen? Seht, ich bin getauft nach allen Regeln der apostolischen Einsetzung der Taufe! Und doch, doch bin ich ein Heide, wenn unsere Seele von Priestern abhängt! Unsere Kirche steht und fällt mit der Entscheidung über mein Lebensschicksal!“… „Innerlich war er mit sich im Reinen – er verachtete den Spuck des Zufalls!“ (9 B. S. 227 ff.) – Das Alles ist noch keine eigentliche Lösung der Schwierigkeit, sondern hat nur den Werth einer dringenden Aufforderung dazu. Es fragt sich, wie es sich mit der Nothwendigkeit der Intention verhält und wie beschaffen sie seyn muß nach katholischen Grundsätzen. Die Ansichten der katholischen Theologen sind hierüber nicht ganz einig[.] Die Einen fordern zur Gültigkeit des Sakramentes, zur wirksamen Ertheilung derselben zum mindesten den bestimmten ausdrücklichen innern Willensact des Spendenden (intentio mentalis, cordis), das zu thun, was die Kirche will, so daß, wo dieser Wille, diese innere Intention fehlt, auch das Sakrament nicht gültig gespendet wird. Hienach hätte in dem in Frage stehenden Fall eine wirksame Taufe in der That nicht stattgefunden. Um aber doch nicht annehmen zu müßen, daß demzufolge die Menschenseelen mit ihrem Geschicke der Bosheit und Willkür Einzelner preisgegeben seyen, nehmen Manche an, daß z. B. die un-[697]gültig ertheilte Taufe, wenn die Ungültigkeit derselben nicht zum Bewußtseyn kam und dieselbe also nicht nachträglich gültig ertheilt werden konnte, daß in diesem Falle der gute Glaube und der Empfang der übrigen Sakramente und das Leben in christlich-kirchlichem Geiste die ungültige Taufertheilung zur Gültigkeit ergänze bei den Erwachsenen, – bei Kindern dagegen der höchste Priester, Christus, den Mangel ersetze! Hiebei wäre nun genauer zu erörtern und zu bestimmen, ob denn andere Sakramente und kirchliche Gnaden wirklich empfangen werden können ohne vorhergehende gültige Taufe, d. h. ohne wirkliche Aufnahme in die Kirche und ohne Mitgliedschaft in derselben. Dann früge es sich auch, ob hiemit nicht in der That das angenommen wird, was Bonaventura an der angeführten Stelle geltend machen will; ob nicht unmittelbare göttliche Wirksamkeit angenommen werden muß, und ob damit der Schwerpunkt der kirchlichen Gewalt und Gnadenspendung nicht wirklich in die Gemeinde verlegt, oder vielmehr, ob dabei nicht die Empfänger auch zugleich als die eigentlichen Spender der Sakramente angesehen wären, wie Aehnliches allerdings schon bei der Ehe angenommen wird (obwohl auch hier Controverse stattfindet). – Andere, hauptsächlich seit Ambrosius Catharinus, einem Theologen des Conciliums von Trient, (S. Jac. Hyacinth. Serry O. P. Praelectiones Theol. dogmat. palem etc. Vol. IV. p. 356 sq. 9.) dagegen wollen die in Frage stehende Schwierigkeit dadurch lösen, daß sie zwar auch die Nothwendigkeit der Intention behaupten, aber nur eine sog. äußere (externa) Intention für erforderlich halten. Diese äußere Intention, das zu thun, was die Kirche will, soll aber schon dadurch vorhanden seyn, daß der Spendende nur überhaupt ernsthaft und freiwillig den äußeren Act nach allen Erfordernissen vollziehe. In diesem Falle gelte das Sakrament auch wenn er innerlich nicht den Willen hat, das zu thun, was die Kirche will, ja selbst wenn er dieß sogar nicht thun will, nur aber äußerlich den Act ernst und freiwillig, – nicht [698] blos zum Scherz oder in spaßhafter Weise vollzieht. So daß hiebei der einzelne Priester eigentlich blos als Maschine zu fungiren hätte. Hienach wäre also in unserem Falle Bonaventura wirklich richtig getauft und alle Schwierigkeiten wären beseitigt. Aber auch gegen diese Lösung erheben sich nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Für’s Erste früge es sich doch, ob das noch als wirkliche intentio gelten kann, das zu thun, was die Kirche will, wenn eigentlich gar kein Willensact da oder dieser sogar der entgegengesetzte ist, oder wenn wenigstens der Wille rein nur auf die Setzung des äußerlichen Actes geht. Die Kirche will ja nicht blos den äußeren Act, sondern die Sakramentsertheilung und der äußere Act selber ist noch nicht das Sakrament, sonst müßte auch die spaßhafte Setzung dieses äußeren Actes ein solches seyn. Wenn also der äußere Act gesetzt wird, so scheint damit factisch noch nicht das gesetzt zu seyn, was die Kirche will, da diese nicht den äußeren Act nur will; die kirchliche Intention also, welche die göttliche Gnadenspendung will scheint noch nicht vollkommen gesetzt zu seyn, durch das blos Aeußerliche. Die Ernsthaftigkeit dabei ist nicht eine Setzung jener Intention und kann aus ganz anderen Motiven hervorgehen als aus dem Bestreben, den äußeren Act der Kirche würdig zu vollziehen; sie kann hervorgehen aus Eigennutz, aus Furcht vor Verlust der kirchlichen Stelle, sogar aus dem Bestreben um so ungehinderter gegen die eigentliche Intention der Kirche wirksam zu seyn. Auch die Gleichnisse durch welche man diese Ansicht als richtig darzuthun sucht, scheinen mir nicht das zu leisten, was man will. Ein Richter, sagt man, der im Scherze und unter Freunden ein Urtheil fälle, habe allerdings kein gültiges Urtheil gefällt; sitzt er aber auf seinem Richterstuhl, verhört die Partheien, beobachtet die Formen des öffentlichen Rechtes und verkündet in Amtstracht ernsthaft und frei sein Urtheil, dann ist dasselbe gültig und der Angeklagte freigesprochen oder verurtheilt, mag der Richter dieß wollen oder nicht. So auch bei der Sakramentsspendung. Allein dem ist [699] nicht so. Bei dem Richterspruch handelt es sich lediglich um das Aeußerliche (über das Innerliche kann und will er nicht urtheilen) und die äußerlichen Folgen treten ein, wenn der äußerliche Act gesetzt ist. Bei der Taufe dagegen handelt es sich nicht um äußerliche Folgen, sondern um innerliche und da frägt es sich eben, ob diese durch einen rein äußerlichen Act erzielt werden können. Man sagt auch: Wie derjenige, der frei und ernsthaft mit Beobachtung der gesetzlichen Formeln schwört, durch den Schwur gebunden sey, auch wenn er innerlich die Intention dazu nicht hatte, so sey auch die äußerliche Sakramentsspendung gültig, wenn sie in gehöriger Form vollzogen wird, auch wenn die innerliche Intention nicht da sey. Auch hiebei sind die Verhältnisse sehr verschieden. Das Wesen des Eides besteht in der äußerlichen, von den Zeugen wahrnehmbaren Anrufung Gottes als Zeugen, und derselbe gilt so als Rechtsmittel und ist stets verbindlich für den der ihn geleistet; im Sinne des Richters und der Zeugen hat eine wahre Anrufung Gottes als Zeugen stattgefunden, mag der Schwörende die innere Intention haben oder nicht, denn nicht um eine innerliche, sondern um eine äußere, wahrnehmbare Anrufung Gottes hat es sich gehandelt; bei der Spendung der Sakramente aber handelt es sich nicht um eine solche persönliche Verpflichtung oder Setzung einer an sich geltenden Handlung, sondern um Erreichung eines bestimmten Zieles, um Hervorbringung eines innern Zustandes in dem andern und um Zuwendung geistiger Güter, nicht um äußere Aufnahme nur in die Kirche und Ertheilung der Rechte in derselben. – Doch wir sind nicht gesonnen in eine nähere Erörterung hierüber einzugehen, wozu hier bei dieser vorerst rein theologischen Frage nicht der Ort ist. Wir wollten nur die Aufmerksamkeit der Theologen auf ein ihnen hier entgegentretendes Problem lenken, das durch diesen Roman in weiteren Kreisen zum Bewußtseyn kommen muß, und möchten dadurch Veranlassung geben, daß dasselbe von ihnen eine erneuerte Erörterung und [700] Lösung erfahre. Denn wenn immerhin das genannte Wer[k] von Hyacinth Serry (1742) die Sache mit großer Ausführlichkeit und Gründlichkeit behandelt, so dürfte doch eine Revision dieser Untersuchungen am Orte und eine Darstellung geboten seyn, die geeignet ist, entstehenden Fragen und Bedenken klaren und gründlichen Aufschluß zu gewähren.

6. Karl Frenzel: Der Zauberer von Rom, 1864#

Karl Frenzel: Der Zauberer von Rom.*) In: Ders.: Büsten und Bilder. Studien. Hannover: Rümpler, 1864. S. 183-220. – Der Beitrag erschien zuerst als vierteilige Folge in der Berliner „National-Zeitung“ vom 26. Mai bis 6. Juni 1861. (Rasch 14/34.61.05.26)

„Der letzte Papst !“#

Dieser Gedanke, der in Folge der italienischen Bewegung, unter den mannigfachsten Formen, als politische Frage, als ein Gegenstand des Erschreckens oder der Freude, im Geist und Herzen der Menschen aufgetaucht ist, schließt, ob er nun verwirklicht oder erdrückt wird, die Zukunft der katholischen Welt in sich. Zweimal haben sich in den letzten Jahrhunderten, um in ihrer bilderreichen Sprache zu reden, die Pforten der Hölle gegen sie aufgethan, beidemal ist ihr ein Erzengel Michael entstanden, der den Drachen in die Finsterniß zurückgeworfen. Den Ansturm der Reformation hielt sie durch den Orden Jesu und das Haus Habsburg auf; alle Fürsten, ein schismatischer voran, Alexander I. von Rußland, bändigten ihr zu Gunsten den Geist der Revolution. Jenes Gefühl von der Zusammengehörigkeit geistlicher und weltlicher Interessen im Gegensatz zu der großen beherrschten Masse des Volkes, das sich im 18. Jahrhunderte ganz verloren, erstand mit erneuerter Kraft und Lebendigkeit, was früher mehr ein dunkles [184] Ahnen und Empfinden, als Gewißheit gewesen, wurde jetzt durch eine im Glauben und im Despotismus aufgehende Philosophie zum Bewußtsein und Grundsatz des Handelns erhoben. Von jeher hatte die Kirche mit dem Geist der Forschung und den Naturwissenschaften in Streit gelegen, nach 1815 verließ sie für immer auch die Sache des Volkes, die sie mehr als einmal mit beredtem Wort und den ihr eigenthümlichen Waffen wider die Könige vertheidigt. Damit stieg sie von ihrer einsamen Höhe herab, hier und dort erniedrigte sie sich zu Schergendiensten. Der Gegensatz, in den sie so, vor allem in Italien, mit den Massen des Volkes gerieth, hat ihre Grundfesten erschüttert. Einer wesentlich ungebildeten und wundersüchtigen Bevölkerung wie der Italiens, Spaniens und des südlichen Frankreichs wäre es nicht schwer gewesen, die Vortheile und das Licht der modernen Wissenschaft noch lange vorzuenthalten; nicht der Gedanke des Protestantismus, der politische Druck hat die Bewohner des Kirchenstaats mit wehenden Fahnen Victor Emanuel zugeführt. Viele meinen, das geistliche Papstthum würde die weltliche Herrschaft des römischen Bischofs glorreich überdauern und der Fels der Kirche Fels bleiben, unbewegt, wie die eherne Gestalt des Apostelfürsten. Aber mit dem Zauber, fürchten wir, schwindet auch der Zauberer, wenn das Wunder enthüllt, ist der, welcher es vollbrachte, nicht mehr Petrus oder Paulus, sondern Simon Magus.

So lange mit der schweigenden Jungfrau der Priester die Stufen zum Kapitol hinanschreitet, so lange, sang einst Horaz, wird mein Lied dauern. Das Papstthum hat in etwas das römische Heidenthum fortgesetzt, schweigend, verhüllt sind seine Mönche und Nonnen diese Stufen hin-[185]aufgewandelt; wenn jetzt von ihnen über eine unermeßliche Volksmenge das neue Zauberwort una! schallt, werden die Schatten von Innocenz III. und Bonifaz VIII. einsam und still durch die öden Gassen der Leoninischen Stadt schleichen? Gespenster im Sonnenlicht der Freiheit?

Der letzte Papst! – Ein Gedanke, der um so tiefer und mächtiger einen Dichter begeistern kann, je faßlicher und erschütternder die in ihm liegende Tragik und Symbolik auf Jeden wirkt. Jahre vorher, ehe die Zeitereignisse mit drängender Gewalt, auch wie eine Hand mit feurigen Buchstaben schreibend, auf diesen Ausgang hinwiesen, hatte Karl Gutzkow diese tragische Phantasie in der Form eines culturhistorischen Romans zu gestalten begonnen, der erste Theil seines „Zauberers von Rom“ erschien im September 1858. Denen, die das eigenthümliche Wesen eines Dichters eingehender zu ergründen sich mühen, kann der Zug nicht verborgen geblieben sein, der Gutzkow schon im Anfang seiner Laufbahn zu religionsphilosophischen Problemen zog. Keime liegen in „Maha Guru“, in „Wally“, Gutzkow’s edelste Schöpfung „Uriel Acosta“ ist von diesem Gegensatz des Glaubens und der Forschung erfüllt und getragen. Einem solchen Geiste, der über den beiden streitenden Kirchenparteien, den Katholiken und Protestanten, in ihrer Beschränktheit stehend, jedem Einzelnen die Freiheit seines Gottesbewußtseins gewahrt sehen möchte, mußte der schöne Traum Leibnitzens wieder aufdämmern, der Gedanke an eine Versöhnung und Ausgleichung der beiden Kirchen. Ein Hirt und eine Heerde, beide wiedergeboren im Geiste der Freiheit und jener christlichen Brüderlichkeit, die wir gern, als ein Ideal der Vollkommenheit, in den ältesten Gemeinden walten lassen. Dieser [186] Traum ließ sich, seiner Natur nach, nur in einer Allegorie verkörpern. In der Wirklichkeit ist eine Verschmelzung der Bekenntnisse unmöglich, ein Widersinn. Der Katholicismus beruht auf Ueberlieferung, der Protestantismus auf der Forschung der Vernunft. Ein Begriff verzehrt den andern; gnädig mögen uns die Götter vor jener Zeit bewahren, in der es keinen Streit auf Erden giebt, in der, wie Anastasius Grün einmal gesungen, man vor Rosen weder Kreuz noch Schwert mehr sieht. In Beginn, Verlauf und Ende ist das Dasein ein Kampf und dieser unbarmherzigen Bestimmung gegenüber bleibt uns der Gedanke eines ewigen Friedens, eines goldenen Zeitalters so schmeichelnd, wohlthuend und poetisch schön. Der letzte Papst Gutzkow’s, der selbst die Freiheit der Geister verkündigt und in seiner, vom Dichter geschilderten irdischen Laufbahn etwas von einem Halbgott und jener Verklärung hat, darin es den Schülern des heiligen Franciscus von Assisi gefiel, ihren Herrn und Meister zu kleiden, ist darum nur ein Symbol. Seine Idee zu verkörpern gebraucht der Dichter einen Helden, ihn darf es nicht kümmern, daß sie auf anderm Wege in’s Leben tritt.

Wenn aber das Ganze in dem symbolischen Untergange des römischen Zaubers – des römischen Katholicismus – sich gipfeln sollte, so mußte die Nothwendigkeit dieses Falls auch aus tieferen Ursachen, als politischen und freigeistigen, abgeleitet werden; nur wenn das Große und Bedeutende durch einen in seinem Wesen begründeten Fehler zu Grunde geht, wirkt es tragisch. Die eigentlich dichterische Bedeutung des Werkes finden wir darum weniger in seiner romantischen Verknüpfung und seinem Schluß, als in der Entwickelung des tragischen Gedankens vom innersten Kern [187] des Katholicismus heraus. Im Mittelpunkt des Zauberkreises aber steht der Priester, das Mittel, wodurch er fort und fort die Gläubigen anzieht und beherrscht, ist die Beichte. Seitdem der Bann seine Kraft verloren, die wunderthätigen Bilder und Reliquien nur noch im Verborgenen Kranke heilen, wodurch kann Rom noch blenden und verwirren? Die Pracht seiner Ceremonien, sein Weihrauchduft und seine Gesänge sind wie jene Wolken, darin Homer seine Götter hüllt, in ihnen schreitet der Priester einher, weniger ein Mensch, als ein Begriff, unter oder über der Menschlichkeit, wie die Auffassung eines Jeden eben ist. Denn indem ihm das Cölibat das Recht der Liebe raubt und einer Neigung, die er empfindet, nicht nur den Stempel des Verbotenen, sondern fast des Unnatürlichen aufdrückt, nimmt es ihm zugleich den Willen des Lebens. In der strengen Bedeutung des Begriffs ist der katholische Priester ein wandelnder Schatten, der Glanz der Gottheit, der er am nächsten von allen Sterblichen steht, verlöscht sein Wesen, um diesen Preis trägt er die Schlüssel des Himmels und der Hölle. Der Einwand, daß wie wir alle, auch die Priester der Sinnlichkeit verfallen, vernichtet den Begriff als solchen nicht; die Kirche hat von ihrem Standpunkte Recht, die Regel unverbrüchlich festzuhalten und den sündigen Priester als Ausnahme zu bestrafen. Die Novellen des Boccaz richten sich nie gegen die Wesenheit der Ehelosigkeit und des Gebots der Keuschheit, stets verspotten sie den einzelnen Mönch, den einzelnen unkeuschen Priester, bei all’ seiner Leichtfertigkeit und Bosheit scheint dem Erzähler das Bild eines heiligen und lauteren Geistlichen vorzuschweben, des heiligen Franz, des heiligen Dominicus. „Die romanische [188] Opposition gegen die römische Kirche,“ bemerkt Gustav Diezel in seiner Vorrede zum Decamerone, „hat zu allen Zeiten eine andere Form angenommen, als die germanische Opposition, eine Form, in der sie immer unfähig war und sein wird, den Katholicismus wahrhaft zu überwinden; sie strebt zum Heidenthum zurück.“ Ihr fehlt Sinn und Bewußtsein für die tiefen und mächtigen Gedanken, welche bei alledem den Katholicismus bilden und bewegen. Da zeigt es den philosophischen und poetischen Blick Gutzkow’s, daß ihn diese Hülle nicht irrte, daß er freiwillig auf den ergreifenden Eindruck verzichtete, den der Sündenfall einer ursprünglich edeln und über das Irdische hinausstrebenden Natur erweckt, und seinen Helden Bonaventura gerade dadurch die Nichtigkeit und Tragödie des katholischen Priesterlebens erweisen läßt, daß er rein von jedem Makel, aber auch einsam, freudlos, mit gebrochenem Herzen aus den Kämpfen zwischen Neigung und Pflicht hervorgeht. Aus der Gemeinde trat das Priesterthum als ein Besonderes und suchte sich in dieser bevorzugten Stellung trotz des in ihm wohnenden Widerspruchs zu erhalten. Erkennt der Einzelne diesen Widerspruch in seinen letzten und eingreifendsten Folgen, so hört er dem Geiste nach auf Priester zu sein; wie wir alle sterbend in den Schooß der Natur, so sinkt das Priesterthum, indem es Allen die Freiheit ihres Gott-Wissens und Gott-Verehrens wiedergiebt, in die Gemeinde, in die Menschheit zurück. Diese Wandlung, dies Leiden vollzieht sich im Roman an Bonaventura; er ist das Ideal eines Priesters.

In der Seelengeschichte eines katholischen Geistlichen handelt es sich im Grunde nur um zwei Punkte: wie gleicht seine menschliche Empfindung sich mit seiner über-[189]weltlichen Bestimmung aus, wie erfüllt er seine Sendung vor den Laien? Wie man es faßt, das Erste bleibt eine Herzenssache, das Zweite berührt die Zucht und das Wesen der Kirche. Hier ist, wie gesagt, die Beichte der Pfeiler, auf dem sie ruht. Der Verbrecher, der seine Schuld in das Ohr des Beichtvaters flüstert, ist oft geschildert worden, Gutzkow hat das Interesse solcher Scenen von der sprechenden auf die schweigende Person gelenkt. Aeußerlich genommen, giebt die Beichte dem Priester eine unermeßliche, unumschränkte Macht; beredte Gegner des Jesuitismus haben in ihr die Unterdrückung der Freiheit und Sittlichkeit gesehen und sie, im Hinblick auf die Frauen, als die Störerin des häuslichen Friedens, an Jacques Clément und Ravaillac denkend, als die Werkstätte des Aufruhrs und des Königsmordes angeklagt. Aber unwillkürlich setzen sie einen schlechten Priester voraus. Kann Carlo Borromäus, Franz von Sales oder Fenelon Aufstand und Mord empfehlen? Ehen trennen, statt sie zu befestigen? Unmöglich, im Gegentheil, es muß den Reuigen und Schuldbewußten ein süßer Trost sein, Worte strafender Gerechtigkeit und zugleich barmherziger Milde von solchen Lippen zu hören. Sinniger hat Gutzkow das Unnatürliche und Gefährliche der Beichte in der Last erkannt, die sie vom Haupt des Schuldigen ab auf den unschuldigen Priester wälzt. Er ist nun „das Lamm, das schweigend der Welt Sünde trägt.“ Er geht umher, das Herz schwer von begangenen und noch zu vollführenden Verbrechen, ruhig an ihm vorüber schreitet der Mörder, der Mordbrenner, der Fälscher: er darf sie nicht halten, er kennt sie nicht. Durch einen Betrug sonder Gleichen sieht er die Seelengeliebte seines Herzens die Gattin eines [190] Andern werden, er darf sie nicht warnen, er kann sie nicht hindern, für ihn ist Kassandra’s Wort die schrecklichste Wahrheit: „nur der Irrthum ist das Leben und das Wissen ist der Tod“. In ihrer lebendigen Darstellung und der Bedeutsamkeit ihres Inhalts gehören diese Schilderungen, von der Beichte Hammacker’s und Lucindens bis zu den schwatzhaft naiven Bekenntnissen der Nonnen, zu den vorzüglichsten Seiten des Romans, immer neu weiß sie der Dichter zu gestalten, wiederholt knüpft er den Fortgang der Erzählung an sie und vergißt doch niemals in der Spannung, die er erweckt, seinen Hauptzweck: ihre Rückwirkung auf Bonaventura’s Seele. Gutzkow’s Auffassung nach ist das Leiden die Bestimmung des Priesters, er hat für ihn etwas von dem todtbetrübten Propheten im Garten von Gethsemane. Wir gedachten oft, wenn die sanftgeneigte Gestalt Bonaventura’s vor uns hintrat, an die Sage vom heiligen Franciscus, der, bei der Betrachtung der Wunden des Heilands in Verzückung fallend, als er erwachte, die blutigen Spuren der Nägel auf seinen Händen und Füßen fand. Im Mittelalter wurzelt der Glanz, die Macht und die Symbolik der Kirche, je umsichtiger und sorgfältiger Gutzkow’s Studien waren, desto sicherer wiesen sie ihn dorthin.

Dieser Hauch des Mittelalters haftet für uns an Bonaventura, aus manchen Einzelheiten der Erzählung weht er uns an. Die unterirdischen Gänge, die Lucinde wandelt, das lateinisch geschriebene Bekenntniß Leo Perl’s, zu den Füßen einer Muttergottesstatue verborgen, Bruder Hubertus, der Todtenkopf, seine und Klingsohr’s Flucht aus dem Kloster, ihr Aufenthalt in hohlen Baumstämmen – diese Dinge und Figuren, deren Wirkung in der Er-[191]zählung wir nicht bestreiten, gehören kaum der katholischen Kirche der Neuzeit an; wenn solche absonderlichen Vorfälle sich auch ereignen mögen, der Dichter sollte bedenken, daß häufig „das Wahre nicht wahrscheinlich ist“. Und das Concil, das Bonaventura beruft, wie ist es so ganz ein Nachhall vergangener Zeit und Größe! Pius IX. wußte recht wohl, warum er kein Concil in diesen Tagen des Unglaubens um sich sammelte, als er wider Gesetz und Gewohnheit der Kirche das Dogma der unbefleckten Empfängniß schuf. Freilich entspricht der phantastische Schein über dieser Gruppe, um jenes Ereigniß den Vorstellungen, die der Titel des Werkes „Der Zauberer von Rom“ erweckt. Gleichsam die letzten Spiegelungen und Strahlenbrechungen der alten tausendjährigen Zauberei gaukeln magisch um uns hin. So innig und tief hat sich Gutzkow in diesen Schein – und wer möchte leugnen, daß er vor Allem schön und poetisch sei, wie jener Vorhang, der im Tempel zu Jerusalem das Allerheiligste den Augen des Volkes verbarg? – eingelebt, daß ihm hier und dort von Befangenen der Vorwurf einer ungerechtfertigten Vorliebe für den Katholicismus gemacht wird! Ein Vorwurf, der die Dichtung eben um ihrer Wahrheit und Zauberei willen lobt! Nur ein kalter und trockener Sinn kann sich in vornehmer Verständigkeit von den vielen gemüthlichen, bald sanft das Herz bewegenden, bald mächtig erschütternden Ceremonien der katholischen Kirche, denen doch auch, wie der sola fides des Protestantismus, eine Innerlichkeit zum Eckstein dient, achselzuckend abwenden; nicht um Propaganda zu machen, schildert sie der Dichter, um so schärfer tritt die Tragödie des katholischen Priesterthums hervor, wenn man sein geistiges Elend mit dem Schimmer [192] seiner Erscheinung vergleicht. Wie hier Form und Wesen auseinanderfallen, hat Gutzkow in einem Motiv angedeutet, das leider nicht zu seiner ganzen Bedeutung ausgenutzt, sondern mehr als ein Hebel zur Spannung verwandt ist, wir meinen das Geständniß Leo Perl’s, des zum Christenthum übergetretenen jüdischen Gelehrten, daß er, in Unruhe über seine That, aus Zweifel und Haß, Bonaventura nur äußerlich, nicht mit der Absicht seines Willens getauft habe. So ist, da nach katholischer Anschauung zu jeder priesterlichen Handlung die recta intentio, der Wille des den Gebrauch Vollziehenden, gehört, den Thaten wie den Worten Bonaventura’s die Weihe vorweg genommen, sie sind bedeutungslos, ihre Kraft ist entflohen. Einst wirkte der Zauber Heilung, Bekehrung, tausendfältige Wunder, jetzt blendet er nur noch die Unfreien und die Befangenen.

Aber, und dies ist der Einwand, den wir gegen den Dichter in dieser Hinsicht erheben, wer vernichtet denn in der Wirklichkeit den falschen Schein? Wer stürzt Rom? In ihm selbst liegt der Keim seines Unterganges, wird er antworten. Eine Ansicht, die doch nur eine relative Wahrheit hat. Die Kirche besteht nicht allein auf Erden, mächtige Kräfte sind da und regen sich wider sie: der Protestantismus, die freie Forschung. Es befremdet, daß Gutzkow in einem so großartig umfassenden Zeitbilde ihnen keine, oder doch nur eine sehr untergeordnete Stelle eingeräumt. Gräfin Erdmuthe, die einzige thatkräftige Protestantin der Erzählung, bewegt sich in dem entgegengesetzten Extrem, sie ist Herrnhuterin und dennoch, wie erquickend, frisch, einem Strahle lautern Wassers gleich, ist ihre Erscheinung und ihre Rede unter all’ den katholischen Wundern und Wun-[193]dergläubigen! Die Gefahr, die in dem Einführen von Protestanten lag, verkennen wir nicht, Gutzkow fürchtete, bittere Controversen nicht vermeiden zu können – daher seine abgeschlossene, katholische Welt. Möglich, daß wir irren, daß die Mehrzahl der Leser die Abwesenheit jedes Streits über die Auffassung Gottes und der Welt nicht einmal bemerkt und gern dem Dichter sich fügend an weite Lebenskreise glaubt, in welche die Bewegung unseres Jahrhunderts nicht gedrungen sei: wir haben eine andere Anschauung von dem Genius der Zeit. Er hat Italien befreit und die Hierarchie besiegt. Aus dem Katholicismus als solchem wird nun und nimmermehr Rettung und Läuterung kommen. Die Zerstörung der weltlichen Macht des Papstthums wird durch den Gedanken der Freiheit und der Nationalität herbeigeführt. Dies ist schön von Gutzkow nachempfunden und dargestellt; die Herrschaft der Kirche über die Geister sinkt durch das Vordringen der Philosophie, durch die erweiterte Kenntniß der Natur: absichtlich hat Gutzkow diese Seite in dem großen, römischen Drama nicht dargestellt. Bis zu einem gewissen Punkte hin wird man in einem Worte Bonaventura’s das Glaubensbekenntniß des Dichters erkennen dürfen: „Einst werden die Protestanten nicht mehr Nichtkatholiken, die Katholiken nicht mehr Nichtprotestanten, sondern beide erst wahre Christen sein“ – eine Anschauung, die nicht allein gut zu dem milden Wesen des Redenden, sondern auch zu dem versöhnenden und ausgleichenden Gedanken des Werkes stimmt. Hieraus entspringt die Vorliebe, die Gutzkow wiederholt für die Form des Deutschkatholicismus ausspricht, die Trauer, die er über das Mißglücken dieser Bewegung – das Monika, eine der Gestalten des Romans, doch wohl [194] nur einseitig der Nichtbetheiligung der Protestanten zuschreibt – tiefinnerlich empfindet. Es heißt das Wesen und den Sinn des Buches absichtlich verkennen oder voll Befangenheit es nicht durchdringen, wenn man katholische Tendenzen darin findet, im Gegentheil, es ist eine laute, männliche Kriegserklärung gegen Rom, die, unserm Gefühl nach, nur darin mehr aus poetischem Schönheitssinn als gedanklichem Irrthum sich täuscht, daß sie von irgend welchen noch so großartigen und umfassenden Formen, die ein letzter Papst, ein letztes Concil uns geben könnte, Rettung einer dem Untergang geweihten Religionsanschauung erwartet. Die Religion der Zukunft kann nur diese einzige Forderung umschließen: das Moralgesetz des Christenthums bindend für Alle und sein Gottesbewußtsein frei für Jeden. Das Schlußwort des Werkes „die Forderung der Jahrhunderte, die unvertilgbar ewige Losung und das gottgegebene Erbe der Menschheit: Freiheit!“ wendet es sich nicht auch gegen den letzten Papst?

Wie tritt nun dieser Idee des Dichters vom Katholicismus der wirkliche, reale, die bestehende Kirche gegenüber? Welche Männer pflanzen sie als ihr Banner auf, welche Gegner erheben sich wider sie? Mit dieser Frage steigen wir aus dem idealen Gebiet des Romans zu seinen Gestalten, den Zuständen und Begebenheiten hinab, die er schildert.

In einer Kirche Mailands, erzählt Federigo, einer der Helden des Romans, befindet sich ein Bild, das einen Traum des heiligen Bernhard darstellt – „zwei Schiffe steuern dem Himmel zu; des einen Steuer führt der Herr; das andere Maria... Jenes bricht zusammen und seine Mannschaft sinkt in den Abgrund, dieses gleitet sicher [195] dem Hafen des Himmels zu – Maria streckt ihre hülfreiche Hand nach den Scheiternden aus und nun kommen auch sie in den Hafen der Gnade, sie, die mit Christo gingen, sie, die mit Christo verloren sein sollen, sie, nur noch erlöst durch Maria – !“

So treiben nach des Dichters Ansicht auf dem Meere der Zeit zwei Schiffe, welche aus Sturm und Brandung die heiligsten Schätze der Kirche zu retten suchen: in dem einen birgt sich die Wahrheit, das geistige Element des Katholicismus, seine aus ihm selbst heraus sich vollziehende Läuterung; auf dem andern segeln unter den Fahnen der Inquisition, mit den Schwertern, welche gegen die Waldenser, den Dolchen, welche zum Mord Heinrichs IV. geweiht wurden, die Anhänger des alten Formelwesens, die Ehrgeizigen, die Stolzen, die Apostaten, wie Lucinde und Klingsohr. Noch hat jeder Leser die Hölle Dante’s seinem Paradiese vorgezogen; die nicht mit Sünden, nur mit Schwächen behafteten Männer in der Barke der Läuterung erregen darum, Bonaventura ausgenommen, nur eine geringere Theilnahme, in etwas gleichen sie alle – der Kardinal Ambrosi, Paolo Vigo, der abgesetzte Pfarrer eines neapolitanischen Dorfes, Federigo, der vom deutschen Freiherrn der Lehrer und Prediger waldensischer Gemeinden in Nord- und Süd- (?) Italien geworden – den Seligen, welche Fiesole am Tage des Gerichtes zur rechten Seite seines Gottes zu malen liebte: sanfte, stille, verklärte Gestalten, mit dem Zug des Schwärmers in ihrem Gesicht, in Melancholie versunken, die den einen von ihnen, den Wiener Chorherrn Grödener zum Selbstmord treibt. Solchen Naturen fehlt die Kraft des Eingreifens in die Dinge, es ist bezeichnend für Bonaventura, daß er, hinter der [196] Scene gleichsam, vom Pfarrer zu St. Wolfgang am Rhein bis zum Papst emporsteigt, allein durch seine Tugenden, wie für seinen Vater, den Einsiedler Federigo, daß er trotz seines innerlichen Bruches mit der Kirche seine Anhänger im Silaswalde ermahnt, treu ihren Pflichten als Katholiken obzuliegen. Und hier muß nun für sie und ihre Gedanken, die thatsächlich durchzuführen ihnen die Kraft gebricht, das Walten des Weltgeistes eintreten. Gutzkow schließt das achte Buch seines Werkes nach der Eroberung Roms, etwa 1850, das neunte trägt die Ueberschrift 18??. Inzwischen ist die jesuitische Reaction in der Kirche wie im Staat besiegt worden, unweit der Pyramide des Cestius hält ein Dictator Heerschau, im Vatikan wählen sie zum „letzten“ Papst Bonaventura, den deutschen Priester. Ein großartiges, das Ganze harmonisch abschließendes Bild – aber doch nur – ein Bild, keine Lösung der wachgerufenen Fragen.

Auch darum nicht, weil die Gegner im andern Schiffe wohl vom Tod hinweggerafft, ihre Prinzipien aber nicht überwältigt sind, und der Leser an sie und ihre geistigen Nachfahren gedenkend, von dem allgemeinen Concil sich nicht zu viel des Guten versprechen kann. Ueber dies Alles setzt sich der Dichter im idealen Schwunge fort, er verlangt, möchten wir sagen, bis zu einem gewissen Maße, die edle Schwärmerei, die seine Helden beseelt, auch von uns; auch wir, Weltkinder und Söhne des 18. Jahrhunderts, Voltaire’s und Kant’s, Schiller’s und Goethe’s, sollen an die frohe Botschaft glauben, die unter den „Bluteichen“, in den Schluchten der calabrischen Berge, gepredigt wird.

Kein größerer Gegensatz, als der dieser naiven Fröm-[197]migkeit und der absichtlich zur Schau getragenen Glaubensseligkeit und Buße, in der Lucinde und Klingsohr vom Protestantismus zur katholischen Kirche sich wenden. Auf beiden beruht nicht allein das Wesentliche der Fabel, der romantische Reiz des Romans, sondern sie vertreten auch am entschiedensten den Begriff der „streitenden“ Kirche, recht eigentlich dem Charakter der Apostaten, auf politischem wie religiösem Gebiet, gemäß. Bis zu ihrem Ausgang halten sie die Theilnahme an ihrem Geschicke wach, in ihnen offenbart sich die Kunst des Dichters in der Darstellung gemischter Charaktere am reichsten und schönsten. Eine kurze Andeutung ihres Lebenslaufes sei darum hier erlaubt.

Lucinde ist die Tochter eines hessischen Dorfschullehrers. Armuth, Dienstbarkeit, widrige Verhältnisse werfen sie hin und her, aus einer Hand in die andere, früh reifen in ihr mit einem hochstrebenden Sinn böse, ihr angeborene Leidenschaften. So kommt sie in das Schloß Neuhof, zu dem westphälischen Freiherrn Wittekind, halb als Geliebte, halb als Wärterin seines wahnsinnigen Sohnes Jerome. Dort lernt sie Klingsohr kennen, den Göttinger Studenten, eine an sich begabte Natur wie sie, aber, wie sie durch die Erkenntniß des Weltlaufs, so durch die Gebrochenheit seines Willens, die Sucht nach dem Außerordentlichen den dämonischen Mächten verfallen. Sichtbar greifen dann diese in ihr Schicksal ein; Wittekind erschlägt im Streit Klingsohr’s Vater, den Deichgrafen, und will, als Sühne seiner Schuld beinahe, dem Sohne des Getödteten die Geliebte geben. Aber die Rachegöttinnen verschlingen anders den blutigen Faden; im Duell tödtet Klingsohr Jerome; wie ein dunkles Netz [198] schwebt die Sage über seinem Haupt, daß er selbst der Sohn des Freiherrn wäre, zuletzt wird Lucinde seiner überdrüssig, reißt sich von ihm los und der völlig haltlose Mann wirft sich in die Arme der Kirche. Aber der Zauber, mit dem ihn dies Mädchen gebunden, verläßt ihn nicht; ob er als Mönch, ob als Gefangener, im Profeßhause zu Köln oder auf einer römischen Villa ihr gegenübertritt, immer ist sie für ihn der Magnet, der ihn widerstandslos an sich zieht. Klingsohr endet in der Stellung Augustin Theiner’s im Vatikan: er zeigt der Curie die ketzerischen und verderblichen deutschen Bücher an, die sie auf ihren Index setzt, sittlich ein durchaus verworfenes, elendes Wesen, aber zugleich von einem reichen, in den wunderbarsten Strahlen sich brechenden Geist, der zuweilen, während seines Ringens mit dem Dämon, wie eine zersprungene Harfe tönt. Stahlkräftiger erscheint Lucinde, eine bewußte Sünderin. Nach der Trennung von dem Freiherrn und Klingsohr beginnt sie wieder ihr früheres Abenteuerleben, in ihr ist ein zigeunerhafter Zug, äußerlich wie seelisch, Weltverachtung und daneben ein ewiges Dürsten nach dem Genuß dieser Welt, oder, wie sie sagt: „nach Herzen, die sie lieben.“ Ihr Versuch, als Schauspielerin sich eine Zukunft zu schaffen, schlägt fehl, sie mißfällt und wird katholisch, um in einem orthopädischen Institut eine Stelle als Lehrerin zu erhalten; Irdisches und Himmlisches verschlingen sich in dieser Seele so unauflöslich, daß man nicht zu entscheiden wagt, ob mehr dieser „materielle“ Vortheil oder eine plötzlich in ihr aufsteigende Leidenschaft für den jungen Bonaventura, dessen Priesterweihe sie zuschaut, diesen Schritt bestimmt. Fortan ist ihr Würfel geworfen, wohin sie kommt, was sie wird, [199] Erzieherin, Gesellschafterin, zuletzt in Rom eine Gräfin Sarzana, heute betheiligt bei frommen Andachtsübungen, morgen bei einer Brandstiftung, diesmal vor der unheimlichen Begierde eines alten Mannes flüchtend, ein ander Mal einen Kardinal in ihren Armen auf den Tod verwundet sehend; von der Liebe zu Bonaventura läßt sie nicht – darum zumeist, weil er sie verstößt. Dies ist ihre letzte und einzige Hoffnung; „ich liebe den Katholicismus“, schreibt sie ihm einmal, „weil er die Religion der menschlichen Schwäche ist“, der ihrigen vor allem. Bei all ihrer Schrecklichkeit hat diese Leidenschaft doch auch ihr Rührendes, dies Verfolgen seiner Spur, dies Anklammern an den geliebten Mann, der doppelt gebunden ist, als Priester durch Gelübde und Amt, als Mensch im Herzen durch seine Seelenfreundschaft zu Paula, dies „Hangen und Bangen“, dem bei einer so stolzen und maßlosen Natur wie Lucinden eine dreifach größere Pein inwohnen muß, als Clärchen und Mignon. Wen der Hauch des Dämons berührt, der trägt auch ein Kainszeichen: in Lucinden scheint alles Finsterniß und Sünde, wo sie hinschreitet, wandelt das Verbrechen mit ihr, die unheimlichsten und gefährlichsten Menschen treiben in ihrer Nähe umher: ein lichter Punkt ist doch in ihr, ihre Liebe und ihre Aufopferung; jene Urkunde vor seinen Feinden vertheidigend, die das Bekenntniß enthält, daß Bonaventura nicht recta intentione getauft sei, mit der sie ihn einst im Aufwallen ihrer Rachsucht und beleidigten Selbstliebe zu vernichten drohte, stirbt sie in den Flammen ihres Hauses. Ihr Wesen wie ihr Ausgang ist nicht ohne Aehnlichkeit mit dem Hackert’s in den „Rittern vom Geist“. Doch erscheint Hackert reicher, ausgiebiger, seine Anschauung der [200] Welt gerechtfertigter, Lucinde hat zu oft das Unglück – oder ist’s nicht eher ihre Eigenheit? ihre „Freunde“ in dem zweideutigen Sinn des Wortes zu wechseln; trotz der Größe ihres Willens und der Festigkeit, mit der sie ihrem einzigen Ziele nachstrebt, sind ihre Mittel zuweilen kleinlich. Sie bannt die Männer, wie die Schlange die Vögel, mit der Verzauberung durch ihren Blick, allein Musik ist nicht in ihr und entzückende Anmuth, die Zeit ausgenommen, wo sie im Schloß zu Neuhof verborgen fast wie Dornröschen blüht. Dem wilden Heere voran, geht die Sage, schwebe Herodias, die in wahnsinniger Liebesgluth das auf ihre Bitte abgeschlagene Haupt des Täufers auf die Lippen geküßt und zur Buße nun im ewigen Sturme umhertreibe: mit ihr ist Lucinde wahlverwandt.

Wenn ihr und Klingsohr’s Anschluß an die Kirche, zum Theil wenigstens aus Herzensbedürfnissen und geistigen Motiven entspringt, so hat Wenzel von Terschka nur aus der „Noth des Lebens“ das Kleid des Ordens Jesu angenommen. Auch er gehört zur „streitenden“ Kirche, der Orden sendet ihn in die „Welt“, um den protestantischen Grafen Hugo von Salem-Camphausen zum Katholicismus zu bekehren. Die Tiefe des Gefühls abgerechnet, ist Terschka die männliche Lucinde. Auch er erlebt eine wüste, abenteuerliche Jugend, in der freilich der Schrecknisse zu viel auf einander gehäuft sind, dann ein Schwanken von Frau zu Frau, von der Mutter zur Tochter, des augenblicklichen Vortheils wegen ein beständiger Umtausch der Religion. Die Vorliebe, mit der Gutzkow bei der Schilderung solcher Renegatennaturen verweilt, hat Bedenklichkeiten erweckt, aber man verwechsele doch nicht ein ethisches Mißbehagen mit einem ästhetischen: [201] wer fühlt sich denn im Shakspeare von Jago, von Regan und Goneril „wohlthuend“ berührt!

Die reinste und würdigste Gestalt unter den Vertheidigern der Kirche, in der das künstlerische Auge sich wahrhaft befriedigt fühlt, ist der Erzbischof von Truchseß-Gallenberg; die Kölner Wirren im Ausgang der Regierung Friedrich Wilhelms III. sind gemeint. Die Scene, in der er handelnd und eingreifend auftritt, erinnert an jene erstaunlichen und ergreifenden Bilder Rembrandt’s, wo aus gelb und grau und schwarz sich ein strahlender Schimmer, Physiognomien entwickeln, die einmal gesehen, unvergeßlich bleiben. Ein Mann Roms, „mager, starkknochig, länglichen Antlitzes, hart, ernst,“ aus einer Meerschaumpfeife rauchend, seines Königs Brief uneröffnet neben sich, gleichmüthig, als handele es sich nicht um seine Freiheit. Und Wort und Beschluß wie das Antlitz, Alles aus einem Guß. Eine Schilderung von ähnlicher, geistvoll historischer Auffassung ist das Auftreten Pio Nono’s, während das Bild Metternich’s im 7. Bande in der Feinheit seiner Züge und der Sauberkeit der Ausführung Denners Köpfen ähnelt. Mit diesen Figuren eröffnet sich schon jenes Reich, das nach dem Spruche Christi freilich „nicht von dieser Welt“ sein sollte, aber dennoch ganz darin untergegangen ist: das päpstliche Rom.

Auf diesem Boden verschmilzt Heidenthum und Christenthum. Der Cardinal Ceccone, der in der Kirche nur die trefflichste Handhabe zur politischen Herrschaft sieht, neigt zum ersten, Fefelotti faßt das zweite, wie die Ketzerrichter unter den Dominicanern auf. Daneben, im Schatten der Peterskirche, in den Sälen des Vatikan, ein wildes Genußleben, in der altrömischen Weise Nero’s und [202] Heliogabal’s, mit Frauen, die einen Zug von Messalina, wie Olympia, oder von Medea wie die Herzogin von Amarillas geborgt zu haben scheinen. Der Unterschied der deutschen und italienischen Geistlichkeit ist auf das Lebendigste ergriffen. Dort am Rhein wohnt in der Brust des Kirchenfürsten, seines Caplans, Aller, die zur Kirche gehören, in der nardenduftenden Poesie des Beda Hunnius, wie in dem fanatischen Glauben Müllenhoff’s Ehrfurcht und Scheu vor dem Heiligsten. Ihre Anschauungen vom Göttlichen mögen noch so befangen, dürftig und von ihren schlechten Leidenschaften verdunkelt sein, eine wahrhaftige Ergriffenheit läßt sich ihnen nicht absprechen, nicht mit dem Munde, mit dem Herzen stehen sie für Christus ein. Bei den Römern dagegen, den ketzerhassenden Fefelotti ausgenommen, gleichen alle den Taschenspielern, den indischen Gauklern und Schlangenbeschwörern, sie wissen, daß ihre Lehren, ihre Symbole Trug und Wahn sind aber, so mächtig ist dies Spielen mit dem Zauber über die Zauberlehrlinge geworden, daß Ambrosi, einer der Heiligen des Buches, alte Knochen aus den Katakomben für Mexiko als „Reliquien des heiligen Xystus“ verpackt!

So sehen wir auf der Barke derer, welche der Jungfrau Maria folgen, um in der Allegorie zu bleiben, Herrschsucht, Eigennutz, Laster und Leidenschaften, äußerlich mit den heiligen Gewanden bedeckt – eine Fülle verschiedenartig bewegter Gestalten, alle zu dem einen Zweck vereinigt, den römischen Zauber in die entferntesten Kreise zu verbreiten, die Spiegelungen des einen Gedankens in hundert Herzen. So sorgfältig hat der Dichter gearbeitet, jeden Punkt beobachtet, daß es nicht schwer fallen dürfte, eine Stufenfolge von dem Papst bis hinab zu dem [203] armen westphälischen Dorfpfarrer Müllenhoff oder dem wunderlichsten der Wunderlichen, Bruder Hubertus mit dem Todtenkopf, der unter seiner Franciscanerkutte die treueste Dienerseele auf Erden besitzt, aufzustellen. Und dies Gemälde wird noch reicher durch das Gewühl der sich mehr in den Hintergrund verlierenden Schaaren von Geistlichen, Mönchen und Nonnen aller Orden, die Kreuzgänge der Klöster, die emporstrebenden Thürme gothischer Münster, die es abschließen; hier lebt wirklich die geistliche Welt des Katholicismus sich aus.

Während das muthige Häuflein der heiligen Streiter um Bonaventura gegen dies Heer der Hierarchie sich zum Kampfe anschickt, hat ein einzelner Mann sich von allem Streit entfernt und sich schweigend zum leidenden Gehorsam beschieden, wenn auch mit widerstrebendem Willen: der Oheim Bonaventura’s, der Dechant von St. Zeno zu Kocher am Fall, der letzte jener Geistlichen, welche für Voltaire’s, „Mahomet“ schwärmten und das „Seligwerden nach seiner Façon“ in das Belieben eines Jeden stellten. Alter, freundlicher, liebenswürdiger Mann, mit deiner Neigung für die Sterne, die Seelenwanderung, deinen Vögeln und Blumen um das stille, epheuumrankte Haus! Wie so mild und sonnig und klar blickt dein Auge in diese Welt! Die Sünden deiner Jugend, die nachgiebige Schwäche deines Alters gegen die Römlinge, wie gern verzeihen wir sie dir um die Worte, die du redest, auch wie jener griechische Kirchenvater, mit goldenem Munde. Trotz des äußerlichen Drucks ist die Seele des Dechanten frei geblieben und hat nicht im Blendwerk prunkender Ceremonien das Gefühl ihres Zusammenhangs mit der übrigen Natur eingebüßt, für ihn weht auch aus Pflanze [204] und Thier der Odem des Göttlichen. Vor dem alten Cultus Roms wie vor dem neuen, den Bonaventura aufzurichten gedenkt mit Waldenser-Litaneien, flüchtet er in den ewig offenen Schooß Gottes, in das Leben und Weben des Alls, für ihn ist der große Pan noch nicht todt und der Glaube an ihn. Wir bekennen unsere Vorliebe für diese Gestalt um so freudiger, je weniger wir mit irgend welcher Erneuerung und Verklärung äußerer Religionsformen übereinstimmen, denn leider behalten Diderot’s Worte in einem Brief an Sophie Voland ihre traurige Wahrheit: „Ueberall, wo es einen herrschenden Cultus giebt, ist die natürliche Ordnung der Pflichten umgestoßen und die Moral verderbt. Später oder früher tritt der Augenblick ein, wo dieselbe Erkenntniß, die einen Thaler zu stehlen uns hinderte, uns hunderttausend Menschen erwürgen läßt.“ Der Dechant thut das Gute um des Guten willen, menschenfreundlich, aufopfernd, ist er mehr als ein echter Priester, ist er ein Weiser, wenn gleich ohne ihren Muth, doch aus der Schule Sokrates’ und Nathan’s. Zu den sanften Sprüchen seiner Weisheit, die das Elend des Daseins uns durch freiwillige Entsagung zu lindern mahnen, flüchten wir aus dem Tumult des Streites, aus den römischen Capellen wie aus der Versammlung der Waldenser in seinen stillen Garten, wo aus den Zweigen der Bäume, wie von seinen Lippen nichts als das „Liebet euch unter einander“ des heiligen Johannes uns entgegentönt.

Als die neue Bezeichnung „culturhistorischer Roman“, zuweilen freilich von sehr unberufenen Geistern, in die Literatur eingeführt wurde, ist wohl dagegen behauptet worden, alle Romane wären im Grunde culturhistorisch, [205] und zur Begründung wies man auf „Don Quijote“, die englischen Romane Richardson’s, Fielding’s und Sterne’s, auf Wilhelm Meister hin. In dieser beschränkten Bedeutung, wo das Culturhistorische schon in der Schilderung gewisser, einem Volke oder einer Zeit eigenthümlichen Sitten, Gebräuche, Ansichten gefunden wird, verdienen alle Romane, die überhaupt auf Kunstwerth Anspruch erheben, diesen auszeichnenden Namen. Allein das Wort hat doch einen tieferen und umfassenderen Inhalt; sein Sinn geht auf die Schilderung des Gesammtlebens einer Epoche, die in dem beschränkten Rahmen der Romandichtung allerdings nur symbolisch in ihren Hauptzügen gegeben werden kann, und diesem Begriff kommt nur Cervantes’ Don Quijote nahe. Der englische Roman beschäftigt sich wesentlich mit der Darstellung einzelner sonderbarer oder leidenschaftlicher Charaktere, erst in Boz und Thackeray ist ein größeres Eingehen auf das Zuständliche, auf das Leben und die Bedürfnisse ganzer Volksklassen hervorgetreten, in Goethe’s Wilhelm Meister sind, die Phantasiereisen einmal beiseit, nur die Abenteurer wandernder Schauspieler und ihre, ob nun ernsten oder heiteren, doch immer nur vorübergehenden Berührungen mit der Außenwelt geschildert. Cervantes’ Don Quijote allein entrollt ein fast vollständiges Bild Spaniens im Ausgang des 16. Jahrhunderts, ein Bild, das modernen Anforderungen freilich nicht genügt, Jeder wird jetzt den Blick auf die Inquisition, die verrotteten Zustände des Handels, das Lumpen- und Zigeunerwesen auf allen Landstraßen, die Pracht und das Leben Madrid’s darin vermissen; aber die Zeit, in der er schrieb, entschuldigt den Dichter. Was sich später als das Verderben der spanischen Monarchie ausweisen sollte, erschien ihm als ihre Größe.

[206] Dem Dichter der Gegenwart wird die Last schwerer; solche Auslassungssünden bei einem Culturgemälde würden als unentschuldbare Mängel gelten. Wie das Auge des Adlers aus der Wolkenhöhe, soll auch das seine die ganze Weite des Gesichtskreises seiner Zeitgenossen umfassen, und noch mehr, er darf nicht auf dieser Höhe bleiben, wir verlangen von ihm ein Eingehen in die kleinsten und geringsten Vorkommnisse, sobald sie seinem Gemälde einen neuen treffenden Zug zu geben vermögen. Cervantes und Shakspeare, Schiller und Goethe fliegen über Erde und Himmel dahin, in welche Tiefen ihr Blick auch dringt, sie selbst baden sich in Sonnenäther und dieser leuchtende Schimmer fließt von ihnen auf all’ ihr Geschautes und Geschaffenes hinab. Die Kraft der modernen Dichtung besteht dagegen in dem liebevollen und getreuen Ausmalen des Einzelnen, in der breiteren Darstellung des Zuständlichen, ihr Bestes geht in dem Genrebild auf, das sehr wohl auch das Höchste in seinen Rahmen zu ziehen weiß; Zeuge das nie genug zu preisende Bild Rembrandt’s vom „barmherzigen Samariter“, oder um eine, wie das Stichwort will, noch „idealere“ Anschauung zu berühren, der „Liebesgarten“ des Rubens.

Nach beiden Seiten hin beweist sich Gutzkow als Meister, hierin ist das Lob ein unbedingtes und volles. Immer auf’s Neue reißt uns der Reichthum dieses feinen und scharfauffassenden Geistes, diese bald strahlende, bald düstere Malerei zur Bewunderung hin. Von den Bergen Westphalens, den Rheinstrom hinab, über Wien nach Italien, wie überrascht da Bild neben Bild; deutsches, stillumhegtes Bauernleben, lindenumrauscht, in die Ferne verdämmernd die Thürme eines staatlichen Schlosses, darüber [207] das Glockengeläut des Klosters Himmelspfort – und dann wieder toller, südlicher Festjubel auf römischen Hochzeitsfesten, in den Piniengängen einer Villa, wie tritt uns das Alles so greifbar nahe, als wären wir mitten darin! Wie Welle auf Welle im Strom, so verrinnt gleichsam das Gesammtleben des katholischen Deutschlands und Italiens vor uns, in seinen Menschen, ihrer geistigen wie leiblichen Arbeit, in ihrer Landschaft. Der Fortschritt über die „Ritter vom Geist“, die sonst in ihren gedanklichen Bezügen, mit ihren Hackert’s, Melanie’s und Schlurck’s Manchem sympathischer und zukunftsvoller erscheinen werden, ist nach dieser Richtung hin außerordentlich. Statt des beschränkten Raums, auf dem jene sich bewegen, erfreut das Auge im „Zauberer“ ein rascher, gefälliger Wechsel des Schauplatzes, die verschiedensten Kreise öffnen sich. Von innen heraus wächst der Stoff, in die Verschlingungen der Handlung werden Männer und Frauen aus allen Ständen und Berufsklassen mit hineingerissen; die Musikliebhaberei und die Schaulust Wien’s findet hier ihre Schilderung wie das Leben der Hirten in den Bergen Calabriens.

In dem Gefüge des Romans unterscheiden sich leicht vier größere Gruppen. Der Mittelpunkt der ersten ist die „rothe“ Erde Westphalens, Schloß Neuhof, die Stadt Witoborn mit Burgen, einsamen Kampen, Stiftern und Klöstern umher. Außer der Geistlichkeit giebt es hier nur zwei Stände: den Ritterbürtigen und den Bauer. Der preußische protestantische Beamte, der wandernde Handelsjude, der Getreide-, Holz- und Gütergeschäfte macht, gelten als einem andern Stamme entsprossen, zumeist in der religiös-bewegten Zeit, in der die Erzählung beginnt. [208] Auf diesem Boden wachsen die Wittekind’s, die Asselyn’s, das Guelfenthum. Der Adel dieser Gegend ist von einem scharfen Zug der Opposition gegen Preußen und die protestantische Bildung, die Welt Luther’s, Goethe’s und Schiller’s erfüllt – eine Abneigung, die der Dichter, wie uns dünkt, ein wenig übertrieben hat, Westphalen ist ja auch das Land der Vincke’s. Seine Töchter werden Stiftfräuleins oder Nonnen; in der einen von ihnen, Paula, verbindet sich ein körperliches Leiden mit der frühzeitigen Ueberreizung des Gefühls, die beständig durch ihre unglückliche Liebe zu Bonaventura genährt wird, zu ekstatischen Zufällen und visionären Gesichten; in der anderen, Armgart, ist die heillose Umkehr des natürlichen Moralgesetzes durch eine fanatische Frömmigkeit bis zur selbsteigenen Ertödtung ihres Herzen und Willens gesteigert: damit ihre Mutter sich nicht vom Vater scheide und einen anderen Mann heirathe, entsagt sie ihrem Freunde Thiebold, ihrem Geliebten Benno auf immer und will sich dem, angeblich von ihrer Mutter geliebten Terschka in die Arme werfen. Diese Ueberspannung, zu der ein siebzehnjähriges Mädchen, um im Stil der Kirche zu reden, sich aufschwingen kann, beweist, welch’ bittre Frucht jene Gebundenheit des Willens trägt, darin es dem Katholicismus gefällt, sein Höchstes zu setzen. Fein ist es von dem Dichter empfunden, daß solchem Selbstopfer die gerechte Strafe werden muß; der Mann, den Armgart liebt, Benno, folgt einer Andern, nur sterbend sieht sie ihn wieder und steht dann halb vereinsamt im Leben. Ihre Freundin Paula ist eine Verklärte; schön vergleicht sie Gutzkow selbst einmal mit einer am Altar langsam niederbrennenden Kerze; sie und Bonaventura stehen auf jener Höhe des Berges, darauf die Jünger [209] Alles in Himmelsduft und Glanz schimmern sahen und ausriefen: „Hier ist gut Hütten bauen“.

So die Frauen, zart, duftig dem Geiste, dem Leibe nach krank, nervös, hysterisch, ohne rechte Freude am Leben und doch auch ohne wahrhaftige Entsagung, denn sie haben bei aller Tugend immer Nebengedanken auf die zukünftige Herrlichkeit im Jenseits, in der ihnen die goldenen Stühle neben der heiligen Hildegard und der heiligen Catharina bereitet seien. Hartköpfig, in Sonderbarkeiten verliebt, jähzornig und oft eiserne Naturen: die Männer. Der gelehrteste von ihnen, der sich auch mit der Forschung über römische Katakomben befaßt, Onkel Levinus; der nach seiner Meinung ausgeartete Ulrich von Hülleshoven, der Gatte Monika’s und Armgart’s Vater, der in der Nähe Witoborn’s eine Papierfabrik anlegt; alle um einen Kopf überragend: der Kronsyndikus von Wittekind. Schade, daß er schon mit dem Schluß des ersten Bandes uns entschwindet und nicht mehr persönlich in die Verwickelung eingreift, vielleicht die interessanteste, sicher eine vortrefflich angelegte und durchgeführte Persönlichkeit des Romans. Ein Mann, der sich noch seiner Reichsunmittelbarkeit erinnert und an „König Jerome’s Carneval“ zu Cassel sein Theil gehabt, mit französischen Tänzerinnen und italienischen Sängerinnen, kann er sich in die neuen geordneten Verhältnisse, welche die preußische Regierung seit 1815 im Lande eingeführt, nicht schicken, auch auf ihn paßt das Wort: „Vor den Hohenzollern waren wir da!“ Seiner Tyrannenlaune muß sich im Schlosse zu Neuhof und in dessen Umkreis Jedermann fügen; als sein wahnsinniger Sohn Jerome Lucinde im Walde gefunden und nach Neuhof gebracht hat, steht sie eine Weile zwischen beiden, zwischen [210] Vater und Sohn, bis die Ermordung des Deichgrafen durch Wittekind diesem ängstlichen Verhältniß ein Ende bereitet. Eine unverwüstliche Reckennatur, die zuletzt nur die Raserei und der Tod bändigt, ist Wittekind ein geborener Welfe, verwerfend, zertretend, was Ordnung und ein höheres Gesetz, als das der rohen Kraft, geltend machen will; sein eigensinniger Wille zwingt den Juden Leo Perl, der ihn heimlich, zur Belustigung Wittekinds und seiner Trinkgenossen, zum Schein mit einer italienischen Sängerin aus Cassel getraut hat, wirklich zum Christenthum überzutreten und die Priesterweihe zu empfangen. Diese beiden Gewaltthaten sind die Hebel der Geschichte. Der Mord des Deichgrafen bringt Lucinde und Klingsohr in die innigste Verbindung und treibt in seinen Folgen Klingsohr zum Uebertritt zur katholischen Kirche; für seine erzwungene Bekehrung rächt sich Leo Perl, daß er gleich seine erste Taufhandlung als Pfarrer von Borkenhagen an Bonaventura ohne die „Absicht des Willens“ vollzieht; jene falsche Ehe endlich giebt Benno und Angiolina das Leben, die, von ihrer Mutter verlassen, wild aufwachsen, Angiolina zur Kunstreiterin und Geliebten des Grafen Hugo, des Paula bestimmten Gatten, Benno, von den Asselyn’s adoptirt, zu einem preußischen Assessor. Diese vielfach verschlungenen verwandtschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen sind bei einem flüchtigen Lesen außerordentlich schwer zu entwirren, Gutzkow hat eine eigenthümliche Vorliebe dafür, seine Helden zu Mitgliedern einer Familie zu machen. Um diese Herrschenden bewegt sich ein reiches Gefolge von Freunden und Dienern, wir begleiten sie auf die Jagd, an die Tafel, sitzen still in dunkler Kammer mit ihren Frauen bei theosophischen Vorträgen des Philosophen in dieser Gegend, [211] Püttmeyer, oder trinken mit den Bauern in ihrer Schenke.

Eine zweite Gruppe bildet die Gesellschaft in Köln und am Rhein. Bonaventura, der Pfarrer in St. Wolfgang ist, Armgart, welche die „englischen Fräulein“ in Lindenwerth erziehen, Benno, der bei dem Prokurator Nück arbeitet, verbinden sie mit der westphälischen. Benno ist unter den nicht geistlichen Gestalten des Romans eine der wichtigsten. Erst im Verlauf der Erzählung erfährt er das Geheimniß seiner Geburt, er giebt und hält sich für einen Findling, den einer der Asselyn’s, ein Offizier im französischen Heere, aus Spanien mit sich nach Deutschland genommen, erzogen hat ihn der Dechant. Er ist ein ehrgeiziger, kritischer Kopf, unglücklich über seine unsichere Lebensstellung, in Zweifeln wegen seiner Geburt, anfangs seiner Umgebung an Willenskraft überlegen und am Ende, als sie auf die Probe gestellt wird, in eine beklagenswerthe Gebundenheit sinkend. Was seinen Vater, den Freiherrn, mehr dunkel, als Instinkt beinahe beseelte, der Haß gegen die „Ghibellinen“, gegen Preußen, hat sich bei ihm zu einem mit Bewußtsein ergriffenen Prinzip ausgebildet. Er sieht in Preußen nur das Land der Demagogenverfolgungen, er glaubt nicht, daß, trotz aller zeitweiligen Fehler und Irrthümer der Führer, sich auch an Preußen jenes Orakel erfüllen werde, das über Athen ausgesprochen zur Wahrheit ward:

„Viel noch schauend und vieles erlebend und vieles erduldend,

Wirst du ein Aar in den Wolken dereinst sein, immer und ewig!“

Seiner militairischen Dienstpflicht sich entziehend, geht er als österreichischer Cabinetscourier nach Italien, dem Lande seiner Sehnsucht und seiner Mutter, und schließt sich dort den [212] nationalen und republikanischen Bestrebungen an. In einer der Logen des „jungen Italiens“, bei ihrer Sprengung, gefangen genommen, rettet ihn die Fürstin Olympia, die ihn liebt. Fortan ist sein Leben „ein Opfer der Dankbarkeit“; zehn Jahre giebt er sich dieser Frau und seiner Mutter hin, ändert seinen deutschen Namen in einen italienischen „Cesar Montalto“ – entflieht endlich dem Bann „der Dankbarkeit“, wird bei der Vertheidigung Rom’s gegen die Franzosen durch eine Kugel verwundet und stirbt in Armgart’s Armen: ein Renegatenleben! Der Umschwung in Benno’s Seele schwächt die Theilnahme für ihn, sein kühles, ablehnendes Wesen schien vor Allem fähig, dem römischen Zauber zu widerstehen. Durch den „Zauberer von Rom“ geht für ein deutsches Gemüth eine eigene Wehmuth, alle rufen: Italia! Italia! „Noch zuweilen“, schreibt da der Dichter, „brachte Bonaventura’s Gemüth der Muttersprache ein Opfer“!

Neben Benno steht sein Jugendfreund, Thiebold, der Sohn eines reichen Kaufherrn. Die heitere Person des Romans ist er in beständiger Bewegung und doch im Grunde nie beschäftigt. Wer auch nur einen seiner drolligen Briefe gelesen, behält ihn für immer lieb. Die Frauen meinen, er sei „nur eine gute Eigenschaft an Benno mehr“, wir schätzen ihn höher, er ist bei allen liebenswürdigen Schwächen ein ganzer Mann. Zwei Wege giebt es, sich mit dem Leben abzufinden: man kämpft mit ihm um das Glück oder lernt sich früh bescheiden; Thiebold hat den letzten gewählt und bleibt unerschütterlich auf ihm. Trefflich vermittelt er den Uebergang in die humoristischen Kreise, zu den Kölner Kaufleuten, den Juden, die wieder in den mannigfaltigsten Abstufungen von den Banquiers [213] bis zu Löb Seligmann und der „Hasenjette“ eine reiche Gallerie sprechender Portraitköpfe bilden. Um hier Einzelheiten anzuführen, müßte man ganze Capitel des Romans ausschreiben; so die Gesellschaft der jungen Kaufleute im zweiten, das Fest Piter Kattendyk’s im vierten Bande, die Schilderung der Trödelbude, in der Veilchen Igelsheimer Spinoza liest und alte Kleider verkauft oder die Fahrten Löb Seligmann’s auf „der rothen Erde“.

In Wien, dem dritten Hauptpunkt der Erzählung, setzen sich diese gesellschaftlichen Genrebilder fort; das Burgtheater, ein Abend in der Banquierfamilie der Zickeles, ein Besuch im Garten von Schönbrunn gewähren einen Einblick in das Treiben der „einen“ Kaiserstadt, in der lustigen, vormärzlichen Zeit. Doch ist Wien nur eine Station auf der Reise nach Italien, Gutzkow’s Helden halten hier gleichsam die letzte Rast, wie Odysseus auf der Insel der Phäaken. In Italien gipfelt sich die Dichtung und die Schilderung. Nicht ein für Italiens Entwickelung förderndes Element, kein bedeutenderer Zug des Volkslebens wird in dieser Darstellung vermißt, ein – wir finden keinen bezeichnenderen Ausdruck – ethnographisches Talent, das schon in den früheren Bänden hervortritt, hat Gutzkow in diesen letzten zur Meisterschaft herausgebildet. Mit ihm wandeln wir durch die Gassen der ewigen Stadt, von der man, wie Hermann Grimm es so glücklich gesagt, nicht glaubt, daß sie je von der Erde weggetilgt werden könnte; wir schauen noch einmal in den Schatten eines Olivenwaldes alle Verwandlungen Ovid’s und athmen wie einen neubelebenden Zaubertrank den Schimmer und Duft, der im Goldgefunkel der untersinkenden Sonne um die sieben Hügel schwebt, von dem um-[214]glüht Bonaventura seine Hand segnend über die Erde ausstreckt.

Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß diese „culturhistorischen“ Momente, in der innigsten Verbindung mit der Fabel des Romans, seine erste und markigste Wurzel sind. Auf dem Hintergrund südeuropäischer Verhältnisse spiegeln sich die Geschicke seiner Helden ab, sie sind das Product dieser Anschauungen, Formen und Bedingungen des Lebens: so brausen im Meere die Wogen hin und her, Kinder des Wassers und der Winde und zugleich wieder von ihnen verzehrt. Aus dem Schooß des Katholicismus sind Gutzkow’s Gestalten geboren, ihr Anfang und Ausgang ist von ihm bestimmt; ihn bekennend oder mit ihm ringend, bleiben sie sein.

Wir haben bisher die Gedanken und allgemeinen Verhältnisse, welche dem „Zauberer von Rom“ zu Grunde liegen, zu erläutern versucht; sei uns jetzt noch ein letzter Blick auf die Erfindung und Form dieses trotz Allem, was wir dagegen erinnert, eigenthümlichen und merkwürdigen Buches erlaubt.

Wenn Poesie und Religion sich gegenseitig in einem Kunstwerk durchdringen, wird es doch selten nur so vollkommen geschehen, daß nicht eins dieser Elemente das vorherrschende wäre, sondern beide in einem harmonischen Accord austönten. In den Götterbildern der Griechen überwiegt die künstlerische, in Calderon’s autos sacramentales die religiöse Auffassung. Noch kömmt bei unserer Betrachtung dieser Werke ihnen ein Moment hülfreich zu Statten: ihr Alter, die Ueberzeugung in uns, daß wir es nur mit Symbolen untergegangener Religionen zu thun haben; uns werden die ambrosischen Götter des Phidias nie mehr, wenn [215] nicht im Traum, lächeln; die wilden, verzückten Ausbrüche des spanischen Glaubens sind für uns nur noch ein Schauspiel, nichts weiter. Der Dichter aber, der die religiösen Wirren, Kämpfe und Anschauungen der unmittelbarsten Gegenwart darzustellen unternimmt, wird es sich zuweilen gefallen lassen müssen, daß unwillkürlich im Leser das philosophische, wohl gar das spezifisch confessionelle Urtheil dem ästhetischen sich unterschiebt.

Immer wird es, bei manchen Ausstellungen im Einzelnen, darum für Gutzkow’s poetische Kraft ein glänzendes Zeugniß ablegen, daß er einen so gefährlichen und spröden Stoff in künstlerisch schöne Formen zu zwingen wußte. Was zuerst an dieser Form auffällt und auch schon dem Tadel unterworfen war: die Ausdehnung über neun Theile, die man spöttisch mit dem Französischen Roman „Der große Cyrus“ oder mit Lohenstein’s „Arminius“ verglichen, rechtfertigt sich schon durch die Fülle des Culturlebens allein, das der Dichter darstellen wollte. Ein, nach dieser Seite hin kaum halb so reicher Roman der Sand „Consuelo“ und dessen Fortsetzung „La comtesse de Rudolstadt“ wird an Bändezahl dem „Zauberer“ nicht um Vieles nachstehen. Richardson’s hochgepriesene „Clarisse Harlowe“ erzählt in sieben weitläufigen Bänden die Liebesgeschichte Lovelace’s und Clarissens, freilich, im 18. Jahrhundert, wo ein Kritiker wie Diderot sich noch nicht schämte, in edler Begeisterung, im Dankgefühl für den Genuß, den ihm ein Kunstwerk bereitet, in die Worte auszubrechen: „O Richardson! Du einziger Mann in meinen Augen, zu allen Zeiten wirst Du meine Lectüre sein! In gleicher Reihe stehst Du mir mit Homer, mit Sophokles und Euripides!“ Statt dem Dichter aus der Länge seines [216] Werkes einen Vorwurf zu machen, verdiente diese ausdauernde zähe Arbeit, die etwas Spartanisches hat, unsere ganze Anerkennung; eher als der wohlfeile Scherz darüber geziemt es dem ruhigen Betrachter, die Gesetze dieser bis zu einem, von uns angedeuteten Punkt durchaus neuen poetischen Form darzulegen.

Offenbar ist sie wie der historische Roman keine reine, sondern eine gemischte Form. Wie jener von Thatsachen und Persönlichkeiten, so ist das Culturgemälde durch Bedingungen, die außerhalb der Sphäre des künstlerisch Schönen liegen, bestimmt. Diese Verhältnisse wirken dann mit selbsteigener Kraft weiter; die „gesunden“ Naturen, die „einfachen“ Conflicte, die man in Dorfgeschichten bewundert und von ihnen aus, in einer uns unbegreiflichen Verkennung der Menschen und des Lebens, für Alle und Jedes gefordert, werden hier auch „von selbst“ unmöglich. Aber zur Vertheidigung jener Charaktere, d’rin sich Gutes und Böses wunderbar mischen und die Lessing’s Ausspruch wahr machen, daß nichts schneller sei, als in der Seele der Uebergang vom Guten zum Bösen, verschwendet man denen gegenüber unnöthig Worte, welche Karl V., der in’s Kloster geht, und den Frachtfuhrmann, der aus Haß gegen die Eisenbahnen in ein ödes Gebirgsdorf flüchtet, auf dieselbe Stufe stellen; dem gesunden Sinne dagegen erscheinen die Schwankungen, das Schillern unserer Gedanken und Meinungen, das Erfassen und wieder Hinwerfen dessen, was wir einen Augenblick für Glück hielten, als die unabwendliche Folge einer entwickelten und reichen Cultur. Gegen Balzac, der auch die „irdische Komödie“, zunächst auf französischem Boden darstellte, wie gegen Gutzkow erhebt man sich mit „sittlicher Entrüstung“ über all die [217] Verbrecher, Verräther und Abtrünnigen, die er uns vorführt. Wir möchten diesen Eiferern, insoweit es ihnen in Wahrheit um die „Tugend“ zu thun ist, zurufen: „Wie würdet ihr eine Pflanzenkunde beurtheilen, die euch nichts von den Giftblumen sagte?“ Für Menschen, wie Terschka, den Procurator Nück, für Brigitte van Gülpen hat auch der Dichter nicht mehr Theilnahme, als Breughel und Teniers für ihre Teufelsfratzen; dazu entbehren sie, wenige Scenen ausgenommen, nicht der Anlehnung an durchaus reale Verhältnisse, sie sind nicht des bloßen Grauens wegen da, wie die Hoffmannschen Gespenster und Sandmänner, von denen Gutzkow hier und dort eine erste Anregung gekommen sein mag, sie machen eine Entwickelung ihres Wesens durch, sie leben sich aus. Dadurch stehen sie in beständiger Wechselwirkung zu einander und den Helden des Romans. In der Vorrede zu den „Rittern vom Geist“ hat Gutzkow für diese Darstellung ein vielgescholtenes Wort „Nebeneinander“ gefunden. Darin ist es nicht glücklich gewählt, daß es den Gedanken erweckt, als wolle es die Hauptbedingung des Epos, das „Nacheinander“ aufheben. Aber es sollte doch nur die Ausstrahlung der einen Idee auf viele Einzelne, die Wege bedeuten, die diese neben einander zum gemeinsamen Ziele hinauf- oder hinabwandeln. Im „Zauberer“ ist dies so sichtbar die „ewige Stadt“, wandert Jeder auf so eigenem Pfade zu ihr hin, daß die Bedeutung dieses „Nebeneinander“ dem Leser sich auf jeder Rast der Reise aufdrängt. Zuweilen ist der Eindruck, den wir von diesen Wallern, die einsam oder in Gruppen vertheilt dahinziehen, etwa auf der Höhe der Alpen, von denen Armgart mit ihren Aeltern in die Thäler Italiens hinabschaut, oder von den beiden Mönchen, Hubertus und Klingsohr, [218] die im Mondschein zuerst, den Bettelsack über die Schulter geworfen, in Rom’s Straßen einherschreiten, im bunten Wechsel empfangen, ein mächtig ergreifender; ein sanft lösender, wenn der Chor der Waldenser sein Lied im Silaswalde anstimmt; andererseits ist auch das Bedenkliche des „Nebeneinander“ nicht ausgeblieben, man sieht zu oft statt der dichtenden Phantasie den rechnenden Kopf, man erstaunt, Personen, die man in weiter Ferne glaubte, an irgend einem Faden herbeigezogen zu sehen. Hierin liegt vielleicht auch der schlimmste Fehler der Composition, von dem wir freilich gestehen, daß er so nothwendig in ihr enthalten ist, wie der Vorwurf gegen Kaulbach, daß er weltgeschichtliche Gedanken male, in der ihm gestellten Aufgabe; wir meinen die zehn, zwölf Jahre, die zwischen dem 8. und 9. Bande verlaufen. Die Kunst der Darstellung hat ihr Möglichstes in der Erzählung des inzwischen Geschehenen versucht, aber die Lücke, die solche Aufzählung von Verheirathungen und Sterbefällen dennoch zurückläßt, nicht zu schließen vermocht, der Dichter sinkt hier zum Chronisten herab.

In dem Culturgemälde fehlt der eine Held, der in anderen Romanen unsere Theilnahme fesselt; nicht nur in Gutzkow’s „Zauberer“. In Kingsley’s „Hypatia“ ist die griechische Philosophin, deren Namen das Buch an der Stirn trägt, bei weitem nicht die anziehendste und in die Handlung eingreifendste Persönlichkeit. So zersplittert sich auch bei Gutzkow unser Interesse, am schönsten und dauerndsten wird es von dem alten Dechanten und von Thiebold festgehalten; die seraphischen Gestalten Paula und Bonaventura scheinen unserm Mitgefühl beinahe entrückt auf goldenen Himmelswolken zu wandeln. Der weite Kreis der Handlung bringt es mit sich, daß selbst die [219] Strahlen, die von Lucinde, von Klingsohr oder Olympia ausgehen, nicht immer mit vollleuchtender Gluth zu den äußersten Punkten dringen. Das Interesse, das wir nie verlieren, beruht auf dem Gedanken des Werkes, weniger der „Zauberer“, die „römische Zauberei“ ist der Mittelpunkt des Ganzen. Hier liegt die Einheit des Werkes; die vielen Verzierungen, Pfeilerstellungen, die Arabeskenkränze, die der Dichter darum geschlungen, dürfen den Blick zu ihr nicht aufhalten: so blickt das Auge der Gläubigen in der Kirche zuerst zum Hochaltar.

Mit der Fülle der Gestalten wächst die Fülle der Begebenheiten und Abenteuer. Hier ist nicht Alles schön und rein, neben den Blumen wuchert Unkraut; um die Spannung auch des größeren Publikums zu erhalten, ist die Grenze des Wahrscheinlichen und der Schönheit dem Dichter nicht immer eine heilige und unüberschreitbare gewesen. Mit der einen Hand greift er sicher in das „volle Menschenleben“, das er doch, wenn man nur, wie billig, seine Weise gelten läßt, in Bildern voll Kraft und von dem Schwung des Genius wiedergiebt, mit der andern tastet er unsicher in den Fortunatussäckel eines glücklichen und schreckhaften Abenteuers. Auf die Dauer würden diese „kühnen Griffe“ mißglücken, aber Gutzkow besitzt ein besonderes Talent des Ab- und Austönens. Wenn wir uns zuweilen in Unmuth von ihm abwenden, weiß er den erregten schlimmen Eindruck durch ein wahrhaft erschütterndes Ereigniß, ein kluges Gespräch oder die sinnige Erscheinung einer seiner Heldinnen zu besänftigen und zu klären. Von vielem Schönen heben wir zwei Capitel hervor, den Tod Angiolina’s, der Schwester Benno’s, und das Ende des Werkes; wem „Poesie“ mehr noch [220] ist als ein leeres Wort, dessen Geist mit Goethe bestattet wurde, der lese diese Seiten, sie sind, wie Voltaire einmal von Racine’s Versen sagt: „sanft, erhaben und voll Harmonie.“

Anders indessen andere; die eigenthümliche Weise der Darstellung, die Gutzkow gewählt, hat in ihrem Schillern und Schimmern etwas von einem Irrlicht; sie zieht an, sie reißt uns fort, aber wir sinken zuweilen ihr folgend in ein Moor. Gewisse Dinge lassen sich nicht „mit Geist“ sagen und dieser Sprung aus dem Geistreichen in das Gewöhnliche wirkt um so erkältender, je früher ihn der Dichter fühlte und ihn sanfter zu machen suchte. Diese Bemühungen zeigen auch dem Blick des Laien den Eifer und das Talent, die Gutzkow an sein Werk gesetzt, um Stoff und Form gleich vollendet auszubilden. Dem Zauber, den Rom in unsere Seele wirft, entspricht das leuchtende Blenden dieses Stils.

Weitab ist unsere Zeit von der Naivetät römischer Dichter, welche die Muse aufforderten, ihnen das Haupt mit dem „verdienten“ Lorbeerkranze zu schmücken! Weitab sogar von Goethe’s edlem Ausspruch: „Wenn man von Schriften nicht mit einer liebevollen Theilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, daß es der Rede gar nicht werth ist.“ Wir traten mit dieser Theilnahme an Gutzkow’s Werk; Schönheit ist darin und noch mehr ein mächtiger Zug der Poesie des Geistes. Es ist schon gut, daß wir unserer alten Eichenhaine nicht vergessen; aber verdient der Baum, der aus unserer Gegenwart in die Zukunft hineinblüht, darum weniger Pflege und Dank für den Genuß, den er uns giebt?

7. Johann Leonhard Hoffmann: Gutzkows Zauberer von Rom, nach Tendenz und Composition beleuchtet, 1866#

J[ohann] L[eonhard] Hoffmann: Gutzkows Zauberer von Rom, nach Tendenz und Composition beleuchtet. In: Album des Literarischen Vereins in Nürnberg für 1866. Nürnberg: Bauer u. Raspe, 1866. S. 66-110. (Rasch 14/34.66.1)

Gutzkows „Zauberer von Rom“ erinnert schon durch die Bändezahl an „die Ritter vom Geiste,“ mehr aber noch durch Hebel und Räder, durch Personen und Schicksale. Dürfte man von der wärmern oder kühlern Aufnahme einer Dichtung auf deren Werth schließen, so gebührte dem ältern der zwei Brüder der Vorrang; denn gleich nach seinem Erscheinen in den beiden ersten der fünfziger Jahre begrüßte ihn das Zujauchzen der Menge; selbst der ernste Geschäftsmann kargte sich Freistunden ab, das neue Evangelium zu vernehmen und zu prüfen, welches die eben erst zu Grabe getragenen Hoffnungen auf Verbesserung unserer vaterländischen Zustände theoretisch wieder aufnahm. Wol fühlte sich dann mancher Leser, der dem Dichter die Aufgabe eines Lehrers zugemuthet hatte, am Schluß enttäuscht, und die Erwartung, die er von den modernen Rittern gehegt, ging ihm mit Dankmars Million in Rauch auf; aber dennoch empfahl er den höchst interessanten Roman, lediglich mit dem Schluß unzufrieden, dem Nachbar, der nun wieder im Schweiße seines Angesichts den Stein des Sisyphus wälzte. War es doch, als ob die Gesellschaft, mitten im öffentlichen Jammer, wie der Lechzende den Becher Weines, den Labetrunk der Poesie hinunterstürzen müßte, um ihre traurige Lage zwar nicht zu vergessen, aber doch in rosigerem Lichte zu schauen. Die Anstrengungen [67] der Patrioten waren im Parteihader wie im offenen blutigen Kampfe der Gewalten niedergeschlagen worden; sollte man alle Aussicht auf eine bessere Zukunft sich in dumpfer Niedergeschlagenheit versperren? O nein, ein Dichter sammelte mitten unter den schlechten Elementen eine stille Gemeinde ausdauernder strebender Menschen, die trotz ihrer Gegensätze in Erfahrung und Denkart sich aus dem allgemeinen Schiffbruch zusammenthaten, einen neuen Floß zu zimmern, um darauf nach dem Sturme von neuem durch den Ocean zu fahren. Dieser tröstende Gedanke, daß es mit den Segnungen unserer Bildung nicht ganz aus sein könne, welcher den symbolischen Geheimbund belebt, eroberte dem phantastischen Romane die erschütterten und von den Schrecknissen der jüngsten Vergangenheit wund nachzitternden Herzen.

Anders war die Lage, anders die Stimmung in Deutschland während der Jahre 1858–61, in welchen „der Zauberer von Rom“ aus derselben Feder geboren wurde. Die siegreiche Reaktion hatte zu schwer auf der Welt gelastet, die Machthaber ihre Gewalt zu lange mißbraucht, ja sogar den Zeitgeist zur Theilnahme an ihren dynastischen Interessen verleitet. Erst nahm man Partei für den nutzlosen Krimmkrieg, der wie die Fehden alter Tyrannen das Blut der Völker dem Ehrgeize weniger Machthaber opferte; dann erhitzte man sich dem Haus Habsburg zu Gefallen gegen die kühnen Freiheitsbestrebungen der Italiener; und während darauf gerade die Niederlage Oesterreichs die Zwingburgen in Deutschland mit zerstören half, feindete man sich gegenseitig über Theorien an oder war hoffnungsselig, auf beiden Seiten also zu sehr mit den wechselnden Zuständen der Gegenwart beschäftigt, um einem großen dichterischen Werke die nöthige Aufmerksamkeit zu widmen, welches die Aufgabe seines Vorgängers die Zeit von innen heraus zu heilen von einer neuen Seite angegriffen hatte.

Nicht als hätte der Ruhm und die Kunst des Verfassers die Kraft anzulocken mit einem Male verloren gehabt. Das leselustige Publikum harrte auch hier wieder ungeduldig den neuen Bänden entgegen; aber doch wirkte der frühere Zauber ungeachtet des pikanten Titels nicht mit gewohnter Macht auf alle Schichten der Ge-[68]sellschaft; ja mancher, der mit entschiedenem Eifer begonnen, fühlte sein Verlangen der Entwicklung weiter nachzuspüren erlahmen, und erklärt nun unbefangen, wie er nach einigen Bänden stecken geblieben sei. Wer trägt die Schuld? der Dichter oder sein Publikum?

Allerdings beide, den größern Theil aber diesmal das letztere. Gutzkow war, wie wir Deutsche allesammt, von Jugend auf tief betheiligt an religiösen Fragen. Seit einem Jahrhunderte hat alle denkenden Köpfe die Untersuchung beschäftigt über das Verhältniß der freien Wissenschaft zum Christenthum. Ist die Lehre der Kirche abgethan und ihr Leben erstorben? Kann das letztere nur durch Verbesserung oder durch vollständige Anerkennung der erstern von neuem Kraft gewinnen? Und ist eine Neubelebung des religiösen Sinnes wünschenswerth oder nicht? Diese und ähnliche Bedenken liegen zumal seit den Freiheitskriegen in der Luft und werden von der Jugend nicht ohne Gewissensbeschwerung und von den Gereiften nicht ohne Leidenschaft erörtert. Von seiner „Wally“ bis zu den „Rittern vom Geiste“ stand Gutzkow auf der Seite jener Gegner des Christenthums, welche demselben keine bindende Kraft mehr zugestanden. Eigentliche Christen, erklärt er in letzterem Werke, gebe es gar nicht mehr, und unsere Zeit wäre reif zu einer neuen Messiasoffenbarung; aber ein Individuum vermöchte nicht mehr die ehemalige Wirkung zu thun, sondern der rein herausgestellte Begriff der Menschheit würde an sich selbst zum Befreier werden.

Haben nun seitdem die vorwärts rückenden Jahre dem frühern Revolutionäre gegen die überkommene Religion seine Kühnheit genommen und ihn zu deren Reformer gemacht? Hat das tiefere Einleben in die einmal vorhandene Welt die Flügel ihm beschnitten, die ehedem hoch über Mauern und Zäune hinwegstreiften? Hat die realistische Richtung der Gegenwart sein Auge geschärft für die Macht der Thatsachen? Noch vor zwanzig, dreißig Jahren, als die Systeme freier Denker die wissenschaftlichen Köpfe beherrschten, ging jeder von diesen unbekümmert um die alte staubige Heerstraße seine romantischen Pfade; jeder schneiderte sich seine Religion auf den eigenen Leib, und der centrifrugale demokratische Sinn sprengte [69] die festen Bande der Kirche gerade wie die des Staates. Während dessen aber hatten Sitte und Satzung diese nicht minder geschützt, als ehedem, und die Stürmer des christlichen Gottesreiches, die im Feuer des Vorrückens ganz unbekümmert gewesen waren, ob ihnen auch eine ansehnliche Gefolgschaft hinter den Fersen sei, machten die niederschlagende Bemerkung, daß sie mit ihrem kleinen Häuflein abgeschnitten zu werden Gefahr liefen. Die Hauptarmee war weit zurück und jene Vorgerückten fast aus ihrem Gesichtskreise. So entschlossen sie sich bei Zeiten wieder umzukehren und lieber langsam, bedächtig und besonnen mit der Masse von neuem den Marsch anzutreten.

Ein kleiner Fortschritt, dessen Segen allen zu Gute kommt, bringt jedenfalls mehr gemeinen Nutzen, als ein großer für einzelne. Um aber zu wissen, wo und wie dem Volke zu helfen sei, mußte man seine Zustände und Bedürfnisse studiren, sich in die geschichtlichen Verhältnisse vertiefen, die bestehenden Mißbräuche genau kennen lernen, und damit man den Zurückgebliebenen Muth mache. ihnen ein nahes sichtbares Ziel als Augenpunkt vorhalten. Man erleichtert die Mühe eines Weges, wenn man ihn in Stationen theilt, und Kinder täuscht man ja wol auch über die Entfernung, indem man ihnen Anfangs nur den ersten Ruhepunkt als Reiseziel vorspiegelt.

Dies scheint mir Gutzkows Verfahren gewesen zu sein, als er uns in seinem „Zauberer von Rom“ ein Spiegelbild vorhielt von den Schäden der christlichen Hauptkirche, und ihre Verbesserung und Erneuerung als das Mittel verkündete, welches uns aufhelfen würde. Der Dichter hat offenbar seine Forderungen gegen früher bedeutend herabgestimmt, um sich anzubequemen an das allgemeine Bedürfnis, natürlich nicht in der Meinung, als wäre durch solche Zugeständnisse im religiösen Glauben und Leben den Forderungen des Jahrhunderts schon ein volles Genüge geschehen. Wenn er am Schlusse seiner Dichtung einen neuen Pabst wählen läßt, der das Lesen der Bibel in allen Sprachen der Christenheit gestattet, und entkleidet der weltlichen Macht dem Freiheitssehnen der Italiener entgegenkommt, [70] einen Pabst, welcher die Annahme seiner Berufung von der Erlaubniß abhängig macht eine allgemeine Kirchenversammlung ausschreiben zu dürfen, die voraussichtlich den Cölibat der Priester und die Unauflöslichkeit der Ehe abschaffen wird, so stellt er damit allerdings äußerst wichtige Verbesserungen in Aussicht; aber wie vielen Stoff zu Zank und Hader läßt er noch in Mitte liegen und wie viele Unvollkommenheiten im bürgerlichen Leben bestehen! Es ist hier, wie mit dem Bergsteigen; Bonaventura-Gutzkow mit seinen Reformen hat vorderhand einen steilen grünen Hügel erklommen, einen Vorberg, hinter welchem die Wanderung auf und ab, durch Schluchten, Waldung, Schnee und Steingeröll erst recht beginnt, ach wie lange und wie weit noch bis zur Spitze! Diese bibellesende Christenheit, hat sie nun mit der so lange vorenthaltenen Erlaubniß den Schlüssel in Händen zum Tempel der Wahrheit, zum Heiligthum der Seelenruhe, wo alle Fragen gelöst sind und alle Stürme schweigen? Oder ist sie vielmehr erst da angekommen, wo sich Luther und Melanchthon, Zwingli und Calvin schon vor dreihundert Jahren befanden und unter weit günstigern Verhältnissen? Damals stand die Wissenschaft noch als ein unschuldiges Kind da und weidete die Augen am Glanze des Tempels, leise tretend und behutsam, daß sie die Andacht nicht störe; seitdem ist sie groß geworden und eitel und selbstgefällig und lockt mit verführerischen Reizen Scharen von Verehrern. Wo sind denn unter den Protestanten noch die eifrigen Bibelleser? Das Siegel ist längst abgerissen, mit welchem die Kirche das gefährliche Buch verschloß; wer benützt eine Freiheit, um welche einst Jahrhunderte sich abkämpften? Sodann: wird ihr Studium noch wirklich wie sonst allenthalben zum Segen? Der Vorwitz unserer Zeit, die Frühreife unseres Geschlechts im Bunde mit der weltlichen Wissenschaft hat den Samen des Zweifels an allen Wegen ausgestreut, den gerade die der Natur und der Erfahrung häufig widersprechende Bibel schnell aufgehen und wachsen macht.

Die protestantische Kirche bietet durch ihre Forderung lediglich die Bibel als religiöse Richtschnur zu nehmen ein Bild der Zer-[71]fallenheit; die vorgeschrittenen Köpfe haben sich längst dem Gängelband entwunden und den eignen Beinen vertraut; die Wärterinnen der unfolgsamen Kinder laufen ihnen nach, drohend und schmeichelnd, um sie wieder einzufangen; bald gelingt es, bald auch nicht, und der einmal entbrannte Kampf um Freiheit und Gehorsam ist jedenfalls der Religion nicht gedeihlich. Einem solchen Zustande gegenüber erscheint des Dichters Absicht schwerlich der Mühe zu lohnen, da ihre Erreichung den Katholicismus nur eben dahin bringen würde, wo der Protestantismus mit Unbehagen und Ungeduld weilt, aus dem engern Kerker des Papstthums in das weitere, aber keineswegs bequeme Gewahrsam der Bibelherrschaft; ein Fortschritt allerdings, aber nur etwa wie von der Censurwillkür zu einem strengen Preßgesetz, welches der Preßfreiheit als ängstlicher Wächter zur Seite gestellt ist. Eine Menge Mißbräuche, die die Kirche vor Jahrhunderten dem Leben eingeimpft hat, würden fallen, wie sie im Protestantismus gefallen sind, zumal wenn die Berufung eines Concils, gemäß der weitern Forderung Gutzkows unter dem Regiment eines freisinnigen Papstes sich dazu gesellte, eines Concils, welches den guten Willen erwiederte, den jener ihm entgegenbrächte; aber wer könnte den Gang einer solchen Versammlung zum voraus bemessen, wer die losgelassenen Geister in Bann nehmen, wer den Sieg der aufgeklärten Partei gewährleisten, wer endlich die günstige Aufnahme der Beschlüsse in der ganzen katholischen Welt verbürgen, deren Bildungsgrade so verschieden und mitunter so tief unter dem sonstigen Zeitbewußtsein sind? Könnten jene Beschlüsse nicht zu den alten Spaltungen innerhalb der Christenheit eine neue fügen und jene Reformversuche des Pabstes nicht einen Erfolg haben, wie die ähnlichen des edlen Kaisers Joseph? Ich setze wenig Vertrauen auf die Segnungen, die von großen Versammlungen ausgehen; mich schreckt das Beispiel des tridentiner Concils, wie der französischen Nationalversammlungen und des deutschen Parlamentes; auch die einzelnen Machthaber vermögen mit Gewaltstreichen keine dauernde Schöpfung hervorzuzaubern: die Jesuiten kehrten wieder, obschon Ganganelli sie abgeschafft hatte. Mehr vermag das langsam aber [72] stetig fortschreitende Bewußtsein des Volksgeistes. Es muß ja wol der Tag kommen, an welchem der letzte Pförtner das letzte Kloster von selbst schließt, und das Jahr, in welchem die Kirche die Ehelosigkeit der Priester aufhebt, weil kein Jüngling mehr zu finden ist, dem die Einbildung größerer Heiligkeit Kraft gibt die Forderungen der Natur zu verleugnen. Freilich rechnet die Geschichte nur mit großen Zahlen, und wenn Gutzkow dem neunten mit herrlicher Begeisterung geschriebenen Buche seines Romanes die Zahl 18 mit zwei Fragezeichen vorsetzt, als die Zeit, in welcher die oft verlangte Reform an Haupt und Gliedern geschehen werde, so möchte ich unserem Jahrhunderte das gewaltthätige Ringen von immerhin zweifelhaftem Ausgange lieber ersparen, des festen Glaubens, daß der ewig sich erneuende Weltgeist die Narben von selbst auswachsen wird, die ihm aus allen Kämpfen und Wunden noch anhaften.

Neben solchen Anschauungen indeß hat auch der Dichter ein Recht, das ihm nicht bestritten werden soll. Als Verfasser eines großen Romans, der in seinen Hauptzügen die noch bestehenden Gebrechen kirchlicher Einrichtungen zeichnet und an den Schicksalen und Bestrebungen einzelner Personen zur Anschauung bringt, hat er die Pflicht sein Werk mittels dieser Personen zu einem entsprechenden Ende zu führen, oder einen künstlerisch schönen Ausgang wenigstens in der Perspektive zu zeigen, etwa wie Egmont in seinem letzten Traumbild Clärchen als Sinnbild der Freiheit schaut. Die Schlußblätter seiner Arbeit, an welchen man von rein realistischem Standpunkte billigen Anstoß nimmt, sind poetisch betrachtet nichts anderes als ein schönes Transparent, eine Verklärung unseres sich in Sorgen und Leidenschaften verzehrenden Lebens, eine Stimme von oben, die den Bangenden zuruft: Es wird ja besser werden. In solchen skizzirten Scenen hat die bloße Möglichkeit, wenn sie nur erfreulich ist, den Vortritt vor der Wahrscheinlichkeit, und die Leser, welche allen Streit zu einem guten Ende geführt wünschen, müssen dem Dichter die Freiheit einräumen, die der poetischen Einheit zu Gute kommt. Er kann den Eintritt des Erwünschten nicht aufsparen, bis viele Geschlechter abgestorben sind, bis langsam, wie alles Organische, [73] die Kirche sich von selbst umwandelt; Bonaventura, den seine geistige und sittliche Hoheit vom deutschen Dorfpfarrer bis zum Pabst emporhebt, der statt eines römischen Zauberers ein Wunderthäter ist, warum sollte dieser nach bangem Ringen und Entsagen nicht endlich mit schon gebleichtem Haare die Krone seines Strebens erreichen, den Triumph der geläuterten Kirche?

Ich habe vorhin angedeutet, daß der Dichter mit der Freigabe des Bibellesens und andern Neuerungen die katholische Kirche der protestantischen nahe bringt; nur einzelne Eigenthümlichkeiten des Kultus, deren die Reformatoren in ihrem Ungestüm zu viele abgeschafft hätten, bleiben unberührt, wie z. B. die Messe, auch die Stufenleiter der Hierarchie bis zum Pabstthum. Wie freilich der Statthalter Christi, beraubt der weltlichen Macht, den alten Glanz seiner Würde zu bewahren hofft, ist so zweifelhaft, als der Werth der Messe, wenn ihr der Nimbus der Wandlung fehlen wird, weil die Bibelleser nicht mehr daran glauben können. Aber selbst mit der Autorität der Bibel nimmt es Gutzkow nicht so ernst, als er sich den Anschein gib; denn also läßt die Visionärin Paula den Träger der neuen Glaubenslehre sprechen, indem er als Bischof die Kinder firmelt: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erden, an die Liebe, die Erhalterin der Welt, gelehrt durch Jesus Christus, an den Geist der Wahrheit, der uns zur ewigen Hoffnung führt.“ Welcher Bibelgläubige wird noch die Stimmen der Evangelisten und Apostel in diesem abgeschwächten Credo erkennen, welches von der Person und Erlösungsthat Christi und von den Bürgschaften des ewigen Lebens kein Wort mehr zu sagen wagt? Stimmt solch ein Bekenntniß nicht vielmehr genau mit den behutsamen Aeußerungen der freien Gemeinden zusammen, welche den Kern des Christenthums weggeworfen haben, und sich oder andern einreden, die ausgeblasene Eierschale sei noch das Ei? In solchen Sätzen gilt kein Markten und Abdingen, kein Deuteln und Bemänteln; jeder ehrliche Theolog, sei er Protestant oder Katholik, wird den Pakt verwerfen, den der Deismus auf Grund der Bibel mit dem Christenthum eingehen will, und statt des Friedens, den [74] auf jene allgemeinen Bedingungen hin beide feindliche Mächte innerhalb der Kirche miteinander schließen sollen, würden die Gläubigen aus beiden Theilen, wie es ja bereits geschehen, gestützt auf ihr altes apostolisches Symbolum, sich eher zum gemeinsamen Kampfe gegen den Unglauben einer dritten Partei verbinden, welche ohne Berechtigung die Fahne der Christlichkeit entfaltet hat. Es erweist sich demnach das freundlich lockende Bild der Hoffnung, welches Gutzkow am Ende seines Romans aufrollt, gleichwol bei näherer Betrachtung als trügerisch, und die beiden Lager der Welfen und Ghibellinen werden fort und fort gegeneinander gerüstet bleiben, nur daß Freund und Feind ein anderes Feldgeschrei hat; auf der einen Seite Katholiken und Protestanten mit dem alten Christenglauben, auf der andern die Anhänger von Lebensanschauungen, welche unabhängig von diesem ihre Berechtigung in der Vernunft und freien Forschung suchen, und das alte blut- und thränenreiche Vermächtniß, die Spaltung von „Nord und Süd,“ welches der Dichter in der Einleitung beklagt, wird schwerlich durch seine Reformation des Katholicismus umgestoßen werden.

Gutzkow hatte bei seiner Dichtung die patriotische Absicht die nord- und süddeutschen Stämme einander näher zu bringen, weil er befürchtet, daß durch die Fortdauer dieses Gegensatzes „Sprache, Bildung, Nationalität, Volkswohl uns genommen werden und früher oder später die Stunde da sei, wo entschieden wird, ob die Welt den Slaven, Celtoromanen oder Germanen gehöre.“ Allein der alte Zwist zwischen Nord- und Süddeutschland beruht minder auf dem Unterschiede der Confessionen, die in weiten Strichen beider Hälften friedlich nebeneinander sitzen, wie denn der Dichter selbst Westphalen und die Rheingegenden zum Wohnsitz der katholischen Richtung in seinem Roman auserkor, als in den verschiedenen Lebensanschauungen, welche durch, das Vorwalten von Verstand oder Gemüth bedingt sind, in der Macht der Sitte, dem Geiste der Regierungen, den Ansprüchen der Staaten und andern weltlichen Anlässen zu Reibungen und Conflikten, die jedoch heutzutage bei einem gewaltsamen Andrang des Auslandes alsbald verschwinden würden. [75] Die alten Parteien aus den Zeiten der Reformation und des dreißigjährigen Krieges vermögen keinen länderverheerenden Sturm mehr zu erregen; heute wie künftig streitet man durch ganz Europa nicht um untergeordnete Fragen des Bekenntnisses, sondern um Freiheit oder Knechtschaft auf allen Gebieten des Denkens und Lebens; es ist ein Krieg zwischen zwei unversöhnlichen Feinden, in welchem selbst die Nationalitäten bald nur noch leicht in die Wagschale fallen werden. Wenn es erlaubt ist, mit Gutzkows Lieblingsausdrücken „Welfen“ und „Ghibellinen“ weiter zu spielen, so möchte ich mit dem ersten Wort allerdings ebenfalls die blinden Anhänger der Autorität bezeichnen, aber die blinden Trabanten einer herrschenden Staatsgewalt ihnen eben so gut beizählen, als die ganze Gefolgschaft des katholischen wie protestantischen Kirchenthums, während die Ghibellinen durch alle Nationen verbrüdert die Freischar in Staat und Kirche bilden, welche jedem Zwange den Gehorsam gekündet hat. Aus dieser luftigen Perspektive der Zukunft gesehen, dünken uns freilich die Probleme, welche in unserem Romane Gedanken und Gewissen verwirren, ziemlich geringfügig und die Art ihrer Lösung mitunter gleichgiltig.

Auch Gutzkow selbst wird unserem Urtheile beipflichten, aber mit Fug entgegnen, aus solcher Höhe gewinne man keinen genauern Blick in das Getriebe des wirklichen Lebens; der Dichter müsse seine Gebilde aus dem Material der Thatsachen gestalten; sonst schaffe er fleischlose Schemen. Darum habe er es vorgezogen, statt jene Streiter der Freiheit, jene „Ritter vom Geiste,“ zu wiederholen, solche Personen und Verhältnisse zu zeichnen, welche dem Charakter eines bestimmten Landes, den Beschränkungen durch Erziehung und Kultur entsprächen, und lieber diese in Kämpfen um kleine, aber wirkliche Güter sich abarbeiten, als in stolzen Plänen sich verflüchtigen lassen. Dieser Realismus der Anlage schafft und nimmt dem Werke seine Lobredner; der Freund kirchlicher Studien wird es preisen; denn es legt namentlich die katholische Welt nach Stand und Bildung, Glauben und Leben mit wahrhaft bewundernswerther Anschaulichkeit und Vielseitigkeit auseinander, so [76] daß man sich wundert, wie Gutzkow, ein Kind des protestantischen Berlin, zu einer so erstaunlichen Fülle von Detailkenntnissen auf einem Gebiete gekommen ist, für dessen dämmerige Zustände man bei einem solchen, namentlich aber auch bei einem Freigeiste wie er, natürliche Liebhaberei gar nicht voraussetzen kann. Jede Richtung und besondere Erscheinung des Katholicismus hat hier ihre Stätte gefunden; die ganze stürmische Zeitströmung seit den Streitigkeiten der preußischen Regierung unter Friedrich Wilhelm III. mit dem Erzbischof von Köln, die ganze Reaktion der Kirche gegen die Staatsgewalt spiegelt sich in einem figurenreichen überaus kunstvoll componirten Bilde wieder.

Das entschiedene Vorherrschen des katholischen Wesens, der erbitterte Streit um seine Vollberechtigung gegenüber einer nichtkatholischen Regierung und einer widerstrebenden religiösen Gegenpartei gibt dem Werke sein Hauptinteresse; aber es sichert ihm eben unter den denkenden und nicht bloß genießenden Lesern nur das dauernde Wohlgefallen derer, welche an der Behandlung kirchlicher Fragen Gefallen und den Unterricht über kirchliche Zustände anziehend finden. Männer aus praktischen oder realwissenschaftlichen Berufskreisen, deren Denken und Thun dem theologischen Treiben fern liegt, habe ich nie über den Zauberer von Rom diskutiren hören; das gewöhnliche Publikum aber verliebt sich etwa in Bonaventura oder Benno, Paula oder Lucinde und gibt das viele Pfaffenwesen der Vergessenheit Preis. Diese Erfahrung habe ich wenigstens in meiner protestantischen Umgebung gemacht, der für die Theilnahme an den katholischen Anschauungen, Zweifeln und Kämpfen der Sinn abgeht. Das Werk als Ganzes zu würdigen und nachzuempfinden mag nur wenigen gelingen, weil die Mehrzahl der Romanleser zu weltlich oder bornirt in ihrer eignen Confession oder auch dem Christenthum überhaupt zu fern gerückt ist, um an dem einseitigen Parteiwesen in einer ihnen fremdartigen Welt wirklich Geschmack zu finden.

Viel günstiger, um Lärm zu erregen, waren die „Ritter vom Geiste“ organisirt; eine äußerst bunte Gesellschaft aus allen Berufsarten zusammengewürfelt, deren jede ihre besondern Ziele verfolgt, [77] einigte sich nur in den allgemeinsten Grundsättzen über die Verbesserung des bürgerlichen Lebens; da konnte jeder Leser in einem der Repräsentanten sich selbst wieder finden und in seiner Weise mit dem Dichter schwärmen. Hier dagegen stoßen wir überall auf Geistliche, seien es Priester oder Pfaffen, und außer ihnen fast nur auf einen Adel aus großen Grundbesitzern, dessen Interessen und Passionen unsere Neigungen gleichfalls nur wenig berühren. Religiösen Händeln, peinlich genug im Leben, möchten wir in der Dichtkunst am liebsten aus dem Wege gehen; ob der männliche Stammhalter von Salem-Camphausen katholisch werden muß, um sich aus dem Verfall zu retten, oder die letzte Gräfin von Dorste-Camphausen den Entschluß fassen kann auch dem Protestanten zu folgen, obgleich sie den edelsten und schönsten Mann aus ihrer eigenen Priesterschaft platonisch liebt, ist ein Problem, dessen Lösung mit warmem Antheil zu begleiten der Menge kaum zugemuthet werden kann; der endliche Sieg des Protestantismus in der Taufe des Knaben, der dieser gemischten Ehe entsprungen, wird vorurtheilsfreie Confessionsgenossen gleichfalls ziemlich kühl lassen, weil sie für die Fehler ihrer Kirchengemeinschaft nicht blind sind. Eher möchten sie wünschen, daß es Gutzkow gelungen wäre, eine dritte Form der Kirchlichkeit aufzufinden, die alle Streitenden einte, und dieses Kind als Erstling dem neuen Glauben darzubringen, der beide Eltern verbunden. Solchen Ausgang verschmähte er wol mit Absicht als zu phantastisch und unwahrscheinlich, da er über Inhalt und Form der neuen Religion nicht im Reinen und von der Möglichkeit eine solche den verschiedenartigen Elementen unserer Gesellschaft anzupassen nicht überzeugt war.

So haben also mancherlei Ursachen verhindert, daß der Roman, den wir besprechen, die gleiche Begeisterung erregte, wie der frühere; die ungünstige, getheilte Zeitstimmung, das Vortreten der confessionellen Frage, für welche die einen zu wenig, die andern zu einseitig Partei nehmen, die unbefriedigende Entscheidung derselben, welche nach der Ansicht der Denkenden wieder zur Quelle unabsehbarer neuer Zwiste werden müßte, endlich die Bevorzugung einzelner den [78] meisten Lesern fernliegender Stände und Verhältnisse. Aber auch der Umstand kommt in Betracht, daß er der Form nach der zweite Roman der nemlichen Gattung war. Wenn in den „Rittern vom Geiste“ mit jedem neuen Bande wieder neue Figuren in das künstlich angelegte Gewebe verflochten wurden, abenteuerliche Gestalten, welche die Handlung hemmten oder weiter schoben, so bewunderte man die Phantasie und die Kunst des Dichters, der eine so reiche Schöpfung wohlgeordnet vor unsere Augen zauberte; wenn er aber zum zweitenmale mit eben den Mitteln wirkt, so fehlt der Reiz, den alles Erste macht. Allerdings gesellte er zu der wohlvertheilten Menge der Spielenden hier noch das neue Interesse eines ungeheuer erweiterten durch alle seine Theile schon an sich merkwürdigen Schauplatzes: das ziemlich unbekannte und doch urdeutsche Westphalen, das heitere Rheinland, Würzburg, Wien, die Schweiz, Piemont, Nizza, Rom, seine Küste und seine Campagna, Neapel, sogar die Südspitze Calabriens nehmen abwechselnd und vom Gleichgiltigern zum Bedeutendern fortschreitend die wichtigsten unter den Personen auf; die prächtige Scenerie hebt wie bei neuen Opern die Handlung; aber diese reizende Zugabe von Dekoration reicht in ihrer Wirkung doch nicht an jenen berauschenden Genuß der ersten Composition, der gewiß jedem Leser der „Ritter vom Geiste“ aus alten Tagen noch unvergeßlich ist.

Bei alledem steigt „der Zauberer von Rom“ in meiner Bewunderung hoch empor durch seine sittliche Bedeutung, die unabhängig ist von dem lauen Beifall der Menge. In „den Rittern vom Geist“ erging sich das aufgeregte Zeitbewußtsein oft in redseligen Declamationen von Helden, an deren Berufe zur Weltverbesserung der Bedächtige Anstand nehmen mochte; hier aber sind Kämpfe mit alten Mißbräuchen auf die Schultern von Menschen gelegt, an deren Ernst und Begabung wir glauben. Männer und Frauen leiden unter dem Drucke naturwidriger alter Satzungen, ringen sich langsam los von Vorurtheilen, mit denen verkehrte Erziehung ihr Gewissen belastete, opfern ihr Lebensglück der unbeugsamen Satzung, ringen und streiten für unveräußerliche Rechte der Völker und er-[79]zielen im Laufe der Zeiten zwar nicht das Höchste, doch einen bedeutenden Fortschritt. Gerade dadurch, daß sich unser Roman an die Wirklichkeit hält, gewinnt er am Ende auch einen wahren Erfolg, der auf das Leben übertragen die christlichen Völker weiter fördern würde. Aber auch rein künstlerisch betrachtet hat „der Zauberer von Rom“ einen ganz entschiedenen Vorzug schon in der Anlage gerade durch seine Einseitigkeit und Beschränkung erhalten. Der engbegrenzte Vorwurf gab die Möglichkeit an die Hand den Stoff in wenige lichte Hauptpartien zu ordnen und die gegenüberstehenden Parteien zunächst durch ein gemeinsames sittliches Streitobjekt zu verknüpfen, dessen Bedeutung erst dann in den Hintergrund tritt, wenn der Kampf auf einem größern Schlachtfeld und mit stärkern Kräften weiter gefochten wird.

Durch den größern Theil des Romans ist, wie in „den Rittern vom Geiste“ ein Prozeß der eigentliche Mittelpunkt der Handlung, ein Erbschaftsstreit um große Güter. Wie gewöhnlich im Leben verschlingen sich die geistigen Interessen so eng mit den materiellen, daß beide ein untrennbares Ganzes bilden und man kaum mehr sagen kann, ob dieses oder jenes die Hauptsache. Der weitläufige Besitz der katholischen Linie Dorste-Camphausen erwartet – so will es wenigstens die Intrigue der Schelme zugleich mit der Hoffnung der rechtgläubigen Umwohner – einen katholischen Erben. Man spricht von einer alten Urkunde, welche beim Fehlen männlicher Nachkommen diese Güter nur unter der Bedingung der andern Linie zuerkennen soll, daß der in Aussicht stehende Erbe desselben Glaubens sei. Ist ein solches Pergament vorhanden? Graf Hugo von Salem-Camphausen, der Protestant, der nach sonstigem Erbrechte Besitz zu ergreifen berufen ist, bestreitet es; der Prozeß läßt sich für ihn günstig an; denn die Urkunde will sich nicht finden. Da weiß der gegnerische Advokat, ein Ausbund frivoler Gesinnung, ein Mittel, das zum Ziele führt; er läßt eine Urkunde fälschen und in der Verwirrung eines gestifteten Brandes unter andere Papiere des Schloßarchives verbergen und bald darauf bei nochmaligem Nachspüren hervorziehen. Gemeiner Betrug bringt [80] den rechtmäßigen Bewerber um seinen Anspruch; die Verlegenheiten der Verarmung zwingen ihn die Scheinehe mit der nunmehrigen Erbin zu schließen, die im Seelenbunde mit dem vortrefflichsten aller Priester, ihre Tage in einem Kloster zu beschließen sich vorgesetzt hatte. Bonaventura, der von Stufe zu Stufe höher steigt, bleibt in dem unnatürlichen Verhältniß eines Geliebten und Liebenden, der Liebe weder geben noch nehmen darf, still angebetet von Paula, geschützt von deren Gatten, bis endlich die Neigung der beiden Eheleute der Pflicht zu Hilfe kommt und das Gebot der Ehe doch noch, über die Verwirrung der Herzen den Sieg gewinnt. Damit der indolente Ehemann nicht verächtlich erscheint, hat ihm der Dichter den Lebensgenuß schon voraus und gerade in der Zeit, wo er den Vertrag der Scheinehe eingeht, noch die Erinnerungsqual an die erschütternde Katastrophe seiner Freundin beigegeben. Fast dünkt es mir, als wäre die reizende und ach so schnell entschwindende Erscheinung Angiolinens nur dazu vorgeführt worden, um Hugo wegen der spätern Vernachlässigung der gegenwärtigen Paula zu rechtfertigen. Denn im Grund ist sie eine ganz unnütze Figur, auf deren Erscheinen man lange vorbereitet war, um sie dann als Todte zu sehen. – An das Geschlecht der Camphausen, das in zwei Linien verzweigt, den Zwiespalt der Confessionen und dessen bürgerliche Folgen darstellt, schließt sich ein zweites nicht minder wichtiges und durch die Verschiedenartigkeit und Begabung seiner Glieder mächtig eingreifendes, das der Asselyn. Bonaventura, die am meisten hervorragende Person in ganzen Roman, ist ein Asselyn, und sein Vater Friedrich, der verschollene, angeblich auf einer Alpenreise verunglückte, der zuletzt so bedeutsam hervortritt, hat sich dem katholischen Ehegesetz, welches sein großer Sohn nicht überwinden kann, gleichfalls zum Opfer gegeben. Bonaventura muß als Priester der Ehe entsagen, Friedrich entzog sich der Welt, um der Gattin die zweite Heirat mit seinem Freunde möglich zu machen, an welchem sie schon bisher mehr als an dem träumerischen Mann eine bürgerliche Stütze gefunden. So werden gerade an dieser Familie zwei Mängel des Katholicismus sichtbar, der Cölibat und die Unauflöslichkeit [81] der Ehe zwei Einrichtungen, deren jede einen pflichttreuen Menschen um sein Lebensglück betrügen kann.

Ist Bonaventuras Vater aus Aufopferung für die Frau vom Schauplatze der Welt verschwunden, so zeigt dagegen die Familie der Hülleshoven andere phantastische Unregelmäßigkeit des Daseins: zwei Gatten, welche viele Jahre lang getrennt leben, weil sie sich abstoßen, treffliche aber eigenwillige Menschen, starr auf ihrem Sinne; Monika mochte dem Ulrich von Hülleshoven, den sie ohne Liebe geheiratet, nicht in seine Garnison folgen. Bruder und Schwester des feindlichen Paares stehlen dessen Kind und behalten es zurück als Unterpfand der Versöhnung; weder Vater noch Mutter soll die lieblich aufblühende Armgart besitzen, sondern nur, beide. Diesen Grundsatz bildet sie, die in überspannter klösterlicher Erziehung aufwächst, mit den Jahren selbst in sich weiter aus und betrachtet die Wiederherstellung der elterlichen Eintracht als eine Art Lebensbestimmung, für welche sie Glück und Hoffnung hingeben zu müssen glaubt. Fliehend vor Vater und Mutter, so lange nur eines nach ihrem Besitze strebt, spart sie den Preis ihrer Person für beide auf, ja sie weist die Werbung von zwei werthen Jünglingen ab und sucht den Mann zu fesseln, welchen sie haßt, lediglich um seine Gunst von der Mutter abzulenken, die sie ein für allemal zum Vater zurückzuführen entschlossen ist. So entsagt das edle junge Wesen den eigenen Ansprüchen ans Leben aus einer Grille, die sie für heiligen Beruf erachtet, und verscherzt für immer die Freuden einer glücklichen Zukunft, ein neues Beispiel von den unseligen Wirkungen, die das katholische Dogma von der Unauflöslichkeit des Ehebundes im Gefolge haben kann.

Allerdings fordern solche strenge Satzungen die minder Gewissenhaften nur zu ihrer Uebertretung heraus, und so bietet auch unser Roman wie die Wirklichkeit neben seinen Mustermenschen Exempel die Fülle von solchen, die mitten im Schoße der Kirche sich über den Katechismus leichtlich hinwegsetzen, Priester vom Dorfgeistlichen hinauf bis zum Cardinale, die sich das Leben bequem und anmuthig gestalten, und während sie den Taumelbecher der Lust [82] bis zum Grunde leeren, den Heiligenschein der Enthaltsamkeit um sich breiten, oder auch einmal an Pflichtvergessenheit gewöhnt, selbst diese Vorschrift nicht mehr für nöthig halten. Laien, die in Macht und Reichthum schwelgend des sechsten Gebotes nach allen seinen Ausdeutungen spotten, wie jener Kronsyndicus, der alte Freiherr von Wittekind-Neuhof, der gewaltige, der in jungen Tagen zur Zeit der französischen Herrschaft das ganze schöne Geschlecht zu seiner Verfügung glaubte, und einst mit lustigen Brüdern selbst aus der Trauung eine Posse machte, um sein Ziel zu erreichen. Dieses freche Spiel mit dem Heiligen erzeugte dann wieder, wie jede böse Saat, nur ungesunde Früchte. Der Jude, der die Trauung vollgezogen, wird genöthigt zum Christenthum und in den geistlichen Stand überzutreten; aber er verwaltet die Sakramente ohne die echte Absicht und bringt ihre Empfänger um deren wahren Segen, also daß sich gerade der vorzüglichste Priester nachher Jahre lang mit dem Bedenken herumschlagen muß, er sei ungiltig getauft, und demnach bleiben die kirchlichen Funktionen, die er je an andern vollzogen, gleichfalls ungiltig.

Die adelichen Geschlechter der Camphausen, Asselyn, Hülleshoven und Wittekind in ihren gegenseitigen Verbindungen und Herzenskonflikten mit der bürgerlichen und kirchlichen Ordnung, bilden die Grundlage unseres Romans; westphälische Familien, welche das Gepräge ihres Volksstammes im Glauben und im Leben tragen, der starr und fest am Herkommen haftet, ein Feind aller Neuerungen durch Industrie und moderne Wissenschaft, tüchtig und gediegen, hart und unbeugsam, mit der Muttererde verwachsen und wenig geneigt über ihre Grenzen hinauszuspähen. Dieses deutsche Patriarchenland, in welchem Varus einst dem Hermann unterlegen, ist uns so gut wie fremd, weil seine eigenartigen Bewohner sich der Tagesgeschichte entziehen, ein trefflicher Boden für eine Dichtung, deren wichtigste Träger in Tugenden und Verirrungen originelle und entschiedene Menschen sein sollten. Dazu ist Westphalen gut katholisch, überhaupt konservativ, und Bildung und Gelehrsamkeit schlägt, wenn sie irgend Platz greift, eine wunderliche Richtung [83] ein, wie beim philosophischen Dilettantismus Püttmeyers und beim antiquarischen und naturwissenschaftlichen des Onkel Levinus; dagegen für Priesterthum und Möncherei ist dieses Land der ergiebigste Boden. Es sei denn, daß wir das heilige Köln ihm an die Seite setzen, wo die Schar der Römlinge nicht minder gedeiht. Dort residirte ja der Kirchenfürst, der mit der protestantischen weltlichen Gewalt in hartnädiger Fehde lag – Priester Imanuel, ehedem Graf Truchseß von Gallenberg, nennt ihn der Dichter – ein Geistlicher, der etwas vom Bauernadel an sich hat; er machte den Eindruck eines Oberjägermeisters alten Stils und beweist dem königlichen Schreiben so wenig Respekt, daß er es uneröffnet bei Seite legt. Als ihn die rohe Staatsgewalt auf eine Festung bringt, erträgt er sein Schicksal mit der Hobeit eines Mannes, der seiner Würde nicht das geringste vergibt, indeß seine frühere Wohnstadt in Sack und Asche um sein Märtyrerthum trauert.

Aber in Köln tritt neben dem geistlichen Stande doch noch sin anderer in den Vordergrund, der Kaufmannsstand, dessen Würde und Tüchtigkeit, Scheinbildung und selbstbewußte Gewinnsucht Gutzkow in den verschiedenen Gliedern des Kattendyk’schen Hauses treffend gezeichnet bat. Der Einfluß der Geistlichkeit macht sich aber auch auf diese Kreise bemerkbar; Frau Delring, die schwermüthige und gemüthvolle Tochter der oberflächlichen aber sehr frommen Frau Commerzienräthin, will das Kind, von welchem sie nach zehnjähriger kinderloser Ehe Mutter zu werden hofft, ihrem biedern Gatten zu Gefallen protestantisch erziehen lassen und erleidet darob im Haus und Gewissen mancherlei Anfechtungen. Sorge und Hader war hier freilich umsonst; der Tod rafft Kind und Mutter weg, und die Kirche hatte, wie so oft, die letzten heitern Tage reinem guten Wesen nutzlos getrübt. Leichter weiß sich der geniale Piter mit Familie und Glauben auseinander zu setzen. Er holt sich das arme Trudchen aus dem Kloster, wohin Schwester Beata das unerfahrene Kind beschwatzt hatte, und lebt mit ihr glücklich fort in Paris. Das Kattendyk’sche Kaufmannshaus steht bei aller Breite der Schilderung, die ihm gewidmet ist, [84] mit den Hauptpersonen des Romans nur in losem Zusammenhang, wie so manche andere Familien, welche episodisch dem figurenreichen Menschengemälde eingefügt sind; und doch möchte ich dasselbe nicht missen, weil es den adelichen Geschlechtern gegenüber eine hübsche Darstellung des höhern Bürgerstandes bietet und auch den Einfluß zeigt, welchen die Kirche über die verschiedenen Glieder der Geldaristokratie gewonnen hat. Dies sind, so lange unser Roman in den nördlichen Gegenden Deutschlands spielt, die wichtigsten Familien, an welche nun eine Reihe von einzeln stehenden Leuten sich anheften, junge hoffnungbietende Männer und Frauen, herumschweifende Abenteurer, Geistliche jeder Gattung, Mönche und Nonnen. Es fällt bei näherer Betrachtung des Werkes die übergroße Anzahl von solchen auf, die mit dem Leben gebrochen oder in ihm sich noch nicht befestigt haben, und durch ihre Vielgeschäftigkeit etwas Ruheloses hereintragen, welchem die wenigen stabilen Menschen nicht die Wage halten können. Ja genau genommen haben wir nirgends ein Familienleben, außer etwa im Hause des unwichtigen protestantischen Pfarrers, wohin der geisteskranke Kammerherr zur Cur gegeben ist. Auf Schloß Westerhof haust ein Hagestolz und hat über seinen wissenschaftlichen Liebhabereien die mit ihm alternde Freundin zu heiraten vergessen; auf Neuhof ein greiser zuletzt faselnder Tyrann, von dessen früherem Lasterleben nur die Sage meldet; sein Stamm im Aussterben; denn der Präsident hat keine Kinder, und der blödsinnige Kammerherr fällt im Duell; die edeln Geschlechter der Hülleshoven und der Asselyn ebenfalls nur in ihren letzten Repräsentanten sichtbar und mit Ausnahme des alten Dekans von S. Zeno fortwährend auf der Wanderung; alle süßen Bande entweder durch den Tod oder durch einen eigenwilligen Geist gelöst; die vielen Menschen, welche die Dichtung aufbietet, beinahe sämmtlich unfähig ein gottgefälliges Haus zu bauen, als wäre diese ganze zerfallene Generation mit einem Fluche belastet. Mit Ausnahme des endlich gewonnenen Sprößlings von Hugo und Paula, des Kindes der Zukunft, und der niedlichen Gestalt eines Mädchens von Hedemann, die wie ein Rosenstrauch auf Gräbern bei der [85] sterbenden Gräfin und dem siechen Vater steht – den verwachsenen Knaben der Hasenjette können wir nicht in Betrachtung ziehen – erscheint im ganzen Romane kein Kind; und Kinder sind es doch allein, die der Vergänglichkeit unseres Daseins ihre Schauer nehmen, indem sie demselben wenigstens eine unabsehliche Perspektive eröffnen. Dagegen drängen und kämpfen sich durch den Roman eine Menge von Einzelgestalten fertiger oder Halbfertiger Menschen, disputiren, intriguiren, lieben, hassen, bauen Luftschlösser und zerrinnen selbst, nachdem sie eine Weile in bunten Farben geschillert, in nichts wie Seifenblasen. Das geistige Ziel der Kirchenverbesserung ist das Einzige, was nach neun Bänden voll Arbeit erreicht wird; alles Ringen um die Güter und Freuden der Erde, um bürgerliche Wohlfahrt und behagliche Sicherheit erweist sich als eitel; jedes Fahrzeug, wenn auch mit Umsicht und Kraft gerudert, zerschellt an irgend einer Klippe, und die trübselige Erfolglosigkeit so vieler Mühen ist, neben dem Zweifel an einer wirklich gedeihlichen Kirchenreformation, eine weitere Ursache des Mißbehagens, mit welchem viele die vortreffliche Dichtung aus den Händen legen.

Wir sind einmal gewohnt, daß die jungen Leute, welche in einem Romane sich durch mancherlei Hindernisse eine Bahn zu brechen suchen, daß wenigstens die Hauptpersonen unter ihnen schließlich triumphiren. So will es die poetische Gerechtigkeit und der Glaube an eine sittliche Weltordnung, dem allerdings der regellose Weltlauf mitunter widerspricht, aber ein Dichter sich nicht geradezu entgegenstellen darf, weil die Poesie, ohne von sich selbst abzufallen, sich dem Glauben an eine vernünftige und billige Ausgleichung zwischen Tugend und Glück nicht entschlagen kann. Nun haben wir hier eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten, Jünglinge voll Geist und Herz, Mädchen voll Anmuth und Liebeszauber; man zieht sich an, wirbt und wird umworben, verliert nutzlose Jahre, die Blüthe welkt, das Ideal verbleicht, das Leben fällt im Sturm oder verliert sich schleichend im Sand mit Entsagung. Wozu, fragt der Leser zuletzt, in seinen Erwartungen betrogen, so viel Aufwand [86] um nichts? Benno und Thiebold, die unzertrennlichen, gleich David und Jonathan, denen der Verfasser offenbar den entschiedensten Gemüthsantheil zugekehrt hat; warum muß der eine in den Armen einer launischen Hexe die besten Jugendjahre vergeuden und dann weggerafft werden von der tödtlichen Kugel? Warum der andere als reicher Garçon, guter Laune, gefällig alles zum Besten wendend zwischen den letzten Trümmern seiner schönen Vergangenheit hin und herreisen, indeß die Freundin von beiden, die schöne muntere Armgart, bei den Eltern altert, vergrämelt, um den todten Geliebten trauert, dem sie seit vielen Jahren im Stillen ihr Leben geweiht und in den letzten Momenten erst die brennende Neigung bekannt hat? Welche Mühe ist auf die Bildung, Läuterung, Abschleifung, Bereicherung dieser Charaktere gewandt, wie haben sie die allgemeine Theilnahme erregt und in Hoffnung und hoher Aussicht der Jahre schönstes Stufenalter erstiegen um dann durch jähen Sturz als ein Spielwerk des Zufalls zu verenden oder mit trüben Augen langsam hinabzusteigen in die Oede, die keine Blume trägt!

Lucinde vollens, die mißhandelte, von den besten Männern gemiedene, von den Frauen gehasste, mit den reichsten Geistesanlagen ausgerüstete, mit den umfassendsten Kenntnissen glänzende, von Ehrgeiz flammende, auch in den zweifelhaftesten Lagen sich in ihrer Würde behauptende, bei aller Menschenverachtung so liebesbedürftige Lucinde, warum mußte sie, umhergeworfen und gepeinigt, von Land zu Land irren, von Noth zu Hoheit steigen, von Hoheit zu Noth niedersinken, um zuletzt ihr denkendes ruheloses Hirn auf dem Straßenpflaster zu verspritzen? An Lucinde hat Gutzkow ein Wesen von wunderbaren Reizen geschaffen, welche sogar gegen die Richtigkeit seines eigenen abschätzigen Urtheils siegreich kämpfen. Sonderbar der Erklärer dieses Charakters ist auch der Zeichner; man sollte daher jeden Zweifel an der Richtigkeit seiner Erklärung für unberechtigt halten; aber die Zeichnung hat weit mehr Idealität, als der Ausleger uns glauben machen will; sein eigenes Geschöpf ist ihm über seine Absicht hinausgewachsen. Der Mann muß noch geboren [87] werden, der sich von einer Lucinde nicht fesseln läßt, der ihre Fehler nicht zum größten Theile dem Schicksal aufbürdet. Als dreizehnjähriges Mädchen aus den dürftigen Verhältnissen eines Landschullehrers gerissen, lebt das unerfahrene Kind, gleich beim ersten Versuch zum Eintritt ins Leben betrogen und verschüchtert, als Magd zwei jammerhaft elende Jahre bei einem alten geizigen und schlechten Weibe; aus den Krallen dieses Drachen befreit, wird sie von einem unwürdigen Verhältniß in das andere geworfen und lernt Menschenverachtung unter der Form von Menschenkenntniß; Talent, Ehrgeiz und Gelegenheit verschaffen ihr einen ungewöhnlich hohen Grad wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung; abenteuerliche Schicksale bringen sie ohne ihre Schuld in die buntesten und mitunter sehr bedenkliche Verbindungen, aus denen sie allezeit noch rein hervorgeht; erst Geliebte eines Diebes, wird sie dann Schutzgeist eines Halbverrückten, dann Braut eines verliederten Genies, hierauf liebende Pflegerin eines sterbenden Schauspielers, und da mit zunehmender Einsicht in die Welt ihr Herz immer höhere Ziele sucht, Schwärmerin für einen Priester, dem sie zwar nie als Gattin an gehören kann, aber trotz aller sonst berechnenden Klugheit mit einer Glut der Leidenschaft huldigt, welche ihr über den Schritt des Confessionswechsels spielend hinweghilft. An dieser Stelle freilich scheint uns der Dichter das kaum Mögliche zuzumuthen: ein kluges Mädchen, welches „jede Situation beherrscht,“ soll ohne das geringste Zuthun von des Mannes Seite, der sogar eine andere Liebe hegt, sich blindlings diesem Mann aufdrängen und aus Schwärmerei für ihn den auffallenden Schritt einer Glaubensänderung thun, obschon sie mit Bestimmtheit weiß, daß er sie niemals heiraten kann! soll ihm anhangen mit hündischer Treue, obschon sie sich von ihm mißachtet und mißhandelt und eine andere geliebt weiß! soll ihm nachreisen und seinen Lebensgang umwachen, ihn warnen und schirmen, soll das Rachegefühl unterdrücken, zu welchem verschmähte und gedemüthigte Liebe sie anreizt und zu dessen Befriedigung ein günstiger Zufall ihr die Mittel in die Hand geliefert hat! Was gibt Bonaventura das Recht zu ihrer schnöden Abweisung von seinem [88] Beichtstuhl, als sie mit der Macht des Gefühls im schweren Kampfe liegt und ihm all ihre Sündhaftigkeit bekennt und nur nicht ihre Liebe? Was berechtigt Armgart zu ihrem sittlichen Grauen, zumal sie nachher selbst den Brief liest, den Lucinde nur ihr zu Gefallen erbrochen hat? was Benno zu seiner Geringschätzung, ihn der der eigenwilligsten und frechsten Creatur gegenüber Jahre lang eine so bedenkliche Schwäche zeigt? Dem Leser erscheint Lucinde, gerade weil der Dichter selbst über sie zu hart urtheilt, als Liebende, welche die schönsten Gaben des Körpers und der Seele nur dazu besitzt, um allenthalben dem Haß und dem Neid anheimzufallen. Er nennt sie einen gemischten Charakter; aber wer von uns, den der Strudel des Lebens erfaßt hätte wie dieses Mädchen, würde von der Beimischung unlauterer irdischer Elemente weniger Spuren an sich tragen? Jeder, der so frühzeitig auf die eigene Kraft angewiesen ist, um sich emporzuarbeiten, und so reich an Naturgaben jeder Art, die er zu diesem Zwecke benützen kann, wird zwar den müßigen Kindern des Glückes sehr unähnlich werden; aber das Auffallende bleibt an ihm noch immer ehrenwerth, wenn es die Schranken der Sitte nicht nach dem Unmoralischen hin überschreitet. Außer dem Schicksal kommt dann noch weiter in Betracht die Besonderheit der Anlage. Lucinde konnte nur sehr schwer weinen und hatte etwas Wühlendes und Unruhiges; wohl! so war sie eben eine auf Verstand angelegte, keine sentimentale Natur. Sie hatte als blühendes hochbegabtes Mädchen, dem noch kein Mann und am wenigsten der phantastische Schönredner Klingsohr imponirte, die allerdings etwas eitle, aber leicht entschuldbare Vorstellung von sich, daß ihr im Leben irgend ein weit größeres Ziel beschieden wäre, und daß alle ihre bisherigen Begegnungen nur dazu dienten, ihre Entwicklung zu fördern. Weil ihr nun die Menschen wie Puppen erscheinen, die sie nicht achten kann, so überläßt sie sich zuerst in jugendlichem Uebermuth einem allzufreien Benehmen, das ihr die Gunst der Philister entzieht, aber doch die Schranken der Sittlichkeit einhält und Hand in Hand geht mit der größten Gutherzigkeit, welche Gold und Gelde hinwirft für die Bedürfnisse eines armen [89] kranken Mannes. Ihr gesundes Wesen zieht sich mit eben dem Abscheu schaudernd zurück von dem moralischen Lumpen und Opiumraucher Klingsohr, mit dem es später den Aufdringlichkeiten eines Nück entflieht, dessen raffinirte Sinnlichkeit ihren Besitz als ein Heilmittel seines verirrten Triebes begehrt. Daß Mitleid und Bewunderung sie an den kranken Serlo fesselt, ist aus der natürlichen Schwärmerei der Jugendjahre erklärlich; aber, wie ich schon vorhin andeutete, die eigensinnige Liebe zu Bonaventura ist bei einem bereits so herangereiften Charakter kaum mehr glaublich.

Doch lassen wir es gelten, Lucinde ist, um einem Priester nahen zu können, katholisch geworden, ein falscher Schritt, der den zweiten gleich in seinem Gefolge haben mußte, daß sie, um der Welt allen Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Bekehrung zu benehmen, auch eine recht eifrige Katholikin spielt, so möchte ich ihr doch die Maske der Demuth, die sie nun weiter vornimmt, nicht eben in dem Grade verargen, wie der Dichter, nachdem sie durch vielfache Erfahrung erkannt hat, daß in ihrem bisherigen Benehmen besonders für Frauen etwas Herausforderndes und Verletzendes liege. Die arme auf ein dienendes Verhältniß angewiesene will ja mit dieser anspruchlosen Art zunächst nichts weiter als ihre Stellung sichern und eine gewisse Herrschaft im Hause, zu der ihre hervorragende Begabung nun einmal hindrängt. Wie leicht müßte ihr’s geworden sein, sich den beschränkten Piter selbst zu erobern! sie aber fördert uneigennützig seine Neigung zu dem lieblichen Treudchen. Als nun Bonaventura Domherr geworden, ist sie seine erste Beichtende; aber sie vermag es nicht, ein Wort hervorzubringen, sondern sie, der die Thränen sonst so schwer fließen, weint wie über zwanzig Jahre eines verfehlten Lebens. An der Macht ihrer Liebe findet ihre Freiheit, mit der sie im übrigen nach Willkür zu schalten pflegt, eine Schranke, ja sie selbst wird sittlich gehoben, indem sie sich an den sittlichsten der Männer hinanzuranken strebt.

Es liegt in ihrer Natur eine Unternehmungslust und Kühnheit, welche weit über das Gewöhnliche hinausgreift, und die Lebenskämpfe haben dieselbe nach und nach so groß gezogen, daß sie [90] vor der Berührung mit bedenklichen Charakteren nicht mehr lange fräulich zurückbebt; allein die Vortheile, die ihre Spürkraft und ihre oft zufällige Verbindung mit schlechten Menschen gewinnt, verwendet sie niemals zum Schlechten, höchstens spart sie dieselben zum eignen künftigen Gebrauch auf, um sich gegen die feindliche Welt zu behaupten. Zuweilen bringt ihre natürliche Gutmüthigkeit sie in Gefahr, Verdacht und Mitwissenschaft von verbrecherischen Planen, an welchen ihr ungerechterweise selbst die Guten Betheiligung zutrauen, indeß sie sich nur ängstlich bemüht deren Vollzug zu verhindern. Hierher gehört z. B. ihre Bekanntschaft mit Bickert, dem Leichenräuber- und Brandstifter, ihre Kenntniß von Nücks Fälschung der Urkunde, ihr alleiniges Geheimniß von Bonaventuras ungiltiger Taufe u. s. w. Nun legt es ihr der Dichter mit Unrecht zur Last, wie sehr sie durch ihre Verwicklungen in dies und jenes strafbare Unternehmen compromittirt sei; der Leser ist besser unterrichtet und nimmt Partei für die Verkannte. Sie schreibt z. B. an Bonaventura einen Warnbrief. Was sollte er thun? heißt es weiter; der Rath Lucindens war gut, „aber ein Rath aus diesem Munde!“ Aus welchem Munde? fragt man unwillkürlich; doch aus dem einer Liebenden, die den Vorsatz der Rache vergaß über der Anhänglichkeit an den Mann ihres Herzens und die stille Hüterin seines Glückes blieb.

Was sie gegen Bonaventura verschuldete, waren unfreiwillige Aeußerungen der Schwäche, mit der sie sich in ihr liebeglühendes Herz schauen ließ. Achtete er es für schwere Sünde einen Priester zu lieben, während er doch selbst in Liebesbanden sich gefangen fühlte. Schwerlich, aber weil ihm diese entgegengetragene Liebe eine Entweihung der seinigen dünkte, suchte er sich ihrer mit mehr Härte, als sonst in seiner Art liegt, zu erwehren. Aber ungeachtet aller Mißhandlungen von Seiten des verehrten Mannes, der sie als Beichtkind verstoßen, vermag sie diesen doch nicht aus ihrem Herzen zu reißen; sie folgt ihm nach Wien, umschwebt ihn mit ihrer Sorge und Klugheit in Italien, läßt sich von ihm trauen und geht elend zu Grunde, weil sie die Urkunde, die in den Händen [91] seiner Feinde gegen ihn zur gefährlichen Waffe werden könnte, vor diesen zu schützen sucht. – Nun ist Lucindens Jugendentwicklung der ganze erste Band gewidmet und ihrem dornenvollen Leben auch in den übrigen Bänden die größte Aufmerksamkeit geschenkt; aber am Ende langen wir an bei der trüben Erkenntniß, daß so viel Genialität, Gelehrsamkeit, Schlauheit und Rastlosigkeit des schönsten Weibes um ein Nichts verschwendet worden ist.

Diese Lebensmelancholie also, der jeder thatkräftige und thatlustige Mensch in der Wirklichkeit wie einem Gespenste gern aus dem Wege geht, wiederholt sich gerade an vier Hauptpersonen unseres Romans, denen wir einen dauernden Genuß von Lebensfreuden gönnten, an Armgart und Lucinde, Benno und Thiebold; beinahe zu viel Wermuth für einen Trank, der doch keine niederschlagende Arznei sein will, zumal auch der eigentliche Held Bonaventura zwar sein geistiges Ziel mit bleichen Haaren erreicht, aber mit gefoltertem Herzen dem Gegenstande seiner Wünsche entsagen muß. So sehr wir Lucinde bedauern, daß ihre Gefühle dem besten Manne gelten, der sie zurückweist, so können wir doch auch diesem weder seine Neigung noch seine Abneigung ernstlich verargen; seine Neigung nicht: denn sie ist auf ein ideal sittliches, wahrhaft kindliches, hochpoetisches Weib gefallen; seine Abneigung nicht: denn er selbst ist im Wollen und Streben der Gegenpol Lucindens, der er an Erfahrung ganz gleich steht. Sie hatte aus der Menschenkenntniß Menschenverachtung, er daraus unendliches Mitleid gesogen und mit diesem den Wunsch in sich entwickelt das Institut der Kirche zu verbessern, um durch die Kirche die Menschen emporzuheben.

Auch Bonaventuras Jugend ist seit den Jahren, in welchen die aufblühende Seele mit idealen Forderungen ans Leben herantritt, tief gedrückt und mit schweren Gedanken belastet. Der vermeintliche Tod des Vaters auf der Alpenreise und die schnelle Heirat der Mutter mit dem Hausfreund haben ihm einen solchen Ueberdruß an den weltlichen Dingen beigebracht, daß er in den geistlichen Stand trat. Aber je tiefer er in das innere Wesen der kirchlichen Anstalten eindrang, desto klarer zeigte sich ihm deren Un-[92]vollkommenheiten, und je mehr sein scharfes Auge die Triebe und Neigungen der Christenheit durchschaute, desto heißere Seufzer entstiegen seiner gequälten Brust. Er gewahrte in den kriegslustigen Streitern der alten Kirche mehr Raufbolde als Gotteskämpfer, und die mancherlei Flecken in ihrem Leben und Charakter bestätigten keineswegs ihren vorgegebenen Eifer für das Himmelreich. Gutzkow hat uns eine ganze Musterkarte von Geistlichen aller Schattirungen gezeichnet. Am einen Ende steht der wohlwollende fein aristokratische Dechant zu S. Zeno, der alte Freund der Aufklärung, der Künste und Wissenschaften, einer der wenigen Ueberlebenben aus der Zeit Wessenbergs, der Freund des kirchlichen Friedens und bürgerlichen Behagens, der sein häusliches Leben mit allen Schönheiten eines anmuthigen Luxus geschmückt hatte, aber auch sein mehr als ästhetisches Wohlgefallen an schöner Weiblichkeit nicht im geringsten verleugnete. Lucinde mochte schon die zwanzigste Nichte sein, die nach Kocher am Fall gekommen war. Von diesem geistlichen Epicureer bis zum Cyniker neusten jesuitischen Schnittes, dem Pfarrer Müllenhoff, einem der jungen aus den Seminarien losgelassenen Streitstiere, welch eine Kluft! Und doch auch dieser eifrige Gottesmann, der die Bauern vom Tanz abhält im Interesse der Sittlichkeit, der ihre Moralität durch Rügengericht und ihren Glauben durch Kirchenconvent überwachen lassen will und die geistlichen Exercitien frommer hoher Damen leitet, der gegen die Einmischung der Dilettantenmusik bei der Messe eifert und das Lesen der Stunden der Andacht verdammt – auch dieser Klopffechter der Kirche ist der Schwäche des Fleisches verfallen: der Volksspott stellt ihm einen Wiegenkorb erst mit einer Wachspuppe, dann mit einem Kätzchen vor die Thür, bis der lebendige schreiende Zeuge seines Sündenlebens erscheint und Bonaventura so großmüthig sein muß, die Abkaufssumme für Lena dem irrenden Mitbruder vorzustrecken. Wie hier in gemeinen Fehltritten, so verräth sich hundertfach durch andere Leidenschaften, wie Eitelkeit, Ehrgeiz, Herrschsucht, Habsucht, der Klerus nur allzusehr in seiner sittlichen Schwäche, welche ihn im Innersten so armselig zeigt als den Laienstand, während [93] weder der alte Nimbus, der ihn umgibt, noch die sonstigen Tröstungsmittel seiner Einsamkeit ausreichen, um den Mangel häuslichen Glücks zu ersetzen. Bonaventura fühlt sich, je höher er an Würden steigt, desto unbehaglicher in seinem Berufe. Selbst abgesehen von den überspannten sittlichen Anforderungen, welche die Kirche an den Priester stellt, und die er zwar von andern leicht genommen sieht, aber selbst zu erfüllen das ernstliche Bestreben hat, drückt ihn eine fast unerträgliche Last zu Boden, die Theilnahme seines Gemüthes an tausend geheimen Verirrungen der Seelen im Laienstande, die er zu berathen und zu heilen angerufen wird und doch so wenig wie der Arzt die körperlichen Krankheiten von Grund aus heilen kann. Es ist die schwere Aufgabe des Seelsorgers im Beichtstuhl, die freilich nur der denkende und gewissenhafte katholische Geistliche in ihrer ganzen Schwere empfindet. Die Fakten so vieler Herzen liegen vor ihm aufgeschlagen; hier tritt zu ihm der Leichtsinn, welcher Warnung und Rüge, da der Kleinmuth, welcher Aufmunterung, dort der Zweifel, welcher ausreichende, auch dem Priester selbst nicht sofort zur Hand liegende Widerlegung und Belehrung bedarf. Nun naht sich unter dem Scheine der Hilfsbedürftigkeit ein Spötter, gegen den er sich in seiner Würde behaupten soll, nun ein verworfener mit Verbrechen belasteter oder sonst tief gesunkener Mensch, in dessen umnachtetes, verwahrlostes Inneres er dauernd wie in einen Abgrund blickt. Auch diese Beispiele, welche zeigen, wie der Beichtstuhl ein wahres Marterholz für den Priester ist, liegen in reicher Mannigfaltigkeit uns vor Augen aufgeschlagen; ich erinnere nur an die Schauerscene, wie Hammaker dem Bonaventura über sein ganzes Leben beichtet, an die Verlegenheitsscenen mit Lucinde, an die Schwierigkeiten um passende Rathschläge zu finden, wenn jetzt eine Monika ihre Zweifel an der Kirche verräth, dann eine Delring ihr Gewissen wegen der Religion ihres zu erwartender Kindes erleichtern möchte, darauf ein Thiebold wegen einer Lappalie sich der Falschheit zeiht, nun eine Frau Schummel, die ein schlechtes Haus hält, sich leichte Absolution holen möchte, oder ein Nück durch seine Anfrage das Institut der Beichte mehr verspottet als aner-[94]kennt. Auch das Beichtehalten im Nonnenkloster bietet ein eigenthümliches Interesse, nicht eben erfreulich für den idealen Sinn; denn nirgends erscheint die weibliche Natur kleinlicher, krankhaft verschrumpfter als in Klöstern. Die Flecken und dunkeln Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft, deren Mitglieder sich einander im Staatsgewande präsentiren, vor dem Priester aber im schmutzigen Negligé erscheinen, lagern sich über Bonaventuras Seele wie eine dicke Nebelschicht. Dürfte er nur von Zeit zu Zeit herzhaft trinken aus dem erfrischenden Quell, der das kranke Herz gesund macht aus dem Borne der Liebe! Ihm wendet sich schüchtern eine fremdartige aber herrliche Blume zu, die junge Gräfin Paula, ein Weib von auffallender Schönheit, violenäugig und goldhaarig, mit hochgewölbter Stirn, mit schwarzen Brauen und Wimpern, eine hohe, schlanke, echtadeliche Gestalt; aber ihr Lebenspuls ist krankhaft nach innen gezogen und ihr Gang schwebt mehr geisterhaft über die Erde. Paula ist unendlich gutherzig, anspruchlos, und weich, doch seit den Kinderjahren kränklich und nun überhäufig dem Hellsehen verfallen worin der Volksglaube eine besondere göttliche Begnadigung und eine größere Heiligkeit zu erkennen pflegt. Man staunt ihre Visionen als Wunder an, man läßt durch ihre Berührung Kißchen und Tüchern Heilkraft einflößen, man verehrt sie als eine Heilige, während freilich die strengen Bekenner der Kirche in den magnetischen Aeußerungen der Gräfin doch die echt katholischen Anschauungen vermissen. Bonaventura hat Gewalt über sie, magnetisirt sie sogar; aber gerade dies und der nicht eben christliche Gehalt ihrer Visionen geben seinen Feinden einen Anhalt ihn selbst zu verdächtigen und zu verfolgen. Paula sehnt sich ach heraus aus diesem Doppelleben, verlangt sogar nach der Gesellschaft Lucindens, deren Gegenwart ihr in dem orthopädischen Institut zu Würzburg so wehe gethan, weil sie unter Schmerzen die Nervenströmungen aufhob. Gewöhnlich hat die Ehe solchen bänglichen Erscheinungen ein Ende gemacht; aber hier sind zwei Liebende, die sich ihre Liebe nicht gestehen dürfen; „die Natur hatte sie zum gegenseitigen Besitz bestimmt, Gregor VII. hielt den Arm dazwischen“. So betrachten [95] sie sich denn als geistig zusammengegeben; ihr Verhältniß bleibt fleckenlos und dem Himmel wohlgefällig; aber die Herzen seufzen und bluten still bei diesem sentimentalen Platonismus. Dergleichen Kämpfe der Natur mit der Satzung haben viele Jünglinge und Jungfrauen hinter Klostermauern getrieben, als könnten sie mit der Flucht aus der Welt sich selbst entfliehen. Auch Paula hatte diesen Entschluß längst gefaßt und würde ihn ausgeführt haben, wäre die Forderung einer Konvenienzheirat nicht dazwischengetreten, die selbst von Bonaventura gebilligt und empfohlen wird. Denn ihm, den schon sein Amt mit dem Klosterleben vertrauter machte, bot dieses keine lockende Perspektive, da er Mönche und Nonnen von denselben Leidenschaften wie die Kinder der Welt entbrannt sah, und obendrein ganz ohne Grazie, weil die Gelübde den anmuthigen Schein verwehren. In den Bewohnern dieser düstern Gefängnisse sah er Scharen von Unglücklichen, die theils in Stumpfsinn verfallen, theils mit dem Schicksal grollend oder auch gerade den Begierden fröhnend, die sie dort abzuthun gelobt hatten, betrogen um Mittel, die das Leben verschönern, ihre Tage unwürdig vergeudeten. Das Wort des Sebastus war ihm tief zu Herzen gedrungen, wenn dieser sagte: „Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht, wir leben zusammen und lieben uns nicht, wir sterben zusammen und beweinen uns nicht.“ Einen noch widerlicheren Anblick boten ihm die Nonnenklöster, weil die weibliche Natur, der männlichen Stütze beraubt, in Kleinlichkeit verfällt, und Klatschsucht, Nergelei, Aufpasserei, Schelsucht da am üppigsten aufschießt. Kurz die mit jedem Jahre in ihm wachsende Erfahrung befestigte Bonaventura immer mehr in der Ueberzeugung, daß die Kirche ein baufälliges Institut sei, das seinem Zwecke die Menschen zu beseligen und zu veredeln gar schlecht entspricht. Kam nun noch die an ihm selbst gemachte Erfahrung dazu, daß ihre Gnadenspenden, wie bei seiner eigenen Taufe, unzuverlässig und deshalb von höchst zweifelhaftem Werthe sein können, so mußten in seinem Gemüth Unglaube und Verbesserungseifer dicht beisammen liegen.

In solcher Seelenstimmung war der hochbegabte edle Mann, als er Deutschland verließ, um in Italien einem höhern Berufe zu [96] folgen. Hier trifft er nun unvermuthet mit dem Einsiedler von Castellungo zusammen, für welchen die Ahnung, daß es sein Vater sei, in ihm doppelte Theilnahme weckt.

Es war ein besonders glücklicher Griff des Dichters, daß er die Hoffnungen auf eine lebenskräftige Erneuerung der Kirche weder an das Lutherthum noch an den Calvinismus knüpfte, die sich durch theologisches Schulgezänk und häuslichen Unfrieden schon lange um den Beifall der Gemüthsmenschen gebracht haben, sondern an die einfache und ältere Sekte der Waldenser, deren Ueberreste im nördlichen Italien sich seit der dortigen Bekenntnißfreiheit ziemlich zur Geltung bringen. Schon sind sie nicht mehr auf entlegene Thäler von Piemont beschränkt, sondern haben in Bologna, Modena, Livorno, Perugia, Ancona, Siena, Elba, Neapel, Palermo Gemeinden, in Florenz sogar eine theologische Schule gegründet. Da sie gleich den ersten Christen mehr auf Erhebung des Herzens als auf Begründung der Glaubenslehren bedacht sind, so treffen sie hinwiederum nahe zusammen mit den Pietisten der protestantischen Kirche, die einer geräuschlosen Frömmigkeit leben und dem Geiste des Urchristenthums in ihren stillen Gemeinden eine Stätte bereitet haben. Die ernste alte Gräfin Erdmuthe auf Castellungo ist die Schirmherrin des Waldensischen Eremiten und seiner anhänglichen Scharen.

Von untergeordnetem Werthe für die Pflege wahrer Religion ist dagegen der Deutschkatholicismus, weil sich zu diesem nur durch Verneinung zusammengehaltenen Bekenntniß weltlichgesinnte Menschen zusammengethan haben, denen zur Bildung christlicher Sekten das Organ fehlt, die Religionsbedürftigkeit. Der unruhige Obrist Ulrich von Hülleshoven, der Papierfabrikant, der unstete Theilnehmer an allerlei technischen Etablissements, hat trotz seiner Unbescholtenheit und Bravheit doch mehr die Industrie als Gott im Herzen; seine disputirlustige, zweifelsüchtige Monika hat auf ihren Irrfahrten des Lebens und Herzens den romantischen Zug nach oben fast eingebüßt, ob sie sich gleich späterhin etwas zu Hedemanns Pietismus neigt. Und wenn die gemeinsame Liebe zu ihrem verlorenen und wieder gefundenen Kinde den Eigensinn beider [97] Gatten in Rührung auflöst, und wenn sie durch treues Zusammenleben fortan sühnen, was sie an einander verschuldet, so fehlt ihnen doch der kindliche Sinn, der zum Himmelreich die Thüre öffnet. Sie mögen immerhin als befreundete Seitenverwandte und Schützlinge der neuen Kirche Duldung finden, wie sie im Leben zur Ruhe kamen als Schloßverwalter von Castellungo; aber die Zukunft der Kirche beruht doch nur auf Idealmenschen wie Bonaventura, die den positiven Gehalt im tiefen Gemüthe tragen und allein im Stande sind deren Fehler zu tilgen, ohne die duftende Blüthe der Religion zu zerstören. Auch Italien hat heutzutage seine „freien Italiener“, wie Deutschland seine, „freien Gemeinden“; auch sie scharen sich angeblich unter die Bibel und kleiden die politischen Bestrebungen in religiöses Gewand; aber beiden fehlt der christliche Inhalt; sie sind willkommen als Mitkämpfer für die Umgestaltung Europas; aber eine wirkliche Kirchenverbesserung können sie nicht zu Stande bringen.

Mit dem Eintritt Bonaventuras in größere Verhältnisse, mit Erhöhung seines Standes erweitert sich auch sein Gesichtskreis. Es weichen von ihm die Beklemmungen des Gewissens, die ihn unter Deutschlands nebligem Himmel so oftmals bedrängten, und der weitere Kampfplatz seiner Kraft steigert auch seinen Muth und seine Hoffnung. Der Zweifel, ob er rechtmäßig oder unrechtmäßig getauft sei, verliert alle Geltung bei dem Bewußtsein, daß er jedenfalls der rechte Streiter Gottes ist. Unbekümmert um das Urtheil der herrschenden Partei schützt er in seinem Sprengel die Waldenser und geht den Dominikanern zu Leib, in deren Kerker er seinen Vater, den Einsiedler, wähnt. Auch die alten Bedrängnisse des Herzens sind geschwunden wie wesenlose Schatten; er hat mit Lucinde Frieden geschlossen, sogar ihre Trauung mit dem Grafen Sarzana selbst vollzogen; glänzend ist er aus den Anklagen der Feinde in Deutschland und Italien hervorgegangen, als wäre er nur dazu in Rom gewesen, damit seine Hoheit daselbst einen höhern Preis erringe.

Auf den letzten Stufen zur obersten Würde hat ihm der Dich-[98]ter einen edeln Gehilfen beigegeben, wie Luther an Melanchthon besaß, den sanften Cardinal Ambrosi, des Einsiedlers Federigo ehemaligen Schüler, der ein Märtyrer geworden war, um einst mehr zu sein als ein Mönch, ein Mitreformator der Kirche. Er hatte die Anklage der rachsüchtigen Olympia zugestanden, als habe er sie im Beichtstuhle geküßt, obschon er dies nur in der Phantasie gethan, und sich zur Buße für diese Anwandlung eines fleischlichen Gedankens den schwersten Pönitenzen unterzogen, und diese seine Heiligkeit hatte ihm den Kardinalshut erworben. Beide Männer pflegen nun einen recht innigen Austausch einer auf gemeinsamen Wünschen und Hoffnungen beruhenden Freundschaft, und der bescheidene Ambrosi verhilft dem rüstigern Genossen, anspruchslos für sich, zum Besitze der dreifachen Krone. Wie Johannes der Täufer den Ruhm seine Freundes Jesu verkündete, rief er vor dem harrenden Volke die neue Papstwahl aus, die er selbst befördert hatte, eine beruhigende, liebenswürdige Figur des Romans, die dem Haupthelden als glänzende Folie dient und zur breitern Entwicklung der idealen Forderungen des Werkes eine wesentliche Erleichterung bot. Bonaventura durfte nicht allein stehen, auch seine Erhebung nicht weiter dem Zufall danken, wie weiland die Ernennung zum Bischof; seine Anschauungen mußten aus der Seele eines gleichgestimmten würdigen Mannes wiederstrahlen, um auch den Leser mehr zu überzeugen, daß er nicht lediglich die Bestrebungen eines Idealisten vor sich habe. Kunstvoll ist mit dieser Seelensympathie auch das Schicksal der beiderseitigen Väter verwoben; Ambrosis Vater hatte in den Alpen wirklich den Tod gefunden, und sein Leichnam hatte dem Glauben, daß Friedrich von Asselyn verunglückt sei, mittelst der Verwechslung aufgefundener Reliquien seinen Halt gegeben. Alles ist in dem kunstreichen Werk aufs festeste verknüpft und verschlungen, und die später gegebenen Lösungen zeigen, wie der Dichter schon von Beginn an die einzelnen Züge, durch die er sein Schachspiel gewinnen mußte, voraus berechnet hatte.

Die leuchtende Gestalt Bonventuras, welche dem Werke Ziel und Richtung gibt, bestrickt durch körperliche, geistige und sittliche [99] Schönheit unsere Herzen; nur eine kleine Schwäche hat er an sich, daß er Verse macht, an denen die Musen wenig Antheil haben. Die Geringschätzung, mit welcher Gutzkow die geistliche Poesie eines Beda Hunnius und die philosophirende eines Klingsohr behandelt, steigert die Ansprüche an seinen Liebling. Nun erweisen sich aber Bonaventuras lyrisch didaktische Ergüsse als ziemlich schwach und reflexionsmäßig. Gutzkow ist einmal kein Lyriker und würde besser die Hand lassen von einem Lorbeer, der ihm versagt ist.

Doch unsere Aufgabe die großartige Dichtung möglichst zu beleuchten nöthigt uns den allgemeinen Liebling Bonaventura zu verlassen und nach andern Seiten die Blicke zu wenden. Es durchlaufen, wie ich schon angedeutet, viele einzelne Personen die Welt, geschäftig Fäden zusammenzuknüpfen oder zu lösen, theils karikirte humoristische Figuren von untergeordneter Art aber kecker Zeichnung wie der fromme Schnuphase, der fröhliche Opernfreund Löb Seligmann, der forcirt geniale Kaufmannssohn Piter Kattendyk, der bucklige Geiger Stammer, der gemüthliche wiener Polizeispitzel Herr v. Pötzl, theils ernste Charaktere mit beschränkter Verstandessphäre oder sonst einseitiger Lebensrichtung, wie Stephan Lengenich, der bigotte Küfer, der Philosoph Püttmeyer und seine gealterte Braut Angelika Müller, Onkel Levinus und Tante Beata, Veilchen Igelsheimer, die jüdische Freidenkerin, die bis zum letzten Augenblick über den Carneval des Lebens gescherzt hat, und eine Menge andere kleine Lebensbildchen, mit photographischer Genauigkeit gezeichnet, theils unheimliche Gestalten, wie die geizige Buschbeck, der Winkeladvokat Hammaker, der Spitzbube Bickert, der widerliche Cyniker Anwalt Nück, der moralisch ganz versunken und der Gewalt seines ungezügelten Triebes anheimgegeben, bürgerlich aber selbst zu Verbrechen fähig ist, wenn sie nur zum Ziele führen. Gutzkow scheint fürwahr einen besondern Groll auf den Stand der Anwälte zu haben, daß er seinen Schlurk aus „den Rittern vom Geiste“ noch zu einem Nück potenzirte. Ganz besonders in den Vordergrund der Bühne aber treten unter den Intriguanten, deren ein so breit angelegtes Lebensspiel gar viele be-[100]darf, der Jesuit Wenzel von Terschka, der Pater Sebastus und der Klosterbruder Hubertus, ein fast geisterhaftes Wesen oder ewiger Jude, dessen übermäßiger Leibeskraft noch bei hohen Jahren das Unglaubliche zugemuthet wird. Ein Greis mit abschreckendem Todenkopf, der in guten Jahren die fernsten Länder gesehen und als herrschaftlicher Jäger die Wälder durchzogen, wird er nun von der Grille unstät umhergetrieben, die 20,000 fl., die er durch Vermächtniß geerbt, unter die zwei Menschen theilen zu wollen, welche er als Kinder aus dem Brande gerettet hatte, und zu diesem Behufe die verlorenen aufzusuchen. Ruhelos wie von jeher unternimmt und leistet er im Auftrag anderer oder aus eignem Antrieb die gefahrvollsten Dienste, bis er, der zweimalige Retter aus dem Brande, über einem dritten Versuche zu Grunde geht. Dieser phantastische Greis hat unter allen Personen des Romans am wenigsten Fleisch und Blut, eine Ausgeburt der Romantik, gespensterhaft, in solchen Scenen allerdings schauerlich anziehend, die durch farbenreiche Schilderung Effekt machen, wie der Brand in Westerhof, die Rettung des Eremiten aus der Gewalt der Räuber u. a. dgl. Der Bruder Todtenkopf oder der Bruder Abtödter leidet bedeutend an innerer Unwahrscheinlichkeit; gleichwol wird er uns befreundet und geläufig, erstens, weil er so oft wiederkehrt, als es etwas zu retten oder sonst etwas Gefährliches auszuführen gibt, und zweitens weil der Dichter, wie Homer seine schmückenden Beiwörter, die Schilderung seiner Persönlichkeit immer wieder erneuert. Solche kurze Wiederholungen gehören zur episch anschaulichen Art dieser Dichtung und tragen sehr viel dazu bei die Personen zu verkörpern. Die jugendliche Frau mit den grauen Locken vergißt der Leser so wenig mehr als den Bruder Todtenkopf.

Ein zweiter Ueberall und Nirgends ist Terschka, der in allen Sätteln gerechte, der Meister in ritterlichen und geselligen Künsten. Von ihm heißt es: „Seiner schmächtigen, zierlichen, gewandten Gestalt stand es, da einen Strickknauel aufzunehmen, dort einer Cigarre Feuer zu geben und dabei wieder einen Befehl zu ertheilen, den er halb schon selbst ausführte. Er schoß einen Vogel [101] im Flug, selbst im währenden Reiten .“ Die abenteuerlichen Schicksale dieses aus einem Kunstreiter umgeformten Jesuiten machen seine Weltläufigkeit und diese seinen Einfluß auf den Grafen Hugo, auf dessen arglose Mutter und alle nicht sehr scharf blickende Personen erklärlich; wem aber sein Lebensberuf den erstens zum Katholicismus zurückzuführen unwahrscheinlich vorkommen sollte, der möge bedenken, daß der Erbe von Castellungo, dem Waldensersitze, und vermuthlich künftige Herr des katholischen Westerhof eine für die Kirche keineswegs geringfügige Person ist. Freilich mißlingt die Absicht der ehrwürdigen Väter, wie denn auch sonst der gewandte Bruder Stanislaus gar nichts durchsetzt als den Untergang der Brüder Bendiera. Sein letzter Angriff auf die Gutmüthigkeit seines frühern Freundes Hugo erinnert an den letzten Versuch Bertrams auf Robert und ist so theatralisch wie erfolglos. Uebrigens dient dieser Abenteurer, wenn er auch schließlich nichts ausrichtet, gar trefflich dazu, die Schleichwege zu beleuchten, auf denen die Jesuiten nach ihren Zielen streben.

Der dritte Mann aus dem Kleeblatt der genialen Lumpen ist Pater Sebastus. So sonderbar excentrische Kreise dieser Mann beschreibt, der Philosoph und Dichter, Schönredner und eingebildeter Verfasser vieler Werke ist, die er noch schreiben will, der aus einem Trunkenbold und Opiumraucher, ein ascetischer Franziscaner wird, welcher mit seiner Entsagung gerade so renommirt, wie mit seinen poetischen Floskeln; so sind mir doch im Leben schon ähnliche seltene Menschenexemplare aufgestoßen, deren ganzes Thun und Treiben wie das Kling[s]ohrs auf Ueberspannung und Selbstüberschätzung beruhte und lediglich die Absicht verrieth diese oder jene bizarre Rolle mit Virtuosität durchzuführen. Dergleichen Leute, deren Grundton Eitelkeit, deren Leben Schaustellung ist, kommen nicht aus der Anstrengung und Ueberreizung heraus; aber weil alles, was sie Großes unternehmen, nur auf ein Blendwerk hinausläuft, so bestehen sie gewöhnlich nur schülerhaft, wo es gilt, einmal Charakter zu zeigen. Klingsohr ist im Besitze des grünen Tuchlappens, den der angefallene Deichgraf, sein Vater, den er so hoch hielt, ringend dem Kronsyndi-[102]cus vom Rocke gerissen, und doch läßt er sich vom Mörder bestechen; er ist wüthend im Zorn und in der Eifersucht, und dann wieder wie ein Kind und nimmt die Absagung Lucindens ruhig hin; er convertirt und lebt als Franciscanermönch vom Bettelbrot, halb Büßer, halb Federheld für die Kirche; aber er versagt sich den alten belletristischen Theatergenuß nicht und tauscht beim Juden die Kutte. Sein Ausschreiten aus der Bahn des Gesetzes zieht ihm bald geistliche bald weltliche Strafen zu; der Aufenthalt in Kerkern zerstört die längst angegriffene Gesundheit; angetrieben von der einstigen Geliebten rafft sich der gebrochene Mensch noch einmal zusammen und flieht nach Rom in einen strengern Orden, um zuletzt auf einem Ruhepöstchen bei der Herstellung des Index der Hektik, der Cigarre und dem Orvieto zu erliegen. Was hatte der Arme zum Lohne, der sich so viel echauffirte? Was hat aber auch der Leser für Genuß an solch einem zerfahrenen Uebermenschen?

Er mag eben mitlaufen mit andern herumschweifenden Sonderlingen, deren überreiche Sammlung fast den Eindruck des Nomadenartigen hervorbringt. Sind doch auch Benno und sein Busenfreund de Jonge mehr als billig auf der Wanderschaft; jener verzettelt mit Abenteuern, dieser mit Planlosigkeit seine Jahre. Ich kann mich auch sonst nicht recht befreunden mit dem Wesen jenes Benno, des anspruchvollen, eingebildeten Advocatenconcipienten mit seinem lateinischen Stolz und weltverachtenden Scharfblick; zumal von da an, wo er unerwartet von seiner frühern Kälte in einen Schwärmer für Mutter und Schwester umschlägt, dann Kämpfer für Italiens Freiheit und Sklave eines herrschsüchtigen Weibes wird. Ich verstehe weder den Menschenkenner Metternich, daß er diesem Fremdling Depeschen anvertraut, noch die liebliche und klare Armgart, daß sie die Liebe zu diesem Manne, die sie einst aus Grille versteckt hat, unerwiedert Jahre lang im Herzen trägt. Benno gleicht dem Dankmar in „den Rittern vom Geiste“; er hat wie jener etwas Forcirtes, Selbstbewußtes, Spöttisches, ich möchte sagen Preußisches an sich, so namentlich dem gutmüthigen Thiebold gegenüber, dessen Sdwäche es ist, sich vor der Ueberlegenheit seines Freundes zu [103] beugen. Gutzkows Abneigung vor idealen Charakteren bringt auch in seine hervorragenden Menschen mitunter räthselhafte unerklärliche Züge; wie kann, fragt man, der nüchterne Jurist und der sittliche Mensch einer Mutter von zweifelhafter Moralität, die ihn als Kind jedenfalls im Stiche ließ, also leidenschaftlich ergeben sein, daß er fortan seine bisherige Nationalität verleugnet und seinem Beruf entsagt? Wie kann er als Mann von Charakter einer kleinen nicht einmal schönen Italienerin von fast grünlichem Teint, deren angeborene Wildheit alle Scham und Weiblichkeit verleugnet, also zum Eigenthum verfallen aus vermeintlicher Dankbarkeit, daß er in ihrem Dienst als Cicisbeo neben einem hanswurstartigen Ehegatten widerliche Jahre der Sklaverei hinschleppt? Allerdings wird er in den letzten Augenblicken nach Armgarts Liebesbekenntniß wieder zum Deutschen und weist die italienischen Frauen ab von seinem Sterbelager, eine Erfindung, die hinwiederum nicht frei ist von moralischer Härte; aber was bleibt uns und der Jugendgeliebten von diesem verfehlten Dasein eines Mannes, den die Sorgen mit vierzig Jahren schon ganz grau gemacht und die feindliche Kugel in den Tod schickt? Gar nichts als der Gedanke an die Eitelkeit alles Irdischen, den uns ohnehin schon die ganze Welt predigt, an die Täuschungen des Lebens, welches hoffnungsreich auszieht und mühebeladen fortschleicht, um müde unter Entsagung zu enden.

Man möchte mit dem Dichter rechten, daß er sein Werk geflissentlich darauf angelegt hat, uns um alle Früchte zu betrügen, die wir da und dort erwartet haben, und uns so zu sagen schadenfroh immer von neuem zu mahnen, daß alles Fleisch wie Gras ist. So ist namentlich auch das Verfahren mit dem gutherzigen Thiebold de Jonge fast grausam. Wäre er lieber im Lorenzostrom umgekommen, oder hätte er seine halbe Million verloren, als daß er bei so viel Anspruchlosigkeit und geselligem Talente, bei so viel Anlage für Freundschaft und Liebe einem einsamen Alter zuzuwelken bestimmt sein soll. Er war, wie man zu sagen pflegt, ein rechter Frauenmann, anschließend, gefällig, zuthunlich, freundlich und vor allem ganz frei von jenem spezifischen Hochmuth, der das eigne Ge-[104]schlecht dadurch erheben will, daß er das andere gering schätzt. Eine gewisse Flatterhaftigkeit in der Liebe schreibt er sich nur zu, weil Benno, dem er nie ernstlich zu widersprechen wagt, sie ihm angedichtet hat. Als beide Freunde ihren Schmerz über die Abweisung von Seite Armgarts bei Wein und Austern in Worten ausströmen und Thiebold sich als Bennos gewesenen Nebenbuhler bekennt, erklärt dieser, er würde sie ihm auf keinen Fall gelassen haben; denn er habe Vorzüge vor ihm: Mein Herz, sagt er, kann lieben, das Ihrige nicht. Darauf Thiebold: Ich schaudere über mich selbst; ich kann lieben, nie aber auf die Länge. Das ist nicht wahr, ist pure Unterordnung unter eine anmaßliche Behauptung; Thiebold liebte treuer als Benno, aber mehr frauenhaft, indem er im geliebten Gegenstande sich selbst vergaß.

Und so wie bei diesen betrügt uns der Roman um alle Hoffnungen, die wir an den einen oder andern seiner zahlreichen Wandersleute bei Beginn ihrer Pilgerschaft durchs Leben geknüpft hatten. Darum wirkt sein letzter Band, der die Geschichten nach einem Zwischenraum von mehr als zehn Jahren wieder aufnimmt, in einzelnen Partien so peinlich, weil er die vielen Täuschungen und Unfälle der Zwischenzeit concentrirt bietet. Mit erbarmungsloser Sense geht da der Tod herum, massenhaft niederzumähen, was nicht weiter zu verwenden ist. Was sollte uns, fragen wir da, all das Menschenpack mit seinem vielen Geräusche und seiner breitspurigen Anwesenheit? Die Wirklichkeit freilich trügt uns mit derselben augenblendenden Farbenpracht, mit einem Scheine, der wie die Landschaften einer Fata Morgana in Nichts verschwindet; aber unser glückbedürftiges Herz sucht ja eben doch in der Dichtkunst Ersatz für das darbende Leben, und wenn es statt dessen wieder der trostlosen Erfahrung begegnet, vor der es geflohen, so zieht es sich murrend in sich selbst zurück.

Ich glaube, ein guter Theil des Unbehagens am Ausgang unseres Romans ist wohlbegründet; es liegt ein Fehler in der Anlage, nemlich die allzugroße Häufung mißlicher Erfolge, wie wir sie sogar im Leben nur selten, beisammen haben; diese aber hat ihren theil-[105]weisen Grund in der gar zu großen Fülle von Personen, an deren Schicksalen wir uns im Verlaufe der Erzählung zu betheiligen veranlaßt wurden, und die er abthun mußte, wollte er seine Dichtung nicht durch abermals neun Bände weiter spinnen. So läuft er zuletzt mit der Keule umher und erschlägt, wenn er noch am Wege sieht; und wen er mitleidig zurück läßt, dessen frühere Strebungen verrinnen im Sande. Damit die volle Aufmerksamkeit sich der idealen Kirche zulenke, beeilt er sich die an ihr minder betheiligten Personen zu beseitigen. Aber diese Geschäftigkeit abzuschließen oder abzubrechen , veranlaßt gerade die unwillige Frage nach dem Zweck ihres ganzen Erscheinens, auf welche wir häufig nur die Antwort zur Hand haben, es seien das eben Episoden, eingestreute sprechende Bilder aus einem breiten Stück Menschenleben, Bilder, die uns beim Beschauen doch ungemein unterhalten und theilweise belustigt hätten. Ich hebe hier namentlich hervor die beiden Kaufmannshäuser, das christliche der Kattendyk in Köln und das jüdische der Zickeles in Wien, mit ihren zahlreichen Gliedern und Anhängseln, die ihre Eigenart, gefördert durch das mächtige Unterstützungsmittel des Reichthums, bornirt genug zur Schau tragen und in einzelnen Theilen ergötzliche Satiren abgeben auf das, was man im gemeinen Leben Geldprozenthum nennt: ferner die verschiedenen andern JudenfamiIien vom Bankier Fould, dem toleranten, der eine christliche Kirche im byzantinischen Stile gebaut hat und dem armen Vetter nur schmeichelt, so lang er ihn benützen will, der gastfrei auf großem Fuße falsche Spieler und Diebinnen bewirthet, in der Meinung, als habe er Barone und Baronessen vor sich – bis zum keifigen Maskengarderobier in der Rumpelgasse und seinem verborgenen Schatze, der philosophirenden schönen Seele Veilchen Igelsheimer. Gutzkow erweist sich in allen diesen drastischen Darstellungen als einen überaus feinen Kenner modern jüdischer Lebensanschauung. Wir möchten keine dieser Personen missen, nachdem wir einmal ihre Bekanntschaft gemacht, so wenig wir in der Gesellschaft der mancherlei Verbindungen uns entschlagen wollen, in welche uns eine weitläufige Bekanntschaft gebracht hat. Ein ähnliches Verhältniß haben diese [106] mehr in zweiter Ordnung mitwirkenden Gestalten des Dichters zum Leser; er interessirt sich für ihr Dasein, er findet es lehrreich, Blicke werfen zu können in diese und jene fernstehenden Kreise, und wenn er sich am Ende um die Erwartung, die er auf sie setzte, betrogen sieht, nun so muß er sich eben mit den ähnlichen Spielen des Lebens trösten, welches gleichfalls unser Dasein mit hundert schwachen Fäden an fremdes knüpft, die oft schon abreißen, wenn wir solcher Freundschaften eben froh zu werden beginnen.

Eine andere Frage allerdings ist es, ob eine zerstreuende Geselligkeit unserer seelischen Natur nicht mehr Nachtheile als Vortheile bringt, ob sie wirkliche Geistesbildung, Herzenswärme, Gemüthstiefe fördern, ob sie innerlich lebende Menschen auf die Dauer befriedigen kann. Wer bald da bald dort einkehrt und sich um Tausende bekümmert, muß am Ende verflachen; wer sich in wenige Menschen einlebt, hat bleibenden Nutzen von seiner Freundschaft. So wird auch ein Roman, der sich auf wenige Spieler beschränkt und diesen vortreffliche Rollen schreibt, dem Freunde gediegener Lektüre willkommener sein. Es wäre ein Unglück, wenn unsere Romanliteratur überhaupt dem Beispiele folgte, welches Gutzkow in seinen beiden Hauptromanen gegeben, und also geflissentlich fortan in die Breite ginge. Nur ein Meister der Composition wie er vermag bei diesem Verfahren auch die Denkenden zu fesseln, vor allem dadurch, daß er eine Menge Probleme da und dort in den Weg wirft.

Welch eine Fülle von Zweifeln bietet unser Roman dar, neben der Hauptfrage über den Ausgang des Camphausen’schen Prozesses: ob Bonaventuras Vater todt ober lebendig sei, und wenn das letztere, woher doch der Glaube an seinen Tod eine so sicher scheinende Begründung nahm; welches die Abkunft Bennos von Vater- wie Mutterseite gewesen; ob die Versicherung des Kronsyndicus, als sei Klingsohr sein natürlicher Sohn, sich bestätige oder nicht; wer den Mord des Deichgrafen begangen; welch ein Geheimniß Nück und Hammaker aneinander kette; ob Armgart ihren vermeintlichen und ihren wirklichen Lebenszweck erreichen werde; welchen verhängnißvollen Inhalt Leo Perls Schreiben berge; wohin Lucinde [107] das leuchtende Meteor, seine weitern Kreise ziehe, oder ob ihr unruhiger Geist wol gar noch zuletzt Glück und Behagen finde; ob der ehrwürdige Federigo in den Kerkern der Inquisition schmachte, und vieles andere.

Und mit den Fragen und Interessen, die den Leser in wohlberechneter Abwechslung von Band zu Band geleiten und wie ein Stück Wirklichkeit seine Sinne gefangen nehmen, wandeln sich auch zur Steigerung des Effektes die Dekorationen, so daß das Fremdartige und Anziehendere dem Bekannten und Geläufigen nachfolgt. Ehe der lange Anblick der westphälischen Erdscholle ermüdet, hat der Dichter ein neues Panorama um uns aufgespannt und nach einem kurzen Zwischenspiel in Wien, welches Nord und Süd vermittelt, uns auf den merkwürdigsten Schauplatz der Welt versetzt, nach Italien. Da öffnen sich die heitern Thäler von Piemont, da schließt Rom die alten Thore auf und brütet auf den Trümmern des Heidenthums über eine neue Reformation der christlichen Kirche, da dringen wir vor bis in die entlegensten Schlupfwinkel Calabriens und spüren dem ehrwürdigen Apostel nach, der vor den Verfolgungen gleißnerischer Rechtgläubigkeit dort ein kurzes Asyl gefunden. Der Roman, der im bürgerlichen Deutschland nur die Geschäfte einiger adelicher Häuser zu umfassen schien, erweitert sich, sobald wir den klassischen Boden betreten haben, auf welchem die frühern Privatpersonen eine Weltstellung gewinnen. Die Glaubenskämpfe, so geräuschvoll sie manchmal in dem sonst urfriedlichen Westphalen zur Schau traten, zeigen sich jetzt erst verhängnißvoll, weil wir sie in ihren einflußreichsten Trägern vor Augen sehen.

Doch hinterließ bei mir im Ganzen das römische Treiben trotz der Bedeutsamkeit von Ort und Personen nicht den vollen realistischen Eindruck, weil eben doch Dichter und Leser in Italien minder heimisch und den Charakter dieses Volkes ganz in sich aufzunehmen kaum fähig sind. Weder Bennos Mutter, die Herzogin von Amarillas, erhebt sich über eine Theaterfigur, noch ihre Pflegbefohlene, des Cardinals Ceccone unnatürliche Tochter, die kleine übermüthige Olympia, die den Keim der Wildheit schon im Mutterleib em-[108]pfing, die zerreißt, was sie liebt, die in den Kundgebungen ihrer Liebe so frech herausfordernd wie unwiderstehlich ist, die den Gegenstand ihrer Raserei in unwürdiger Knechtschaft hält und den Sterbenden noch im letzten Augenblicke mit ihrem Ungestüm peinigt. Auch die Männer der Hierarchie und der morschen römischen Staatsmaschine mit ihrer Sittenlosigkeit, ihren Intriguenspielen, ihren herzlosen Maximen und Handlungen, die Ceccone, Fefelotti, Rucca, bleiben uns fremdartig, und die Freunde des jungen Italiens von Bertinazzi bis zu den verschiedenen Gliedern der Familie Bianchi treten zu episodisch hervor, um einen nähern Antheil zu erregen – mit einem Worte, man sieht allenthalben, wie der Dichter eben doch mit seinem Seelenleben in Deutschland wurzelt und wie das italienische Wesen von außen an ihn herangetreten ist.

Indeß fesselt uns auch so noch Roms mächtiger Zauber und hält uns wie mit Geisterarmen umfangen. Es sind die großen Ueberreste alter Zeiten, die uns bewältigen, es sind die ringenden Kräfte der Gegenwart, die hier zusammengedrängt bald im Dunkel einander auflauern bald im hellen Mittagslichte sich messen und mit schwankendem Siege nun Segen, nun Unheil stiften. Der Verfasser hat erst im achten Bande, der uns nach Rom selbst führt, den etwas dunkeln Titel des Werkes klar gemacht. Denn hier zum erstenmal wird das Wort Pabst geradezu mit dem Ausdrucke „Zauberer von Rom“ umschrieben, nur daß früher einmal die Geistlichkeit als die Gnomen der römischen Zauberkunst bezeichnet worden sind. Es waltet und webt in Rom ein ganz eigenthümlicher Zaubergeist, gebannt an die Stadt, die ehrwürdige Herrscherin, und an den Mann, der von hier aus noch heute, gestützt auf einen bloßen Schatten von weltlicher Macht, vielen Millionen williger Geister gebietet. Was wirft die weiten Staaten, was die Millionen von Seelen demüthig zu den Füßen dieses einen Mannes, der noch obendrein zumeist ein schwacher Greis ist? Was anders, als der uralte Glaube an Roms Hoheit und Allgewalt, verbunden mit der Vorstellung, daß Gott hier selbst seinen Statthalter niedergesetzt, der die Christenheit am Zügel hält? Die Würde dieser Stadt und die [109] Würde dieses Statthalters ergänzen sich beide in der Meinung der Völker, und theilen einander mit von ihrem leuchtenden Nimbus. Rom wäre ohne den Pabst wirklich nur, was der Dichter singt, ein Grab der Vergangenheit, und der Pabst, außerhalb seines magischen Kreises gestellt, ein gewöhnlicher Priester; aber von hier aus, wo er sicher ist in der Handhabung seiner tausend Instrumente, blendet und herrscht er mit seinen Zaubersprüchen und dienstwilligen Gehilfen so weithin, als das heilige Dämmerlicht der Kirche ausgegossen ist. Seit jenen Jahrhunderten, in welchen die christliche Religion die treibende Kraft des Occidentes war, hat der römische Zauberer das Leben in Fesseln geschlagen, aus welchen bis jetzt nur die kühnen Denker und die kräftigen Naturen sich heraus nach Erlösung sehnen. Oft schon kehren Zeitmomente wieder, in denen die hellen Sonnenstrahlen der Forschung und der frische Zugwind der Thatkraft den berauschenden Weihrauchnebel verscheucht zu haben schienen; aber immer von neuem zog sich das Gewölk wieder zusammen und schnürte den Athem ein. Gutzkow wagte in seinem großen dichterischen Lebensbilde den Versuch den Zauber zu besprechen, mit dem Magier zu unterhandeln, ihm rationelle Vorschläge zu machen, nach denen die Menschheit im freien Dienste der Religion bestehen könnte, ohne das ehrwürdige Ansehen der wichtigsten Institute des Glaubens zu untergraben. Sein reformatorisches Bestreben fällt mit den Wünschen und Hoffnungen von Tausenden, die der Kirche wohlgesinnt sind und Revolutionen auf dem heiligsten Gebiete fürchten, zusammen. Ein also erneuerter Katholicismus, glaubt man, würde sogar die Protestanten locken die unheilvolle Scheidewand niederzureißen und die ersehnte Einheit der Kirche herzustellen, deren Trennung namentlich unser Vaterland geschwächt und zerfleischt hat. Schöne Dichterträume, deren Erfüllung wol ernstlich kaum der Verfasser erwarten wird. ,,Der Zauberer von Rom“ wird nie dem Zeitgeiste Concessionen machen, wie er auch erst neulich mit seiner Encyclica gezeigt hat; sobald er die Formel änderte, würden die Geister frei nach allen vier Winden auseinander fahren, ihre eigenen regellosen Bahnen ziehend, der stolze Vatican [110] mit S. Peter würde stürzen und statt der gewünschten Vereinigung ein Heer von Sekten entstehen, die sich wieder befehdeten und zerrissen, und zwischen welchen einzelne Weltweise, Gleichgiltige und Feinde frommer Gemeinschaften die betrübten, theilnahmlosen und schadenfrohen Zuschauer machten. Ob freilich Roms Unbeugsamkeit den Sieg behalten, ob Roms Starrheit nicht dem Christenthum selbst Verderben bringen, ob die Schroffheit der Parteien nicht den schirmenden Engel der Religion auf lange von der entheiligten Erde verscheuchen wird? Jedenfalls würde ein zweiter Mönch Sebastus Gutzkows Buch auf den Index setzen, so gut dieser es mit der Kirche gemeint haben mag.

So sehr wir übrigens an der Nachgiebigkeit Roms, ja selbst diese vorausgesetzt, an der Möglichkeit Gutzkows Reformen ohne Schaden des Volksglaubens durchzuführen Zweifel hegen, so können diese dennoch die hohe sittliche, wissenschaftliche und künstlerische Bedeutung seines Werkes nimmer mehr beeinträchtigen, welches durch ausgedehnte Forschungen eine feste Grundlage, durch umfassende Weltbeobachtung eine haltbare Stütze, durch das unvergleichliche Gestaltungstalent des Verfassers eine wahrhaft wunderbare Organisation erhalten hat. Daß gerade diese Fragen, an deren Lösung schon Jahrhunderte sich abarbeiten, mit würdigem Ernst einem Unterhaltungsbuch den wesentlichen Inhalt geben, daß der Verfasser sich mit jeglichem Apparat ausgerüstet hat, um den Katholicismus in seinen Institutionen, Satzungen, Gebräuchen und Sagen genau nachzugestalten und in die geheimsten Winkel der Klöster und Orden zu verfolgen, flößt dem aufmerksamen Leser einen Respekt ein, wie kaum vor einem zweiten belletristischen Werke. Aber sein weitschichtiges Material so verarbeiten, daß auch abstrakte Gegenstände unter seiner Behandlung frisches Leben erhielten und in eine Unzahl pikanter, ergötzlicher, ergreifender und jedenfalls spannender Scenen zu verweben, konnte nur einem Dichter gelingen, der unter den deutschen der Gegenwart ohne Frage der geistreichste ist.

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