Vierzig Jahre von Karl von Holtei#
Metadaten#
- Herausgeber
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.1
- Letzte Bearbeitung
- 30.01.2020
- Druckansicht des Textes
- Haupttext als PDF
Text#
1 Vierzig Jahre von Karl von Holtei *).#
Herr von Holtei ist in der deutschen Theaterwelt als Vorleser, ausübender Künstler und Dichter bekannt. Wir besitzen von ihm keine großen Schöpfungen, welche die Zeit überdauern werden, wohl aber Beiträge und Versuche zu der (man sollte es bei einem so literarisch gebildeten Volke kaum glauben) bei uns so schwierigen Aufgabe, die Bühne von fremdländischen Einflüssen zu befreien; Beiträge und Versuche, denen man Bühnengeschick und poetische Anflüge nicht absprechen kann. Herr von Holtei war es, der die Bestimmung der königsstädter Bühne in Berlin in einer Annäherung an die früheren Leistungen des leopoldstädter Theaters in Wien richtig erkannt hatte und, unterstützt von einigen Talenten, die theils über, theils unter seinen eigenen Kräften standen, auf ein norddeutsches Volkstheater zusteuerte, das ihm wie eine klingende Zauberinsel vorschwebte. Die Insel war eine optische Täuschung. Die königsstädter Bühne brachte zwar eine Reihe von Liederspielen, zu welchen Herr von Holtei ein glückliches, spiel- und musikkundiges Geschick besaß. Seine größeren und kleineren deutschen Vaudevilles, als: Der alte Feldherr, Lenore, Wiener in Berlin, Wiener in Paris u. s. w., haben sich zum Theil noch bis heute auf den Brettern erhalten; aber dem kurzen schönen Traum von einer Volksbühne, eingeleitet durch den Vorgang des königsstädter Theaters, folgte nur zu früh ein nüchternes Erwachen. Die Aufgabe, die sich Herr von Holtei mit seinen Freunden gestellt hatte, ist an und für sich für deutsche Bildung und Sitte von ernster Bedeutung, und es verlohnt wohl der Mühe, sich noch heute, wo noch immer ähnliche Wünsche sich regen, die Ursachen zu vergegenwärtigen, an welchen die damaligen Bestrebungen scheiterten.
Herr von Holtei wird uns darüber im weitern Verlauf seiner Denkwürdigkeiten ohne Zweifel die vollständigsten Mittheilungen machen. Doch weiß ich nicht, ob er unter andern auch zwei Umstände erwähnen wird, die im Keime schon jener Entwickelung im Wege standen, ein inneres Hinderniß und ein äußeres. Das äußere war der unglückliche Zufall, daß jene Bestrebungen mit einer Kritik zusammenstießen, die damals in Berlin von einem bekannten Schriftsteller nur in dem Interesse geübt wurde, ein großes Lesepublicum mit Polemik, Verneinung, Opposition nach allen nur möglichen Seiten hin zu unterhalten. Nie ist die Kritik so frivol gehandhabt worden. Ohne Sinn für den Gegenstand, dem die verurtheilten Leistungen zu Gute kommen sollten, ohne Theilnahme für irgend eine andere Aufgabe in der Welt, als die, ein neues Journal in möglichst kürzester Frist in einen großen Leserkreis einzuführen, ging diese Kritik von dem Grundsatze aus, daß Tadel amusanter zu lesen ist, als Lob, und tadelte dann auch in einer Weise, die jeden redlichen Willen einschüchterte, jeden weniger gelungenen Versuch dem rohen Gelächter eines indifferenten Lesepöbels Preis gab und ohne Mühe, ohne das Talent, selbst etwas Gediegenes schaffen zu können, ja, ohne den Willen, sich je auf dem Gebiete, wo man so keck zu meistern verstand, selbst zu versuchen, zuletzt auch wirklich das Schlachtfeld behauptete. Die Niederlage war hier minder schimpflich als der Sieg. Unter den dreizehn Bühnendichtern des königsstädter Theaters waren viele talentlose Mitläufer, einige aber ragten unter ihnen mit wahrem Berufe, mit echter Begeisterung für die Kunst hervor. Es war diesem Vereine ein heiliger Ernst um die Aufgabe, der er sich nach dem Maß seiner Talente widmete. Man arbeitete auf eine Volksbühne hin, die sich von den französischen Vaudevilles, wie von den Possen der wiener Vorstädte befreien sollte. Die Aufgabe war schwer und zu lösen nur durch das Vertrauen des Publicums und die im Princip übereinstimmende Kritik. Ein von fremdher einwandernder Journalist hatte es aber anders beschlossen. Um eine neue Zeitschrift in die Höhe zu bringen, griff er an, was nur irgendwie preßfrei war, und was ist preßfreier als die Bühne, der Dichter und der Schauspieler? Die Analyse jedes Stückes wurde ein Fuchsprellen. Fratzenhafte Genien faßten das Sujet an vier Zipfeln und prellten den Autor so lange, bis sich die Zuschauer ausgelacht hatten. Das waren nicht etwa Faschings-Ausnahmen, sondern es war ein wirkliches System. Man wollte es dahin bringen, daß jedes neue Stück nur dazu diente, dem Stoffmangel des gewissenlosen Recensenten abzuhelfen und die Neugier des Publicums mehr auf die morgende Recension, als das heutige Stück zu richten. Mochte ein Sujet noch so sinnig erfunden sein, es wurde lächerlich gemacht, denn was läßt sich nicht lächerlich machen? Der Inhalt wurde mit geringschätzigem Tone gleich im Eingang erzählt. Da ist ein junger Mann, der heirathen will. Ein einfacher Satz, aber wie reich läßt er sich vom Recensenten variiren! Wie viel Eselsohren lassen sich nicht an jedem Worte einer so einfachen Thatsache einbiegen! Wie viel Frage- und Ausrufungszeichen kann man nicht selbst da anbringen, wo es im Grunde nichts zu fragen und sehr wenig auszurufen gibt! Kurz, diese um ihrer selbst willen geübte Kritik eines herzlosen literarischen Spaßmachers nahm dem Publicum seine Naivetät und gutmüthige Hingebung und schüchterte die Talente, die sich einem edlen Zwecke gewidmet hatten, so ein, daß sie von der Bühne abstanden und sich in andere Gebiete, wo sie wenigstens vor der Mißhandlung ihrer Ehre sicher waren, mit ihren größeren oder geringeren Kräften flüchteten.
Zu diesem äußern Hinderniß eines durch die königsstädter Bühne beförderten Volksschauspieles gesellte sich ein inneres. Es fehlte nämlich den Dichtern, die sich diesem Zwecke widmeten, nicht am Talent, wohl aber an der Gesinnung. Diese jungen Köpfe hatten eine fiebernde Begeisterung für Göthe, kannten aus Büchern so ziemlich alles, was der Bühne ehedem von Nutzen gewesen, sie hatten Witz für die Parodie, auch Gemüth für das Lied; aber es fehlte ihnen die wirkliche Kenntniß des Volkes. Die Einen hätten gern etwas gegeben, was sich an Aristophanes angelehnt hätte, ihnen schwebte vor, was Tieck am Schluß seiner dramaturgischen Blätter Hoffnungsvolles über die königsstädter Bühne geschrieben hatte. Andere wollten den Volkssagen nachgraben und Faust nach dem Volksbuche, Eulenspiegel, Rübezahl auf die Bühne bringen. Wie aber jene sich nicht über die Parodie und die dramatisirende Polemik (ich erinnere an Ludwig Robert) erheben konnten, so blieben diese in dem allgemeinen literarischen Bücher-Enthusiasmus, in den Anschauungen der gelehrten Welt stecken und belustigten mehr sich, als das Publicum. Andere endlich, wie Herr von Holtei, die dem wirklichen Volksleben näher standen, konnten doch nicht die Schule verläugnen, wo sie ihre Studien gemacht 2 hatten, nämlich Wien, von dessen beschränktem und für den Norden zu naivem Bildungs-Horizonte sie sich nicht befreien konnten. Herr von Holtei gibt in seinen Denkwürdigkeiten selbst den Schlüssel zu jenen servilen Charakteren, die in seinen Liederspielen zu oft auftreten. Wie er bei seinem Universitätsexamen servil den damals demokratisch und höchst weltverbesserisch gesinnten Professoren Steffens, Raumer u. s. w. sich dadurch zu empfehlen suchte, daß er unter seinen schriftlichen Prüfungsarbeiten seinen Adel Preis gab und zu besonderm Wohlgefallen des Professors Kayßler sich schlauer Weise Karl Holtei nannte, so hat er sich später eben so servil unter entgegengesetzte Principien gebeugt und gewisse Erinnerungen und invalide Zustände mit allzu greller Absichtlichkeit in seinen Liederspielen ausgebeutet. Um ein preußisches Volkstheater handelte es sich nicht, sondern eher um ein norddeutsches, das in gesunden kräftigen Charakteren die Anschauungen des deutschen Nordens wieder gegeben hätte. Lieder nach der Melodie des alten Dessauers, Charaktere aus dem siebenjährigen Kriege, Schlußgruppen mit der transparenten Namenschiffre des Landesfürsten, das alles führt dahin nicht, wohin Herr von Holtei strebte. Auch seine Sentimentalität ist für den Volksgeist zu weichlich. Mit Einem Worte, jene Bestrebungen mochten der poetischen Form sich klar bewußt gewesen sein, aber es fehlte jenes volksdramatische Element, das man in Paris auf den Volkstheatern des Boulevard du Temple so ergreifend ausgebeutet findet. Um für die Bühne ein Volksdichter zu werden, muß man am Volke mehr lieben, als nur seinen Gehorsam und seine Lieder.
So viel zur Kenntniß jener Persönlichkeit, der wir das oben genannte, noch nicht geschlossene Werk verdanken. Herr von Holtei ist 46 Jahre alt, und schon gibt er seine Memoiren heraus; man muß gestehen, das heißt rasch leben. Oder geht unsere Zeit so schnell? Welken unsere Perioden so früh ab, daß man ihre Blüthe kaum genießt? 46 Jahre! das heißt einen Baum noch mit Früchten und Aesten aus der Erde reißen, ihn umhauen, ehe er von selber stirbt. Herr von Holtei hat sich eine schwere Aufgabe gestellt. Er spielt den Todten, noch ehe er gestorben ist. Er feiert seine gedruckten Exsequien, mit 46 Jahren, wo er noch zwanzig Jahre Gelegenheit haben kann, all den Schatten und Gespenstern, die in seinem Buche begraben scheinen, leibhaft zu begegnen. Alle seine Freunde setzt Herr von Holtei auf die Probe und ist dabei so verzweifelt aufrichtig, daß es ihm Ehre macht, wenn sie die Probe aushalten.
Den Charakter dieses Buches wird man sehr leicht erkennen, wenn man nur den einzigen Zug berichtet, daß Herr von Holtei darin erzählt, wie er seinen Freund und Lehrer, den Professor Kannegießer, bestohlen hat, bestohlen nicht etwa um sein Wissen, sondern um sein Geld. Man sieht, daß dem Verfasser eine Beichte vorschwebte, wie sie Rousseau über sein Leben anstellte. Ausgesetzte Kinder kommen bis jetzt in den „Vierzig Jahren“ noch nicht vor, aber gut sagen kann man für nichts, Herr von Holtei schreibt dies Buch in einer Stimmung, als hätte er die Absicht, die Welt zu verlassen und sich in eine Karthause zu vergraben. Dies wird freilich nicht hindern, daß er diese Absicht nach einigen Jahren wieder vergäße und plötzlich von den Todten auferstände. Herr von Holtei ist ein wunderlicher Kauz. So wie er jetzt die Geschichte seines Schwabenalters erzählt, so mit dem Leben abschließend, hat er schon ein halbes Dutzendmal sein Testament gemacht. Als er den Traum vom Liederspiel aufgeben mußte, nahm er von Berlin einen Abschied wie auf Nimmerwiedersehen und begrub sich in Riga. Dort wieder auflebend, führte der Revenant eine Zeit lang die Bühne, starb wieder und begrub sich in der Gegend von Grätz. Er hatte der Bühne nun auf immer entsagt. Plötzlich steht er auch wieder in Grätz von den Todten auf, beginnt in Wien ein neues Dasein, spielt Komödie, dichtet, lies’t vor, ein lebendiges, fröhliches Jahr hindurch, bis er wieder Abschied nimmt auf ewig und sich in Grafenort begräbt. Von dort ergeht eine Sammlung gedruckter Briefe, die sich lies’t wie ein Vermächtniß, wie die letzten Klageseufzer eines absterbenden Geistes. Es vergehen aber keine zwei Frühlinge, Herr von Holtei hält es im Grabe nicht aus, er lebt wieder auf, in Berlin, in denselben Sälen, wo er vor zehn Jahren den Shakespeare und Calderon gelesen. Da stirbt ihm auf der königlichen Bühne ein liebes Kind Erich, der Geizhals, und er stirbt wieder, er stirbt nun ganz gewiß, denn er schreibt sein Leben. Aber was necken wir? Er wird sich noch oft begraben, aber darum doch noch dreißig Jahre leben. Er kann nicht anders, er ist Prolog und Epilog in Einer Person. Er gleicht jenen alten Schauspiel-Veteranen, die alle Jahre von der Bühne Abschied nehmen und alle Jahre noch einmal wieder auftreten müssen. Ob Herr von Holtei nicht sogar die Bühne wieder betreten könnte? Er hat es verschworen, er hat Seydelmann seine sämmtlichen Perrücken geschenkt; aber Seydelmann ist todt, die Perrücken sind an Herrn von Holtei wieder zurückgefallen, und wir sagen nicht gut, ob er nicht wieder eine Rolle, die wie seinen „Hans Jürge“ Niemand anders spielen kann als er, schon unter der Feder, ja, wer weiß, ob nicht schon sauber abgeschrieben zum Memoriren in den Händen hat!
Diese Züge passen auf den Charakter, den sich Herr von Holtei in diesem Buche selber beilegt. Er kommt uns hier mit dem offenen Geständniß entgegen, daß man Recht hat, ihn schwach zu nennen. Wir lehnen dies Recht nicht ab, nennen Herrn von Holtei in der That einen schwankenden, haltlosen, nicht nur schwachen, sondern schwächlichen Charakter, fügen aber hinzu, daß er liebenswürdig ist. Clavigo und Wilhelm Meister stecken in ihm. Wilhelm Meisterhaft ist die früh ausgebrochene Leidenschaft für das Theater, die Sucht, sich als Schauspieler zu bewähren ohne den wahren Beruf für diese Kunst, das Nachahmen, Hin- und Herschwanken und allmähliche Bedeutendwerden nicht so sehr durch sich selbst, als durch Umgebungen und Bekanntschaften, endlich in der Liebe und im Verkehr mit Menschen, überhaupt der schnelle Wechsel der Beziehungen, die Allbetheiligung und doch wiederum das Zukurzkommen, wo Andere von seinen eigenen Mühen und Leiden den Vortheil ziehen. Bezeichnet Wilhelm Meister die Halbheit eines Strebenden, so liegt in Clavigo die Halbheit des Fühlenden; und auch in dieser Beziehung hat Herr v. Holtei etwas Verwandtes mit dem „Archivar des Königs“. Er schildert es selbst, hält ein strenges Gericht über sich, über seine schwankenden Empfindungen, über die Feigheit seines Herzens neben den Anflügen von Heldenmuth, über den Leichtsinn, der eben erst in einer Idee, in einem Menschen seinen Himmel und seine Erde finden kann, und plötzlich seine Seligkeiten und mit ihnen seine Betheuerungen, seine Schwüre vergißt. Dem Augenblick ganz angehörend, geht ein solcher Charakter zuerst sich selbst verloren. Er thut mit kaltem Blute, 3 seinem Willen, mit Ueberlegung sogar Dinge, die seinem bessern Genius gänzlich fremd sind, er thut sie heute und bereut sie morgen. Wo ihn Pflichten rufen, kommt er entweder zu spät oder zu früh, nie zur rechten Stunde. Das Zufrühkommen ist fast noch gefährlicher, als das Zuspätkommen; denn wenn hier mit raschem Muthe ein Versäumtes leicht sich wieder einholen läßt, so erkaltet dort nicht selten durch die lange Pause der Erwartung unser Eifer, der in dem Maße nachläßt, als die Gelegenheit ihm nicht mit gleicher Hast entgegen kommt. Herr von Holtei hat seine Denkwürdigkeiten darauf angelegt, durch sich eine Gattung von Menschen zu schildern, deren künftiges Wohl oder Wehe in einer gewissenhaften Erziehung liegt, in einer Erziehung, die mit Strenge dem Verlangen nach ungebundener Freiheit begegnet und wiederum mit Milde dort nachgibt, wo einseitiger Widerstand nur zum Trotze führen kann. Mit einer Menge von unterhaltenden und für jeden Erzieher belehrenden Charakterzügen erzählt Herr von Holtei, daß er von der einen Seite wäre verwöhnt und verhätschelt, von der andern durch thörichten Widerstand gegen seine Neigungen gerade in ihnen wäre bestärkt worden, zum Nachtheil einer Zukunft, die er aufrichtig genug ist, zum großen Theile verfehlt zu nennen. In dieser Aufrichtigkeit liegt etwas Liebenswürdiges, und man muß hinzufügen, Herr von Holtei ist zu sehr Schauspieler und in der zur Eitelkeit erzogenen Grundlage seines Wesens unverbesserlich genug, um verbergen zu können, daß er das pikante Interesse einer solchen ägyptischen Todtenrede eines Lebenden über sich selbst seinerseits ebenfalls sehr wohl empfunden hat.
Der Schauplatz dieser beiden ersten Bände ist hauptsächlich Schlesien, die Zeit eine vielbewegte. Die drolligen Anekdoten, die Herr von Holtei aus seiner Kinderzeit mittheilt, stehen mit Zeitereignissen und historischen Zuständen in Verbindung, zu deren Kenntniß uns jeder Beitrag willkommen ist. Preußens Unglück, Frankreich auf fremdem Boden, der Durchzug nach Rußland, die Rückkehr, die Erhebung des Vaterlandes, die Rüstungen, der Volksgeist vor und nach den Tagen des Sieges, die Stimmung der gesellschaftlichen Stände, der Frauen, alle diese hochwichtigen Thatsachen finden sich zwischen den Naschwerk- und Spielzeugsgeschichten wieder. Die Schilderung jener unglaublichen Gewaltthätigkeiten, die sich die Hessen, Baiern und Würtemberger in Schlesien erlaubten, Deutsche gegen Deutsche, verdient in den weitesten Kreisen eben so bekannt gemacht zu werden, wie jene würdelose Gesinnung so unzähliger Frauen, die in jenen Tagen der Schmach sich mit Preisgebung ihres Familienglückes den galanteren Siegern in die Arme warfen. Zum Sittenspiegel der Gegenwart, als Lehre für jede mögliche Zukunft verdienten die Beispiele Bd. 1 S. 79 die weiteste Verbreitung. Der junge Taugenichts, für den die Schule nur da war, um sie zu schwänzen, erwarb sich bei seinem Herumdämmern auf verbotenen Wegen sehr früh einen schärferen Blick für Lebensverhältnisse, als man ihn bei Knaben seines Alters findet. Er beobachtete mehr, als was er benennen konnte. Vielleicht ein Glück für ihn, daß ihn seine nur für die Bühne entzündliche Phantasie von allem Brüten über andere Dinge abzog. Dem breslauer Theater gehörte seine ganze Seele. Er berichtet uns über eine Bühne, der damals Ludwig Devrient angehörte, er erzählt die anziehendsten Einzelheiten, bis diese Partie von seinem eigenen „Antheil an der Weltgeschichte“, wie Göthe sagen würde, unterbrochen wird, den Marsch als Freiwilliger von 1815 nach Waterloo nicht, sondern nur nach Quedlinburg, wo sich diese jugendliche Reserve der Vaterlandsvertheidigung auflös’te. Die Freundschaft, die Herr von Holtei bald darauf mit Karl Seydelmann und August Lewald schloß, führte ihn in die Theaterlaufbahn zurück, deren Rosen- und Dornenkränzen wahrscheinlich die noch rückständigen Bände überwiegend gewidmet sein werden.
Ein großer Stylkünstler war Herr von Holtei nie. Seine Darstellung tritt etwas im Schlafrock auf. Auch könnte seine Neigung zu Betrachtungen selbst da wortkarger sein, wo diese Betrachtungen an und für sich seinem Herzen Ehre machen. Die Uebergänge vom Humor zu Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen kommen zu oft vor. Die Formel: Das ist das Leben! Das ist der Mensch! läßt sich zwar mannigfach umschreiben, aber Herr von Holtei ist von ihrer unläugbaren Wahrheit so ergriffen, daß er sie immer in ihrer ganzen nackten Einfachheit, und deßhalb zu oft, wiedergibt. Er übernimmt in seinem Lebensdrama zu oft die Rolle des Chors und gefällt sich in Zwischenreden, die er füglich dem Leser hätte überlassen können.
Zum Schluß noch diese Anmerkung: Wie mancher öffentliche Charakter, der in Folge seiner eigenthümlichen Lebensstellung einer zweideutigen Beurtheilung ausgesetzt ist, würde sich der Welt als ein aller Liebe und Achtung Würdiger offenbaren, wenn er sich entschließen könnte und dürfte, wahrheitsgetreu die ersten vierzig Jahre seines Lebens zu beschreiben!
Apparat#
Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Kommentar#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.