Vor Freude sterben. Ein Literaturbild#
Metadaten#
- Herausgeber
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.0
- Letzte Bearbeitung
- 06.12.2019
Text#
513 Vor Freude sterben.#
Ein Literaturbild.#
Die Franzosen haben einen wunderlichen Schriftsteller, Emil de Girardin. Zufällig ist der natürliche Sohn eines Generals der Restaurationszeit reich und vermag seinen Wunderlichkeiten ohne Schaden für seine Person nachzuleben. Keiner Partei angehörend, nicht Republikaner, nicht Monarchist, giebt er seine Rathschläge allen. Bei jeder Krisis, ob der Orleans oder Louis Napoleons, bot ihnen Emil de Girardin ein Memoire an. Schwerlich lasen es die von seinem steten Besserwissen Heimgesuchten. Der Staatsmann auf eigene Hand muß einen Ballast solcher sybillinischen Bücher auf Lager haben. Als ich vor mehr als dreißig Jahren in Paris bei einem Diner neben ihm mein Couvert hatte, erstaunte ich über die Anspruchlosigkeit seiner äußern Erscheinung. Er hatte zarte behende Formen. Fast glich er unserm Georg Herwegh, den man in seiner Jugend seiner schönen Augen und gelben Hautfarbe wegen einen Armenier nannte. Girardin’s Mutter war eine Creolin. „Lassen Sie mich Ihre rechte Hand sehen!“ bat ich meinen Nachbar, ohne daß ihm meine Bitte unangenehm zu sein schien. Er verstand diese sogleich. Ich wollte die Hand sehen, die im Duell den charactervollen Redacteur des „National“, Armand Carrel, erschossen hatte. Die Veranlassung des Streites war damals eine große Frage. Girardin hatte die „Presse“ begründet, ein Journal, das er dem Publikum um die Hälfte billiger anbot, als bisher die pariser Journale gekostet hatten. Die übrigen Journale fanden eine solche Buhlerei mit dem Publikum ordinär und werth genug, daß man an die Bekämpfung derselben sein Leben setzte.
Mit diesem sehr reizbaren, jedenfalls unberechenbaren Manne, einem unruhigen Charakter, der ewig plante und projectirte, versuchte Delphine Gay, ein schon in ihrer Jugend als die Tochter der Schriftstellerin Sophie Gay bewundertes Mädchen, zu leben. Sie galt für eine Dichterin höhern Schwunges und war jedenfalls ätherischer als ihre Mutter. Gefeiert und bevorzugt von den Orleans, konnte sie Lamartine’s Glaubensbekenntniß nicht theilen wollen, aber sie gehörte zu seiner Schule. Man weiß, daß sich Lamartine an die Engländer lehnte, die sogenannte „Seeschule“; das Siegel derselben könnte etwa eine Trauerweide sein, hinter welcher sich der Mond verbirgt; unten fließt - viel Wasser. Später ging Frau von Girardin selbstständig an die Fragen der Zeit. Sie hatte ihren Salon für sich, ohne ihren Mann, schrieb politische Comoedien und sagte den Zeitgenossen Wahrheiten im Style Molière’s. Keiner ihrer dramatischen Versuche machte außer der auch in Deutschland wohlberufenen „Lady Tartüffe“ mehr Glück, als eine einaktige Piece: „La joie fait peur“, deutsch etwa: „Freude ist bedenklich.“ Einer Mutter, die einen Sohn verloren zu haben glaubt und ihn tiefkummervoll betrauert, wird die Thatsache, daß er noch lebe, unter den allervorsichtigsten Cautelen beigebracht.
Man muß sagen, die Franzosen haben eine eigene Dressur für die menschlichen Empfindungen. Nach einer gewissen Seite hin, nach dem Gebiet des Schicklichen und Conventionellen im Gefühlsausdruck, möchte man sogar dem Reichstagsabgeordneten für Tauberbischofsheim, Dr. Schulz, Recht geben, der die Franzosen für „die gebildetste Nation der Welt“ erklärte. Die Landbewohner können allerdings nicht lesen und schreiben und tief stecken sie im gräulichsten Aberglauben, aber sie zeigen in Folge der katholischen Ceremonial- und Devotionsgesetze eine weniger stumpfe Haltung dem Schicklichen gegenüber als die protestantische Welt, die Genfer Schule ausgenommen. Im Grobsein seine Kraft zu fühlen, wie die Oberbayern oder Meck-514lenburger, ist dem Landbewohner in Frankreich nicht eigen. In der Empfänglichkeit für gewisse feinere Nuancirungen der Herzensvorgänge kommen die Wiener den Franzosen näher. Berlin ist in diesem Punkte am stumpfsten geartet. Zwar cultivirt die dortige Halbbildung das Märchen und findet Elise Polko „reizend“, aber in den Hauptfragen wird doch alles verurtheilt, was nicht verstandesmäßig motivirt ist und im Gefühl sozusagen auf der flachen Hand liegt. Ist doch auch der privilegirte Witz der satyrischen Blätter auf eine permanente Möglichkeit der Verspottung ästhetischer Wagnisse aus. Vollends besitzt die deutsche Bühne zu wenig einschmeichelnd interessante Persönlichkeiten, um psychologisch schwierige Voraussetzungen der Dichter dem Gefühl eingängiger, dem Verstande überzeugender zu machen. So sah ich zur selben Zeit, als ich neben dem Gatten der Verfasserin von: „La joie fait peur“ saß, ein einaktiges Stück von Scribe: „La jalousie d’un père“. Ein Witwer, Gelehrter, dessen ganze Welt nur noch seine Wissenschaft und seine Tochter waren, erfährt, daß diese geliebt wird und wiederliebt und in die Lage kommen will, ihn zu verlassen. Den Egoismus von Vätern, die aus Sorge um die Garantie ihrer Bequemlichkeit Töchtern das Heirathen verleiden, ja eingeleitete Partieen heimlich selbst zerstören, habe ich erlebt. Hier von Scribe wurde der Conflict des väterlichen Herzens tiefer gefaßt. Der Vater, den der Darsteller auf dem Theater „Gymnase“ mit einer Wahrheit spielte, die man bewundern mußte, war nicht etwa in Wahrheit verliebt, aber er schien es zu sein. Den Besitz des lieben Kindes dem Eindringling in sein Glück zu gönnen? Unmöglich! Diese zarte Wange sollte ein Anderer berühren? Diese weiche Hand den Vater nicht mehr allein streicheln? Nimmermehr! Inzwischen war die Art, wie sich zuletzt doch der Vater bezwang und in Heiterkeit überging und sogar einige Schwierigkeiten der Verbindung beseitigte, so fein vom Autor ausgearbeitet, vom Darsteller (ich glaube Numa) so trefflich wiedergegeben, daß man die Lösung eines unleugbar möglichen psychologischen Faktums anerkennen mußte. Wie anders dagegen kam das alles bei uns in Deutschland heraus! Ich ließ die Pièce übersetzen, überarbeitete sie, ließ sie versenden und erinnere mich, daß sowohl das Burgtheater wie das berliner Schauspielhaus mit dem Dinge nichts zu machen wußten. Die ausgespielte, auf Tritt und Schritt effecthaschende Routine eines Moritz Rott vermochte dem Vater kein erwärmendes Interesse zu verleihen und auch Ludwig Löwe war seiner selbst nicht Herr, wenn er sich im Frack bewegen mußte. Und sagen wir’s aufrichtig - keine deutsche Schauspielerin vermag das Wort: „Vater!“ so eigenthümlich sittig, so zärtlich zu sprechen, wie die Französin, ihre langbewimperten Augen niederschlagend, ihr: Mon père! von den Lippen hauchen läßt. Es gehört das eben zur obenangedeuteten Völkerpsychologie. Wir erziehen bei uns zum Natürlichen, nicht zu dem, was man den Curialstyl des Herzens, das Schickliche, die Conduite der Seele nennen könnte. Auch die „Furcht vor der Freude“, wie bei uns die Uebersetzer obiges Dramolet der Frau von Girardin genannt haben, fand nur mäßige Sympathie. Doch will ich eine Geschichte erzählen, wo in der That übergroße Freude einem meiner Bekannten den Tod bereitete.
Zwanzig Jahre mögen verflossen sein, daß ich in Dresden durch eine Anzeige im Lokalblatt einen Abschreiber suchte. Sachsen ist das Land der Schreiber, der Copisten. Nirgend sind mir so viel Lebensläufe vorgekommen, die sich lediglich auf eine gute Handschrift und die Hoffnung gründen, einmal irgendwo in eine Kanzlei einrücken zu können. Von hundert Offerten, die ich erhielt, gab ich einer etwas steifen Handschrift den Vorzug, weil diese deutlich, correct war und weil der Besitzer derselben in einem eigenthümlichen Ton der Ironie von eignen schriftstellerischen Versuchen sprach. Ich ließ ihn zu mir kommen und suchte mich über seine Zuverlässigkeit zu orientiren. „Wie heißen Sie?“ - „Franz Binnewerck!“ - „Wo sind Sie her?“ - „Ich weiß es nicht!“ - „Wer waren Ihre Eltern?“ - „Die habe ich nicht gekannt!“ - „Aber Sie müssen doch wissen, wer diese gewesen -?“ - „Eine Mutter habe ich gewiß gehabt; möglich aber schon, daß auch diese in Verlegenheit gekommen wäre, meinen Vater zu nennen. Ich bin ein Findelkind, ganz im Waisenhause aufgewachsen und erzogen, habe mich dann als Lehrer versuchen wollen, wozu meine Persönlichkeit sich nicht eignete, und wurde hierauf Schreiber bei Advokaten in der Provinz, bis ich nach Dresden wanderte. Ab und zu verdiene ich eine Kleinigkeit für ein Gedicht, das bei mir bestellt wird. Viel brauche ich nicht. Wenn ich nur Cigarren habe. Cigarrenrauchen stillt meinen Hunger und ersetzt mir das Holz zum Einheizen.“
Der originelle Mann gab diese Erklärung mit leiser, heitrer Stimme, einfach und natürlich. Franz Binnewerck zählte etwa dreißig Jahre, hatte ein freundliches, von wenig Bart beschattetes, fast immer lächelndes Antlitz, auf welchem eine eigenthümlich geformte spitze Nase, eine Art vorgestreckter Hamsternase, auffallen konnte, wie ich eine solche öfters bei Satyrikern, witzelnden Grüblern und Gedankenwühlern angetroffen habe. Dazu kam ein breitschultriger Wuchs und ein immer bescheidenes Benehmen. Die Arbeit, die ich ihm geben konnte, riß ihn aus seinen nächsten Verlegenheiten. Er lieferte sie correct und was den Werth jedes Copisten verdoppelt, pünktlich ab.
Selten ist mir eine größere Bedürfnißlosigkeit vorgekommen, als bei diesem mit der Zeit sich mir als immer ehrenwerther und tüchtiger herausstellenden Original. Mit dem doppelten Gewinn durch den einzigen Luxus, den er sich gestattete, hatte es ganz seine Richtigkeit. Er lebte in der That Tage lang nur von Brot und Wasser, wenn ihm nur eine Suppe, die er da oder dort in einer Arbeitergarküche nahm, wieder die Kraft erhielt, die er zum Arbeiten brauchte. In seiner Dachstube in der Amalienstraße besuchte ich ihn. Es befand sich kein Ofen darin und der Winter war ausnehmend kalt. „Ich spüre keine Kälte, wenn ich nur Cigarrenrauch im Zimmer habe.“
535 Als ihm die Besserung seiner Einnahmen eine veränderte Wohnung, bessere Nahrung, wärmere Kleidung gestattete, trat auch die geistige Begabung immer mehr an’s Licht. Ich erfuhr, daß mein Schützling schon ein fünfaktiges Lustspiel der Hoftheaterdirection angeboten hatte, daß er Novellen zu schreiben versuchte, vorzugsweise satyrische Aufsätze, für welche letztere ihm die Lächerlichkeiten des gemeinen Lebens, alte kokette Wittwen, geizige Junggesellen, die Vergnügungsparthieen auf gemeinschaftliche Kosten u. dgl. den Stoff boten. Allen diesen Sachen, deren Fortsetzungen ich im Manuscript zu lesen anfing, fehlte allerdings die Abrundung, die Spitze, ein befriedigender Schluß. Schade, mußte ich mir sagen, um die hübschen Einfälle im Einzelnen! Das Ganze war in der Regel zu verworren, hatte zu wenig Plan und Ziel und vor allem - das mußte ihm denn auch am meisten zu Gemüth geführt werden - „sind Sie zu wenig mit Kenntnissen ausgerüstet! Sie müssen viel lesen und lernen!“ So ging ab und zu ein Buch aus meiner Bibliothek in seine Räucherkammer. Ich sage: ab und zu. Denn jedes Buch war für ihn ein Stück Leben, eine Begebenheit.
In den ersten Jahrgängen der von mir herausgegebenen „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ wird man dem Namen Franz Binnewerck häufig begegnen, zuerst einigen kleinen Paramythien, die ich „Soziale Märchen“ überschrieb, wie ich denn überhaupt gestehen muß, daß Binnewerck’s Name nur unter Arbeiten steht, die entweder im Plan oder zur Hälfte in der Ausführung von mir herrührten. Große Honorare konnte die Oekonomie des genannten Blattes nicht zahlen, und doch mußte das Material, das gedruckt wurde, wenigstens mich selbst befriedigen. So blieb nichts übrig, als da, wo sich die Autoren 536 dergleichen gefallen ließen, selbst Hand anzulegen und die Sachen in meinem Sinne druckbar zu machen. Ich könnte eine Serie von zwanzig Bänden herausgeben, wenn ich die Romane, Novellen, gemischten Aufsätze sammeln wollte, die auf diesem Wege und nicht blos in jener Zeitschrift, mindestens zur Hälfte mein Eigenthum gewesen. Das Derbsatyrische in den Binnewerck’schen Volksschilderungen (z. B. Unterhaltungen am häuslichen Herd, Neue Folge, Band I und II) ist von ihm. Eine durchweg ihm eigne rhetorische Figur war die von Heine entlehnte Zusammenstellung incongruenter Dinge, wie: „Wieder einmal war der Frühling gekommen mit seinen Nachtigallen, seinen Veilchen und seinen noch im Mai erfrornen Nasen.“ Zu Zeiten wiederholte sich diese Figur zu häufig. Ein „Narrenalbum“, das mich plötzlich als Binnewerck’sches, ohne mich componirtes Buch überraschte und ihm von Kollmann in Leipzig ein Honorar von 20 Thalern einbrachte, war über die ersten fünf Seiten hinaus nicht zu lesen.
Eines Tages überraschte mich der bei alledem bescheiden, immer heiter, immer zukunftsfroh Gebliebene und nie aus der Sphäre seiner Selbsterkenntniß Heraustretende mit der Anzeige: „Ich habe mich verheirathet. Sie erschrecken gewiß! Ja! Mit einem braven Mädchen, das ich schon lange kenne. Aber mit einer Nätherin, die eher mir gegeben hat, als daß ich ihr zu geben brauchte. Auch jetzt wird in unserer Ehe, deren Abschluß wir mit einem Glase Bier auf dem Waldschlößchen gefeiert haben, Jedes seinen eignen Spartopf haben. Sie hat vollauf zu thun und kann sich selbst ernähren. Kinder werden nicht kommen. Für die Gebühren beim Pastor - wir gingen zu Fuß in die Kirche - hat das „Narrenalbum“ gesorgt.“
Die Laune dieses gutgearteten Tyll Eulenspiegel, dessen drollige Einfälle in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ aufzufallen begannen (seine Schilderung des Gewinnes vom Achtel am großen Loos, einer Volksspeiseanstalt, eines Besuches beim Herrn Vetter u. s. w.) blieb sich immer gleich. Sein Wissen erweiterte sich. Schon ließ sich manche Seite von ihm in Druck geben, ohne daß es nöthig war, viel daran zu ändern. Seine Sehnsucht wurde immer und immer wieder die Bühne. Seine Beobachtung der untern Volksklassen hatte etwas Holbergisches und so ermunterte ich ihn zu Lustspielen, gab ihm alte Pläne, die ich selbst hatte ausarbeiten wollen, ja machte mich zur nominellen Mitarbeiterschaft anheischig, wenn wir beide, wie die Franzosen, etwas Vernünftiges zu Stande brächten. Das that sich aber nicht. Die Unkenntniß der Bedingungen einer feineren Geselligkeit machte sich in seinen Ausführungen zu sehr geltend. Jeder Character, der über den mittleren Bürgerstand hinausging, wurde Karrikatur. Ich versuchte auf den Unterlagen, die mir von ihm gegeben wurden, weiter zu arbeiten. Es wurde unmöglich. Endete hierauf eine solche oft achtwöchentliche Arbeit wieder mit einer der Illusionen, an denen das Leben des Armen so reich war, so stellte sich Entmuthigung und der Druck der Sorge ein. Die Ehe war keineswegs so leicht zu überwinden, wie sich der Humorist gedacht hatte. Zwar bekam die Frau keine Kinder, aber der Hausstand zog sie von ihrem gewohnten Erwerbe ab und „schlechte Zeiten“ thaten das Uebrige.
Damals wurde die Schillerstiftung begründet. Bekanntlich ist der sinnige Dichter Julius Hammer der Erste, der sie angeregt hat. Ein Kreis von bekannten Namen wurde zu Hülfe gerufen. Die meiste Sorge und die eigentliche Aufgabe des Baues fiel auf den Erzähler. Seine Thätigkeit rief etwa zwanzig Filiale in’s Leben. Aber der Erwerb derselben würde 50,000 Thaler kaum erreicht haben, wenn nicht Major Serre auf Maxen, eine der originellsten Naturen, die nur den Psychologen oder den Satyriker beschäftigen können, die „Nationallotterie“ (die „gewonnenen Regenschirme“ werden noch Manchem in Erinnerung geblieben sein) begründet und mit Aufopferung seiner Gesundheit, ja seines Lebens durchgeführt hätte. Den Ertrag derselben, mehr als das Drittel einer Million Thaler, würde jedoch der unruhige, schwer zu behandelnde Mann dem Großherzog von Weimar und dem Abbé Lißzt für eine andere Stiftung, die Goethestiftung (deren Zweck die Ausschmückung Weimars mit Kunstdenkmälern und die Kostenbestreitung für Richard Wagnersche Musikfeste ist) überlassen haben, wenn nicht einer meiner Freunde, Advokat Edmund Judeich, und ich den plötzlich der Schillerstiftung untreu gewordenen Major Nachts noch um 11 Uhr im Bett sozusagen überfallen und ihn eher nicht verlassen hätten, bis er die Eingebung seiner plötzlichen Rancüne, zugleich einen Akt der Deferenz gegen Weimar, die schon entworfene Zusage, die Lotterie sollte nur zu Gunsten der Tiedge- und Goethe-Stiftung stattfinden, zerrissen und nach Weimar hin, von wo die „Protection“ für die Lotterie von ihm erbeten worden war, die Erklärung unterschrieben hätte, die wir ihm diktirten. Mißmuth über die erste Generalversammlung der Schillerstiftung, Streit mit dem Vorsitzenden des Dresdner Comités, dem Medizinalrath Carus, hatten ihm den Gedanken eingegeben, sich dem Weimarschen Verlangen zu fügen und die Schillerstiftung im Stich zu lassen.
Noch war die Zeit, wo aus dem Vermögen der Stiftung Unterstützungen gewährt werden konnten, nicht angebrochen. Doch kam sie nach Abwickelung des Lotteriegeschäfts. Die Verwilligungen fanden aus verschiedenen Kassen statt. Die große Centralkasse berücksichtigte nur Autoren von hervorragenden Verdiensten, die Filialkassen durften auf Lokalbedürfnisse Rücksicht nehmen und geringere Maßstäbe anlegen. Von dem Tage an, wo die Filiale berechtigt waren, ihre Zinsen nicht mehr zum Kapital zu schlagen, hatten die Dresdner von dem damals nur noch kleinen Ertrage ihrer besondern Lokalstiftung sich keine schönere Anwendung gedacht, als die ersten flüssigen 50 Thaler für Otto Ludwig zu bestimmen. Es war der 24. December, der Sturm fegte den Schnee durch die Gassen, aber obschon zwei Familienväter, Judeich und der Erzähler, selbst zum Weihnachtstisch erwartet wurden, trugen sie doch dem kranken Autor die Summe für seinen Weihnachtstisch in die entlegene Pirnaische Vorstadt hinaus. Größere Summen standen für ihn aus der Centralkasse zu erwarten, wo Binnewerck nicht genannt werden konnte. Doch die Lokalfürsorge, die den guten Willen für die That nehmen ließ, bestimmte im Comité einhellig 30 Thaler für Franz Binnewerck.
Als ich ihm diesen Beschluß anzeigte, erblaßte und zitterte er. Der Ausdruck des Erstaunens und der Freude erstarb auf seinen Lippen. Ich nannte ihm die Adresse und die Stunde, wo ihm die gewährte Summe zur Verfügung stand. Dreißig Thaler! Eine heutige Hotelrechnung für drei bis vier Tage! Ein Almosen, hingezeichnet auf einen circulirenden Bogen für Allgemeinzwecke! Die halbe Summe, die ein neues Kleid für Eure Frau auf die Wintersaison kostet! Binnewerck sah die 30 einzelnen Thaler sauber aufgezählt, schimmernd vor sich liegen, morgen sollte ihm der Anblick, der Besitz, das Einstreichen gewährt werden, ein Strahl wie ein Blitz leuchtete durch sein Auge, er mußte eilen, sich zu sammeln, und die wunderbare Mär da verkündigen, wo er der Mitfreude gewiß war. Kaum vermochte er sich aufrecht zu erhalten.
Wie durchschauerte mich die Nachricht, die ich gegen Abend durch ein an mich abgesandtes Kind empfing, ich möchte doch kom-537men, Herr Binnewerck läge im Sterben! Ich nehme meinen Hut, eile an’s Plauen’sche Thor, stürze an der Ecke der Ammon- und Polierstraße vier Treppen bis ans Dach und finde die Frau, die mir weinend entgegentritt mit den Worten: „Er kam und lachte und jubelte und sank um. Die Freude hatte ihn übermannt!“ In die vom Dachoberlicht noch leidlich erhellte Schlafkammer tretend, finde ich den schon Halbentseelten auf dem Bett ausgestreckt. Der Armenarzt war dagewesen, hatte noch einen Aderlaß empfohlen und sich achselzuckend entfernt. „Binnewerck! Kennen Sie mich nicht? Verstehen Sie mich?“ rief ich. Ein dumpfes Röcheln schien eine Antwort zu sein. Ich legte den heruntergesunkenen Arm wieder auf sein Deckbett. Die Frau wollte von seiner Freude, seiner athemlosen Hast, ihr die Schillerstiftungsnachricht zu bringen, erzählen - aber der Chirurg unterbrach sie. Er kam zur Aderöffnung. Diese gab kein Blut mehr. Der Arme hatte vollendet.
Die dreißig Thaler dienten, einem Proletarier der Literatur ein anständiges Begräbniß zu sichern.
Apparat#
Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Die Erinnerungsskizze Vor Freude sterben wurde 1874 in der kurzlebigen Leipziger Zeitschrift "Die Literatur. Wochenschrift für das nationale Geistesleben der Gegenwart in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft" veröffentlicht, die von Hermann Riotte und Paul Wislicenus herausgegeben wurde. Drei Jahre später nahm Gutzkow das Literaturbild in seinen Sammelband In bunter Reihe auf, hier mit dem Titelzusatz 1874. Für die Buchausgabe überarbeitete er den Text leicht, nahm einige Umformulierungen und Wortumstellungen vor, strich einzelne Ausdrücke, fügte wenige Worte, Satzteile bzw. Sätze hinzu. Noch bevor der Band Anfang November 1877 (vordatiert auf 1878) ausgeliefert wurde, erschien ein Vorabdruck daraus in der Breslauer Tageszeitung "Schlesische Presse", die zum Verlag von Salo Schottlaender gehörte. Die Redaktion versah den Beitrag mit der Fußnote: "Aus einem demnächst im Verlage von S. Schottländer erscheinenden Werke: ‚In bunter Reihe'." Der Text in der "Schlesischen Presse" stimmt dementsprechend mit der Buchversion des Beitrags überein.
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J1. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Kleine autobiographische Schriften und Memorabilien. Hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2018. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 3.)
2.1.1. Texteingriffe#
241,11 Unterhaltungen Unterhaltung
243,7 ersten ersteu
Kommentar#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.