Der Zauberer von Rom. Viertes Buch#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
  2. Stephan Landshuter
  3. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2: TEI-Auszeichnung
Letzte Bearbeitung
26.09.2021

Text#

Viertes Buch.#

3 l.#

Noch blieb der Winter aus und schon hatte das neue Jahr begonnen …

An einem milden Novemberabend wurde Graf Truchseß-Gallenberg von seinem kirchenfürstlichen Stuhl mit einem Aufgebot zahlreicher Truppen entfernt – in eine ostwärts gelegene Festung geführt – mit ihm Eduard Michahelles …

Keine Hand hatte sich gerührt, die gewaltige Entschließung des Landesherrn zu hindern. Diejenigen, die sich für diesen längst erwarteten Schritt der Regierung zu offnem Widerstande gerüstet hatten, wurden an jenem Septemberabend im Gasthaus zum Roland am Hüneneck aufgehoben und befanden sich seit Monaten im Gefängniß – Stephan Lengenich, Joseph Zapf, ein Arzt, ein Priester, einige Gemeindevorstände, Ackerwirthe, Schreiber, Landleute …

Die fortdauernd milde Witterung begünstigte aber dasjenige, was Dominicus Nück den „Treppenwitz“ nannte.

Jeden Abend in den Straßen ein zu spät kommender Protest … Rottirungen, Patrouillen – Zusammenstöße – einzelne Verwundungen –

4 Die Aufregung hatte sich ganz Deutschland, ja Europa mitgetheilt. Auch im Osten wurde von derselben Regierung ein anderer Erzbischof aufgehoben. Eine wilde Zeit! Sie entfesselte Geister, die der protestantische Fürst nicht geahnt hatte und die nach langem glücklichen Frieden ihm die Ruhe seiner letzten Lebensjahre rauben sollten … Vom Vatican hatte „der Knecht der Knechte“ am 10. December in einer Allocution an die Cardinäle Blitze geschleudert. Das kirchliche Leben stockte in den Landen, die zunächst betheiligt waren; wie Bann und Interdict, wie der Fluch auf Feuer und Wasser lag es auf der Ordnung des Lebens, allen Handlungen der Kirche, allen Weihen und Segnungen; der apostolische Stuhl hatte keine Stellvertretung anerkannt, die geweihte Hand des Priesters Immanuel fehlte, sie, die allein die Fasten, Ablässe, Dispense, Consense ertheilen konnte; rings waren die Wege des Heils gesperrt, da niemand die Vollmachten Christi besaß, die allein für diese Zeitlichkeit der Schlüssel Petri unter Verschluß hält. Die, welche nach dem Willen des Landesherrn den entthronten Kirchenfürsten zu ersetzen hatten, die Kapitel, die Administratoren, geriethen in Schwankungen, in Angst und Schrecken über ihr vom Heiligen Vater verwirrtes Gewissen. Die Lämmer flohen vor den Hirten … Nück und die Sporenritter und die Hunnius riefen Feuerjo! daß der rothe Hahn auf allen Palästen und Staatskanzleien drohte und das Vaterland in eine Spaltung gerieth, wie wenn Tilly wieder vor den Thoren Magdeburgs stehen sollte.

Nück’s bei alledem von ihm geleiteter „Treppenwitz“, seine zu spät gekommene Antwort auf die kühne That 5 der „Neunmal-Weisen“, hatte sich nur seit den Festtagen etwas gemildert …

Auch hatte am Morgen nach dem heiligen Dreikönigsabend Jodocus Hammaker unter dem Messer der Guillotine geendet.

Der Mörder des Fräuleins Brigida von Gülpen, genannt Frau Hauptmann von Buschbeck, gestand Dinge, die der Herrschaft „der Achselklappen mit den numerirten Knöpfen“ und der „Avantgarde des großen Czernebog“ verdrießlich sein mußten, denn er zog vor, mit der Kirche, der er nicht minder gedient hatte, im Frieden zu scheiden. Nück vertheidigte ihn. Der Mörder dankte ihm für seine Anstrengung, ihn vor den Assisen durchzubringen, mit manchem schmachtenden Blicke, den er aus seinem so kunstvoll beherrschten, doch verzweiflungsvollen Auge auf ihn warf, mit manchem gen Himmel gerichteten Aufseufzer, und nur einmal, als ihm Nück beim Plaidiren und gerade seine Dose ziehend schaudernd eine Prise verweigerte, die der Freche von ihm zu nehmen begehrte, da zuckten seine weißen Augen unheimlich drohend auf … doch der Agent beherrschte sich, schonte alles, was die eine seiner beiden Schultern getragen hatte, die kirchliche, und nur in seiner letzten Beichte, die er dem neuen jungen Domherrn, Herrn Bonaventura von Asselyn, gesprochen, mochte er Rückblicke gegeben haben auf sein Leben und Enthüllungen auch über den Verdacht, ob er einst einen Mann aufhing, der ihn jetzt noch einmal, wie schon früher vertheidigte.

Nach diesem entsetzlichen Zwischenspiel, das der Armesünder keineswegs durch übergroßen Heldenmuth zum Volksschauspiel „auf Applaus“ machte, war es 6 einige Abende recht still geworden … Auch war der Carneval abgesagt. Ihr Theuerstes opferte die Stadt, um zu beweisen, daß der Stellvertreter Christi mit Recht diese Zeit den schlimmsten der Propheten verglichen hatte.

Im Englischen Hof, in einem der ersten Hotels der Stadt, waren, wie seit einigen Wochen allabendlich, mehrere Fenster erleuchtet. Die Frequenz der Stadt hatte abgenommen. Niemand mochte dem Ansinnen der Loyalität, Feste zu geben, entsprechen und da manche Familie auch ihrerseits wieder vor dem Schein der Demonstration sich fürchtete und lieber auf dem Lande blieb, so fiel es auf, wenn irgendwo sich Leben zeigte in einer Stadt, der die geheimen Lenker in allem und jedem Trauer angesagt hatten.

Aber auch jene Fenster oben im ersten Stock des Englischen Hofes werden bald nicht mehr an jedem Abend erleuchtet sein …

Schon ist ein großer Reisewagen in der Einfahrt sichtbar, der, vorn und hinten bepackt, morgen aufbrechen und die oben wohnende Herrschaft nach Belgien und an den Strand des Meeres entführen wird, von wo aus es dann weiter gehen soll nach England …

Ein Reisecourier ordnet am Wagen. Ein anderer Diener hat die Gräfin von Salem-Camphausen, die Mutter des Grafen Hugo, in einem Miethwagen begleitet, in welchem sie noch einige Abschiedsbesuche macht …

In dem einen der oben von ihr seit zwei Monaten bewohnten Zimmer brennt etwas düster eine große Astral-7lampe auf einem runden, mit einem Teppich bedeckten Tische. Eine andere, hellere, wenn auch kleinere Lampe bescheint ein kleines Schreibbureau, an welchem eine Dame sitzt und mit Emsigkeit die Feder führt …

Alles still um sie her … Beträte auch ein Fuß das geräumige Zimmer, dem man die einer Abreise vorangehende Unordnung nicht ansieht, der Schritt würde durch einen Teppich gemildert werden … Eine kleine wiener Reiseuhr steht neben der Schreibenden, die zuweilen wie mechanisch auf sie hinblickt und sich flüchtig über den schnellen Lauf der Zeit zu wundern scheint, obgleich sie darum im Schreiben immer noch fortfährt …

Die Dame ist nicht, wie seit dem 20. November alles, was in dieser Stadt der gemeinsamen Stimmung Rechnung trägt, schwarz gekleidet, nur dunkelfarbig … weit ausgebreitet bauscht sich um sie her ein einfacher seidener Stoff … ein Spitzentuch, das den Nacken bedeckt, ist herniedergeglitten … ja an dem zurückgehenden Ausschnitt des Kleides kann man entnehmen, daß die emsige Schreiberin, um die Brust zu schonen, sich’s unbewußt bequem gemacht hat … Man sieht die Fülle der Anmuth und der Jugend.

Sie blickt auf und athmet wie erschöpft … Die saubern Octavblättchen, die sie vollgeschrieben, zählt sie und lächelt, da es deren so viele sind … Dies Lächeln sollte uns nicht fremd sein … Es hat Aehnlichkeit mit jener Duldermiene, die das Lächeln Armgart’s dem Blick der Madonnen Murillo’s so ähnlich macht … An dem seltsamen Glanz der langen Locken, die auf den weißen, 8 durch Zufall entblößten Hals der jetzt Lesenden niedergleiten, erkennen wir Armgart’s Mutter, die Oberstin von Hülleshoven, Monika von Ubbelohde.

In der That hat der Winter nie so nahe beim Frühling gewohnt. Nie ist der letzte Schnee in anmuthigerm Neckspiel auf die ersten Blüten eines Gartens gefallen. Nie hat der Sonnenstrahl zur Osterzeit so schnell die letzten Flocken der noch eisigen Lüfte hinweggeküßt. Oder müssen wir von einem Hagelwetter sprechen, das grausam seine Eiskörner zurückgelassen unter Rosen und Lilien? Monika’s Locken sind grau.

Monika ist eine Frau mittler Größe, nicht von übervollen, aber runden Formen. Ist ihr Antlitz jetzt nur vom Ueberbeugen so geröthet oder trägt es dies frische Incarnat für immer? Fast möchte man letzteres glauben, wenn man die schwellende Röthe der Lippen vergleicht, die ein wenig sich öffnen, weil sie leise vor sich hin das liest, was sie geschrieben … Ihr Blick ist ernst. Die Hand, weiß und klein, hält die Blätter etwas zu nahe dem Auge. Wer weiß, ob nicht auch diese schönen braunen Augen gelitten haben von viel Thränen, die sie vergossen haben mochte? Bei alledem liegt auf der Stirn ein seltener Friede. Oder ist es nur eine große Klarheit, die ihre Vorstellungen zu einem Lichte hindurchgerungen hat, das nun auch diese Stirn so edel erhellt? Eine Stirn, die unharmonisch ist, entstellt ein ganzes noch so zierliches Antlitz. Die Stirn dieser jungen Frau stieg sanft aus den eingesenkten Schläfen und erhob sich nur oben, dicht an den gescheitelt niedergleitenden grauschimmernden Locken, deren an jeder Seite drei bis auf die 9 in dem Lehnsessel sich aufstemmenden Oberarme fielen, zu einem leisen Hervortreten zweier Flächentheile, die in der Mitte durch eine einzige sanfte Linie getheilt waren. Die Rundung des Kopfes, dessen Hintertheil ein unterm Kinn zusammengebundenes Flortuch von schwarzer Seide bedeckte, war der Ausdruck eines Wesens, das die Harmonie und mit ihr die Gerechtigkeit liebte. Die Augenbrauen waren dunkel, nicht von dem Loose des Haares betroffen. Zitterten die Blättchen in der Hand der Lesenden, so war nur die Haltung der Arme, die sich auf die Lehnen des Sessels stemmten, schuld daran, nicht die bangende innere Aufregung, denn mit Ruhe, Fassung, mit dem Ernst eines Denkers überliest die junge Frau, was sie geschrieben.

Die Blätter lauteten:

„Seit vier Monaten, meine theure Freundin, haben Sie nichts von mir vernommen und vielleicht zu buchstäblich hab’ ich mein Wort gehalten, Sie zu verschonen mit den Aufwallungen über halbe und unentschiedene Zustände.

„Ich habe nicht in Anschlag gebracht, daß schon seit der Rückkehr des Obersten die Vorbereitungen getroffen sein mußten, Armgart so bald als möglich wieder nach Westerhof zurückzurufen. Unmittelbar nach meinem Briefe suchte ich einzutreffen. Kaum hatt’ ich von den Zimmern, die Herr von Terschka für mich bestellte, Besitz genommen, als ich mich in einen Nachen setzte und zur Insel Lindenwerth hinüberfuhr. Ich wiederholte eine der Scenen, deren vor Jahren so viele stattgefunden. Damals, in der seligsten Gewißheit, am 10 Ziele zu sein und mein Kind zu besitzen, es zu überraschen im Schlummer, es entdeckt zu haben in einer Köhlerhütte, bei einem Förster im Walde, hatten mein Schwager und meine ihm verbundene Schwester den Raub, den sie an zwei Aeltern begingen, schon wieder an einen andern Ort geborgen, nur daß ich diesmal nicht die mir tödlichen Worte in einem zurückgelassenen, immer gleichlautenden Briefe fand: «Dein Platz ist – in der Kaserne beim Olivaer Thor in Danzig; dort wirst du dein Kind finden!» Aber ebenso stand ich wieder wie sonst. Muttergefühl und Stolz im Kampf. Nach halbstündigem Warten auf Armgart merkt’ ich, daß sie nicht mehr auf der Insel war. Die Englischen Fräulein schienen aufs äußerste bestürzt; eine der Lehrerinnen war im Geheimniß. Als alles geweckt wurde und ich sehr gern den Nonnen eingestand, daß ich sie für unbetheiligt hielt am Verstecken meines Kindes, als die Lehrerin ringsum wirkliche Angst über einen möglichen Unglücksfall bemerkte und gestanden hatte, daß Armgart entflohen war, da hinderte ich selbst, daß man die Schiffer antrieb ihr nachzueilen. Wie sonst aus den Köhler- und Waldhütten ging ich, ich will nicht mehr sagen, mit dem Trotz meiner Jugend, aber doch so vernichtet und auf die erste Hoffnung tief erkältet, daß ich, wie schon oft im Leben, den Eindruck einer Frau ohne Herz zurückgelassen haben mag, als ich schweigend auf meinem Boot zum Ufer fuhr.

„Am folgenden Morgen besuchte mich die Lehrerin. Der Armen hatte man, als verdächtig, eine Flucht aus 11 dem Pensionat unterstützt zu haben, sofort gekündigt. Das schon ältliche Mädchen dauerte mich. Sie sprach ihr Leiden nicht aus, das das gewöhnliche verblühender Jugend und des unterrichtgebenden Tagelöhnerns schien, aber ich sah es ihr an und vertraute ihrer Erzählung. Das Mädchen schien mich nicht für würdig zu halten, ganz in ihr Inneres zu sehen. Ich war ihr «die Mutter, die ihr Kind aufgeben konnte». Erst als sie wiederholt auf mein graues Haar und den Ursprung desselben, den sie etwas ungläubig aus dem Kummer herleitete, zurückkam und ich jetzt, lächelnd sogar bei allem Leid, ihr sagen mußte: Liebe, Sie stellen mich viel zu hoch! Dies Erblinden meiner Haare stammt aus einer Lebensgefahr, in die ich mich einst begeben hatte, als ich mich vierzehn Tage lang versteckte, versehen nur mit einem Körbchen Proviant, ohne Wasser und auf den Augenblick harrend, wo ich die Wahnsinnigen, mit denen ich im Kampfe lebte, überraschen wollte – man fand mich endlich fieberkrank und der Typhus raubt oder bleicht uns das Haar –! – da wurde sie mittheilsamer und erzählte mir, was in Armgart’s Seele so vorgegangen, als wäre ganz der Geist ihrer Tante Benigna über sie gekommen, dieser Velledennatur, die der Meg-Merilis Walter Scott’s nicht unähnlich ist, ohne daß meine Schwester je den Hochlandsdichter gelesen haben mag. Ebenso will das Kind richten über mich und den Vater und setzt sich als Preis für unsere Aussöhnung! Die Lehrerin erbot sich zur Vermittelung mit dem Obersten, der so nahe wohnte und in dessen ganzer Art es liegt, daß er nicht einmal den Versuch 12 machte, sich umzusehen, wo er seinem einzigen Kinde begegnen könnte, geschweige es an sein Herz zu reißen. Ich lehnte die dargebotene Hülfe ab und verwies auf das, was vom Obersten mich immer getrennt hat und was uns ewig trennen wird.

„Von Herrn von Terschka erfuhr ich dann alle nähern Umstände dieser Flucht. Sie kennen seine unermüdete Gefälligkeit. Ich erfuhr die kleinsten Details. Begleitet von zwei ihr bekannten jungen Männern war das wahnbethörte Mädchen nach einer nächtlichen Fahrt auf die Station einer großen Postroute gebracht worden, wo sie die Diligence bestieg und nach Witoborn fuhr.

„Ich konnte ihr nicht folgen. Die Nähe so vieler Feindseligkeit beängstigte mich auch bei Lindenwerth. Ich schrieb einige Worte an den Dechanten und begab mich nach Belgien und Ostende, wo ich die Gräfin erwarten wollte, um sie, wie früher gehofft, mit Armgart, nun vielleicht allein nach England zu begleiten. Die Ankunft derselben verzögerte sich. Ich wartete wochenlang und sah das Meer in allen seinen wechselnden Launen, in seiner Größe und Gefahr, unheimlich und selbst im Sonnenschein und bei Windstille dem Menschen nicht wohlwollend. Die Jahreszeit wurde rauher, die Stürme tobten, die See ging hohl – eine Welle, die schon von weither rollt und über dem gefurchten Spiegel sichtbar wird wie eine glattgeschliffene riesige Sichel, immer näher kommt, immer mächtiger in ihrem weißen Gischt anwächst und dann sich auf den Strand wirft, hat etwas so unbarmherzig Unerbittliches, daß ich selbst vom schützenden Leuchtthurm aus nicht mehr diesem Spiele zusehen mochte. 13 Ich reiste der Gräfin entgegen, die endlich in Frankfurt angekommen war.

„Aber schon in der Residenz des Kirchenfürsten begegneten wir uns und haben wir hier die stürmischen Tage der Gefangennahme desselben erlebt. Die Gemüther waren und sind noch in einer Aufregung, die den Verkehr mit ihnen peinlich macht, zumal wenn man mit einer Protestantin auftritt, die so entschieden wie die Gräfin an ihrem Bekenntnisse festhält und hier überall mehr Mistrauen und Feindschaft, als Entgegenkommen findet. Die Rechte ihres Sohns auf die Dorste’schen Besitzungen sind unantastbar; die Processe, die man dagegen aufbrachte, sind in drei Instanzen zu Gunsten des Grafen Hugo entschieden worden. Terschka ist schon nach Westerhof, um die Uebernahme der Güter und die Verständigung über Paula’s Zukunft zu beschleunigen. Sie kennen meine Verehrung vor der hoheitsvollen Gesinnung dieser ehrwürdigen strengen Matrone. Schon mit ihrem Erscheinen entwaffnet Gräfin Erdmuthe jede Feindseligkeit; selbst der gefährlichste ihrer Gegner, der Procurator Nück, windet sich vor ihr, als wenn schon ihr Blick etwas Zähmendes und Bändigendes hätte; gerade ihm gegenüber thut die sittliche Macht des festen Willens und der reinen Ueberzeugung auch noth, da er noch bis zur Stunde, obschon alles für seine Clienten, die Geistlichen, die Klöster, die Stifte, die Landschaft, verloren ist, sich dem Unvermeidlichen nicht fügen will, zumal seit dem 10. December, wo von Rom aus hier alles wie mit unsichtbaren Schwertern bewaffnet ist.

„Eine freundliche Erscheinung waren mir die beiden 14 jungen Männer, die an jenem für mich so schmerzlichen Sonntage Armgart auf ihrer Flucht begleitet hatten. Benno von Asselyn arbeitet bei Herrn Nück und mußte sich leider als ein Gegner der Gräfin einführen. Doch verständigte die würdige Frau sich bald mit dem jungen unterrichteten Manne, der für einen Neffen des Dechanten gilt, aber nur ein Adoptivsohn seines Bruders ist und eine Spanierin zur Mutter haben soll. Der andere ist ein junger reicher Kaufmann, Namens Thiebold de Jonge, eine heitere, lebensfrohe Natur, etwas beschränkt, aber desto reicher ausgestattet mit jenem Enthusiasmus, der bei allen Dingen immer präsent ist, was man bei den blasirten jungen Männern dieser Tage nur noch selten findet. Herr de Jonge gestand mir in aller Offenheit, daß er mich nur mit großem Mistrauen betrachte, denn sein Herz gehöre dem Obersten, der ihm vor einigen Jahren in Canada das Leben gerettet. In Wahrheit aber gehört sein Herz nur Armgart. Sie scheint schon früh das Talent zu haben, die Männer zu verwirren. Herr von Asselyn und dieser junge Kaufmann lieben sie beide und ich weiß nicht, wem sie den Vorzug gibt. Wenigstens scheinen sich die jungen Männer resignirt zu haben, sich ihrem eignen Ausspruch zu unterwerfen.

„Natürlich war ich auch ihnen eine ganz herzlose Mutter. Erst seitdem sie zufällig in Erfahrung brachten, daß ich damals, als ich mich von meiner Krankheit erhob und im Spiegel mein graues Haar erblickte (allerdings in der Verzweiflung – weiblicher Eitelkeit!) mit allem brach und zu Ihnen in ein Kloster reiste, wo man, wie hier bei den Karmeliterinnen, nicht etwa 15 Näharbeiten fertigt, höchstens ein paar Unterrichtsstunden gibt und die übrige Zeit im Müßiggang vertändelt, sondern in ein Krankenhaus, in dessen stündlichem Geschäftsgang ich die Vergangenheit vergessen wollte, da milderte sich auch hier ein wenig das Mistrauen und ich muß schon über mich wachen, nicht etwa mich mit Lorbern zu schmücken, wenn ich von Ihnen und meinem Tode in Ihrem Kloster spreche.

„Statt Armgart soll die Gräfin nun nach England eine Italienerin begleiten, ein junges Mädchen, das die Gräfin aus ihren Besitzungen in Piemont kannte und hier wiederzufinden sich wahrhaft gefreut hat. Die Gräfin ist die Güte selbst und würde alles glücklich machen, wenn sie dazu die Mittel besäße. Sie warnten mich vor ihrem Lutherthum! Freundin, seit den langen Jahren, daß ich an Ihren Krankenbetten lebte, hab’ ich über die Religion in jedem Augenblick nachgedacht, nie aber über den Unterschied der Religionen. Auch Sie, theure Freundin, Sie, Aebtissin der Hospitaliterinnen, die Sie noch zu den Barmherzigen Schwestern alten Stils gehören, nicht zu den neuen, mit denen Vincenz von Paula den Jesuiten ein Geschenk machte, Sie haben mir ja selbst – wie oft gestanden, daß Sie die Zumuthung nicht ertragen würden, die Ihnen die Römlinge stellen, in Ihr Kloster neue religiöse Vorschriften einzuführen! Eines kann der Mensch nur vollbringen, entweder Gott in der Erfüllung seiner Pflicht dienen – oder sich ganz der Betrachtung ergeben und ausruhen und phantasiren und träumen. Wenn Sie noch beten und singen sollen, sagten Sie selbst, kön-16nen Sie nicht die Kranken pflegen. Die wahre Religion ist die Pflichterfüllung und ein ganzes Versenken nur in sie allein. Das beste Gebet ist eine That, die auf Gottes Beistand deshalb rechnet, weil sie gut ist. Ich höre hier zuweilen die Predigten eines neuen jungen Domherrn, eines Verwandten unsers Benno von Asselyn, der einen außerordentlichen Zulauf hat und der noch der Last der an ihn gestellten Zumuthungen, namentlich im Beichtstuhl, erliegen muß, wenn er sich nicht Schonung gönnt. Noch neulich sprach er die Worte, die ich nur gewünscht hätte von ihm weiter ausgeführt und auf die Gegenwart anders gedeutet zu sehen: «Wir bewundern und fassen es jetzt gar nicht mehr, wie das Christenthum in den alten Zeiten verherrlicht und bekannt wurde! Nicht nur war es die tägliche Ordnung alles Lebens, des öffentlichen wie des gesellschaftlichen und häuslichen, sondern der stündliche Ausdruck jedes Gefühls, jedes Gedankens, der stete Begleiter des Seufzens im Kummer, wie der Begleiter des Jauchzens in der Freude. Festzüge sah man und sie verherrlichten nur die Vorgänge der heiligen Geschichte – er strafte damit den kindischen Kummer um den verbotenen Carneval –; man sah Schauspiele wie jetzt und sie unterhielten durch die Geschichte der Passion; jeder Gedanke der Kunst, der Bildung, der Gelehrsamkeit war zu gleicher Zeit ein christlicher Gedanke.» – Nun wohl, flüsterte ich schon nach der Beendigung dieser Predigt der Gräfin zu, die sich entschlossen hatte, diesen Domherrn einmal zu hören (eine merkwürdige Aehnlichkeit desselben mit einer italienischen Bekanntschaft von ihr, auf die sie von der oben-17genannten jungen Italienerin aufmerksam gemacht worden war, zog sie an und wurde von ihr bestätigt): warum fügte er nicht hinzu, die Kenntnisse haben sich erweitert, die Anschauungen sind umfassender, die Pflichten verwickelter, die Lebensäußerungen mannichfaltiger geworden? Wenn jetzt nicht mehr jede einzelne Lebensthat die christliche Signatur tragen kann, so genügt es ja schon, wenn sie dem Christenthum nicht widerspricht … Freilich hat auch die gute Gräfin ihre Herzensberuhigung nur zu sehr darin gefunden, daß sie nach dem Standpunkte, auf dem sie einmal steht, dem Standpunkt des Grafen Zinzendorf –“

Bis hierher hatte Monika von Hülleshoven geschrieben …

Sie las die Blätter nur deshalb wieder durch, weil sie den Faden ihrer Erzählung verloren hatte, und eben fand sie ihn, wollte eben weiter schreiben, mittheilen, daß sie trotz des fertigen Gepäckes bis zur Stunde noch im Zweifel wäre, ob sie morgen nach England mitgehen sollte, als sie im Nebenzimmer die sanften Accorde einer Guitarre hörte … Sie wußte, daß sie von Porzia Biancchi kamen, die schon zur Reise alle ihre eigenen kleinen Geräthschaften geordnet hatte und vielleicht eben noch ihre Guitarre einpackend sich nicht überwinden konnte, das Instrument, das sie mit Gewandtheit spielte, anzuschlagen …

Allmählich wurde aus den Accorden ein Lied und Monika hörte nun zu schreiben auf … Ob sie wol endlich wahr macht, sagte sie sich, was sie uns so oft versprochen, daß sie einmal singen würde? Ich glaube, 18 sie fürchtet sich immer nur vor der Gräfin, die die menschliche Stimme nur geschaffen erklärt zum Lobe Gottes!

Leise und wie schüchtern erklang zu den angeschlagenen Accorden ein melodischer Gesang … Porzia hatte eine schöne Altstimme … Monika, um die italienischen Worte zu verstehen, lauschte …

Indem meldete der Courier einen Besuch und wollte im Nebenzimmer, wo Porzia sang, gleichfalls mittheilen, daß es Marco Biancchi war, ihr vor vier Monaten aus England gekommener Onkel, der in großer Eile sie zu sprechen begehrte …

Lassen Sie doch! sagte Monika und bedeutete den Meldenden, die Sängerin nicht zu unterbrechen. Sie wollte den Italiener selbst empfangen … Der Sprache desselben war sie mächtig … Sie sagte, sie würde Porzien das Nöthige dann schon mittheilen …

Marco Biancchi kam in großer Aufregung. Er wollte der Gräfin ankündigen, daß er mit ihr zugleich nach England reisen würde, wo er seit Jahren schon heimisch geworden …

Monika wußte, daß er von dieser Stadt aus noch weiter ins Innere Deutschlands wollte, daß er für seine Kunst, Bilder zu restauriren, Aufträge nach Frankfurt und München hatte und zuletzt einen dritten Bruder zu besuchen gedachte, der in Wien lebte und ihr selbst wohlbekannt war als ein dort vielgesuchter Musiklehrer …

Auf ihr Erstaunen, wie er seinen Plan so schnell hatte ändern können, gab Marco ausweichende Antworten und bald bemerkte sie, daß seine Rückkehr nach England keine freiwillige war, ja daß er mit einem längeren 19 Verweilen in dieser Stadt sich einer Gefahr aussetzen würde …

Porzia schien so in ihrem Gesang verloren, daß sie die nicht leise geführte Conversation des Nebenzimmers nicht hörte … sie sang und spielte alle die Lieder, die sie schon im Gasthof Zum goldnen Lamm, auf Befehl ihres längst nach Frankfurt zurückgekehrten Vaters, dem Onkel Marco sogleich nach dem ersten Wiedersehen als Probe ihrer Gaben hatte vortragen müssen …

Theils das angeborene lebhafte Naturell, theils das Gefühl von Sicherheit, das in einer in der vaterländischen Sprache geführten Conversation für ihn lag, veranlaßten das Geständniß des Italieners, Herr Benno von Asselyn hätte ihn aufmerksam gemacht, daß eine der Sicherheitspolizei angehörende einflußreiche Person ihm dringend anriethe, sofort Deutschland zu verlassen. Er würde bereits seit seinem ersten Ankommen beobachtet und gelte für einen Emissär der auf englischem Boden stattfindenden italienischen Conspirationen …

Für Monika war es nach dem ersten Ausdruck des Bedauerns und Erstaunens wohlthuend, in Verbindung mit einem, wie sie bald sah, so wohlangebrachten Rathe den Namen Benno’s zu vernehmen, der seit einiger Zeit sie nicht wieder besucht hatte, während Thiebold fast alle Tage kam und längst auch für sie seine gewohnte Schwärmerei zur Schau trug …

O das ist ja brav von Herrn von Asselyn! sagte Monika und forschte theilnehmend: Würden Sie sich denn nicht gegen diesen Verdacht haben rechtfertigen können?

20 Die Miene des Italieners wurde eigenthümlich von dem Gesange seiner Nichte begleitet … Es war ein Ausdruck, der zwar zunächst nur der der Verschmitztheit schien und doch mischte sich ihm etwas Elegisches bei, das Monika vollkommen als die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit erkannte. Ja wäret ihr Italiener wirklich nur fähig, die Freiheit zu ertragen! sagte sie. Ihr seid aber wahrhaft ein Volk von entthronten Königen! Entweder müßt ihr herrschen oder in Ketten gehalten werden –Deshalb verstand euch Napoleon so gut! Weil nur Er herrschen wollte, hat er euch mehr mit Füßen getreten, als irgendeine andere Nation!

Italia la regina del mondo! rief Marco und begann, sich in die Stimmung des leisen Gesanges nebenan versetzend, eines der vielen Gedichte zu recitiren, an denen für dies Thema seine Nation so reich ist und deren Zahl auch jeder einigermaßen gebildete Italiener durch die Kunst der Improvisation zu vermehren weiß …

Deshalb wollt ihr die Freiheit für euch, unterbrach Monika seinen langen Monolog, um sie wieder den andern Völkern zu entziehen!

Wir wollen nur das Joch der Fremden brechen! rief Marco. Ein Volk von Brüdern, von den Alpen bis zum Meere! Ein einziger Bund von Bruderstaaten! Republik oder Monarchie, nur keine Trennung mehr!

Aber dem Schlüssel Petri gönnt ihr dabei alle Pforten des Himmels, nur am wenigsten die eurer großen Roma! Ihr wollt ihn ganz nur zu einem Heiligen machen und aus der Liste der weltlichen Souveräne streichen! Aber thätet ihr das, so hat ja eure letzte Stunde geschlagen! Alle 21 katholischen Nationen würden sich zu einem neuen Kreuzzuge rüsten und Rom würde, wenn es den Kampf aufnähme, zerstört werden.

Das ist schon oft geschehen! erwiderte Marco mit einiger Ironie. Ja, ich weiß, es gibt Italiener, die unserm Glauben untreu geworden sind! Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich will den wahren christlichen Glauben und ich will, daß er eine große Macht besitzt. Aber ein geistiges verjüngtes Rom soll herrschen! Der Heilige Vater in Wahrheit ein Vater der Menschheit, erhalten von seinen liebenden Kindern, zunächst von den Römern, die durch ihn ihre alte Freiheit und Größe gewinnen müssen! Rom, der Sitz des Lichtes! Rom, die Sonne, deren Strahlen die Erde erleuchten! Einst zitterte die Welt vor den Waffen dieser stolzen Königin, aber schon damals brachten die Imperatoren mit ihren Adlern die milden Sitten und eine Gesetzgebung, die die Freiheit selbst war und das Menschenrecht und die geschriebene Vernunft! Roms Sprache ist die Sprache der Religion, der Wissenschaft, der Denkmäler! In alle Sprachen der Barbaren mußte sie eingeführt werden, wenn sie die Gedanken der Civilisation aufnehmen wollten, für welche diese keinen Ausdruck hatten. Roms Bischöfe wurden die neuen Befreier der Welt! Der Ring des Fischers drückt das Siegel auf alle Freiheitsurkunden, die noch die Nationen den Händen ihrer Henker abtrotzen werden! Roms Hirtenstab hat die Leibeigenen befreit, die Städte gegründet, die Gemeinden geschaffen, die Republiken erleuchtet, sie geschmückt mit Bildern und mit Denkmälern des menschlichen Geistes! Rom, ohne Waffen, Rom, 22 ein Gedanke, hat allein dem treulosen Corsen ins Auge zu sehen gewagt, muthiger, als Könige und Kaiser, die vor ihm im Staube krochen! Durch Rom wird das Christenthum erhalten bleiben als ein linder Balsam, der das Gemüth von seinen Wunden heilt! Nicht, Signora, das jesuitische Rom mein’ ich, das ich hasse, weil die Jesuiten die Freiheit hassen und die Unabhängigkeit der Völker und die wahre Größe des Menschen … Ha! Ceccone! Daß Menschen, wie du, dem wahren Rom ein falsches Gewand umhängen durften! Ceccone! Politiker statt Priester, Schergen, die die Patrioten verfolgen, statt sie zu schützen gegen die Feinde Italiens! Signora! Lassen Sie Italien frei sein von seinen Tyrannen, von seinen – Ceccones und die Geschichte wird ein Volk der Größe finden, Republiken, die sich mäßigen, ein Rom, das den katholischen Glauben wieder zur Sehnsucht aller Völker macht, auch der abgefallenen!

Das Auge des Italieners leuchtete. Sein weißes Haar schien sich zu sträuben. Der rechte Arm begleitete seine Worte wie mit den Gesticulationen der Rednerbühne …

Monika folgte mit Aufmerksamkeit und voll prüfender Ueberlegung … Cardinal Ceccone war ein in diesem Augenblick oft genanntes Glied der römischen Curie … Die Arme auf die Lehne des Sessels stemmend und die Locken schüttelnd, sagte sie: Nein, nein! Es gibt andere Italiener, die an diese Siege der katholischen Lehre nicht mehr glauben wollen!

Ich verachte sie! warf ihr Biancchi entgegen.

23 Sie berufen sich darauf, daß gerade ein Ceccone den Purpur tragen kann!

Noch las Ceccone keine Messe …

Nun gut! Aber aus allem, was Ihr mir von Euren Meinungen verrathet, erseh’ ich doch, daß Ihr dem Unbekannten zu danken habt, der Euch rathen ließ, nach England zurückzukehren! Was aber Porzia betrifft, laßt sie nicht zu viel in der schönen Bibel lesen, bei der ich sie zuweilen überrasche und die sie so heilig zu halten scheint, wie ihre Guitarre!

Es ist das Geschenk eines freundlichen Mannes, der schon ein wenig alt ist, sonst würd’ ich glauben, daß sie sich schwer von seinem Lande trennt! sagte Marco und wandte sich mit höflicher Verbeugung zu Porzia’s Thüre …

Ihr glaubt an die ewige Jugend Roms, das schon so alt ist? Dann müßt Ihr auch dem Geiste und der Liebe eine Verjüngungskraft zuschreiben! Wer ist denn der Verehrer dieser Bibel, in der Porzia so eifrig liest, daß ich fast glaube, sie studirt auch die deutsche Sprache darin, ihm zu gefallen?

Biancchi blickte immer auf die Nebenthür und schien auszuweichen, den Namen zu nennen …

Der deutsche Name wird für Eure Zunge zu schwer sein …

Ein Signore Hedemann ist es! sagte der Italiener festbetonend und verrieth in der prüfenden Schärfe seines Blickes, daß ihm die Beziehung dieses Namens wohlbekannt war zu dem Gatten der freundlichen Dame, die so vertraulich und wohlwollend und offenbar von seinen Aeußerungen angezogen mit ihm plauderte … 24 zugleich wollte er, als guter Anwalt seiner Nichte, die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, über einen Mann Erkundigungen einzuziehen, der die in St.-Wolfgang und Kocher am Fall angeknüpfte Bekanntschaft auch noch in der Residenz des Kirchenfürsten fortgesetzt hatte, als er zum Betrieb seiner Ankäufe hieher gekommen und so lange geblieben war, bis Frau von Hülleshoven von Ostende zurückkehrte, wo die Gräfin von Salem-Camphausen Porzia dann beim Wandeln in der Kathedrale entdeckte. Porzia war nach der Abreise ihres Vaters geblieben, um nach Frankfurt erst mit dem Onkel Marco zurückzureisen.

Welchen Namen nannten Sie? sagte Monika und erhob aufhorchend ihr gebeugtes, in Gedanken verlorenes Haupt …

Remigius Hedemann! wiederholte der Italiener und setzte frank und frei hinzu: Un intendente del Signore Colonello de Hülleshoven!

Bei dieser Bezeichnung schien ihm das italienische Verhältniß zwischen Diener und Freund vorzuschweben, das bei Landbesitzern und großen Adelsfamilien sich dort noch im Sinne der alten römischen Clientel erhalten hat.

Hedemann! sagte Monika erregt und erhob sich …

Statt dem Wunsche des Italieners entgegenzukommen und ihm nun über Hedemann weitere Nachrichten zu geben, winkte sie ihm, er möchte jetzt selbst ins Nebenzimmer treten … aber auch Porzia hatte eben leise ihre Thüre geöffnet und die Stimme des Onkels gehört … der Italiener trat zu ihr ein.

Wie Monika allein war, sammelte sie sich erst langsam von dem Eindruck, den ihr das plötzliche Nennen 25 eines Namens gemacht hatte, der mit ihren ernsten Lebensbeziehungen in so naher Verbindung stand. Hedemann war, solange sie denken konnte, mit ihrer Familie in der unzertrennlichen Verbindung eines sich nie überhebenden Dieners, Rathgebers und Helfers in aller Noth gewesen … Daß er und mit ihm der Oberst schon so in ihre nächsten Kreise eingetreten und daß dies zu ihrer Begleitung und Bedienung bestimmte junge Mädchen mit einem sie so nahe berührenden Manne bekannt war, nahm ihr fast den Athem. Auf und nieder ging sie und konnte zur Beendigung ihres Briefes nicht zurückkehren. Sie schloß die Blätter, die sie zusammenlegte, zuletzt in ein Reiseportefeuille, das sie mit der ihr ohnehin heute stündlich wiederkehrenden Empfindung betrachtete: Solltest du wirklich fliehen? Solltest du diese Reise nach England mitmachen? Was zagst du? Was trittst du nicht mitten in die Kreise ein, wo du dich so gehaßt weißt, und trotzest ihnen – wie der Oberst …? Sie wußte von Benno, daß der Oberst vorhatte, sich in Witoborn anzusiedeln und mit Hedemann sogar einen Industriezweig zu ergreifen.

Voll Erregung klingelte sie dem Courier, ließ die große Lampe heller herrichten, befahl die Vorrichtung zum Thee, da die Gräfin unfehlbar bald zurückkommen würde, und entließ Marco Biancchi, der aufgeregt seiner auf das Klingeln gleichfalls sich einstellenden Nichte folgte, sowol mit dem Rath, dem ihm gegebenen Wink baldmöglichst zu folgen, wie mit dem Erbieten, der Gräfin von dieser Wendung die von ihm gewünschte Anzeige zu machen. Daß Marco Biancchi trotz aller an-26geborenen Größe und Adelswürde seiner Nation Lust zu bezeugen schien, die Reisegesellschaft der Gräfin zu vermehren und auf deren Kosten wenigstens bis Antwerpen zu fahren, bemerkte die junge Frau noch nicht. Vielleicht erschien auch dem feurigen Patrioten eine Rücksprache mit dem Kurier eine noch geeignetere Maßregel, um zu seinem Ziele zu gelangen. Porzia, sichtlich erschreckt von der vernommenen Gefahr des Onkels, begleitete ihn hinaus.

Inzwischen hörte man einen Wagen anrollen … Monika, den Reiz einer an Porzia zu richtenden Frage nach Hedemann unterdrückend, trat an die vom Regen beschlagenen Fenster, sah in den düstern, von Laternen matt erhellten Abend, und stellte, als sie die Rückkehr der Gräfin erkannt zu haben glaubte, auch noch die kleinere Lampe auf den großen runden Tisch, den sie zum Sopha rückte. Lag dann auch in dem kurzen Blick auf einen Spiegel, in dem sie ihre einfache Toilette ordnete, die Schleifen des Geflechtes, das ihr Haar bedeckte, fester band, die in Verwirrung gerathenen Locken ein wenig aufwickelte, der Ausdruck der Sammlung und der ehrerbietigen Unterordnung unter die hochgestellte Dame, die in der That durch die weitgeöffnete Thüre eintrat, so war sie doch in einer Stimmung, wie Armgart damals, als sie mit Benno und Angelika am luftigen Hüneneck stand und in den Riesenhäuptern der Sieben Berge sieben Propheten sah – ungewiß, dem Gegebenen entrückt, „hangend und bangend in schwebender Pein“.

27 2.#

Frauen, die nie gelächelt zu haben scheinen, Frauen, die immer ernst, thätig und handelnd ins Leben griffen, wird man darum noch nicht männlich zu nennen brauchen. Ihre Frauenart bewahren sie in eigenthümlichen, ihrem Geschlecht allein angehörenden Zügen.

Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen war eine Norddeutsche, eine geborene Freiin von Hardenberg. Ihr Gatte wählte sie, angezogen von ihrer imponirenden Gestalt und untadelhaften Schönheit. Im lutherischen Glaubensbekenntnisse waren sich beide gleich, wenn auch die strenge Form, in der die Gräfin das ihrige bekannte, vom Grafen nicht getheilt wurde. Auch trat diese Strenge bei der Gräfin erst hervor, als sie, wie Monika damals von sich an Angelika Müller geschrieben, sich selbst zu erziehen anfing. Der Graf lebte meist in Ungarn, wo unter so vielen Protestanten keine Veranlassung gegeben war, sich in der so schwierigen Geisteskraft auszubilden, mit Ueberzeugung in der Minorität zu stehen. Die Gräfin dagegen, die größtentheils allein in Schloß Salem bei Wien lebte, war mehr in der Lage, ihre 28 Besonderheit zu kräftigen, ja zuletzt bedurfte sie eines Anhaltes gegen den General-Feldzeugmeister, ihren Gatten selbst. Nie herrschte eine Verstimmung zwischen ihnen, aber wo fängt die Bildung des Charakters im Menschen an? Von dem Tage, wo man eine Lücke unter seinen Wünschen und Hoffnungen fühlt, von dem Tage, wo man irgend worin eine große Niederlage erlitt. Graf von Salem-Camphausen hatte auf das Zufallen eines Vermögens an seine Gattin gehofft. Diese Hoffnung scheiterte. Kein Wort des Vorwurfs kam über seine Lippen, aber – die Lücke war da, der Zartsinn der Gattin empfand sie und sie mußte sie füllen. Schätze eines frivolen Geistes, die etwa in der Welt blenden konnten, besaß sie nicht; ihre Erscheinung hatte durch ihr erstes Kindbett gewonnen, durch spätere Fehlgeburten verloren; ihr einziger Sohn erforderte eine Erziehung und so schöpfte sie aus sich selbst so viel, als sie eben vorfand. Ein alter Grund von Religion war in sie gelegt worden, eine pietistische Lebensauffassung. Ihre Erzieher waren Herrnhuter gewesen, zu denen sich auch einige Zweige ihrer Familie ganz bekannten. Diese später zurückgedrängte, nicht ganz verklungene Bildung sammelte sich wieder in ihrem Innern und wurde ihr zum Ersatz für die Welt, die die Verlegenheiten des großen Hauses bemerkte, für die Zerstreuungen, die sie nie geliebt hatte, für die Hülfsmittel der Bildung, die man ihr für ihren Sohn anbot und die ihr misfielen, für den Gatten endlich selbst, der trotz seiner hohen Stellung ein sorgloser Lebemann war, einst im Bändigen eines Rosses eine Wette gewinnen wollte, sich 29 überschlug und den Hals brach. Das Entsetzen über dies in weiter Ferne von ihr in Erfahrung gebrachte Unglück schien wie starr auf ihren Gesichtszügen festgeblieben zu sein und die Gräfin versteinert zu haben. Ausdruck für ihre Trauer suchend, fand sie sie nur in den Erinnerungen an die religiöse Bildung ihrer Jugend. Sie fand mit ihnen jenen elegischen Trost, der zwar ausruft: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt in Ewigkeit! der nun aber auch für immer den ganzen Menschen in den Zustand der Entsagung versetzt. Ein Zurückziehen von der Welt, ein starres Festhalten an ihrem Glauben schien der vornehmen Gesellschaft, von der die Gräfin schon längst kalt und schroff genannt worden, jetzt vollkommen gerechtfertigt.

Der Ort, in dem die Gräfin den in Presburg erfolgten Tod ihres Gatten erfuhr, war jenes Schloß Castellungo im Piemontesischen, das sie sich aus ihrem Eingebrachten selbst erkauft hatte, weil ihr die Lage und die rings noch lebende Erinnerung an die alten Waldenser, die Vorläufer der Reformation, gefiel. Sie hatte sich diese Erwerbung aus ihren eigenen Mitteln zugetraut, weil sie damals mit begründeter Hoffnung durch den Tod eines Verwandten vermehrt werden sollten. Die Hoffnung schlug aber durch ein Testament fehl und die Gräfin besaß ein verschuldetes Eigenthum, während der Graf selbst, infolge einer seither mit immer größerer Dringlichkeit gesteigerten Erwartung, früher oder später die großen Güter der Dorste-Camphausen im westlichen Deutschland zu gewinnen, in seinem eigenen Haushalt keine Ordnung mehr hielt. Dennoch hatte er 30 die Verlegenheit seiner Gattin auf sich selbst übernommen. Er brachte den Besitz Castellungos für seine Frau so ins Reine, wie eben sein ganzes übriges Besitzthum stand. Er hieß der Herr und war es nur dem Namen nach. Die Aeltern der kleinen Bettina Fuld waren es von Schloß Salem und auch von Castellungo mehr als sein Sohn Hugo, der, als der Vater in der Blüte seiner männlichen Jahre so unglücklich endete, erst sieben Jahre zählte.

In einem Anfall von Mismuth über die zunehmende religiöse Neigung seiner Frau hatte sich der Graf bedungen, daß sein Sohn unter allen Umständen Soldat werden sollte. Wenn man in einem so entschieden altgläubig regierten Lande, wie bei uns, innerhalb der Gesellschaft vergißt, daß ein Mitglied des Adels zu den Ketzern gehört, hatte er gesagt, so kann das nur geschehen, wenn ihn der Nimbus der Bravour umgibt! Unabänderlich war es, daß Graf Hugo Militär wurde. Die Mutter war in Verzweiflung. Schon ihn aus den Augen zu verlieren, schmerzte sie; nun gar, ihn nicht selbst erziehen, ihn nicht vor den Gefahren der Welt schützen zu können. Graf Hugo besuchte die Militärakademie unter Bedingungen, die ihrer ganzen Stimmung widersprachen. Wenn sie jemals zu einem Lächeln kam, war es in den Augenblicken der Freude, wo Hugo auf einige Zeit der Ihrige sein konnte, nur unter dem Schutze ihrer mütterlichen Liebe stand, bei Ferien, später bei Urlauben, bei einer längeren Pflege, als er einst verwundet wurde in einem Gefecht gegen türkische Grenzer – drei Jahre stand er an der dalmatinischen Küste – und ihr da allein ange-31hörte. Sagten wir, daß an keinem Weibe, wenn wir es auch männlich nennen, Züge fehlen, die allein nur dem Weibe angehören, so ist dies bei der Gräfin Erdmuthe die Liebe zu ihrem Sohne. Diese äußerte sich nicht etwa in der regelmäßigen Form, wie überhaupt die Liebe sich gibt; nicht etwa z. B. in der Strenge, die von der Liebe nicht im mindesten ausgeschlossen ist, sondern in einer blinden Vergötterung. Graf Hugo war ein liebenswürdiger Cavalier, aber auch in vielem nur das, was man eben einen Cavalier nennt. Besten Herzens und namentlich ganz den Gefühlen für Kameradschaft und Freundschaft zugänglich, führte er ein Leben, das die Mutter unbedingt hätte verwerfen müssen. Aber selbst ihre religiöse Strenge, die sie gegen alle ausübte, war für die Beurtheilung der Dinge, die sie von ihrem Sohn erfuhr, nicht vorhanden. Alles, was nur mit dem Geliebten in Beziehung stand, verklärte sich ihr. Traten ihr die Folgen seines Leichtsinns zu deutlich entgegen, so hatte sie hundert Beispiele der Bibel über die Langmuth des Herrn, über seine Geduld mit denen, die er lieb hat, über die Verirrungen David’s und Salomo’s und die künftige Erleuchtung und Gottwohlgefälligkeit auch dieser heiligen Sünder. In jeder Mehrung der Schuldenlast, die schon lange das Haus Salem-Camphausen drückte, sah sie, was die Veranlassungen derselben betraf, einen Beweis mehr nur für den Satz, daß eben das Gute in dieser Welt sehr schwer zu erringen und zu behaupten wäre. Waren die Ausgaben des Sohnes irgendwie auf andere Veranlassungen zurückzuführen, als auf die, welche sich in der Hoffnung auf den endlichen 32 Gewinn in dem seit dem Tode des Grafen Joseph zu Westerhof geführten Proceß sogar bei allem Mangel wieder doch die Verschwendung gestatteten, so wählte sie gewiß die edelsten. Sie übersah die großen Ausgaben für Pferde, Wettrennen, Spiel, Vergnügungen aller Art, wenn sie die kleinen Ausgaben musterte für Bücher, Kupferstiche und Mildthätigkeitsbeweise. Ließ Graf Hugo ein schönes Mädchen, das er bei einer Kunstreitergesellschaft in einer dalmatinischen Stadt am Ufer des Adriatischen Meeres kennen gelernt hatte, in Wien ausbilden und erziehen, so verschlang diese, nach ihrer Meinung und Auslegung so „edle Handlung“, Tausende. Alles, was in den Rubriken des Leichtsinns stand, übertrug sie auf die Rubrik des guten Herzens. „Selig sind die Barmherzigen“, sagte sie, „denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!“

Vorzugsweise mußte diese mütterliche Schwäche wunder nehmen in der Beurtheilung auch aller der Verhältnisse, die sich mit dem Sohn verbanden. Der schöne junge Mann stieg in seiner Carrière und befehligte bei wenig über dreißig Jahren schon ein Reiterregiment. Jenes schwarzbraune Mädchen, Angiolina genannt, das er hatte erziehen und überraschend ausbilden lassen, war seine Geliebte geworden. Ihr blieb sie nur des Sohnes Pflegkind, sozusagen ihre Enkelin. Sie, die oft Wien mit Sodom und Gomorrha verglich und den Zorn des Herrn noch einst in Gestalt von Schwefel und Pech auf die sündige Stadt herniederregnen sah, nahm Angiolina’s Besuche an und ließ sich durch nichts in der Welt das Bild verwischen von dem Findling, den ihr Sohn hatte „einem Leben der Sünde entreißen lassen“. Graf Hugo brauchte 33 ihr dabei nicht einmal zu schmeicheln, brauchte nicht einmal ihr die Hand zu küssen und sie mit chère mamans zu überhäufen. Alles, was ihn betraf, fand sie in der Ordnung. Selbst wenn Graf Hugo erklärt hätte, er wollte Angiolina heirathen, würde sie sich überredet haben, ihr Sohn nütze vielleicht mit diesem Opfer nur sich selbst, jedenfalls jenem schönen Mädchen, das er auf diese Art vor sittlichem Schaden bewahre.

Besonders seltsam war ihre Anhänglichkeit an Wenzel von Terschka. Dieser Abenteurer, denn anders konnte man ihn nicht nennen, tauchte vor einer Reihe von Jahren plötzlich in ihres Sohnes Nähe auf. Durch Bildung und Erziehung fast Italiener, nahm sie ihn doch als das, wofür er sich ausgab, einen Böhmen und Nachkommen der alten Hussiten. War er auch katholisch, so verklärte ihn in ihren Augen die Erinnerung an Hussens Märtyrertod. Wenzel von Terschka war unleugbar böhmisch-deutschen Ursprungs; die Art, wie er früh nach Italien gekommen, blieb dunkel. Anfangs erschrak die Gräfin vor ihm, als sie ihm zum ersten male begegnete als dem intimsten Freund ihres Sohnes, dem er sich durch die trotz der väterlichen Katastrophe auch bei ihm leidenschaftliche Liebhaberei für Pferde genähert hatte. Wenzel von Terschka war ein Meister in allen ritterlichen Künsten. Eine Geistesgewandtheit besaß er, der nur ein innerer Mittelpunkt fehlte. Wenn die Gräfin plötzlich einen solchen gefunden zu haben glaubte, entsetzte sie sich wol, weil es ein ganz specifisch ihr feindseliger war, geradezu ein priesterlicher; aber, so seltsam dies Gefühl mit der Lebensweise Terschka’s, die an allen Excessen 34 des Grafen, seines intimsten Freundes, theilnahm, in Widerspruch lag, sie gewöhnte sich an ein stetes Ueberschauertwerden durch ein gewisses Etwas, als müßte sie auf dem rabenschwarzen kurzen Haar des wachsgelben, äußerlich anziehenden und in seinem Wesen klugen, sogar geistvollen jungen Mannes die Tonsur suchen. In Piemont, das damals ganz unter der Herrschaft der Jesuiten stand, hatte sie solche Erscheinungen gesehen, mit ihnen sogar im Kampfe gelegen … Sie hatte alles aufgeboten, auf ihrem Gebiete das Bekenntniß der Nachkommen Peter Waldus’, der vor Luther die Kirche zu reformiren suchte, aufrecht zu erhalten; sie hatte einen seltsamen Einsiedler, einen Deutschen, Bruder Federigo, in einer Hütte, die sich dieser in einem ihr angehörenden Eichenwalde gebaut, wo er dem ringsum wohnenden Volk ein Arzt und weiser Rathgeber geworden, geschützt, als die Pfarrer von Cuneo und Robillante ihn vertreiben wollten; sie hatte die Könige von Preußen, von England, Niederland und von Schweden aufgefordert, ihr Beistand zu leisten für den Kampf, den sie ringsum mit Bischöfen und Erzbischöfen begann, ja mit der Regierung in Turin selbst, um gewisse, den Waldensern gegebene Gewährleistungen aufrecht zu erhalten. Damals wurde Wenzel von Terschka von ihrem Sohn zuerst genannt und einen Winter in Wien verlebend, sah sie ihn dann selbst und hätte erst ausrufen mögen bei seinem Anblick: Das ist ja ein Jesuit! Jagte er aber dann mit ihrem Sohne die lieblichen Höhen von Baden-Baden herauf, während ihr Wagen an der „Spinnerin zum Kreuz“ stand, wo sie den geliebten Sohn aus Bruck, seiner Garnison, her erwartete, 35 und sah sie Terschka’s Sorge für die Rosse, seinen Muth, seine Entschlossenheit, hörte sie seine heitern Reden, beobachtete sie die wilden Unregelmäßigkeiten, die sich die Freunde in einem achttägigen Aufenthalte bei der chère maman erlaubten, so schwand ihr alle Angst und Sorge und sie überredete sich schon bei dem zweiten Besuche, daß Hugo doch schon wieder einen außerordentlichen Takt bewiesen hätte auch in der Wahl dieses seines Gefährten und daß, wenn Sirach sagt: „Ein treuer Freund ist ein Trost des Lebens; wer Gott fürchtet, bekommt einen solchen treuen Freund!“ hier vielleicht auch das Umgekehrte eintreffen könnte: Wer einen solchen treuen Freund bekommt, der wird auch lernen Gott fürchten!

Wie die Dinge standen, mußte die ganze Sehnsucht der Gräfin auf die endliche Entscheidung des Processes gerichtet sein, der nicht von dem Kronsyndikus von Wittekind, nicht von Levinus von Hülleshoven im Namen Paula’s gegen die Salem’sche Linie angestrengt wurde, sondern von den an der Aenderung der Dorste’schen Verhältnisse erst secundär Betheiligten, vorzugsweise der Geistlichkeit und der Landschaft. Zwei Jahre lang war ihr der Name Nück’s ein Bote der höllischen Geister. Sie nannte ihn nicht anders als mit einem Namen aus der Offenbarung Johannis, in die sie sich tief vergrübelt hatte, den Doctor Abadonna, den „Engel aus dem Abgrund“. Als endlich die Hoffnungen immer lichter wurden, immer mehr das Gewölk, das das Antreten eines so großen Besitzes verbarg, verschwand, konnte sie der mächtig wallenden Erregung ihrer Mutterfreude nicht länger widerstehen. Längst schon hatte sie 36 mit der Lady Elliot in England eine Berathung pflegen wollen über die Möglichkeit, in Italien die Reformation zu befördern und Rom durch die Bibel zu stürzen. Mit dem ihre ganze Seele erfüllenden Verlangen, die Kräfte, die England für eine solche Unternehmung in Bereitschaft halten konnte, selbst einmal durch den Augenschein zu prüfen, verband sie nun auch die Reise nach dem Orte, von wo aus sie die Lage des Processes übersehen, den Triumph der günstigen Entscheidung genießen, vielleicht eine Beziehung der Etikette zur Gräfin Paula und ihren Umgebungen anknüpfen konnte. Hätte sich jene die Religionsbedingung betreffende Urkunde gefunden, die seit zwei Jahren in Westerhof, Neuhof, Witoborn, Wien, Schloß Salem und Castellungo gesucht wurde, dann hätte ihre mütterliche Liebe einen andern Rettungsplan aufgreifen müssen, eine Verbindung Hugo’s mit der Gräfin Paula – eine Auskunft, die auch in der Familie traditionell eine sich von selbst verstehende Thatsache, ein lautes Geheimniß war – freilich für ihr Gefühl ein entsetzliches Unglück! Denn Paula war in einem fanatischen Geiste für ihren Glauben erzogen worden und Hugo sollte dann scheiden – von seinen Gewohnheiten, sollte brechen mit allen seinen Verbindlichkeiten, sollte „Opfer“ bringen, wie sie etwas nannte, was Monika von Hülleshoven eines Tages einmal leise, ganz leise und schüchtern nur der Gräfin eine – sittliche Wiedergeburt genannt hatte?

Die kleine schöne Frau „mit den silbernen Locken“ war erst seit einem Jahre in den Lebenskreis der stolzen, immer nur ernsten und feierlich gestimmten Matrone ein-37getreten. Sie hatte jahrelang bei einer Jugendfreundin, der inzwischen Oberin der Hospitaliterinnen gewordenen Schwester Scholastika, einer geborenen Freiin von Tüngel-Heide, aus ihrer Heimat, im Kloster gelebt und an den beschwerlichen Mühewaltungen derselben theilgenommen. Ihre Gesundheit, ohnehin erschüttert durch die Folge jenes Verstecks (beiläufig bemerkt, in einem chemischen Laboratorium ihres Schwagers auf Schloß Westerhof) und durch die darauf folgende Nervenkrankheit, fing zu wanken an in dem täglichen Verkehr mit dem zum Kloster gehörenden großen Spitale. Offen bekannte sie ihrer Freundin Scholastika, da sie kein Gelübde bände, würde sie in die Welt zurückkehren, „denn die Pflicht der Selbsterhaltung ginge über alle Sorge für Fremde, die nicht auf uns allein angewiesen sind“. Es war dies einer der Sätze, die zu einem immer mehr von der jungen Frau ausgebildeten System der Lebensphilosophie gehörten. Sie schied aus dem Kloster und verwarf damit zugleich das Klosterleben in seiner überlieferten Form. Sie sagte schon damals am ersten Abend, wo sie auf der Herrenstraße im Palais der Salem-Camphausen in einem prächtigen Rococozimmer mit Goldleisten und Spiegelwänden neben der Gräfin am Theetisch saß: „Es sollte keine andern Lebenszwecke geben, außerhalb der Bewährung unserer eigenen Kraft und unserer Erziehung zur Vollkommenheit! Eine Institution, die mich auch klein, unbedeutend, sklavisch gebunden, krank brauchen kann, ist des Menschen unwürdig. Nur dem sollen wir uns unterwerfen, was unsere Kraft in ihrer Größe braucht, sie entwickelt, uns die Frische des Willens und 38 der Thatkraft erhält. Daß gewisse Gedanken in der Welt realisirt werden müssen, nur um als solche zu glänzen, während das Einzelwesen, das zur Realisirung derselben beiträgt, dabei gering erscheint, werd’ ich nie für gut finden.“ Eine Aeußerung, die die Gräfin nachdenken ließ, sie aber zu dem Worte bestimmte: „Ich finde in diesem Ausspruch Wahrheit, aber Sie drücken sie mit zu vielem Menschenstolze aus. Wir ermangeln alle eines andern Ruhmes als dessen, den wir vor Gott haben.“ Leicht möglich, daß selbst der Gräfin Bonaventura’s Auffassung besser gefallen hätte, die wir damals berichteten, als dieser den Pater Sebastus vor dem Goldnen Lamm unter Bettlern sah – die Unterordnung gerade der stolzesten Individualität unter einen allgemeinen, der Menschheit im großen und ganzen als ein Schauspiel zur Nacheiferung zugute kommenden Begriff. Freilich war Bonaventura von dieser Auffassung schon am Tage darauf nach der Scene beim Kirchenfürsten schmerzlich zurückgekommen.

Trotz dieser Verschiedenheit der Ansichten hatte die Gräfin an Monika ein großes Gefallen gefunden. Sie war ihr ein lebendiger und höchst willkommener Beweis, wie der Katholicismus consequent durchgeführt zur Freigeisterei führen müsse. Sie suchte in ihr eine Proselytin zu gewinnen für die Lehre von der Wiedergeburt lediglich durch den Glauben. Die Bekanntschaft schrieb sich aus dem Briefwechsel her, der zwischen einem wiener Anwalt Monika’s und Schloß Westerhof entstehen mußte ihrer Erhaltung wegen. Monika besaß ein kleines Vermögen, das der Oberst unangerührt gelassen hatte, als 39 er nach Amerika ging. Im Kloster bedurfte Monika nichts, sie ließ ihre Zinsen stehen. Jetzt erhob sie Ansprüche auf das, was ihr gehörte und ihr noth that. Bereitwillig stellte ihr der Schwager Levin jedes Gewünschte zur Verfügung, ja Tante Benigna, ihre Schwester, wollte zulegen; letzteres lehnte Monika ab. Der regelmäßige Bezug ihrer Mittel führte sie durch jenen Advocaten mit Terschka zusammen, der der chargé daffaires aller Finanzsachen seines Freundes war und tagelang mit der Gräfin rechnen konnte – Graf Hugo behauptete, für die Zusammenstellung von Zahlen kein Geistesvermögen zu besitzen. Terschka, angezogen von Monika’s interessanter Erscheinung, aufmerksam auf die Namen Ubbelohde und Hülleshoven, die täglich in seinen Correspondenzen mit Westerhof und mit Nück vorkamen, gab der Gräfin Kunde von ihr und nun schien es den künftigen Besitzern der Erblassenschaft des Grafen Joseph standesgebührlich, die Schwester und Schwägerin der beiden Namen, die Paula hüteten und erzogen hatten, an sich zu ziehen. Die Gräfin wollte sogar ein Bewohnen des Palais auf der Herrengasse und bot Monika eine Stellung bei ihr an, die zwischen Freundin und Gesellschafterin die Mitte hielt. Doch auch Graf Hugo und Terschka wohnten zuweilen in diesem Palais und so mußte sie die freundliche Aufforderung ablehnen. Doch blieb ein ganz nahes Verhältniß. Fast täglich, wenn die Gräfin in Wien oder auf Schloß Salem wohnte, leistete ihr Monika Gesellschaft. Nur nach Castellungo, wo die Gräfin das Frühjahr zubrachte, war sie ihr noch nicht gefolgt, hatte das aber für dies laufende Jahr versprechen müssen. Im 40 Grunde hatte diese Beziehung wenig Erhebendes für Monika; ja die Gräfin ließ an ihr, wie an allen Menschen, nur an denen nicht, die zu Hugo’s Intimität gehörten, ihren steten Bekehrungs- und Erziehungseifer aus; nie kam ein Scherz, ein Lachen, eine enthusiastische Freude an Kunst oder Natur bei ihr zum Vorschein; das Theater existirte nicht für sie; alles das entsprach glücklicherweise im allgemeinen auch der Stimmung Monika’s und so folgte sie der greisen Frau, die sich schon an sie gewöhnt hatte, auf Tritt und Schritt, jetzt auch hierher und vielleicht nach England, obgleich sie für letzteres noch nicht ganz entschlossen gewesen war und vorläufig nur bis Antwerpen hatte mitgehen wollen … Seitdem von Porzia’s Onkel Hedemann genannt worden war, fühlte sie sich von räthselhaften Geistern bestürmt, die sie mahnten, ganz zurückzubleiben und die Gräfin morgen allein abreisen zu lassen.

Die hohe Gestalt der Greisin trat ein. Sie war mit einem weiten schweren Pelz bedeckt, den ihr der Diener abnahm. Ihre scharfen mageren Gesichtszüge verhüllte ein einfacher Sammethut, den sie noch nicht abgebunden hatte, als sie schon eine Anzahl Briefe, die sie sich selbst vom Postamte mitbrachte, an den Schirm der Lampe hielt und hastig nacheinander erbrach …

Ohne Brille konnte sie nur mit Schwierigkeit lesen. Sie mußte daher innehalten, ihren Hut abbinden und sich’s bequemer machen …

Porzia bediente sie dabei. Monika ordnete die Zurüstungen zum Thee …

41 Ich komme vom Doctor Abadonna! sagte die Gräfin. Ich wollte nicht verfehlen, vor meiner Abreise dem armen, geschlagenen Sohne der Finsterniß wenigstens diese Aufmerksamkeit zu bezeigen! Dem Herrn sei Lob und Ehre; denn Terschka schreibt ja –

Nun hatte sie das Futteral ihrer Brille geöffnet, das ihr Porzia auf einen stummen Wink Monika’s gereicht, hatte den Eckplatz des Sophas eingenommen, den Tisch sich näher rücken lassen, dann auch die Lampe näher gezogen und die Brille auf ihre vom Feuer der Erwartung glänzenden Augen gesetzt und einen der Briefe geöffnet …

Der Courier legte mancherlei inzwischen Angekommenes in ihre Nähe, einige Bücherpackete, einige Einkäufe, die schon vorausgeschickt waren, auch ein großes Papier, in dem sofort Monika, und nicht ohne einen gewissen Anflug von Verlegenheit – die Rechnung des Hotels erkannte …

Alles um die lesende Gräfin her war still und bewegte sich auf den Zehen. Nur sie allein sprach sich laut und mit Interjectionen aus, die ihre Zufriedenheit mit allem ausdrückten, was Terschka und ihre andern Correspondenten berichteten. Die Siegesgewißheit über den gewonnenen Proceß, wie die Aufregung über die bevorstehende Reise nach dem von ihr so lange ersehnten England, wo sie acht Wochen bleiben wollte, erhöhten die Kundgebungen ihrer Stimmung und weckten eine alte Lebendigkeit ihres Wesens, die sie durch ihre trübe Religionsauffassung schon seit so langen Jahren zu dämpfen verstanden hatte.

Vor den Dienern schwieg sie. Porzia aber, die 42 ohnehin der Sprache nicht ganz folgen konnte, hinderte sie nicht, an Monika, die sich zuletzt ruhig vor der siedenden Teemaschine niedergelassen hatte und bald auf die Gräfin, bald auf die sinnend sich zu schaffen machende Italienerin sah, von den Eindrücken, die sie im Lesen empfing, einzelnes bruchstückweise mitzutheilen …

Ja, dieser gute Terschka! sagte sie in abgebrochenen Sätzen … Wenn einer geschickt war, diese Aenderung mit den Verhältnissen in Westerhof in Güte auszugleichen, so war er es! … Eine Parcellirung … im größten Maßstabe … wie vorsichtig, sich an einen einfachen, uneigennützigen Mann zu wenden … einen Juden, Namens Löb Seligmann … „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon!“ … Aber die Offerten der Fuld’s lehnt er ab … das ist schön! … Diese Helfer in der Noth haben wir in Wien genugsam kennen gelernt! … Die Lotterie ist nicht erlaubt, wie bei uns … Also Verkauf! … so gern – ja so gern ich gewünscht hätte, wir hätten die Burg Gottes aufgerichtet im Lande der Edomiter und das Evangelium gepredigt denen, die noch unter dem Gesetze leben – Terschka grüßt Sie, Baronin! unterbrach sie sich selbst …

Monika dankte leise nickend …

Die Gräfin hatte unter der Brille ein wenig aufgeblickt, um zu beobachten, wie dieser Gruß auf die junge Frau wirken würde … Ihre Stimme, die schon an sich wohllautend war, nahm einen besondern Ausdruck von Innigkeit an, als sie das Wort sprach: „Terschka grüßt Sie, Baronin!“

Ein Purpurroth war auf Monika’s Wangen getre-43ten … Das sah die Gräfin wol und seufzte … Monika gedachte, ob Terschka nichts von Armgart schriebe, wie er schon oft gethan … doch auch das Seufzen der Gräfin, das völlig anderes im Sinne hatte, verstand sie … sie wich Fragen und Erörterungen aus und hielt fast den Athem an, jetzt aus andern Gründen noch, als deshalb, die Gräfin nicht in ihrer Spannung zu stören …

Diese erzählte zwischendurch vom Doctor Abadonna …

Er wand sich doch wie der Fürst der Finsterniß … sagte sie. Kriechend höflich war er … wie einst die Verdammten vor dem ew’gen Richter stehen müssen … Der liebenswürdige junge Herr von Asselyn geht morgen nach Westerhof, um die letzte Abwickelung zu erleichtern … O mein Sohn! … Wie gespannt er schreibt! … Nur so kurz! … So kurz! … Was? Angiolina ist krank? Das entschuldigt ihn!

Monika behielt Zeit, die Gedanken zu sammeln, die ihr doch die Brust in fast hörbaren Schlägen heben und wieder sich senken ließen … Geht Benno jetzt nach Westerhof? … Dem fühlte sie wie mit Wonne und doch mit Schmerz nach. Fast Eifersucht war es, das sie erfüllte, und wieder gedachte sie: Was wird der Blonde, der andere, Thiebold de Jonge sagen, der täglich kommt und heute noch nicht da war? … Und dabei glitt ihr Blick – wieder auf die Rechnung des Hotels, die so lang, so lang schien … Eine eigene Ideenassociation: Thiebold’s Reichthum, ihr kleiner Creditbrief bei dem Hause Piter Kattendyk, die ganz biblische Sorglosigkeit der Gräfin in Geldsachen und Thiebold ein Bewerber um Armgart – dann aber auch – Angiolina, die sie nur ei-44nigemal aus der Ferne gesehen … das schöne, allbewunderte Mädchen, das mit dem Grafen Hugo nur zu verbunden lebte, kam ihr, als krank gedacht, seltsamerweise wie Benno von Asselyn vor, blassen Teints und wie den fernsten Zonen angehörend …

Etwas war die befriedigte Erregung der Gräfin durch den so kurzen Brief des Obersten, ihres Sohnes, doch gestört worden. Sie erinnerte jetzt an den Thee … Porzia wollte helfen … Monika bedeutete sie mit einem Augenwink, auf ihr Zimmer zu gehen … Gern hätte sie ihr gesagt: Singe wieder deine traurig schönen Lieder! Zaubere uns vor, was alles freudvoll und leidvoll im Menschenherzen liegen kann! … Der Gräfin würde sie schön damit angekommen sein.

Der Thee entquoll schon dampfend der Maschine, aber die Gräfin weilte noch in ihren Briefen –

Lady Elliot schreibt voll Ungeduld – sagte sie, eine Tasse ergreifend … Sie ist so gütig und gibt immer ein englisches und ein französisches und dann ein deutsches Wort, um meiner Schwäche entgegenzukommen, die ihre Sprache nicht versteht … „Alle Schrift von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit“ – 30000 Bibeln in einem Jahre in Irland vertheilt! … „Könnte man Pater Matthew gewinnen?“ Hm! Hm! … Darin hat sie Recht – aber – „das Thier mit sieben Köpfen schnaubt und dräuet, daß sich darob die Sterne verfinstern“, wenn es an die Bibel geht …

Monika war über alle diese Anspielungen durch tägliches Erörtern vollkommen unterrichtet …

45 Auch ein langer Brief vom „Onkel Levinus“ lag da, den die Gräfin nach einer halben Tasse Thee, die sie schlürfte, mit einer gewissen Scheu überflog und dann an Monika übergab, weil er vielleicht mehr für sie, als für die Adressatin bestimmt schien …

Sie wandte sich jetzt dem Rest ihres Thees und in Gedanken verloren einem leichten Gebäck zu …

Monika nahm den dargereichten Brief und las ihn mit einer schmerzlichen Miene für sich, während die Gräfin die letzten Briefe durchsah, solche, die ihr aus Schloß Salem und Castellungo von ihren Verwaltern gekommen waren …

„Wenn es diesen Zeilen gelingen könnte“, schrieb der Bruder des Obersten, „Ew. gräflichen Gnaden noch vor Ihrer Abreise nach England anzutreffen, ja Ew. Hochgeboren zu bewegen, die Nähe Westerhofs nicht unberücksichtigt zu lassen und uns mit einem Besuche zu beehren, so würde ich zuvörderst damit den Wunsch unserer lieben Comtesse ausgesprochen haben, dem sich der des Fräuleins Benigna und mein eigener ehrerbietigst anschließt. Die Wege bis zu uns sind bequem ober bieten bei der Milde des Winters keine großen Schwierigkeiten. Persönlich die Gesinnungen wiederholen zu können, die ich als langjähriger Freund und Verwalter des Grafen Joseph über die in Gottes Rath beschlossene Zukunft seiner Besitzthümer immer von ihm vernommen habe, würde mir zur besondern Genugthuung gereichen. Aus dem Schoose der Familie unserer Gräfin, selbst den allerdings jetzt kaum noch den Lebenden angehörenden frühern Vormund derselben, ihren Onkel, den Kronsyn-46dikus von Wittekind-Neuhof nicht ausgenommen, der, wie Ew. Gnaden wissen, immer einer anderweitigen Auskunft, einer Verbindung beider Linien den Vorzug gab, ist nichts unternommen worden, was diesen gegen die Ansprüche des Herrn Grafen Hugo geführten unseligen Proceß hätte schüren und fördern können. Uns lag nur ob, das Vorhandensein jener Urkunde, die christkatholische Religion der jüngern Linie verlangend, möglicherweise aufzufinden und auch hierin einen etwa vorhandenen Wunsch der Vorvordern zu erfüllen. Die Nachforschungen konnten eine solche nicht auffinden und so gebe denn der gute und gerechte Gott seinen Segen zu der Ausgleichung, die, dank der Einsicht des vom Herrn Grafen übersandten Vermittlers, Herrn Baron von Terschka, vorzugsweise darauf hinauszukommen scheint: Der letzten Erbin der ältern Linie verbleibt Schloß und Hof Westerhof nebst den nächsten Adjacentien auf hundert Morgen in der Runde als standesmäßige Abfindung und erbeigenthümlicher Besitz für ewige Zeiten; alles andere fällt der jüngern Linie zu, vorbehaltlich der Rückkäufe, die der Comtesse für einige Grundstücke und Waldungen offen bleiben. Für die Regulirung dieser Procedur hat Herr Oberprocurator Nück uns die Ankunft des Herrn Benno von Asselyn verkündigt. Wir erfreuen uns in Herrn von Terschka eines weisen und wahrhaft discreten Vermittlers, der in allen diesen schwierigen Verhältnissen seit Monaten Großes geleistet hat. In kurzem ist er der Liebling der Gegend geworden, womit viel gesagt ist bei einem Volksstamm, der sich schwer anschließt, ohnehin, weil man der neuen Wendung der Dinge um so mistrauischer ent-47gegensah, als wir uns gerade jetzt infolge des bekannten traurigen Weltereignisses in einer confessionellen Aufregung befinden, die mehr, als ich wünschen möchte, die Gemüther erbittert und ein paritätisches Zusammenleben unmöglich macht.“ …

Monika las zwar für sich; aber die Gräfin, die jetzt aufstand und sich einiges an ihrer Haustoilette zu schaffen machte, beobachtete sie und sagte:

Sind Sie an der Stelle, wo der wunderliche Herr mir die Unmöglichkeit des Zusammenlebens mit Ketzern schildert, nachdem er mich doch zuvor eingeladen hat, Westerhof zu besuchen?

Monika mußte lächeln, so schmerzlich erregt sie war … Sie blickte auf das Ende des Briefes, um nach Armgart’s Erwähnung zu suchen …

Der Brief lautete im Zusammenhange:

„Comtesse Paula ist glücklich, daß sie Westerhof behält. Sie drückt Ihnen, gnädigste Frau Gräfin, ihre ganze Verehrung aus. Es würde Sie gewiß erfreuen, eine Verwandte kennen zu lernen, die mit einem selten gebildeten Geiste eine Einfachheit und Güte des Herzens besitzt, die durch keine Verkürzung und Schmälerung ihrer Glücksgüter getrübt werden kann, höchstens, daß ihr die Mittel zum Wohlthun verringert sind …“

Wieder unterbrach die Gräfin die im Zimmer herrschende Stille. Sie folgte der Lectüre Monika’s im Geiste Zeile für Zeile, so fest hatte sich ihr sofort trotz kurzen Durchfliegens der Inhalt des Briefes eingeprägt.

Um Comtesse Paula, sagte sie, gesteh’ ich es zu bedauern, daß ich der Aufforderung nicht folgen kann …

48 Monika verstand vollkommen, was in diesen Worten liegen sollte. Es war die mütterliche Sorge für die immer doch noch nicht ganz gewisse Zukunft. Fand sich noch irgendein Hinderniß für die Ausgleichung des Familienstreits und entging den Salems-Camphausen eine seit fünfzig Jahren ihnen immer dringlicher und dringlicher gewordene Hoffnung, von der ihre Ehre und der Bestand ihres Namens auf Generationen abhängig war, so konnte und mußte der Fall eintreten, daß Graf Hugo um Paula warb … Deshalb lag in den folgenden Worten, die die Gräfin unter andern Umständen mit viel größerer Strenge würde gesprochen haben, eine bei ihr seltene Milde:

Das arme Kind soll nach allem, was ich höre, immer wieder in ihre Visionen zurückfallen! Sie ertheilt im magnetischen Schlafe Rathschläge an Kranke! Schloß Westerhof, sagte Nück, soll von Morgens bis Abends belagert sein von Hülfsbedürftigen, die oft aus weiter Ferne kommen, um sich von ihren Leiden heilen zu lassen! Aus dem wahren Geiste Gottes ist das nicht … Die Apostel hatten diese Gabe auch, aber um ihres Glaubens willen und bedurften dazu nichts, als nur des Gebets. Sie, Baronin, weiß ich, sagen freilich rundweg, das alles wäre Wahn oder die Macht des Willens, der da sagt: Sei geheilt! und der Kranke ist – zuweilen geheilt. Der Wille scheint Ihnen allmächtig! Wenn man an sich selber nur glaubt! O, Sie wissen, meine Gute, wie wenig ich von allem halte, was ohne die Gnade Gottes ist! Doch bin ich weit entfernt, den Katholiken die Gnade Gottes abzustreiten, wenn sie sich ihr in 49 inbrünstigem Gebete nahen! Mischen sie aber Thorheiten ein, wie die fürsprechenden Engel und Heiligen, nun, so mag der Herr auch das kindliche Lallen der Seele in ihrer unverständigen Verblendung wol mit väterlicher Geduld vernehmen, ist nur der Grund da des Vertrauens zu ihm. Sie erinnern sich, daß Ihre Freundin bei den Hospitaliterinnen die heilige Hildegard nannte, mit der ihr Comtesse Paula Aehnlichkeit zu haben schien. Das sagt’ ich Ihnen ja noch gar nicht, wie ich bei Bingen das Grabmal dieser sogenannten Heiligen gesehen habe! Ich beschloß, mich etwas genauer über sie zu unterrichten. Da erfuhr ich denn, daß die ernsthaftesten Männer mit dieser Aebtissin, die so viel Wunder verrichtete, in Verbindung standen, ja ein Bernhard von Clairvaux und sogar der damalige Papst –

Sie wünschte ihm Glück zur Ausrottung der Waldenser! warf Monika ein …

Wie? rief die Gräfin …

Mit diesen wenigen Worten änderte sich plötzlich der ganze Gedankengang der Gräfin …

That sie das? fuhr sie bestürzt fort und hielt im Wandeln durch das Zimmer inne. Sie verließ sich auf die Kenntnisse Monika’s, die ihr bei solchen entschiedenen Behauptungen verbürgt waren …

Sie that es in einer Sprache, fuhr diese fort, die sie nur in ihren Visionen kannte, der lateinischen. Ihr Beichtvater schrieb diese Visionen nach und veröffentlichte sie später; es war ein Pater Gottfried … Ich habe mich in Mußestunden viel mit dem Leben der heiligen Hildegard beschäftigt …

50 Dann war sie eine Betrügerin! wallte die Gräfin auf und endete ihre Rede mit dem völligen Gegentheil dessen, womit sie begonnen hatte. Sie hatte darauf hinaus wollen, daß ihr allerdings an der heiligen Hildegard interessant gewesen wäre, sich nach ihrem Beispiel die ekstatischen Zustände Paula’s zu denken. Nun aber sagte sie: Auch in Westerhof werden es die Pfaffen sein, die die Krankheit des armen Mädchens benutzen und sie zur Närrin machen! Ich dorthin reisen! In der dumpfen Luft würde ich den Athem verlieren! „Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der Zauberei trieb und gab vor, er wäre etwas Großes, und sie sahen auf ihn und sprachen: Der ist die Kraft Gottes, die da groß ist! Da sie aber Philippi Predigten hörten von dem Reich Gottes und den Namen Jesu Christi, ließen sich taufen, beides Männer und Weiber.“

Monika las weiter:

„Herr von Terschka unterbricht mich und verbindet seine Bitte mit der unserigen, Ew. gräflichen Gnaden möchten in der That den Umweg nicht scheuen. Begleitete Sie nicht vielleicht Herr Benno von Asselyn, so würde Ihnen vielleicht der Domherr von Asselyn, sein Vetter, eine interessante Reisegesellschaft sein. Wir erwarten ihn jeden Tag zu einer kirchlichen Inspection. Auch einigen Worten des Herrn von Terschka, Armgart von Hülleshoven, meine Nichte, betreffend (jetzt zitterte der Brief in den Händen der von ihrem Kinde geflohenen Mutter) geb’ ich gerne Ausdruck und bitte Sie, Ihre Begleiterin, Frau von Hülleshoven, meine Schwägerin, zu versichern, daß sowol in meiner langjährigen Freun-51din, Fräulein Benigna, ihrer Schwester, wie in mir die Reihe der Jahre den alten Groll gelöscht hat. Was Sie auch, gnädige Gräfin, über unser Zerwürfniß erfuhren, beurtheilen Sie es nach dem Temperament von Menschen, die wie unser ganzer Volksstamm ein starkes und unbeugsames Rechtsgefühl haben. Nur auf der «rothen Erde» konnten die Vehmgerichte entstehen, jene Selbsthülfe des Volks in einer rechtlosen Zeit … (Die Buchstaben verwischten sich der Lesenden vor Erregung …) Es ist wahr, die Ehe zwischen meinem Bruder und Monika schloß sich ohne Ueberlegung. Der Kronsyndikus von Wittekind, Testamentsvollstrecker ihrer Aeltern, wollte Monika zwingen, seinen Sohn Jérôme zu heirathen. Sie kannte seine Gewaltthätigkeit und nahm meinen Bruder wie im blinden Ungefähr. Nach einer vierjährigen Ehe war die Erklärung, sie folge dem Manne nicht in seine neue Garnison, sie besäße keine Liebe für ihn, ein reiner Trotz der Verkehrtheit. Sie wollte anfangen nach Grundsätzen zu leben. Sie wollte «wahr» sein gegen sich und andere! Es war der Anfang eines völligen Verwirrens ihres Denkens und Fühlens, das wir nicht dulden durften. Ihren thörichten Sinn wollten wir durch die Vorenthaltung ihres Kindes, der damals dreijährigen Armgart, mit Gewalt brechen. Da wir ebenso gegen den Bruder verfuhren, der Armgart für sich in Anspruch nahm, hatten wir die Ausdauer, einen Kampf mit dem Mutter- und Vaterherzen zu wagen. Und dennoch würden wir nachgegeben haben damals, als Monika erkrankte, wenn sie nicht, kaum zur Hälfte genesen, wie noch im Fieberwahn damals Schloß Westerhof verlassen und in 52 die Welt hinausgerast wäre wie eine Irrsinnige! Daß diese That, die nun freiwillig ihr Kind aufgab, ein Anfall der maßlosesten Eitelkeit war, die Verzweiflung eines Blickes in den Spiegel und auf ihr ergrautes Haar, wird sie nicht leugnen können. Diese wilde Unregelmäßigkeit ihres Wesens ist leider auf Armgart übergegangen. Die Mutter kann versichert sein, daß von unserer Seite nicht das Mindeste geschehen ist, Armgart aus dem Pensionat der Insel Lindenwerth abzurufen. Das thörichte Mädchen will sich nur beiden Aeltern zugleich aufgespart haben und führt diesen Gedanken auch jetzt im Stift Heiligenkreuz, wo sie eine Stelle bekommen hat, mit einer Wachsamkeit durch, die jeden Augenblick die Flucht von Lindenwerth wiederholen würde. Die Aussicht, daß mein Bruder Ulrich sich in Witoborn niederläßt, rückt immer näher. Ein meiner Schwägerin wohlbekannter Name, Remigius Hedemann, hat, seitdem die Abwickelung der Verhältnisse unseres beim jetzt so tief gekränkten Geist der Provinz immer unmöglicher gewordenen Landraths ins Stocken gerathen, die Mühlenwerke bei Witoborn erstanden und beide gedenken ein für den Geist unserer Gegend ganz tolles, ja förmlich herausforderndes Unternehmen – eine Papierfabrik zu begründen! Stehen wir ohnehin in unsern Verhältnissen selbst nicht fest, so wird uns am wenigsten beikommen, in so sich verwickelnde andere einzugreifen. Bruder oder Schwester, beide würden uns zur Verständigung gleich willkommen sein! Die Zeit heilt Wunden und mildert Leidenschaften und wir müssen selbst wünschen, daß in diese harten Herzen Besinnung kommt! Von meiner Schwägerin hör’ ich durch 53 Herrn von Terschka jetzt so außerordentlich viel Rühmenswerthes, daß Benigna sowol, meine langjährige Freundin, die dem Alter der Versöhnlichkeit mit dem, was die Erde bietet, schon so nahe gekommen ist, wie ich selbst, nichts lieber wünschen, als die endliche Beilegung dieses Zwistes, den ja unsere heilige Kirche nicht gestattet so zu lösen, wie es die Leidenschaften dieser wilden Menschen wünschen mögen durch Scheidung – –“

Weiter konnte Monika nicht kommen …

Die Schlußversicherungen der Ergebenheit überschlug sie in der Erregung durch diese offene und für den Charakter ihrer alten Gegner, ihres Schwagers, ihrer so strengen, viel ältern und ihr gewissermaßen als Erzieherin gegenüberstehenden Schwester, sogar gemüthvolle Sprache …

Sie stand auf, ließ den Brief auf den Tisch gleiten, griff an ihr Herz und trat an das Fenster, um die Stirn an den feuchten Scheiben zu kühlen …

Die Gräfin unterbrach nicht diesen Seelenkampf …

Eine lange Pause trat ein, die Monika endlich mit den leisen Worten beendete:

Aus alledem sehe ich, theure Gräfin, daß ich besser thun werde – noch in dieser Stadt zu bleiben und Sie – allein reisen zu lassen! … Vielleicht erfreut es Sie – noch einen Gefährten zu gewinnen, der bei Porzia sitzen könnte, den Onkel derselben, der genöthigt ist, rasch nach England zurückzureisen! Ich begrüße Sie dann – bei Ihrer Rückkehr hier oder, erlöst von allen diesen Kämpfen, in Ihrem schönen, sonnigen, glücklichen Castellungo!

54 Die Gräfin sagte zwar: Ja, ja! hörte aber plötzlich nur halb … Sie hatte die Rechnung des Hotels entdeckt und suchte wieder die Brille, um eine nicht unwichtige Frage genauer zu prüfen …

Monika sah, daß die Höhe der Summe, die es hier noch zu zahlen gab, die Gräfin erschreckte. Sie hatten an sich einfach gelebt, aber eine Menge anderweitiger Ausgaben hatte die Gräfin von dem gefälligen Wirthe auslegen lassen. Vollkommen war ihr die Eigenschaft ihrer Gönnerin geläufig, den „Nerv der Dinge“ und den „ungerechten Mammon“ für etwas zu nehmen, was sich nach Gottes ewigem Rathschlusse allen denen, die ihn lieben, früher oder später doch zum besten wenden müsse …

So vertieft war die Gräfin in eine unter dem Eindruck des gewonnenen Processes von ihr hervorgerufene ansehnliche Reihe von Zahlen, daß sie nicht mehr viel von Monika’s Worten gehört hatte.

Bei alledem wußte sie aber doch, daß in dem Briefe das Wort „Scheidung“ stand. Darauf hin sagte sie beim prüfenden Oeffnen ihrer Reisekassette:

Paulus spricht: „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit!“

Sie wollte sagen, wenn bei Monika eine Confessionsänderung stattfände, wäre die Scheidung da … Monika wußte das und stand träumend am Fenster …

Darüber kam eine Meldung.

Herr Kattendyk! hieß es …

Ei, Herr Kattendyk? rief die Gräfin hocherfreut …

Die Gräfin war so in Vergleichung ihrer Reise-55mittel mit der Rechnung vertieft, daß ihr selbst die Meldung des Doctors Abadonna eine Besinnung auf den Namen gekostet hätte, aber die Nennung des Chefs der Firma: „Kattendyk und Söhne“, an die Monika empfohlen war, vergegenwärtigte ihr augenblicklich die gemeinte Persönlichkeit … Sie selbst war an die Gebrüder Fuld empfohlen …

Sehr angenehm! Sehr angenehm! rief sie …

Die Meldung eines dem „ungerechten Mammon“ und den „Schätzen, die Motten und Rost zerfressen“ angehörenden Namens wurde sofort angenommen, ja das Eintreten desselben mit einer gewissen Feierlichkeit vorbereitet.

56 3.#

Piter Kattendyk hatte sich vor vier Monaten auf seiner Reise nach Witoborn – keinesweges mercantilische Lorbern erobert.

Zwar war er in lebendigster Erregung, wenn auch etwas durchfröstelt und an der Abfassung von Reise- oder Heidebildern durch einen Schlaf verhindert, der „die seiner Constitution nothwendigen zehn Stunden“ fast auf die ganze Dauer der Schnellpostfahrt ausdehnte, in Witoborn angekommen und „bei Tangermanns“ im besten Gasthof der Stadt abgestiegen; aber der gegenseitige große Eifer hatte sich durchkreuzt. Rittmeister von Enckefuß hatte voll Ungeduld die Reise zu seinem Sohne gemacht und Nück, der helfen zu wollen versprochen, setzte bei seinem Schwager eine so präcise Erfüllung seiner Aufträge, soviel Reiselust und Gefallen an einer raschen Benutzung einer neu angeschafften Reisetoilette nicht voraus. Nun waren wol die Besuche, die Piter am Sonnabend bei einigen Advocaten machte, möglich zur Beweisführung für seinen Geist und seine sociale Stellung, aber eine geschäftliche Verständigung und die Uebernahme der Forderungen 57 sämmtlicher Enckefuß’scher Creditoren konnte erst stattfinden nach der Zurückkunft des Hauptbetheiligten selbst.

Wir werden die heilige Stadt Witoborn, deren Thürme wir in frühern Schilderungen nur fernhin aufragen sahen, genauer kennen lernen. So viel dürfen wir schon jetzt berichten, daß Piter hier die vollkommenste Gelegenheit gehabt hätte, durch Devotion seiner Mutter Ehre zu machen. Hier lagen so viel Heilige in ganzer Gestalt oder in Partikeln begraben, hier läuteten so viel Glocken zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, hier brannten an allen Ecken und Durchgängen der kleinen unansehnlichen Straßen so viel Lichtchen und standen an und in den Häusern, Kirchen, Klöstern so viel schöngeputzte Muttergottesbilder, daß er wol seiner Sünden hätte eingedenk werden und geloben können, sich die maßloseste Selbstliebe und besonders seine sträfliche Neigung für fünfzigprocentigen Arakpunsch abzugewöhnen.

Indessen beleidigten sein Schönheitsgefühl die Kühe und Schafe, die jeden Morgen vom Hirten durch die witoborner Straßen geführt wurden und die Mängel der Straßenreinigung und Beleuchtung. Gleich in der ersten Nacht war er auf topographische Studien ausgegangen und dabei fast in einen offenen, völlig gitterlosen Strom gefallen, der zwar nur höchst schmal, aber mit reißender Schnelligkeit durch die unerleuchteten Straßen schoß. Was half es ihm, daß es später beim Wirth seines Hotels „bei Tangermanns“, wo er der einzige Fremde war, herauskam, daß dies die berühmte Witobach gewesen war, deren Quellen schon Karl der Große mit einem Münster überbaute? Was half es ihm, daß 58 alle die kleinen Bäche, in die er, sich von dem großen retirirend, bis zum Knie gerieth, als Nebenarme der Witobach bezeichnet wurden? Er erzählte, daß ihm an einem großen Thurme, um den eine Anzahl ungeheurer Wasserräder auf die berühmten witoborner Mühlenwerke schließen ließen, nicht nur Hören, sondern auch das Sehen vergangen wäre. Alles das schmeichelte wol dem Lokalpatriotismus, trocknete aber seine Stiefel und Beinkleider nicht. Im Unmuth über die hier in Aussicht gestellte geringe Bereicherung seiner Welt- und Menschenkenntniß beschloß er, so lange die Umgegend zu recognosciren, bis der Rittmeister zurückgekommen sein würde. Selbst das einzige Weinhaus, das er am folgenden Morgen am Sonntag zum zweiten Frühstück seines Besuchs für würdig erklären konnte, mußte ihn, wie er versicherte, „melancholisch machen“. Allerdings lag es dicht an den alten Münsterthürmen Karl’s des Großen und in ihren durchbrochenen byzantinischen kleinen Fenstern beherbergten sie ein wahres Gewimmel von Raben und Dohlen, die in Schwärmen aus- und einzogen und oft wie von Reisen herkamen, jedenfalls von den Bergen hernieder, wo ihn besonders ein fernhin leuchtender Punkt anzog, das den Wittekind’s gehörende Schloß Neuhof …

Piter beschloß nun, sich genauer die Gegenden anzusehen, wo Hermann den Varus schlug und auch einige der vielen daselbst zerstreuten Mineralbäder noch einen letzten Rest von „Saison“ hatten. Einige dieser Heilquellen kündigten sich ihm, als er in der That mit Extrapost abreiste, bereits durch Leichenwägen an; sie waren berühmt gegen die Schwindsucht. Andere hatten eine harmlosere 59 Bestimmung, aber die einzigen noch anwesenden Patienten schienen nur noch die Brunnenärzte zu sein, die an jedem Morgen an den Quellen erschienen, um sich zu erkundigen, wer etwa die Nacht angekommen war. Piter, geschmeichelt, daß man ihn für keinen Leber- oder Nierenkranken halten konnte, zugleich besorgt, darum noch für keinen Musterreiter zu gelten, bestellte in einem dieser Curhäuser Champagner und bewunderte, von selbst voraussetzend, daß es keinen echten gab, die treuherzige Etikette: „Product vaterländischer Betriebsamkeit.“ Weiterreisend bekam er die Stimmung und Muße, sich so mit sich selbst zu beschäftigen, daß er sich die Abschiedsscene von Treudchen, dem neuen Mädchen seiner Schwester Hendrika, in allen möglichen Variationen ausmalte; denn daß diese allerdings nur in dämmernden Umrissen vor ihm stand, war bei dem umflorten Zustande, in dem er sich nach seinem Souper befunden, nicht anders möglich. Gerade aber diese Nebelhaftigkeit des empfangenen Eindrucks gestattete ihm die schönste Ausschmückung und wie er das freiherrlich Wittekind’sche Vorwerk Eggena, das Städtchen Lüdicke und andere hervorragende Punkte hinter sich hatte und in den Schluchten des Teutoburger Waldes sich ganz nach Belieben, bald an diesem Buchengrunde, bald an jener Tannenhöhe, die Niederlage der Römer ausmalen konnte und ihm das Krächzen der Raben, die ihm aus den Münsterthürmen gefolgt zu sein schienen, immerfort das aus der Schule in der That noch erinnerlich gebliebene: „Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!“ zu sprechen schien (dem darob sehr verwunderten Postillon hatte er beim Bergan 60 diese Erzählung als Probe seiner mittheilsamen Gelehrsamkeit nicht vorenthalten mögen), da trat ihm der Gedanke: Wenn du jetzt diese allerliebste Blondine hier neben dir hättest auf dieser geschäftlichen Irrfahrt! mit mächtiger Gewalt entgegen. In der alten Postkalesche, einer ausrangirten Beichaise, maß er sogar den Sitz, den Treudchen neben ihm einnehmen konnte. Er deckte auf das weich einladende Leder der Polsterung seinen Plaid und baute der kleinen Göttin im Geiste einen Thron und Altar. Selbst die zierlichen Füßchen, deren weiße Strümpfe er im Geiste als selbstgestrickte bewunderte, legte er eigenhändig auf einen Nachtsack, den auch seine Schwester Johanna behauptete selbst gestickt zu haben. Und weilte dann auch sein reizbarer Sinn, den die „etwas ängstliche“ grüne, classische Waldeinsamkeit ringsum nur noch erhöhte, bei dem außerordentlichen Professor, Dr. Guido Goldfinger, an dem ihm nichts außerordentlich erschien, als die Selbstverständlichkeit, wie er, der Sohn des Medicinalraths Goldfinger, so ohne weiteres (weil die drei Hausfreunde eben im Hause alles regierten) sein Schwager wurde, und schossen dann auch seine Gedanken über drei Schwäger zu gleicher Zeit, wie der „Silberbogner Apollo“, „fernhintreffende“ Pfeile, so kehrte sein an sich liebebedürftiges Gemüth doch immer wieder auf die Vorstellung zurück: Wenn sich die Romantik dieser hier eben genossenen geschichtlichen Eindrücke, mit denen du deine Freunde in begeisterter Mittheilung überraschen willst, doch auch durch die Füllung dieses bequemen Eckplatzes mit dem reizenden, anspruchslosen und so „gehorsamen Kinde“ vervollständigen 61 möchte! Die leisen Umrisse, die er von dem neulich Vorgefallenen behalten, zeichnete er kräftiger und kräftiger aus, drappirte das Bild neben sich mit Vielem, „worauf es ihm gar nicht ankommen sollte“, mit einem wunderschönen Hut und lyoner Bandbesatz, einem Shawl von damals modischem Krepp de Chine und mit den elegantesten Handschuhen, die Gertrud Ley besonders auch deshalb tragen sollte, um durch das Schonen ihrer vom Arbeiten etwas mitgenommenen Finger sich zu der Dame auszubilden, die man nach seiner Theorie der Geringschätzung des weiblichen Geschlechts „aus jeder Katze“ machen könnte. Piter sah in einem „anständigen Frauenzimmer“ nichts als die Wiederholung seiner „ihm hinlänglich bekannten“ Schwestern.

Mit solchen theils gemischten, theils sich widersprechenden Empfindungen hatte Piter die Walstätten der alten Römerschlachten, auch die berühmten Externsteine hinter sich, die ihm die schauerliche Idee von Menschenopfern weckten – der anliegende See als Abzugskanal des rinnenden Blutes – und ihm in den Basreliefs der spätern christlichen Entsühnung dieser riesigen Metzgeraltäre auch nur eine sehr geringe Vorstellung von der Plastik des Mittelalters gaben – einer der Felsen hat ein altes Basrelief –, lauter Thatsachen, bei welchen er die Genugthuung schon vorweggenoß, wenn er davon zu Joseph Moppes sprechen würde, der nur die Musik leben ließ, oder zu Aloys Effingh, der allerdings Sinn für die zeichnenden Künste, wenn auch zunächst nur für heimliche Caricaturen hatte, oder zu Weigenand Maus, der kriegslustig und zur Carnevalszeit roß- und marschalluniforms-62freudig, für solche Hünenthaten interessirt sein mußte. Thiebold de Jonge, der das Conversations-Lexicon nie mehr citirte, als wenn Benno nicht zugegen war, Der vorzugsweise sollte an ihn glauben müssen, wenn er versicherte, daß man über „solche Gegenstände“ (er meinte ungefähr die Ergänzung der fehlenden Bücher des Tacitus) gar nicht mitsprechen könnte, falls man sie nicht „gründlich studirt hätte“ – er meinte die Dauer eines Schnapses, den er dem Postillon in dem Wirthshause an den Externsteinen geben ließ und sein eigenes, mehrfach wiederholtes: „Ungeheuer merkwürdig!“ beim Besichtigen der Riesensteine und der Blutlache und der alten Basrelieffiguren ohne Nasen – ein Mangel übrigens, der für diese gut war, da sie auf diese Art die rein menschliche moderne Bestimmung einer hinter ihnen liegenden kleinen alten Krypte nicht am Geruche merkten. Wie gesagt, nur der Postillon frühstückte hier, aber Piter in Detmold. Dort, wo einst Jérôme von Wittekind im Certiren stets der erste gewesen war und nicht blos beim Fragen nach Calefaciebas, erwärmte, ja erhitzte sich auch Piter in einer Weise, die es erklärlich erscheinen ließ, daß er, kaum angekommen in Pyrmont, wohin er wollte, gleich spornstreichs an den Grünen Tisch rannte und sich noch an demselben Abend, im wildesten Sturm und vom „schnödesten Pech“ heimgesucht, seine ganze Reisekasse sprengen ließ.

Wie Piter dann am folgenden Morgen in den Brunnenanlagen den letzten Rest seiner Baarschaft und der Curgäste musterte, auch etwas tiefsinnig über die Wirkung der hiesigen Gewässer gegen chronische Anfälle 63 von Hypochondrie nachgedacht und dabei einen etwas confiscirten Eindruck gemacht haben mochte, jedenfalls mit einer bei der schon kühlen Morgenluft stark gerötheten Nase, somit, beide Hände hinten in die Rocktasche steckend, einem Abenteurer und Marodeur der Badesaison nicht unähnlich, machte er die Bekanntschaft eines Barons von Binnenthal, der erst vor wenig Stunden angekommen war vom Westen her, wo ihn ein glücklicher Instinct beseelte, statt nach Belgien zu gehen, ostwärts zu „machen“ – denn Grützmacher hatte nur vorgestern, Sonntag Abend, zu viel mit dem Staate, dann mit dem Assessor von Enckefuß in Betreff des in den Sieben Bergen seine geliebte Mutter besuchenden Hammaker zu thun gehabt, sonst würde er dem ihm sofort auf dem Fuld’schen Balcon aufgefallenen Herrn die Fährte nach Westen von einigen schnell avertirten guten Freunden in grüner Uniform haben abschneiden lassen – ebenso wie er Herrn und Frau von Guthmann beim Besteigen des Dampfboots vorgestern Abend scharf fixirt und ihnen halblaut „glückliche Reise“ nach Pyrmont gewünscht hatte, wohin auch sie in der That gingen, um unter den letzten Stoppeln der Saison noch einige Körnchen für ihr demnach den Sicherheitsbehörden schon bekanntes Metier aufzusuchen. Unterwegs machte das Ehepaar, nach dem Erstaunen über das erneute Zusammentreffen mit Herrn von Binnenthal sich mit ihm Geständnisse und alle drei vergaben sich das, was die Vergangenheit betraf, in Hoffnung auf eine schönere gemeinschaftliche Zukunft. Sie blieben zusammen und Binnenthal’s erste Recherche auf der Morgenpromenade brachte ihn mit Pitern zusammen, diesen 64 dann zu der charmanten Frau von Guthmann, die ihn so fesselte, so für den Verlust am Grünen Tisch tröstete, daß er ein einfaches „Einundzwanzig“ en quatre einging, gewann, wieder an den Grünen Tisch hüpfte und mit schon leichterm Herzen das Gewonnene nicht nur verlor, sondern auch durch eine Anleihe bei Herrn von Guthmann, der in der Nähe stand, das Verhältniß desto fester knüpfte. Pyrmont endete für Pitern nach drei Tagen, alles in allem, mit einer Spielschuld von 5000 Thalern, die er in einem sich immer vergrößernden Kreise von Freunden der Frau von Guthmann und der Göttin Fortuna zurücklassen mußte. Herr von Binnenthal war bei diesem schnell geknüpften Bande der Freundschaft der sogenannte „Schlepper“ gewesen. Seine stereotypen Redensarten und die Devise: „Bange machen gilt nicht!“ halfen ihm weiter, als andern Menschen ihr Originalwitz. Piter reiste ab von Pyrmont mit den „famosesten Erfolgen bei einer Baronin“ – „Stoff doch immer“ für die kleinen Soupers – und Hinterlassung einer zwei Monate de dato fälligen Anweisung auf sein Haus und wandte sich wieder auf Witoborn zu, wo der Rittmeister, in mancher Hinsicht sein Geistesverwandter, ihn schon sehnsüchtigst erwartete.

Mancherlei Arten gibt es, ein Unglück, das man sich selbst zugezogen hat, zu ertragen. Manche Menschen werden von der empfindlichsten Reue befallen und einige unter ihnen, nicht viele, nehmen sich vor, künftig sich zu bessern. Andere sind zwar gleichfalls, besonders wenn die einsame Natur ringsumher so feierlich stimmt, fest entschlossen, nun und nimmermehr wieder z. B. bei solchen „Baroninnen“ „an den Leim“ zu gehen und zu spielen 65 und 5000 Thaler Badesaisonschulden auf ein Haus abzugeben, dessen Solidität sie selbst repräsentiren; aber die Reue verwandelt sich ihnen in Trotz, Trotz nicht etwa gegen sich selbst, sondern auffallenderweise gegen ganz unschuldige andere. Es ist allerdings kein behagliches Gefühl, ein großer Reformator sein zu wollen und als der Reformation höchst bedürftig sich selbst darzustellen. So ein Wechsel auf die Ordre eines notorischen Spielers, acceptirt von einem handelsberühmten Namen wie Piter Kattendyk, geht durch ein Dutzend Hände und kommt zuletzt im Comptoir seines Hauses wie eine Wundermär an, die alle alten Buchhalter betrachten mit Hälsen so lang, so lang – „wie die Gänse oder Kameele!“ Alle Federn halten inne, alle Prisen stocken, alle Drehsessel knacken und die Miene, die vollends der Procuraführer Ernst Delring machen wird, die ist gar nicht die seiner gewöhnlichen Reserve, sondern einer still lächelnden Genugthuung, die sogleich zwei Treppen höher hinaufschleicht und für die liebende Gattin, vor der es etwa nicht, wie überhaupt vor keiner Gattin, Geheimnisse gibt, sondern im Gegentheil zur amusantesten Unterhaltung wird. Piter, ernüchtert von der Baronin (bei den spätern „kleinen Soupers“ blieb sie natürlich diesseits der Dreißiger) phantasieumgaukelt von Treudchen’s Unschuld, die im Geiste, von seinem Plaid bedeckt, wieder in seiner Beichaise neben ihm saß, sah alle diese Wirkungen der drei Tage in Pyrmont „als Nachcur“ voraus, entsetzte sich, wie tief beschämt er in sein niedliches Comptoircabinetchen, wo er wie ein dirigirender Minister thronte, zurückschleichen mußte, und sagte sich: Naturen, wie die 66 meinige, können alles, nur keine Demüthigung ertragen! Auf demselben, inzwischen durch Regengüsse etwas veränderten Wege kam er zwar wieder auf Anklänge an die Legionen des Varus, indem auch er mit dem Kopfe gegen die Lederwand der Beichaise stoßen und die denkwürdigen Klagen des Cäsar Augustus wiederholen mochte, aber der freie Geist der Forschung, der ihn auf der Herfahrt beseelt hatte, verließ ihn und nach langem grimmigen Grübeln und Sinnen, als er schon dicht bei Witoborn war, wo die Jesuiten oft genug früher den Satz: Si fecisti nega! in ihren Moralvorlesungen erörtert haben mochten, kam ihm ein ähnliches System als bestes Mittel zur Aushülfe: Hast du irgendetwas auf dem Kerbholz, dann sei gerade erst recht impertinent! Diese Theorie gab ihm Muth. Sie gab ihm diesen um so mehr, als gestern Abend noch bei einem kleinen von Frau von Guthmann arrangirt gewesenen Abschiedssouper ein alter dänischer Offizier en retraite gesagt hatte: „Respect kriegt der Mensch immer nur erst dann, wenn er auf alles, was er behaupten hört, Au contraire! sagt.“

Piter suchte schon lange eine Formel, die, wie die Philosophie einen Satz, z. B.: „Ich gleich Ich!“ allen ihren Beweisen vorausschickt, so auch ihm das Räthsel des Daseins und besonders kurzweg die Methode erschloß, wie es z. B. Kaufleute hat geben können, die so außerordentlich bedeutend wurden, daß ihnen nicht viel an einem großen Namen, sogar an einem Ministerportefeuille fehlte. An seinem Schwager Delring hatte er eine solche vornehme Natur in der Nähe, die mit ihrer weißen Halsbinde zu jeder Stunde einem Regierungspräsidenten 67 aufwarten und mit ihm über die Wünsche und Bedürfnisse des Lederhandels, über Binnenzölle und Wasserstraßen beneidenswerth unterrichtet sprechen konnte. Dies Air, das auch einigen andern Chefs großer Häuser, selbst dem alten Herrn de Jonge, der ein großer Arbeiter in den Sectionen der Provinziallandtage war, nicht im mindesten fehlte, vermißte Piter allerdings äußerlich an sich keineswegs. Dies englische, respectable und staatsmännische Benehmen, z. B. in den Zähnen zu stochern und die Finger in den Ausschnitt seiner Weste zu stecken oder als Parlamentsmitglied mit dem Hut auf dem Kopf und die Beine lang ausgestreckt einen Minister wie ein Heupferd behandeln, das hätte er an sich schon weggehabt. Nur fehlten die thatsächlichen Unterlagen. Ueber eine gewisse lächelnde Niaiserie, die die Engländer Snobbismus genannt haben, kam er bei Fragen über das statistische Gebiet nicht hinaus. Immer fühlte man, daß er über solche Gegenstände, wenn sie besprochen wurden, mehr eine lebhafte Wißbegierde als eine große Vertrautheit zur Schau trug, ausgenommen bei Debatten über Kunst, Stadttheater, Glanzwichse und einige Feinheiten im Liniiren der Comptoirbücher, die er einem alten, verstorbenen Buchhalter verdankte. Da elektrisirte ihn denn jenes pyrmonter Wort! Er fand es „merkwürdig“ gleich auf der Stelle. Von den Höhen des im Regen gebadeten Teutoburger Waldes in die witoborner Ebene niederfahrend, beschloß er, zur Probe einmal das System des Au contraire zu versuchen. Ein nicht undiabolisches Lächeln begleitete die Vorstellung: Du kommst nach Hause zurück, bekennst nicht nur nicht deine Unbesonnenheit, sondern bist au contraire noch maliciöser denn je! Du erklärst 68 Nück die gänzliche Verfehltheit seiner Speculation mit dieser Uebernahme der Enckefuß’schen Schuldenmasse und unterbrichst jedes Staunen, das man etwa über den pyrmonter Wechsel von 5000 Thalern zu erkennen geben sollte, mit einem viel, viel größern Erstaunen über die unvernünftigen Handlungen anderer Menschen!

In diesem System, das ihm von etwas Bosheit und viel Desperation eingegeben wurde, verfuhr er sogleich, um nur mit Lärm zurückkommen zu können, mit dem Rittmeister von Enckefuß, den er jetzt antraf. Dieser Unglückliche hatte einen jungen Mann voll „Großartigkeit“ erwartet und fand einen abscheulichen Krakehler, der die Lorgnette einkniff und ihn fast beleidigte. Enckefuß war ihm in seiner gewohnten rosenrothen Laune entgegengehüpft, elastisch, frisch geschminkt wie ein Jüngling, und nun fand er einen verdrießlichen Taxator, der auf jede Versicherung das Gegentheil anzugeben wußte und den armen Mann binnen einer Stunde um allen Humor brachte. Piter zuckte nur ewig die Achseln und studirte nur im stillen sich seine hübsche Portion Donnerwetters ein, die er auf seine Angehörigen schleudern wollte, eine gehörige Anzahl von Ausrufungen über verlorene Zeit und Mühe, und es „sollte ihm mal einer wiederkommen und ihn in solche Bockshörner jagen“ – und da war denn zur Rettung des Rittmeisters keine Verständigung möglich. Piter schnurrte auf jede Proposition auf wie ein Stacheligel und reiste ab. Der Rittmeister begleitete ihn sehr artig an den Postwagen, blieb aber mit einer traurigen Miene zurück. Er sah dem Scheidenden, dem Retter in der Noth, lange, lange nach und begab sich besin-69nungslos in seine Wohnung. Wir wollen gleich hinzufügen, daß er sich nicht todt schoß, sondern einen Brief an seinen Sohn schrieb, zwar mit soldatischem Lakonismus blos seine Flüche aufs Papier werfend, aber doch so voll Verdruß (und besonders über die Nothwendigkeit, nun doch an den Präsidenten von Wittekind-Neuhof gehen zu müssen – der Kronsyndikus stand unter Curatel –), daß der arme, schon lange vereinsamte, einst so stolze Mann seine schwarze Tusche, seine Pinsel, seine rothen Schminknäpfchen ganz vergaß und – nur das Klagen und Kratzen seines alten treuen Pudels hörte und leise zu ihm sprach: Beißen sie dich auch so, Caro? und dann die Thüren zuschloß und halb die Fensterladen zuzog und ein altes Kamisol anzog und die Brille auf die Nase, sich selbst auf die Erde setzte und eine Schere nahm und ganz ein Greis geworden seinem allein noch treuen Thiere vor dem Hereinbrechen des Winters in wehmüthiger Betrachtung über Flöhe die Haare schor. So fand man ihn wenigstens da, als er zum ersten male anfing, allerlei wunderliche Reden durcheinander zu sprechen …

Piter kam im Vaterhause an und überhäufte Nück sogleich mit dem ganzen Vorrath gründlich einstudirter Vorwürfe. Er schilderte das Geschäft, das er ihm aufgetragen, als einen neuen Beweis, daß man noch soviel Latein und Griechisch und doch nichts von praktischen Dingen verstehen könnte. Nück, sehr erschreckt durch die Gefangennehmung Hammaker’s, replicirte wenig; Benno und Thiebold freilich bestürmten Pitern voll Unwillen. Ihnen antwortete er auf jedes, was sie vorbrachten, mit Au contraire. Fast kam es zum Bruch zwischen Thiebold und ihm. 70 Piter war in einem Grade unumgänglich geworden, daß er sogar sich vor sich selbst zu fürchten anfing und nur in seinem Verhältniß zu Gertrud Ley seinem Gemüthe ein letztes Asyl eröffnete. Diese Liebe steigerte sich zur Schwärmerei, besonders seitdem seine Schwester Hendrika, um Treudchen vor ihm sicher zu stellen, ein für allemal die auf seine Wendeltreppe führende Thür verschloß und sogar den Vorhang des Zimmerchens, das Treudchen bewohnte und das dem seinigen gegenüberlag, Tag und Nacht herabzulassen befahl. Wäre nicht die neue Beherrscherin des Hauses gewesen, Lucinde Schwarz (sie wurde es ganz wider Willen und einfach nur dadurch, daß jeder Bewohner desselben, Delrings ausgenommen, die „sanfte, stille, ruhige Seele“ zur Vertrauten machte), Piter hätte Sitte und Anstand über den Haufen geworfen. Aber Lucinde wollte alles Ernstes, daß Piter Treudchen in optima forma heirathen sollte. Sie beförderte diese Wendung der Dinge mit einer Discretion, die deshalb nicht leicht war, weil auch Treudchen, schon um „den jungen Herrn“ möglicherweise zu „bessern“, seine, wie er selbst sagte, „wahnsinnige“ Liebe mit der Kraftlosigkeit eines Mädchens erwiderte, das sich die Möglichkeit solcher herzbestrickenden Vorgänge innerhalb der ihr bisher gänzlich unbekannt gewesenen und neu aufgehenden Region der Liebe nicht geträumt hatte.

Dem durch die Gefangennehmung des Kirchenfürsten geweckten Geiste entzog sich Piter keinesweges. War doch selbst Thiebold wieder nahe daran, zu Feuer und Schwert zu greifen. Auch Benno, der sogar alles so erwartet hatte und der die Kraft der Ghibellinen bewunderte und von Dante’s 71 Welfenhaß sprach, stutzte … Die Gefangennehmung wurde eben von der Regierung seltsam motivirt. „Zwei revolutionäre Richtungen“ sollten sich in den Handlungen des Kirchenfürsten durchkreuzt haben, die jakobinische und die jesuitische. So lautete das Manifest der Minister … Unvermittelt wogten in Benno’s Brust die Gegensätze der Ideen hin und her. Nur Freiheit athmen zu wollen, nur die Herrschaft des Gedankens zu begehren, dafür sah er das Leben zu praktisch an. Aber das wirklich Praktische und thatsächlich durch die Welt, wie sie einmal ist, zu Bedingende, das hatte sich für seine wenigen zwanzig Jahre noch nicht feststellen wollen … Und rings diese Leidenschaften! Diese Parteinahme nur zu Gunsten einer „Kirche“, die doch auch die seine war! Kam nicht selbst Bonaventura über seinen innern, leise begonnenen Zwiespalt durch diesen viel größern Bruch wieder hinweg? … Piter – der sah die Thränen seiner Mutter, hörte die Klagen seiner Schwestern; die drei Hausfreunde hatten keinen Appetit mehr; Nück vergab ihm sogar die witoborner Reise und trank mit ihm auf eine glücklichere Zukunft; sogar die zu Tod geängstigte Hendrika, die nur noch kaum zwei Monate zu dem heroischen Entschluß hin hatte, ihr Kind im Glaubensbekenntniß ihres Mannes taufen zu lassen, war am Morgen nach der Gefangennahme des Kirchenfürsten in Treudchen’s Kammer gewesen und hatte, zwar nicht mit Empfindungen wie damals Windhack in der Dechanei („Fiat lux in perpetuis!“) doch jedenfalls wie vor dem Ersticken sich Rettung suchend den Vorhang bald in die Höhe gezogen, bald wieder niedergelassen …

Eines aber war Pitern an dem Kirchenstreit und 72 an den Allocutionen und an dem Kampf der Broschüren, vorzugsweise aber an den allabendlichen Zusammenrottungen das Allerunangenehmste. Alle Familienfestlichkeiten mußten abbestellt werden. Wozu hatte er nun das älterliche Haus so umgestaltet und soviel Zerstörungen und Neubauten angerichtet, als um in der Eigenschaft des jetzt mündigen Chefs von „Kattendyk und Söhne“ die Saison in einer Weise zu eröffnen, gegen die niemand, selbst nicht die Cirkel der aus Verlegenheit über den Geist der Stadt für den Winter ganz nach Paris übergesiedelten Gebrüder Fuld aufkommen konnten! … Piter fand ein freies Feld und durfte es nicht zu seinen längst vorbereiteten Zwecken benutzen.

Endlich aber schwieg jede Rücksicht. Ende Januar konnte für seine Schwester Hendrika die Stunde der Entscheidung schlagen. Eine Gesellschaft mußte jetzt oder konnte vielleicht den ganzen Winter nicht mehr gegeben werden; wer verbürgte den glücklichen Ausgang dieser Entscheidung? Hendrika fuhr in keine Messe mehr, in keine Beichte, selbst dem Strom der ganzen Stadt zu dem neuen jungen Domherrn folgte sie nicht. Es mußte ein Anfang in der Entwickelung seiner Größe, seiner gesellschaftlichen Repräsentation, seiner Laufbahn zum Mitglied irgendeines Comité oder ähnlicher Befriedigungen seines Ehrgeizes gemacht werden, und Piter benutzte die nahe bevorstehende Abreise einiger hoher Herrschaften, von denen allerdings nur Monika speciell an sein Haus empfohlen war, um mit der Art, „wie Er Gesellschaften geben würde“, trotz der allgemeinen Landestrauer hervorzutreten.

Bei einigen Besuchen, die er hier im Hotel schon 73 gemacht, war er auch der Gräfin vorgestellt worden. Von dieser hatte er ein Zeugniß bekommen, das, wenn er dasselbe gehört hätte, ihm nicht wenig geschmeichelt haben würde. Da er unausgesetzt nur das Gegentheil von dem behauptete, was die Damen sprachen, so bekam wenigstens die Gräfin von ihm den Eindruck eines geistvollen und unterrichteten jungen Mannes; denn die Frauen sind viel bescheidener, als man gewöhnlich glaubt; sie unterrichten sich gern und dünken sich in ihrem Wissen nie so fest, daß sie nicht mit der größten Aufmerksamkeit und Geneigtheit, sich zu vervollkommnen, zuhörten, wenn ihnen z. B. jemand sagt: Bitte um Entschuldigung, die Ueberfahrt über den Kanal ist im Januar viel sicherer als im December! oder: Erlauben Sie, ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, die Cultur um Witoborn ist auffallend vernachlässigt! Frauen lieben die Schmeichler in der Regel viel weniger als wir glauben und die vornehmen Frauen vollends – und gar erst, wenn mit ihnen Menschen sprechen, die sich auf Geld und Gut verstehen! Piter blieb zu seinem Glück nur zehn Minuten und hinterließ damals einen Eindruck, den die Gräfin fast einen „bedeutenden“ genannt hätte.

Auch heute genoß Piter drei große Vortheile für höhere Würdigung. Einmal war er nur fünf Minuten mit den Damen allein; es erfolgte eine fernere Meldung. Sodann war Monika in eine tiefe Abwesenheit ihres Ohrs und Herzens und Urtheils versunken. Endlich drittens erhob sie sich sogar und entfernte sich ganz, wie sie sagte, auf einen Augenblick; 74 das war, als Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge gemeldet wurden, die in der Voraussetzung, sie reiste ab, sich ihr und der Gräfin zu empfehlen kamen. Und als dann die beiden jungen Männer eintraten, blieb die Gräfin mindestens zehn Minuten über alle drei Anwesenden die alleinige Richterin, bis Monika, nach einem Kampf zur Beruhigung ihres aufgeregten Herzens zurückkehrte.

Piter war vollkommen so eingerichtet, daß er mit Anstand die Tasse Thee, die ihn die Gräfin mitzutrinken aufforderte, hätte annehmen können. Seine strohgelb gantirte Hand brauchte sich nur auszustrecken, um im Zulangen ihm ganz schön zu stehen. Eine weiße Weste, inwendig mit einem dunkelrothen Phantasiefutter, dunkelbrauner Frack mit Metallknöpfen, schwarze Beinkleider, eine Halsbinde, weiß mit allerlei braunen Sprenkelchen – später flüsterte ihm Thiebold zu: „Sonderbare kleine Maikäfer das, Kattendyk, ich meine in Ihrer Cravatte!“ Sein kleiner Kopf war wohlfrisirt und das blonde Bärtchen leise gefärbt und das stumpfe Näschen nicht erfroren, … er war in Equipage gekommen … Aber sein System des Au contraire bestimmte ihn sofort die Tasse abzulehnen und etwas näselnd zu sagen:

Bitte recht sehr, gnädigste Frau Gräfin! Ich trinke keinen Thee –

Es war dies, Kamillenthee ausgenommen, eine Wahrheit.

Die Gräfin fand den jungen Kaufherrn wieder von imponirender Eigenheit. Wer sich einbildet, die Großen verletze dergleichen Selbständigkeit, irrt sich. Nur die „kleinen Großen“, die Empor- und Herunterkömmlinge 75 sind anspruchsvoll; die wahren Großen sind sogar leicht eingeschüchtert und gerathen viel öfter in Verlegenheit, als wir glauben.

Piter rückte mit seinem Anliegen hervor. Im Wagen hatte er sich eine Rede stilistisch und rhetorisch zurecht gelegt. In gewandtem, der Vornehmheit wegen immer näselnden Vortrage bat er, daß seinem Hause die Ehre gegönnt werden möchte, bei seiner am nächsten Freitag stattfindenden ersten Soirée auch die gnädigste Frau Gräfin und die Frau Baronin von Hülleshoven erwarten zu dürfen …

Da die Gräfin von ihrer auf morgen angesetzten Abreise sprechen durfte, kam sie rasch über das ihr jetzt denn doch aufwallende Gefühl hinweg, ob eine solche gesellschaftliche Mischung, wie in einem wenn auch großen Kaufmannshause vorauszusetzen war, ihrem Stande angemessen erscheinen durfte. Seit lange hatte Monika die Gräfin nicht lächeln sehen. In diesem Augenblick that sie es ganz graziös. Monika sagte sich: Die seltsame Frau! Wie wohlwollend und fein steht ihr dies Lächeln! Warum verscheucht sie es nur durch ihre stete Furcht vor der Weltlichkeit, der sie mehr angehört, als sie weiß!

Monika selbst, die sich mit der jetzt erst in Staunen ausbrechenden, aber doch allmählich beipflichtenden Gräfin über ihren Entschluß, doch lieber zu bleiben, verständigte, nahm die Einladung an. Gegenbesuche von und bei der Mutter Piter’s hatten bereits stattgefunden.

Die Verständigung über das Zurückbleiben Monika’s gab Pitern Gelegenheit, sich in die Erfolge zu ver-76setzen, die am nächsten Freitag seine Arrangements krönen würden …

Auch über Porzia’s Onkel erfuhr die Gräfin, jetzt orientirter, wiederholt alles das, was ihr zur Beruhigung dienen konnte, nicht zu einsam zu reisen …

Piter sprach sein Bedauern aus, die Gräfin entbehren zu müssen, ermangelte jedoch nicht, sie bei einer somit einmal beschlossenen Trennung durch seine praktischen Winke über die Comforts von London wieder wahrhaft zu bezaubern. Es fehlte nichts, daß er ihr nicht auch die Adressen aufgezeichnet hätte, wo sie am besten Cravatten und Zahnbürsten und Rasirmesser kaufen konnte. Sein Portefeuille hatte er gezogen, ein Blatt darin ausgerissen und eine Menge Namen aufgeschrieben, die der Gräfin bei der Ankunft von Wichtigkeit sein mußten, sogar diejenigen Beamten auf dem Zollhause, die sich am leichtesten bestechen ließen, trotzdem auf Bestechung bekanntlich die Deportation steht. In solchen Dingen konnte Piter höchst charmant und bis zur Herzlichkeit naiv sein. Da schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrungen. Die Gräfin, die zwar bei Lady Elliot sowol auf dem Lande wie in der Stadt wohnen sollte, hörte beglückt zu, wie das Hotel beschaffen war und wo es lag, in dem sie wohnen könnte, wenn sie wollte oder wenn sie müßte – Piter’s Au contraire war auf einige Zeit höchst instructiv.

Benno und Thiebold kamen etwas feierlich. Denn wenn sie den Abschied jetzt auch nur von der Gräfin zu nehmen brauchten, so blieben sie doch selbst nicht mehr zu lange in der Stadt, sondern reisten auf Wito-77born zu, Benno in Nück’s Aufträgen, Thiebold, um die Wälder anzukaufen, die Terschka frischweg sämmtlich wollte abschlagen lassen, um zu respectablen Summen Geldes zu kommen.

Piter behielt merkwürdigerweise noch die Oberhand … Die Gräfin zeichnete den ihr Nützlichsten aus. Sie ließ sich das weiße Blättchen voll Namen und Adressen schreiben und nebenbei warf Piter auch Erläuterungen für die beiden Freunde dazwischen, denen zufolge sie noch am Freitag, wenn sie bleiben würde, der Baronin sich in seinen Salons empfehlen könnten … Man war überrascht und alles das gab ihm Suprematie.

Der Bediente servirte den neuen Ankömmlingen gleichfalls den Thee. Diese nahmen und Piter, der sonst unter seinen Freunden unter der Herrschaft des ansteckenden Beispiels stand, bekämpfte sich dauernd, es heute durchaus nicht zuzulassen. Während jene tranken, konnte Piter sprechen. Jene waren gedrückt, bewegt, sie waren der Mutter eines Wesens nahe, das ihnen so theuer war und ihren Herzen einen so edeln Wettstreit kostete. Die Schwärmerei, die sich in Thiebold’s zuweilen leuchtend von der Theetasse zur Nebenthür aufblickenden Augen äußerte, hinderte ihn zwar nicht, Pitern in seiner selbstgefälligen londoner Topographie zuweilen zu unterbrechen und sich z. B. in Betreff guter Handschuhe auch seinerseits auf den Standpunkt des Au contraire zu stellen, aber Benno sah dem darüber sich entspinnenden Wortgefecht mit Schweigen und wie ein Neuling zu. Erst da, als sich jene im Zank etwas mäßigen mußten und sich in eine halblaute Conversation verbissen, ging er, als der Festere und Höhergebildete, 78 auf ein Alleingespräch mit der Gräfin über, die von Nück, Terschka und ihrem Sohne begann …

Benno’s Aeußeres hatte sich seit einiger Zeit verändert. Die Dressur zum Waffendienste hatte ihn früher seiner eigenen Art zu sehr beraubt. Auch auf seiner Wange stand jetzt ein schwarzgekräuselter Bart, der die Männlichkeit seines Wesens hob und ihm einen ganz besondern Ernst gab …

Seit meiner Studentenzeit war ich nicht in meiner zweiten Heimat! sagte er. Wenn es in der That zum Abschluß über die Dorste’schen Wälder durch meinen Freund de Jonge kommen sollte, würden wir noch den Wildstand zu vermindern haben. Herr von Terschka ladet uns wenigstens zu einer Jagd ein, die als ein halber Vertilgungskrieg allerdings ihresgleichen suchen würde.

Ich bitte Sie! schaltete Piter ein. Sehr wenig Wild dort! Die Rehböcke kann man zählen!

Schweigen Sie! flüsterte Thiebold und corrigirte auf dem Blättchen, das ihm noch die Gräfin gelassen hatte, die Orthographie einiger englischer Namen …

Glauben Sie nicht, fuhr die Gräfin zu Benno fort, daß man beim Verkauf sich der Möglichkeit begeben würde, Gelegenheiten zum Bergbau zu entdecken? Etwa Kohlengruben?

Die Gegend ist eine Hochfläche mit einem Muschelkalkrücken! sagte Benno. Torf findet sich in den Absenkungen, manche Gasquelle in den Aufdachungen. Bergbau würde große Kapitalien erfordern …

Rentabilität wird bestritten! schaltete Piter ein …

79 St! war Thiebold’s scharfes Wort, das in seiner Theetasse verhallte …

Graf Joseph hat viel für die Schulen gethan, hör’ ich, sagte die Gräfin. Sind die Leute wenigstens in der Landwirthschaft aufgeklärt und eignen sie sich die neuen Erfindungen an?

Sehr schwer, Frau Gräfin! erwiderte Benno. Indessen ersetzen sie durch Eifer und Gediegenheit in ihrer täglichen Arbeit, was ihnen an höherer Strebsamkeit fehlt. In der nächsten Nähe von Witoborn freilich ist man durch die Unzahl von Feiertagen bequem, durch die Reste der alten Priesterherrschaft etwas matt und schlaff geworden, auch im Auffassen und Begreifen beschränkt –

Erlauben Sie, brach Piter aus, ich habe da so durchtriebene und verschmitzte Menschen gefunden, wie irgendwo!

Wenn Sie doch nur –! unterbrach Thiebold fast ganz laut und bestimmt. Auch hätte Piter beinahe alles vor der Gräfin jetzt von selbst verloren. Von diesem antihierarchischen Geständniß Benno’s war sie angezogen. Gern würde sie das Gespräch fortgesetzt haben, wenn nicht aus Porzia’s Zimmer Monika zurückgekehrt wäre … Monika hatte Porzia im Packen unterstützt, sich dabei gesammelt und gestärkt.

Wenn nun auch die jungen Männer die Bestätigung erhielten, daß Armgart’s Mutter noch zurückblieb, so mußten sie selber doch schon in den allernächsten Tagen reisen und drückten darüber in herzlichen und von einem gewissen geheimnißvollen Tone begleiteten Worten ihr Bedauern aus …

80 Piter machte eine pfiffige Miene. Durch Lucinden war er, wie er es nannte, über „das Pech“ unterrichtet, das Thiebold hatte, einem Mädchen zu huldigen, das auch Benno liebte. Aber sich zu empfehlen, bezeigte er keine Lust. Er flüsterte sogar Thiebold ohne alle Rancune zu, daß sie sich seines Wagens bedienen könnten und es schön wäre, wenn sie den Abend noch in irgendeinem Lokal, z. B. auf dem Hahnenkamp frisch angekommene Austern versuchten …

Thiebold hörte nichts … Er war ohne Besinnung. Um Monika einen Stuhl zu holen für den, den er selbst eingenommen hatte, weil er ihn am Tische leer gefunden, flog er nur so …

Grüßen Sie Armgart! sprach Monika mit Festigkeit und schnitt damit alles ab, was etwa durch Reden oder ausdrucksvolles Schweigen über ihre Beziehungen zu dem Ziel der Reise der jungen Männer angedeutet werden konnte; sie ging sogleich auf die für eine solche Reise ungünstige Jahreszeit über …

So werden Sie vielleicht Ihren Herrn Vetter, den Domherrn begleiten? fragte die Gräfin, die gern auf die Verwahrlosung des Volks und Erdbodens durch geistliche Herrschaft zurückgekommen wäre …

Ich glaube nicht, sagte Benno. Die Amtspflichten, die dem armen Neuling aufgebürdet werden, sind so schwer, daß er vor Ende der Woche nicht frei wird. Und ich höre auch, es ist besser, er kommt so spät wie möglich. Das ganze Stift Heiligenkreuz, alle Damen der Umgegend, Comtesse Paula an der Spitze, sticken einen in 24 Theile getheilten Riesenteppich, der an dem 81 Tage, wo Bonaventura zum ersten male in St.-Libori*) die Messe liest, am Hochaltar ausgebreitet liegen soll. Seit dem Tage schon, wo seine Ernennung auch zum dortigen Archipresbyter bestimmt war, arbeiten sie daran. Inzwischen ist der Kirchenstreit dazwischengekommen und nun mußte alles thätig sein, um für den gefangenen Kirchenfürsten Weihnachtsgeschenke zu fertigen. In der Festung, wo er verweilt, soll die Post zu Weihnachten ein ganzes Zimmer voll Packete gehabt haben, die allein nur an ihn adressirt waren. Seitdem sind die 24 Damen zu dem Teppich zurückgekehrt und arbeiten nun Tag und Nacht daran, daß sie von der Ankunft meines Vetters nicht überrascht werden.

Piter hatte glücklicherweise soviel Geistesgegenwart, sich zu besinnen, daß die Gräfin an dieser Schilderung einigen Anstoß nehmen mußte und beendete nicht ganz ein fast heftiges: Erlauben Sie, das ist eine Verwechselung! In unserer Stadt allein war auf der Post ein ganzes Zimmer voll**) – als ihn ein niederschmetternder Blick Thiebold’s bedeutete, die Gräfin reden zu lassen, die Pitern erst schweigend ansah und dann mit einer ernsten Miene sprach:

Mögen die Damen nur den klugen Jungfrauen gleichen, die ihre Lampen in gutem Zustand hielten, als – der Bräutigam kam!

Benno fühlte, daß es Zeit sein konnte, auf diese feierliche Aeußerung aufzubrechen und Thiebold wünschte 82 dies um so mehr, als Piter die „horrible Dreistigkeit“ oder Bêtise besaß, unbekümmert um ein biblisches Citat die etwas schlecht brennende Lampe auf dem Tische zu fixiren …

Armgart’s Mutter hielt sie noch fest oder setzte doch das Gespräch unwillkürlich fort, indem sie den Amtseifer des jungen Domherrn rühmte und diesen in Vergleichung brachte mit dem bequemern System des Dechanten, nach dessen Befinden sie sich erkundigte …

Benno schilderte die mannichfache Aufregung, die es seither für die Dechanei gegeben hatte. Zwar waren bei Beda Hunnius sämmtliche Papiere mit Beschlag belegt und von der Regierung theilweise der Oeffentlichkeit übergeben worden, doch zwang der Gegendruck der Volksaufregung auch den Dechanten, diesmal seiner Lässigkeit zu entsagen. Die Majorin Schulzendorf kam nicht mehr in die Dechanei. Alles stand auf dem Kriegsfuße. Die dem Mörder der Schwester der Frau von Gülpen abgenommenen Werthpapiere hatten ein ansehnliches Vermögen ergeben, das dem Laienbruder Hubertus im Kloster Himmelpfort bestimmt war. Dieser, ohne alle Verwandtschaft, hatte das Geld seinem Kloster zu überlassen … Auch darüber gab es vielerlei Aufregungen für den Frieden des Dechanten, den also nicht mehr allein der nächtliche Ruhestörer Lolo um seine behaglichen Träume brachte …

Nun, unterbrach Monika die lebhafte Mittheilung, die Piter aus den Abendcirkelgesprächen seiner Mutter ergänzen und zu Thiebold’s erneutem Verdruß berichtigen wollte; nun, so wird es die höchste Zeit sein, daß der alte liebe Herr sich in Wien bei seinen Freunden 83 und Freundinnen erholt! Wer ihn dort beobachtete, mußte immer beklagen, daß die Zeit der Abbés vorüber ist …

Da die Gräfin diese Erörterungen zu ignoriren schien und sogar, der peinlichen Erwähnung des Mordes und der neulichen Hinrichtung ausweichend, wieder die Rechnung des Wirthes zu betrachten angefangen hatte, war es in der Ordnung, daß sich alles erhob und Abschied nahm.

Monika reichte Benno und Thiebold die Hand … Ein magisches Band ist es, das eine Mutter mit dem Manne verbindet, der sein Herz ihrem Kinde weiht! Selbst wird sie darüber noch einmal wieder jung, fühlt ihr Herz mächtiger schlagen und theilt fast alle Empfindungen ihres Kindes. Oft sogar kann eine Mutter darunter leiden, wenn ihr Kind dem Ideal von Gegenliebe nicht entspricht, das ihr selbst davon noch im Herzen lebt. Sie weiß, was Liebe ist, was Liebe sein muß, sein kann und ihr Kind läßt den Mann, der sie liebt, oft launisch, oft nur kalt erwidernd, am Frauenherzen verzweifeln …

Beiden Bewerbern gab Monika ihre Hand und wünschte ihnen schmerzlich lächelnd eine glückliche Reise! …

Blicken wir nur einen Moment noch den sich Empfehlenden nach, so sehen wir, daß, unten angekommen, Thiebold Bennon schon deshalb in Piter’s leidenschaftlich offerirten Wagen zog, um ihn zum Zeugen zu machen des Ausbruchs seiner verhaltenen Empfindungen über Piter’s Benehmen. „Kattendyk! Wie Sie sich wieder benommen haben!“ Dies Thema wurde variirt in allen Tonarten und sogar ohne Widerspruch; denn Piter rechnete auf vollkommenste Aussöh-84nung und Uebereinstimmung vor dem Austernbret, auf das er seine Gefährten eingeladen und dessen Annahme nur insofern noch eine Modification erlitt, als Thiebold seine Entzückungen über die Nachsicht Monika’s und der Gräfin, zu denen er vom „Rüffeln“ übergegangen war, zuletzt selbst unterbrach und die Austern auf der Apostelstraße für besser erklärte als die auf dem Hahnenkamp. In solchen Dingen gab Piter seinen Freunden nach. So flogen nun alle drei auf die Apostelstraße, wo, von gleichem Instincte beseelt, auch bereits Joseph Moppes, Clemens Timpe, Gebhard Schmitz, Weigenand Maus und Alois Effingh am runden Tische saßen und, die Eintretenden erblickend, sie mit einem in der That von Herzen kommenden, stürmischen: Hurrah! empfingen.

Vortreffliche junge Männer das! sagte inzwischen wiederholt die Gräfin, verlor sich jedoch immermehr in eine jetzt ungestörte Revision ihrer Reisekasse und sprach ihr Bedauern über den Entschluß der Baronin, sie nicht einmal bis zum Meeresufer zu begleiten, schon nur noch mechanisch aus …

Ist es nicht auch besser, liebe Gräfin, sagte Monika, daß ich die Wohnung so lange behalte, bis ich an Terschka geschrieben habe, Ihre Rechnung durch das Haus Fuld berichtigen zu lassen? Sie werden diese hohe Summe nicht erwartet haben und sie nicht gut entbehren können. Reisen wir beide, so müßte sie bezahlt werden; bleib’ ich zurück, so hat es Zeit damit …

Diese Auskunft gefiel der Gräfin. Seit vielen Jahren war sie gewohnt, mit dem „ungerechten Mammon“ auf eine Weise „Freundschaft“ zu schließen, die durch 85 ihre Bibelauslegung erlaubt und durch ihre Lebenslage bedingt war … Ihr seht zu stolzen Palästen auf! Ihr beneidet das Loos der Glücklichen, die sie bewohnen!

Die Gräfin wollte zeitig zur Ruhe gehen …

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen …

Anknüpfend an den Brief des „Onkel Levinus“ begann sie, als gegen neun Uhr die wie zur Schlacht lärmende Runde von zwanzig Trommlern in den Straßen vorüber war:

Sie wollen Terschka schreiben?

Ja! erwiderte Monika unbefangen …

Nach einer kleinen Pause fuhr die Gräfin fort:

Wie beklag’ ich Sie, daß Sie nun wieder so allein stehen wollen – in dem feindseligen Streite der Leidenschaften! Glauben Sie an eine Aussöhnung mit dem Obersten?

Es gibt Dinge, die kein Gatte vergibt! erwiderte Monika mit halblauter Stimme und fast ahnend, worauf die Gräfin zielte …

Traurig aber, sagte diese, ewig noch einen Theil der Kette zu tragen, von der man sich losriß! Gewiß denke ich mit dem Apostel: „Bist du an ein Weib gebunden, so suche nicht los zu werden. Bist du aber los vom Weibe, so suche kein Weib!“ Ich deute das auch auf uns Frauen. Aber in dem Worte Gottes ist das Eine unerläßliche Vorschrift und das Andere weiser Rath. Fast alles, was uns die Apostel, ohnehin Sendboten des Herrn ohne Herd, ohne Familie, über die Ehe rathen, gehört den weisen Rathschlägen an. Auch standen damals die Frauen nicht auf der Höhe, auf welche 86 sie eben erst später der Sieg des Evangeliums stellte. Sie waren den Sklavinnen näher, als der gleichberechtigten Bildung und Liebe. Da sie nicht wider den Geist Gottes, sondern nur gegen die apostolische Weisheit geht, ist die Ehescheidung auch keine Sünde. Der Apostel sagt es ja selbst: „Solches sage ich euch aus Vergunst, nicht aus Gebot.“ Es sind Vorschläge à discrétion. Auch spricht Paulus über die Frauen leider wie aus eigener bitterer Erfahrung und wie aus einem ganz weltlichen Geiste. Fest aber steht des Allmächtigen Wort: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.“ Die Ehe ist eine Heilsanstalt – Ihre Kirche, die sie zum Sakrament machte, übertrieb das nur. Wie wenig Neigung Sie für die Irrthümer Ihres Glaubens haben, weiß ich ja! Sie sollten sich Freiheit gewinnen und den Schwankungen eines so haltlosen Lebens entfliehen – vielleicht – durch eine neue Wahl –

Monika saß auf dem Sessel neben der Gräfin, die noch auf dem Sopha geblieben war. Sie blickte nicht auf … Vor dem Allerheiligsten erbebt die Seele und verstummt der Mund …

Die Gräfin rückte Monika näher und ergriff die kalt gewordene Hand der vielgeprüften Frau …

Ihr Kind hat gegen Sie Partei ergriffen! sprach sie mit weicherer Stimme, als man sonst an ihr gewohnt war. Die Verwandte betheuern zwar freundliche Gesinnungen, aber das sind leere Worte. Das Gesetz spricht Ihre Tochter dem Vater zu. Sie haben Herrn von Hülleshoven, wie Sie immer sagten, blindlings genommen, nur um einer andern Verbindung zu entgehen, und Sie konnten 87 sich nicht an ihn gewöhnen. Ihr Herz trug ein Ideal, dem er nicht entsprach. So hätten Sie ja im Grunde nie geliebt. Jetzt, gestehen Sie, Monika – Terschka ist Ihnen nicht gleichgültig?

Monika erhob sich. Es lag keine Bestätigung dieser Vermuthung in ihrer Bewegung. Sie mußte sich nur erheben, um gleichsam die schwere Last abzuwälzen, die sich mit diesen Worten auf ihre Brust warf …

Sie wissen, auch Terschka, fuhr die Gräfin fort, auch Terschka würde keinen Anstand nehmen, Ihrem Beispiel zu folgen. Einer alten Familie der Hussiten gehört er ohnehin an. Haben auch viele anfangs geglaubt, er würde meinen Sohn im Glauben seiner Väter wankend machen und hörte ich Warnungen über Warnungen über diesen so engen Umgang, so hat sich doch keine der Befürchtungen bestätigt. Terschka unterhält die loseste Verbindung mit seiner Kirche. Bliebe er der Verwalter unserer neuen Besitzthümer, wer sollte ihn hindern, seiner Liebe ein Opfer zu bringen? Denn daß Sie, Monika, sein ganzes Leben erfüllen und von ihm – ich brauche das sündhafte Wort – angebetet werden, wissen Sie!

Nein, nein! erwiderte Monika mit erstickter Stimme, ging auf und nieder und hielt sich, da sie nicht weiter konnte, am Fenster, wo sie in die Nacht starrte …

Unerschrocken aber fuhr die Gräfin fort:

Leugnen Sie nicht, meine junge Freundin, daß es Sie mit mächtigem Reiz erfüllt, zu sehen, wie ein noch junger, geistvoller, liebenswürdiger Mann Ihnen huldigt und nur für Sie zu leben scheint! Anfangs glaubt’ ich, als Sie in unsere Kreise traten und so schnell uns alle 88 gewannen, daß auch mein Sohn vor Bewunderung vor Ihnen – o! diese unselige Leidenschaft, die ihn fesselt! – –

Mit einem Schmerzensausdruck, den Monika für diese Gedankenreihe an der Gräfin noch nie vernommen hatte, unterbrach sie sich selbst, hielt inne und stand jetzt selber auf, weil auch in ihren Adern das Blut mächtiger zu kreisen begann …

Monika, selbst des Beistandes bedürftig, wandte sich vom Fenster ab und trat der hohen Gestalt entgegen, deren Hände in der ihrigen zitterten …

Dann aber fuhr die Gräfin gesammelter fort:

Es ist gut, mein Kind! Ich habe mich an diese Schickung Gottes gewöhnt! Angiolina bewahrte meinen Sohn vielleicht vor Schlimmerem; denn wie Terschka und er begannen – das sind Erinnerungen! Aber ein milderer Geist kam über beide, und das hab’ ich immer für unsern Beruf gehalten, den zu fördern und zu mehren, selbst mit eigener Aufopferung! Ich weiß nicht, ob Salomo mit dem Worte: „Ein holdseliges Weib erhält die Ehre“, auch die Ehre des Mannes meinte; aber meine Erfahrung – und sie ist alt – lehrte mich, daß ein Weib das ganze irdische und ewige Glück eines Mannes in Händen haben kann. Seit Hugo und Terschka Sie kennen, Monika, hat selbst mein Wort einen ganz andern Klang für sie gewonnen! Noch kürzlich schrieb mir Hugo: Mutter, wenn ich doch auch Terschka ganz, ganz glücklich haben könnte! … Ich weiß es, daß es für ihn kein anderes Glück auf Erden geben könnte, als Sie sein zu nennen, Monika!

89 Die gefolterte junge Frau warf sich, heftig den Kopf schüttelnd, mit weinenden Augen an die Brust der heute so milden Greisin …

Wir nehmen Abschied, schloß die Gräfin; bleiben Sie in dieser Stadt, bis ich zurückkehre! Wählen Sie eine kleinere Wohnung! Terschka wird oft herüberkommen müssen! Geben Sie dem Schmerz des vielgeprüften Mannes Gehör! Wie hat auch ihn das Leben hin- und hergeworfen, bis er bei einem Wesen angekommen ist, das ihm mit Recht ein köstlicher Schatz erscheint. Sie wissen, wie ich Sie liebe! Ja, Monika, entziehen Sie sich dem Gefühl nicht, das Sie haben dürfen, in manchen Dingen mit sich zufrieden zu sein. Noch fehlt die letzte Hand, die an Ihre Seele gelegt werden muß, die Hand eines Gärtners und Winzers in Ihrem Innern, der Ihnen spricht: Der Herr ist der Weinstock, wir sind die Reben! Das wird kommen. Genießen Sie das Glück, so von Menschen geliebt zu werden! Ach, es geht uns einst ein Tag auf, Liebe, wo man jede Freude beweint, die man sich entgehen ließ, wo man jedes Herz zurückhaben möchte, das man von sich stieß … glauben Sie mir, Monika, auch an mir ziehen oft noch Schatten vorüber, die mich weinend ansehen und sagen: Wir hätten uns doch auch finden können, warum suchten wir uns denn nicht!

Monika umschlang stürmisch, wie ein junges Mädchen, die Greisin, in deren Augen sie zum ersten male seit dem Jahre, daß sie sie kannte, eine Thräne glänzen sah. Sie bedeckte die magere Wange, die dürre Hand der Greisin mit Küssen. Sie schluchzte selbst, als müßte sie 90 all die Thränen mitweinen, deren vollen Strom sich die Matrone, trotz ihrer Erregung, versagte.

Sanft entwand sich die Gräfin den Umarmungen Monika’s, küßte die Stirn der jungen Frau, strich leise die grauen Locken aus dem jugendlich schönen, durch die höchste Anspannung und Erregung wie mädchenhaft strahlenden Antlitz und ging zur Ruhe.

Auf ihr Klingeln kam Porzia, die noch lange bei ihr blieb und sich mit ihr über den Oheim verständigte.

Monika schlief in einem andern Cabinet …

Wie aufgeregt sie durch diese Scene war, bewies sie am folgenden Morgen. Die Gräfin kam auf das Besprochene nicht wieder zurück; sie reiste gegen elf Uhr ab … Im Wagen fand sie Blumensträuße von kostbaren Treibhauspflanzen, die ihr Benno und Thiebold hatten hineinlegen lassen.

Monika, nun allein in der großen Wohnung, die sie nur so lange behielt, bis von Terschka Geldanweisungen gekommen waren, irrte – wie am einsamen, ihr so unheimlichen Meere …

Sie wollte an Terschka schreiben … Sie konnte es nicht so harmlos, als sie wollte … Eine Aenderung der Confession … Scheidung … Eine neue Heirath … mit Terschka?! Das waren Gedankenreihen, die wie eine wilde Musik auf sie einstürmten im nächtlichen Fackelschein, wie ein Chor im Zuge der Korybanten, wie ein Fest unter dem Schwingen des Thyrsusstabes …

In dieser Angst des Herzens trat ihr durch die Blumensträuße der jungen Bewerber um Armgart die Erinnerung an Bonaventura entgegen … Sie wußte 91 selbst nicht, was sie zog, den Pelz überzuwerfen, sich zu verhüllen gegen die schärfer gewordene Winterluft, die am Morgen sich durch Reif angekündigt hatte, der an allen Häusern, Brücken und Bäumen sichtbare Zeichen zurückgelassen, geradezu in die Kathedrale zu gehen dem tiefdunkeln Winkel zu, wo seit vier Monden die Menschen geschart saßen, um zu einem alten Beichtstuhl zu gelangen, in dem im weißen Kleide, das Beichttuch über sein bleiches Antlitz gezogen, Bonaventura von Asselyn die Beichte hörte …

Seit einem Jahre hatte Monika nicht gebeichtet und noch wußte sie kaum, was sie dem Ohr des Priesters vertrauen sollte …

Ostermorgenglocken waren es nicht, nicht der heilige, von den Rundbögen einer unsichtbaren Kirche widerhallende Gesang: Christ’ ist erstanden! der wie im „Faust“ die Seele des Zweiflers, so auch sie zum Glauben der holden Kinderjahre zurückzog … Nicht in Wehmuth und Zerknirschung, nicht in Auflösung ihres Willens, nicht in wiedererwachter Liebe und Hingebung für das Bekenntniß ihrer Jugend betrat sie die Kathedrale … Es lebte schon lange eine feste, ernste Stimmung in ihrem Herzen. Sie ging wie zu einer letzten Prüfung.

92 4.#

In der großen Kathedrale liegen in den einzelnen Seitenschiffen mehr als zwanzig Altäre zerstreut.

In ihrer Nähe befindet sich mit ihren doppelten Eingängen und vergitterten Zwischenwänden eine Anzahl Beichtstühle.

Einige Schritte von ihnen entfernt stehen Bänke, auf welchen sich die Beichtbedürftigen, ehe an jeden die Reihe kommt, dem Gebete widmen können. Diese Sitze sind entfernt genug, um weder die Rede des Bußfertigen noch den Spruch des Priesters hören zu lassen, der oft statt der Absolution nur einen allgemeinen Segen ertheilt. Niemals darf es ersichtlich werden, ob Jemand den Beichtstuhl im Stande der Ungnade verläßt.

In einem Gang, der sich von der Sakristei hinter dem Aufgang zur Kanzel, die das kleinere Vorderschiff beherrscht, zum Hochaltare hinzieht und in einem einzigen großen, drei Altäre erleuchtenden bunten Fenster endet, liegen einige Beichtstühle allein und tief im Dunkeln.

Es ist die einsamste und dem Andrang der Gläubigen oder nur Neugierigen gerade entgegengesetzte Gegend des 93 gewaltigen, in manchen Tagen einem Marktplatz gleichkommenden Baues.

Um den Schritt der Vorübergehenden zu dämpfen, liegen auf dem Fußboden Strohmatten ausgebreitet. Uralte Grabdenkmäler bedecken die eine von der Sakristei ausgehende Wand, hohe Bischofgestalten mit Krummstab und Mitra; ihre Namen sind nur an sonnenhellen Tagen zu lesen, wie an jenem, wo an ihnen Pater Sebastus sich zu gewöhnen suchte, wie er, ein Meister des Worts, von einem größeren Meister, der nun auch wieder den seinigen gefunden, für einige Tage auf ein einfaches Ja und Nein gesetzt werden konnte.

Nur der letzte dieser Beichtstühle, dem Hochaltare zu, ist allein von dem bunten Lichte des Fensters ein wenig erhellt, dem er zunächstliegt. Die beiden andern liegen so im Dunkeln, daß sowol die Seele, die hier sich aussprechen will, sich von aller Freude und allem Leid der Welt geschieden glauben kann, wie der hörende Priester von der ganzen Heiligkeit seines Berufs sich durchdrungen fühlen muß, soll ihn nicht, wie wol auch geschieht, gerade die Abgeschiedenheit dieser stillen Zwiesprache auf weltliche Gedanken führen …

Seit vier Monaten war es in diesem dunkeln Gange seltsam lebendig geworden. Die Bänke, die dem Beichtstuhl gegenüberlagen, wurden am Dienstag und Donnerstag Morgens und Sonnabends Nachmittags und in der allerersten Sonntagsfrühe von Beichtbedürftigen nicht leer. Soviel Stunden hatte man ausdrücklich von der Kanzel und durch Anschlag an die Kirchenthüren be-94willigen müssen, um den Zudrang nur einigermaßen zu befriedigen …

Dieser galt nur dem ersten der der Sakristei nahe gelegenen Stühle …

Auf dem alterbraunen Holze saß seit vier Monden der neue junge Domherr, dem sogleich Ende September einige Messen und Predigten die Herzen der ganzen Stadt gewonnen hatten. Die hohe Würde seiner Erscheinung, die Milde seiner niedergeschlagenen Augen, ihr Glanz, wenn er die langen schwarzen Wimpern erhob, die feierliche und wieder so natürliche Art seines Benehmens, der Wohlklang seiner Stimme, alles das hatte ihm sogleich den Antheil derer gesichert, die zunächst nur auf Aeußerliches sehen, vorzugsweise derjenigen Frauen, die auch in ihrem kirchlichen Leben gewohnt sind, immer nach „dem Rechten“ zu suchen. Und zu denen dann, die nur vom Aeußerlichen sich angezogen und, wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, sich fast magnetisch berührt fühlten, gesellten sich andere, die auch den Kern dieser lockenden Schale erquickend fanden. Sie mehrten sich von Tag zu Tage. Der junge vom Lande berufene und so schnell beförderte Priester fesselte durch den Geist seiner Vorträge ebenso wie durch den Schwung des Vortrags. Redete er, so waren das für Predigten bestimmte Vorderschiff und der Chor überfüllt. Vertheilte er den Leib des Herrn, so drängten sich die danach Begehrenden. Und bald auch, da ihm Beichtabnahme erlaubt wurde, war sein Ohr belagert von denen, die das Bedürfniß der Buße und Sühne hatten. Die beiden andern Stühle waren nur in den Sonnabendnachmittagstunden mäßig besetzt …

95 So hochheilig das Sakrament der Buße gehalten wird, hängt es doch mehr als irgendeine andere Institution der Kirche von der Persönlichkeit des Priesters ab. Diese Kirche, die aus dem Gottesdienst alle Zufälligkeiten der Individualität entfernt wissen will, die ihre Erhabenheit auch darin findet, daß am Indischen Meerbusen und am Fuße der Cordilleren das Heiligste ebenso celebrirt wird, wie in einem Alpenthal der Schweiz oder in der Grabkapelle zu Jerusalem, muß im Beichtstuhl die Abhängigkeit ihrer Würde von den zufälligen Persönlichkeiten ihrer Priester ertragen. Sie kann schon die Aufforderungen, den Beichtstuhl häufig zu besuchen, nur zu Mahnungen, nicht zu absoluten Befehlen machen.

Zum Stolz der Gläubigen auf den neuen jungen Domherrn kam anfangs das Lächeln der Zweifelnden. Die Männer, ohnehin der Beichte abhold, da sie den Frauen eine das Glück der Ehe nicht eben mehrende Selbständigkeit gibt und in das innigste Selbander zweier Menschen einen oft räthselhaft spukenden Dritten eintreten läßt, hatten den Reiz zunächst nur in der Persönlichkeit des neuen Domherrn gefunden; aber auch sie kamen. Sie kamen, um scheinbar zu bekennen; doch erging es ihnen wie denen, die einst zu Johannes in die Wüste kamen. Sie hatten einen Sonderling erwartet, der Heuschrecken aß und in härenen Kleidern ging, und sie fanden Johannes, den edelsten der Bekenner, Johannes, der, selbst groß, selbst sich Gott verwandt fühlend, doch auf einen Freund, auf einen Jugendgenossen hinzeigen und sagen konnte: Der ist größer als du! … In der Geschichte des Geistes eines ihrer seltensten Kapitel.

96 Gleich bei seinem Antritt hatte Bonaventura, der die in ihm entstandene gebrochene Stimmung seines Innern zu einer Aenderung seines Berufes nicht mehr ausbilden konnte, vom Kirchenfürsten aufbekommen, in seiner Antrittsrede den Text zu behandeln: Petrus, der im Oelgarten, als Judas mit den Herrschern der weltlichen Gewalt kam, dem Herrn sagte: Siehe, Herr, hier sind zwei Schwerter! … Im Sinne Roms ist das eine dieser Schwerter, das dem Knecht des Malchus ein Ohr abhieb, die seit zwei Jahrtausenden angestrebte auch weltliche Gewalt der Kirche und das andere die unblutige nur kirchliche. Dies Thema war wie eine Versuchung. Viele weltliche Behörden wohnten der ersten Einführung des neuen Domherrn bei. Michahelles hatte darauf gerechnet, daß sich Bonaventura sogleich dem Geiste der beiden Schwerter Petri anschließen und für sich ein öffentliches Zeugniß ausstellen würde. Doch lobte später der Kirchenfürst selbst den jungen Priester um die geistliche Klugheit, daß er die verlockende Aufforderung, gegen die nachgeborenen, mit Titeln und Orden geschmückten Genossen des Judas Ischarioth zu reden, nicht in zu auffallender Form ergriff, sondern einen Mittelweg einschlug, der allerdings in der Theorie mehr sagen konnte, als der gegebene Text des Lucas sagen sollte, nur in der Praxis weniger. Der Antrittsredner hatte zu den zwei Schwertern des Petrus noch zehn andere hinzugefügt, von denen der Evangelist Marcus erzählt. Der Heiland hätte, sagt Marcus, die Jünger erst aufgefordert, daß „jeder von ihnen sich ein Schwert“ zulege und es zum Kampfe kommen lasse; dann aber hätte sich der Herr in seiner Liebe auf ein 97 milderes besonnen und gesagt: „Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen! Oder meinst du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?“ Und über diese „zwölf Legionen Engel“, diesen ewigen Entsatz der bedrängten Kirche, nicht über die zwei oder zwölf unbedeutenden Schwerter, predigte Bonaventura. Mit einer Begeisterung, die ihn in solchen Augenblicken die nagenden Zweifel ganz vergessen ließ, schilderte er diesen ewigen Beistand, den in der Weltgeschichte seit dem Sündenfall und dem Verlust des Paradieses das Gute zuletzt doch immer wieder am Guten gefunden hätte. Diese zwölf Legionen Engel, die ewigen Wahrheiten der Weltregierung, die immer wieder die Herrschaft der Bösen gestürzt hätten, waren ihm jene Thatsachen, die mit Schwertern, öfter mit Palmen und klingendem Saitenspiel über die wildesten Schlachtfelder hinwegrauschten, in Hütten wohnten den Palästen gegenüber, ja in der eigenen Brust der Tyrannen und Bedränger der Menschheit, wo sie nicht selten die Gestalt der Träume angenommen hätten … Wie die Tyrannen dann gezwungen gewesen wären, schilderte er, einen Joseph zu rufen, der die Träume zum Wohl der Menschheit hätte deuten dürfen, oder einen David, der sie hätte beruhigen müssen durch die Zauber der Kunst … Diese zwölf Legionen Engel schilderte Bonaventura als den Trost und die Zuversicht in jeder Bedrängniß der Menschheit. Alle sahen sie, wie er mit hoch emporgehaltenen Händen die Leiden der Erde schilderte, sahen diese mit Schwertern bewaffneten Engel, hörten sie wie mit Po-98saunen in den Kampf rufen, fühlten ihr Schmettern und ihr Schwertschlagen und das Dröhnen ihrer Schilde in den Lüften. Dann aber rief begeistert der Redner die Phantasie von ihrem Fluge zur Erde zurück, legte die Hand auf die Brust und sprach: Wo anders läge das Schlachtfeld dieses großen Kampfes des Guten gegen das Böse, das Schlachtfeld, das die eigentliche Entscheidung der Dinge dieser Welt gibt, als in dem Herzen und dem Gewissen und der Furcht Gottes eines „Jeglichen unter uns“!

Was sodann der Kirchenfürst, ganz nach Sebastus’ Prophezeiung, zunächst gehofft zu haben schien, als er von einer kleinen Dorfpfarre diesen Priester in die großen Hallen seiner Kathedrale rief, war schon in kurzer Zeit eingetroffen. Vorzugsweise war es die Belebung des Beichtstuhls gewesen, auf die man gerechnet hatte. Diesen, wie alle Institutionen der Kirche, selbst die veraltetsten, in größere Aufnahme zu bringen, wurde immer mehr zur Taktik des großen Feldzugs, dem hier und dort auch andere Kirchenfürsten die Oriflammen vorantrugen. Durch den Beichtstuhl war die mehrfach angedeutete Philosophie getödtet worden. Der Beichtstuhl theilt die von Rom empfangene Parole aus. Der Beichtstuhl ist das Mittel, die Fürsten wieder in die Büßerhemden von Canossa zu jagen. Der Beichtstuhl regelt, erzieht und straft die Leidenschaften und keine mehr als die Liebe und den Haß. Der Beichtstuhl gibt Rathschläge und für nichts mehr, als für die Verwickelungen und das Nebeneinander der Menschen und für kein Nebeneinander mehr, als für das in der Ehe … „Aber auch die größte Kraft der Opposition gegen den Beichtstuhl“, 99 rief einst Benno, der in Beichtstühlen das Räthsel seines Lebens begraben glaubte, „liegt ebenfalls in dem, was unserm Jahrhundert das Heiligste geworden ist, in der Ehe und in der Familie. Wie mancher Vater hält seine Tochter von der Beichte zurück, weil sie dort – wie oft! – nach Sünden gefragt wird, von denen die Unschuld ihres Herzens und ihrer Phantasie keine Ahnung hat. Der Gatte sieht sein Weib mit Schmerz zur Beichte gehen; denn er kann die Vorstellung nicht verbannen, sie vollzöge einen Act der Untreue, die es zwischen Liebenden auch in geistigen Dingen geben kann –“

Bonaventura aber saß an dem großen Ohre des Dionysius und hörte die Bekenntnisse der Menschen noch in dem Glauben, daß er Gutes verrichtete, Wahres und Erlaubtes. Fiel ihm auch immer und immer die lateinische Zuschrift aus Italien ein: Quando quis tibi occurrit – er schrieb das, was zwischen dem Kirchenfürsten und dem Mönche vor sich gegangen, auf Rechnung – nur des römischen Wesens. Der Grund des Katholischen selbst schien ihm unerschütterlich. Bonaventura glaubte an die höchste Bedeutung der Beichte …

Doch schon – die erste Erfahrung! … Es hatte sich verzögert, daß mit seiner Amtseinführung auch zugleich Tag, Stunde, Ort seiner Beichtabnahme verkündigt wurde … Im Anfang des October erst war diese Angabe gekommen und nicht allgemein sogleich war sie selbst nach dem Anschlag bekannt geworden. So saß er eines Morgens früh sieben Uhr schon in seinem Stuhl zur ersten Anhörung und war noch allein … Den Tag vorher hatte er der Einweihung der Kirche in Drusenheim 100 beigewohnt. Das schöne Fest stand noch vor seiner Phantasie fast wie ein materiell ihr eingeprägtes Bild. Erregten Naturen ist nach einer großen Anstrengung ein Auge gegeben, wo, wie auf der feinen Silberplatte des Lichtbildes, gegen unsern Willen ein Eindruck ebenso sinnlich haften bleiben kann, wie oft auch das Ohr von einer Melodie nicht verlassen wird, ohne daß wir im Willen haben, sie zu singen … Ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele das! sagte sich Bonaventura. Ein Bild, eine Melodie bleibt gegen unsern Willen im Auge oder Ohre haften! Warum hör’ ich nur immer noch den Gesang des Veni creator spiritus? Warum seh’ ich nur noch immer das feierliche Wandeln der Procession um die neu zu weihende Kirche? Nichts ruf’ ich davon; alles kommt von selbst! Die Seele hat ihr Eigenleben und ist von unserm Willen und Bewußtsein getrennt! Sie ist unsterblich!

So saß er sinnend, träumend und sah auch seinen Abschied von St.-Wolfgang … Die Abwickelung der pfarramtlichen Geschäfte war bald vorüber gewesen, der kleine Hausrath bald verpackt; selbst den wichtigsten Bestandtheil desselben, die Bücher, übernahm Renate nach dem Orte der neuen Bestimmung, in das große „kaltgründige“ Kapitelhaus zu überführen. Alle Welt sah Bonaventura mit Betrübniß scheiden. War er auch einer von denen, die dem Volke immer, auch bei Gruß und Handschlag, „hochdeutsch“ erscheinen werden, so blieben ihm doch Liebe und Anerkennung nicht aus. Die Männer gaben ihm, als er zunächst nach Kocher am Fall zum Trösten des dortigen großen Leides abreiste, das Ab-101schiedsgeleite und schieden zuerst; eine Viertelmeile weiter folgten noch die Frauen; dann eine fernere Viertelmeile die jungen Bursche und die Mädchen, die ihr Abschiedsgefühl mit Blumenspenden ausdrückten; am weitesten folgten die Kinder, die ein Fähnlein trugen. Diesen schenkte er, beschienen vom Abendroth, abgestiegen von seinem Wägelchen, seinen letzten Vorrath von Heiligenbildern und entließ die kleine Ehrengarde, die ihm so ausdauernd gefolgt war und in der Glückseligkeit über die Bilder fast das Gebot der Mütter, ihm die Hände zu küssen, vergaß, mit seinem Segen fürs ganze Leben und auf Nimmerwiedersehen … Einen Theil seines eigenen Lebens läßt ein Hirt so zurück, wenn er von seiner Heerde scheidet … Dann fand er die Aufregungen in Kocher! Die Ermordung der Schwester der Frau von Gülpen! Den Onkel noch in besonderer Verzweiflung über die schnelle Erfüllung seiner Besorgnisse wegen so enger Kettung des Neffen an die Römlinge! Da Bonaventura schon nicht mehr widersprach, traten um so schärfer die Worte des Dechanten hervor: Wir werden noch zu Derwischen werden! Lies die Sprache unserer Kirchenzeitungen! Vergleiche die Ausdrücke, die im Streite Menschen gebrauchen, die sonst nur um die Passionsblumenkrone der heiligen Muse ringen! … Beda Hunnius war gemeint. Dieser hatte Bonaventura’s Besuch empfangen, verzehrt vom Neide auf die Ehren, die an ihm vorübergingen. Die von Schnuphase ihm in Aussicht gestellte Ernennung zum Ehren-Kanonikus war nicht eingetroffen. Wie hielt er dem Collegen die Theuerung der großen Stadt entgegen, die Mühen eines solchen Amtes, die Abhängigkeit von den Vorgesetzten, 102 denen man zu nahe gerückt wäre! Hunnius gab sich die Miene, als wäre der junge Domherr nur zu bemitleiden … Und in der Dechanei selbst war noch keine neue „Nichte“ angekommen und der Dechant verdrießlich über alles, über Gott und die Welt. Als Bonaventura von dem Obersten zurückkam, grämelte er gegen jeden. Ich muß auch den Obersten und Hedemann, sagte er, ernstlich auffordern, die Messe zu besuchen und die Beichte! Warum kommen sie nicht wenigstens zu mir! Wahrhaftig! Ich mache es doch so leicht! … Glücklicherweise, setzte er hinzu, rüsten sich beide, unsere Gegend zu verlassen … In der Erörterung auch über Armgart, ihre Flucht, über das Schicksal der armen Angelika, die nun irgendwo eine neue Stellung finden mußte, über den Proceß des Hammaker, dessen vorauszusehende Hinrichtung – brach der Dechant, als Windhack gerade einige neue Kupferstiche brachte, Ausgrabungen in Ninive darstellend, in die Worte aus: O ich hätte lieber vor zweitausend Jahren leben mögen! Himmel, aber auch damals regierten schon die Römer! Nun, dann wär’ ich ein Priester des Osiris gewesen, Windhack ein Sternseher auf den Pyramiden und unsere gute Frau von Gülpen da die schöne Kleopatra! Nicht wahr, dann hätten wir alle drei die ganze römische Welt schon damals so ruinirt, daß sie nie wieder hätte auferstehen können! Wenn dereinst und nur zu bald alles aus sein wird, alles, alles – wie gerne kröch’ ich da in den ungeheuern Cheops oder in eine von den großen Sphinxen und erwartete das Jüngste Gericht als Mumie! Und Windhack und die Tante legten sich auch als – Mumien neben mich! Bitte, warum 103 denn nicht? Hunnius müßte zu unserer Einbalsamirung das Räucherwerk liefern; alle Spezereien, alle Myrrhen, Aloes, alles, was in seiner Dichterapotheke an wohlriechenden Kräutern geführt wird! Das gäbe eine Genugthuung, wenn am Jüngsten Tage alles verfallen und Staub geworden ist und wir drei nur kröchen aus unsern Cocons heraus, lachend wie die Kobolde, roth und frisch geschminkt, so wohlbehalten, ja hungerig, als wären wir gestern erst bei Major Schulzendorf zu Thee und Abendbrot gewesen!

Alle diese Bilder zogen an Bonaventura vorüber, blitzschnell, auch Lucinde und Sebastus mischten sich beängstigend ein – sogar ein Schnuphase – der menschliche Geist ist ein Vorrathshaus, zu dem der Wille nicht den Schlüssel führt – und doch sollte des Priesters innere Betrachtung und Sammlung der Beichte selbst gelten. Seine Furcht war: Wirst du auch durch die einfachen Lebensvorgänge des Landvolks die Uebung gewonnen haben, dich in die Bekenntnisse dieser Großstädter zu versetzen? Seine Hoffnung war: Vielleicht nehmen die Städter kaum so vielen Anstoß an den harmlosesten Dingen wie die Landbewohner! … Bonaventura war vielleicht in St.-Wolfgang mehr schon der Vertraute der Neidischen und Misgünstigen gewesen, als diese Untugenden in den Städten eingestanden werden. Schon trug er so schwer, tiefschwer an der Last der Sünden, ja Verbrechen, die in das Beichtohr der katholischen Kirche geraunt werden und oft nie vor die Richterstühle der Erde gelangen. Selbst auf das Wunderlichste war er vorbereitet. Auf dem Lande war 104 ihm schon vorgekommen, daß ihm im Beichtstuhl eingestanden wurde, man hätte von der in der Communion dargereichten Oblate nur die Hälfte im Augenblick der heiligen Handlung verzehrt und sich den Rest aufbewahrt für eine passende Gelegenheit, um ohne den Priester den Leib des Herrn noch einmal zur Stärkung zu genießen. Man hatte reuevoll gefragt, was von dieser Sünde zu halten sei? Die Weisheit der römischen und spanischen Gewissensräthe antwortete statt seiner: Hatte die Frau, die der Fall traf, in Verehrung vor dem Leib des Herrn so betrügerisch gehandelt, so wird sie losgesprochen; wußte sie aber und kannte die Verbrechen, die sie alle beging (das eigene Ergreifen der heiligen Gestalt mit ungeweihter Hand, das Tragen derselben in ungeweihten Kleidern, den Gottesraub, daß sie sich selbst zum Priester wurde beim Empfangen der allerdings völlig ausreichenden zweiten Hälfte, endlich daß sie sich das Allerheiligste reichte im Stande der Todsünde), so hatte sie vier schwere Sünden begangen, für welche ihr erst nach langer Buße die Verzeihung des Himmels vom Priester verbürgt werden konnte … In solchen Gewissensconflicten übt sich selbst die Seelsorge eines Landpfarrers … Und so konnte sich der junge Domherr vertrauensvoll das Haupt in die Zipfel seiner Stola hüllen, gefaßt das Schiebfensterchen rechts oder links aufziehen und auf das Beichttuch gebückt hören, welche Vergehungen ihm eingestanden wurden. Sein Herz schlug höher, als er eben die Hand ausstreckte, um den ersten Beichtbedürftigen zu vernehmen, den er auf dem Holze zu seiner linken niederknieen hörte … O, sagte er sich, 105 wie viele Vergehen hast du doch schon im Keime erstickt! Wie viele Rathschläge gegeben, Rathschläge, den bessern Theil und den Frieden zu wählen, wenn auch zu einstweiliger eigener Verkürzung! Wie manches Entwendete war still wieder auf den Platz zurückgelegt worden, von wo es genommen! Wie mancher Arme hat durch dich eine Spende empfangen, er wußte nicht wie und warum und von wem! … Dem poetischen Wesen Bonaventura’s entsprachen Bußformen, wie: Gehen Sie und geben Sie dem ersten Armen, der Ihnen begegnet und dem Sie, auch ohne daß er Sie anspricht, seine Bedürftigkeit ansehen, nach dem Maße Ihrer Kräfte, ohne daß es jemand sieht! Gehen Sie in eine Armenschule und steuern Sie für das jüngste der Kinder, die nur in Holzschuhen oder barfuß gehen, eine Gabe! Knieen Sie in der nächsten Messe neben demjenigen in der Gemeinde, der Ihnen nach einem kurzen und nicht auffallenden Umblick in der Kirche durch den Zustand seiner Kleider als der Aermste erscheint! … Selbst an Treudchen Ley konnte sein liebevoller Sinn denken und an die Geschwister derselben, für die er im Waisenhause auf diese Art sorgen wollte … auch an die Kerze, die er einst Lucinden befohlen anzuzünden und niederbrennen zu lassen während des „innern Gebetes“ …

Da öffnet er denn und sieht nicht einen schwarzen Sammethut, sieht nicht ein sich leicht erhebendes, schleierverhülltes weibliches Angesicht … sein Ohr will nur hören …

Die Formel der Anrede ist die nämliche am Fuß der Cordilleren und im Indischen Archipelagus: „Ich arme 106 Sünderin bekenne vor Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, Jesu Christo meinem Erlöser, der heiligen Jungfrau und allen lieben Engeln und Heiligen und Ihnen, Priester an Gottes Statt, was ich seit meiner letzten Beichte gesündiget habe!“

Die Knieende spricht aber diese Formel nicht …

Eine Ahnung ergreift Bonaventura … Kaum kann er das Wort der Ermuthigung finden, das ihm sonst so geläufig ist:

„Unser Herr Jesus Christus sei in deinem Herzen und auf deinen Lippen, damit du alle deine Sünden recht beichtest. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ …

Die Beichtende beginnt nicht …

Er wendet sich, ihr Auge zu sehen …

Ein Strahl desselben trifft ihn und die in ihm selbst fortdauernde, wenn auch nicht eingestandene Spannung auf Lucinden gibt ihm die vollkommene Befähigung, die Scene zu verstehen, die ihn aufs tiefste erschrecken mußte … Sechs Wochen einer künstlichen Vernichtung ihrer selbst, sechs Wochen des Schmerzes, der Sehnsucht, der Erwartung hatten Lucinden in einen Zustand versetzt, der sich vergleichen läßt mit der Ansammlung atmosphärischer Niederschläge, die durch plötzliches Hinzutreten reiner Luft sich in Feuer verwandeln müssen … Nur daß für sie diese plötzliche Erlösung, dies endliche Anredendürfen und Alleinseinkönnen mit dem, den sie zuerst, einzig, allein geliebt und den sie mit ihrem ganzen Leben liebte, den Herzenskrampf in convulsivisches Weinen verwandelte. So erliegt die 107 härteste Natur dem allgemeinen Gesetz. Dann gibt es keinen freien Willen mehr. Irgendwie muß sich die Ueberanspannung der Seelenkräfte helfen. Sie können entbehren bis zum Aeußersten; tritt dann sogar die Erfüllung ein, gerade dann erst recht bricht die Kraft … Lucinde war selbst in Verzweiflung über das, was ihr geschah. Sie hatte keine Scene beabsichtigt. Sie hatte eine Reihe von Sünden, Falschheit, Heuchelei beichten wollen, wollte sich mit keiner Tugend schmücken, wollte nur auf der ganzen Höhe ihres bisherigen Lebens schweben, den Augenblick in voller Seligkeit genießen, dem Mann ihrer Anbetung so nahe zu sein – da weinte sie wie über zwanzig Jahre eines verfehlten Lebens und gab den nachzuzahlenden Tribut an die vielen Gelegenheiten, wo über das Schmerzlichste ihre Augen trocken geblieben waren.

Vorgänge dieser Art sind im Beichtstuhl nichts Seltenes … Bonaventura, tieferschüttert, durfte Lucinden Zeit lassen, sich zu sammeln … Sah er auch wol, daß sich allmählich schon andere, die an sein Ohr zu kommen begehrten, eingefunden hatten, er bedurfte selbst der Sammlung.

Endlich sprach er:

Rufen Sie den Helfer an, von dem Sie ja wissen, daß wir auf dem Wege zur Buße vorzugsweise zu ihm zu beten haben, den Heiligen Geist!

Keine Antwort …

Lucindens Schluchzen war jenes, das wir alle an uns kennen, ein Weinenmüssen, wo wir sogar selbst sagen: Welche Thorheit ist das nun von dir! Und wir können doch nicht anders.

108 Wann haben Sie zum letzten mal gebeichtet? fragte Bonaventura mit Milde …

Nur Thränen antworteten …

Welcher Sünde zeihen Sie sich?

Da er die Frage nach einer Weile wiederholte, war es ihm, als hörte er das Wort „aller“! So schnell aber kam es, so erstickt, so entsetzlich aufrichtig für sein Ohr, daß er eine weitere Gewissenserforschung nicht mehr anzuknüpfen wagte. Auch erhob sich Lucinde. Schlank und hoch, wie sie war, ging sie ohne Segen und Absolution von dannen. Eine Flucht war es … Bonaventura sagte sich: Welch ein Anfang! Was wird da kommen!

Gewiß wurde dieser Theil seiner Seelsorge für ihn der mühevollste, zehrend an seiner geistigen und physischen Kraft. Wie blickte er in die Tiefen der menschlichen Herzen! In Abgründe, vor denen ihn Schaudern ergriff! Wie nur allein die Frauen zu ihm redeten! Solche zumal, die sein in der Stola verborgenes Auge kaum sah, denen er aber schon am Rauschen ihrer Kleider anhörte, daß sie der vornehmen Welt angehörten. Der Duft, der ihrem Haar, ihren spitzenbesetzten Taschentüchern, die sie vor die Augen drückten, entströmte, verrieth ihren Stand. Manche dieser Frauen kannte er schon durch dieselbe Atmosphäre, dann denselben Ton des Vortrags, dieselben Vorwürfe, die sie sich machten, dieselben Allgemeinheiten, die er zurückzuweisen pflegte. Viele kamen nur, um dagewesen zu sein. Wem er anhörte, daß sein Beichtbedürfniß nur eine phrasenhafte Aeußerlichkeit, ein 109 Luxus der Gefühle war, den unterbrach er mit dem Worte der Schrift: „Die Lüge aber ist der Leute Verderben.“

Das Schmerzlichste war freilich, das Uebel sehen und es doch trotz alles Vorbaues nicht im Keime ersticken können. Verbrechen hören und nicht anzeigen dürfen! Verbrecher hören und sie nicht einmal ansehen dürfen! Ihm war schon in St.-Wolfgang geschehen, daß ihm Bekenntnisse gemacht wurden von einem Knecht, der ihn selbst bestahl. Den Dieb durfte er nicht entlassen, weil jener daraus einen Misbrauch des Beichtgeheimnisses hätte entnehmen können.

Die Katastrophe des Kirchenfürsten hatte Bonaventura voraussehen müssen und doch erschütterte sie ihn und schloß eine Weile die zwiespältige Stimmung seines Innern. Als jüngster Domherr, eben eingetreten, hatte er im engern Kapitel noch keine Stimme. Die Curie übernahm die Regierung des erledigten Kirchenthrons. Glücklicherweise blieb der Präsident, sein Stiefvater, fern. Immermehr verblaßten bei solchen Aufregungen die Schriftzüge des räthselhaften Briefes, den er wie der Dechant einst empfangen. Anfangs träumte er von ihm, in schlaflosen Nächten traten ihm die lateinischen Worte in Bildern entgegen, wie wenn er das Concil von Trient noch einmal versammelt sähe, noch einmal mitstimmen müßte in Kostnitz, ob Huß und Hieronymus zu verbrennen wären … Bald aber ließ ihn die Seelsorge, dieser Beruf so voll außerordentlicher Mühen, aber auch Belohnungen und Erhebungen, die Versuchungen zum Zweifel vergessen.

110 Lucinde war nicht wiedergekommen. In der Kirche begegnete er ihr oft; sie schlug die Augen nieder … Klingsohr war unmittelbar nach seiner Abreise im September vom Kirchenfürsten „bis auf weiteres“ unter strengste Klausur gestellt worden. Als Bonaventura zurückkehrte, bewohnte er noch die Zelle im alten Profeßhause der Jesuiten, durfte sie aber nicht verlassen. Räthselhaft blieb ihm diese fortgesetzte Strenge, über die er sich bei Michahelles erkundigte und nichts als ein ausweichendes Achselzucken zur Antwort erhielt. Hatte man von Lucinden erfahren? Traute man der Selbstbeherrschung des Mönches nicht? War Neues geschehen? … Klingsohr schien eine Zeit lang als Gefangener nicht seiner geistigen Hülfsmittel beraubt. Artikel schrieb er nach wie vor. Jetzt erst bewunderte Bonaventura in den von ihm gründlicher gelesenen Aufsätzen die Kraft der Darstellung, die nicht immer täuschende Kunst einer Beweisführung, die trotz der tiefsten Demüthigung nicht aufhörte die protestantische Welt zu bekämpfen. Klingsohr klirrte an einer Kette, die er dennoch gelassen trug … Imponiren mußte ihm etwas, wenn es ihn überzeugen sollte, und war es seine eigene Züchtigung! … In jener Zeit schrieb er, wo ihm geistesverwandte norddeutsche Philosophen anfingen, mit Bewunderung von Asien und Rußland zu sprechen. So tief ausgehöhlt sich in sich selbst fühlend, so in ewiger Verneinung sogleich ohne alle und jede Liebe selbst für das, dem man doch selbst verwandt ist, so von einigen Schwächen seiner eigenen Partei sogleich erkältet, bedurften sie eines Ersatzes für die sie umgebende Schemenwelt. Sie bewunderten die 111 Kosacken. Sie begannen das „Naturwüchsige“ zu preisen in jeder Form, wenn es nur nicht Fleisch war vom eigenen Fleisch, Bein vom eigenen Bein, zuletzt nichts, was die Signatur der Bildung trug … Einem Besuch, den Bonaventura beim Pater Sebastus machen wollte, stellten sich Hindernisse in den Weg und auch das einst so lebhaft empfundene Bedürfniß des Mönches, gerade ihm zu beichten, schien vor vielleicht neuerwachtem Hochmuth zurückgetreten … Zwei Seelen wohnten in dieser widerspruchsvollen Brust, von denen die eine sich ewig von der andern zu trennen suchte. Oder hatte Klingsohr von Lucindens Schwärmerei für den „milden Versöhner“, wie er ihn genannt, gehört? … Bonaventura harrte vergebens. Aufdrängen mochte er sich nicht. Kein Lebenszeichen kam aus dem alten Profeßhause. Nach der Gefangennehmung des Kirchenfürsten verstummten eine Zeit lang auch die Artikel des Paters. Die Haft, die jetzt hätte durch die gebrochene Macht des Kirchenfürsten aufgehoben sein können, wurde nun erst recht von der Regierung gegen den Agitator mit der zweischneidigen Feder bestätigt, ja verschärft. Bonaventura bat Benno, sich nach dem Schicksal des Paters zu erkundigen. Nach dem, was dieser in Erfahrung brachte, ließ sich annehmen, daß der Mönch in Untersuchung war und vielleicht schon in sein Kloster zurück. Da aber tauchten vor kurzem wieder neue Artikel von ihm auf in dem in diese Stadt verlegten, von der Regierung aufs strengste überwachten „Kirchenboten“. Es war eine Reihe von fortlaufenden religiösen Betrachtungen unter dem Titel: „Stufenbriefe vom Kalvarienberge des Lebens.“

112 Durch den Beichtstuhl trat Bonaventura in die innersten Lebensbezüge auch solcher Bewohner dieser Stadt, die vielleicht für uns Interesse haben. Nicht daß wir die Wirthin „Zum goldenen Lamm“ belauschen möchten, die gleichfalls nicht umhin konnte, den „schönen“ jungen neuen Domherrn mit ihrem bisherigen Beichtvater auf einige Zeit zu vertauschen. Selbst die Sünden, die Eva und Apollonia Schnuphase zu bekennen den tiefinnerlichsten Drang fühlten, verschweigen wir (das Beichtsiegel ist unlösbar, aber im Reiche der Dichtkunst gibt es keine Geheimnisse) … Eher würden wir Walpurgis Kattendyk belauschen mögen, die sich förmlich – ausdampfte in ihren Sünden, wenn sie an das Ohr des jungen Domherrn gelangte, dem zu Liebe sie den Kanonikus Taube um Schlaf und Appetit brachte. Auch ihre Tochter, die Frau Procurator Nück, fehlte nicht und jedesmal kam diese in anderer Toilette; sie bekannte jeden Verstoß gegen die Fastenordnung, den sie sich hatte zu Schulden kommen lassen, nie aber eine tiefer gehende Herzens- und Nierenprüfung, nie den leisesten Schimmer ihrer Eitelkeit und Verschwendung … Johanna vollends, ihre Schwester, war so fromm, daß sie für Zahnweh, das sie befiel, Messen bestellte; aber in ihr Inneres mußte erst der „Beichtspiegel“ greifen, dies sicher gehende Brecheisen der Verstockung, das ihr die Fragen vorhielt: Warst du nicht hoffärtig? Warst du auch mildthätig? Bist du versöhnlich, liebevoll, nachsichtig? … Alle ließen sich von dem jungen, im edelsten Eifer sich hinopfernden Priester den bekanntlich so schmalen und engen Weg deutlich zeigen, von dem 113 geschrieben steht: Ich bin die Wahrheit und das Leben! und doch lag ihnen ihr Handeln und Fühlen immer nur auf der breiten Landstraße des Alltäglichen. Nicht eine von ihnen gedachte der Schwester Hendrika anders, als mit bitterster Anklage. Namen zu nennen verbietet die Beichtordnung. Doch verstand Bonaventura allmählich immermehr manche Umschleierung, errieth manche Andeutung und warnte auch hier in dem Conflict wegen „künftiger Religion“ eines Familienmitgliedes vorläufig, bis er die Verhältnisse übersah, mit dem Worte des Apostels: „Verwirret die Geister nicht!“ aus der schönsten Schutzrede der Toleranz, die man bekanntlich (oder vielmehr leider nicht bekanntlich) in Lessing’s „Nathan“ nicht so milde, als im Briefe Pauli an die Römer, Kapitel 14 und 15 findet … Treudchen kam nicht zur Beichte … Sie mußte schon seit lange zu Cajetan Rother gehen.

Auf Weihnacht zu näherte sich die bange Prüfung der Reise nach Witoborn und Schloß Westerhof. Der Proceß Paula’s hatte plötzlich eine für sie ungünstige Wendung bekommen. Der oberste Richterspruch konnte, wie Benno schon lange versicherte, von Nück’s Fechterkünsten nicht mehr parirt werden … Benno sah den Freund oft, doch seltener, als ihnen beiden Bedürfniß war. Zu sehr nahm Bonaventura sein Amt in Anspruch, zu sehr war auch die Gefangennehmung des Kirchenfürsten ein Ereigniß, das auf einige Zeit jedes Urtheil erschreckte und divergirenden Denkern mehr sich zu vermeiden als zu suchen gebot … Nück’s Federn rauschten von Morgens bis Abends. Die Mittel gab er an die Hand, die gegen-114wärtige Stellvertretung des Kirchenfürsten als eine nicht berechtigte darzustellen und so die Schwierigkeiten den „Neunmal-Weisen“ noch zu vermehren. Schon war von einer Gesandtschaft der Stadt und Stände nach Wien an den allmächtigen ersten Staatsmann jener Zeit die Rede und leicht hätte Benno zu der Ehre kommen können, sie zu begleiten; wenigstens sprach ihm Nück davon … Und als Armgart’s Mutter in der Nähe und in der Stadt selbst auftauchte, da entdeckte denn auch Bonaventura, was in Benno’s Innern über alles in der Welt die Oberhand behielt, Armgart’s liebliches Bild … Nun war wieder Armgart’s nahe Beziehung zu Paula eher ein Hinderniß der vertraulichen Ergießung, als eine Förderung.

Eines der schwersten Aemter seines Berufs wurde dem jungen Domherrn aufgebürdet, als er eines Tags die Anzeige erhielt, daß der Mörder der Schwester der Frau von Gülpen zu einer letzten Beichte über sein ganzes Leben ihn gewählt hätte.

Wie kam Jodocus Hammaker zu dieser Wahl? Zum Richtplatz begleitete ihn der Seelsorger des Gefangenenhauses; aber dieser letzte Beistand schloß nicht aus, daß sein Beichtvater ein anderer war.

Warum wählte er Bonaventura von Asselyn? Er hatte ihm wie Benno als Entlastungszeuge beistehen sollen für sein Alibi in der Abendstunde, in welcher der Mord geschehen war … Da aber hatte schon das Blut an seinen Händen geklebt und in dem einsamen Hause am Stromesufer hatte er seinen Raub bei ihm bekannten Hehlern geborgen …

Benno mußte für Hammaker’s Besuche bei der Er-115mordeten gegen ihn zeugen, wie er gleich anfangs gewollt hatte. An dem Tage, wo Nück beim Plaidiren dem „alten Freunde“ die Prise verweigerte, saß Bonaventura als Zuschauer der Gerichtsverhandlung, lauschend den Worten, die Benno sprechen mußte. Der Verbrecher, kokett bis zur letzten Stunde, sah die große Ehrfurcht der Menge vor dem Priester … So fiel ihm bei: Dem willst du dein letztes Testament übergeben! Dem, der ohnehin der Schwester deines Opfers so nahe steht! …

Die Verbrechen, die er zu enthüllen hatte, gehörten den „reservirten Fällen“ an, die vom höchsten Sitz der Kirchenprovinz diesem allein zu hören vorbehalten sind und deren Anhörung an einen untern Geistlichen nur durch besondere Vollmacht überlassen wird. Benno hatte eine Ahnung, Nück, als Hammaker’s Vertheidiger, würde Miene machen, diese an Bonaventura zu ertheilende Vollmacht zu hintertreiben, er würde die Competenz der gegenwärtigen kirchlichen Oberbehörde zu solchen Vollmachten bestreiten, würde erklären, daß das ganze Land im Augenblicke gar keine kirchliche Regel besäße. Doch gab sich Nück zufrieden, in des Delinquenten Verlangen zu willigen, selbst auf Gefahr hin, daß die teuflische Seele gegen ihn undankbar blieb bis zum letzten Lebenshauche … Wie bereute er, ihm den Griff in seine Dose abgeschlagen zu haben! Er, der doch oft im Volkston plaidirte; er, der das Publikum durch seine schlagenden Witze und Späße bei den ernstesten Dingen belustigte!

Eines Morgens nach der Messe machte sich Bonaventura zu dieser schweren Pflicht auf. Er fuhr in einem Wagen im vollen Ornat seiner Würde. Als er in eine 116 enge Gasse einlenkte und zu den Eisenstäben der Fenster eines alten Gebäudes aufsah, überfiel ihn ein Grauen … In diesen dunkeln Mauern verhallten schon so viele Wuthausbrüche der Verzweiflung, so viele Seufzer der bittersten Reue. Hier saßen einst auch jene Verbrecherbanden, die die Länder zwischen der Maas, Mosel, bis zum Main und zum Neckar hinunter unsicher machten, unmittelbar in den folgenden Zeiten, als Schiller das Räuberleben auf der Bühne poetisch verklärt hatte. Diese Roller und Schweizer hatten aber wirklich Schufterle, keinen Karl Moor an der Spitze und doch auch manche kräftige und bessere Natur, die im Sinnenleben und durch schlechtes Beispiel zu Grunde ging. Diese Picard, diese Bosbeck haben die Annalen der Verbrechergeschichte aufgezeichnet, wilde, grausame, verwegene Menschen, der Mehrzahl nach Juden, die die angeborene List ihres Stammes mit einem altbiblischen Muthe verbanden. Immer durch die Schrecken der Revolution hindurch, sengten, plünderten und mordeten diese Menschen in Genossenschaften zu halben Hunderten und über fast ganz Holland und Deutschland hinweg waren ihre Hehler ausgebreitet, ja so weit, daß in fernen Gegenden selbst die Wächter der Ordnung, selbst die Büttel und Häscher ihre eigenen Angestellten waren. Wie sich Napoleon’s Herrschaft befestigte, gelang allmählich die Unterdrückung. Ihrer zwanzig bis dreißig bestiegen oft an einem Tage die Guillotine. Die Kinder gab man unter andern Namen hierhin und dorthin; in Holland schickt man die meisten nach Java …

Einmal erst hatte Bonaventura Nück bei seinem Vetter 117 gesehen, dann vor Gericht. Heute begrüßte er ihn beim Verlassen des Domes, beim Einsteigen in den Wagen … Dann mußte er ihm nachgefahren sein; denn Nück stand auch am Wagenschlag, als er ausstieg … es sprach eine wahre Todesfurcht aus dem sonst so furchtlosen Manne …

Bonaventura, geleitet von dem Gefängnißwärter, einer Wache und dem gewöhnlichen Seelsorger der Gefangenen, einem Kaplan, trat in das finstere Gebäude, stieg eine schmale steinerne Wendeltreppe empor, hörte die Schlösser fallen, die Riegel klirren und weichen und stand in einer fast dunkeln Zelle vor einer von einer Pritsche sich aufrichtenden Gestalt, deren linker Fuß durch eine Kette an die Mauer befestigt war.

Grauenvoller Gegensatz! Dieser heutige Morgengruß und jener abendliche vor vier Monaten … es war als huschte die Fledermaus hin wie damals, als er und Benno so spät noch am Ufer saßen und den im Mondlicht fischenden Knaben zusahen. Dann – das Aufhängen des Procurators, seines Vertheidigers, der in einiger Entfernung sogar dem Hinaufsteigenden noch gefolgt war! Jene Mittheilung Benno’s! Was konnte hier noch enthüllt, was von der Seele abgewälzt werden und zu welchem Nutzen?

Die Thüren blieben offen … die Begleiter verharrten auf den vordern Gängen … Einmal hörte man noch das Geräusch des Holzzulegens in dem kleinen eisernen Ofen der Gefängnißzelle, einem sogenannten „Hund“, der von außen geheizt wurde … Dann war alles still … Bonaventura setzte sich und der Verbrecher kniete vor ihm nieder …

Wie ein böser, ängstlicher Traum war alles das … ein Traum, an dessen Wirklichkeit der Priester nicht glauben 118 mochte! Und doch saß er selbst da im weißen reinen Gewande der Unschuld, ernst das Haupt senkend, und vor ihm lag eine verfallene Gestalt im grauen Kittel, mit welken, schlaffen Zügen, kahlem Schädel, entkleidet aller Hülfsmittel, Kraft und Unbefangenheit zu lügen, die Hände abgemagert, das Auge weiß, so unheimlich, als könnte noch jeden Augenblick eine ruchlose That in diesem verworfenen Leben lauern, einem Leben, das nach raschem Instanzengang und abgeschlagener Majestätsgnade in einigen Tagen enden sollte.

Nach den ersten mit klopfendem Herzen gesprochenen Gebeten und Ermahnungen, der Gnade Gottes zu vertrauen, gab Hammaker ein Bild seiner Jugend. Er wollte, daß die Welt von ihm erfuhr, er hätte gründlich und fromm gebeichtet. Er wollte, daß sie ihm Theilnahme schenkte, selbst auf dem Richtplatz. So erließ er dem Hörer nichts von dem, was in den verstecktesten Winkeln seines Innern lebte. Aller Hohn, alle Verwünschung wird schweigen, dachte er, wenn man erfährt, wie du dich unterworfen! Mit tonloser, weicher Stimme hauchte der Unselige die Worte hin:

Von meinen Aeltern, die später zurückkamen und nichts behielten, als ein Witwenhäuschen für meine arme Mutter, eine Frau von nahe achtzig Jahren, bin ich gut erzogen und studirte die Rechte mit nur zu vielem Beruf dafür. Ich drehte den Spieß um und sagte: Summa injuria summum jus: wo du alles gegen dich hast, gerade da sei dein Spiel! Meine Devise wurde das erst aus Uebermuth, dann aus Noth; wild lebte ich und hatte Bedürfnisse, die Geld kosteten. Schon damals be-119kam ich einen so übeln Ruf, daß mir die Niederlassung als Anwalt nur versuchsweise auf dem Lande gestattet wurde. In den Sieben Bergen da drüben wohnt’ ich … am liebsten aber war ich hier in der Stadt und nun mußt’ ich Geld machen. Hätten die Bauern mich todt geschlagen! Um eine Person, die sich an mich hing, hatt’ ich zwei Termine versäumt, drüber einen Proceß verloren; – erst später kam’s heraus; der Bauer, dem die Sache Geld gekostet, wollte mich todt schlagen. Es wäre besser gewesen …

Schon jetzt verließ den Sprecher die Kraft. Die Reue läßt sich nicht vergebens äffen. Sie übermannt den Heuchler wider Willen …

Bonaventura übersah vollkommen diesen Zustand, wie er sich auch sofort beim Eintritt von der geringen Bußfertigkeit des Verbrechers überzeugt hatte. Er faltete gelassen die Hände und betete, nicht etwa um Vergebung und mit ermunternder Zuversicht auf Gottes Gnade, sondern um Bewahrung eines reinen Sinnes und Schutz vor Heuchelei …

Hammaker fühlte, daß er in seinem begonnenen Tone nicht fortkommen würde … Er folgte der Weisung des Priesters, sich zu erheben und auf der Pritsche Platz zu nehmen … Die Kette rasselte an seinem Fuße … er sank mehr nieder, als er sich setzte …

Einmal, begann er aufs neue – und in dieser Stille klangen die Worte hohl wie aus dem Grabe – einmal kam ich an einen Weg, wo ich hätte umkehren können! Es war durch einen Mönch, der an meinem unseligen Leben nur zu verhängnißvoll zum Rächer für alles Unterlassene wurde …

120 Rächer – ein Mönch? warf Bonaventura mit Vorwurf ein …

Würden Sie diesen Bruder Hubertus kennen, hochwürdiger Priester, Sie gestatteten mir dieses Wort!

Bonaventura hörte den Namen, den er aus der Verhandlung zwischen Sebastus und dem Kirchenfürsten schon als den „Bruder Abtödter“ kannte. Dieser Name war in den Verhandlungen vor den Assisen oft genannt worden. Es war der Erbe der ermordeten Hauptmännin …

Ich verlor meine Stelle auf dem Lande, zog in die Stadt und arbeitete bei meinem Freunde – meinem Vertheidiger. Nück hatte mit mir studirt. Er schlug einen andern Weg ein als ich. Aber auch ihn lockte der Sirenensang der Freude –

Sprechen Sie von sich selbst! unterbrach Bonaventura den Verbrecher, der mit Gefallen diese Worte betonte …

Dieser Teufel, sagte sich Nück draußen, opfert mich – um eine Prise! …

Der Verbrecher knüpfte die graue Jacke, die er trug, fester zu, als fröre ihn … Das Geburtsfieber war es, das er sich in diesem Ernste bei der Verstockung seines Gemüths nicht möglich gedacht hatte … Eine Weile zitterte er sich aus … nach dem Schauder gewann er neue Kraft.

Ich arbeitete bei ihm, lenkte er ein, und erhielt einen Auftrag, in eine süddeutsche Stadt zu reisen zur Regulirung einer Streitfrage über geistliche Güter. Ein Mönch war bei Nück, der dieselbe Reise zu machen hatte und 121 dem er mich zum Begleiter gab. Wir reisten zusammen. Vierzehn Tage, die ich mit ihm zubrachte, sind mir unvergeßlich – der Bruder sprach nicht viel, aß und trank wenig. Ein Laienbruder der Franciscaner war es, er hatte Reisen gemacht, war in Indien gewesen und ein Sonderling. Aus dem Kloster Himmelpfort bei Witoborn hatte man ihn entsendet, um in einem süddeutschen Convicte eine Heilung zu versuchen mit dem Rector desselben, einem Pater Fulgentius. Dieser Unglückliche hatte die Gewohnheit –

Sprechen Sie von sich! unterbrach Bonaventura aufs neue …

Ich wollte nur sagen, was ein gutes Beispiel thut, ehe ich bei Nück –

Warum behielten Sie das Vorbild der Strenge, der Selbstkasteiung, der Entbehrung nicht stets vor Augen?

Gerade das wurde die Ursache meines Falls …

Bruder Hubertus?

Eine Handlung von ihm, deren Zeuge ich durch Zufall wurde! erzählte Hammaker mit einer Art von Behagen. Schon einigemal hatte ich den Bruder in das Convict begleitet, in welchem er einen Auftrag zu erfüllen hatte, von dem ich nichts erfuhr. Da ich regelmäßig die Aufregung bemerkte, so oft der Bruder kam, verfiel ich auf diese und jene Vermuthung. Keine derselben war so geheimnißvoll, wie mir die spätere Entdeckung zeigte. Es hieß, daß der Bruder bald in sein Kloster zurückkehren würde. Eines Abends sah ich ihn, wie so oft, ins Convict eintreten, wo er nicht wohnte. Ich folgte; der Thürhüter kannte mich und hatte kein 122 Arg. In den Gängen der untern Klassen war alles wie sonst. Oben aber war es einsam. Dann hört’ ich fernhin ein eilendes Rennen und Laufen, der Thür zu, wo die Wohnung des Rectors lag …

Ein seltsames Rollen hatte schon einigemal Bonaventura’s Aufmerksamkeit erregt. Ueber der kleinen Zelle ging es wie ein sich ankündigendes Gewitter hin …

Es sind Gefangene, erklärte der Verbrecher, als Bonaventura aufblickte, die an den Füßen Kugeln tragen … Der Boden ist hohl …

Wer ihn durchbrechen könnte! lag in dem Blicke, den Hammaker auf die Decke richtete. Seine eigene Kette ließ ihn nicht fünf Schritte von der Mauer sich entfernen …

Ich horchte in die Ferne, fuhr er dann sinnend und zerstreuter fort, und hörte geheimnißvolles Wispern, ja jetzt wie ein Gehen nur auf den Zehen. Im Kreise von Lehrern und Alumnen stand mein Mönch, hielt alle feierlich zurück, schritt auf die Thür zu, die ich, hinter eine Treppenlehne zurücktretend, sehen konnte, da sie querwärts den langen Gang beendete, öffnete und – allen bot sich der Anblick eines Mannes, der an einem Fensterhaken sich erhängt hatte! Der Mönch ging unerschrocken auf ihn zu, schnitt mit einem Messer, das er aus der Tasche zog, den Strick durch, hielt dann in der kräftigen Linken den Leichnam und rief die Fernstehenden näher. In diesem Augenblick wurde ich gestört und mußte mich entfernen …

Bonaventura hatte auf der Lippe die Frage: War der Unglückliche der Pater Fulgentius? … Doch unterdrückte er sie.

123 Noch am selben Abend, bestätigte der Mörder, hieß es, daß der Rector gestorben war. Auch die Art seines Todes blieb nicht verschwiegen, man sprach von Melancholie und ein Arzt von Selbstzerstörungswahn. Ja am Wirthstisch hieß es: Ein Mönch hatte ihn davon heilen sollen. Ich mußte Abschied von Hubertus nehmen und fand ihn in dem Garten des Klosters, wo er eingekehrt war, im einsamen Wandeln. Rings hohe, graue Mauern, alles still und – fast wie auf einem Kirchhof. Rücksichtslos frag’ ich ihn: Sie sollen ja soviel vermögen, Sie sollen Hunger und Durst, Frost und Hitze ertragen lehren; konnten Sie denn jenen Mann nicht auch von seinem Wahne heilen? … Er erwiderte: Ist da der Tod nicht die beste Heilung? … Dabei stand er still und jetzt erst war es mir, als säh’ ich einen Boten des Todes, ein Gerippe. So mager war seine Hand, so hohl seine Wange, so klanglos seine Stimme. Ich fürchtete mich vor ihm und glaubte, schlüge er die braune Kutte auf, würd’ ich ein Skelet sehen. Doch war der Bruder selbst in Aufregung. Offenbar hatte man von ihm etwas anderes erwartet. Er hatte heilen, nicht bestatten sollen. Auch verschwieg er das nicht. Nie hatte er zu mir so viel gesprochen, wie diesmal in dem einsamen Klostergarten, in den er sich wie geflüchtet hatte. Ja, sagte er feierlich, ich hatte verboten, ihn zu bewachen, ich hatte ihn sein Werk ausführen, hatte ihn so lange allein gelassen, bis seine That vollendet war! Denn, Herr – ich horchte hoch auf – der Erhängte stirbt erst spät! Ich weiß das! Ich habe Hunderte erhängen sehen! Ich habe Menschen gekannt, die sich 124 einschlossen, um die Wonnen dieses Todes zu haben! Denn das wissen Sie nicht, erst wählt die Melancholie diesen Tod, und dann, einmal ins Leben zurückgerufen, tritt eine Besinnung ein, wie auf den seligsten Opiumrausch! Bilder, Gestalten sind an dem schwindenden Bewußtsein vorübergegangen, die keine menschliche Hand zaubern konnte! Das Süßeste, was die Erde kennt, empfindet und trinkt der Gehängte in langen, endlosen Zügen! Die Scham macht den, an dem man diese Verirrung kennt, einsam irren, aber nichts kommt dem gleich, was diese Scham wieder aufwiegt und sie ertragen läßt! Zur rechten Zeit von der tödlichen Schnur befreit, langsam zurückkehrend zum Bewußtsein, erhebt man sich wie aus einem Traum, den man ewig träumen möchte! Der Greis wird wieder jung, die Matrone eine Braut, der Arme schwelgt in Reichthümern, der Verbrecher ist ein König, der Feige ein Held, vor ihm liegt eine Welt auf den Knieen und bietet sich dar, mit ihm zu sterben! Nie hat man so gelebt wie in diesem Tode, nie das Paradies so vorausgenossen, so die Schrecken vergessen, die diese Erde –

Ein Grauen durchzuckte die Erinnerung des Mörders an das, was ihm so nahe bevorstand … Er hatte sich erhoben und fiel betäubt zurück.

Auch Bonaventura hatte sich eine Weile erheben müssen, denn der Anblick der wilden Erregung des Mannes war entsetzlich. Hammaker, aufgerichtet, starrte gierig im Kreise umher; die Gewänder des Priesters betrachtete er, als könnte sich eine Schnur an ihnen befinden, die auch ihm diese Hülfe des süßesten Todes 125 brächte. Er streckte sich aus, als ließe sich ein Zipfel am Kleide desselben ergreifen, zur Schnur winden … die Kette an seinen Füßen faßte er und sank wie ohnmächtig auf sein Lager zurück.

In der reinen Seele des Priesters wogte ein Feuerstrom. Das ist das geheimnißvolle Räthsel, das Nück und diesen Elenden verbindet! rief es in ihm, der schon lange immer nur der Erzählung Benno’s gedenken mußte von jenem Abend her. Dieser da hat so seinen Wohlthäter verführt! Hat so eine Neigung desselben zur Melancholie ausgebeutet! Hat ihn sicher gemacht in dem Vertrauen zu ihm und dann ihn Einmal – Einmal nicht wieder ins Leben zurückgerufen! …

Alles das stand einen Augenblick klar vor Bonaventura’s Augen und doch sagte sein Herz wieder: Es ist unmöglich! So weit kann der menschliche Geist sich nicht verirren!

Hammaker kehrte zur Besinnung zurück, krümmte sich wie ein Wurm, zog die graue Jacke über der Brust zusammen und fuhr mit stoßweisen Zuckungen auf, wie wenn er von eisigem Schrecken geschüttelt wurde …

Dann sprach er, als Bonaventura sich gesetzt hatte und das Antlitz, wie der Beichthörende soll, in einen Zipfel seines Kleides hüllte:

Der Bruder Hubertus sprach: Ich sollte heilen? Zu richten kam ich! Das Gericht Gottes ist unser, wenn wir seine Gebote gelästert gesehen! Wie durfte dieser Unglückliche leben, leben in solcher Umgebung! Ich sage nicht, daß auch er die Wonnen dieses Todes suchte; er suchte den Tod selbst. Warum ihm die Hülfe 126 versagen! Warum Schonung einer solchen menschlichen Schwäche, die vielleicht Heldenmuth war! Seid männlich und seid stark! spricht der Apostel … Nun aber, nach dem Preise seiner That, erweichte sich des Bruders Gemüth und er erzählte mir, wie er von frühester Kindheit an Gottes Finger sich nahe gefühlt, wie er schon als Kind aus Flammen hinuntergeworfen wurde drei Stockwerk hoch, wie er sich ganz aus sich selbst hätte zum Menschen machen müssen, wie ihn dann Verrath und Undankbarkeit verfolgt und so gehetzt hätten, daß er nothwendig zu Gott oder zum Teufel hätte entfliehen müssen … Er glaubte, sagte er, auf der richtigen Straße zu sein. Ein Weib, erzählte er, ein Weib war die Ursache meines tiefsten Kummers … Sie, sie, die ich

Wer? unterbrach Bonaventura schaudernd …

Hammaker schwieg … Seine Hände, die die Hauptmännin erwürgt hatten, zuckten.

Ihr Opfer? fragte Bonaventura wiederholt …

Wie hätte es ihn nicht reizen sollen, etwas aus dem Leben der Schwester der Frau von Gülpen zu erfahren! … Doch er – war das Gewissen selbst … Er bekämpfte seine Neugier und sagte nur:

Warum zogen Sie nur aus dieser Begegnung mit einem so vielgeprüften, wenn auch vermessenen und Gott strafbar vorgreifenden Manne nicht eine heilsamere Lehre für Ihr Leben?

Die Frauen, das Spiel – die Ehre – O wenn ich –

Haben Sie sonst eine Handlung, die vorzugsweise noch Ihr Gewissen belastet? unterbrach Bonaventura die eitle Selbstbeschönigung …

127 Ich log – ich betrog –

Kein anderes Menschenleben auf Ihrer Seele –?

Der Mörder schüttelte den kahlen, häßlichen Kopf …

Bonaventura sah die Verstockung und wiederholte seine Frage …

Da rief der Gefangene plötzlich und erhob sich wild und klirrte mit seiner Kette:

Emollit mores didicisse fideliter artes! Das zu verstehen, sprechen zu können, Bildung besitzen –

O öffnen Sie Ihr Herz der Reue! unterbrach Bonaventura diesen Ausbruch eines halb wahren, halb koketten Ehrgeizes. Was Ihnen als einem Studirten auch Gott sein und als was er Ihnen erscheinen mag, ob als Begriff, ob als Wesen welcher Art und Größe, und wären Sie Pantheist und suchten den Schöpfer in sich selbst, dem Geschaffenen, Sie wissen, daß in unserer Brust eine sichere Wahrheit liegt, eine unumstößliche Gewißheit, der Unterschied von Gut und Böse! Was Sie auch mit menschlichem Witze wegzuleugnen suchen von den Grenzen, die zwischen beiden liegen, sie wachsen immer wieder diese Grenzen, wenn Sie sie auch noch so klug niederrissen. Blicken Sie mit Sehnsucht aus dem Dunkel, in dem Ihre Seele lebt, in das Licht, das Licht der Unschuld, das Sie sehen, fassen, ahnen können, und nennen Sie dieses Licht – Gott! Sprechen Sie zu ihm: O wär’ ich in deinem Abglanz, umstrahltest du mich, gäbst du mir Helle, Wärme, wahren Ruhm und wahre Ehre! Lassen Sie durch dies reine Licht der Unschuld alle die wandeln, die in diesem reinen Geiste lebten! Lassen Sie alle hindurchziehen, die Ihre Bildung kennt: Sokrates, 128 Plato – Einer ist unter ihnen, der am leuchtendsten steht, Jesus der Gekreuzigte! Mit seinem blutigen Haupte strahlt er und blickt voll Ernst auch auf Sie! Beten Sie zu dieser vielleicht noch einzigen lichten Stelle in Ihrem Innern und bekennen Sie beim Blute Ihres Erlösers, der allen Sündern Gnade vor Gott verhieß, Ihr ganzes Elend und was etwa sonst noch vor Gott und Menschen Sie belastet!

Hammaker faltete die Hände, aber schlaff hingen sie und der Ausdruck seiner Miene war der, als wollte er sagen: Was hilft mir das alles? Der grausige Tod ist und bleibt gewiß! Was ist eine Reue, die von einem Willen kommt, der nicht mehr sündigen kann! Eine Reue über die Thorheiten der Jugend – von einem Greise!

Der Priester überblickte diese Empfindungen und sagte seufzend:

Nun denn! Ihre einzige gute Stelle ist vielleicht nur noch Ihr Stolz! Wohlan! Warum trieb Sie dieser zu Ihrer Missethat?

Zögernd sprach Hammaker:

Man hat mich beschuldigt –

Daß Sie Ihren Freund, Ihren Wohlthäter ermorden wollen! Begingen Sie diese That?

Vor den Assisen hatte Hammaker, wie immer: Nein! gesagt. Hier wiederholte er die gleiche Aussage, fügte aber hinzu: Doch wüßten Sie das Nähere –

Wenn es Sie entlastet von dem Verdachte – sprach Bonaventura fast unhörbar … sonst – lehnte er fast die Belastung auch des Procurators ab –

Ich handelte – vielleicht – wie der Mönch –

129 Unwürdige Vergleichung! wallte Bonaventura auf …

Auch Nück suchte den Tod – versicherte Hammaker …

Die Wonnen des Todes! Sie verführten ihn zu einer Handlung des Wahnsinns! Sie machten ihn sicher, immer sicherer, bis Sie ihn zuletzt beraubten und morden wollten …

Hochwürdiger Priester! Ja, ich beraubte ihn – Als es aber geschehen war – that ich, was ich zehn Jahre lang gethan – ich hob die Schlinge aus ihrer Angel. Freilich – diesmal stieg ich aus dem Fenster – warf das Schlüsselbund zurück – half ihm nicht zum Bewußtsein durch kaltes Wasser und das Reiben seiner Schläfe zurück … ich entfloh …

Als Mörder! Denn Sie durften annehmen, daß er diesmal nicht wieder zum Leben erwachte!

Der Mörder schwieg … Es war eine Bejahung.

Die tückische List seiner Erzählung stellte nicht ganz die Aufrichtigkeit aller seiner übrigen Geständnisse in Abrede. Er kam auf seine Bekanntschaft mit der Hauptmännin von Buschbeck, auf die Vermittelung ihrer Anliegen wegen ihrer Gelder, ihren bösen, menschenfeindlichen Sinn, er deutete die Beziehungen dieser Frau zu dem Krieger, Jäger, dann Mönche Hubertus an, Beziehungen, die in Erfahrung zu bringen Bonaventura wiederholt ablehnte, und berief sich für seine letzte That auf das, was bereits vor den Assisen von ihm bekannt war …

Der schrillste Nachklang, der durch alle diese Worte hindurchtönte, blieb die Andeutung über Dominicus 130 Nück. Sie war eine Rache für den verweigerten Griff in die Dose … Vielleicht auch hatte der Mörder ein Entkommen durch Nück gehofft, vielleicht Nück durchschaut, der ihn am liebsten für immer aus der Welt geschafft sah. Ein noch Lebender, rastlos und muthvoll in der Gegenwart wirkend, lag da nun in seinem tiefsten Lebensgeheimnisse aufgedeckt vor den Augen eines Priesters, der täglich mit ihm verkehren, täglich harmlos und scheinbar unbefangen mit ihm sprechen konnte, auch so nur mit ihm sprechen durfte! … Das sind Bürden! sprach es in Bonaventura’s Innerstem …

Zwar wandte er noch die ganze Kraft seiner Beredsamkeit an, die Stunde, die er an diesem düstern Orte verweilt hatte, zu einer für den Bewohner desselben heilsamen zu machen … Um den Segen Gottes für den Unglücklichen betete er, wünschte ihm Muth für seine letzte Stunde und war im Begriff, mit den Fragen: Haben Sie mir keinen weitern Auftrag auszurichten? An Ihre Mutter? An sonst Zurückbleibende? eine heilige Handlung abzuschließen, die ihn selbst mehr erschütterte, als den Verbrecher …

Lauernd sprach dieser:

Ich könnte noch etwas Gutes thun!

O thun Sie es! Gott wird es Ihnen anrechnen …

Es war eine That im Werke …

Ein neues Verbrechen?

Eine Urkunde – die ich – schreiben ließ –

Eine verfälschte –!

Sie sollte bei einer – angelegten Feuersbrunst –

All ihr Heiligen! rief Bonaventura. Wer ist davon 131 bedroht? Wen kann ich über die Gefahr warnen? Ist die Gefahr schon nahe?

Einen Menschen hatt’ ich gewonnen … einen – der sich verbergen muß … den ich nicht nennen kann …

Ich will ihn nicht genannt hören, ich will ihn mahnen, ohne daß ich ihn kenne! Durch irgendeine Adresse! Reden Sie! Was kann ich thun, ein solches Verbrechen zu hindern?

Hammaker schwieg plötzlich …

Bonaventura’s Eifer riß ihn zu den Fragen hin:

Wer ist es, den die falsche Urkunde benachtheiligen soll? Wer hat Sie selbst zu dieser That überredet? Wer ist der Leiter dieses Complotts? Reden Sie! Reden Sie! Bei dem Angesichte Gottes, das Sie in wenig Stunden –

In diesem Augenblick rollten wieder die Kugeln über der Zelle hin und vergegenwärtigten Hammakern die dünne Bauart der Decke … Blitzesschnell schienen sich die Gedanken des Mörders zu ändern … Hoffnung belebte seine Gesichtszüge …

Bonaventura stand erwartungsvoll, aber vergebens. Hammaker schwieg.

Reden Sie! donnerte Bonaventura.

Das Geräusch über ihnen dauerte fort …

Hammaker sprang auf … Die Kette riß ihn nieder … Unverwandt starrte er auf die Decke …

Wenn dich doch noch Nück befreite! stand auf seinen verzerrten Gesichtszügen …

Reden Sie! wiederholte Bonaventura …

Lassen Sie es, stöhnte Hammaker, ohne mich – kommt die Sache nicht zur Ausführung …

Sie verharren in der Lüge! rief Bonaventura. 132 Wer ist gedungen? Wer sind die Bedrohten? Eine Fälschung? Eine Urkunde? Eine Feuersbrunst?

Hammaker schwieg …

Bonaventura versuchte jede Kunst der Ueberredung; vergebens … Hammaker sprach nur dumpf:

Ohne mich kommt nichts zur Ausführung! Ich habe bekannt! Es ist – vorüber. Ich kann – in Frieden – sterben …

Bonaventura mußte tiefseufzend nachgeben. Er betete um die Gnade Gottes und entfernte sich in einem Zustande, wie ihn die Märchen erzählen von Hirten, die in eine Felsenspalte sahen, die Geister belauschten und für immer verstummten …

Wie schwer trug seine Seele, als er von dannen schritt!

Auf dem Gange traf er alle, die ihn hinaufbegleitet hatten … Nück’s Nachkommen wußte er nicht und fand ihn auch nicht mehr …

Doch am folgenden Morgen klagte sich im Beichtstuhl eine ihm bekannte Stimme aller Leidenschaften, aller Laster der Erde, aber auch der Verbitterung durch Unglück und des Menschenhasses an …

In ihrem Tone, in einem tief eingeschüchterten Aufblick zweier scharfer Augen lag eine Angst und Beklommenheit, die Bonaventura wieder auf einen Verbrecher schließen ließen. Er erkannte die Stimme nicht sogleich.

Erst nach den Andeutungen von seinem Beruf und einem Hinweis auf so manche Verschleierung der Wahrheit, die er sich im Processe Hammaker erlaubt hatte, begriff Bonaventura … Es war Nück …

133 Entsetzen ergriff ihn …

Nück beichtete mancherlei, aber offenbar war er nur gekommen, um zu hören, wie Bonaventura mit ihm sprechen würde …

Des Priesters mildes Herz fühlte sich gedrungen, Nück’s Verzweiflung zu beruhigen. Er deutete an, daß auch für ihn die Beichte dieselbe Bedeutung hätte, wie sie für jenen Bischof gehabt haben soll, der, der Sage, nicht Geschichte nach, sich eher von einem Fürsten in die Wellen der Moldau werfen ließ, als daß er ein Geheimniß verrieth, das er von dessen Gattin unter dem Siegel der Beichte wußte.

Kein Wunder, daß Nück sich mit neuem Lebensmuth erhob und den Beichtstuhl in einer Stimmung verließ, als könnte er mit seinem einzigen Arme einen der Riesenpfeiler der Kathedrale ausheben.

So viel Kraft lag dem Doctor Abadonna in dem magischen Worte: Rom und sein Glaube.

Winterlich weiße Leichenfelder lagen in Bonaventura’s Brust. So öde und schauerlich wehte Schneesturm durch sein Inneres, wie auf der Alpeneinsamkeit, die der Dechant beim Bericht seines Besuches auf dem St.-Bernhard geschildert …

Auch der Morgue des St.-Bernhard mußte er gedenken …

Muth und Ausdauer sprachen ihm die Stimmen der Augustinerchorherren nicht mehr so beredsam wie einst.

134 5.#

Eine wie eitle Matrone! sagte sich Bonaventura, als er durch das kleine Schiebfensterchen seines Beichtstuhls eine graue Locke unter einem Hute hervorgeglitten auf einem Taschentuche liegend bemerkte.

Ein Matronenhaar in Locken!

Dann aber hörte er die klangvolle Anrede und staunte eine Greisin zu finden, die sich einen so reinen jugendlichen Ton der Rede bewahrt hatte …

Nach den ersten geflüsterten Anreden und Erwiderungen stellte er die Frage um die letzte Beichte. Er hörte, daß diese in Wien bei dem Beichtvater der Hospitaliterinnen stattgefunden …

Dann sagte die Frau, die er für eine Matrone hielt, daß sie gerade deshalb zu ihm gekommen wäre, weil sie ihn schon einigemal beim Austheilen des heiligen Abendmahls gesehen und nicht nur die Geduld bewundert hätte, mit der er unter Hunderten beim Ausspenden des Brotes die Worte sprach: „Herr, ich bin nicht werth, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine arme Seele gesund!“ sondern wie er jene 135 Worte auch jedem so, als wenn er ihn persönlich kannte, gesprochen, jedem so, als wenn sie gerade für ihn bestimmt wären. Deshalb wage sie, ihn mit sich selbst zu belästigen, fürchtend freilich, daß seine Zeit zu gemessen wäre …

Bonaventura hatte die Absicht, Lob und Sorge um seine Zeit mit einer Handbewegung abzulehnen. Da blickte er etwas auf und erkannte unter der damals üblichen Form des Hutes mit langgeschweiften Seiten, die die Wangen verdeckten, ein jugendliches Antlitz und nun in Vergleichung mit den Locken und nach der Erwähnung Wiens war es nur die Oberstin von Hülleshoven aus Benno’s zutreffender Beschreibung …

Noch ehe er vor Ueberraschung mehr als ein ermunterndes und beruhigendes: Bitte! erwidert hatte, sprach schon die Beichtende:

Ich bekenne mich zu der Unruhe, in welche die Seele durch Grübeln und Denken versetzt wird, bekenne mich zum Zweifel an allem, an Gott, dem Erlöser, an Kirche und künftigem Gericht!

Bonaventura verhüllte sich in seine Stola und sprach nach einigem Bedenken auf dies schmerzlich entschiedene Wort:

O ihr Heiligen! Sie geben Ihrem Zustand vielleicht viel schneller einen Namen, als Sie ihn noch ergründet haben! Sie hatten sich des religiösen Lebens vielleicht nur entwöhnt. Plötzlich drängt Sie irgendeine Stimmung zu ihm zurück und nun erschrecken Sie, nicht mehr alles so zu lieben und zu glauben, wie Sie in Ihrer Kindheit es liebten und glaubten. Machen Sie doch diese Rückkehr nicht zu 136 übereilt! Vor der Feuertaufe des Herrn kam die Wassertaufe des Johannes! Legen Sie sich doch erst Uebungen zum Uebergange auf! Keine Geißelung des Körpers, keine Entbehrung Ihrer Sinne, nur eine gewisse Ascetik des Denkens. Sehen Sie, gewöhnen Sie sich einfach, überall den Finger Gottes zu suchen. Nehmen Sie nichts mehr, was Ihnen begegnet oder was Sie vom Schicksal anderer, ja vom Leben der ganzen Welt in Erfahrung bringen, in dem leichten Sinne, der nur die Erscheinung als solche betrachtet. Streben Sie vielmehr darnach, alle Erfahrungen, die Sie machen, zu verbinden, ihren geheimen Sinn und Zusammenhang zu ergründen, ihrer Folgerichtigkeit nachzuspüren und nennen Sie dann das, was Sie sonst in der Sprache des Denkens Zufall, Ungefähr, Wille, eigene Absicht nannten, einfach und kurzweg Gott. Wenn Sie diese Begegnung Gottes in kleinen Dingen stündlich suchten, würde das Aberglaube werden. Aberglaube kann es sein, die ganze majestätische Größe Gottes immer auch bei kleinen Leiden und Freuden sich gegenwärtig zu denken. Aber jenen Fußtapfen der wandelnden Gottheit nachgehen, die in Ernstem und Wichtigem liegen, gibt Erhebung. Sie werden staunen, wo Sie überall diese Schritte abgedrückt finden, wenn Sie nur erst anfangen, für alles das, was die Welt gleichsam namenlos hinstellt, gleichsam mit einem „Man“ einführt oder mit einem „Es“ („es wird sich zeigen“) oder sonst mit einer Form der reinen Genüge des Menschen an sich selbst, den Herrn der Welt einzuführen. Versuchen Sie das! Zu einem Gott sich erheben, der außer uns und unendlich hoch 137 über uns wohnt, ist allerdings schwer; denn je näher wir ihm da zu kommen suchen, desto entfernter rückt er. Nehmen Sie also Gott zu Ihrem steten Begleiter, nur daß er einige Schritte vorangeht, nicht immer Ihnen zur Seite, nehmen Sie ihn zum Erfüller aller der Pausen, die Ihnen das Leben läßt, zu der zweiten Person, die in Ihrem Gewissen mit Ihnen redet, zu dem unsichtbaren Freunde, der in einem dunkeln Zimmer, wo Sie über irgendein Vorhaben brüten, mit Ihnen Rath hält! Ist das von Ihnen eine Zeit lang versucht worden, so werden Sie auch allmählich wieder anfangen, christgläubig und kirchlich zu denken.

Es wäre also der umgekehrte Weg, den ich früher einschlug, alles, was mir sonst Gott hieß, gerade anders zu nennen! sagte Monika und ihre Gedanken verweilten einen Augenblick bei der Gräfin Erdmuthe, die noch gestern beim Abschiede gesagt hatte: „Der Herr schenkt mir ein gutes Reisewetter, etwas Frost und gute Wege!“ Nun aber sprach sie: Meine Zweifel über Gott werden sich wieder beruhigen; schwerer die über die Kirche und über die Wahrheit des katholischen Glaubens!

Bonaventura wallte fast auf mit den Worten:

Sie sind so arm an Glauben und sind schon wählerisch? Sie hungern und dürsten und bemäkeln schon die Speise, die Ihnen gespendet wird? Wahrlich, die milden Gutthäter müssen sich viel gefallen lassen!

Fast bereute er dann sein hartes Wort und blickte deshalb ein wenig auf. Groß und voll senkte sich der Strahl zweier dunkelbrauner Augen auf ihn herab, ein wehmüthiger Zug um den Mund milderte einen Anflug 138 von Bitterkeit in schönen, regelmäßigen Zügen. Er mußte des Obersten gedenken. Er mußte sich sagen: Diese beiden Menschen sind sich so ähnlich und fliehen sich!

Mit sinnendem Ernste, bei dem sich die Augen wieder verkleinerten und die großen Sterne wie in das tiefste Innere zurückzogen, sprach Monika:

Ich weiß vollkommen, was wir an unserer Religion besitzen! Sie ist kein Gedanke, der soeben von heute aus dem Haupte eines erleuchteten Geistes sprang. Sie ist eine ehrwürdige Ueberlieferung, eine große Weltbegebenheit, aus der wir entnehmen dürfen, was wir für uns nutzbar machen können. Ich werfe es den Protestanten vor, daß sie sich die Bürde auch des Ballastes an ihrem Lebensschiff viel zu leicht gemacht haben. Ist man Christ, so soll man auch die Geschichte seines Glaubens tragen. Oft hab’ ich mir gesagt: An allem, was unsere Kirche festhält, ist etwas, was uns irgendwie immer wieder versöhnt, wenn wir dann auch wieder einer zweiten andern Formel nur mit schwerem Herzen genügen. Dann aber – plötzlich tritt doch ein Widersacher in uns auf, den ich nicht den Teufel nennen kann. Unser Herz stößt plötzlich einen Hülfsschrei aus und lechzt nach der Natur. Ich habe nie über diese Dinge so nachgedacht, als seitdem ich Rechte des Herzens zu haben glaube. Ich bin nicht glücklich vermählt. Gesetzt, ich würde noch einmal lieben können, unsere Kirche verböte mir das. Wie soll ich da nicht an ihrer Göttlichkeit zweifeln!

Bonaventura blickte bei diesen sicher und fest gesprochenen Worten im Geist auf seinen eigenen Vater, seine eigene 139 Mutter, jenen, der vielleicht noch lebte und sich der Welt entzog, nur um dieser eine zweite Ehe zu ermöglichen …

Diese zartesten Fragen des Beichtstuhls hatte er erst in seiner jetzigen Wirksamkeit kennen gelernt. Sie kamen auf dem Lande nicht vor. Es gaukelten wol zu allen Zeiten vor seinen Augen die hundert Fälle, die die Vorsicht der römischen Casuistik über die Thatsachen des Ehelebens oft mit einer Nacktheit und Natürlichkeit aufzählt und niedergeschrieben hat, die nur aus Herzen kommen konnte, die sich zum Cölibat verpflichten. In allen diesen spanischen und italienischen Vorwegnahmen der durch die Liebe heraufbeschworenen Gewissensleiden ist jener wahren Empfindung wenig Rechnung getragen, die aus den reinsten Tiefen des Herzens stammt. Bonaventura las im Sanchez, im Bellarmin, im Lambertini die hundert Fälle, wo in der dort gebrauchten Sprache Cajus die Rosa liebt, Rosa den Titius, Thatsachen der Liebe, die das Licht des Tages scheut, nicht jener, die nicht erwidern will ohne das offene Bekenntniß ihrer Neigung vor der Welt; nicht jener, die der innern Heiligung des Menschen zum Segen werden kann und die die Kirche zum Fluche macht; nicht jener, die mit Verachtung solche Licenzen zurückweist, wie sie die Toleranz der Gewissensräthe anräth und nur mit Gebeten und Almosen gebüßt wissen will; nicht jener, die nach Neigung wählen und in der Freiheit, frühere Irrthümer zu berichtigen, vor gläubigen Seelen sogar durch das Beispiel der Patriarchenzeit geheiligt ist; nicht jener, die uns deshalb nur allein wahrhaft frei macht, weil sie die ewigen und un-140widerleglichen Gesetze der Natur zu Gesetzen der Sitte, der Vernunft und des göttlichen Willens erhoben hat …

Bonaventura’s Stocken beängstigte die Beichtende, die es um sich her immer lebhafter werden hörte …

Ich komme wieder! sagte sie, um abzubrechen …

Sie sprachen von keinem Bunde, den Sie wirklich schließen wollen, hielt sie Bonaventura, sondern nur von der Beunruhigung Ihres Gewissens, wenn Sie ihn schließen wollten. Warum begeben Sie Ihr Nachdenken in eine Gefahr, der sich auszusetzen Sie nichts zwingt?

Will man denn nicht das, erwiderte Monika, was uns ein Anhalt des Lebens sein soll, gegen alle und jede Möglichkeit der Anfechtung stark und sicher sehen?

Die Gefahr wird an Ihnen vorübergehen!

Und wenn nun nicht?

Der Priester mußte sich’s so natürlich denken, daß eine so gestörte Ehe damit enden konnte, daß eine junge, wie er nun hörte, mit Vorzügen des Geistes ausgestattete Frau noch einmal eine Bewerbung fand, der sie nicht widerstehen konnte. An Armgart mochte er sie nicht erinnern, da er deren den Aeltern gegenüber durchgeführte Gesinnung kannte und der Beichtenden nicht verrathen mochte, daß ihre Person ihm kein Geheimniß war. So blieb ihm nichts übrig, als die Zweifel, die auch an ihm in diesem Punkte nagten, zu überwinden und das zu thun, was er in seinem Berufe schon manchmal recht schmerzlich sich mit den Worten gestand: Wir gleichen den Aerzten, die aus Mangel an Erkenntniß und einer wahren Hülfe dem armen 141 Leidenden Wasser – gefärbt mit einem rothen süßen Safte, verschreiben!

Ich sehe Sie in dem Zustande, sagte er, den die Schrift den des zerstoßenen Rohres nennt und der Sänger des Dies Irae das Cor contritum quasi cinis! Das Herz zermürbt wie Asche! Bekämpfen Sie Ihre Stimmungen und halten Sie noch Betrachtungen über die Kirche davon fern! Fassen Sie die Kirche als ein großes Ganzes! Daß Sie als Kind am Freitage fasteten, was sagte es denn? Es sagte: Ich gehöre einer Gemeinschaft an, die das Vernunftgesetz über das Naturgesetz erhoben hat! Daß wir der Wildheit die Gesellschaft abrangen, daß wir einen Bund der Gesittung, der Künste, Wissenschaften, der Ordnung, eine Gesellschaft haben, wo die Tyrannen nicht herrschen, die Räuber, die Mörder schweigen und abseits treten müssen, wem anders verdanken wir denn das, als der Zähmung unserer natürlichen Begierden?

Monika schwieg … Sie beschloß, dem Vernommenen nachzudenken … Schon der bald sanfte, bald strenge Ton hatte sie erhoben …

Bonaventura schloß:

Kehren Sie bald, bald wieder! Absolvo te in nomine patris, filii et spiritus sancti!

Er machte das Kreuzeszeichen, zog sein Fenster zu und lehnte sich eine Weile in seinen Stuhl zurück – tief, tief – unzufrieden mit sich selbst …

Aber Ruhe, Kampf der Seele, Sieg gab es da wenig. Die Zahl der Harrenden war angewachsen. Schon meldete sich’s am andern Fenster …

Er zog den Vorhang zurück. Er that es mit dem 142 Gefühl: Welch ein Stümper erscheinst du doch bei wirklichen Leiden! Kannst du dies Holz denn verlassen und einem Priester begegnen, ohne daß ihr beide vor einander die Augen niederschlagt?

Schon sprach wieder eine sanfte Stimme die übliche Anrede.

Auch diese Stimme kam von einem Weibe. Auch sie ertönte aus den Umhüllungen eines zwar nicht schönen, aber jugendlichen Hauptes. Ein kostbarer Pelz lag dicht am Gitter und berührte fast sein Beichttuch …

Hochwürdiger Vater, ich bin unglücklich! …

Der Beichtstuhl, mein Kind, hört nur das Unglück durch Sünden …

Ich sündige wider die Gebote der Kirche und doch spricht mein Herz mich frei!

Sollte die Versuchung des armen Leviten nicht enden! Bonaventura erklärte die vernommenen Worte für einen Widerspruch und wünschte Aufklärung …

Ich werde in wenig Wochen Mutter sein! Mein Gatte ist Protestant und ich bin zweifelhaft, das Kind in meinem Glauben taufen zu lassen!

Verlangt Ihr Gatte das Gegentheil?

Er verlangt es nicht! Er verdankt seine Lebensstellung mir, er ist die Rücksicht selbst! Dennoch schenkt’ ich gern unser seit zehn Jahren ersehntes Kind ganz nur ihm!

Da thun Sie Unrecht! Sie bringen dem einen das, was er nicht begehrt, das kann Großmuth sein; aber Sie entziehen es einem andern, der darauf Ansprüche hat; das ist ein Raub!

Ich bin meinem Gatten Großmuth schuldig, ich bin 143 ihm Genugthuung schuldig! Und gerade vor meiner Familie, die ihn kränkt, zurücksetzt, sich freut, zwischen uns eine Trennung zu wissen! Ich fühle, daß ich ihm mein Kind schenken muß um der Liebe willen, um der Liebe ein Zeugniß zu geben! Sagen Sie denn auch wie alle andern Priester, daß mein Kind im Jenseits von mir getrennt sein wird?

Die Schrift sagt: „Bei unserm himmlischen Vater gibt es viele Wohnungen.“ Vertrauen Sie auf seine Gnade, wenn Sie sich nicht noch anders besinnen und von Ihrem Gatten zu Ihrer Religionspflicht zurückführen lassen. Gaben Sie bei Ihrer Verbindung dem Geistlichen, der Sie traute, kein Versprechen über Ihre Kinder?

Man verlangte es damals nicht! Das ist über zehn Jahre her …

… Die Fälle der gemischten Ehen kamen jetzt so oft im Beichtstuhl vor. Dennoch horchte Bonaventura auf und gedachte der Zerwürfnisse im Kattendyk’schen Hause, dem Hause, wo Treudchen und Lucinde wohnten …

Glauben Sie auch, hochwürdiger Vater, fuhr die zitternde Stimme fort, daß ich nicht die Aussegnung erhalten werde?

Die Aussegnung einer Wöchnerin bei ihrem ersten Kirchgang ist ein Brauch, kein Sakrament …

Nach dem Glauben meiner Mutter und Geschwister werd’ ich, wenn ich ohne Aussegnung sterben sollte, als ruheloser Geist Nachts mit einer Kerze in der Hand so lange um diese Kathedrale gehen müssen, bis eine andere Lebende sich für mich aussegnen läßt!

144 Bonaventura wurde irre, ob ein solcher Glaube in einem gebildeten Hause herrschen konnte. Fast an der Anwesenheit der Frau Hendrika Delring zweifelnd, sagte er:

Welche Thorheit! Nur fürcht’ ich, daß Sie nach Ihrer Handlungsweise überhaupt nicht im Schoose unserer Kirche bleiben werden; denn die Gnadenmittel müssen Ihnen entzogen werden!

Eine Pause trat ein …

Auch Sie sprechen wie Kanonikus Taube! sagte die Stimme …

Wir sprechen alle, wie die Mutter Kirche spricht! Sie will keines ihrer Kinder sich entzogen sehen und ist streng gegen die, die ihrer Liebe ein neues Kind vorenthalten! Erwägen Sie Ihre künftigen Leiden! Ihr Gatte ist edel; wie denn wird er von Ihnen ein solches Opfer verlangen!

Hendrika Delring weinte …

Es währte lange, bis sie sich sammeln konnte …

O diese Welt! rief sie plötzlich heftig aus …

Warum nur beruhigt Sie der Friede dieses Gottestempels nicht? Warum sprechen Sie in dieser Aufregung? Erzählen Sie, was Ihnen begegnete!

Schon oft, hochwürdiger Vater, wollte ich zu Ihnen kommen! Ich hörte täglich von Ihrer Weisheit und Güte. Neulich noch, als meine Familie sich um mich versammelt hatte, ein Marienbild in meinem Zimmer entschleierte und, indessen alle auf den Knieen lagen, zu ihm ein Gelübde sprach, sie würden, wenn ich mein Kind nicht im Glauben des Vaters taufen ließe, eine Wall-145fahrt antreten und in einem gräflichen Hause bei Witoborn, wo geistliche Uebungen gehalten werden, sechs Wochen lang sich einschließen und die Exercitien mitmachen, da schon wollt’ ich zu Ihnen kommen – nur warf mich die Verzweiflung aufs Krankenlager. Meine Mutter behauptete, wenn ich anders handelte, würd’ ich jetzt Gott um die Erfüllung eines Gelübdes betrügen …

Das ist eine Thorheit! erwiederte Bonaventura entrüstet. Wer lehrte Ihre Mutter, daß Gott unserer Opfer bedarf! Ein Gelübde kann einen Werth für unsere Seele haben, aber nur der Heide kauft seinem Götzen mit einem Gelübde etwas ab. Eher könnte Ihr Gewissen sich gedrückt fühlen von dem Vorwurf, die religiöse Denkungsart der Ihrigen, vollends einer Mutter zu verletzen …

Auch mußt’ ich bittere Thränen darüber weinen und war in meinem Vorsatz wankend geworden! Ein junges Mädchen, das in meinen Diensten steht, sprach täglich von diesen Exercitien, an denen sie so gern theilgenommen hätte. Das junge Kind, das ich so lieb habe, vergegenwärtigt mir den Glauben, den ich immermehr verliere …

… Ist das Treudchen? dachte Bonaventura voll Bangen. Treudchens Beichtvater war – Cajetan Rother …

Leider aber läßt der Peiniger meiner Lebensruhe nicht nach! fuhr Hendrika Delring fort. Es ist mein eigener Bruder! Früher war mein Gatte Führer des Geschäfts. Aufrecht gehalten hat er’s in schwieriger Zeit. Die Zeit ist nicht mehr günstig wie sonst, andere überflügeln den alten Kaufmannsschritt und darauf fußt mein Bru-146der, um meinen Gatten täglich zu verletzen. Während er selbst sich der sinnlosesten Verschwendung ergibt, wirft er uns die kleinste Ausgabe vor und schon war unser Entschluß reif, ganz aus dem Geschäft auszutreten. Leider ist meine Mitgift, wie es bei Kaufleuten Sitte, nur klein; meine Einnahme hängt von dem Ertrag des Geschäftes ab. Eine ihr entsprechende größere Summe herauszuziehen, ist immer mit Schwierigkeiten für unser ganzes Haus verbunden. Darum, weil mein Mann von vorn anfangen müßte und auch des Salairs für die Führung des Ganzen zu entbehren hätte, bekämpfte ich diesen Schritt, hielt aber zu meinem Mann und brach mit meiner ganzen Familie. Deshalb auch schenkt’ ich ihm im Geist meine Hoffnung, ohne daß der Edle es begehrt. Aber jetzt ist keine Wahl mehr. Mein Gatte muß weichen. Heute in der ersten Frühe fand eine Scene statt, die jede Aussöhnung unmöglich macht. Um das Geringfügigste erhob schon sonst unser Tyrann einen Streit. Diesmal darüber, daß er eine Gesellschaft geben will und zu dem Ende Ansprüche macht auf einen Theil meiner Zimmer. Ich verweigerte sie ihm aus Gründen, die eine Hausfrau haben darf. Nicht um eine Ladung Waaren, nicht um einen Werth von Tausenden begann er jemals einen solchen Streit, wie jetzt über diesen Gesellschaftsabend. Mein Gatte kam hinzu. Das ganze Haus wurde Zeuge eines Auftritts, der nur damit enden konnte, daß wir das Haus und das Geschäft für immer zu räumen erklärten. Mein Gatte wird eine Stelle suchen, meine Mitgift und ein uns angewiesenes Zehntel vom Reinertrage des Geschäfts reicht vielleicht aus, ihn 147 irgendwo zum Associé zu machen. Wir ziehen weg von hier und wenn ich dann an seiner Seite lebe – –

Nun dann, dann – unterbrach Bonaventura das plötzlich stockende Bekenntniß, dann schenken Sie Ihr Kind Ihrer Mutter – Ihr Gatte bedarf dann keinen weitern Beweis Ihrer Liebe mehr!

Hendrika schwankte, aber in ihrem Worte: Hochwürdiger Vater, ich zweifle schon an allem –! lag eine Zustimmung … Der sanfte Ton des Priesters hatte sie überwunden …

Das sagen Sie doch nicht! unterbrach Bonaventura. Die Liebe ist ja mächtig in Ihnen! Auch Liebe zu Ihrer andern Mutter, zur Kirche, haben Sie noch! Sie ringt nur mit der Gott ja gleichfalls wohlgefälligen Liebe zu Ihrem Gatten. So ist ja ein Ausgang da aus diesem Labyrinth, der Sie vorläufig vor Conflicten mit der Seelsorge bewahrt! In den Ihnen nun verhängten künftigen Entbehrungen kann ich nur eine Gnade des Himmels erkennen. Wie glücklich werden Sie sein! Ganz nur Ihrem Gatten hingegeben! Seine Sorgen, seine Erfolge theilend! Ich will Sie in mein Gebet einschließen! …

Eine Weile dauerte es, bis Madame Delring weiter sprach … Sie hatte ihr Taschentuch an ihr Auge gedrückt … Mit gebrochener Stimme hauchte sie:

Und ist es denn wirklich wahr – Und auch Sie, Sie sagen es – mein Kind würde im Jenseits –

Sie vollendete ihre Rede nicht. Denn Bonaventura unterbrach sie:

Wir haben eben eine so schöne Einigung gehabt, eine 148 Einigung, auf die hin ich Ihnen freudig die Absolution für Ihre Zweifel ertheile und Sie auf Sonntag zum Tisch des Herrn lade. Warum kehren Sie zu dem alten Unmuth zurück? Die Kirche hat den Abfall so vieler Millionen Bekenner erleben müssen, sie hat ihn zu einer Zeit erlebt, wo in der That ihr Wesen mannichfach entstellt wurde. Muß sie nun nicht streng sein, die Ihrigen zusammenzuhalten? Darf sie gering denken von dem, was ihre Lehre über die Stufenfolge und die Ordnung des Heils aufgestellt hat? Eine Sprosse daraus weggezogen und das ganze Gebäude wankt. Zu unserer Kirche zu gehören ist nun einmal nach unserer Lehre eine Wohlthat. Denken Sie doch nur immer an das, was Sie selbst als Kind glücklich gemacht hat, als Sie die erste Annäherung an die Gemeinschaft mit der sichtbaren Vertretung Ihres Glaubens fühlten! Diese sanften Klänge an einem Palmensonntag, diese heiligen Schauer des Ostertages, diese Wonnen einer höheren Liebe zu jeder Stunde des hochheiligen Kirchenjahres – gönnen Sie sie, ich bitte, auch Ihrem Kinde, dessen Ankunft und weiteren Lebensgang Gott segnen möge!

Nun ertheilte Bonaventura den Segen. Die Beichtende erhob sich langsam … Ein Diener, der in einiger Entfernung gewartet hatte, sprang hinzu und half ihr beim Aufstehen. Sie ging bis an eines der großen Portale, wo sie ein Wagen aufnahm.

Zeit zur Besinnung blieb dem Priester wenig … Ob er mit sich – zufriedener war? …

Aber da half kein Blick nach innen … Schon wieder mußte er das entgegengesetzte Fenster öffnen …

149 Ein großer Triumph des Beichtstuhls ist das Herantreten selbst des Höhergebildeten zum Ohr des Priesters. Größer aber noch möchte man den Triumph nennen, wenn sich ihm die männliche Jugend in jenem Alter naht, wo die Knabenvorurtheile abgestreift sind und sich sonst der keimende Stolz des Mannes schämt, sich noch an den Gängelbändern der ersten Erziehung zu zeigen. Ein junges Roß zerreißt alle Stränge, bricht alle Schranken – aber so halbwüchsige Jugendkraft im Beichtstuhl zu erblicken, selbst da sich demüthigend, selbst da sich unterwerfend, das ist eine Glorie der Kirche und des Familienlebens. Alle Abbildungen, die man von dem knieenden heiligen Aloysius von Gonzaga, einem frommen, offen gestanden, etwas blöde und geistlos blickenden Pagen am Hofe der bigotten Nachfolger Philipp’s II. sieht, bezwecken es, die Liebenswürdigkeit einer ganz noch in Knabengewohnheit sich haltenden Kirchlichkeit auch dem reifsten Jünglingsalter einzuprägen.

Thiebold de Jonge hatte wirklich, wie er an jenem Morgen nach dem Frühkaffee Benno „auf Ehre“ versichert hatte, neun Jahre lang nicht gebeichtet. Benno würde nichts dagegen gehabt haben, wenn von diesem „auf Ehre“ die jährliche Osterbeichte ausgenommen gewesen wäre; denn diese war, wie damals auch Pastor Engeltraut in Drusenheim gesagt hatte, eine ganz conventionelle „Sündenabwaschung“, der man nicht entrathen kann und die sich bei jedem, der keine bürgerlichen Unannehmlichkeiten erfahren will, innerhalb der katholischen Kirche von selbst versteht. Aber Thiebold de Jonge war wirklich in neun Jahren ein completter Heide ge-150wesen. Immer traf es sich, daß er zu Ostern irgendwo auf Reisen war; eine mahnende Mutter lebte nicht mehr; sein Vater war „ohne Vorurtheile“ und als „König der Holzhöfe“, wie er hieß, in einer Vorstadt wohnend, mit der Gesellschaft wenig in Berührung, ausgenommen bei den Provinziallandtagen. Die Gelegenheiten, wo junge Leute Beicht- und Communionzettel brauchen, kamen bei Thiebold nicht vor. Weder brauchte er Stipendien zum Nachholen seiner etwas vernachlässigten Studien, noch ließ er taufen. „Ei, wart’ du nur, Kerl“, sagte öfters sein Vater zu ihm, wenn er die Verwilderung bemerkte, „bis du nur endlich heirathen wirst, dann hört wol die Freigeisterei auf! Aber!“ setzte er hinzu, „du wirst wol auch so ein Hans Matz werden, wie –“ nun nannte er einige reiche ältere Herren aus der christlichen Handelssphäre, die, wie der „Ober-Chochem“ Moritz Fuld, vorzogen, Garçons zu bleiben. Vor vier Monaten erst, als Thiebold so melancholisch und so verspätet von der drusenheimer Partie zurückkam und einige Tage lang seine besten Leibgerichte stehen ließ, setzte der Vater hinzu: „Die Hanne Kattendyk hast du dir nun auch entgehen lassen! Macht sich so ein hungeriger Professor dran! Nannette Schmitz ist freilich noch zu jung! Aber Josephine Moppes, Lisette Maus, Mamsell Effingh und der kleine Schwarzkopf, der mir schon gefallen könnte, Betty Timpe – sage mir nur, Kerl, warum schleppst du dich mit den Brüdern dieser Mamsells, diesen liederlichen Tagedieben, wenn du nicht reelle Absichten dabei hast!“ Von einem adeligen Freifräulein und einer jetzigen Stiftsdame war keine Rede, weil der Sohn dem Vater 151 „mit dergleichen“ schön angekommen wäre, obschon Thiebold auch hier auf die Länge keine Schwierigkeit gefunden hätte und überhaupt mit seinem Vater auf mehr als dem Du-Comment kindlicher Vertraulichkeit stand. Der alte de Jonge ließ sich von dem jungen de Jonge behandeln, als wenn die Rollen umgekehrt wären, er der Sohn und Thiebold der Alte. Thiebold erzog „seinen Alten“ und der Alte hatte sogar Furcht vor dem Jungen und bemühte sich ängstlich, ihm zu Dank zu leben. Es war ein Verhältniß wie in der verkehrten Welt, was jedoch nicht ausschloß, daß Thiebold mit dem tiefsten Schmerz ausrufen konnte: „Wenn mir ’mal bei Gelegenheit der alte Mann sterben sollte, wüßt’ ich auf Ehre nicht, wie das fertig bringen!“

Obgleich Thiebold seit vier Monaten sich weder in seiner Toilette vernachlässigte, noch irgendwie auffallend in seiner Ernährung zurückging, drückte ihn doch offenbar Melancholie. Seine Paletots gaben wol die Wintermode an, er hatte die Krägen und Aufschläge von schwarzem Sammet eingeführt, die seinem frischen, gesunden Antlitz und dem gescheitelten kräftig blonden Haar das schönste Relief gaben; aber selbst die Bewunderung, die noch vorgestern Abend auf der Apostelstraße sein Pelzrock mit Schnüren, gefüttert mit Marderfell aus dem nördlichen Canada – einem eigenen Importartikel – hervorgebracht hatte (selbst bei Pitern, der so kindlich glückselig sich erging, daß er die heute stattgehabte „Mordscene“ mit Delring schwerlich schon embryonisch in seiner „fürchterlich reizbaren“ Seele trug), selbst diese Bewunderung hinderte nicht, daß ein schon seit lange 152 gehegter elegischer Plan kurz vor seiner Reise nach Witoborn zur Ausführung kam. In seinem Innersten hatte er sich auf etwas ertappt, was ihn drückte. Es war etwas, das er am wenigsten seinem angebeteten Freunde Benno von Asselyn und gerade darum dem Domherrn gestehen wollte. Vorgestern, beim Nachhausegehen von der Austernpartie, als er zwischen ein und zwei Uhr unter den nächtlichen Sternen nicht enden konnte, von Armgart’s Mutter zu schwärmen und jedesmal Benno, wenn dieser dann auch mit Ekstase anfangen wollte, mit Allotrien in die Rede fiel, hätte er beinahe alle Schleier von seinem Innern wegfallen lassen. Asselyn! – rief er; aber da war dieser wieder durch irgendeine ironische Seitenbemerkung „unverbesserlicher ausgebrannter Krater“ und so blieb eine „unwiderstehliche Erleichterung seines Busens“ in ihm stecken. Heute in der Frühe zog er seinen canadischen Pelz an, las, um seine Katechismuszeit aufzufrischen, in einem alten Beichtspiegel, den er aus der Bibliothek seiner Mutter als Reisegepäck nach dem frommen Witoborn mitnehmen wollte, und beschloß, dem Domherrn eine gründliche Schilderung gewisser Schlechtigkeiten zu geben mit der Bitte, das Nähere davon Benno mitzutheilen, damit ihn dieser nicht verkenne, denn – „Eines muß der Mensch haben“, sagte er sich, „woran er sich vom Thiere unterscheidet, welches nicht mit Vernunft begabt ist“; ja er setzte hinzu: „Unter gewissen Umständen ist das Sakrament der Buße eine merkwürdige Geschichte!“ … Zu den besondern Segnungen des Beichtstuhls gehören nämlich die sogenannten „Restitutionen“. Der Beicht-153hörende übernimmt dann die Ausgleichung einer eingestandenen Schuld, ohne daß der davon Betroffene die Ahnung hat, von wannen ihm diese geheimnißvolle Rechtfertigung oder unerwartete Schadloshaltung gekommen ist …

Für die sogleich zugestandene neunjährige Unterlassung des Beichtens erhielt Thiebold Vorwürfe, die er „vollkommen in der Ordnung“ fand. Ja fast hätte er ohnehin zur schnellern Orientirung des hochverehrten Priesters über die „betreffende Persönlichkeit“, die hier in dem schönen canadischen Pelzrock und mit dem schönsten frisirten Scheitel vor ihm lag, die Ergänzung gegeben: „Schauderhaft, selbst für jene wunderbare Rettung am Sturz des St.-Moritz fand ich keine Veranlassung, irgendjemand anderes zu danken, als dem Obersten von Hülleshoven und einem Ihnen vielleicht persönlich nicht ganz unbekannten Ehrenmann Namens Hedemann“ … Trotz dieser zurückgehaltenen Indiscretionen mußte Bonaventura nach einigen weitern Wechselreden den Freund Benno’s sogleich erkennen. Nicht wenig war er überrascht, als dieser von sich eingestand, daß auch er eine Dame liebte, die er nur „leise angedeutet“ zu haben glaubte durch offene Nennung ihres Namens Armgart von Hülleshoven.

Ich liebe ein Mädchen, bekannte Thiebold, von dem ich vor einigen Monaten erfuhr, daß es auch das „Ideal“ eines Freundes von mir ist, für den ich „sonst mein Leben lasse“! Durch eine besondere „Verkettung von Umständen“ hatten wir zusammen eine nächtliche Reise zu „bestehen“, wir drei, die Dame, mein Freund und ich. Die Gegend war reizend, einsam und „wunderschön“! Die 154 Nacht mondhell, die Sterne – nein, es war „wirklich“ prachtvoll und – und – „niemand“ schlief, „die junge Dame ausgenommen“, die, von Anstrengungen „übermannt“, „der Natur ihren Tribut zollte“! Mein Freund und ich, wir „zwei“, „verständigten uns durch gegenseitiges Schweigen“. Merkwürdig aber! Je mehr „der Morgen graute“, desto „finsterer wurde es“! Der Mond „verschwand“ … Die Berge, die Tannen – reizend; aber um vier Uhr Morgens „stichdunkel“! Unsere Begleiterin erwachte! Sie seufzte und erzählte ihre Träume, die wir „um das feierliche Schweigen zu brechen“, ihr auszulegen versuchten! „Aber“ an den einzelnen Stationen mußten wir aussteigen, um mit den Posthaltern und Postillonen abzurechnen, denn mein Kutscher war mit meinen Pferden schon auf der ersten Station zurückgeblieben. Rücksichtsvoll und feierlich, wie wir „gestimmt“ waren, ließ einer den andern zuerst wieder einsteigen, und zerstreut, wie wir gleichfalls gewesen zu sein „nicht leugnen können“, verwechselten wir unsere Plätze. Da – da fühlt’ ich auf einer der letzten Stationen vor Erreichung der „regulären Schnellpost“ im Dunkel eines Hohlweges eine zarte Hand in der meinigen … Die „Handschuhe“ meines Freundes waren es nicht, obgleich es mir schien, als hätte er längst auf dem Herzen, mir mit Gefühl zu sagen: Freund, beruhigen Sie sich! Sie sehen wohl, ich bin der Bevorzugte! Aber nein! Die Handschuhe waren die der jungen Dame. Ein Druck war es, „als wollte sie sagen“: O Geliebter, wie dank’ ich Ihnen von Herzen! Sie haben mich zeitlebens zu Ihrer Schuldnerin gemacht! Bleiben Sie mir gut mein ganzes Leben lang! … Herr Gott, ich 155 zitterte! Ich wußte, daß das gar nicht mein Platz hier war und sie mich für meinen Freund hielt! Ich erwiderte den Händedruck und das mit Beben und mit einer „gewissen Schüchternheit“, woraus sie noch um so mehr die „Berechtigung entnahm“, glauben zu dürfen, daß der von ihr Beglückte mein Freund und nicht ich war. Die Dame legte sich wieder in ihre Ecke „und entschlief aufs neue“. Aber das Gewissen brannte mir. Herr des Himmels, der Wagen hielt, und nun mußt’ ich aussteigen, und der Freund, der „ein wenig geschlummert hatte“ und die Worte des lieblichen Engels „überhörte“, folgt – und nun diese „beklagenswerthe Verschmitztheit meinerseits“! Ich schlug ja vor, die Plätze wieder zu wechseln! Und dies geschah und der Morgen graute immermehr und der Postillon blies und das junge Mädchen erwachte „aufs neue“. Gott, sie lächelte! Sie lächelte in aller Unschuld. Sie lächelte meinen Freund an, der ihr nun wirklich gegenübersaß! Aber „natürlicherweise“! Nicht im mindesten machte dieser Miene, sich an eine Zärtlichkeit zu erinnern, „die er nicht genossen hatte“. Um meine Verlegenheit zu vermehren, gab die dankbare Freundin unserer Herzen nun auch mir die Hand, als wollte sie sagen: Ganz zu kurz kommen sollen auch Sie nicht, lieber Herr de Jonge! Und dies offenbar viel kältere Benehmen sah mein Freund nicht ohne Befremden. Schwerlich schrieb er’s auf „Rechnung meines Wagens“, den er zwar zu loben anfing; aber ich gestehe, daß ich schon damals beschämt war, nicht im mindesten „honnet genug“ gewesen zu sein und gesagt zu haben: Erlauben Sie, mein Fräulein; vorhin – das bin ich auch ge-156wesen! Kurz, mein armer Freund blieb ohne alle Aufklärung! Ich, ich sonst ein Mensch von „Reellität“, habe aus „Liebesglut“ meinen Betrug verschwiegen bis zum heutigen Tage und „ich muß gestehen“, diese Lüge „entstellt meinen ganzen Charakter“. Denn nicht nur nicht – wie gesagt – sie einzugestehen war alle Tage Zeit – sondern auch – meine Schlechtigkeiten in diesem „Punkte“ nahmen noch zu …

Bonaventura hatte schon oft Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, daß Benno nicht Unrecht hatte, seinen Freund Thiebold de Jonge einen „närrischen Kerl“ zu nennen. Diese so wunderlich stylisirten Gewissensscrupel überraschten ihn daher nicht im mindesten …

Ich kann sagen, ich habe eine so gründliche Abneigung gegen mich selbst gefaßt, fuhr Thiebold fort, daß ich jede Nacht um einige Stunden meines Schlafes „verkürzt“ werde. Auch werde ich keine Ruhe finden, ehe es nicht wieder „Tag in meinem Innern“ wird! Eines muß der Mensch haben, was seine Religion ist und die Ehrlichkeit, glaub’ ich, „spielt dabei keine unansehnliche Rolle“.

Welche andere „Schlechtigkeiten“ sind es denn sonst noch, die Sie vorhin erwähnten? fragte Bonaventura …

Die bodenloseste Verstellung! sagte Thiebold und trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn. Ich schmeichle nämlich meinem Freunde mit der „stereotypen Versicherung“, daß die „Palme des Sieges“ nur er allein davontragen könne. Regelmäßig aber habe ich davon das absolute Gegentheil im Herzen! Ich sage ihm: Asselyn – bitte um Entschuldigung! (Für die unerlaubte Angabe eines Namens –) Ich sage: Freund, Sie sind der Glück-157lichste der Sterblichen! Im Gegentheil aber erwäg’ ich meine bessern Umstände, sogar meinen „scheinbaren Adel“ und ähnliche „Chancen“. Diese „vorhabende“ Reise morgen nach Witoborn ist z. B. eine solche schlechte Erfindung meiner Doppelzüngigkeit! Nicht im entferntesten liegt für mich ein Interesse vor, Wälder zu kaufen, die an keinem „schiffbaren Wasser“ liegen. Nichtsdestoweniger hab’ ich dies schlechte Geschäft als eine außerordentliche „Conjunctur“ hingestellt, ja dem Freunde sogar „schmählicherweise“ mein Bedauern ausgedrückt, daß ich ihm durch meine Anwesenheit in Witoborn ein „lästiger Zeuge“ sein würde. Wie gesagt, ich fange an stündlich über mich selbst zu stolpern und mich dem schaudervollsten Trübsinn zu ergeben aus Desperation über mich selbst! Hochwürdiger Vater! Ich möchte auf die ehrliche Straße zurück! Es würde mir dies „stellenweise“ erleichtert werden, wenn Sie, hochwürdiger Vater, die Güte haben wollten, meinen Freund zu versichern, Sie wüßten aus „authentischer Quelle“, daß er geliebt wird. Ich würde dann mit einer gewissen Erleichterung neben ihm meinen Platz im Postwagen einnehmen; denn wir wollen diesmal mit der gewöhnlichen Diligence fahren …

Mit diesem schwungvollen Schluß endete Thiebold’s gründlich einstudirte Beredsamkeit …

Jeder andere, der dieser Flüstersprache zugehört haben würde, hätte sicher seinem Ohr nicht getraut. Aber ein katholischer Priester hört dergleichen Herzensergießungen täglich. Die Neigung, die man bei Schulkindern das „Anbringen“ nennt, wird durch den Beichtstuhl in Bezug wenigstens des „Anbringens über sich selbst“ sogar geschult 158 und erzogen. Und will man ein guter Erzieher sein, muß man zugestehen, daß in dem Anbringen selbst über andere in der Schule ein Keim liegt, der etwas Gutes enthält. Es kann ein Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb sein, der nichts Unrechtes sehen oder leiden kann. Ein Kind, dem man das Anbringen unter allen Umständen verleiden wollte, könnte leicht in Gefahr gerathen, am Guten irre zu werden; denn immer wird es denken: Ei, das Böse ist doch dafür da, daß es entlarvt und bestraft werde; wie hindert man mich denn, das Gute herzurichten? Und der Beichtstuhl hört deshalb mit Geduld alles, was in ihm angebracht wird. Auch behülflich ist er, die Entdeckungen zu fördern und das Gute so wieder einzurichten und einzufugen, daß die, die es verletzten, nicht zu sehr dabei bloßgestellt werden. Er legt Strafe und Züchtigung vorzugsweise für die innere Gesinnung auf, übernimmt dann aber fürs Praktische gern, wie wol ein liebender Vater auch thut, das von seinem Kind gestohlene Gut wieder an den rechten Platz zu legen, ohne daß der Thäter auf ewig zu Schaden kommt. Der Beichtstuhl möchte gern auf diese Art die Harmonie des Lebens ergänzen. Und da die Sünden, in allgemeiner Formel ausgedrückt, oft nur Redensarten sind, so muß er zu dem Ende ausführlich die Facta hören, muß wissen, welche Rubrik in der Moral verletzt wurde und welche Arznei zu wählen ist, ob eine heroische, erschütternde, ein Taraxakum, oder eine sanfte und lind auflösende …

Thiebold, der sich in dem Augenblick vorkommen mochte, wie der heilige Aloysius, Thiebold, der als „Aufgeklärter“ nur festhielt an dem, was „an seiner Kirche wirklich gut“ 159 ist – „aufgeklärt“ und „protestantisch“ lagen für ihn und vielleicht auch für Benno weit, weit auseinander –, traf heute nicht den alten guten Herrn, bei dem er angeleitet worden war richtig Beicht zu sprechen. Der Pfarrer von Sancta-Maria an den Holzhöfen pflegte in solchen Fällen immer zu sagen: „Geh du man, min lütje Jong (es war ein Friese, wie die Asselyns), dat schall ik wol maken!“ Der gute alte Herr arrangirte, was Thiebold von eingeworfenen Fenstern, Näschereien, sogar schon Schulden (bei vierzehn Jahren!) ihm eingestanden hatte. Hier aber mußte Thiebold erleben, daß seine noble Gesinnung und die „authentische Quelle“ und sein „die Güte haben wollten“ – nicht den mindesten Anklang fanden …

Bonaventura verurtheilte ihn zwar nur zu einigen Aves und einigen Spenden, sprach ihm aber das Absolvo erst nach folgenden strengen Worten:

Und können Sie mir wirklich zumuthen, daß Ich nun auch noch an dem Gewebe Ihrer Unwahrheiten mit fortspinne? Wollen Sie Ihren Betrug gut machen, den Sie in dem Wagen bei jener nächtlichen Fahrt gespielt haben, so glaub’ ich, daß Sie ihn selbst bekennen müssen. Erleichtern will ich Ihnen diese Beschämung allerdings dadurch, daß ich der Meinung bin, Ihr Geständniß ist zunächst da anzubringen, wo der Betrug stattfand. Zuerst müssen Sie der jungen Dame, die Sie nun ja wiedersehen werden, bekennen, daß Sie es waren, der den Händedruck empfing. Die Täuschung, die Sie begingen, ist freilich eine doppelte. Lassen Sie aber erst das Geständniß vorangehen, das Sie der Dame selbst zu machen 160 haben, und sagen Sie dann mir, da ich gleichfalls in der gemeinten Gegend sein werde, was sie Ihnen erwiderte; vielleicht wünscht sie den Vorfall jetzt lieber ganz verschwiegen. Soll ihn aber später Ihr Freund erfahren – und ein wirklich dann Ihretwegen besorglicher Fall das – so will ich Ihrem guten Willen, Ihrer Neigung, Ihr Gewissen zu entlasten, vor dem Freunde ein Zeugniß geben, das Ihre Hinterlist nicht zu sehr compromittirt oder wol gar eine Aufkündigung der Freundschaft zur Folge hat, wenn nicht Schlimmeres, was ich nicht wünschen möchte; denn Ihre Freundschaft ist dem Freunde schon ein Besitz, den er hat; die Liebe jenes Mädchens aber bisjetzt etwas noch Zweifelhaftes. Ich möchte nicht, daß er um Freundschaft und Liebe zugleich kommt …

Thiebold erhob sich wie angedonnert … Die Verwickelung wurde immer größer … Die ganze Freundschaft mit Benno stand auf dem Spiel … Und – ein Geständniß seiner offenbaren Heimtücke an Armgart selbst! … Er sah die vollkommenste Niederlage, die ihm Bonaventura im Stifte Heiligenkreuz bereitete … Die Vorwürfe Armgart’s hörte er, hörte die offenkundigste Demüthigung in dem kühlsten: „Sie waren das?“ das je auf Erden gesprochen wurde – Er wankte nur so hinaus und litt mehr, als sich schildern läßt. Denn seine Bewunderung vor Benno’s Vetter war nicht blos hoch, sondern „höchst“. Er mußte sich gestehen, unter solchen Gefahren und Verwickelungen hätte er sich die Reise nach Witoborn anzutreten nicht für möglich gedacht.

Ruhe, Erwägung, Sammlung waren Bonaventura 161 nicht vergönnt … Wie gern hätte er sich jetzt träumerisch verloren in Benno’s Liebe, in Armgart’s Gegenliebe, die er durch seine Thiebold gegebene Vorschrift prüfen, zu vollerem Bewußtsein erheben, zum reichern Schatz für seinen Freund ansammeln wollte. Er dachte: Vielleicht kannst du eine dem dunkeln Lebensschicksal deines Freundes plötzlich aufgehende rosige Beleuchtung in Witoborn ihm selbst ankündigen! … Aber schon redete eine andere Stimme …

Es war eine heisere. Aber eine weibliche, soweit ein sonderbares Näseln und stoßweises Schluchzen sie unterscheiden ließen – ein Taschentuch mußte schon an allen Enden gewechselt worden sein, so feucht war es von dem Jammer der Zerknirschung. Eine Nase wurde dem Hörer sichtbar, geschwungen wie der Schnabel eines Geiers. Drüberher ein orangegelber, ganz neuer Atlashut, mit schwarzem Sammet besetzt und mit Spitzengarnitur. Es war dem Hute und dem Taschentuche und dem Weinen zufolge eine Dame. Alles Uebrige konnte einem Manne angehören.

So gewandt wie diese Bonaventura bereits hinlänglich bekannte Seele wußte selten eins die vorgeschriebenen Anreden und Formeln auswendig. Die Frau war erst vor vierzehn Tagen dagewesen, aber schon wieder war sie der Sünden so voll, daß der Beichtvater in sein Examen keine andere Ordnung bringen konnte, als systematisch nach sämmtlichen zehn Geboten. Eine Sünderin war es ganz nach dem Schema eines Beichtspiegels. Bei jedem Paragraphen der Moral hatte sie ihrem Innern gleichsam ein „Eselsohr“ gemacht. Schon neulich hatte 162 sie unnützerweise dreizehnmal Gott, siebenmal die Heiligen, siebzehnmal die Nothhelfer angerufen. Die Terminologie des Beichtstuhls und der Curialstyl der Gnadenzustände war ihr so geläufig, daß man hätte sagen mögen, sie sündigte auf Stempelpapier. Auch einem Diebe konnte man sie vergleichen, der seine Einbrüche schon nach demjenigen Strafmaß qualificirt, das gerade ausreicht, ihm nach zwei Jahren wieder die Freiheit zu verschaffen.

Dies war eine Frau, die im Entzug des allerheiligsten Sakramentes des Altars lebte. Sie behielt nur noch den Beichtstuhl offen zur Erweckung eines besseren Gnadenzustandes. Der junge Domherr war durch vorher nothwendig gewesene officielle Mittheilung der Sachlage über eine Frau orientirt worden, die sich alle vierzehn Tage vor ihm geberdete, als wäre ihr durch Vorenthaltung des heiligen Brotes die nothwendigste physische Speisung entzogen.

Mit solchem Seelenjammer, dem da nun auch ein Priester, ein Mann, der außerhalb der Ehe leben und den holden Reiz der Frauen nicht auf sich wirken lassen darf, sein Ohr leihen muß, hätte Bonaventura lieber, wie die Casuisten in diesem verfänglichen Kapitel, lateinisch gesprochen! Aber schon war er auch von St.-Wolfgang her gewöhnt, daß sich die Gewissen nach dieser Seite hin mit besonderer Vorliebe erleichterten. Sein Vorgänger, Cajetan Rother, hatte den Drang seiner Beichtkinder, Sünden des Fleisches einzugestehen, durch jene geistige Entbindungskunst, die Sokrates in philosophischen Fragen erfunden, sogar noch zu beleben ge-163wußt. Kein Kind hatte er aus dem Beichtstuhl gehen lassen, das er nicht auf sein Geheimstes ausgefragt hätte. Bonaventura schauderte anfangs vor den Mittheilungen, die man ihm machte, und bald ließ er vieles, was sich auszuplaudern schon gewohnt war, gar nicht mehr zu Worte kommen. Aber diese Materie blieb darum doch ein Lieblingsthema der reuigen, durch Geständniß halb sich schon entschuldigt glaubenden Mittheilung. Bekenntnisse dann freilich, wie die von dieser Frau heute schon zum sechsten oder siebenten mal vernommenen, waren ihm noch neu. Diese konnten nur in einer großen Stadt vorkommen. Sie kamen so geläufig, so formenfest, als wollte nur ein Gewerbtreibender wie die bürgerliche, so hier die himmlische Steuer entrichten, die ihm für sein Fach die Berechtigung gab, es wie begonnen so fortzusetzen.

Welche Strafen sollte nun Bonaventura einer Frau verhängen, die als eine Gelegenheitsmacherin in Untersuchung gerathen war, außer dem Stande der Gnade lebte und keineswegs als gebessert betrachtet werden konnte? Einer Frau in glänzendem Staat, Besitzerin einiger Häuser, einer Frau, die in dem Rufe stand, bei sich Gesellschaften zu dulden, wo schon manches junge Mädchen um Ehre und Ruf gekommen? Die Polizei und die Kirche kannten Madame Schummel … Bonaventura erhielt sie gleichsam als eine geistliche Observatin von seinen Vorgängern überliefert, als eine Frau, die in einer Art Kirchenbann lebte. Schon beim ersten Besuche, den sie ihm im Beichtstuhl machen mußte, sprach er zu ihr die Worte des Propheten: „Ich will Haufen Leute über dich bringen, die dich steinigen und mit ihren 164 Schwertern zerhauen und deine Häuser mit Feuer verbrennen und dir dein Recht thun vor den Augen der Weiber!“ Aber diese markdurchschneidenden Worte kamen der Madame Schummel, die wie ein Büßer mit der Geißel nicht stark genug zugehauen bekommen konnte, gerade recht. Da sie ihn fortwährend belästigte, nahm sich Bonaventura vor, bei ihren Allgemeinheiten nicht zu verharren, ihr Reden zu unterbrechen und zu versuchen, ob es nicht auch in dem Leben solcher Bekennenden „Restitutionen“ geben könnte …

Welches ist die letzte Seele, die Sie auf dem Gewissen haben? fragte er sie heute geradezu.

Du mein Gott! … war die auf den Tod erschrockene Antwort …

An wessen Seele haben Sie sich zuletzt vergriffen? Gestern? Heute schon? Sprechen Sie!

O du mein Gott! …

Ich frage!

Bonaventura’s Auge erhob sich so drohend, wie wenn er den vollständigen Kirchenbann über sie verhängen wollte …

Frau Schummel verstand die Drohung und fing an zu zittern und sprach:

Jesus Maria Joseph! Zwei junge Herren haben eine Wette gemacht, – daß ein gewisses junges Mädchen, nicht – nicht – so – nicht so unschuldig sei, wie sie aussähe …

Und Sie? unterbrach der Priester das Geständniß einer Frau, die nun hier auch knieen durfte an der Stätte, wo eben Unschuld und Sittlichkeit gesprochen! …

165 Ich – ich kann sagen, daß ich sie – ich meine das Mädchen – begleitet habe auf Tritt und Schritt und sie eingeladen, mich zu besuchen – und gewiß – gewiß auch würde sie gekommen sein, wenn nicht ein – ein geistlicher Herr, den ich gut kenne – es bemerkt und ihr – die Bekanntschaft mit mir verboten hätte …

Ein – geistlicher Herr? „Den ich gut kenne!“

Bonaventura erbebte … Er sah die Würmer in der Hostie wieder … Doch bekämpfte er sich und gedachte des römischen Katechismus, der Theil II, 5. 9. 51. befiehlt, der Priester soll darauf achten, daß die Sünder im Beichtstuhl so behandelt werden, daß sie immer Lust bezeigen, wiederzukommen.

So denn zwang er sich zur Selbstbeherrschung …

Ach, weinte Madame Schummel, meine vornehmen Freunde verderben mich! Da kommen sie und schmeicheln mir und bieten Geschenke! Tausend Thaler kann ich haben, wenn ich –

Dies unglückliche Mädchen zu Falle bringe –?

Nein, ihre Freundin! Die – die mit ihr in einem Hause wohnt …

In einem Hause? … Bonaventura wußte kaum, was ihn plötzlich an Treudchen Ley und Lucinden zu denken zwang – er wußte kaum, was ihm plötzlich die Besinnung raubte, zwang seine Fragen zu unterbrechen, seinen Entschluß zu helfen lähmte …

Ich Aermste, ich soll alles möglich machen! schluchzte Madame Schummel. Ich unglückliche Frau ich –

Sie werden alles versuchen, die Preise zu gewinnen, 166 die sittenlose Männer auf diese Verführungen stellen! sagte Bonaventura …

Nein, da sei Gott für, hochwürdiger Vater! Die Eine, die Kleine, ei, ich höre ja, die ist fürs Kloster bestimmt …

Treudchen! … Bonaventura wußte, wie Treudchen von den Klosterfrauen gefesselt wurde, wußte, wie Treudchen ebenso die Schwester Beate fürchtete, wie sie die Schwester Therese liebte. Treudchen hatte ihm alles das bei einem Besuch im Kapitelhause, bei ihrer, Renaten angebotenen Hülfe zu seiner neuen Einrichtung selbst erzählt …

Mit hochklopfendem Herzen fragte er:

Und die andere –?

Maria, Königin der Jungfrauen, lass’ mich siegen bei allen Angriffen der Feinde meines Heiles! Mein heiliger Schutzengel, bitte für mich und erlange mir einen großen Abscheu gegen alle Fleischeslüste. Und du, Gott der unendlichen Barmherzigkeit –

Schweigen Sie! unterbrach Bonaventura die auswendig gelernte und statt der Antwort auf die scheinbar überhörte Frage vorgetragene Litanei eines Gebetbuches. Unterlassen Sie jeden Versuch zu diesen fluchwürdigen Freveln und beten Sie die eben von Ihnen begonnenen Worte drüben an den Stufen der heiligen Afra-Kapelle! … Er mußte sich sagen – sein Amt schrieb es ihm vor – der Glaube erleuchtete auch die heilige Afra, die ursprünglich ganz auf den Wegen dieser Frau wandelte, erleuchtete eine Margaretha von Catona, auf welche bis in ihr einunddreißigstes Jahr gleichfalls jene 167 Worte des Propheten paßten, die er zum ersten Gruß zur Frau Schummel gesprochen, und die dennoch eine Büßerin wurde und nicht nur in ihrem Grabe mit unverwestem Leichnam liegt, sondern sogar im Gegentheil, worüber sie heilig gesprochen worden ist, einen eigenthümlich „angenehmen Geruch verbreitet“ … Und über Lucindens Lebensgänge zu forschen, verließ ihn alle Kraft. Auch war Frau Schummel schon verschwunden – ohne Absolution, wie gewöhnlich. Auf das Wort: „Heilige Afra“, das Bonaventura mit einer segnenden Handbewegung gesprochen, hatte sie selbst im Knieen geknixt und erhob sich. Sie hoffte, mit der Zeit ihr erworbenes Vermögen in ungestörter Ruhe und endlicher Versöhnung mit den öffentlichen Thatsachen genießen zu können.

Leichtere Fälle kamen dann, die Bonaventura’s erschüttertem Gemüthe Erholung gestatteten … Er übereilte nichts … er ließ jedem Zeit, sich auszusprechen … Einigen, die zu redselig wurden, sagte er mit Sanftmuth, daß die bewilligte Zeit bald vorüber wäre, sie möchten ein nächstes mal kommen und dafür sorgen, daß sie vom Meßner den Vortritt erhielten.

Soll es denn so sein? rief es wie ein Weheschrei in ihm auf, als dann endlich drei Stunden vorüber waren. Darf es eine Institution geben, die uns der Sünde gegenüber nur zu Hörenden macht, nur zu Belauschern dieses bunten, entsetzlichen Lebens? Soll das Bedrängte nicht sofort Entsatz erhalten von jedem, der davon nur die leiseste Kunde vernimmt? Soll eine in Erfahrung gebrachte Wahrheit nicht sofort laut verkün-168digt, ein Verbrechen durch uns zur Bestrafung gebracht werden? …

Wie viel Hülfeschreie verhallten nun schon so in seiner Brust! …

Wozu das alles! seufzte er … Wozu? Wozu?

Ein feierliches Hochamt in einem entlegneren Theile des großen Baues hatte begonnen … Niemand kam mehr, um an sein Ohr zu gelangen … Aber noch saß er, als blutete er aus tausend Wunden … Ein Erzittern, ein fieberhaftes Frösteln fühlte er bis tief in sein Allinnerstes …

Im Begriff sich jetzt zu erheben, faltete er sein Tuch zusammen. Schon hatte er den Drücker der Thür in der Hand, um sein enges Gefängniß zu verlassen, schon sah er im Geist gewohntermaßen den Meßner vor sich, der voll Ehrfurcht und mit einem nie so reich gewesenen Ertrag von „Beichtpfennigen“, wie sich jetzt ein solcher seit der Erhebung dieses gefeierten Priesters zum Domherrn ergab, ihn empfing und zur Sakristei geleitete …

Als er mit einem Fuße schon aus dem Beichtstuhl war, bemerkte er, daß der Meßner einen Zuspätgekommenen, der an der linken Seite des Stuhles knieete, entfernen wollte …

Es war ein Mann aus dem untersten Volke, mit einer Blouse über dem Rock. Ein Filzhut bedeckte das nicht sichtbare Antlitz … nur ein krauses, struppiges, röthlich blondes Haar sah er. Der Betende schien sich nicht wollen stören zu lassen …

Bonaventura winkte dem Meßner und trat in den Stuhl zurück …

169 Mächtig schollen die Klänge des Hochamts, heute sogar, wie oft, begleitet von einer Instrumentalmusik. Sie wogten durch das hohe Gewölbe und dennoch blieb in diesem entlegenen, dunkeln Winkel die geflüsterte Zwiesprache innerhalb des Stuhles deutlich vernehmbar.

Eine heisere, fremdartig betonende Stimme war es, die mit ihm sprach …

Bald erkannte er, daß sich ihm ein ruheloses Gemüth offenbaren wollte …

Er erkannte, daß er mit einem Verbrecher sprach …

Eine Zeit lang hörte er ruhig zu. Der Ton schien von einer nicht gänzlich verwahrlosten Seele zu kommen, aber auch von einem Gemüthe höchster Beschränkung … Der Mann sprach von einer unterirdischen Erscheinung, von einem Marienbilde unter der Erde, das ihm oftmals zurufe: Thue Buße! … Es hätte ihm schon einmal die Warnung vor einem Manne gegeben, der dann auch richtig neulich hätte den Kopf hergeben müssen …

Hammaker? sprach Bonaventura zu sich …

Der Mann erzählte, er wäre unter Verbrechern aufgewachsen, hätte bitter gebüßt, lange Jahre in Frankreich in Kerker und Banden gelebt, sich im Vaterland „etabliren“ wollen – immer war das Deutsche von französischen Worten unterbrochen – aber neue Verführung wäre gekommen, selbst das Heiligste hätte ihn nicht zurückgeschreckt – er hätte ein Grab erbrochen …

Bonaventura bebte auf …

Nun erscheine ihm auch, sagte die Stimme, der Todte, den er auf die nackte Erde geworfen, und fordere von ihm zurück, was er ihm genommen, und doch 170 wäre es nichts gewesen, quune bagatelle – Schriften, die er nicht lesen könne …

Bonaventura hörte schon nicht mehr … Die Sinne vergingen ihm … Bei der ersten Ahnung, mit einem Verbrecher zu sprechen, hatte er sein Antlitz ganz verhüllt, hatte die ganze, volle Vorschrift der Regel des Beichthörens auf sich wirken lassen und sich so verborgen, daß der Geständige in seinem Muthe nicht wankend werden sollte … Nun diese neue Entdeckung! War das Bickert, der Knecht aus dem Weißen Roß? Der Leichenstörer, den die Häscher seit Monaten suchten? Bickert, der mehr gefunden im Sarge des alten Mevissen, als Bonaventura dem Onkel Dechanten vorgelegt? Schriften, die an seinen Vater erinnern konnten –

Hinauszustürzen aus dem Beichtstuhl, den Verbrecher festzuhalten, Hülfe zu rufen – das war sofort sein Gedanke – aber – Innocenz und Hildebrand, wie schultet ihr euere Reisige! Ein katholischer Priester wird erzogen, in der Beichte von Ravaillac zu hören, daß er den König von Frankreich ermorden wolle. Er wird, ähnlich wie Pater Cotton, der Jesuit, gethan, auf diesen ihm vorgelegten Fall antworten: Ich werde den König warnen, werde stündlich um ihn sein, werde den Todesstoß statt seiner empfangen; aber dem Mörder kann ich nur seine Sünde vorhalten und ihm ins Gewissen reden – seine That gehört Gott – seine Person kenn’ ich nicht …

Die Beichte zu sprechen, nennt die Kirche das schönste und größte Heldenthum des Menschen. Petrus weinte bittere Thränen, Magdalena wand sich zu den 171 Füßen des Heilands, Augustinus gestand in seinen Bekenntnissen die Verirrungen seiner Jugend … Aber nicht minder groß ist das Heldenthum des Beichthörens … Christus hörte noch die Beichte eines Mörders, der am Kreuze neben ihm hing, während sein eigenes Leben verschmachtete und der unbußfertige Schächer ihn lästerte …

Und dennoch, dennoch riß unsern Freund die kindliche Liebe hin …

Unglücklicher! rief er fast in die schmetternden Klänge des Hochamts hinaus. Was führt dich gerade zu mir? Wisse! Ich, ich bin der Pfarrer des Friedhofs gewesen, den du entweihtest in Sanct-Wolfgang!

Das rothblonde struppige Haupt erhob sich einen Augenblick und sank, zuckend unter einem grauen Hute sich verbergend, kraftlos nieder … Der Spätling hatte diese Fügung des Zufalls nicht erwartet …

Uebersende mir die Schriften, von denen du sprichst! Die Ruhe meines Lebens hängt von ihnen ab! … Ach, gewiß auch die Ruhe deines Lebens! Weißt du doch, selig sind die Todten, denn sie werden Gott schauen! Vor seinem allwissenden Antlitz wird der von dir in seinem Grabe Gestörte auch für deine Seele bitten! Ist deine Reue eine wahre, ist diese Anfechtung zur Rückkehr in alte Schuld die letzte gewesen, dann kniee nieder vor der allerseligsten Jungfrau, wenn sie dir wieder erscheint in den Höhlen, wo du vor dem Arme der Gerechtigkeit dich verbirgst, bekenne ihr deinen Trieb zur Besserung, und willst du die vollste Aussöhnung mit Gott auch nur einmal, einmal erproben, in dem Genuß seines heiligen Leibes, o, so will ich dir das allerheiligste Sakrament 172 des Altars nicht entziehen, will dir die Erweckung durch den Mitgenuß seines gekreuzigten Leibes nicht versagen – Oder hast du noch irgendeine andere Schuld auf deiner Seele –?

Der Verbrecher athmete schwer und erhob sein Haupt nicht wieder …

Es war Bonaventura, als hörte er ein Murmeln: Ich hatte –

Du hattest? O rede! Du hattest? –

Ein – ein Engagement –

Wozu? Zu einer ruchlosen andern That? Sprich! Vertraue mir!

Ein Feuer –

Solltest du anlegen? Ha! Eine Urkunde – eine falsche Urkunde in dem Tumulte irgendwo niederlegen! Wo? Wo? Sprich!

Es ist vorüber –

Schon geschehen? Ihr Heiligen!

Nein, Herr, nein! –

Aber es wird geschehen!

Nein, Herr, nein –

Wen soll ich warnen? Rede!

Der Verbrecher schwieg …

Rede!

Keine Antwort erfolgte … Der Verbrecher murmelte ein Gebet …

Nun denn, sagte Bonaventura nach einer Weile, so sei dir dies Vorhaben vergeben, wenn es unterbleibt und du es um Jesu willen bereust! Aber auch dies noch! Mein Name ist Bonaventura von Asselyn! Meine 173 Wohnung im Kapitelhause! Sende mir die Schriften, die dir nichts nützen können! Nie, nie will ich dich erkennen! Ich sah dich ja nicht, ich will dich nicht sehen, ich spreche dir Befreiung deiner Schuld und schließe das Gitter, daß du dich ungestört entfernen kannst! Beim Tisch des Herrn will ich dich, falls du dein Vorhaben unterlässest und mir die Schriften schickst, anlächeln wie dein Freund wenn ich dir das Brot des Lebens reiche! Absolvo te in nomine patris, filii et spiritus sancti! Amen!

Bonaventura machte das Zeichen des Kreuzes – zog das Fenster zu … und erhob sich …

Als er sich zitternd entfernte, war niemand mehr gegenwärtig, selbst der Meßner nicht …

Das Hochamt tönte fort …

Wie eine Geistererscheinung war, was er erlebt hatte … Er wankte dahin wie wesenlos … wie ein Hauch der Lüfte …

In dem ihn umrauschenden Gewühl des Lebens, unter den sich drängenden Menschen, die ihm auswichen, hinter dem Meßner, der ihn in einiger Entfernung erwartet hatte und sich ihm anschloß und Platz machte, daß er hindurchkonnte zur Sakristei, war sein Sein das, was nach einem griechischen Dichter wir alle sind, nicht ein Schatten nur, nur eines „Schattens Traum“.

Bei alledem sprach ihm, als er sich umkleidete, sein Gewissen: Hast du dich nicht von deinem persönlichen Interesse fortreißen lassen? Blieb nicht ein Vorhaben zu wenig eingestanden, das viel wichtiger ist, als jenes Blatt Papier? … Bickert war ein Bundesgenosse Hammaker’s 174 … Eine Feuersbrunst stand vor seinen Augen und wollte nicht weichen …

Benno holte ihn ab, um ihn in seine Wohnung zu begleiten und von ihm Abschied zu nehmen …

Was mußte nicht alles sein Mund verschweigen!

Er wußte nicht, was ihn bestimmte, zu sagen:

Seid auf Schloß Westerhof nur wachsam! Tag und Nacht haltet doch Obhut! …

… Wie bangte er der Hoffnung entgegen, die Räthsel jenes Sarges von St.-Wolfgang gelöst zu sehen!

175 6.#

Piter’s Gesellschaftsabend rückte näher …

Eine Aenderung seines Programms durch die mit Delring und seiner Schwester Hendrika stattgefundene Scene konnte man „von ihm nicht verlangen“.

Selbst seine Mutter und seine andern Geschwister waren schon zu weit in den Zurüstungen ihrer Toiletten vorgeschritten, als daß eine so bedenkliche und für alle daran Betheiligten tief erschütternde Wendung der Dinge, wie Delring’s Austritt aus dem Geschäft und die Aufgabe seiner Wohnung im schwiegerälterlichen Hause, etwas darin hätte ändern können. Die Commerzienräthin weinte zwar bittere Thränen, aber sie hütete sich wohl, daß eine derselben auf die schweren silbergrauen Moiréestoffe fiel, welche sie täglich zweimal bei ihrer Schneiderin anpaßte. Die Equipagen ihres Hauses sowol wie die des Procurators rasselten durch die Straßen mit einer Eile, als könnten plötzlich in der Stadt alle schinirten Sammete, aller Gros de Naples, alle Stoffe zu Borduren und Blonden aufgekauft werden.

Die obern Zimmer blieben von Hendrika Delring für 176 den Abend verweigert. Piter hatte dort eine „Retraite“ für seine Freunde arrangiren wollen, wo sie in gemüthlicher „Nonchalance“ sich gehen lassen konnten; er wollte, das war seine Idee, höchsten Salon und tiefsten Austernkeller für jenen Abend vereinigen. Gesang und „geistreiches“ Gespräch sollte die Cigarre und einen kleinen „Ulk“ nicht ausschließen. Die Wendeltreppe eignete sich so prächtig für diese gemüthliche Mischung! Indessen war dies Arrangement nicht zu ermöglichen und Johanna, seine jüngste Schwester, seine älteste, Josephine, die Frau Oberprocurator, sämmtliche Hausfreunde gaben Pitern diesmal unbedingt Recht, wenn er von einem „denn doch kolossalen“ Eigensinn sprach, und nur seine von ihm gebrauchten Kraftausdrücke ängstigten sie, besonders vor Fräulein Lucinden, deren hohe Bildung und schüchterne Sittsamkeit täglich hier im Hause Redensarten zu hören bekam, die sie bei soviel Frömmigkeit nicht hätte voraussetzen sollen.

Nur vor Dominicus Nück hatte Piter einige Furcht. Dieser Sonderling war noch immer im Stande, ihn zuweilen wie einen zehnjährigen Knaben zu behandeln. Eine Bürgschaft für den Bestand des Geschäfts konnte dem klugen Manne Piter’s Alleinherrschaft nicht erscheinen. Letzterer ahnte das und besorgte Erklärungen, um so mehr als Nück schon lange ein Gegner dieser projectirten Gesellschaft war. In Sack und Asche sollten wir gehen, hatte er zu seiner Frau gesagt, und dieser Mensch thut den Neunmal-Weisen den Gefallen und will illuminiren lassen! … Seine Gattin hatte seit lange keine so wortreiche Unterhaltung mit ihm geführt. Sie 177 hätte schon um dieser seltenen Vertraulichkeit willen auf ihres Gatten Zorn über den „dummen Jungen“, wie Piter schon eine hübsche Reihe von Jahren bei ihm hieß, eingehen sollen; aber die Höhe ihrer Volants an einer wundervollen Rosatoilette nahm sie so in Anspruch, daß sie nur immer das Rauschen ihres Eintritts in den Salon hörte und den Moment bedachte, wo sie sich an dem festlichen Abend zum erstenmal niederlassen würde, nicht zu nahe am Ofen und nicht zu dicht unterm Kronenleuchter; denn die Arme litt bei solchen Abenden an einem krankhaften Echauffement und hatte dann vor Zorn über sich selbst und den Schöpfer, der sie ins Leben gerufen, schon manchen kostbaren Fächer zerknittert, dieser Röthe gedenkend, die ihr die Stirn, die Nase und besonders die Ohren mit einer unheimlichen Ziegelsteinfarbe überzog.

Die „Religion“ war in der That einige Tage lang im Kattendyk’schen Hause suspendirt. Piter bekam in allen Punkten Recht, selbst wenn er seine Meinungen des Tages einigemal wechselte und sich selber widersprach. Auch ein ganz besonders maliciöser Antagonist gegen ihn fehlte glücklicherweise, der außerordentliche Professor Guido Goldfinger, Johannens Verlobter, der erst zu dem Gesellschaftsabend selbst ankommen wollte. Dieser junge Mann machte mit einer glänzenden Heirath sein Glück, war aber für dies Glück von seinem Vater, dem Medicinalrath, förmlich erzogen worden. Gerade die Sicherheit seines Benehmens gab ihm den außerordentlichen Vorsprung bei der Mutter und bei Johannen. 178 Auf der vielfach angedeuteten Universität lehrte er Naturwissenschaften vom rechtgläubigen Standpunkte. Er bewies wissenschaftlich, daß es Pflanzen gäbe, die die Marterwerkzeuge in ihrem Kelche schon von Anbeginn ebenso hätten tragen müssen, wie die Propheten bereits von allen Einzelheiten im künftigen Leben des Messias wußten. An einer „Heiligen Botanik“ schrieb er, in der alle in der Bibel vorkommenden Pflanzen in alphabetischer Reihenfolge behandelt wurden. Wenn sein kurzes, schneidendes Wesen in den Abendgesellschaften (von seinem von drei bis vier Zuhörern umsessenen Katheder kam er wöchentlich einmal herüber) Pitern gegenüber Stickstoff, Sauerstoff, Polarität und ähnliche schwierige Fragen zu sehr accentuirte und darüber Piter „unangenehm“ wurde und vor solchen „Kindereien, die er sich schon in der Schule abgelaufen hätte“, sich nicht im mindesten zu ängstigen erklärte, falls der Professor ihn rundweg anfuhr: „Das verstehen Sie nicht!“ so sagte der alte Sänger Ignaz Pötzl, indem er dann einmal von den Bologneserhündchen die alten magern, sie streichelnden Hände abließ, mit halblautem Seufzer: „O Ysop, Ysop! wann wirst du an die Reihe kommen!“ Darunter verstand Pötzl, wie alle Anwesenden aus dem engern Familienkreise wußten, den letzten Artikel der „Heiligen Botanik“; denn erst mit dem Abschluß dieses großartigen Werks, das auf Kosten der Commerzienräthin gedruckt werden mußte, sollte die Hochzeit stattfinden. Leider stand der Professor erst bei der Wurzel Jesse, bei der er sich, wie er mit sardonischer Galanterie hinter seiner blauen Brille hervor Johannen zuflüsterte, des-179halb so lange aufhalten müsse, weil ihn zu sehr der Buchstabe J fesselte.

Am empfindlichsten war Pitern der Eindruck, den sein Bruch mit Delring auf Treudchen machte. Sie selbst hatte der Scene nicht beigewohnt, nach der sich ihre Herrschaft in den Beichtstuhl des „neuen Heiligen“ Bonaventura von Asselyn flüchtete, aber sie erfuhr alles Geschehene, als sie von einem Einkaufsausgang nach Hause kam. Lucinde hatte ihr schon lange den Rath gegeben, Pitern etwas zu tyrannisiren. So oft er ihr nun seitdem auf der Treppe begegnete, wobei eine rasche Handbewegung, manchmal das Verlangen, ihm einen Knopf am hingehaltenen Hemdärmel sofort auf der Treppe anzunähen, schon zur Gewohnheit geworden war, zeigte sie ihr Schmollen. Piter hatte jetzt nur zu viel mit seinem „Programm“ zu thun, sonst würde ihm dies Ausweichen unerträglich gewesen sein. Schon weckte er durch seine Leidenschaft Spott und „Hohngelächter“ und Zweifel des Neides, besonders bei den stillen Charakteren Weigenand Maus und Aloys Effingh, die schon vor längerer Zeit über seine Entzückungen die harmlosen, aber bedeutsamen Worte fallen ließen: Nur nicht zu üppig, Kattendyk! …

Lucinden schonte Piter um Treudchens willen. Auch sprachen ja Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge mit einer höchst respectvollen Scheu von der Gesellschafterin seiner Mutter. Benno war zu gewissenhaft, um die für Bonaventura’s Lebensstellung nicht passende Leidenschaft Lucindens zu verrathen. Auch mußte er anerkennen, daß durch die fast schimpfliche Ent-180fernung aus der Dechanei Lucinde vollkommen berechtigt war, auch ihm gegenüber jenen Humor aufzugeben, dessen Ausbrüche ihn erst dämonisch abgestoßen, zuletzt gefesselt hatten. Die Wahrheit des einen Wortes, das Lucinde Benno beim ersten Begegnen am Theetisch der Frau Walpurga zugeflüstert hatte: „In Kocher am Fall hab’ ich Bitteres erlebt!“ durfte er nicht anzweifeln. Wohl bemerkte sein scharfes Auge, daß Lucinde auch hier schon mit dem ganzen Hause und den Schwächen desselben spielte; aber Koketterie war es nicht, als sie ihn eines Abends bat, sich ihres vernachlässigten Latein anzunehmen; sie wolle, sagte sie, die Bekenntnisse des Augustinus, die Geschichte seines Lebens-Trahimur, in der Ursprache lesen. Zu Thiebold’s Erstaunen über dies „Zauberweib“ kaufte ihr Benno ein Lexikon, verschaffte ihr Uebungsbücher und mußte sich gestehen, daß die Art, wie sie ihm dafür das Geld schickte und ihren Dank in einem Briefe bezeigte, einen graziösern Geist verrieth, als er ihrer Schroffheit zugetraut hatte. Das Geld kam auf der „Schreibstube“ Nück’s an und war dort in seiner Abwesenheit dem Principal übergeben worden. Als Nück die Veranlassung dieser Geldsendung aus dem Kattendyk’schen Hause erfuhr und mit eigenthümlich zwinkernden Augen auch den ihm von Benno dargereichten Brief gelesen hatte, erfuhr letzterer, daß die Wirkung, die Lucinde hervorbrachte, immer allgemeiner wurde. Wo man nur auf das Kattendyk’sche Haus zu sprechen kam, wurde nach Lucinden gefragt. Schön erschien sie allen, den Frauen etwas unheimlich. Auch Männer brauchten zuweilen den Ausdruck, sie hätte zu viel Geisterhaftes. Nur 181 über ihre beispiellose Frömmigkeit waren alle übereinstimmend. Eines Tages erfuhr Benno von Thiebold, daß Nück an dem seit einiger Zeit häufiger von ihm besuchten Theetisch seiner Schwiegermutter Lucinden halblaut ein Wort gesprochen hätte, das dieser die seit einiger Zeit immer nur bleichen Wangen purpurn überfärbte. Es war von einer schon zunehmenden Gewöhnung Lucindens an das Leben im Hause und in der Stadt die Rede und von ihrer frühern übergroßen Verschüchterung. „Sie sind eine Jerichorose!“ hatte Nück geflüstert. Thiebold verstand diese Vergleichung nicht. Im Benno wollte er „nachschlagen“, was sie bedeute. Als ihm Benno die Erklärung gab: Eine Jerichorose ist ein rankenartiges Gewächs mit einer wunderbar gestalteten und duftenden Blume, die zeitweilig ganz ledern, welk und verkommen aussehen kann, legt man sie aber in heißes Wasser, so quellen ihre Blätter auf und sind, wenn sie auch seit Jahr und Tag vertrocknet schienen, plötzlich wieder so frisch, als wenn die Blume zum ersten mal blühte … da wetterte Thiebold über den Außerordentlichen, der gerade zugegen gewesen war und die Jerichorose nur „lateinisch“, d. h. gelehrt gefaßt und gesagt hätte: Die heilige Botanik hat es mit zweierlei Jerichorosen zu thun. Die eine ist die der Legende: Maria auf der Flucht nach Aegypten steigt von dem Esel und da, wo ihr Fuß den Wüstensand berührt, sprießt die Jerichorose auf. Die andern sind diejenigen Rosen von Jericho, die bei Sirach vorkommen in der für die heilige Botanik so classischen Stelle … Viel lieber hätte Thiebold gewünscht, man hätte verweilt bei der vollständigern Beziehung dieser Ver-182gleichungen auf ein Wesen, das für die ganze gebildete Gesellschaft der Stadt immermehr einen eigenthümlich verschleierten Reiz gewann.

Der verhängnißvolle Festtag erschien … Die Vorbereitungen zu dem Abend sistirten bei Pitern den ganzen geschäftlichen Ex- und Import. Heute galt es den Triumph seiner durchbrochenen Mauern, neugeschaffenen Kamine, portièrenverdeckten Thüren. Auch hatte er schon in der Dienerschaft seit lange manche Reformen angebahnt. Die alten hatte er zwar nicht entfernen können, aber sie für den einzuführenden bessern Ton „unschädlich gemacht“. Kathrine Fenchelmeyer behauptete sich in der Küche, trotzdem daß Thiebold eines Abends gesagt hatte: „Eigentlich mit Geist kochen kann nur ein Mann!“, eine Behauptung, worüber ein fünfstündiger Streit unter den Freunden entstand, der für Pitern so interessant und anregend wurde, daß er sich das neue Buch „Geist der Kochkunst“ kaufte. Ueberhaupt gab er viel Geld für diejenige Literatur aus, die ihm in schönen Einbänden hinter einem Glasschrank zu besitzen nöthig schien, um jenes gewisse Etwas eines der Kaufleute zu gewinnen, die so „merkwürdig beschlagen“ sind in allem, was die Zahl der Stecknadeln anbetrifft, die eine birminghamer Maschine in einer Stunde hervorbringen kann. Auf jedes Buch, das für Delring’s Bibliothek vom Buchhändler im Comptoir abgegeben wurde, setzte er ein anderes und nicht immer Werke über Cavalierperspective, „Diätetik der Seele“, Blumauer’s „Aeneide“, die „Jobsiade“ und ähnliche classische Schriften, die unter den Freunden bewundert wurden, auch Mac Culloch und 183 Reisebeschreibungen in Vorder- und Hinter-Asien. Kathrine hatte für den Abend einen Koch zu Hülfe genommen – Piter entließ sie nicht, weil unter den Freunden trotz aller Bewunderung vor den Speisen, die man in Paris bei Véry finden konnte, feststand, daß Sauerkraut, Erbsen und Dürrfleisch nirgends so „famos“ zubereitet wurden, wie bei ihm. Auch über die richtige Art, den Wein einzuschenken, trug im kleinen Kreise Joseph Moppes manchmal förmliche Abhandlungen vor. Wehe den neuen Dienern oder den am Freitag zu Dienern avancirenden Hausknechten – auf die engagirten Lohnbediente war eher Verlaß – wenn sie beim Einschenken der Weine nicht der Theorie entsprachen, die Piter ihnen kurz vor Eröffnung der Flügelthüren noch einschärfen wollte. Ob ihn die Scrupel wegen der „trauernden Religion“ nicht bestimmen sollten, daß die Diener sämmtlich schwarzbaumwollene Handschuhe statt weißer anzogen? In dem Austernkeller neulich hatte man diesen Piter’schen Gedanken erst bewundert, dann ihn aber doch fallen lassen. Weigenand Maus hatte sogar gesagt: „Wehe dem Kaufmann, der überhaupt Religion hat!“ – „Sie meinen eine andere Religion, als die des ehrlichen Mannes?“ polterte Thiebold auf, der an seine „vorhabende“ Beichte dachte. Gebhard Schmitz, der Dialektkünstler, um etwaigem „Streite“ vorzubeugen, fiel mit einem allgemeine Acclamation erweckenden Worte ein: „Meine Herren! Ich sage, wehe dem Kaufmann, der jetzt eine andere Religion hat, als die jüdische!“

Piter stand nun wie Napoleon vor einer Schlacht. Er 184 hatte sich auf alles vorbereitet, sogar das Verdrießlichste, auf Absagebriefe. Sein lebhafter Geist sah sogar sämmtliche Lampen nicht brennen, hörte Cylinder zerspringen, hörte stockende Gespräche. Aber er suchte allem zu begegnen durch Reservevorräthe; sogar von Anekdoten hielt er sich ein kleines Lager in Bereitschaft. Aus dem „Demokritos“ hatte er sich einige Bonmots gemerkt, manche feine Antwort memorirt, die er anbringen wollte, wenn es seinem rastlosen Ehrgeize gelang, irgendwo die ihr entsprechende Frage zu provociren. Die ganze Stadt wußte den Vorfall mit Delring. Wie hatte er da die Arme zu verschränken und sich hinzustellen als die sturmfeste Mitte eines großen Ganzen! Und diese mindestens in zwanzigfacher Anzahl kommenden jungen Mädchen, denen er zeigen wollte, was ein „Herr der Schöpfung“ ist! Sein Bärtchen war allerliebst gefärbt, das dunkelblonde Haar unternehmend gebrannt, die Hemdauslage zeigte das kunstvollste Steppmuster. Sie hätte Thiebold entzücken müssen, der zu sagen pflegte: „Was bei den alten Griechen, wie Benno von Asselyn versichert, einst die Bäder gewesen sind, das ist bei uns die weiße Wäsche.“ Nur Piter’s Schneider ließ ihn mit einem fast auf dem Leib ihm angenähten Frack noch bis sechs Uhr warten. Fast war er das Atelier des Mannes geworden und seine Haut nahe daran, durch das gewissenhafte Probiren mit festgenäht zu werden. Aber um sechs Uhr konnte er „auf Ehre und Seligkeit“ die Ankunft des Frackes gewärtigen. Das ganze Haus war geheizt, sogar die unten durch Glas verschlossenen, teppichbelegten, blumengeschmückten Treppen. Nur so auch konnte es 185 geschehen, daß Piter von drei Viertel auf sechs Uhr an in Hemdärmeln Trepp’ auf Trepp’ ab lief.

Berechnend, ob das zu frühe Anzünden der vielen Kronenleuchter und Wachskerzen nicht zu zeitig dürfte „Friedland’s Nacht“ eintreten lassen, durchschritt er die öden, fast gespenstischen Zimmer, leise verfolgt von einigen bereits gekommenen Lohnbedienten, die sich nützlich machen und Vertrauen erwecken wollten … Die Mutter, die Schwester waren noch tief in ihrer Toilette zurück … auch Fräulein Schwarz war nirgends sichtbar. … Treudchen Ley’s Erscheinen ließ sich in keiner Weise voraussetzen …

Wie fehlte ihm diese holde Ermunterung! Wie sehnte er sich nach einem Druck ihrer weichen Hand und ihrem gewöhnlichen: „Ach, Herr Piter –!“ Wie erschöpft war er bereits von den Anstrengungen des Tages!

Guten Abend, Kattendyk! lautete es hinter ihm her, als er sich eben lässig in einen seiner neuen Fauteuils warf …

Es war Joseph Moppes … Bester! Haben Sie etwa Weiß aufgelegt? Sie sehen ja gottsjämmerlich aus! sagte der Freund und ging mit Noten rasch vorüber in die hintern Zimmer …

Finden Sie das? antwortete Piter hinter ihm her. Mit Apathie stand er auf und betrachtete sich beim Schein des Lichtes, mit dem er die Zimmer durchmusterte, in einem oberhalb eines seiner neugebauten und heute zum ersten mal probirten, leider etwas rauchenden Kamine angebrachten Spiegel …

Ich kenne das an solchen Abenden! Nehmen Sie doch einen kleinen Cognak! rief Moppes von hinterwärts her. 186 Moppes legte mit diesen Worten auf das Pianoforte die Noten zu dem projectirten „Bouquet“ des Abends …

Piter gefiel sich außerordentlich im Spiegel. Er fand sein languish interessant und bewunderte seine weißseidene Cravatte, seine weißseidene geblümte Weste, die gesteppte Brustauslage mit blitzenden Brillanten. … Aber wirklich er war zu blaß und zog deshalb an einem Schellenzuge und ließ sich einen kleinen Cognak kommen. Jedem andern würde er gesagt haben: Au contraire! Ein Glas Wasser wird mir gutthun! … Seinen Freunden trotzte er nicht. Ihnen nicht, die immer so recht das trafen, was dem Manne ein schmeichelhaftes Lustre gibt …

Sie haben Recht, Moppes! sprach er hinhauchend und immermehr beruhigt über die Epoche machende Wirkung dieses Abends …

Der kleine Cognak kam. Piter trank ihn. Moppes rückte und schob hinten am Pianoforte …

Auch der Frack kam. Der Schneider brachte ihn nicht selbst; der Arme ruhte erschöpft auf seinen schwer errungenen Lorbern. Aber der Frack saß vortrefflich. Jetzt gedachte Piter liebevoll auch seines Freundes, der im Dunkeln die Arrangements für die musikalischen Genüsse traf, und rief mit elegischer Gelassenheit:

Stoßen Sie sich doch nicht, Moppes! … Donnerwetter, brüllte er dann; steck’ doch einer für drinnen Licht an!

Alles rannte …

Teufel! schrie er wieder. Nicht den Kronenleuchter!

Alles zitterte und nur eine Girandole von drei Kerzen wurde angesteckt …

Piter sah sich im Spiegel und äußerte:

187 Joseph soll doch auch für Moppes – oder warum denn nicht lieber gleich – Joseph soll die ganze Cognakflasche schicken!

Inzwischen rief Moppes:

Bester Freund, das Feuer hier lassen Sie nur ausgehen! Denn erstens wird es schon von der Beleuchtung formidabel heiß und zweitens werden die Menschen eine Höllenhitze geben! Wir bedanken uns, in einer solchen Atmosphäre zu singen! Ohnehin muß ich heute verdammtermaßen Katarrh haben!

Piter hatte sich zwar sehr auf den malerischen Effect der Glut von den feinsten entschwefelten Candlekohlen etwas eingebildet – worauf bildete er sich nicht etwas ein! – doch goß er näher tretend ganz gern eine der nächststehenden Wassercaraffinen, die er hier und da mit einem Kranz von Gläsern hatte aufstellen lassen, geradezu in die Störung der berühmten Quartette hinein. Nun gab das freilich einen nicht angenehmen Dunst, der sich mit Entschiedenheit dem unzweifelhaft sehr rauchigen der Kamine anschloß. Moppes riß darüber voll Zorn die Fenster auf; aber Piter bat mit einem gewissen schmachtenden Ton um Verzeihung und lachte innerlich, er wußte nicht worüber. Er schenkte sich und dem Freunde von dem inzwischen gekommenen Cognakvorrath eine fernere Herzstärkung ein … Warum wollt ihr denn nicht hinten im Saal singen, ihr lieben Leute? fragte er mit einer träumerischen Gelassenheit und dabei hin- und herziehend an seinem Frack und sich am Knacken der Nähte erfreuend …

Ein Männerquartett bedarf eines engern Raumes! Wir singen ohnehin Schweizerecho! Hier etabliren wir uns!

188 Damit ordnete Moppes einen Tisch und legte viele andere schon vorausgeschickte Noten zurecht … Immer räuspernd und seinen Katarrh verwünschend lehnte er den Bescheid auf den ihm servirten Cognak ab, was Pitern nicht hinderte, sein zweites Glas zu nehmen und es zu leeren auf das classische Gelingen des von Moppes entworfenen musikalischen Programms … Auch kam eben ein großer Kasten an mit einer Ventiltrompete, die ein berühmter Künstler blasen sollte … Auch das Pianoforte, zur Begleitung der gegenwärtigen Primadonna des Stadttheaters, wurde von Moppes anders gerückt und gerade so, wie es heute früh Piter’s Schwester, Johanna, die musikalisch war, für zweckmäßiger erachtet hatte. Ihr hatte Piter gesagt, daß sie sich erstens nicht lächerlich machen möchte und das Publikum ennuyiren mit ihren hundertmal gehörten Etuden, dann aber, daß sie den Flügel ruhig da stehen lassen sollte, wo er ihn hingerückt hätte, allen Widersprüchen über Schallwirkung und Resonanz mit brüderlicher Liebe ein einfaches: „Raisonnir’ nicht!“ entgegensetzend. Moppes aber bestätigte gerade das, was Johanna Kattendyk gesagt hatte. Still für sich hin empfand Piter eine Art Beschämung und mußte lächeln – nämlich über die Autorität, die er selbst in verkehrten Dingen hatte. Er war in der That ein Tyrann. Das schmeichelte ihm und befriedigt nahm er einen dritten Cognak.

Moppes plauderte viel Gutes über die Sängerin. Sie war eine jener Provinz-Malibrans, die niemand mehr zu würdigen wußte, als Löb Seligmann. Fünf Louisdor bekam sie für den Abend und Piter beschloß, 189 ihr sechs zu schicken. Die Sängerin war berühmt in der Kunst, bockgerechte Triller zu schlagen. Ihre Stimme gab man auf, aber man rühmte ihre „Schule“, besonders die Kunst, in einem Septett in die Untiefen eines spurlos verlorenen Ensembles mit einem einzigen muthig eingesetzten hohen Cis Hülfe und Rettung zu bringen. Ausdrücklich bedungen war die Arie: „Ocean, du Ungeheuer!“ aus Weber’s „Oberon“.

Piter nickte zu allem, lächelte, schlänkelte, auf einem Stuhle sitzend, mit den zierlichen Beinen und spielte mit dem Krystallstöpsel der schöngeschliffenen Cognakflasche … Die Sehnsucht nach der achten Stunde sprach sich in einem gewissen Blicke aus, der wie der eines Sehers in die Flammen eines inzwischen nun doch „zur Probe“ angezündeten Kronenleuchters gerichtet war. Er gedachte vielleicht, als Moppes von jener Arie sprach, Pyrmonts und was sonst schon auch für ihn im Leben „ungeheuerer Ocean“ gewesen war …

Moppes befand sich noch nicht in Toilette. Seine Hingebung an Piter’s Abend war bewunderungswerth. Bekanntlich war der erste Küfer seines Hauses, Stephan Lengenich, als Unruhstifter eingezogen und nicht unwahrscheinlich hatte sich Joseph den Katarrh in den Kellern seines Hauses geholt. Ihn sich in der Hand mit dem Stechheber unter den Fässern zu denken, hinderte an dem ihm schuldigen Respect nicht das Mindeste. Sechs weiße Zwillichhandschuhe griffen gleichzeitig nach der Thür, um sie Herrn Moppes junior zu öffnen, als dieser ging. Er entschlüpfte einem ihm nachgerufenen sentimentalen: Komm nicht zu spät! und ließ nur noch 190 das Wort zurück, das er auszurichten fast vergessen hätte, Thiebold de Jonge würde nicht kommen, mit Benno von Asselyn wäre er heute früh abgereist …

Piter, auf Absagen vorbereitet, fand die Nichtachtung seines Abends gerade von dieser Seite doch „sonderbar“ und erhob sich in gereizter Stimmung. Aufs neue einschenkend, wenn auch nicht trinkend, nahm er, um seinen Aerger zu verwinden, die Heerschau über seine Truppen ab. Er hätte eine Armee commandiren können, so mächtig rollte es durch seine Adern. Seine imperatorischen Anweisungen gingen auf die Beleuchtung, auf die Bedienung beim Thee, auf die Stille während der Musik, auf die Tische der Whistspieler in einem der hintersten Zimmer, auf das Arrangement der kleinen Gruppen, denen das Nachtmahl zu serviren war, und vorzugsweise auf die Vermeidung aller plumpen Formen des Einschenkens. Obgleich die Zuhörer zu allem, als wenn sein Gesagtes sich von selbst verstünde: Ja wohl, Herr Kattendyk! erwiderten, konnte er doch nicht umhin die Moppes’sche Theorie mit Feuer zu wiederholen:

Einschenken und einschenken ist ein Unterschied! rief er. Der Stand des Herrn und Dieners unterscheidet auch die Art, wie man die Flasche angreift! Beim Beginn eines Diners oder Soupers, aufgepaßt, greift der Herr, wie der Diener, die Flasche immer am untern Leibe an! Verstanden? Der Herr legt – alles das machte er an der etwas schwierigen Form der Krystallflasche nach – den Zeigefinger bis an die Taille der Flasche, das ist sein Vorrecht! Untersteh’ sich das jedoch von euch Niemand! Verstanden? So darf Ich einschenken – tretet heran! – Ich als Herr! Ruhe! 191 Mit dem Zeigefinger darf ich die Flasche drücken! Das bedeutet Nonchalance, „Gerngegeben“ und eine gewisse Mäßigung, gleichsam als wollt’ ich sagen: Es kommt weder mir noch meinen Gästen darauf an, ob sie Wasser oder Lafitte trinken! Ihr aber – Ihr habt den Zeigefinger an die andern drei Finger hinüberzulegen; sonst sieht’s aus, als wenn ihr euch hier zu Hause fühlt … Das war früher so, Joseph, – laßt den Alten vor! Guten Abend, Joseph! –, früher, wenn Vater Gesellschaft gab! Verstanden? Diese Vertraulichkeit von Dienstboten: „Bitte, Herr Timpe oder bitte Herr Schmitz oder bitte Herr de Jonge, greifen Sie doch zu! Warten Sie, Herr Effingh, ich hole Ihnen noch ein Stück Rehrücken! Oder: Nehmen Sie das, Herr Maus, das ist ein hübsches Mittelstück!“ Und dann so hineinlangen, Joseph, und wol gar Herrn Moppes selber etwas vorlegen! Joseph, Joseph, Joseph! Die Zeiten sind gewesen, Joseph! … Und den Hals einer Flasche greift ein Diener nie an! Nie! Nie!

Ja wohl, Herr Kattendyk! rief der Chor im stürmischen Einklang …

Alle diese Bemerkungen hatten, da sie durch energische Demonstrationen unterstützt werden mußten, naturgemäß das Leeren eines vierten der allerdings nur kleinen Gläser zu Wege gebracht …

Eben war Piter im Begriff, seine ihm inzwischen vogelleicht gewordene, wie mit Schwingen begabte luftige Gestalt noch einmal die hintere Wendeltreppe hinaufzuschnellen, als die Diener die Thüren aufrissen und einen Mann eintreten ließen, von dem allen bekannt war, daß 192 er in die vornehmsten Gesellschaften, auf Bälle, Diners und Soupers immer nur im grauen Ueberrock kam, Herrn Dominicus Nück.

Eine gedrungene, breitschulterige Gestalt war es, anfangs der Fünfziger, mit grauem, kraus verworrenem Haar, das in der Mitte eine kleine Glatze zeigte. Die starken Backenknochen, Schläfe, Kinn, alles bezeugte eine gewaltige Kraft, die durch eine scheinbare Lässigkeit gemildert wurde. Die dunkelbraunen Augen lagen in den von langen, fast zottigen und gleichfalls schon ergrauten Brauen beschatteten Höhlen mit einem unheimlich und tief versteckten Feuer. Die Haut des Antlitzes war von Blatternarben entstellt. Nück mußte sich jeden Morgen selbst rasiren; die Barbiere hatten eine zu gefährliche Operation, um mit ihrem Messer durch die vielen Hügel, Verhacke und Versenkungen seines Gesichtsterrains hindurchzukommen. Und doch gab es einige Zierlichkeiten an dem vielgefürchteten Manne. Kleine Füße, weiche Hände, ja sogar unter dem immer gleichen grauen Ueberrock mit silbernen Knöpfen nur weiße Westen und über diesen weiße Battisthalstücher, weit und bauschig um den Hals geschlungen, diesen Hals, der allerdings empfindlich sein durfte nach dem bekannten Verhältniß mit Hammaker.

Nück sah sich spähend um und erwartete wahrscheinlich seinen jungen Schwager noch nicht zu finden, der eben einige Körbe voll Wein von einem der in Livree gesteckten Hausknechte noch in die hintern Zimmer tragen lassen wollte, wo bereits die zahllosen Gläservorräthe aufgehäuft waren. Piter hatte sich nach dem Vorfall mit 193 Delring vor dem Wiedersehen des Schwagers gefürchtet. Da der Schwager aber auch gegen diesen Gesellschaftsabend gewesen war und dennoch eben in eigener Person erschien, faßte er Muth und begrüßte ihn mit einer schmunzelnden Vertraulichkeit … Nück, der ihn nicht erwartete, fuhr fast vor ihm zurück und sagte im Volksdialekt der Stadt: Guten Abend, Piterchen!

Nück’s Cynismus ging bis zur Verachtung aller Bildung, durch deren Geringschätzung er viele Menschen um so zutraulicher machte. Selbst vor Gericht sprang er oft, zum Jubel der Zuhörer, in den Volksdialekt über, wo ihm der Sieg dann fast nie fehlschlug. „Wir Gelehrte“ betonte er den Proceßführenden nie anders, als ob er damit sagen wollte: Wir Esel. Bei alledem vernachlässigte er nichts, was zur Bildung gehört. Er kaufte Bücher und las sie sogar. Er schrieb vortreffliche Broschüren über die gelehrtesten Fragen des Privat- und Lehnrechts und las Nachts oft bis zum frühesten Morgen – wer sollte es glauben – Romane. Dann schlief er bis elf Uhr und eilte in seine Termine. Eine Gewohnheit, die er vor längern Jahren einmal angenommen hatte, Tag in Nacht und Nacht in Tag zu verwandeln, konnte er nicht durchführen; zwei Jahre lang war das Mittagessen sein erstes Frühstück und das Nachtessen sein Mittagsmahl gewesen.

Sind das deine Reservebataillone? sprach er im gemüthlichsten Schlendrian und mit Belächeln der glänzenden Vorrichtungen und der nun schon immer vollständiger sich entwickelnden Beleuchtung …

194 Piter, entzückt von der friedlichen Gesinnung des ihm zuweilen so aufsätzigen Schwagers, offerirte von diesen Bataillonen und schenkte vom feurigsten Burgunder eine vorläufige Vedette ein …

Nück bemerkte davon nichts … Er bürstete seinen Hut, der heute sogar ein neuer war, und sah nur nach rechts und links, horchte und spähte, ob außer Pitern und den Dienern nicht vielleicht sonst jemand in den glänzenden Zimmern war …

Dies Benehmen nahm Piter für aufrichtigste Zustimmung und offerirte die Gläser zum Anstoßen.

Jetzt aber nahm Nück doch eine feierliche Miene an und sagte mit einem nicht unangenehmen Organ:

Piter, Piter! Eine Schande! Freude und Jubel hier, wo die Welt in Trauer lebt!

Aber schon blätterte er dabei in den Noten und schien so abwesend, daß Piter diesen Gegenstand für abgemacht erklären konnte und dem Schwager wiederholt sein Glas Burgunder anbot …

Nück lehnte nicht ab. Er nippte ein wenig. Piter, glückselig, sich heute nicht als Knabe von dreizehn Jahren, sondern als Mann und vollkommen ebenbürtig behandelt zu sehen, schüttete sein ganzes Glas hinunter …

Mama noch bei der Toilette? fragte Nück forschend und bemerkte jetzt, daß Piter von einer eigenthümlichen Elasticität war. Piter hielt sich, da die Dinge dieser Erde ihm plötzlich etwas wirblich zu werden schienen, an einer Stuhllehne …

Recht, mein Sohn! sagte Nück, der jemand, den er offenbar zu suchen schien, nicht fand und sich entfernen 195 zu wollen die Miene machte; Recht, daß du in deinen Leiden dich tröstest!

Leiden? Wie so?

Verlierst oben die schöne Nachbarschaft!

Hahaha! … lachte Piter hell auf und schenkte wieder ein … Das ängstliche Kapitel wegen Delring behandelte ja der Schwager ganz harmlos …

Nück’s Augen gingen wie Feuerräder. Beim kleinsten Geräusch sah er auf die Eingangsthür …

Da die Bediente nicht zu nahe waren, ließ er die Worte fallen:

Mit Delring … hör’ mal … Das ist ja ein curioser Spaß von dir!

Von mir? Wie so? fragte Piter trotzig und griff mit der linken Hand in den Ausschnitt seiner Weste und mit der rechten zum Glase …

Nück schien sich nicht im mindesten ärgern zu wollen. Er machte sogar Miene schweigend wieder zu gehen. Dennoch konnte er nicht umhin, noch fallen zu lassen:

Delring – hm – austreten? Piterchen, Piterchen! Welche Garantieen gibst du denn deinen Geschwistern?

Garantieen?

Delring glaubst du, geht nach Bremen und wird da ein Geschäftchen mit Cigarren oder Europamüden etabliren? Ich meine, er bleibt doch wol hier, fängt ein eigen Geschäft an, nimmt unsere besten Verbindungen mit; Farbhölzer sind seine Lieblingsbranche; die Lederhändler von Malmedy besucht er persönlich – Wie gesagt, ich dächte, es wäre besser – es bliebe beim Alten 196 und die kleine allerliebste Blondine kochte dir nach wie vor Kamillenthee, wenn dir schlecht ist, Piterchen –

Spott verbitt’ ich mir! rief Piter und griff zur Flasche, um einschenkend zu zeigen, daß der Schwager mit einem Manne sprach …

In der That! Ein gemüthlicher Junge warst du von je! fuhr Nück ohne Schonung fort. Und zum Berge Karmel ließ’ ich das hübsche Ding an deiner Stelle doch auch nicht so oft gehen! Pfarrer Rother entdeckt so viel Sünden an ihr, daß er vorzieht, ihr jetzt die Beichte bei sich zu Hause abzunehmen!

Piter hätte sein gefülltes Glas jetzt nehmen und es vor Zorn über eine Thatsache, die ihm selbst schon lange höchst befremdlich war, an den Kamin werfen mögen …

Die Splitter und die schönen gelbseidenen neuen Sessel bedenkend, trank er es lieber aus, setzte es dann aber kräftiglich auf den Sims und stand wie ein Löwe …

Nück brach ab von diesem reizbaren Gegenstande und kam nur auf seine Besorgnisse wegen Delring’s Austritt zurück …

Gib dem Hofrath ein gutes Wort! sagte er …

Nimmermehr! antwortete Piter, versöhnt durch ein Stichwort auf den Schwager …

Ich will es statt deiner thun! Du weißt, ich bin sonst kein Freund von dieser geleckten Sorte –

Ich verjag’ ihn ja nicht!

Dir wär’ es lieber, er lebte dir nahe genug, um dich immer bewundern zu können! Indessen – Piterchen – ich trau’ dem Zeitgeist nicht –

Wie so?

197 Unserm ganzen Jahrhundert nicht! Wenn ihr einmal alle so dasäßet, ihr altehrwürdigen Firmen, mit ein paar Commissionen und Speditionen und zuletzt trotz eurer Alongenperrüken nichts weiter hättet, als ein paar Feuerversicherungsagenturen –!

Hahaha! Kommt bei uns nicht vor! versicherte Piter und wurde immer sicherer durch die gemüthliche Sprache des Schwagers, der überhaupt in neuerer Zeit, schon seit der Gefangennehmung Hammaker’s, vielfach verändert war und erst seit der Hinrichtung desselben wieder etwas aufthaute …

Weißt du, Söhnchen, sagte er, ohne darum aufzuhören nach der Thür zu lauschen; weißt du, ich habe immer eine fatale Ahnung von einer ungeheuern Weltverschwörung der Juden gegen die Christen! Pater Sebastus schrieb das einmal in seinen früheren Artikeln, die mir immer aus der Seele kamen! Jetzt ist der arme censurirte Chrysostomus nicht mehr wiederzuerkennen, falls die anonymen „Stufen-Briefe vom Kalvarienberge des Lebens“ von ihm sind. Ahasver, siehst du, das ist, sagte er einmal – Rothschild! Der alte Kurfürst von Hessen nämlich, weißt du, Piter, der mit dem Zopf – Kerl, trink doch nicht so viel! … Piter hatte wieder eingeschenkt vor Behagen über eine so gelehrte Unterhaltung, deren er gewürdigt werden konnte … Jener Kurfürst, der sein durch amerikanischen Menschenhandel erworbenes Geld dazumal in Frankfurt am Main von dem alten Amschel und – ich glaube – einem Bäcker Binding auf der Fahrgasse hat vergraben lassen, als Napoleon so gern draus wieder Soldaten geschmolzen hätte – früher, ver-198stehst du, Piter, war umgekehrt das Geld aus Soldaten geschmolzen worden! – also – Hast doch „Kabale und Liebe“ schon gesehen –? also der alte Stammhalter der morganatischsten aller Dynastieen sag’ ich – Piter, was morganatisch ist, das mußt du doch wissen?

Piter war in vollkommener Harmonie mit dieser Behandlung, die ihm die Ehre wissenschaftlicher Erörterungen gönnte. Und da sich bei ihm jetzt Denken mit der Hitze der Beleuchtung von außen und der Erwärmung von innen verband, so stand er, wie eingeweiht in alle Geheimnisse der Erde und der Conversations-Lexika und nickte bejahend. Er war vollkommen jetzt der „große Charakter“, der er auch zu bleiben gedachte, auch wenn er wirklich von sich hätte eingestehen müssen, daß ihm als Ehegattin „ein Mädchen aus dem Volke“ lieber wäre als eine dieser bleichsüchtigen, musikklimpernden, wespentailligen –

Bitte! unterbrach Nück seine derartigen Gedanken und zog Handschuhe an – er war ohne welche eingetreten – Bitte, wenn ich dir etwas Bekanntes sage! Frau Morgane war die wunderschönste Dame an König Artus’ Hofe und von dieser Dame möcht’ ich die morganatischen Ehen, die Ehen der Mesalliancen, verstehst du? lieber ableiten – Denn vielleicht war Frau Morgane ihrer Herkunft nach auch gleichsam aus Kocher am Fall – in diesem Fall, siehst du, darin liegt bereits die ganze Andeutung, Piter; nicht in deinem, sondern in dem kurfürstlich hessischen Fall, mein’ ich! Und wenn andere dann glauben, morganatisch käme von dem alten gothischen Worte Morgan, welches, wie du weist, so viel heißt als: beschränken, nämlich z. B. ein 199 Morgen Acker, d. h. eine Schranke, ein Theil Ackers – Nicht etwa, versteh’ mich recht, als wenn ich die Menschen beschränkt nennen wollte, die nicht den üblichen Vorurtheilen folgen, und als ob der Westfälische Friede Recht gehabt hätte, der schon Anno 1648 sagte: Alle alten Herkommen in der Ehe sollen bleiben, sublatis omnibus quae bellicorum temporum injuria irrepserunt confusionibus – confusionibus! Verstehst du, Piter? Confusionibus!

Nück’s Betonung dieses letzten Wortes in seiner ganzen verworrenen Spottrede war bedeutungsvoll. Denn eben jetzt hatte er keinen Zweifel mehr, daß Piter in höhern Sphären schwebte. Eben sah er die Cognakflasche wegräumen und bemerkte eine Verwirrung in des ihm im Geiste folgenden Schwagers Gesichtszügen, eine Verwirrung, die die Folge seiner eigenen anakoluthischen Rede sein konnte, aber auch die des auf Cognak gesetzten Burgunders – freilich aber auch die Folge eines plötzlichen heftigen Klingelns, mit dem sich bei Gesellschaften oder beim Ausfahrenwollen der wichtige Moment anzukündigen pflegte, wo Mutter und Schwester die allerletzte Hand an ihre Toilette legten. Dann war nur noch im Rückstand, daß über die bereits fertige Frisur, die bombenfesten Corsets, die steifen Unterröcke sanft und vorsichtig das elegante Hauptkleid herabgelassen wurde. Schon war es halb acht Uhr und durch dies Klingeln wurde regelmäßig der Moment bezeichnet, wo die Mutter und die Tochter sofort in die geschmückten Räume treten konnten, kühn, unternehmend, erwartungsvoll und sich dann nur verdrießlich umsehend, wenn nicht sogleich auch schon die Hausfreunde da waren und sie mit einem bewundernden Ah! empfingen …

200 Pitern war das seit Jahren imprägnirt … Bei diesem Klingeln besann er sich auf die ungeheuere Aufgabe, die er heute zu lösen hatte. Repräsentant des Hauses! Eine Vision ging ihm auf aus dem Reich jener Erinnerungen, denen zufolge er schon an einem solchen Abend unter hundert Menschen gewesen war, ohne daß er sich auf das Mindeste, was andere und sogar, was er selbst gesprochen, hatte besinnen können … Und wie nun das Klingeln auch bei der Schwester wiederholt wurde, wie er die Bewegung um sich her zunehmen, das Laufen und Rennen bemerkte und im Augenblick nicht wußte, welche gelehrten Ansichten er soeben ausgesprochen hatte, da erinnerte er sich, wie er einst auf einem Dampfschiff aus dem ruhigen Spiegel der Themse plötzlich in die Hebungen und Senkungen des Meeres einfuhr und sich rasch in seine Koje erster Klasse zurückzog. Auch jetzt ging er „still und bewegt“ und ohne ein Wort zu reden in die hintern Zimmer und suchte mit mancherlei ihn erschreckendem Tastenmüssen die Wendeltreppe, die ihn zu seinem at home führte, wo er beschloß, sich um Gottes und aller Heiligen willen vorher noch eine kleine kurze Rast und Sammlung zu gönnen.

Nück sprach zwar noch etwas von Delring, von einem Familienconvent und sogar von Knabenstreichen hinter ihm her, aber Piter vernahm nichts mehr; er ging auseinander wie eine Morgenluft witternde Nebelgestalt …

Nück begab sich an den Eingang zurück und vermied allein zu sein mit seiner Schwiegermutter, die er hier so unter vier Augen am wenigsten gesucht hatte. Die 201 Garderobe war im Parterre. Dort hatte er einen alten Mantel abgelegt, in dessen Umhüllung man, wenn er so an den Häusern dahinschlich, nicht einen Mann vermuthet hätte, der ein Vermögen leicht von einer Viertelmillion besaß und aus seiner eigenen Thätigkeit noch Jahreseinnahmen von zehntausend Thalern …

Auf dem Vorplatz blieb er einige Augenblicke und sah in einen kleinen Corridor hinaus, auf welchen drei bis vier Zimmer ausliefen. Eine Thür, die hinterste, führte zu der Gesellschafterin der Schwiegermutter, Lucinde Schwarz … Auf das Erstaunen des alten Joseph, der doch hoffte, daß er wiederkäme, sprach er kein Wort. Aber seine Augen waren Feuerzungen. Doch auf diese Sprache verstand sich Joseph nicht. Ein paar Schritte machte Nück auf den Corridor hinaus. Dann kehrte er um und hielt sich an dem Treppengeländer … Jetzt bellten die Bologneserhunde an einer der Thüren und kratzten, um hinauszukommen; denn unten hörte man schon den immer gemüthlichen Ton des alten Pötzl, der bereits von unten herauf mit den Hunden sich neckte. Auch der Medicinalrath kam und noch ehe sich Nück von dem biedern Händedruck Pötzl’s freigemacht hatte, war auch der Kanonikus schon da, der trotz Kirchentrauer und Kaiser und Papst am Whisttische unter keiner Bedingung fehlte …

Nück sagte allen, er käme wieder und hätte nur seiner Frau zu Gefallen sämmtliche Kamine wollen auslöschen lassen … Er beruhigte die Ankommenden, daß „Lieb Mutterchen“ – so nannte die Commerzienräthin Pötzl –; „Lieb Töchterchen“ – so der Medicinalrath –; „Lieb 202 Schwesterchen“ – so der Kanonikus; – noch nicht in den Zimmern wäre, und stieg die Treppe nieder, begleitet vom Joseph, dem er, als dieser dem Kutscher, der heute als Garderobier fungirte, beim Ueberwerfen des Mantels half, nur die einfache Frage vorlegte:

Kommt denn – ich meine die Mamsell oben – na die Gesellschafterin – kommt denn die nicht auch heute – in den Trubel?

Herr Oberprocurator! sagte Joseph und eine Miene, die er machte, deutete die Sehnsucht dieses Fräuleins nur zu überirdischen Dingen und ihre außerordentliche Frömmigkeit an …

Der Portier stand im Thorweg in einer Gala, wie wenn sein Stab mit dem goldenen Knopf heute Fürsten zu empfangen hätte.

Nück ging kopfschüttelnd und drückte sich an den Häusern entlang wie mit verstörtem, ruhelosem Gewissen …

Die Wagen, die die Gäste in sein schwiegerälterliches Haus führten, rasselten an ihm vorüber. Ihn konnte man oft an solchen Abenden, wo dort alles in Festesglanz strahlte, im düstersten Winkel einer kleinen Schenke sehen, wo er Rettiche verzehrte und ein Glas einfachen Biers trank …

Heute aber huschte er in eine alte finstere Kirche, wo beim Schein weniger Lichter eine Abendandacht gehalten wurde. Nicht weit vom Weihbecken erwartete ihn eine Dame, die ihn an eine Todtengruftkapelle zog und ihm im Dunkeln einige geheimnißvolle Worte flüsterte … Die Dame trug einen orangegelben Hut mit schwarzem 203 Sammetbesatz … Das Gespräch war nur kurz und schien ihn verdrießlich zu stimmen …

Als Nück allein war, ging er tiefer in die dunkle Kirche; dann setzte er sich, seinen Mantel weit um sich geschlagen und den Kopf auf ein Betpult niederlegend, in einen der leeren Stühle, tief brütend und versunken in vielleicht die frommsten Gedanken.

204 7.#

Unter den rauschendsten Acclamationen hatte bereits die Baßposaune das berühmte Lied an die Rose geblasen und ein stürmisches Dacapo veranlaßt …

Schon waren die enormen Schwierigkeiten der Arie „Ocean, du Ungeheuer!“ von einer alle Wände und Stockwerke durchschneidenden Stimme überwunden worden …

Lange war es über neun Uhr. Schon kam das Eis – und noch immer saß in ihrem saubern Zimmer mit dem kleinen Porzellanofen und dem weißen Sopha und dem Bettschirm Lucinde, ohne daß sie sich hatte entschließen können, in die menschenüberfüllten Räumlichkeiten hinüberzugehen …

Einmal schon war, athemlos, die Commerzienräthin dagewesen und hatte sie wie im Sturm ermahnt, doch endlich, endlich zu kommen, da alle Welt schon vor Verlangen nach ihr brenne …

Zweimal war Johanna dagewesen, einmal sogar in Begleitung des Außerordentlichen, der die „Jerichorose“ um ihre Kenntniß der lateinischen Sprache ebenso wie 205 um ihre Botanik bewunderte; denn Lucinde kannte alle Kräuter des Waldes, alle Bach- und Wiesenblumen … Ein schöner Strauß, den ihr Treudchen verehrt hatte, lag zu ihrem Eintritt in die Gesellschaft schon bereit …

Auch die Frau Oberprocurator Nück, die schon im Hause hin- und herrannte – nur nicht hinauf in den stillen obern Stock zu ihrer Schwester – um sich abzukühlen von dieser „wieder unerträglichen Hitze“ in den Zimmern – sie war die erste, deren Liebe nach Pitern suchte, um ihm Vorwürfe zu machen –, auch Josephine Nück war bei dem „guten Fräulein“ gewesen, um sie zu ermahnen, doch bald zu kommen; denn sie entbehrte zu schmerzlich die Bewunderung, die das Fräulein vor ihrer Toilette aussprechen sollte; ein Bedürfniß, das nicht im mindesten auch den Tadel ausschloß. Denn Josephine hörte es gern, daß sie einen Fehler gemacht hätte mit dieser Farbe oder mit jenem Besatz oder mit jenen gemachten Blumen, die auf ihrem Kopfputz sich nicht gut ausnähmen oder ihrem z. B. so leicht echauffirten Teint nicht stünden. Dann hatte sie doch einen Grund für ihre gesellschaftliche Verstimmung. Dann konnte sie doch in einer Ecke, nicht am Ofen, sondern dicht am Fenster, das sie zuweilen öffnete, mit dem Fächer in der Hand sitzen und über ihre Putzmacherin und ihre weibliche Bedienung klagen, als wenn es nur eine Verschwörung der ganzen Welt und vorzugsweise ihrer eignen geschmacklosen Umgebung wäre, wenn sie nicht ebenso brillirte, wie die jungen Frauen und Mädchen, die da alle lachend und bunt und schönheitsstrahlend in den belebtesten Gruppen saßen …

206 Lucinde nahm ihr zu ihrer innigsten Freude und Dankbarkeit heute ein Uebermaß von Blumen von den Schläfen hinweg, führte sie an ihren kleinen Spiegel, leuchtete und bewies ihr, daß sie sich jetzt viel vortheilhafter ausnähme. Der nun gleicherweise wiederholten Aufforderung, doch bald auch zu kommen, erwiderte sie ein einfaches: Ich komme, ganz gewiß! – und doch entsank ihr wieder der Muth, als sie allein war …

Nicht der religiöse Grund, den sie seither alle Tage gegen diese Gesellschaft vorgeschützt hatte, fehlte ihr, sie stand an ihren Ofen gelehnt in vollständigster Toilette. Treudchen war eine ganze Stunde bei ihr gewesen und hatte sie geschmückt wie eine Braut – etwa eine Braut, die sich zu einer Zeit vermählt, wo sie um irgendeinen Anverwandten zu trauern hat. Ihr Kleid, bestehend aus einem leichten, wallenden, aschgrauen Stoff mit reichem schwarzen Spitzenbesatz, war ein Geschenk der Commerzienräthin. Das dunkelbräunliche Incarnat der offenen Arme und des Halses wurde durch diese Farbe gemildert, die auch ihre ganze, einer Creolin ähnliche Erscheinung minder scharf heraustreten ließ. Das Haar war nach vorn einfach getheilt, nach hinten sammelte es sich in zwei schweren runden Flechten, die in Kreisform aufgebunden, von einem schwarzen Sammetgewinde bedeckt waren. Unter den beiden Rundungen der Flechten quollen hinter jedem Ohr bis in den Nacken vier Locken hervor. Es war zum ersten mal wieder, daß sich Lucinde wie seit lange nicht gegeben hatte; sie hatte es in der Gewalt, aufzufallen oder ganz zurückzutreten.

Der reiche Spitzenbesatz am obern Rande des Klei-207des erlaubte in bloßem Halse zu erscheinen. Auch war der obere Arm von einem offenen Spitzengehänge halb verdeckt. Die kleine Juwelenschnalle auf einem schwarzen Sammetband, das den Hals bedeckte, war ein Weihnachtsgeschenk der Frau Oberprocurator. Ein Armband von einem als Schlange ausgearbeiteten blutrothen Korallenzweige, reich mit Goldverzierung, hatte sogar Piter geschenkt.

Silbergraue lange Handschuhe lagen auf der Sophalehne. Sie waren schon von ihr anprobirt gewesen und wurden wieder ausgezogen. Treudchen hatte Lucinden schon fast bis an den Eintritt in den Saal begleitet und wieder war sie zurückgegangen. Treudchen durfte oben beim einfachen Thee ihrer Herrschaft nicht fehlen; sie mußte Schlag acht Uhr von ihrer Gönnerin sich trennen und konnte ihr: Bitte! Bitte! Gehen Sie doch! Ach! die Menschen werden Augen machen! nicht öfter wiederholen …

Die Furcht, die Lucinden zurückhielt, unter die Menschen zu treten, beruhte auf dem Gefühl, daß sie sich in einer Weise elektrisirt fühlen würde, die ihrer ganzen bisherigen Haltung und wahren Stimmung widersprach. Nur mit Noth erwehrte sie sich schon lange der Huldigungen, die bei dem regen Verkehr im Kattendyk’schen Hause nicht fehlen konnten. Im Personal des Bureau gab es Blicke, die sie verfolgten; unter Piter’s Freunden, in den Kirchen, auf der Straße erregte sie Aufsehen. Oft auch schon meldete sich in ihrem Blut die Zeit von Hamburg und Kiel. Nicht, daß sie eine gewöhnliche Gefallsucht gehabt hätte, nicht, daß ihre Sinne glühten – ihre Sinne schienen kalt. Ihr erster „Kindskopfwahn“, wie 208 sie ihn nannte, der sie hatte bestimmen können, mit Oskar Binder nach Amerika gehen zu wollen, hatte ihr eine ganze Gattung von Männern verleidet. Wenn sie sich sagen mußte: An welchen Fäden hing schon oft deine Zukunft! und sie sich gestehen durfte, daß sie in alle diese Lagen fast ohne Bewußtsein und wie nur von einem Instinct der Selbsterhaltung und einer das Höchste anstrebenden Zukunft geführt wurde, bangte ihr vor dem Gedanken, jemals wieder so nahe an Abgründe zu treten … Klingsohr, dessen dauernde Anwesenheit in dieser Stadt, mögliche Beziehung zu Bonaventura sie oft in Verzweiflung brachte, Klingsohr war ein Phantast gewesen. Die merkwürdige Erscheinung, daß die Verirrung, die diesen beinahe rettungslos dem Trunk zugeführt hätte, mit einer Abneigung gegen Frauen verbunden zu sein pflegt, zeigte sich schon in Kiel, wo er moralisiren konnte. In jener schauerlichen Nacht auf Schloß Neuhof bestanden seine Zärtlichkeiten im Knieen wie vor einem Gnadenbilde, im Küssen der Locken, des Kleides, in Eingebungen einer Phantastik, die seinem Wesen entsprach, dem Leben nicht in der Wirklichkeit, sondern im Erträumten und Schattenhaften. Jérôme von Wittekind berührte Lucinden nicht. Sie war ihm eine Erscheinung aus dem Reiche der Märchen. Klingsohr’s Entmannung, wie wir seinen Zustand nennen möchten, war nicht die Verrücktheit des tollen Kammerherrn und des Paters Ivo, nicht die Empfindung glühender, nur sich beherrschender Liebe, sondern das Bedürfniß, das er mit seinen hamburger Freunden theilte, sich auf den Trümmern der Unschuld ein letztes „reines Gnaden-209bild“, eine Madonna, eine Laura, eine Beatrice zu dichten …

Sie fürchtete sich vor der Gesellschaft, weil in ihrem Innern ein Vulkan tobte. Sie glaubte nicht länger sich verleugnen zu können. Unterdrückte sie auch seit Monaten ihren Spott, ihren Humor, selbst ihre Kenntniß des Pianos, nur um nicht in Versuchung zu kommen, ein Allegro zu spielen, so wußte sie, was in ihrer Brust wuchs und ausbrechen mußte und nicht länger zu halten war. Daß man immermehr ihrem vergangenen Leben nachspüren würde, erfüllte sie mit dem Gelüst, sich vertheidigen zu wollen. Halt aber an dich! Halt an dich! sagte sie sich oft und das aus Furcht, daß sie plötzlich so nicht mehr fort konnte. So andächtig besuchte niemand die Messe, so für unwürdig der Communion erklärte sich niemand (freilich mußte sie sich den Genuß versagen, da sie seit der geschilderten Scene nicht wieder beichtete), so sittsam blickte niemand auf der Straße nieder, so bescheiden äußerte sich niemand in Gesellschaft, so geringschätzend sprach niemand von seinen Ansprüchen auf Anerkennung, so gelassen gab sich niemand einer etwaigen Anspielung auf sein früheres Leben preis. Sprach man selbst bei Frau Walpurga von jener schönen Stadt mit den Wachparaden und den berühmten Wasserkünsten, ja sogar von dem Aufenthalt der ermordeten Frau von Buschbeck daselbst, von bösen Dienstherrschaften, von leichtsinnigen jungen Commis, von dem dunkeln Geiste, der auf dem Hause Wittekind-Neuhof ruhte, von dem Mönche Sebastus, der noch immer in der Stadt ver-210weilte und das alte Profeßhaus der Jesuiten nicht verlassen durfte, von seinem Vater, dem Deichgrafen, von dem gefangenen Küfer Stephan Lengenich, von einer nahe bevorstehenden Auflösung des Kronsyndikus, von dem Stiefvater des Domherrn von Asselyn, ja von Hamburg, Kiel; und plauderte selbst der „gemüthliche“ Pötzl einmal von einer Schauspielerin namens Konstanze Huber, die die Jungfrau von Orleans nur bis zum dritten Act durchgeführt hatte – was war ihr das alles! Sie saß – und nähte – oder las dabei –, sie erhob sich auf jeden Wunsch der Commerzienräthin oder Johannens, ließ ihr goldenes Kreuz aus der Brust gleiten und sprach mit leiser und zurückhaltender Stimme von den geistlichen Exercitien und der Wallfahrt, die die Commerzienräthin für die glückliche Entbindung ihrer Tochter Hendrika und die rechtgläubige Taufe ihres Enkelkindes gelobt hatte … Mit Beredsamkeit sich vertheidigen, gewährt oft ein schönes Schauspiel; mit Beredsamkeit sich anklagen kann ein schöneres sein. Schweigen aber, schweigen, um sich zu vertheidigen, ist Heldengröße; und schweigen vollends, schweigen um sich anzuklagen, Märtyrerglorie … Was sind alle diese Vergehen, lag in Lucindens Mienen, deren ihr mich anklagt, wenn die Seele, wie der Rhein, der unter dem Bodensee hindurchzieht, aus geringen und unbedeutenden Anfängen nach kurzer Läuterung wieder und dann wie groß und majestätisch hervorbricht! Aus der Fremde that sie wie nur in die Heimat gekommen, aus der Lüge zur Wahrheit, aus dem Irrthum zur Erkenntniß. In der großen Gemeinschaft der Kirche durfte kein Gläubiger zu 211 dem andern sagen: Deine Vergangenheit schändet dich! Die Tag- und Jahresgebete, die Abendandachten, der Rosenkranz, der englische Gruß, die Anbetung des allerheiligsten Sakraments, das heilige Meßopfer, alles das ist eine Kette, die zu Leibeigenen Gottes und durch das Erlösungswerk zu Kindern seiner Liebe macht. Lucinde kannte diese Formeln. Sie waren an sich für sie todt; sie belebten sich aber – im Hinblick auf eine Entscheidung, die endlich kommen mußte – kommen sollte.

Der Mann, den sie ein Jahr lang in der Stadt, wo sie katholisch geworden, angebetet, den sie zwei Jahre vergebens zu vergessen gesucht hatte, den sie in St.-Wolfgang, in Kocher am Fall, hier mit glühend aufschlagenden Flammen des Herzens wiedersah, wollte jetzt nach Westerhof reisen zu Paula. Sie wußte das seit einigen Tagen und da hatte sie erklärt, zu dieser Gesellschaft, fehle ihr die Stimmung. Gebeten hatte man sie, sich zu überwinden … Wol stand sie in ihrem kleinen, schon von ihr und Treudchen sofort wieder aufgeräumten Zimmer wie ein Wesen, das nicht schüchtern eintreten konnte bei so auffallender Erscheinung. Es riß und zog auch in der That an ihr, die Wahrheit ihrer Natur zu enthüllen. Wie hob sie’s, den gesenkten Kopf zurückzuwerfen, zu lachen, die acht schönen Locken im Nacken zu schütteln, die freie, gescheitelte Stirn zu erheben, statt Wehmuth um die Lippe Stolz und Bitterkeit zu zeigen, aus den Augen das Feuer einer unter der Asche drohend glimmenden Leidenschaft hervorbrechen zu lassen … War sie nicht wie auf der Flucht? Wie gehetzt von Gespenstern? Nie, nie liebt’ ich diesen Klingsohr, der jetzt hier vielleicht gegen mich zeugt! 212 hätte sie in die Welt, in die Messe hinausrufen mögen, wenn sie Bonaventura celebrirte. Im „Kirchenboten“ des Beda Hunnius, mit dem sie ihre Correspondenz nach der Katastrophe des Kirchenfürsten hatte abbrechen müssen, las sie die „Stufenbriefe“. Klingsohr schrieb sie allerdings nur für Lucinden. Es waren Empfindungen, wie sie Abälard, nach der ruchlosen That seiner Feinde, an Heloise geschrieben haben konnte … Aber wenn nun Bonaventura gar nach Westerhof ging! Nach Schloß Neuhof, Kloster Himmelpfort, wo ihre ganze Vergangenheit mit ihm zusammentreffen konnte … Täglich mußte sie von der „Seherin von Westerhof“ hören! … Selbst der kühle Benno konnte nicht in Abrede stellen, daß vernünftige Menschen von Paula’s Visionen und Heilungen mit Bewunderung sprachen. Jetzt wollte Bonaventura nach St.-Libori reisen und – darüber war kein Zweifel – einen Seelenbund erneuern, der fürs Leben geschlossen wurde, wenn Paula, wie man vermuthete, nach dem Verlust ihres Processes den Schleier nahm … Lucinde kannte die Glückseligkeit, die den heiligen Franz von Sales mit Frau von Chantal vor und nach der Stiftung des Ordens der Visitandinen verband. Sie wußte, daß Fénélon, der sanfteste der Priester, Seelenbündnisse mit Madame Guyon und Fräulein von Maisonfort hatte. Sie wußte, daß selbst der strenge, so trockene und pedantische Bossuet von einer Frau von Cornuan, deren Geistesbildung etwa der der Commerzienräthin Kattendyk gleichkam, in einer Weise belästigt wurde, die zuletzt trotz alles ihm von dieser Frau verursachten Aergers ihm zum Bedürfniß werden konnte, 213 also, wie Lucinde gelegentlich bitter vor sich hinsprach – ebenso gut wie die Ehe war … Ein Wort, das der Außerordentliche einmal sprach, nun würde mit dem Domherrn von Asselyn auf Schloß Westerhof der wahre „Doctor ekstaticus“ erscheinen, machte sie zittern vor Eifersucht … Stündlich stand sie auf dem Sprunge zu Bonaventura und ihm zu rufen: Reise, doch erst morde mich!

An demselben Abend war sie damals die „Jerichorose“ gewesen. Sie verstand zum ersten mal gewisse durchbohrende Blicke des Oberprocurators, eines Mannes, vor dem sie sich anfangs entsetzt hatte, weil er ihr gewesen wie ein Gebilde von Eis. Alles scharf, kantig, schneidend an ihm. Doch fiel ein Sonnenstrahl nach dem andern auf diese Erscheinung und ließ sie immermehr in allerlei Regenbogenfarbenlicht, wenn auch wie aus tausend Eiskrystallen, leuchten. Der Mensch ist ja merkwürdig! sagte sie sich. Und als sie alles vernommen, was die Welt von Dominicus Nück wußte, als sie ihn vor Gericht den Mörder vertheidigen sah, der ihm selbst schon einmal hatte ans Leben gehen wollen, als sie den Blick beobachtete, mit dem Nück die vielbesprochene Prise verweigerte, erschien ihr seine Häßlichkeit, sein Cynismus, seine Charakterkraft überraschend. Klingsohr’s Narben im Antlitz hatten sie nie gestört. Wie war sie nicht in düstere Lebenslabyrinthe eingedrungen! Sie wußte, daß jener in Serlo’s Papieren erwähnte Advocat, der bei dem Strafgericht des Bruders Hubertus über den Pater Fulgentius nicht zu entfernt gestanden, der hingerichtete Mörder ihrer Hauptmännin war. Schaudernd über-214liefen sie die Rückerinnerungen an alles, was sie von den Verirrungen des menschlichen Geistes schon in Erfahrung gebracht. Die Leichenschminkerin stand ihr oft mit Blumen wieder vor einer Todten und redete: Bist du nun auch erlöst, armes Weibchen? Lache, lache, armes Kind, das zu gut war für diese Erde! … Diesem Nück konnte sie seit der „Jerichorose“ nicht mehr begegnen, ohne daß es ihrem Innersten war, wie dem Knaben im Erlkönig. Sie sah sich fortgerissen in Nacht und Wind und stieß einen Hülferuf aus vor einer Hand, die unsichtbar sie umfing; ein Leids fühlte sie, das ihr angethan, ein so tiefes Weh, daß nur das einfache Vorüberstreifen des grauen Mannes an ihr, sein Blick zu ihr empor nöthig war, um sie einer Ohnmacht nahe zu bringen. Gespenstisch war schon die Stille, die eintrat, wenn sein magisches Wesen vorübergezogen.

Noch mehr! Schon seit mehreren Tagen war ihr seltsam gewesen, daß eine Frau, die immer höchst elegant gekleidet neben ihr in der Messe auf einem der gemietheten Stühle kniete, sie anredete, am Tage darauf sie sogar verfolgte auf einem Gange, den sie in die Rumpelgasse machen wollte. Eine Jüdin, Namens Veilchen Igelsheimer, hatte in den ehrerbietigsten Ausdrücken an sie geschrieben, sie kenne, wie sie wisse, den Pater Sebastus. Der Aermste säße krank und elend und zwar um ihretwillen in einer Haft, aus der ihn weder die jetzt machtlose geistliche Behörde erlösen könnte, noch die weltliche erlösen wollte; ob sie nicht ihre einflußreichen Verbindungen, besonders die Fürsprache des Oberprocurators 215 Nück in Anspruch nehmen wollte, um den Unglücklichen vielleicht freizubekommen oder wenigstens ihm die Rückkehr nach dem Kloster Himmelpfort zu ermöglichen, worein die weltliche Behörde der vielen Untersuchungen wegen, in welche auch der Pater verwickelt wäre, nicht willigen wollte, oder ob sie vielleicht sonst etwas Durchgreifenderes zur Erlösung des Armen ersinnen könnte; sie möchte ihr die Ehre gönnen und sie unter ihrem armen Dache besuchen … Dieser Brief hatte Lucinden vollends aufgeregt. Klingsohr zurück nach Kloster Himmelpfort? Zugleich mit dem ihm vielleicht schon lange nahe stehenden Bonaventura? O daß eine Vergangenheit so furchtbar lastend auf dem Weibe ruht! … Sie hatte die Zuschrift der Jüdin mündlich beantworten wollen … Da war ihr die fremde Dame nachgegangen und ermuthigt durch die verdächtigen Umgebungen der Rumpelgasse, sprach sie Lucinden in einer Weise an, die diese so erschreckte, daß sie ihren Vorsatz, die Jüdin zu besuchen, aufgab. Die Frau sagte ihr Schmeicheleien über ihre Schönheit. Sie lud sie zu sich ein, forderte sie sogar auf, sofort bei ihr Chocolade zu trinken. Lucinde wies die Frau zurück. Wer stellt dir so nach? Wer verdächtigt dich? …

Endlich noch mehr! Heute plauderte Treudchen von der offenbar ganz gleichen Bekanntschaft, die auch sie mit einer sie verfolgenden Frau gemacht hätte … Treudchen erzählte, daß der fromme Pfarrer Rother, der die Frau vor seinem Hause auf sie warten gesehen, ihr jede Beziehung zu ihr verboten hätte. Auch wäre sie von ihr seitdem unbehelligt geblieben …

216 Warum gehst du nur so oft zu diesem Pfarrer? fragte Lucinde sinnend …

Denken Sie sich, das fragte mich neulich jemand anderes auch! Der Herr Oberprocurator! … Die Pfarrei vom Berge Karmel liegt frei auf dem Platz und wie ich oben beim Pfarrer bin, zeigt er mir in der Ferne noch einmal die Frau, wie sie an einer Ecke gerade mit dem Oberprocurator spricht …

Mit Nück –?

Mit Herrn Nück! Und heute früh begegne ich ihm und da sagt’ ich ihm, daß ich ja so gern auch bei den Damen auf dem Römerwege bin, weil ich meine Geschwister im Waisenhause habe …

Lucinde hörte der Erklärung kaum zu; denn Nück, Nück im Gespräch mit jener Frau! Dies Bild weckte ihr eine Vorstellung, die sie eiskalt überlief … So unwürdig denkt dieser Mann –? Gehört auch er zu jenen „Bemitleidenswerthen“, denen es eine unheilbare Krankheit geworden, an Frauentugend nicht mehr glauben zu können? Muß es nicht elend in einer Seele aussehen, die vielleicht ein unwiderstehliches Bedürfniß der Liebe hat und den trügerischen Schein davon nur auf solchem Wege finden kann? … Oder stellt man dir Fallen und wiederholt sich der alte Unglaube an das, was du dir doch – „bei alledem“ konnte sie selbst hinzufügen – bewahrt hast? …

Da kam denn Josephine Nück und Lucinde mußte sich sagen: Freilich, ein Mann von Geist und Leidenschaft und ein solches Weib!

Düstere Falten zog die Stirn, die sich nun unter 217 dem rauschenden Gewühl heiter und sorglos zeigen sollte …

Nachdem hatte Treudchen so viel von der großen Begebenheit des Hauses, vom Zank mit Delring zu erzählen, daß das Gespräch von diesen dunkeln Gegenständen abkam … Lucinde mochte die „obere Gesellschaft“ nicht. Hendrika hatte die Abneigung aller Frauen gegen sie, eine Abneigung, die Lucinde für einen Beweis der „Gewöhnlichkeit“ erklärte. Delring war ihr der Repräsentant jener „blonden“ norddeutschen Weise, die ihr soviel Schmerzen und Demüthigungen bereitet hatte. Sie stellte ihn in die Reihe der hamburger „Respectabeln“. Sie vermied seine „kalten“ „wasserblauen“ Augen, die ganz den Tausenden von Augen glichen, vor deren tugendhafter Kritik sie sich einst nach dem Tode Jérôme’s von Wittekind in der Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens und seiner plattdeutschen Schwestern hatte drei Tage lang verbergen müssen.

Das Rufen und Klingeln und der zunehmende Lärm im Hause unterbrach zuletzt alles weitere Gespräch mit Treudchen und mit sich allein … Endlich brach sie alles, was sie bestürmte, ab, faßte sich Muth, zog ihre Handschuhe an, nahm ihr Bouquet und schlüpfte in das vordere Zimmer, wo im lebhaftesten Gespräche Herren standen, die sogleich Chaine machten, um die überraschende Erscheinung hindurchzulassen.

Der erste, der sich der hohen Gestalt „erbarmte“ – denn Erbarmen kann man wol die erste Begrüßung und Anrede eines in menschenüberfüllte Räume Neueintretenden nennen –, war der alte Pötzl, der die beiden Bolog-218neserhündchen, die bei der Gesellschaft nicht fehlen konnten, unterm Arm hielt. Auch der Medicinalrath, ein kleiner dicker Herr, sprang hinzu und nun wäre alles zurückgewichen vor dieser königlichen und fremdartigen Gestalt, wenn nicht Frau Nück, die am feucht beschlagenen Fenster saß, sie erblickt und sogleich nur für sich in Beschlag genommen hätte, um sie hinter den Gardinen zu fragen, ob sie noch immer so echauffirt aussähe? …

Ein Flor von Jugend und Schönheit und Pracht der Toiletten war zugegen … Dennoch machte Lucinde einen Eindruck, der die Aufmerksamkeit aller auf sie gezogen haben würde, wenn nicht gerade jetzt der Stolz der Stadt, das berühmte Moppes’sche Quartett, intonirt und die Stimmung des Flügels mit einem angegebenen Accord in Einklang gebracht hätte. Alles rannte, um zum Sitzen zu kommen. Die Krystalle in den Kronenleuchtern wackelten vor dem Sturm. Alles mußte still sein … nur der Außerordentliche sprach über die Baßposaune noch seinen Satz aus. Er widersetzte sich einer natürlichen Erklärung des Wunders, daß die Mauern von Jericho durch Posaunen wären niedergeblasen worden. Denn Beamte aus dem ghibellinischen Heerlager, rationalistische Zweifler, fehlten keineswegs und der alte Herr de Jonge hatte für seinen leider abwesenden Sohn die Neckereien übernommen. Während man mit Fanatismus dem Außerordentlichen zischte und Lucinde sich still für sich selbst sagte: Vielleicht bestanden die Mauern von Jericho aus nichts, als Gärten von Rosen! und nach dem Manne der echauffirten Frau sich umschaute, die neben ihr 219 saß und die Ueberfüllung mit Menschen verwünschte, die nicht einmal möglich machte Pitern zu entdecken, entfaltete sich das Bouquet des Abends. Waren es auch nur immer dieselben „Gute Nacht!“ und dieselben „Schlaf wohl!“ und dieselben humoristischen „Speisezettel“, die die Sänger vortrugen, die Thatsache stand fest: Beim letzten Hauche konnte man den entsprechenden Accord des Flügels anschlagen – und nicht um eine Viertelnote waren diese jungen Kaufleute in ihrem Vortrag gesunken, worüber die alten regelmäßig in Enthusiasmus ausbrachen. Wie regierten sie aber auch mit strenger Gewalt die Musikzustände der Stadt! Wie bestimmten sie den Erfolg jeder Oper, jeder neuen Messe! Was sie verwarfen oder guthießen, fiel oder stand in der öffentlichen Meinung.

Lucinde blieb hinter den Gardinen und beobachtete … Sie kannte solche Gesellschaften nur aus Kiel und aus der Zeit ihres dreijährigen Wirkens im orthopädischen Institut, wo es genug vornehme Beziehungen gegeben hatte …

Die Wonne des Entzückens machte niemanden lebendiger, als die Commerzienräthin. Glich sie schon sonst in ihrem ganzen Leben einem jener kleinen Würmchen, die auf einer flachen Tafel hin- und herrennen, stutzen über nichts, links und rechts schwenken und da wieder hinlaufen, wo sie eben hergekommen sind, wie erst heute! Trotzdem daß ihr Kopfputz, eine Art Turban mit purpurrothen Sammettroddeln und goldenen Fransen, ihr die feierliche Haltung eines Schlittenpferdes vorschrieb, drängte sie sich durch alle Bravis und Dacapos, durch alle Er-220frischungen und Staats- und Kirchengespräche hindurch mit wiedererwachtem Jugendmuth. Blieb auch ihr Shawl an einigen Frackknöpfen der Herren, an einigen der aufgestellten Rhododendren oder am Kettchen eines neuen Halsbändchens ihrer Hunde hängen, sie war überall und nirgends und zuletzt auch bei Lucinden, die sie hervorzog und auf die Stirn küßte. Sie flüsterte ihr zu: Wie lieb’ ich Sie! Aber ich muß Sie vorstellen! Und noch ehe sie eine Antwort bekam, war sie schon wieder bei einer andern Gruppe und eigentlich suchte sie auch nur immer Pitern und sagte das auch laut. Aber obgleich die Gesellschaft schon zwei Stunden beisammen war, entbehrte doch niemand den Schöpfer dieses brillanten Abends. Die jungen Herren, seine Freunde, hatten mit den jungen Damen zu thun und der Außerordentliche machte die Honneurs des Hauses, so klein er war, mit einer Entschiedenheit, die imponirte.

Wiederum hatte man in einer Extra-Arie die berühmte Schule und die Bocktriller der Sängerin bewundert … Lucinde war endlich von dem beschlagenen Fenster erlöst, aus Umgebungen, wo sich einige Beamte und gemäßigte Commerzienräthe, die einen ghibellinischen Orden im Knopfloch trugen, durch den Gesang der Primadonna nicht hatten hindern lassen, von den Zeitläufen zu flüstern … Pamphlete, die in Belgien gedruckt waren, wurden erwähnt; Vorgänge im Kapitel spannten ihre Neugier; der Severinusverein hatte mit einem evangelischen Handwerkerverein gestern eine blutige Schlägerei gehabt; Plakate in einem eigenthümlichen alten Drucke, „Himmelsbriefe“, waren von den Straßenecken abgenom-221men worden; die Worte: Rom, Gesandtschaft, wiener Staatskanzlei fielen … Lucinde konnte nicht verweilen, da sie der Gegenstand allgemeiner Neugier wurde und aus einer Vorstellung in die andere kam.

Sie selbst suchte nur Benno. Als sie hörte, der fehle und wäre schon nach Witoborn, entsank ihr jede Kraft und Sammlung … Denn mitten unter all diesen Huldigungen blieb, was sie auch an Männern sah, nur Grund zur Vergleichung – mit Dem, für den sie leben und sterben wollte …

Die Commerzienräthin zog sie in einen Kreis, wo sich eine lebhafte Debatte entsponnen hatte …

Eine Dame, der sie hier vorgestellt wurde, saß in einem kleinen Eckdivan, umgeben von einer Anzahl Herren und Damen, die sich ebenso an der Erscheinung wie an der Conversation dieser Frau zu erfreuen schienen. Sie trug ein hellfarbiges, mit seidenen Streifen durchwebtes einfaches Tüllkleid und darüber eine große schwarze Atlasmantille, mattblau gefüttert, fast wie einen Shawl, aber auch wieder wie eine herabhängende Toga, mit Schnüren auf der Brust und an den Aermelöffnungen. Die ebenfalls blaue Auslage des rundgezackten schwarzen Kragens verdeckte fast den Hals und gab diesem eine eigenthümliche Einfassung, wie wenn er neckisch sich in ihm versteckte. Das Merkwürdigste für alle Umstehenden war der Kopf dieser schönen Frau, der halb der Jugend, halb dem Alter angehörte. Aus einem Halbhäubchen von schwarzem Flor, besetzt mit blauen Blumen, quollen eine Anzahl grauer Locken hervor.

Die Commerzienräthin sprach von „der Frau Ba-222ronin“. Daß Lucinde vor Armgart’s Mutter stand, mußte sie sich erst selbst allmählich entnehmen.

Lucindens Erscheinen fiel auch hier auf. Jemand, der der Dame am nächsten saß, sprang sogleich auf und bot ihr zuvorkommend seinen Sitz. Ein paar feurig durchbohrende Augen warf er dabei auf Lucinden, die erröthete. Der Gefällige vergaß fast, daß er es war, der das Wort führte und daß alle bisher an seinem Munde gehangen hatten.

Mit einer fremdartigen Betonung, aber außerordentlich geläufig und einschmeichelnd erzählte er Vorgänge, die Lucinde sogleich als auf die Gräfin Paula sich beziehend erkannte. Das waren Wetterschläge in ihr Herz … Die Lage des Camphausen’schen Processes war ihr geläufig genug, um zu begreifen, daß der Sprecher jener Bevollmächtigte der wiener Erben, Herr von Terschka war, jener Terschka, der einst schon in Kiel sie gesehen und damals durch eine Debatte über ihre Nase die nächtliche Scene mit dem Kronsyndikus veranlaßt hatte …

Terschka wiederum, in dessen Ohr noch bei dem Worte: Fräulein Lucinde Schwarz! die Bezeichnung: Eine ultramontane Emissärin! von der Villa der Gebrüder Fuld nachklang und der sich seitdem gleichfalls auf die Tage von Kiel besonnen hatte, Terschka begleitete alles, was er sprach, mit Blicken, die sich zwischen Lucinden und Monika theilten.

Monika saß in tiefem Ernst und spielte zerstreut mit ihrem Fächer. Terschka war vor wenig Stunden angekommen, um noch die Gräfin vor ihrer Weiterreise zu 223 begrüßen. Ohnehin zu spät eingetroffen, mußte er in dieser Nacht wieder zurück … In seinem ganzen Wesen lag die Elasticität der Aufregung, die für Monika vollkommen verständlich gleichsam ausdrückte: Auch nur eine Stunde in deiner Nähe verweilt – und ich bin überreich belohnt!

In dem Bericht über die außerordentlichen Heilungen, die man Paula verdankte, fiel bei Erwähnung der Gesichte, die Paula sähe, das Wort:

Der Teppich, auf dem der Domherr von Asselyn als Archipresbyter zu Sanct-Libori nächstens die erste Messe lesen wird, stellt eine Vision der Gräfin vor. Der sogenannte Philosoph von Eschede, Doctor Laurenz Püttmeyer, hat diese Vision gezeichnet und vierundzwanzig Stiftsdamen und Freifräulein der Umgegend stickten bisher Tag und Nacht daran. Das Ganze ist jetzt vollendet und sieht sich an wie eine Offenbarung Dante’s …

Für Lucinden lagen in jedem Worte dieses Berichts durchbohrende Nadeln und Stacheln des Neides und der Eifersucht …

So würden wir ja, nahm eine ihr wohlbekannte Stimme die Rede auf, die Erscheinung der heiligen Hildegard noch einmal haben, die bekanntlich schon ebenso viel von der Natur wußte, wie Alexander von Humboldt, und noch dazu in einem viel wahreren Geiste …

Der Sprecher war der Außerordentliche. Mit einem artigen Gruße an Lucinden hatte er sein: „Bekanntlich“ gleich im Ton als „unbekannterweise“ gegeben und fuhr deshalb docirend fort. Er ahnte nicht, daß zufällig eine anwesende Person im Leben jener Heiligen, deren „Phy-224sik“ seit einiger Zeit durch die Bekenner der „frommen Naturwissenschaften“ bekannter geworden, sehr heimisch war …

Sie kennen Bingen, meine Herrschaften? fuhr der Professor mit hochliegender Stimme fort. Sie kennen den höchst vortrefflichen Scharlachberger der Veste Klopp und die Lokalerinnerungen an Kaiser Heinrich IV.? In der Nähe dieser gegenwärtigen Victoria-Hotels und Bellevues lag sonst das Kloster Disibodenberg, dessen Aebtissin vor achthundert Jahren Hildegard gewesen ist, die Tochter eines adeligen Vasallen der Grafen von Sponheim. Schon im dritten Lebensjahre hatte sie Visionen. Sie gab ihr Erbe auf, schenkte es der Kirche, wurde Benedictinernonne und lebte schon hienieden im Geruch der Heiligkeit. Sie sah den Himmel offen, heilte, that Wunder, schrieb, ohne die Sprache gelernt zu haben, im entzückten Zustande Latein. Sie war eine Gotterleuchtete, die nach allen Richtungen hin Spuren ihres Geistes zurückließ. Ich nenne nur ihre Einsichten in die Naturwissenschaften. Sie hat vom Bau des menschlichen Körpers, von den Kräften der Luft, des Wassers und Feuers mehr gewußt, als die atomistische Physik des achtzehnten Jahrhunderts!

Lucinde dachte bebend an Paula …

Die Frau aber mit den silbernen Locken, die sich von der Hitze des Zimmers lösten und lang in ihren Ueberwurf hinunterglitten, den sie jetzt öffnen mußte, erwiderte plötzlich scharf und bestimmt:

Die heilige Hildegard war im Gegentheil beinahe eine Vernunftgläubige!

225 Alles horchte auf …

Wie so? fragte der Außerordentliche, stutzig über den Muth der Interpellation und ein in dieser Gesellschaft gebrauchtes anstößiges Wort …

Monika erwiderte:

Jede Zeit hat ihre eigene Art, den Antheil für edlere Dinge auszudrücken. Was in unserm Jahrhundert die Philosophie ist, war vor achthundert Jahren das Christenthum …

Bitte! Erlauben Sie! unterbrach der Professor hocherstaunend … Aber ein Glück für den Vater, daß dieser in einem hintern Zimmer am Whisttische saß. Sonst hätte er erlebt zu hören, daß die allgemeinste Spannung über die gelehrte muthige Frau seinem Sohn, seinem Stolz, ein zischendes St! rief – und das in einem Kaufmannssalon …

Frau von Hülleshoven fuhr bei der im Zimmer eingetretenen lautlosen Stille fort:

Wenn eine Zeit voll Barbarei der Wunder bedarf, um sich dem göttlichen Weltplan zu fügen, so geschehen auch Wunder. Der Mensch macht seine eigenen Thaten dann selbst dazu und läßt immer nur Gott die Ehre. Die Eingebungen einer Hildegard kamen aus der Sphäre, ja geistigen Sprache her, die damals allein verstanden wurde und allein wirkte. Das Christenthum in der Bedeutung, wie wir es jetzt zu citiren pflegen, ist dabei ganz unwesentlich!

Das ist ja offene Ketzerei! warf der Gegner dazwischen, lächelnd freilich und noch verbindlich … Aber wieder 226 mußte er erleben, daß ihm gezischt wurde. Man zischte auch über das harte Wort gegen eine Dame …

Nennen Sie es, wie Sie wollen! fuhr mit einem eigenthümlich bittern Lächeln die jugendliche Sprecherin fort. Ich verweise Sie nur auf die vielen Bestätigungen, die Hildegard für meine Behauptung gegeben hat. Sie hat bei ihren Visionen immer nur das praktische Leben und die Besserung der Sitten im Auge gehabt. Hildegard war eine kleine schwächliche Person, immer kränklich, jedenfalls von einer somnambulen Anlage …

Gräfin Paula ist schlank wie eine Tanne! warf Terschka hinein, artig – doch offenbar in der Absicht, Monika zur Mäßigung zu mahnen …

Diese fuhr jedoch fort:

Hildegard sah Erscheinungen, Engel und sie heilte. Aber ihre Visionen waren von einer strafenden und ermahnenden Tendenz. Ihre Heilungen erfolgten nicht ohne Beistand ihrer Kräuterkunde und die Beobachtung des menschlichen Körpers. Sie ermahnte den Papst, der kranken Kirchenzucht zu helfen. Sie gerieth in Streit mit dem Erzbischof von Mainz über die Beschuldigung, einen Excommunicirten auf dem Gottesacker ihres Klosters bestattet zu haben. Sie machte sogar Reisen. Daß sie dabei nur die Klöster besuchte, lag im Charakter einer Zeit, wo es noch keine Victoria-Hotels gab und eine Frau mit einigen weiblichen Begleiterinnen nicht auf Ritterburgen übernachten konnte. Die Klöster waren für jene Zeit vortrefflich. Sie waren die Herbergen, die Gasthöfe jener Zeit. Sie besuchte Paris. Denken Sie 227 sich eine Reise nach Paris in jener Zeit! … Eine Reise nach Paris für eine Frau!

Auf einer Reise nach Paris würde man jetzt allerdings nicht mehr in Klöstern absteigen! warf eine Stimme hinter der sich mehrenden dichten Gruppe ein …

Nück’s Stimme! sagte sich Lucinde, als alles lachte …

Sie und die Sprecherin waren der Mittelpunkt geworden und Terschka’s Augen ließen weder von ihr, noch von Monika …

Monika fuhr in dem Gemurmel der Freude, den volksthümlichen Nück zugegen zu wissen, fort:

Wie vernünftig, wie praktisch diese Heilige war, beweist auch der Umstand, daß sie zwar bis in ihr achtzigstes Jahr Wunder verrichtet haben soll, aber im Tode gänzlich damit aufhörte …

Ein Geflüster und Lächeln …

Bitte! unterbrach der Professor der gläubigen Naturwissenschaften. Der Erzbischof von Mainz verbot der Todten ausdrücklich, noch Wunder zu verrichten!

So viel Ghibellinen hatte Piter eingeladen, daß jetzt sogar die Welfen über diese Aeußerung mitlachen mußten …

Man muß das anders erklären! erwiderte Monika, während der Außerordentliche sich im Kreise rundum schaute und strafende Blicke nach allen Seiten austheilte. Es wäre manchmal sehr schön, wenn man die Reize des Niederwaldes und die Aussicht vom Victoria-Hotel auf Rüdesheim auch den Engländern in Bingen verbieten könnte. Der Zudrang zum Grabe der Heiligen wurde so groß, daß man den daraus entstehenden Un-228ordnungen steuern mußte. Deshalb verbot der Erzbischof der todten Aebtissin die Wunder. Und die Heilige erschien dann dem Erzbischof von Mainz und erklärte ihm, sie wollte ihm auch noch im Tode gehorsam sein. Das war aber lediglich eine Ironie der vortrefflichen Frau; sie hatte ihr Lebtag so viel Aerger mit den Vorgesetzten der mainzer Erzdiöcese gehabt, daß sie ihnen auch noch im Tode gelobte, ihren Willen zu thun.

Ein schallendes Gelächter brach aus …

Die Entrüstung des Außerordentlichen steigerte sich so, daß sie jetzt schon von Johannen, seiner Verlobten, heimlich beschwichtigt werden mußte …

Lucinde, die nur ruhig beobachtete, würde mehr aufgethaut sein, wenn sie nicht fast physisch gefühlt hätte, wie Nück, den sie nicht sah, sie beobachtete …

Aber, fuhr die scharfe Frau zur Mehrung ihres Triumphes fort, aber auch wahrhaft liebende und geistvolle Freunde hat die Aebtissin gehabt! Das müssen Sie schon darum zugeben, weil sie des Lateinischen unkundig war, nur im magnetischen Zustande etwas davon wegbekam und doch soviel Schriften gerade in dieser Sprache hinterlassen hat. Ein einfacher Beichtvater, von dem die Welt nur weiß, daß der Treffliche Pater Gottfried hieß, war ein so treuer Freund ihrer Seele, daß er alles niederschrieb, was sie in den Wolken gesehen zu haben vermeinte, und es dann noch später mit ihr ausarbeitete. Dieser bescheidene Mönch war also noch etwas mehr, als Goethen sein Eckermann. Er war der Geist einer Frau, die keinen Körper, nur eine Seele gehabt zu haben scheint. Gottfried selbst stand unter dem Eindruck ihrer Bezaube-229rung. Er hörte seine Freundin, die auf dem Bette lag, phantasiren. Sie dictirte ihm die Briefe an die, die ihren Rath begehrten. Sie sprach deutsch und sein Ohr hörte und seine Feder schrieb Latein. Er übersetzte nichts, er schrieb die Gesichte seiner Freundin gleich in seiner geistigen Muttersprache nieder. Das war gerade so, wie Plato den Sokrates Dinge sagen läßt, die er nie gesprochen und die Plato darum doch nicht log. Aus Sokrates’ Geiste dichtete Plato seine Dialogen; die Dichter lügen nicht, wenn sie auch noch soviel erfinden. Oder glauben Sie nicht, daß Sokrates somnambul war? Jeder große Geist ist somnambul. Jeder Genius hat einen Dämon wie Sokrates. Jeder Heroe handelt unzurechnungsfähig. Diese Hildegard war die einzig mögliche Diotima des Mittelalters. Aber welche Thorheit, wenn man noch jetzt in ihrer alten Sprache lallen wollte! Ich möchte wol wissen, wenn man die Gräfin Paula fragte, was Hildegard gefragt wurde, als der Dechant Philipp von Köln an sie schrieb, ob sie in ihren Visionen nichts über den kölner Klerus gesehen hätte? …

Ueber den kölner Klerus? rief man durcheinander … Lucinde lachte mit in den Chor hinein. Sie fühlte Schadenfreude – über eine Gegnerin Paula’s …

Gewiß, gewiß! sagte Monika. Die Nonne von Dülmen hätte schwerlich auf diese Frage wie Hildegard geantwortet! Sie hätte ohne Zweifel alle Domherren von Köln für künftige Heilige erklärt!

Ein neuer Sturm …

Aber Hildegard? Was sagte sie denn? drängte man … Die Zahl der Umstehenden nahm immermehr zu …

230 Hildegard antwortete zuvörderst: Der ewige Gott, der da ist, war und sein wird, wird alle Runzeln der Zeit ausglätten! Wer ist dieser Gott? fährt sie fort. Die Sonne ist das Licht seiner Augen, der Wind sein Gehör, die Luft sein Geruch, der Thau sein Geschmack. Der Mond ist Gottes Uhr, die Sterne sind sein Denken, denn in ewigen regelmäßigen Kreisen dehnt sich alles Denken … Hat wol die Nonne von Dülmen jemals die Gottheit so erhaben definirt? Sie sah nur Nägelmale und blutende Heilandswunden!

Eine Todtenstille trat ein …

Man würde Hildegard jetzt für eine Pantheistin erklären! bemerkte Terschka vermittelnd, während der Außerordentliche vor Staunen und Befremdung über diese Sprache in aller Blicken zu lesen suchte …

Noch mehr! fuhr Monika unerschrocken fort. Die heilige Hildegard war Vulkano-Neptunistin, schon achthundert Jahre vor den Theorieen Cuviers über die Bildung der Erdrinde. Sie sagt an jener Stelle, Gott spräche: Steine hab’ ich aus Feuer und Wasser gegossen und die Erde aus Feuchtigkeit und Keimkraft dargestellt. Ich habe Gewölbe ausgeweitet, welche die Körper tragen, um dieselben her befindet sich die Feuchtigkeit zu ihrer Befestigung. Hätten die Wolken nicht das Feuer und das Wasser, so würden sie wie Asche sein …

In das Erstaunen der Zuhörer und der Bewunderung vor dieser seltsamen, jetzt fast feierlichen jungen Frau, mischte sich wieder von hinterwärts her die helle und scharfe Frage aus der Menge:

231 Aber bitte, bitte! Was sagte sie über die kölner Geistlichkeit?

Lautes schallendes Lachen …

Es war wieder die Stimme des geliebten, populären Redners … Lucinde sah ihn nicht …

Sie vergleicht die Würde der Geistlichkeit zuerst den höchsten Erscheinungen in der Natur! fuhr Monika fort und eklipsirte den Außerordentlichen heute bis zur vollständigen Nullität. Abel, Noah, Abraham, Moses, alle wären Priester gewesen, sagte Hildegard, und hätten in Gottes Haushaltplan der Schöpfung eine große Rolle durchgeführt; die vier Propheten wären wie die vier Weltgegenden zu betrachten, die die Erde begrenzten. Und die kölner Geistlichkeit – nun von der, sagte sie, die – ich wiederhole wörtlich – die – blase schlecht auf der Posaune der Gerechtigkeit …

Die Erinnerung an die Baßposaune erzeugte ein fortgesetztes Gelächter. Denn selbst die Welfen waren mit den jetzigen Kundgebungen ihres plötzlich über den Kirchenstreit eingeschüchterten Kapitels nicht im mindesten einverstanden …

Eine Posaune, fuhr Monika, als die Zuhörer sich beruhigt hatten, fort, ist ein so erhabenes Instrument, daß es seine Intervallen haben muß. Bei aller Verehrung vor dem Talente, das uns vorhin die süßesten Arien auf ihr vorgetragen hat, würden Sie doch von diesem erhabenen Instrument keinen Walzer hören wollen (Piter hatte allerdings gerade einen Strauß’schen Walzer auf der Baßposaune als die Girandole des Abends und den Uebergang zum gemüthlichen „Ulk“ bestellt gehabt). 232 Die kölner Geistlichkeit aber blies sozusagen die Posaune der Gerechtigkeit in diesen Sechszehntelnoten, d. h. wie die Heilige sagt, „ohne Einhaltung passender Zeiten“ und manchmal gar nicht und manchmal im „Uebermaße“ und manchmal heftig und dann ganz abbrechend, kurz ohne jede wahre musikalische Empfindung …

Ein allgemeines beifälliges Murmeln deutete an, daß man diese Ungleichmäßigkeit des priesterlichen Wirkens vollkommen verstand …

Sie will sagen, fuhr Monika fort, ihr übt euer Amt gedankenlos, seid streng aus Gewohnheit, verhängt Strafen ohne zu überlegen, wie die Fälle sind! Ihr seid, schreibt sie, eine finsternißathmende Nacht, ein Volk, das aus Ueberdruß an zu vielem Licht nicht länger darin wandeln mag! („Ueberdruß an zu vielem Licht“ – Lucinden fiel ein Schlaglicht – auf den gefangenen Klingsohr.) Sie tadelt die kölner Handwerksmäßigkeit in der Uebung des Priesteramts. Auch die Sünden der Leidenschaft fehlten nicht und doch wolle man daselbst „die Ehre der Heiligkeit ohne Anstrengung“ gewinnen. Sie vermißt das reine Feuer und den Duft der Lieblichkeit …

Das Gemurmel wurde so groß, daß der Außerordentliche sich dem Beifall anschließen mußte und sogar für die Bemerkung: Und vergessen Sie nicht, gnädige Frau, daß die Heilige selbst in Köln gewesen ist! Beifall erntete …

Um so mehr also! ergänzte Monika. Und sollte man nicht glauben, daß sie schon die Neigung der Kölner für Männergesang und Carneval gekannt hat, wenn sie – ich bitte die lieblichen Sänger von vorhin um Vergebung 233 – sagt: „Ihr aber seid schon durch jeden fliegenden weltlichen Ruhm überwunden, sodaß ihr euch sogar als singende Possenreißer hinstellt!“

Bravissima! rief glücklicherweise das ganze Quartett selbst; es war vom Erfolg seiner Lieder im höchsten Grade befriedigt … Moppes gab das Signal … Monika sprach auch so lächelnd, daß sie nicht verwunden konnte … Ihre grauen Locken hatten etwas so lieblich Elegisches, daß jeder entwaffnet war …

Terschka freilich wurde immer unruhiger und wechselte wieder Blicke mit Lucinden, die aufs neue durch Nück’s Stimme erschreckt wurde …

Und die Kaufleute! Die Kaufleute! rief Nück, gleichsam den Uebermuth der Kaufleute, die hier so viel auf Kosten anderer lachten, strafend …

Sie spricht nur von der Geistlichkeit! fuhr Monika fort. Die Pfründen wirft sie ihnen vor, wenn sie sagt: „Wegen eures Reichthums unterweist ihr eure Untergebenen nicht und gestattet nicht einmal, daß sie bei euch Belehrung suchen, indem ihr sprecht: Alles können wir nicht ausrichten!“

Wiederum ein schallendes Gelächter … Selbst der Kanonikus war vom Spieltisch vorgekommen, zog in dem allgemeinen Jubel seine Dose und fand die Moral auch jetzt im höchsten Grade noch anwendbar. Denn wie oft war nicht gerade erst kürzlich bei der Ernennung eines so jungen Domherrn, wie Bonaventura, in der engeren Curie gesagt worden: „Alles können wir nicht ausrichten!“ … Die Commerzienräthin stand in der Nähe. Sie war vielleicht die einzige, die nicht 234 wußte, wovon die Rede war, aber sie lachte mit, da sie den Kanonikus lachen sah.

Ich will die dann folgenden Rügen gegen die mangelnde Sittlichkeit der kölner Geistlichen nicht wiederholen! fuhr Monika fort. Auch sind mir die Ausdrücke entfallen. Nur die ganz besonders überraschenden, die ich noch kürzlich las, weil meine Reise mich auch nach Köln führen soll, prägte ich mir mit Vorliebe ein. So macht sie der kölner Geistlichkeit den Vorwurf der diplomatisirenden Nachgiebigkeit …

Aha! murmelten die Fanatiker …

Das Predigen und Lehren, das starke Zeugen für Gottes Gesetz wäre dort nicht an der Zeit mehr!

Aha! Aha!

Ja, daß die Heilige dann den Kölnern die Reformation prophezeit, ist allbekannt . . .

Wie? fragten die Ghibellinen staunend … Unter den Welfen verbreitete dies Stichwort sofort eine ängstliche Stille.

Terschka winkte Monika … Aber sie fuhr fort:

Nein! Nein! Fürchten Sie nichts! In diesem Punkt ist die heilige Hildegard so beschränkt wie die Nonne von Dülmen und wahrscheinlich auch wie – die „Seherin von Westerhof“ …

Terschka wurde immer unruhiger und sprach mit seinen flammenden Augen: Mäßigung! Mäßigung!

Trotz des Schweigens, das nun eintrat, fuhr Monika fort:

Wo ist jetzt wol eine Ekstatische, die so den Papst, die Erzbischöfe, die Domherren und Priester strafte, wie 235 diese Aebtissin! Aber leider – in Einem war sie schwach. Sie lebte in einer Zeit, wo es der Ketzer schon genug gab, in einer Zeit, wo man die Albigenser und Waldenser in Frankreich und in den piemontesischen Thälern mit Feuer und Schwert vertilgte. Die Glaubensgerichte konnten nur den ketzerischen Lehren, aber bekanntlich nicht den vortrefflichen Sitten der Ketzer beikommen. So ergibt sich Hildegard in diese Gewißheit, daß auch die künftige große Reaction gegen die kölner Geistlichkeit zwar vom Teufel ausgehen, aber ein außerordentlich klug gewähltes Gewand tragen würde. Sie sagt, das Volk würde diesen gemäßigten, in Zucht und Ehren lebenden neuen Predigern allerdings anhängen. Der Teufel stünde mit verborgenem Leuchter, daß man ihn nicht sehen könne, und spräche: Ha, ha! Da glauben sie immer, ich müßte in Gestalt von Thieren, von Drachen oder von Fliegen kommen! Aber ich mache mich auch einmal den Propheten „ein wenig ähnlich!“ Nun will ich machen, daß man tugendhaft nicht blos scheinen, sondern auch sein kann und doch nicht in Gott lebt!

Und ehe man noch über die Schärfe dieser Reden sich sammelte, wiederholte Monika:

Tugendhaft sein, nicht etwa blos scheinen, sondern sein, und doch nicht von Gott stammen!

Monika wollte die Verurtheilung dieser Verblendung.

Aber der Außerordentliche rief:

Das ist ja ein erhabenes Wort! Das ist ja die Selbstherrlichkeit Ihrer Philosophie! Trefflich! Trefflich! Darin findet die Heilige die künftige Hölle der kölnischen 236 Geistlichkeit! Die scheinbare Logik der Kirchenverbesserung ist es ja, die scheinbare Tugend ihrer Bekenner, die scheinbare Aehnlichkeit mit den Propheten, die scheinbare Größe der, wie man sich rühmt, reiner erkannten Schrift, dies ewige Frösteln in der gemäßigten Temperatur des Rationalismus, das zu sehen, das der Menschheit genügend finden zu sollen, ja allerdings das kann und muß für jede rechtgläubige Seele schon auf Erden die Hölle sein!

In ein Murmeln der Ghibellinen hinein entgegnete Monika:

O häufen Sie nicht soviel Schmach über das arme kleine kranke Mütterlein, das da in seiner binger Klosterzelle so Großes und so Entsetzliches träumend lag! Wer weiß, ob ihr treuer, mit ihr alt gewordener Freund, der Benedictiner Gottfried nicht zitterte vor dem, was sie sah und er gehorsam der Hocherleuchteten nachschreiben sollte! Immer hatte sie den schönsten, liebenswürdigsten Wahrheitsdrang, den es nur in einem Frauenherzen geben kann, aber daß sie vor einem andern Lehrsatze erschrickt, als dem, in dem sie unterrichtet wurde, das ist die Unreife ihrer Zeit. Und daß sie noch so gerecht ist und dem Teufel einräumt, ein so guter Schauspieler zu sein! Die Ketzer sind tugendhaft, sagt sie, aber traut dieser Tugend nicht! Diese Tugend stammt nicht einmal aus Verstellung – das schreibt sie wörtlich – nein, der Teufel gab den Albigensern und Waldensern, die Innocenz III. mit Feuer und Schwert vertilgt wissen wollte und deren er allein bei Schloß Castellungo im Piemontesischen Hunderte verbrennen ließ, die Kraft, wirklich tugendhaft zu sein, 237 wirklich die Sitte der Frauen zu schonen, wirklich enthaltsam zu sein, aber – der Teufel erfüllte nur die „Luft mit solchen Geistern“, daß sie sagten: O wir sind heilig und vom Heiligen Geiste durchgossen! Das Volk wird sich, fährt sie fort, an ihrem Wandel erfreuen, wird ihnen folgen; sie werden sogar die guten Streiter der rechtgläubigen Kirche schonen, hören Sie, schonen d. h. diese Unglücklichen werden, wenn sie einmal ein klein, klein wenig Macht haben, gegen Andersdenkende liebevoll und tolerant sein … aber alle diese Beweise von Milde und Güte sieht die arme kleine unglückliche gebrechliche Frau nur als Lügen an; alles muß der Teufel gemacht haben, alles, alles, was sie beinahe schon liebt, schon bewundert! Ist das nicht entsetzlich? Die Albigenser und Waldenser wurden mit Feuer und Schwert vernichtet, sie starben in den Flammen mit einem Hosianna, sie waren liebevolle Väter, treue Gatten, zärtliche Gattinnen, aufopfernde Mütter, gehorsame Kinder; aber – daß sie alles das waren, das hatte der Teufel nur so in die Luft „gezaubert“! Gezaubert! Das die Welt glauben zu machen, war von Seiten Roms gewiß die größte Zauberei!

Die junge Frau hatte sich erhoben …

Zwar stand ihr die Leidenschaft, mit der sie ihre Ueberzeugungen aussprach, herrlich schön … Ihr Auge blitzte voll göttlichen Feuers … Ein Zug des Schmerzes um die beredten Lippen gab ihrem Vortrage und der Geltendmachung ihrer Kenntnisse soviel Ueberzeugtes und Ueberzeugendes, daß sie die Königin des Abends gewesen wäre, wenn nicht eine ängstliche Stille 238 ihrer Rede gefolgt wäre, alles auseinander ging und Terschka, aufspringend, bemüht gewesen wäre, wenigstens scherzend die Stimmung wieder in den für diese Stadt und solche Gesellschaft angemessenen Geist hinüberzulenken. Sie sind krank! flüsterte er ihr heimlich zu; dann rief er mit schnell sich fassender Geistesgegenwart:

Gnädige Frau, das erinnert mich ja ganz an eine Aeußerung Ihres Fräuleins Tochter! Fräulein Armgart bekam durchs Loos an dem Teppich für den Domherrn von Asselyn einen Theil zu sticken, auf dem ein häßlicher Drachenkopf abgebildet ist. Erst war sie darüber ganz außer sich! Hernach sagte sie, daß sie den Drachenkopf schon ganz lieb gewonnen hätte und sie nun wohl einsähe, wie man sich so auch durch längern Umgang an den Teufel gewöhnen könnte!

Der noch gebliebene Kreis ging auf Terschka’s gute Laune ein und rasch fuhr er fort:

Ja, meine Damen! Das wird ein Prachtstück werden! Es ist, wie gesagt, eine Vision der Gräfin! Der Körper des heiligen Liborius wurde aus Frankreich hierher herübergebracht zum Geschenk von Kaiser Ludwig dem Frommen. Dem Schrein voraus, erzählt die Legende, zog wunderbarerweise ein Pfau, der sich der feierlichen Procession angeschlossen hatte und nicht weichen wollte. Der Vogel des Stolzes wurde der Vogel des Triumphes. In der Vision der Gräfin ist er riesengroß und schlägt ein majestätisches Rad durch alle Himmel und über die Erde und über die Hölle. Der Regenbogen ist es, den die letzten Augen seines Schweifes 239 bilden. In den Ecken sitzen geflügelte Löwen und Leoparden und tief unterwärts Drachen und Lindwürmer. Nach Comtesse Paula sollte der Pfau, der der Verherrlichung des heiligen Liborius gewidmet ist, auf seinem Haupte die dreifache Krone tragen. Da man aber vom hochwürdigsten Sitz des Heiligen Vaters leicht ein unehrerbietiges Bild darin hätte sehen können, substituirte man als Haupteszierde des Pfauen ein Kreuz …

In dem Geplauder fing man an sich zu zerstreuen …

Eine Furcht vor einer so über alles Maß hinausgehenden Meinungsäußerung wie bei Monika schien sich der Meisten bemächtigt zu haben und der Außerordentliche triumphirte …

Da es zum Souper zu gehen schien, erhob sich auch Lucinde, die sonst in der Laune war, zu jedem Fiasco, das jemand machte, schadenfroh zu lachen …

Die Gräfin las den Dante! sagte sie zu Monika und suchte durch ein Lächeln die hier verfehlte Wirkung ihrer Vertheidigung der Reformation zu zerstreuen …

Mit Ihnen! ergänzte Terschka, sich schnell einmischend …

Sie hatte allerdings mit Paula zusammen italienisch gelernt …

Lieben Sie Dante? fuhr Terschka fort …

Lucinde schüttelte den Kopf … Es war ihr in ihrem Leben von Klingsohr so viel über Dante gesprochen worden, daß sie ihn schon deshalb nicht mochte …

Recht, mein Fräulein! sagte Monika, bitter lächelnd über die Welt der Vorurtheile. Auch ich mag ihn nicht, diesen finstern Italiener …

240 Der Professor kam, um den Wirth zu machen, mit Tellern und offerirte verbindlich und ironisch …

Wen? fragte er … Wen mögen Sie nicht leiden?

Dante, Dante! sagte Terschka …

Wie? lautete ein ironisches Erstaunen; Dante nicht, der – den Päpsten doch fluchte?

Sie lieben ihn also! Und warum? entgegnete Monika und stellte den Teller sich zur Seite auf einen nahe stehenden Tisch, da sie nicht essen mochte und sich zum Gehen rüstete …

Weil Dante für seine Zeit der größte aristokratische Dichter war! Und für unsere Zeit ist er der katholischste!

Damit entschlüpfte er triumphirend …

Ich mag ihn nicht, grollte Monika düster vor sich hin, während Terschka einen Tisch arrangiren wollte und sie zurückhielt …

Fast wäre sie geblieben, als sie aus Lucindens Munde durch folgende Worte überrascht wurde:

Ich finde an Dante peinlich, sagte das ihr jetzt erst auffallende schöne junge Mädchen, wie er sich müht, Martern zu ersinnen, die er seine Gegner erleiden läßt! Weil ihn seine Mitbürger aus Gründen nicht mochten, ruft er die Fremden zu Hülfe, will Italien mit Feuer und Schwert von den Ghibellinen und den Deutschen verwüstet haben und läßt alles, was ihm persönlich oder seinem Princip misgünstig scheint, in der Hölle gemartert, gesotten und gebraten werden. Eine grellere Einbildungskraft hat es noch nie an einem Dichter gegeben, als sich hinzusetzen und zu grübeln, welche Qualen dem oder jenem 241 seiner Feinde einst zu Theil werden würden! Und wen wirft er nicht alles in seine Hölle! Einen Brutus, einen Cato, einen Cassius! Ueberall wittert er Unordnung in seinem Sinn und Freiheit und was darunter die florentinischen Gilden verstanden haben mögen, die nur seinen hohen Werth nicht anerkannten, nicht seine gelehrten Verse mochten, in die er, wie er sagte, seine Feinde lebendig einmauern wollte. Beatrice liebte er, nur um ein Ideal für seine Phantasie zu haben; im Leben und als Person war sie ihm völlig gleichgültig. In der That, wenn ich die wie mit Gift geschriebenen Verse Dante’s lese, diese lang hingezogen sich ringelnden Terzinenschlangen und Molche, diese dem Verstand abgequälten Bilder und Allegorieen, zu denen man, um sie zu verstehen, dicke Commentare lesen muß, so könnt’ ich mich wie eine welfische Löwin fühlen, die mit dem demokratischen Haß eines Vorstehers der florentinischen Schustergilden dem Adler der Ghibellinen den Kampf anbieten könnte. Ich sympathisire dann mit den Mönchen, die auf den Zinnen der italienischen Mauerthürme gegen die Ghibellinen kämpften –

Ein Savonarola war unter ihnen! fiel Monika voll Staunen und gesteigerter Theilnahme ein …

Pötzl, der Träger der Bologneser, unterbrach eine fast leidenschaftliche Annäherung Monika’s und sprach heimlich mit Lucinden …

Monika fuhr inzwischen fort:

Und da muß ich wieder Mutter Hildegard eine wunderbare und liebliche Poetin nennen. Die blickt auch in die Hölle, aber sie schmort und kocht und foltert die 242 Gottlosen doch nicht so greulich, wie dieser Dante, dessen Bild mit seiner langen Nase und dem dicken über die Kapuze gezogenen Lorberkranz ich nie sehen kann, ohne an ein altes Weib zu denken …

Lucinde wurde zur Commerzienräthin abgerufen, die bei ihrem fortwährenden Patrouilliren und dem dutzendmal wiederholten Worte: „Haben Sie denn auch ein Glas?“ naturgemäß jetzt überall auf Pitern zurückkommen mußte. Das Muttergefühl und die Sorge der Hausfrau siegte über die Liebe zu den Bolognesern und zu den Hausfreunden und zu hundert Fremden, mit denen sie Conversation begann und nach fünf Worten wieder abbrach. Lucinde bekam den bestimmtesten, ja von „Verzweiflung“ dictirten Auftrag, eine Recherche nach der jetzt constatirten „ja furchtbar ängstlich werdenden und ein Unglück ahnen lassenden“ Abwesenheit Piter’s anzustellen.

Sie mußte sich besinnen, daß sie hier im Hause eine Dienende war …

Monika sah, daß Terschka ihr einige Schritte folgte …

Wer ist das schöne, seltsame Mädchen? fragte sie, als er zurückkehrte …

Sie stand allein und Terschka nützte seinen Vortheil. Zwar machte er ihr ernstliche Vorwürfe, doch wurden sie von der Glut seiner Huldigungen gemildert …

Monika hörte nur wenige seiner Worte, riß sich los und trat wie fliehend aus dem Zimmer …

Der Abend rauschte und wogte dahin …

243 8.#

Die Worte der geistesstarken jungen Frau, die Widersprüche zweier Pole im Katholicismus – die größte Abhängigkeit und doch eine eigenthümliche Freiheit – hatten Lucinde in alle Gedankenreihen gestürzt, die ihr vorzugsweise schon oft bei Serlo’s Memoiren entstanden waren …

Aber mehr, mehr als alles, was sie zu einer würdigen Denkerhöhe, zu der auch sie so viel Berechtigungen in sich trug, emporheben und ihr den oft bitter errungenen, aber tiefinnerlich beglückenden Stolz, in solcher Höhe einsam zu stehen wie Alpenhäupter, erhaben über die alltägliche Denkweise der Menge, hätte einflößen können, quälte sie ihr eigenes Geschick … Paula – Bonaventura – Hildegard – der Benedictiner Gottfried – alles das überwältigte und lähmte jeden Aufschwung …

Ein großer Unterschied zwischen Monika und Lucinden! Monika eine Frau und liebend das Gute um des Guten willen. Lucinde ein Mädchen – den meisten ihrer Gesichtspunkte fehlte Ernst und Festigkeit und das Gute liebte sie nur, weil das Gute in den meisten Fällen das Klügere ist. Monika entsagte schon lange dem Leben 244 und stellte sich entschieden auf sich selbst. Lucinde suchte einen Anhalt. Nicht von Hause aus saß Neid in ihrer Brust, aber er nistete sich mit der Zeit durch ihr Unglück ein. Die Unglücklichen sind neidisch. Sie werden sich immer sagen, daß sie sich ebenso berechtigt glauben zum Glück wie die Glücklichen. … Seltene, Edelste deines Geschlechts, ich habe dich lieb, ich bewundere dich, nimm mich in deine Freundschaft auf! Das konnte Lucinde nicht zu Monika sagen. Sie fühlte die anziehende Kraft dieser Frau, sie sah ihr liebliches Kind in ihren Zügen wieder und doch hätte sie nicht einen Schritt thun können, ihr mehr zu huldigen, als ihr Geist verdiente. Die Geringschätzung der katholischen Lehren würde sie wenig gestört haben …

Schon auf der Treppe zu Delrings hinauf, wo sie etwas von Pitern zu erfahren hoffte, lachten sie die gewöhnlichen Larven ihres Innern an und sagten von der Frau in den silbernen Locken: Sie ist mit ihrer Familie verfallen! Sie hat unter den Vorurtheilen derselben zu leiden! So jung noch, so schön, und sie soll entsagen! Herr von Terschka ist ihr Anbeter! Vielleicht gar Graf Hugo! Was sprach sie nur von Castellungo? Von den Waldensern, die auch damals – den Hedemann so interessirten? …

Rein und gläubig war nichts in ihrem Sinn. Nur wo sie unbedingte Liebe und Hingebung fand, wie bei Treudchen, da legte sie die Waffen nieder …

Im obern Stock schien alles wie ausgestorben. Der lebendige und rauschende Abend hatte auch die Delring’sche Dienerschaft angezogen und Treudchen mochte zum Thee genügt haben …

245 Lucinde hielt ihre Kleider, um sich durch das Rauschen derselben nicht hörbar zu machen.

Oben fand sie alle Thüren offen. Sie schlich sich näher. Das Ehepaar schien noch nicht zur Ruhe gegangen. Treudchen war nicht zu finden. Delrings waren ohne Zweifel in dem kleinen Boudoir, wo das Pianino stand und die verhüllte Madonna. In das leise geöffnete Wohnzimmer blickte Lucinde. Noch brannte hier eine Astrallampe, die, von einem großen dunkelrothen Tuberosenkranz von Papier gedämpft, ein magisches Licht auf Bücher und Nähwerk fallen ließ. In der hier herrschenden Stille lag ein geisterhaftes Etwas, gleichsam als lebte schon das Kind, um das soviel Kampf und nach Lucindens Meinung unnützer Streit geführt wurde. Aber die Stille wurde gespenstischer und gespenstischer … Die Lauschende erschrak … Ihr alles vom Gegentheil auffassender grausamer Sinn sah das erwartete Kind plötzlich statt in der Wiege – auf der Bahre … Sie fuhr zurück, als wehte sie ein Eishauch des Todes an …

Um Treudchen zu finden, mußte sie hinterwärts, dem Hofe zu.

Alle Zimmer waren hier dunkel …

Endlich kam sie furchtsam und erschreckt an Treudchen’s Kammer, die sie rasch wie Hülfe suchend öffnete.

Unfehlbar hätte sie jemand, der drinnen war, hören müssen, so leise sie die Thür auch aufklinkte.

Treudchen aber, die wirklich drinnen war, lehnte sich gerade zum Fenster hinaus, weit, weit hinaus … sie hätte in den Hof fallen können …

246 Erschrocken trat Lucinde näher und wollte sie am Sturze hindern …

Treudchen klammerte sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest und jetzt sprach sie sogar hinaus …

Nun zog sich Lucinde zurück in die dunkle Vorkammer …

Herr Kattendyk! Herr Kattendyk! wisperte Treudchen zu den Fenstern Piter’s, in welchen sich ein leiser Lichtschimmer entdecken ließ …

Jetzt kehrte sie vom Fenster zurück und sprach mit weinerlicher Stimme vor sich hin:

Jesus Marie! Er verschläft den ganzen Abend! …

Ein dumpfes Gemurmel von Menschenstimmen ließ erkennen, daß unten die Thür zur Verbindungstreppe mit den Zimmern Piter’s offen stand, vielleicht der Hitze wegen. In diesen hintern Zimmern wurde gespielt …

Lucinde kämpfte mit sich, ob sie Treudchen belauschen oder mit einem plötzlichen: Guten Abend! erschrecken sollte …

Treudchen’s Angst schien sich zu mehren, als sie an die Verbindungsthür trat, die seit einigen Monaten für immer geschlossen war. Der Schlüssel steckte; soviel Vertrauen hatte ihr Madame Delring geschenkt; aber die Thür zu öffnen war ihr streng verboten …

Nun seufzte sie:

Er ist nicht in der Gesellschaft! Er schläft! Jesus, Marie, Joseph! Und kein Mensch kümmert sich um ihn!

Sie liebt ihn wirklich! sagte sich Lucinde mit einem vornehm herabblickenden Mitleid …

247 Kein Mensch kümmert sich um ihn! wiederholte Treudchen halb weinend. Und der Abend geht vorüber, der sein Stolz sein sollte! Was macht man nur!

Am offenen Fenster rief sie wieder:

Herr Kattendyk!

Drüben blieb alles still … Licht war im Zimmer, das sahe man …

Lucinde sagte sich: Wenn ich einmal eine recht gute Handlung in der Welt begehe, soll es die sein, dich zur Frau Piter Kattendyk zu machen …

Das Lachen, Reden, Tellerklappern, Gläserklingen von unten her nahm immermehr zu …

Treudchen faßte einen Entschluß. Sie trat an die Thür, sah durchs Schlüsselloch, erfaßte den Schlüssel, drehte entschlossen einmal, zweimal um, drückte die Klinke auf und herein strömte eine blendende Lichtfülle, strömte in die matterhellte Kammer so strahlend, so feenhaft festlich, daß Lucinde unwillkürlich wieder in ihre Vorkammer zurückhuschte …

Treudchen wagte sich vorwärts. Die Fülle des Lichts fiel auf ihre angstbleichen schönen Züge. In Anmuth hob sich lichterhellt die liebliche Gestalt von dem dunkeln Vordergrund ab. Auf den Zehen schlich sie an die Thür Piter’s, die von innen durch einen Drücker, von außen durch einen Schlüssel zu öffnen war, einen Schlüssel, der leider nicht steckte …

Tiefseufzend öffnete sie das Corridorfenster, lehnte sich auch da weit hinaus und räusperte laut, um hörbar zu werden. Dann rief sie wieder:

Herr Kattendyk!

248 Für Lucinden war dieser Beweis der Liebe Treudchen’s ein Genuß. Noch viel länger hätte sie jetzt lauschen mögen. Sie hatte die Absicht, nach einer Weile hervorzuspringen und sie zu küssen. Sie war in Treudchen verliebt; diese – kritisirte sie doch nicht! Und Treudchen’s Lebenslage glich der ihrer eigenen ersten Jugend …

Nun aber wollte sie ernstlich Lärm machen, um Pitern zu wecken.

Eben kehrte Treudchen zum Schlüsselloch zurück und wisperte die ängstlichsten und dringendsten Rufe … Da tönte vorn in den Delring’schen Zimmern eine Klingel; sie wurde zwar nur einmal, aber laut schallend angezogen.

Wie der Blitz schoß Treudchen an Lucinden vorüber und verschwand mit einer Schnelligkeit, die es unbegreiflich machte, wie sie zu gleicher Zeit noch die Thür ihres Zimmers anziehen konnte. Ehe Lucinde sich über die Störung hatte orientiren können, war sie im Dunkeln; auch das Licht Treudchen’s war vom Zuge ausgegangen.

Lucinde wäre gern in diesem Dunkel geblieben … mit sich allein … mit dem Chaos in ihrer Brust …

Der Befehl der Commerzienräthin war jedoch zu entschieden … Sie öffnete und wollte stark an Piter’s Thür pochen, hinter der der Lichtschimmer immer matter und matter zu werden anfing. Das offene Fenster störte sie. Sie war in bloßem Halse und hocherglüht …

Eben, wie sie das Fenster schloß, hörte sie von unten her das leise Betreten der Corridortreppe …

Da sie nichts zu fürchten hatte, drückte sie Treudchen’s Thür ganz zu und wollte sich ans Werk machen, 249 in allem Ernst zu entdecken, ob der „junge Herr“ anwesend war oder nicht.

Da sprach von der untern Treppe eine männliche Stimme herauf:

Fräulein, was haben Sie denn nur für ein Interesse, der Gesellschaft den Abend zu verderben?

Es war die Stimme des Oberprocurators …

Lucinde wandte sich, tieferbebend …

Nück stieg eine Stufe höher …

Ihr Herr Schwager verschläft den Abend, der sein eigenes Werk ist! hauchte sie und suchte nach Unbefangenheit. Sie hoffte, Nück würde gehen.

Nück stieg aber höher und sprach:

So wird er, wie hier auf Erden jedes große Genie, auf seinen Nachruhm angewiesen sein!

Wir erleben aber von ihm die heftigsten Vorwürfe, fuhr Lucinde sich ermuthigend fort … Es benahm ihr den Athem dies Näherkommen des gefürchteten Mannes … Auch hat mich Frau Commerzienräthin beauftragt, ihn auf alle Fälle zu rufen! setzte sie tonlos hinzu …

Wenn er nun aber hier nebenan gefesselt sitzt bei dem kleinen Mädchen, dessen Schutzengel Sie geworden sind?

Nück stand mit diesen schmeichlerisch betonten Worten oben und vertrat Lucindens in dieser lichthellen Einsamkeit vollends blendender Erscheinung den Weg, als sie kraftlos wieder bei Piter anklopfen wollte …

Bitte! Bitte! sagte er sicher und ruhig. Wirklich! Lassen Sie doch den Burschen träumen! Beschämungen sind zuweilen eine gute Cur und ohne ihn geht alles noch einmal so gut. Er würde das Leben der heiligen 250 Hildegard viel besser gewußt haben, als die kleine überspannte Frau … nicht wahr?

Lucinde war wie gefangen durch die immer entschiedenere Annäherung. Sie wußte schon nicht, wie sie entkommen sollte …

Sie fliehen vor mir! rief er ihr nach, als sie ihm mit rauschendem Kleide vorüberhuschte, und suchte sogar ihre Hand zu haschen …

Selbst eine Rose, wie Sie, muß duldsam sein für jeden Wurm, der aus ihrer Blüte Duft saugen will! sprach er mit einem funkelnden Blicke …

Ja! sagte Lucinde mit gepreßter Stimme und vor Angst scherzend und auf seine graue, unfestliche Kleidung deutend, ein Wurm sind Sie! Ein rechter Actenwurm!

Mädchen! rief Nück wie im plötzlichen Sichselbstvergessen, dann aber sich mäßigend … Er war wie um zehn Jahre jünger geworden durch dies tête-à-tête. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Am Geländer der Treppe mußte er sich halten, um sein aufgeregtes Zittern zu verbergen …

Das wußt’ ich doch, sagte er und vertrat ihr wieder den Weg, daß Sie das nicht sind, was Sie bisher geschienen …

Ha! wallte Lucinde auf und stand wie fragend nach der Bedeutung dieses Wortes. Allmählich gewöhnte sie sich an das gehörte Wort und gedachte ihrer äußern Erscheinung, die wol Nück gemeint haben konnte und die heute eine festliche war … Ja sie erglühte, da sie ihren Schatten sah und die Locken, die in ihrem Nacken wogten …

251 Erfuhren Sie das – von –? sagte sie bei alledem mit erwachendem Muthe und deutete abbrechend auf die Straße hinüber …

Von wem? fragte Nück, staunend und unschuldig wie ein Kind.

Seine Augen schossen zwar einen durchbohrenden Pfeil auf die Fragerin, die ihrerseits im Ton angedeutet hatte, was sie über die Frau vermuthete, bei der sie hatte Chocolade trinken sollen; doch lag zugleich etwas um Vergebung Bittendes in seinem Tone. Endlich, wie ein Jüngling, der zum ersten mal von Liebe spricht, sagte er leise und zitternd:

Lucinde! Ich bete Sie ja an!

Lucinde sah einen Mann vor sich, der aller Welt ein Riese an Willenskraft und Macht erschien. Ihr gegenüber schien er ein Kind, die Demuth selbst zu sein …

Lucinde lachte laut auf mit jenem hellen Lachen, das ihr niemals schön gestanden … Seit Monaten hatte sie nur in Treudchen’s Gegenwart und für sich allein so lachen können …

Befehlen Sie über mich! Strafen Sie mich! Gebieten Sie mir etwas! Ja, ich bin Ihnen Genugthuung schuldig für mein gewagtes Wort! sagte Nück und bot der ihn Verhöhnenden die Hand …

Lucinde hatte fast das Bedürfniß, ihr spottendes Lachen wieder gut zu machen. Fast scherzend und schon wie um ihn festzuhalten sagte sie, sich rasch auf die von Veilchen Igelsheimer erhaltene Mahnung besinnend und ihren Vortheil nutzend, vielleicht Klingsohr irgendwie für immer aus ihrer Lebensbahn zu schaffen:

252 Ganz recht, Herr Oberprocurator! Sie können mir einen Gefallen thun! … Sie kennen den Mönch – Sebastus?

Ihren ehemaligen Verlobten, Doctor Klingsohr …

Lucinde hatte diese Wendung nicht erwartet. Sie brach erblassend ab und wollte gehen … Es war ihr Fluch, daß ihr überall die gespenstische Vergangenheit entgegentreten mußte …

Nück vertrat ihr aber den Weg, streckte die Arme aus und hauchte leise, wie zerflossen von Inbrunst und Leidenschaft:

Mädchen! Was fliehst du! Ich kenne ja dein ganzes Leben!

Lucinde blickte ihn finster und von der Seite an, indem sie die Thür zu Treudchen’s Zimmer fest in der Hand hielt … Sie bot ein Bild des Schreckens, der Entrüstung und – jener Schönheit, die dem Charakter eigen ist …

Rolle deine gewitternden Augen nicht! Lache nicht über mich – mich, den Narren im grauen Haar –! Pater Sebastus … Ja, ganz recht! Dem geht es schlecht! … Was wünschen Sie, Fräulein Schwarz, daß ich für ihn thue?

So sprang er in einen ganz gewöhnlichen Ton der Artigkeit zurück, hielt diesen Ton aber nicht fest, sondern rief sogleich hinterher:

Angebetete!

Lucinde hatte sich in ihre Lage gefunden und fing an sich zu beherrschen.

Warten Sie nur, sagte sie, nun weiß ich etwas, was 253 eine Dame, die fortwährend über Hitze klagt, endlich einmal abkühlen wird! …

Sie sagte das so voll Uebermuth, daß Nück neue Hoffnung schöpfte. Mit elegischem Blick hauchte er:

O, das war grausam!

Sein Blick dabei gen Himmel wollte ein ganzes verfehltes Leben malen …

Lucinden graute vor diesem Blick … Es war gar kein menschlicher …

Was kann ich für den Mönch thun? fragte Nück sich sammelnd …

Kann man ihm nicht die Freiheit geben?

Die Rückkehr in sein Kloster?

Lucinde stockte …

Sie wollte sagen: Gerade das am wenigsten!

Sie sind an ewige Gelübde nicht gewöhnt! sprach er. Es wird ihm besser sein bei Pater Ivo und Bruder Hubertus … Oder … Ja! Ganz recht, Sie wollen ihn nicht gern in der Gegend von Witoborn. Nicht bei Schloß Westerhof, wohin Sie Ihre ganze Sehnsucht zieht! … Wallen Sie doch nicht auf, Fräulein … Gut! Erst erfahren wir, ob er entfliehen will? Will er wieder Protestant werden? Nein? Oder was? Weltpriester? Er hat die Weihen nicht! Halt! Das ginge! Das würde ihn aus Ihren Bahnen schaffen! … Ha! Blitzt es schon wieder? Wie schön steht Ihnen dieser Zorn! … Mädchen – Gut, nach Belgien schicken wir ihn, wie ich manchen dahin schicke, Alte und Junge! Sie verstehen? Er darf sein Ordenskleid wechseln, falls er – Jesuit werden will! Lassen Sie ihn nach Lüttich 254 gehen! Dann sind Sie ihn los … Aber so bleiben Sie doch! Warum zürnen Sie denn? … Hm! Ich besorge alles! Empfehlungen, Wagen, Pferde … Nach Lüttich! Nicht wahr? Nicht nach dem Düsternbrook, wo Sie ihn zum ersten mal sahen? … O, o! … So bleiben Sie doch!

Lucinde folgte allen diesen Reden in der höchsten Aufregung. Bald stand sie auf der Flucht, bald wieder wie gebannt von dem dämonischen Manne, der ihr ganzes Leben kannte und so tief in ihrer Seele las …

Nück fuhr fort:

Allerdings! Dieser Mann könnte sich größer bewähren, als durch Betteln! Soll ich ihn nach Rom schicken? Es gibt auch da eiserne Gitter – denn das muß er! Büßen muß er bitter für eine solche Flucht! Das ist die Stufenfolge – auf seinem Kalvarienberge des Lebens! Ein lebhafter Briefwechsel hin und her, lange Läuterung, lange Prüfung; aber besser, er setzt sich die viereckte Mütze auf und predigt; besser, als bei den Barfüßern zu verkümmern … Fragen Sie ihn, ob er zu den Jesuiten will? Ich besorge alles …

Lucinde sprach sinnend und des Mannes staunend:

Ich werde – Ihnen schreiben –

Schreiben! In Zeiten, wie die jetzige, schreibt man nicht.

So schick’ ich – zu Ihnen …

Schicken! In Zeiten, wie die jetzige, kommt man selbst …

Lucinde fuhr zurück; denn Nück trat mit einer Keckheit auf sie zu, daß sie jetzt fast alles hätte abbrechen müssen …

Darum beherrschte er sich und flüsterte:

255 Mädchen! Mädchen, höre mich jetzt! Du hast in der Welt nichts unversucht lassen wollen! Versuche noch eines! Die Liebe solcher Männer, zu denen ich gehöre! Wir zählen einundfünfzig Jahre, aber unsere Leidenschaft zählt neunzehn! Wir geben nur, wir opfern nur; wir markten nicht mehr, wir lieben nicht mehr um unserer Eitelkeit willen, wie Oskar Binder liebte! Ha! Sei doch klug, Mädchen, und erschrick nicht ewig – vor dir selbst! Sei, was du bist! Das Bedürfniß der Hingebung ist am Manne nie reiner, nie aufrichtiger, nie selbstloser, als wenn schon alle Hoffnungen und Illusionen hinter ihm liegen! Lucinde! Ich baue dem Glück, das Sie mir gewähren, ein goldenes Haus! Niemand soll es sehen … in Lüften soll es schweben, wie die Hütte von Loretto! Wollen Sie anderes? Befehlen Sie! Ich breche mit allem, was Sie stört, thue alles, was Sie bedingen! Reisen wir? Nach Paris? Nach Rom? Nach Mekka! Ich bete Sonne und Mond an, wenn du es verlangst, Mädchen!

Lucinde hatte die Thür in der Hand, die sie öffnete und wollte entfliehen …

Bleibe! rief Nück außer sich …

Sie wandte sich … Da fuhr sie entsetzt zurück … Wie sie in des wilden Mannes Augen sah, waren diese ohne Stern. Ein einziger weißer Glanz …

Nück, den unheimlichen Eindruck, den er machte, ahnend, bestätigte ihn fast, indem er tonlos sprach:

Ich bin unglücklich!

Wieder hatte in dem untern Stockwerk Musik begonnen. Man sah, daß eben in dem Zimmer Piter’s 256 das Licht ganz erloschen war … Die unten geführten Gespräche hörten auf …

Lucinde sprach zitternd und wegen der Stille kaum hörbar:

Ich muß zur Gesellschaft!

Nück gab sie nicht frei … Ebenso leise flüsterte er:

Sie lieben, Lucinde, ich weiß es …

Die Musik kam vom Spiel auf dem Flügel … Lucinde dachte, sie müsse vergehen … den Schlag ihres Herzens hätte man hören können …

Sie lieben einen Menschen, der ein Gott ist! fuhr Nück flüsternd fort. Das wird Sie nicht glücklich machen!

Lucinde hielt sich, um nicht zusammenzubrechen …

Warum verschwenden Sie Ihre Kraft, Ihre Jugend, Ihren Geist an diese Schwärmerei? Sie lieben ein Phantom, Sie lieben Serlo’s Geist – zucken Sie doch nicht ewig vor meiner Kenntniß Ihres Lebens, die ich mir aus rasender Leidenschaft verschaffte. Es sind ja keine Dolchstiche, die ich gegen Sie führe – Serlo’s Geist, der in einem neuen Körper wohnt? Hat dieser Priester etwas von Serlo? Ich wünschte, Serlo’s Geist spräche Ihnen aus dem meinigen oder hab’ ich nichts mit ihm gemein? … Sie schütteln Ihr schönes Haupt! … Diese schönen Locken! … Lucinde! Was wollen Sie in diesen Verhältnissen? Schwingen Sie sich auf! Wissen Sie, daß – Sie eine große Rolle spielen könnten? Daß die Väter der Gesellschaft Jesu thatkräftige Freundinnen brauchen? Wollten Sie denn nicht an unserm Kreuzzuge theilnehmen, wie mir Beda Hunnius geschrieben? Hassen Sie nicht auch diese numerir-257ten Knöpfe und bunten Achselklappen? Diese kluge, durchsichtige, polizeiliche Welt? Ein Sturm wird über die Erde kommen und sie in ihren Grundvesten erschüttern! Verbünden Sie sich uns! Wenn nicht in der Liebe, im Hasse! Ha! Du kannst hassen, Mädchen! Mehr als lieben! … Siehst du, wie dich das traf! Lachen mußt du jetzt? … Hör’ es, hör’ es! Ich habe immer eine Fackel in der Hand, noch einmal die Welt in Brand zu stecken. Kannst du Gift mischen, Mädchen?

Für Fliegen!

Kannst du stehlen?

Kirschen!

Falsch schwören?

Lernt sich von Euch!

Falsche Handschriften machen?

Lucinde verstand kaum noch sein immer gedämpfteres Flüstern …

Wenn ich nun Paula zwänge den Grafen Hugo zu heirathen und dein Gott nicht mehr mit ihr straucheln könnte?

Das verstand Lucinde und blieb starr …

Wenn sich nun die Urkunde fände, die die Erbberechtigung des Grafen Hugo ausschließt! Wenn adelige Conduite mit sich brächte, daß Paula dem Getäuschten in Wien dafür ihre Hand gibt, wodurch sogar eine Conversion zu hoffen ist – der Mann folgt dem Weibe –! Und wenn dann Paula nicht in ein Kloster ginge, nicht mit Herrn von Asselyn die mystischen Nächte seraphischer Liebe feierte, wie die Heilige von vorhin mit dem Bene-258dictiner Gottfried? Ja, wenn vielleicht deine eigene Hand, Mädchen, im Westerhofer Archiv –

Bei diesen von Lucinden deutlich verstandenen, gierig aufgesogenen, sie mit halber Besinnungslosigkeit erfüllenden Worten trafen plötzlich zwei Thatsachen zusammen, die sie bestimmten, einen Schreckensschrei auszustoßen …

In seiner Sinnenglut hatte sich Nück Lucinden so genähert, daß nicht nur wieder seine Augen völlig weiß und ohne Stern erschienen, sondern auch unter dem weiten weißen Tuche, das seinen Hals bedeckte, ein anderer Anblick sie erschaudern ließ. Rings unter der Binde ging ein blutigrother Streifen hin, der sie sofort an Hammaker’s That erinnerte …

Und in demselben entsetzlichen Augenblick, in der offenbaren Aufforderung zu einem Verbrechen, gab es plötzlich unten eine lärmende Unterbrechung des Klavierspiels …

Was ist? hörte man wie aus einem Munde rufen. Dann folgte ein lärmendes Durcheinanderlaufen, ein Klingeln, ein Schreien im Hofe und zugleich von der Straße her ein Dahersprengen von Cavalerie …

Nück horchte auf und ordnete rasch die Binde an seinem Halse …

Ein Alarm! wandte er sich. Da der Lärm zunahm, bedeutete er Lucinden ruhig zu sein und beugte sich horchend über die Lehne der Treppe …

Das Dahinsprengen der Cavalerie wurde lebhafter …

Lucinde stand kraftlos …

Ohne ein anderes Wort zu sprechen, als: Also morgen, Freundin! Klingsohr geht nach Belgien! Morgen! Schicken Sie! Schreiben Sie! Thun Sie – thun Sie, was Sie 259 wollen und was Sie wünschen! Ich unterziehe mich allem, aber Vergebung, Vergebung – Freundin! Und – Wiedersehen! … entfernte sich Nück über die Stiege und ging schneller nach unten zurück, als er gekommen.

So plötzlich ward ihm seine Selbstbeherrschung, daß Lucinde starrte, ihn so verschwinden zu sehen als wäre hier oben nicht das Mindeste vorgefallen.

Sie schwankte in Treudchen’s Kammer zurück …

Diese war ohne Licht … Halb ohnmächtig sank sie auf Treudchen’s Bett …

Wol eine halbe Stunde mochte sie so gelegen haben, besinnungslos, allem Erlebten nachdenkend, unbekümmert um den Lärm um sich her, auch um den auf der Straße, der sich seit dem November so oft wiederholte, als endlich Treudchen erschien, mit einem Licht in der Hand …

Jetzt erst entdeckte sie Lucinden und war nicht wenig erschrocken sie hier und wie krank zu finden …

Wissen Sie denn nicht? fragte sie erregt …

Lucinde antwortete nichts …

Treudchen erzählte, daß die ganze Gesellschaft auseinander wäre … Schon wäre am Marsthor geschossen worden … Die beiden Handwerkervereine lägen in blutigem Streit … Das ganze Militär schon stünde unter Waffen … Jetzt wäre es ruhiger, wenigstens könnten die Wagen wieder durch und holten die geängstigten Herrschaften ab … Die Meisten hätten sich zu Fuß geflüchtet … Unten wäre niemand mehr …

In der That war auf der Straße und unten alles ruhiger …

Lucinde erhob sich und sagte:

260 Ich wollte den jungen Herrn abrufen! Seinen ganzen Abend scheint er verschlafen zu haben! Da kommt der Joseph! Weckt ihn jetzt! Er schläft gewiß! Gute Nacht, Treudchen!

Sie entfernte sich und schwankte dahin wie ein verstörter Geist … Joseph hatte ihr ein Licht gegeben. Sie ging, halb wie Psyche mit der Lampe vom schlummernden Amor, halb – wie Lady Macbeth vom ermordeten Duncan.

Mit dem Joseph kam dann auch noch der Hausknecht … Unten gingen die Klingeln der Commerzienräthin und Johannens … Man klopfte an Piter’s Thür. Jetzt erfolgte Antwort. Er erschien. Piter hatte geschlafen. Er orientirte sich, brach in Staunen, in Zweifel, noch einmal in Zweifel, dann in Verwünschungen aus, Schwüre um Rache am ganzen Menschengeschlecht und zunächst an seiner Familie. An die Möglichkeit dessen, was „ihm passirt war“, vermochte er nicht zu glauben …

Treudchen behielt den meisten Muth und die meiste Fassung. Sie ging Pitern leuchtend voraus, half bei der Zurückstellung der Speisen, bei dem Löschen der Beleuchtung. Da die Commerzienräthin von einem Fieberanfall gesprochen, unterstützte sie die Bedienung derselben in ihrem Schlafgemach. Ueber Pitern konnte sie der Mutter Beruhigung geben. Zu den „etwa Erschossenen“ gehörte er nicht … Er hatte nur „seinen eigenen Abend“ verschlafen …

Halbtodt war Piter darum doch und um ihn her sah es aus wie auf einem Leichenfelde …

Der Ueberblick unserer aus festlichem Schmuck zur All-261täglichkeit zurückkehrenden Wohnräume hat schon an sich etwas Gespenstisches …

Piter aber glich einem marodirenden Adler auf einem Schlachtfelde … Alles war vor dem ersten Ausbruch seiner Wuth geflohen … Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß er seine Eröffnung der Wintersaison, die Honneurs, den Empfang der Frau von Hülleshoven zum Gelächter der ganzen Stadt verschlafen hatte. Da lagen die Noten, da stand der Kasten mit der Baßposaune, da waren Lichter niedergebrannt, da gab es die vorausgesehenen Oelflecken, silberbeschlagene Korke lagen auf den Tischen, die Stühle waren in Unordnung, der gebohnte Fußboden mit Staub bedeckt und ohne Glanz, die Oefen erkaltet – die Früchte seiner Saat hatte man ohne ihn geerntet.

Er raste und suchte ein Opfer. Messer sah er liegen und ergriff eines … dann schleuderte er’s fort; er nahm’s wieder, denn eine Stimme hinter ihm her sprach von einem Aufruhr. Ha! … der Sprechende rannte von dannen … Der Hausknecht war es … er hatte den Schmerz des Kutschers anbringen wollen, der als Garderobier in dem lärmenden Aufbruch ohne Trinkgelder geblieben war.

Endlich aber kam eine tiefe Beschämung, ja sogar eine Wehmuth über Pitern. Ach, er sah aufgedeckt die große Verschwörung der Menschen gegen seinen Verstand, sein Herz, seinen Fleiß, seine Thätigkeit, seine Autorität, seine bloße Existenz als Mensch! Er ergriff einen der Klingelzüge, um zu läuten, als sollten die Todten zum Jüngsten Gericht auferstehen … Dann aber 262 besann er sich und es fing ihn an leiser und leiser zu frösteln … In den Spiegeln sah er ein kreideweißes Antlitz, eine weiße Halsbinde, eine weiße Weste, einen neuen Frack und das war Er. Diese Gewißheit erfüllte ihn mit einem Gefühle, als sprächen tausend Stimmen: Schon manchen Jammer nach einem Trinkgelag hast du erlebt, aber noch nie einen solchen, wie heute, nach so wenigen Gläsern Cognak, die so verderblich nur wirken konnten, weil ihnen große geistige und physische Anstrengungen vorangegangen! … Wo waren seine Anekdoten, die er aus dem „Demokritos“ auswendig gelernt! Wo seine witzigen Antworten, zu denen er die Fragen zu provociren soviel Schlauheit anwenden wollte! … Zuletzt überkam ihn selbst ein Lächeln … Es war dies jenes Lächeln, wo der Mensch bei aller Eitelkeit doch nicht umhin kann, sich zuweilen komisch vorzukommen. Wir verrathen dies Lächeln nicht oft. Aber es kommt zuweilen. Dies Lächeln ist die Folge der Erkenntniß, daß andere Menschen manchmal nicht Unrecht haben, wenn sie unsere Handlungen einer uns plötzlich selbst keinesweges mehr bestochen vorkommenden Kritik unterwerfen … In diesem Lächeln ließ Piter den Klingelzug fahren und versparte sich das Jüngste Gericht bis auf den folgenden Morgen … Er hoffte auf den ermuthigenden Eindruck, den ihm die Helle des Tages machen würde.

Nun hätte er viel darum gegeben, wenn er jetzt noch das einzige Wesen, das ihm nicht widersprach und dem Er nicht widersprach, bei sich gehabt hätte … Er schlich sich still in die hintern Zimmer zurück, ahnte das morgen ihn überschüttende Gelächter seiner Freunde, die 263 ihn so ignoriren konnten, ja er sagte sich: De Jonge – der, der wäre der einzige honnete Mensch gewesen, der mich vermißt hätte! Mußte auch gerade de Jonge fehlen! … Nun ging er über die knarrende Stiege mit den Empfindungen, die jener Held hatte, der gesprochen: „Was sind Pläne, was sind Entwürfe!“

Und auch ihm wurde es wie Melodram, als er seufzend sich unter seine Decke streckte:

„Süßer Schlaf! Du lösest die Knoten der strengen Gedanken. Eingehüllt in gefälligen Wahnsinn versinken wir – und – hören – auf – zu – sein!“

Ringsum alles still. Auch im Hofe. Die Lichter erloschen …

Am spätesten erlosch das Licht an den Fenstern, wo Lucinde wohnte.

264 9.#

„Nein, es ist ein S–köndöl! Nicht möl eine Löterne ist eingeschlögen!“

Diese am folgenden Morgen von Herrn Jean Baptist Maria Schnuphase in der Nück’schen „Schreibstube“ gesprochenen Worte ließen eine zwiefache Deutung zu – je nachdem …

Entweder konnten sie sagen: Alle Truppen waren auf den Beinen, um eine einfache harmlose Schlägerei zwischen dem katholischen und evangelischen Handwerkerverein zu verhindern! Oder: Man hat auf einige, die nicht weichen wollten, doch nur blind gefeuert und keiner wagte auch nur den geringsten Widerstand!

Wie sehr aber statt des ungleichen Kampfes der Faust der Geist des „Treppenwitzes“ im Vortheil war, ersah Schnuphase aus den wenigen Worten, die Nück nur mit ihm wechseln konnte. Nück ersuchte ihn, heute und morgen zu jeder Stunde einen Wagen und zwei tüchtige Pferde, die etwas aushalten konnten, in Bereitschaft zu halten, um eine noch nicht näher bezeichnete Person, am Tage oder bei Nacht und Nebel, aufzunehmen und sie an einen gleichfalls erst näher zu bestimmenden Ort zu überführen … 265 Diese bedeutungsvollen, Herrn Jean Maria in „Extöse“ versetzenden Worte – er frühstückte bei solcher Stimmung schon um zehn Uhr auf dem „Höhnenkömp“ – waren heute das ganze Zwiegespräch zwischen den Gesinnungsgenossen. Selbst den leisen Einwand, den Herr Maria machte, morgen Abend reise Domherr von Asselyn nach Witoborn und es zieme sich eine „Demönströtion“, bei der er nicht fehlen dürfte – schnitt Nück ab. Denn schon ging und kam es wieder um ihn her und rauschte und flüsterte und lachte und seufzte … Wieder waren römische Breven angekommen, die den Verwesern des Kirchenstuhls sagten: Wir haben euch zwar gestattet, die heiligen Handlungen zu vollziehen, haben aber auch gehört, daß ihr eure Administration in einer Weise führt, die für euern ruhmwürdigen gefangenen Oberhirten im höchsten Grade beleidigend ist! Schon waren die Cabinete der Fürsten gespalten. Eine geheime Deputation der Fanatischen wurde vorbereitet an den damaligen Lenker der europäischen Geschicke an der Donau. Ein geheimer Congreß hatte auf dem Stift Neuburg bei Heidelberg die Abgeordneten aller Kirchenhäupter des vaterländischen Südens zu gemeinschaftlicher Berathung vereinigt. Der Norden bereitete sich zu einer Versammlung in der Nähe Witoborns vor. Die Väter der Gesellschaft Jesu kamen näher und näher, in mancherlei Trachten und Gestalten. Andere wieder begaben sich von hier zu ihnen, Kinder sogar, junge Leute, die Michahelles hatte erziehen lassen für die Weiterbildung in Lüttich … So war auch Tönneschen Hilgers neulich, der Schifferknabe von der Insel Lindenwerth, zu den Jesuiten expedirt worden … Nück 266 hatte so viel zu thun, daß er nur in dringenden Geschäften zu sprechen war, eine Dame, wie er sagen ließ, ausgenommen, die Gesellschafterin seiner Schwiegermutter, Fräulein Lucinde.

Eine hohe weibliche Gestalt sah man dann in den ersten Frühstunden in die Rumpelgasse eintreten. Sie war blau verschleiert, in einem schottisch carrirten Mantel; ein Pelzmuff bedeckte die Hände … Gegen Morgen hatte das Wetter plötzlich umgeschlagen und war kalt geworden. Einer der kleinen Kanäle der Stadt war sogar mit einer dünnen Eisdecke überzogen. Eine dichte Menschenmenge stand, um ein Wunder zu sehen. Auf dieser Eisdecke hatte sich eine Figur gebildet, die man allenfalls – für ein Kreuz nehmen konnte. Durch diesen Anlaß zu neuer Aufregung hindurch, betrat Lucinde das enge Stadtviertel, wo der Frost unter den Tritten der Fußgänger schon wieder aufgeweicht war und es wie immer werkeltägig aussah, obgleich die Juden Sabbat hielten …

Lucinde kannte durch Treudchen alles, was Löb Seligmann über Veilchen Igelsheimer erzählt hatte …

Freilich die Bildungsquelle, die ihr bei diesem Mädchen nach des entzückten Löb Versicherung hätte fließen dürfen, hatte Treudchen nicht benutzt; sie hatte eine hochgebildete Freundin näher, vorzugsweise aber auch Nonnen und einen Geistlichen, die sich mit Vorliebe und langsamer Schulung ihrer Seele annahmen …

Aber Lucinde hatte darum doch alles erfahren, was Veilchen betraf. Sie wußte die Liebe derselben zu jenem Leo Perl, der Lucinden selbst von der Hasen-Jette als ein weiland Michel Angelo’scher Moses darge-267stellt worden war; sie kannte den Antheil, den an dem Uebertritt desselben der Dechant und, wie sie aus den gegebenen Andeutungen nicht bezweifeln konnte, sogar der Kronsyndikus hatte; sie kannte ihre jetzige Thätigkeit in dem antiquarischen und carnevalistischen Geschäft ihres Verwandten, eines zweiten Bruders der Hasen-Jette, ihre Kenntniß von alten Münzen; sie wußte, daß sie es war, die jene Ahasverusscherze trieb mit römischen Kaisernasen, die in Gänsemägen den Rost der Jahrhunderte ansetzten. Endlich wußte sie, daß Klingsohr durch die Zutraulichkeit Veilchen’s gewagt hatte, hier sein Ordenskleid abzulegen … Der Verräther des Mönchs war der von Angst und dem künstlichen Schein der Unbefangenheit nächtlich umgetriebene Jodocus Hammaker gewesen. Von Serlo’s Kindern und ihrer Mutter hatte sie nur einmal einen Brief, die Bitte um Geld erhalten, dann nichts wieder von ihnen vernommen, weder Empfangsanzeige, noch, „wie sich von selbst verstand“, Dank …

Alle diese Eindrücke sammelnd und in sich zurecht legend, von der Erinnerung an den gestrigen Abend umschlungen wie mit glühend ehernen Armen, aufathmend nach Hülfe über die schon im Dom bei der Messe vernommene Kunde, daß Bonaventura morgen Abend reise, nach Witoborn reise, wohin die mögliche Rückkehr auch Klingsohr’s ihre Pein vermehrte, voll Entschlossenheit, bis zum morgenden Tag es über ihr ganzes Leben zu einer letzten Entscheidung kommen zu lassen, bestieg sie einige Stufen, die in eine dunkle Hausflur führten, in welcher zur linken der Eingang in das heute feiernde Geschäft „Nathan Seligmann“ lag.

268 Trotz des Sabbats waren die Vorläden dreier Fenster, die in die dunkle Gasse führten, doch halb und halb geöffnet geblieben. An einigen alten Vasen und Majolikaschüsseln, an einigen alten Kupferstichen, einigen Dominos und Masken sah man, daß sich hier das Geschäft Nathan Seligmann’s befand, der sich auch anderweit als kein zu strenger Rigorist in der Feier des Sabbats zeigte; denn die Thür ging mit lautem Klingeln auf und am Spalt eines der angelehnten Fensterflügel stand ein der Hasen-Jette ziemlich ähnlich gebauter, starker und kräftiger Mann und putzte an einer Blechhaube die Rostflecken ab. Ringsumher lagen die Embleme eines vollständigen Ritters …

So dunkel es war, fand sich die entschlossen Eintretende bald in dem großen Zimmer, an das sich weitere mit Gegenständen aller Art überhäufte Alkoven und Gänge und Mauerschränke anschlossen, zurecht. Die ganze Herrlichkeit der mit ihrem Carneval gleich hinter Rom und Venedig kommenden Stadt war hier beisammen, soweit die Minderbegüterten sich erst leihweise das entnahmen, was die der Sphäre Moppes, Maus, de Jonge angehörenden Matadore sich selbst anfertigen ließen. Den Helm, den Nathan Seligmann eben putzte, hatte Weigenand Maus im letzten Carneval getragen; der Geschäftsgang brachte es mit sich, daß das einmal Gebrauchte um ein Billiges an die Juden ging.

Nathan Seligmann schien tief in Gedanken verloren und die Zeit selbst zum Gegenstande seiner Betrachtungen gemacht zu haben, denn ein Carneval fand in diesem Jahre nicht statt. Traurig hingen um ihn her die 269 Hanswürste, die Schellenkappen schienen seiner verdrießlichen Miene zu klingeln wie Sterbeglöcklein, das Lachen der Masken war so todt wie nach Klingsohr das stehen gebliebene Lachen in den Gesichtszügen der alten Voltairianer im Kapitel. Viel unfreundlicher und unwirscher war die Art des in einen des Sabbats wegen feinen blauen Oberrock gekleideten Mannes mit darübergezogenen grauen Schmutzärmeln, als die seines coulanten, weltkundigen und musikliebenden Bruders Löb, der sich zu seiner schon von Geburt weichen Seele eine so ästhetische und feinfühlende Bildung erworben hatte.

Der Sabbatbrecher blickte auf Lucinden, indem er ein klein wenig in seiner Arbeit innehielt. Das eine Auge schloß er blinzelnd, eine Geberde, die er an Geschäftstagen noch vervollständigte bis zu einem gänzlichen Bedecken seiner beiden Augen mit der Hand, um drüber wegfahrend durch eine offen gelassene Spalte zwischen den Fingern hindurch gleich sich zu orientiren, weß Geistes Kind ihn besuche, ob er viel oder wenig fordern, Echtes oder Unechtes vorlegen durfte …

Die Hoffnung, Lucinde würde auf Veilchen’s Schreiben eingehen, hatte man wol schon aufgegeben. Doch war der Besuch eleganter Damen für Seligmann nichts Neues. Nur mit Lässigkeit fragte er nach dem Begehren …

Lucinde verlangte Fräulein Veilchen zu sprechen und noch ehe sie geendet hatte, wand sich im Hintergrunde eines dunkeln Ganges aus einem Gerüst von Schweizer- und Tirolertrachten, tressengestickten rothen Miedern und Hüten mit Spielhahnfedern und Gemsbärten eine Person 270 hervor, die sie an die alte Garderobière von damals erinnerte, als sie die drei ersten Acte der Jungfrau von Orleans spielte und nach Serlo’s Anweisung so sicher und fest die Worte glaubte sprechen zu können: „Mein ist der Helm und mir gehört er zu!“ Veilchen war nach Löb’s Erklärung schön am Geist. Der Geist mußte allerdings ihren Körper verklären und gab auch den blauen Augen etwas durchsichtig Glänzendes. Sonst war die eine Schulter etwas höher als die andere und der Wuchs so zurückgeblieben, daß Lucinde, hier von Theatererinnerungen angeregt, fast an die jetzige Baronin, frühere Sängerin Henriette Montag in Kiel erinnert wurde.

Ich wußte doch, daß Sie kommen würden! sprach die kleine Gestalt mit weicher, klangvoller Stimme und verrieth, daß sie sogleich Lucinden erkannt hatte …

Nathan orientirte sich jetzt …

Statt aber seine Höflichkeit nachzuholen, schloß er nun auch noch das andere Auge. Durch eine ganz kleine Spalte blinzelte ein Strahl sehr gemachter Freundlichkeit hindurch. „Die Kinder sind wie die Brüder der Mutter!“ sagen die Juden. David Lippschütz hatte nicht die freundliche Bonhommie seines Onkels Löb, eher die Miene wie Onkel Nathan. Seine Witze: „Ein Frédéric d'argent“ und sein kritisches: „Warum sitzt Moses?“ waren mit demselben mürrischen und blinzelnden Zusammendrücken der Augen gesprochen worden …

Um so freundlicher war das kleine Veilchen …

Als sie sich aus der Region der grünen Alpenwiesen 271 und der Sennerhütten herausgewunden hatte, deutete sie auf eine Thür, die Nathan bereits nicht ohne Beweise einer aus seiner prüfenden Miene sich entwickelnden ärgerlichen Stimmung geöffnet hatte, und ließ Lucinden näher treten …

Ein Gemach empfing sie, das ebenso ein Comptoir sein konnte, wie ein Vorrathsmagazin feinerer Verkaufsgegenstände und sogar ein Boudoir. Hell war es nicht. Eine schwarze hohe Brandmauer stand nicht fünf Fuß weit von den beiden Fenstern entfernt, die ohne Gardinen sein mußten, nur um etwas Licht hereinzulassen. Und doch stand da ein Schreibbureau, worauf Handlungsbücher, stand ein Tisch mit ausgebreiteten Kupferstichen und einer langen Verwickelung von Spitzen, die nicht etwa zu Veilchen’s Handarbeiten gehörte – Handarbeiten existirten nicht für sie – sondern zu ihrer Kunst, Neues in Altes zu verwandeln. In einer Tasse mit Kaffeesatz endete die lange Spitzenverwickelung. Eine andere gebräunte Garnitur hing zum Trocknen an einem der beiden Fenster. Ja, auch die Kupferstiche schienen durch Kaffee gezogen. Ein Bücherschrank war voll alter Bücher …

Aber Sie sollten das Fräulein oben in unsere Stube führen! sagte Nathan mit erzwungener Artigkeit und dem Bewußtsein oben ersichtlichen sabbatlichen Comforts …

Veilchen räumte schon einen Sessel ab und fiel ein:

Hab’ ich eben auch gedacht! Aber für Sie ist heute kein Sonntag! Wenn Sie es nicht verschmähen –

Lucinde saß nicht nur schon, sondern war auch schon 272 in voller Erörterung der Angelegenheit, die sie hergeführt hatte. Gemüthliches Auszupfen einer neuen Bekanntschaft fehlte ihr zu jeder Zeit und vollends in der Stimmung, in der sie kam … Bonaventura reiste – Nicht ein Schloß, die Welt in Brand zu stecken – dazu hatte ihr Nück gestern den Muth gegeben …

Auf einen Wink Veilchen’s entfernte sich Nathan und legte die Thür an, ohne sie ganz zu schließen. Dieser Besuch war für ihn aufregend, für Veilchen schien der Eindruck Lucindens erschreckend zu sein …

Inzwischen hatten sich Lucindens Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Sie erkannte, daß die kleine Jüdin zwar regelmäßige, fast plastische Gesichtsformen hatte, doch schon über die Fünfzig zählen mußte, so dunkel auch noch ihr Haar glänzte, das nach Löb’s Vergleiche der Seide glich. Die zwei langen Locken, die ihr fast über die Augen weg herabhingen und die Nase in gewaltiger Schärfe hervortreten ließen und ihr das Ansehen eines talmudischen Gelehrten, eines Bocher, gaben, hatten eher etwas Starres, gerade so wie die Haare Lucindens in ihrer ersten Jugend waren, als sie ihren schönsten Schmuck nur noch mit Wasser aus den Bächen von Langen-Nauenheim pflegte …

Auch ein höchst anmuthiges und fast mädchenhaftes Lächeln hatte Veilchen um ihren schöngeformten Mund. Wohlwollend nickte sie zu allem, was Lucinde mit Ernst und großer Kälte sprach. Dabei hielt sie ruhig die Hände in ihrem Schoose und hatte eine Miene der Spannung und Angst, die schon verrieth, daß sie von Lucinden keinesweges Gütiges und Wohlwollendes für ihren alten 273 Freund voraussetzte. Darüber, daß der Mönch eine frühere Liebe der stolzen jungen Dame gewesen, die da vor ihr saß, konnte bei ihr kein Zweifel sein. Bei der Erörterung über das aus des Mönches Kutte gefallene alte gestickte Portefeuille war die Ursache der Metamorphose, die er sich hatte zu Schulden kommen lassen, nicht verschwiegen geblieben …

Mit der ihr eigenen kurzen und schneidenden Bestimmtheit fragte Lucinde:

Woher wissen Sie denn, daß ich eine Verpflichtung habe, für den Pater zu sorgen?

Zu sorgen, mein Fräulein? sagte Veilchen lächelnd und verbindlich. Hab’ ich geschrieben: zu sorgen? Ich habe gebeten um einen Beweis menschenfreundlicher Gesinnung! Und die Frau vom vierten Stock im Goldenen Lamm hat mir’s ja auch gesagt, Sie könnten ein Engel sein!

Nicht Lächeln weckte dies: „Könnten“ in Lucindens Mienen, sondern düsterer senkten sich ihre Augenbrauen und jede ihrer Mienen verrieth, daß diese Erinnerung an ihr früheres Leben ihr peinlich war und das Geschäft, das sie hierher geführt, rasch vorübergehen mußte …

Hat der Pater mich selbst bezeichnet als die, die ihm helfen könnte? fragte sie …

Daß Gott verhüte …

Ist seine Haft so streng?

Ein Mensch kann die Luft entbehren, wie ich selbst sie entbehre! Wie Sie mich da sehen, Fräulein, hab’ ich seitdem, daß ich unsern neuen Tempel kennen lernen wollte, nicht die Rumpelgasse verlassen. Aber der Pater 274 liegt in Ketten und Banden seines Geistes! Krank ist er am Körper wie an der Seele! Er muß zu Menschen, die ihn lieben! Einer war anfangs hier, dem er gern geschrieben hätte, ja erst sogar hätte beichten mögen; dann ließ er es, weil er erfuhr –

Veilchen stockte und blickte halb zur Seite, halb prüfte sie Lucinden, die hocherröthend sie sehr wohl verstand …

Anfangs? zuckte es in ihr glücklich auf. Denn daß nur Bonaventura gemeint war, sah sie an dem Blick der Jüdin. Also anfangs nur? grübelte sie. Keine spätere Beziehung? Und erfuhr –? Was erfuhr? Daß ich Bonaventura liebe?

Wer ist dieser Eine? fragte sie kurzweg …

Der neue Domherr von Asselyn! bestätigte die Jüdin …

Lucinde schwieg eine Weile hocherglüht … Dann fuhr sie, wie bestätigend, fort:

Ich sah den Pater mit dem damaligen Pfarrer von St.-Wolfgang öfters zusammen gehen …

Lucinde wollte mit diesen Worten sagen: Haben sie sich damals beide verständigt, wie ein grausamer Zufall mich zwischen beide gestellt hat? Oder hat man Klingsohrn von anderer Seite zugetragen, was auch schon Nück über mich wußte? Sind die Umstände, die mit deiner schimpflichen Entfernung aus der Dechanei zusammenhängen, schon hierher unter dies armselige Dach gedrungen und von hier aus vielleicht auch Klingsohrn bekannt geworden?

Die Jüdin vermied, das, wie sie wohl sah, außer-275ordentlich reizbare junge Mädchen zu verletzen, zog sich klug in ihre Bescheidenheit zurück und sagte ausweichend:

Es gibt Menschen, die sich vermeiden, gerade deshalb, weil sie sich lieben!

Wie? wallte es in Lucinden über dies dunkle Wort auf; weiß auch sie schon, daß meine Liebe zu Bonaventura eine unglückliche ist?

Sie sagte:

Der Pater und der Domherr meinen Sie? …

Oder, fuhr scheinbar nichtachtend Veilchen fort, weil die Wahrheit, die einzugestehen dem einen eine große Seligkeit wäre, dem andern Schmerzen bereiten könnte …

Lucindens Auge leuchtete immer forschender auf … In ihrem Blicke lag: Will sie denn sagen, daß Klingsohr Bonaventura deshalb nicht sehen und durch Mittheilungen kränken will, weil er glaubt, Bonaventura liebe mich? …

Die Jüdin fand sich in den Eindruck ihrer doppelsinnigen Reden und fuhr fort:

Es gibt doch Menschen, die täglich mit Wärme von der Liebe sprechen können, und sie selbst sind kalt –?

Lucinde horchte ungewiß …

Sie fühlen wol die Liebe – denn die Liebe ist unabweisbar – aber sie haben nicht den Muth, sie – sie zu genießen –

Zu bekennen! verbesserte Lucinde und suchte endlich aus diesen Andeutungen Klarheit zu gewinnen.

Meinen Sie? sagte Veilchen. Die Liebe ist doch ein Genuß – ein Egoismus, ein schöner Egoismus!

Die Liebe ist Selbstentäußerung …

276 Die Religion lehrt das, aber die Philosophie sagt: Die Liebe ist das Bedürfniß, sich von seiner eigenen Person erlöst zu wissen und die Wonne zu genießen, daß wir darum doch in einer andern Bestand haben! Ein Priester kämpft gegen diese unendliche Freude, die in der Liebe liegt, durch seinen Beruf an und – noch mehr! Wenn die Liebe die grausamste Eitelkeit genannt werden muß, weil der Mensch verlangt, daß ein anderer gleichsam statt seiner lebt und mit für sein Leben die Kosten bezahlt – die Kosten, die manchmal über des andern Beutel gehen – so kommt es, daß die weichsten Menschen kalt erscheinen, blos weil sie – bescheiden sind –! Bescheiden! Fräulein! Sie wollen den andern nicht in Unkosten versetzen …

Die Jüdin lächelte, Lucinde nicht …

Sie erklärte sich nach dieser eigenthümlichen Dialektik Bonaventura’s Kälte aus dessen edlerer Natur, die sich bekämpfe und sich ein Glück versage, das ihm doch, wie sehr ihn auch Paula fesselte, in der Huldigung liegen durfte, die er von Lucinden nun schon seit Jahren erfuhr … Er muß dich endlich lieben und wär’ es aus Mitleid! war ihre Lebenshoffnung …

Inzwischen hatte es draußen geklingelt. Nathan steckte seine zusammengekniffenen Augen, die wieder Freundlichkeit ausdrücken sollten, durch die Thürspalte …

Excuse! sagte er mit einer Andeutung seines Weltschliffs und überreichte Veilchen einige Blätter Papier mit den Worten:

Eben kommt das von – – Es hat Eile! Der Druckerbursche wartet!

277 Der Druckerbursche? sagte sich Lucinde und gedachte des Abends bei Beda Hunnius …

In der That war es auch sogar eine Nummer des Kirchenboten. Diesmal aber nicht die Censur, sondern die Correctur, wie Veilchen sogleich erläuterte, während sie in dem Blatte las und nach einigem Besinnen leise buchstabirte …

Ist das eine Zeichensprache? fragte Lucinde …

„Ich – bin – elend –!“ buchstabirte Veilchen …

Wer schreibt das?

„Ich bin elend! Hül–fe! Zu – Hu–bertus! Zu Hubertus!“ … Weiter nichts heute! sagte sie, schlug das feuchte, von dabei gezeichneten Correcturen begleitete Blatt zusammen und gab es dem lauschenden Seligmann, der es verdrießlich entgegennahm … Veilchen drückte jetzt selbst die Thür zu …

Zu Hubertus? Lucinde verstand, was sie befürchtete. Aber wenn sie auch sagte: Schreibt das der Mönch in Druckfehlern? so lag in dem Scherz ihre Ungeduld …

Veilchen erklärte, daß Sebastus infolge seiner maßlosen Polemik und seines Zusammenhangs mit dem aufrührerischen Treiben des Tags von der Regierung verhindert wurde, mit Irgendjemand zu correspondiren, außer durch die Hände des Untersuchungsrichters. Nur eine in den Schranken sich haltende literarische Thätigkeit war ihm verstattet geblieben. Die Manuscripte mußten im Geschriebenen censirt werden. So konnten nur die Correcturen zu Hülfe genommen werden, um den Pater mit der Außenwelt in Verbindung zu erhalten. Mit Veilchen zu correspondiren, war ihm Be-278dürfniß geworden nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen. Sie gab an, daß nicht etwa in den Correcturen zur Seite (mit Druckfehlern ist nicht zu spaßen! schaltete sie auf Lucindens scheinbaren Scherz ein. Ein Arzt hat einmal einem Patienten, der sich gewöhnte, sich aus populären Heilbüchern selbst Recepte zu verschreiben, gesagt: „Sie sterben noch einmal an einem Druckfehler!“), sondern im Text eine Verständigung dadurch ermöglicht wurde, daß beide die Buchstaben, die zu ihren Mittheilungen gehörten, mit einem kleinen, fast unsichtbaren Pünktchen bezeichneten. Die Zusammenstellung derselben ergab einen Sinn. So jetzt diesen Hülferuf, der Lucinden von ihrem Sessel aufgetrieben hatte und sie fragen ließ:

Sollte es denn so schwierig sein, ihn aus dieser Haft zu befreien?

Doch!

Man könnte den Wächter bestechen –

Unmöglich!

In irgendeiner Verkleidung sollte er das Profeßhaus verlassen … Einen Wagen würden Sie ja besorgen können …

Ich? Bitte, Fräulein! Sie haben die Verdrießlichkeit des Herrn Seligmann bemerkt?

Ich finde, daß Herr Seligmann nur sehr neugierig ist! sagte Lucinde, sich umblickend …

Denn eben ging die Thür und wie gleichsam von selbst wieder auf …

Es ist seine Angst, sagte Veilchen, daß wir uns wieder in Dinge einlassen, die uns die größte Verantwortung zuziehen können!

279 Und doch wagten Sie das Verleihen eines bürgerlichen Kleides an einen Mönch?

Wohin kommt man nicht, wenn man von der verkehrten Welt – sein Geschäft hat! Oben hängt das ganze Mittelalter, Fräulein! Die Angst, die wir mit der zurückgebliebenen braunen Kutte gehabt haben, möcht’ ich nicht zum zweiten male erleben!

Lucindens Sinnen ließ Veilchen Zeit, zu erzählen:

Als der Pater damals ein bürgerliches Kleid von uns geliehen, blieb ich bis spät in die Nacht hinein auf. Der Pater kommt endlich zurück und verlangt nach seinem Gewande. Er langt darnach, greift in die Taschen und vermißt ein Portefeuille. Denken Sie sich meine Bestürzung! Ein Franciscaner ist ein Bettler, seine Brieftasche konnte keine Schätze enthalten, auch war der Verdacht unserer Unehrlichkeit nicht vorhanden – der Pater traute mir, lieber Gott, seitdem ich meine Verschwiegenheit mit einem Scherze beschworen hatte, bei dem Gotte Spinoza’s! ein Wort, das man freilich zu manchem Mönche sagen kann und er versteht’s nicht. Also – in der Brieftasche lag nichts, als ein einziger Streifen Tuch, den er eine ewige Belastung seiner Seele nannte und den er besitzen müsse, wie Magdalena den täglichen Anblick ihres sündigen Antlitzes in einem Spiegel, sagte er, oder in einem Bache oder in dem Wasser, in dem sie sich wusch, oder in den Augen der Menschen, die sie verachtend ansähen. Alles boten wir auf, die Tasche zu finden. Vergebens! Die Zeit drängte. Der Pater mußte sich entfernen. Er erklärte am folgenden Morgen wiederkommen zu wollen. Inzwischen muß ich länger 280 schlafen, als gewöhnlich, da ich die Nachtruhe versäumt hatte, und am folgenden Morgen ist zufällig der Bruder des Herrn Nathan im Geschäft und muß sogar am Fußboden drinnen die Tasche finden. Die beiden Brüder untersuchen sie und entdecken nichts als einen Streifen Tuch. Herr Nathan hatte die Nacht nicht gewacht, wie ich, wußte nichts von dem Verlust; und wie die Männer in allen Dingen schwächer sind als wir, denkt er, seinem Bruder könnte er schon ein Geheimniß verrathen und erzählt ihm den Vorfall mit dem Mönch und will ihn dann erst schwören lassen, als er’s schon verrathen hat. Inzwischen hat der Bruder längst den Gedanken gehabt, daß gerade ein Streifen Tuch einem Mann an seinem Ehrenkleide fehlte, einem gewissen Küfer Stephan Lengenich. Und wie er nun erst gar den Mönch nennen hört, braust er auf, er, der sonst so milde, grundgütige Mann, rennt davon wie ein schnaubendes Thier und ruft: Hilf deinem Nächsten, soviel du kannst! Der wüthende Mensch hatte seinen Vortheil und eine Befriedigung für seinen Hochmuth und eine Befriedigung für seine Rache. Der Mönch hatte ihm eine Beleidigung zugefügt. Eben aber auch darum kommt er schon wieder zurück, schon wieder in sich gegangen, und bringt den Küfer mit. Aber der kommt gar erst mit Augen wie ein Pardelthier! Die Tasche hatte ihm der Löb noch nicht gegeben, aber er haschte danach, wie ein Fisch nach dem Wurm! Jetzt meine Angst um diese wüthenden Menschen! Der Küfer war einmal angeschuldigt worden, den Vater des Mönchs ermordet zu haben; Gott im Himmel! Dieser Streifen Tuch war von dem 281 Kleide des Mannes abgerissen gewesen, der es gethan haben muß. Und wie sie den Namen nannten und ich wieder fragte und noch einmal fragte: Der! Eben der! da – da vergingen mir doch die Sinne –

Noch jetzt sank Veilchen in ihren Sessel zurück und zitterte …

Aber auch Nathan kam hereingestürmt und rief zornig mit polternden Worten:

Sie wollen sich wieder krank machen!

Veilchen schüttelte, seine Sorge ablehnend, den Kopf …

Noch ein Glück, daß ich in Ohnmacht fiel, sagte sie; die Männer erschraken darüber und legten ihre Wildheit ab …

Nathan rumorte im Zimmer …

Lucinde stand wie vor einem Vorhang, den eine geisterhafte Hand von ihrem eigenen Leben zurückzog … Die Brieftasche des Abschieds einst in Lüneburg! … Stephan Lengenich, dem sie selbst einst scherzend die Worte gesprochen im Düsternbrook: „Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen vom neuen Tuche –!“… Auch das wußte sie von Treudchen, daß eben diese Jüdin durch den Dechanten und den Kronsyndikus um Leo Perl, die Hoffnung ihres Lebens, gekommen war …

Sie sagte:

Eher hätten Sie sich ja selbst dem Küfer verbünden müssen! Denn auch Sie, hör’ ich, gehören zu den Vielen, die den Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof vor Gott anklagen dürfen!

Veilchen blickte auf und ihr leidender Blick winkte Nathan zu gehen …

282 Nathan that es, aber mit dem misgünstigsten Seitenblick auf einen Besuch, der soviel traurige Erinnerungen weckte …

Ich höre, fuhr Lucinde fort, daß Sie die Hoffnung Ihres Lebens, die Liebe des Doctor Leo Perl verloren haben, weil er aus räthselhaften Ursachen Christ wurde!

Christ? – Priester! berichtigte Veilchen …

Lucindens Zucken verrieth die gleiche Empfindung.

Und warum ward er es? Warum gab er Sie auf? fügte sie hinzu …

Veilchen, bereits gesammelter, steckte sich ihre beiden Locken an zwei Haarnadeln zurück, die sie eine Weile im Munde behielt. Schon um deswillen mußte sie schweigen …

Drangen Sie denn nie in dieses seltsame Geheimniß?

Veilchen schüttelte den Kopf …

Auch jede Ahnung fehlt Ihnen? Seltsam! Ich habe in der Nähe des Kronsyndikus gelebt! Ich kenne einen Neffen des Dechanten, den jungen Benno von Asselyn … Man könnte vielleicht forschen … War Leo Perl von der Wahrheit des Christenthums überzeugt?

Veilchen zuckte die Achseln und befestigte ihre Locken …

Er hat den Domherrn von Asselyn getauft, fuhr Lucinde fort … Auch eine hier jetzt lebende Frau von Hülleshoven getraut, hör’ ich … Einen strengen, exemplarischen Lebenswandel soll er geführt haben …

Ich hört’ es … sprach jetzt Veilchen …

Nie wieder hatten Sie eine Beziehung zu ihm –?

Seine letzten Bücher waren in Kocher am Fall ge-283blieben. Als man sie ihm ins Seminar nachschicken wollte, ließ er sie an mich übergeben … Da stehen sie! Sie sind – das Letzte …

Für Lucinden konnte zunächst in dieser Mittheilung nur die Anerkennung der gewaltigen Kraft liegen, die das Christenthum auf die Ueberzeugung eines geistvollen Mannes hatte, der ihr eine Liebe opfern konnte …

Und diese Beziehung der Freude des Küfers zur Trauer Ihrer eigenen Erinnerungen – was brachte sie zu Wege? fragte sie …

Zunächst die Besinnung meines Verwandten, des Herrn Löb Seligmann. Der Mann hat Gefühl! Er erinnerte sich meines Lebens und wurde mein Beistand! Die Rache gab er auf!

Welche Rache?

Ich sagt’ es nicht? Er war von dem Mönche am Tage vorher beleidigt worden. Der Pater ist voll Heftigkeit und vor den Narben in seinem Antlitz kann man erschrecken! Herr Löb Seligmann beschwichtigte den Küfer und ich gewann wieder meine Kraft. In Güte hab’ ich mit ihm mancherlei besprochen und er ließ mir die Tasche und er versprach zu schweigen …

Das können Sie nur durch eine flammende Beredsamkeit erreicht haben! sagte Lucinde und gedachte der schauervollen Tage auf Schloß Neuhof, der Lisabeth, ihres eigenen Verhörs, ihres Schwurs … Den Küfer kenn’ ich und die That auch, um die es sich handelt … Was sagten Sie ihm, das ihn so entwaffnen konnte?

Wieder kam jetzt Nathan herein und machte sich zu schaffen, um die aufregende Unterhaltung zu stören …

284 Veilchen wurde nun selbst über ihn verdrießlich …

Mir scheint, Herr Seligmann, sagte sie, Sie suchen den gestrigen Tag!

Ich suche das nächste Jahr! fuhr Seligmann zornig auf. Wo werden Sie sein, wenn Sie nicht aufhören, Ihre Nerven – zu malträtiren!

Meine Nerven sind mein! sagte Veilchen hinter dem Zornigen her; mit irgendeinem Gegenstand, den er scheinbar gesucht hatte, war er wieder gegangen … Ja, Fräulein! fuhr sie zu Lucinden gewandt fort: Ich sprach, was ich eben sprechen konnte. Die Leidenschaften kenn’ ich und ich schilderte die Rache. Ich sagte, daß alles gut im Menschen ist, was ihm zum Bedürfniß wird seiner Selbsterhaltung, falls seine Selbsterhaltung die andern nicht kränkt und die Erkenntniß Gottes befördert. Ich sagte: Großmuth und Edelsinn sind die einzige Waffe gegen die Leidenschaften! Ich bewies dem Mann, daß es sich um die Ehre eines Geistlichen handelt! Ich schilderte ihm die Leiden eines Priesters und einer ewigen Entsagung! Ich sah, daß der grimmige Mann ein Ohr für meine Rede hatte, und da gab ich ihm die Hand und sprach: Auch mein Feind war der Mann, der in wilder Blindheit eine grausame That gethan hat, die sich Gott wie seine andern Thaten wird gemerkt haben! Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, der Mann wäre ein Greis jetzt, voll Kummer, und verschwendete an die Armen und die Priester, daß sie ihm haben seinen eigenen Sohn zum Wächter setzen müssen! Dann sagt’ ich ihm, daß ich dem Pater einen Schwur gethan, der mehr als meine Ehre, der die Ehre Gottes selber wäre!

285 Bei dem Gotte Spinoza’s? warf Lucinde ungläubig lächelnd ein. Wer ist dieser Gott? fuhr sie fort, den Kopf aufstützend … Den Hut hatte sie gar nicht abgenommen …

Das kann ich nicht sagen! erwiderte Veilchen. Aber jedenfalls ist es auch Ihr Gott! Es ist der Gott des Mannes, den ich liebte! Es ist der Gott, der in nächtlichen Stunden aus den Sternen zu uns sprach, wenn wir im schönen Garten der Dechanei Arm in Arm spazieren gingen – damals bewohnte sie der Herr Dechant von Asselyn noch nicht –! Es ist der Gott, in dem die Seele des Geliebten sich damals mit der meinigen vereinte! …

Und dennoch verließ Leo Perl diesen Gott? fragte Lucinde …

Nathan öffnete wieder die Thür und wisperte:

Warum möcht’ ich doch, daß der Kirchenfürst heute begnadigt würde und den Schwarzen Adlerorden noch dazu kriegte mit Brillanten?

Nun? fragte Veilchen und machte eine Miene der Spannung auf einen „Witz“ – trotz ihrer feuchtschimmernden Augen …

Weil uns dann die „Gecken“ hier keine Zeit lassen würden zum – Schwätzen; bitte um Vergebung, mein Fräulein!

Sie sehen, mein Fräulein, sagte Veilchen aus ihren Thränen heraus, als die Thür rasch geschlossen wurde, er ist unglücklich über den abgesagten Carneval und fürchtet, daß er neben seinem Geld auch noch den Kopf verliert, falls wir uns wieder mit der Kirche einlassen ohne Kanonen. Verlangen Sie also von uns nichts mehr! Der Küfer sitzt im Gefängniß und hat sich vor der Regierung compromittirt … 286 Der Pater kam damals zurück und bekam seine Tasche und ich hab’ ihm erzählt, was damit vorgefallen. Wenn der Kronsyndikus todt ist, dann will er dem Küfer dienlich sein. Ich weiß nicht, was ihm muß sein Vater aus dem Grabe für wunderliche Sachen zugerufen haben … Nun ist das schon vier Monate her … Der Mönch kam noch einige male, wurde aber verrathen und seitdem ist er ganz gefangen und daß ich mit ihm durch die „Stufenbriefe vom Kalvarienberge des Lebens“ correspondire, ist jetzt alles, was wir noch wagen können. Aber Herr Nück! Herr Nück! Der ist allmächtig! Sprechen Sie ja mit Herrn Nück! Der Pater ist krank, Sie hörten es! Er sehnt sich nach seiner Heimat zurück, manchmal zu einem Mönche, den er Vater Ivo nennt, manchmal zu einem andern, Bruder Hubertus … Nun Sie sahen es ja vorhin … Was soll ich ihm schreiben, mein Fräulein?

Lucinde stand träumend und blickte finster und voll Mismuth …

Wie denn schreiben Sie ihm? fragte sie …

Durch die nächste Correctur! Mit Pünktchen …

Lucinde vergegenwärtigte sich die Worte, die Nück zu ihr gesprochen: Ueberreden Sie ihn, nach Belgien zu gehen! Sie mochte von Klingsohrn nicht länger ihre Bahnen durchkreuzt sehen und um sich zu dem kalten Entschlusse, ihn für immer aus ihrem Leben zu verweisen, zu ermuthigen, sagte sie sich sogar, daß die geistige Verkommenheit desselben jeden erschüttern dürfte, der seinen Geist, seine Kenntnisse, seine Kraft als besser verwendbar zu schätzen wüßte …

287 Die Jüdin stand erwartungsvoll und wie bittend …

Sie wären nicht geneigt, die Zelle des Paters zu besuchen? fragte Lucinde.

Mein Fräulein! lehnte erschreckend Veilchen ab …

Herr Seligmann nicht –?

Dieser antwortete selbst durch ein heftiges Rumoren nebenan …

Lucinde wußte, daß es sich hier um eine geistige Aufrichtung Klingsohr’s handelte, die kaum anders, als von ihr selbst kommen konnte … Sie bedachte einen Brief, den sie etwa schreiben könnte …

Die Augen der kleinen Jüdin leuchteten hoffnungsvoll … Eine Pause trat ein …

Aus vielen Gründen, sagte dann Lucinde, nachdem Veilchen als die einzigen Personen, die man allenfalls zu dem Pater ließe, den Arzt, Medicinalrath Goldfinger, oder einen Geistlichen oder vielleicht den Druckerburschen genannt und hinzugefügt hatte, daß der Wächter des Hauses auch bei diesem vielleicht nicht in der Zelle zugegen bleiben würde – aus vielen Gründen wünscht’ ich, daß der Pater aus seiner Lethargie erwache …

Das ist herrlich! rief Veilchen …

Ich wünschte, fuhr Lucinde grübelnd fort, daß er seine Muthlosigkeit aufgäbe, daß er sich für seinen nun einmal gewählten Beruf erkräftigte …

Ja! Ja! …

Ich würde ihm rathen, mit allem, was ihn hier bedrängt und ihn auch künftig in Fesseln halten wird, lieber für immer zu brechen und vielleicht – ins Ausland zu fliehen …

288 Stellen Sie ihm alles das vor …

Ich? Wie kann das ich? …

Sie meinen – um die Vergangenheit –

Das hinderte nicht …

Schreiben Sie es ihm … Ich schicke sogleich in die Druckerei … Der Bursche ist ein guter Junge – und pfiffig … Haha! Kaplan Michahelles hatte den auch in eine Druckerei gegeben … Hernach soll er nach Belgien und Jesuit werden …

Jesuit? Ist Ihnen das ein so gleichgültiges Wort, daß Sie lachen?

Hab’ ich die Welt zu verbessern?

Ihre Duldsamkeit scheint größer, als Ihr Wahrheitseifer!

Was ist Wahrheit?

Mindestens ist die Wahrheit das Gute!

Was ist Gut?

Suchen Sie nicht, was wahr, gut und gerecht ist?

Was ist Recht?

Sie anerkennen nicht Recht oder Unrecht?

Recht geht so weit wie Gewalt!

Wie einmal das Leben ist! Aber –

Im Himmel auch! Gott ist nicht weiter allgerecht, als er allmächtig ist!

Lucinde mußte lachen über dies Wortspielen …

Was ist Ihnen die Tugend? fragte sie, jetzt sogar zutraulicher geworden …

Ah! Die Tugend ist mir viel! Die Tugend ist die Erkenntniß Gottes!

Sie kehren, seh’ ich, alles um, was wir Christen 289 glauben! Haben Sie vielleicht auch keine Freiheit des Willens?

Wenn Sie hungert, müssen Sie essen! … Richtig, Sie wählen die Speisen! Aber – Sie wählen Speisen, die Ihr Appetit Ihnen vorschreibt!

Jetzt begreif’ ich, sagte Lucinde lachend, wie Sie über sich bringen, falsche Medaillen in die Welt zu setzen und die Spitzen da in Kaffee zu tränken, nur damit man glauben könnte, Maria von Medicis hätte sie schon getragen … Hören Sie! Ich nenne das Betrug!

Ein hartes Wort! sagte Veilchen erschreckend. Dann aber setzte sie mit einem gewissen elegischen Tone hinzu: Mein Fräulein, was ist die Kunst? Ein falscher Schein! Was ist das ganze Leben? Eine Mummerei! Wer dreißig Jahre in solchen Possen lebt, wie ich hier unter den bunten Röcken, nimmt die Possen der Erde für ihren Ernst! Ich kehre alles um! sagen Sie? Ganz recht! Sie lieben! So sagen Sie? Ich sage: Sie glauben, daß Sie geliebt werden …

Keine glückliche Lebensauffassung! seufzte Lucinde. Ihr Spinoza, glaub’ ich, war krank …

Das war er …

Er entsagte und entbehrte …

Zu sehr …

Er schuf sich eine Philosophie für die, die nichts mehr wollen und nichts mehr wünschen …

Er liebte die Freiheit …

Eroberte sie sich aber nicht …

Wer die Erkenntniß hat, hat alles …

290 Das bestreit’ ich! Sehen Sie, da gebe ich einen einzigen reellen Genuß für alle Schatten der Erkenntniß!

Geschmackssache! …

Auch Wahrheitssache! Eine einzige Reliquie, die ein Gläubiger küßt, ist, wenn man einmal Religion haben will, mehr werth als Ihr Gott, der wahrscheinlich die ganze Welt sein wird oder die Natur?

Der Mönch sagte dasselbe … Ich lass’ es ihm … wer Religion braucht …

Fräulein! Fräulein! Ich wünschte – die Spitzen da nicht in dem Kaffee zu sehen!

Veilchen zog ihre Haarnadeln aus, ließ ihre Locken fallen, stützte das Haupt auf und sagte träumerisch:

Spinoza sagt einmal: „Einen Mann hört’ ich mir neulich zurufen: «Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen!» Der Mann versprach sich nur. Er wußt’ es nicht. Wozu sollt’ ich ihn erinnern, daß er sagen wollte: Sie meinen, Ihr Huhn ist in den Hof geflogen! Er irrte sich, aber ich verstand ihn ja.“ So rufen uns alle Religionen zu: Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen! … Machen die Religionen gute Menschen, wozu diese Sprachfehler corrigiren? … Ebenso gibt es ganz vernünftige Menschen, die keine antiken Spitzen, wie die da, die Elle zu einem Viertel-Brabanter-Thaler nehmen! Sie wissen vollkommen, was echte Spitzen, die noch Maria von Medicis getragen hat, für einen Werth haben! Lassen Sie uns getrost die falsche Grammatik der Erde sprechen. Wenn hier in der Stadt die Herren von der Regierung und die alten Offiziere sagen: Gott straf mir! so wissen wir alle, sie meinen: Gott straf 291 mich! Gott und was und wen wird wol einst die Ewigkeit strafen!

Die Welt will Wunder – und Ahasverus macht sie ihr! resumirte Lucinde …

Sagte der Franciscaner auch!

Ihr rächt euch an der Welt, die euch verstieß! Ihr macht sie verkehrt, lacht dazu und laßt sie laufen …

Sagte der Franciscaner auch! … Je nun, mein Fräulein, Sie haben vielleicht Recht! Ich gebe mich nicht für vollkommen aus. Glauben Sie mir, wenn man die Welt nicht lieben kann und nicht hassen mag, da ist es am besten – man führt dem Nathan Seligmann sein Geschäft, wie ein armes Mädchen, das verlassen und kränklich in der Welt stand und nichts zu erwerben wußte, vor dreißig Jahren es vorgefunden … Ja, ja, Sie haben vielleicht Recht, der Franciscaner sagte auch, in dem einzigen kleinen grünen Streifen Tuch – da läge der ganze Unterschied zwischen seinem Gott und dem Gott Spinoza’s!

Lucinde grübelte über dies Wort und hätte darüber vielleicht noch gestritten. Aber Nathan unterbrach aufs neue die Unterhaltung der beiden im Denken, nicht im Fühlen verwandten Frauen und bewies somit vollständig, daß die Philosophie des klugen, aber willensschwachen Mädchens seit dreißig Jahren vorzugsweise von seiner Tyrannei bedingt wurde. Seinen Helm und seinen Panzer warf er, als wenn sie von Eisen wären und keine Beulen bekommen könnten. Seine bunten Geckenkleider und Tirolerhüte trug er hin und her, nur um damit seinen Wunsch auszudrücken, daß Veilchen zu dem Ziele käme, die ganze Beziehung seines Geschäfts zu 292 Staat und Kirche ein für allemal abzubrechen und die Sorge für den Mönch in Lucindens Hände zu legen …

Lucinde betrachtete schon lange nachdenklich die bunte Herrlichkeit um sich her und sagte:

Wenn ich wüßte, wie ich selbst den Pater sprechen könnte –

O, das wäre das Beste, Fräulein! O erbarmen Sie sich seiner! Lassen Sie ihn noch einmal Ihre schöne Hand küssen! Ja, Sie, Sie können ihn erheben, Sie können ihm neue Kraft verleihen …

Für sein ganzes Leben – möcht’ ich ihm – einen Rath geben –

Man wird Sie nicht zulassen! … O das ist traurig!

Ziehen Sie diesen Rock an! sagte Seligmann, sich wieder vorwitzig einmischend und hielt ihr eine braune Mönchskutte entgegen …

Aber Herr Seligmann! rief Veilchen vorwurfsvoll …

Der Störenfried entfernte sich …

Er hat nicht Unrecht –! entgegnete Lucinde …

Veilchen blickte mit Staunen …

Hat jener Druckerbursche wol – meine Gestalt?

Himmel! triumphirte Veilchen und schlug die Hände zusammen und freudestrahlend begreifend blickten ihre Augen und die Stimme dämpfend sprach sie:

Eine ganz neue blaue Blouse hab’ ich – Eine kostbare schwarze Sammetmütze mit einem Schirm – im Abenddunkel – Da könnten Sie – wahrhaftig –!

Der Wächter des Hauses würde mich begleiten …

Lucinde wich nur einer allzu hastigen Zustimmung aus …

293 Nein! Oder schützen Sie Eile – die Censur vor – die Censur! Diesmal soll die Abscheuliche segensreiche Früchte tragen!

In Lucindens Innern sagten tausend Stimmen: Aber würdest du entdeckt! Aber käme auch diese neue Demüthigung auf dein großes Schuldbuch! … Ebenso viel andere Stimmen sprachen: Ist es nicht ohnehin dein Letztes! Der morgende Tag muß für dich – für Paula – für Nück – für alles, alles auf ewig entscheiden! …

Die Jüdin flüsterte fort und fort, malte die Gefahrlosigkeit des Unternehmens, beschrieb den Eingang des alten Profeßhauses, die Lage der Zelle des Mönches, alles, was sie von dem jungen Burschen wußte, der Jesuit werden sollte, wie Tönneschen Hilgers auf Lindenwerth – die Väter der Gesellschaft Jesu sind in ihren Collegien ihre eigenen Handwerker und eine von einem Laienbruder dirigirte eigene Buchdruckerpresse zu besitzen muß für sie überall eine große Annehmlichkeit sein – Sie versprach, Lucinden umzukleiden … sie zu begleiten bis an die Pforte … sie draußen wieder zu erwarten …

Lucinde hörte und hörte und stand im Kampf der Entscheidung über – ihr ganzes Dasein …

Die Jüdin betheuerte ihre Verschwiegenheit, versprach, Herrn Nathan in nichts einzuweihen … Sabbat war es; sie würde von Nathan verlangen, daß er den Abend zum Nachtgebet in den Tempel ginge und der „gemüthlichen Börse“ beiwohnte, die sich nach demselben in der Vorhalle zu versammeln pflegte … Während sie so fortflüsterte, drängte sich in die verworrene Musik im 294 Innern Lucindens ein einziger melodischer Accord, der zuletzt die Oberhand behielt. Diese sanfte Harmonie, die sie zuletzt sogar wie mit Opferfreudigkeit erfüllte, entwickelte sich aus verworrenen Anfängen und sprach nach und nach: Du hoffst noch einmal auf deinen unglücklichen Genius! Läßt er auch dies Werk scheitern, dann – dann gibt dir vielleicht dein religiöser Ruf die Rechtfertigung, daß du eine That vollbringen wolltest, die einem Streiter der Kirche zu Hülfe kommen sollte oder –! Nein, nein, in hoc signo – sie sprach sich’s lateinisch – in diesem Zeichen wirst du siegen, selbst unterliegend! Gelingt aber die Flucht, auch dann verlangst du von Bonaventura morgen die Beichte, die erste und – vielleicht die letzte! Auch das mag er hören, entschuldigen – verurtheilen! … In einem Briefe hatte sie schon in erster Morgenfrühe Bonaventura vor seiner Reise noch um eine Generalbeichte gebeten.

Rasch brach sie ab und versprach, in der Abenddämmerung, um die fünfte Stunde, wiederzukommen …

Eine Secunde – und sie war gegangen.

Als Veilchen Igelsheimer allein mit Herrn Nathan Seligmann war, überschüttete sie diesen mit den bittersten Vorwürfen, verweigerte ihm alle Auskunft, schmollte ernstlich und versparte sich bis nach dem Mittagsessen den Antrag auf den Tempelbesuch, den er in den Abendstunden machen sollte …

Und ihre Spitzen und ihre Medaillen und die alt sein sollenden Kupferstiche sah sie wirklich mit Unmuth an und murmelte vor sich hin:

Spinoza war krank? Er liebte und wurde nicht erhört 295 und ging dann hin und schrieb über die Liebe, als wäre sie eine mathematische Figur … Beweisen will er das menschliche Herz wie die zwei rechten Winkel bewiesen sind, die sich in jedem Dreieck von selbst verstehen … Ha, dies muthige, tollköpfige Mädchen! Ihr schwarzer Kopf! Ihre feurigen Augen! Ihr trotziger Schritt! Die kann alles, was sie will –! Und sie glaubt an die Freiheit des menschlichen Willens! Die könnte mich ja – fast irre machen! Wär’ ich ein Mann, dann gewiß!

Es war ihr, als wenn der Gott Spinoza’s dem Menschen die Thatkraft, den schönen Wahn, der allein das Oel zur wahren Flamme des Lebens gibt, die ganze tausendjährige Poesie geschichtserzeugender – Irrthümer nähme …

Nur eine Weile war’s ihr so. Sie kehrte bald in ihr sanftes, lächelndes Dulden zurück.

296 10.#

Im siebzehnten Jahrhundert war es, wo sich der Jesuitismus zu jener Alleinherrschaft innerhalb der katholischen Kirche erhob, durch die sein Sturz mehr herbeigeführt wurde, als durch die Philosophie der Aufklärung. Die übrige Geistlichkeit, die der weltlichen sowol wie der Ordenssphäre, lieferte im stillen die Materialien zu jener Verfolgung, die sich zum Sturz der auch von ihnen gehaßten mächtigen Staatenlenker und Gewissensräthe verschworen hatte.

In jener Zeit des höchsten und übermüthigsten Triumphes entstanden die großen Kirchen und Collegien, die auf den Namen der Jesuiten gehen und nach dem entarteten italienischen Geschmack, der damals herrschte, gebaut worden sind. Es war die Eleganz der gewundenen Bandschleife eines Zopfes, die glatte Dressur des über den Kamm gestrichenen Haares, die Form der gebogenen Schnalle an den Schuhen, die auf die Windungen, Rundungen, Cannelirungen, Fenstersimse und Portale der Architektur übertragen wurde. Das Innere der Kirchen wurde mit Marmor und Gold überkleidet. An 297 den Altären erhoben sich gewundene Säulen, umgeben von schwebenden Engeln, die die gemüthlichen Wirkungen, die sonst die Malerei hervorgebracht hatte, jetzt auch durch die Plastik versuchten. Alles sollte sinnlich, erfaßbar, wie wirklich und leibhaftig in die Augen fallend erscheinen. Blumen wurden in halb erhobener Arbeit bunt an die Decken und Wände geheftet, plastische Heiligenbilder schmückten sich mit Farben und mit wirklichen Kleidern. Man wollte das Wohlgefallen aller Sinne gewinnen. Sogar die Glocken auf den nicht mehr zu hohen, nicht mehr zum Himmel anstrebenden Thürmen erhielten einen eigenen Rhythmus. Die Jesuitenglocken schlagen in kurzathmiger, schnellaufender Hast eine zwei- oder dreitönige musikalische Figur an, deren endlose Wiederholung, wie eine jener alten Litaneien, die man in Abendmetten vom Chor anstimmt, die Seele zuletzt so verwirren und betäuben kann, wie die Begleitung mit Trommel oder Pfeife asiatische Tänzer und Schamanen.

Aber in den ersten Anfängen der Verbreitung des von Loyola gestifteten neuen geistlichen Ritterordens war das Auftreten desselben bescheidener …

In der Residenz des Kirchenfürsten gab es eine stattliche Jesuitenkirche mit marmornen Portalen. Ihr gegenüber lag das Collegium der Väter in jenem Styl, in dem unter Ludwig XIV. gebaut wurde. Beide Sitze der alten, von Ganganelli gestürzten Herrlichkeit gehören nicht mehr den Jesuiten, auch seitdem das Jahr 1848 ihnen fast allein – Erfolge der Freiheit gegeben hat.

Ihr früheres ältestes Profeßhaus liegt in einem ent-298legenern Theile der Stadt und hat das Ansehen eines mäßigen Klosters …

Ein Hofraum ist von drei Seiten mit einem zweistöckigen Gebäude umgeben, von der vierten Seite mit einer hohen Mauer, in der sich das Eingangsthor befindet. Eine kleine düstere Kapelle unter hohen breitastigen Bäumen liegt an der Pforte von außen; von innen, ehe man den grasbewachsenen Hof betritt, muß man erst an der Wohnung des Pförtners vorüber. Ein kleiner Thurm mit durchbrochenem Glockenstuhl und einer alten heisern, schon lange geborstenen Glocke bezeichnet die Stelle, wo sich noch jetzt eine damals nur für die Väter bestimmte Kirche befindet. Das Dach des dreigeschenkelten Hauses ist von Schiefer; die Fenster sind winzig klein; ein neuer weißer Kalkanstrich steht in grellem Contrast zur Verfallenheit des ganzen Gebäudes, das sowol durch die vorliegende vergitterte kleine unzugängliche Kapelle, in welcher der mit Immortellen und gemachten Blumen und bunter Madonna verzierte Altar etwas von dem Gespenstischen eines Wachsfigurencabinets darbietet, wie durch die ringsumher stehenden uralten Bäume auf seinem etwas hoch gelegenen einsamen Platze einen unheimlichen und düstern Eindruck gewährt.

Dies alte Profeßhaus dient jetzt noch zu allerlei geistlichen Zwecken. Es ist nicht in allen seinen Zellen bewohnt. Hier in dem einen Flügel scheint es eine Art Krankenhaus zu sein; denn ein hüstelnder langer, hagerer Greis, den nicht mehr die Tonsur unter dem Sammetkäppchen als Geistlichen erkennen lassen würde, öffnet ein Fenster und hält die Hand in die rauhe Abendluft hinaus. Seit Jahren ist 299 er heiser, kann nicht mehr die Messe singen und fand, da er seine Pfarre aufgeben mußte, hier im alten Jesuiter-Profeßhause seine Versorgung. Dort jener gegenüberliegende Flügel deutet auf eine Strafanstalt. Einige Fenster sind vergittert und wiederum ist es ein Geistlicher, der einen Moment eine lange Pfeife durch die Eisengitter steckt und sich den mit Schnee gemischten, in Glatteis übergehenden Regen nicht verdrießen läßt. Ein Irrsinniger ist es nicht, aber die ganz klaren Gedanken kommen ihm selten. Seine Stelle mußte er verlieren, weil er in die Messe zuweilen deutsche Zwischenreden mischte, den Wein beim Namen des Gewächses nannte, bei Austheilung des heiligen Brotes ein: Wohl bekomm’s! mit einfallen ließ, auf der Kanzel Wirthshausanekdoten erzählte und in den Beichtstuhl mit der Pfeife im Munde ging. Nicht so schlimm ist er, wie sein Nachbar links, den man ganz absperren mußte, weil er kein weibliches Wesen erblicken kann, ohne mit ihm Gespräche anzuknüpfen, die selbst einem Laien nicht gestattet sind. Sein Nachbar rechts wieder ist ein so heilloser Flucher, Schwörer, Händelsucher und Wirthshausmatador, wie nur ein geborener Bauernsohn sein kann, der, wenn er wieder in ein Amt kommen sollte und auf seiner Pfarre dem Oberförster, dem Amtmann, dem Schulmeister begegnet und nicht den Gruß so geboten bekommt, wie er ihn verlangt, den Leuten den Hut vom Kopf schlägt. Noch jetzt geht er im Zorn aus Rand und Band und kann schon lange nur durch Hunger gezähmt werden … Strafklöster und Strafanstalten gehören dieser Kirche ausschließlich an und sind in solchem Grade eine stillempfundene Demüthigung ihres Priester-300standes, daß man sie gern eingehen ließe. Man bedient sich dazu des Vorwandes, daß unter den Geistlichen neuen Stils keine Vergehen so arger Art mehr vorkämen …

Der mittlere Bau, an welchem sich im Sommer vom Grase des Hofes empor hier und da einige Weinranken auf der weißgetünchten Wand hinziehen, hat einige freundlichere Zimmer, ein Refectorium und nach der entgegengesetzten Seite zu sogar ein schmales Gärtchen, das indessen schon lange von einer alten hohen Mauer, der Brandmauer anderer Gebäude, begrenzt wird. Hier finden oft arme durchreisende Geistliche ihr Unterkommen. Mancher von ihnen wird auch zu irgendeiner Verantwortung berufen; andere kommen in eigenen Geschäften und scheuen die Ausgabe in einem Gasthofe …

Die Ordnung in einem solchen Hause aufrecht zu erhalten, ist keine geringe Aufgabe. Nicht nur gehören dazu Fleiß und Umsicht, auch Unbestechlichkeit, Pflichtgefühl jeder Art und physische Kraft. Für die Reinlichkeit sorgt eine alte Frau, die durch ihre Kleidung sich als zum Geschlecht der Grazien gehörig ausweist; sonst würde man sie den Männern und solchen zugerechnet haben, die ohne Gefahr für ihre Gesundheit bei Schleusenarbeiten in Morast leben können. Dies zarte Wesen ist die Hanne Sterz. Nur ein Auge hat sie, ist lahm, kocht aber leidlich. Die Elasticität ihres rechten Fußes hat sie von einem unglücklichen Eingeklemmtwerden in einer der Zellenthüren auf der Strafseite des Profeßhauses, da, wo Entbehrung selbst über Macbeth-Hexen hergefallen wäre. Frau Hanne Sterz zählt schon siebzig 301 Jahre und verdient den Beistand, der ihr seit einigen Monaten durch einen ihrer Anverwandten wird, einen groben, rothhaarigen Knecht, den man den Joseph nennt. Ueber Hanne Sterz aber und dem Joseph steht der eigentliche Verwalter des Hauses, ein ehemaliger Soldat, den die Regierung installirt, ohne ihn vom Gehorsam auch gegen die geistlichen Behörden zu entbinden, die eine Art Jurisdiction und Disciplinargewalt in diesen Mauern ausüben können. Aber Herr Kratzer muß der Regierung von jedem Misbrauch dieser Befugnisse der Curie Anzeige machen und die Rapporte über die im Profeßhause befindlichen Einwohner und deren Befinden allwöchentlich abliefern. Denn Fälle wie die, daß man in die unterirdischen Gefängnisse geistliche Strafgefangene wirft, sollen nach dem Willen der Regierung nicht mehr vorkommen. Kratzer führt die Schlüssel zu den unterirdischen Gängen der Stadt. Er hat dafür zu sorgen, daß sie nicht misbraucht werden. Längst ist es der Plan der Regierung, sie zu verschütten. Bis dahin muß Kratzer sie so reinlich halten, als es die Ratten und sich einmündenden Kloaken erlauben. In diesem Amte unterstützen den „Castellan“ die herculischen Schultern irgendeines vom Staat besoldeten Knechtes. Joseph ist einer der vielen, die Kratzer schon in diesem Amte als Beistand hatte. Er selbst scheint einer jener alten ergrimmten und ewig verstimmten Invaliden ohne Weib und Kind. In dem kleinen Hause an der Pforte, die er wie ein Cerberus hütet, wohnt er. Grützmacher ist andern Glaubens als Kratzer; hätte er den Kameraden im Som-302mer so am offenen Fenster, im Lehnstuhl sitzend und rauchend und mit unveränderlich mürrischer Miene in dem weißbebarteten Antlitz immer auf dieselbe Stelle im Hofe, immer auf dieselbe kleine bunte Winde oder Kresse in dem sechs Fuß breiten Gärtchen, das er um sein Häuschen herum angelegt hat, blickend gefunden, er würde ihn entschuldigt und gesagt haben: Die Menschen verstehen gar nicht diese furchtbare Müdigkeit eines alten ausgedienten Militärs!

In zwei der kleinen Zellen des Mittelbaues wohnt seit einiger Zeit Pater Sebastus. Anfangs war er nur hier in Herberge. Seit einigen Monaten ist er ein Gefangener. Täglich erwartet er eine Entscheidung, wann und unter welchen Umständen er zum Kloster Himmelpfort bei Witoborn zurückkehren darf. Er ist krank, will keinen Arzt, liest und schreibt nur und grübelt. Seine Petitionen an die Curie und die Regierung enthalten schon lange nur noch die Bitte, rauchen zu dürfen. Diese verwies dafür auf jene, jene auf diese, und so bettelte der Mönch noch vor Weihnachten den Castellan nur um Cigarren an … Jetzt entsagt er auch diesen … Die Censurstriche können ihn zuweilen noch lebendig machen und die Druckfehler. Kratzer, der oft den Burschen mit den „Stufenbriefen“ begleitet, ahnt nicht, daß sie mehr enthalten, als Betrachtungen über die Buße, die Sünde, die Erlösung.

Bei alledem ist Sebastus beim Eintritt in sein dreißigstes Lebensjahr der Alte geblieben … Ja! und: Nein! hatte er drei Tage lang zu Bonaventura gesprochen. Als er aufs neue die Rumpelgasse besuchte, erhielt er 303 Gefangenschaft; dennoch geißelt er sich wirklich, wenn sein Guardian im Kloster Himmelpfort: Miserere! ruft. Er gibt Sokrates, Plato, Aristoteles, Firdusi, Shakspeare, Milton, Spinoza, Goethe, Harry Heine noch immer hin, wenn nur Gregor und Innocenz bleiben; besonders seit der Gefangennehmung des Kirchenfürsten, der ihm die Springprocession nach Echternach mitzumachen hätte anbefehlen können; er würde, abgekühlt vom ersten Schrecken, den Mann doch eine „Natur“ genannt haben. Raubte man ihm alles, doch blieb – das volltönende Latein des Breviers, der majestätische Klang des „Dies irae“ und „O salutaris hostia“!

Ueber Lucinde und Bonaventura weiß er durch Veilchen Igelsheimer schon seit den Tagen, als er noch der Außenwelt angehören durfte, daß jene schon seit lange diesen Priester kennt, durch ihn – immer entstellt das Gerücht – bekehrt wurde, für ihn nur lebt … So beichtet er denn auch diesem nicht, einem Priester, der ihn in seiner tiefsten Erniedrigung kennen gelernt hat … Zur vollen hingegebenen Freundschaft fehlte ihm wahre Demuth; ohne eine gewisse Unterwerfung gibt es keine Freundschaft.

Und dann! Wer freilich mag auch sehen, wie ein Herz, das wir selbst einst besaßen, einem andern gehört! …

Von Tag zu Tag wächst das physische und Seelenleid des Gefangenen, dessen Einsamkeit nur der Besuch der Kirche im Kloster, einigemal die Besuche des Untersuchungsrichters (man vermuthete in Klingsohrn den Verfasser einiger in Augsburg und Würzburg erschienenen Broschüren), der Arzt unterbrechen … Weihnacht ist vorüber … 304 Die Hinrichtung Hammaker’s kann Sebastus in keine Verbindung mit seinem eigenen Leben bringen … Es kehren die alten geistesschwachen und geisteszagen Stimmungen wieder … die Hände zittern … mager und dürr liegt er in der braunen Kutte und barfuß auf einem alten Sopha … Alte Lieder summt er, dichtet neue, findet die Reime nicht mehr und bedarf dringend den Mechanismus des Klosters, bedarf der Hand des Bruders Hubertus, der ihn z. B. um jede Mitternacht aus seinem Schlafe emporhob und ins Chor der Kirche zum Singen trug – dies schwere Amt, das der heilige Franciscus erfunden hat, um im Kloster nichts in der Welt nächst Gott mehr lieben zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr ersehnen zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr erstreben zu lassen, als den Schlaf.

Eine traurige Winterszeit … Es regnet, es stürmt … Nur die dumpfen Schläge der Thurmuhren unterbrechen die bange Oede eines Aufenthalts, den des Mönches schroffer Sinn noch einsamer macht durch Ablehnung alles Umgangs mit den übrigen Bewohnern des Hauses. Wenn die Dunkelheit schon früh sich niedergesenkt hat auf den trüben Tag, wenn zwei mächtige Hunde in ihren Hütten sich bäumen und gegen die gewaltige rings von einem kleinen Eisenverschlag umgitterte Thorglocke bellen, die draußen von einem Einlaßbegehrenden gezogen wird; wenn die großen Holzpantoffeln der hochaufgeschürzten Hanne Sterz im Hofe klappern oder Joseph beim Schein einer Laterne das Holz spaltet, das in den Oefen der Bewohner dieses traurigen Ortes flackern soll; oder wenn Kratzer selbst eine große eisenbeschlagene Thür aufgehoben hat, die in 305 einem Winkel des Hofes platt auf der Erde liegt und in jene Gänge führt, zu deren Reinigung ein Kampf mit einem Heer von Ratten gehört, das die Stufen heraufspringt und sich blitzschnell in alle Löcher des Hofes vertheilt, während hinter den Eisengittern die gefangenen oder geisteskranken Leviten: Hatz! Hatz! rufen und die Hunde zur Verfolgung reizen, daß die sich heulend an ihren Ketten aufbäumen und den zottigen Hals blutig reißen … dann überrieseln Klingsohrn düstere Schauer – Erinnerungen an die Tage von Neuhof, Hoffnungen auf Witoborn – Wonnen – o du Thor – eines Wiedersehens mit Lucinden … Daß er zu den Todten gehört, weiß er und besingt es. Hat er sich auch unter dem Leichenstein der ewigen Gelübde ein scheinbares Leben zu erträumen verstanden, Lucinde sollte zu diesen Träumen nicht mehr gehören. Sie kann mit ihrem, „wenn sie will“, so verführerischen Lächeln keinen seiner Wünsche mehr bestricken; sie kann mit ihren gaukelnden Phantasieen keine Bilder von Freiheit und Liebesglück mehr wecken. Das ist vorüber schon lange – schon vor seinem – Begräbniß. Doch – es reizte ihn doch stündlich – auch sie hat sich in den Schoos einer Kirche geflüchtet, die einen erstorbenen Willen mächtig wiederbeleben, klaffende Wunden heilen, schmerzlichste Lücken wenigstens mit „Poesie“ erfüllen kann … Das hätte er gern einmal sehen und hören mögen, wie Lucinde zu dem goldenen Kreuz auf ihrer Brust gekommen, das er in der Kathedrale gesehen, wie sie den Rosenkranz beten, was sie sagen würde von der Welt und wie sie zurückdächte auf alte Zeit und wie sie sich ausnehmen würde 306 in der Messe, im Beichtstuhl, selbst mit der Liebe zu einem Priester im Herzen, der sie ja, das sagte er sich von Bonaventura, nie erhören kann –! Dann winkte ihm Loreley von kahlem Felsgestein, verlockte ihn und andere Knaben, bettete den Bethörten in der kühlen Tiefe … Mit fieberschwangern Glühwinden der Wüste überhauchte es ihn dann und krank wurde er an jenem orientalischen Ragl, der den in der Sahara verschmachtenden Pilgern Städte mit blinkenden Minarets und Bäume voll goldener Früchte zaubert, in deren Schatten, in deren erträumtem Genusse sie sterben.

Wieder auf seinem Sopha liegt Klingsohr mit nackten Füßen ausgestreckt … Wieder wird es Abend … Schon brennt eine ärmliche Blechlampe auf einem mit Papieren bedeckten Tische matt und düster … Das Bellen der Hunde hört er, den Lärm, den zuweilen die wilden Bewohner des Hauses machen; oft huscht es im Gange an seinen beiden Thüren vorüber – in einer Nebenkammer schläft er –; traurig zieht ein alter Klosterspruch durch sein tief hülfsbedürftig an Hubertus gerichtetes Sehnen, der Spruch, den ihm dieser einst wie ein memento mori gesprochen: „Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht! Wir Mönche leben zusammen und lieben uns nicht! Wir Mönche sterben zusammen und beweinen uns nicht!“

Fünf Uhr schlägt’s …

Da und dort blitzt das Licht der jenseit der hohen Mauer angesteckten Laternen auf. Ein kalter Regennebel umhüllt die nächsten Umgebungen, die kleine Kapelle vor dem Eingang und die halb verwitterten Bäume. Die Hunde beginnen ein Wimmern, das ihnen mit ein-307tretender Dunkelheit eigen ist und vielleicht der Erwartung des Mahles gilt, das ihnen Joseph bereits in irdenen Schüsseln bringt. Kratzer studirt an einem Dreierlicht mit der einem alten Militär eigenen Gründlichkeit die frisch angekommene Abendzeitung, die über den gestrigen „Krawall“ neue Einzelheiten, neue Warnungen und Verordnungen der Regierung enthält …

Da wird heftig die Glocke gezogen …

Joseph unten erhebt sich nicht von den Hundehütten, ruft die Hanne …

Diese will eben in das Haus des Castellans mit einem Trunk Weins aus dem Keller hinken – denn zu Krieg und Frieden, zu neuen Avancements und neuen Orden trinkt Kratzer gern seinen Vesper-Schoppen …

Hanne Sterz öffnet …

Ein junger Mensch in einer blauen Blouse und mit schwarzer Sammetmütze, bedeckt von einem alten Regenschirm, kommt mit einer Druckermappe unterm Arm und begehrt den Pater Sebastus zu sprechen …

Censurstriche! sagt die fast rauhe Stimme rasch und entschieden …

Joseph blickt etwas von den Hunden auf, deren Bellen er beruhigen muß …

Hanne Sterz bringt von Herrn Kratzer ein: Passirt! … Herr Kratzer will sich die gemüthlichste Stunde des Tages, die Stunde des Schoppens und der Welthändel und der neuen Versetzungen in der noch immer heißgeliebten Armee nicht stören lassen …

Der junge Mensch wagt sich im Finstern an die Treppe, die er schon kennen muß, schlägt den Regen-308schirm ein, reißt die Thür der Treppe auf, drückt sie wieder an sich und schöpft auf der ersten Stufe Muth und Fassung aus hochklopfender Brust …

Im ersten Gange rechts die zweite oder dritte Thür, Nr. 16 und 17 gleichviel! … So hatte es in der Anweisung auf der Rumpelgasse geheißen … Die Begleitung Veilchen’s hatte sie abgelehnt …

Die Treppe ist erstiegen, die Thür gefunden … Die Zahl in der Dunkelheit nicht zu lesen …

Ein Moment der Besinnung … Angeklopft … Kein Herein!? … Was thut’s? … Lucinde tritt ein und entdeckt an der trüben Lampe, daß auf dem Sopha jemand zusammengekauert liegt, der sich nicht erhebt, völlig antheillos bleibt, bis er die Mappe von dem Ankömmling entgegengereicht erhält …

Nun greift danach eine knöcherne Hand, einer Kutte sich entwickelnd …

Lucinde sieht das verfallene Antlitz Klingsohr’s, sieht die rothen Narben auf den blassen Wangen, das kurzgelockte röthliche Haar, die fast endlose Stirn, die Tonsur …

Sie hat ihre Sammetmütze in der einen, den Regenschirm in der andern Hand … Auf dem von der Luft und der Eile gerötheten Antlitz liegen die dunkeln Flechten ihrer Haare dicht zusammengebunden. Ihr Hals ist von einem rothen Tuch umschlungen. Unter der hellblauen Blouse ist sie mit einem groben, aber neuen Tuchkittel bekleidet; ihre Beinkleider sind trotz der Jahreszeit neuleinene; darunter hat sie sich sorglich vor Erkältung gesichert. Die Füße sind mit Halbstiefeln bekleidet. Ihr Wuchs entspricht dem eines sechzehnjährigen Jünglings, 309 ihre Züge sind in der That männlich. Wäre nicht die Beweglichkeit, die Unruhe und Aufregung der Haltung gewesen, man hätte an den äußern Eindruck glauben dürfen.

Die Censurstriche des Assessors von Enckefuß erkannte sonst Klingsohr sogleich an der rothen Dinte. Heute entdeckte er nichts und entzifferte nur eine etwaige Botschaft Veilchen’s …

Sie schrieb ihm in der That:

Ueberbringer ist – Fräulein – Lucinde Schwarz –

Das Blatt entsank seinen Händen … Er sprang auf und starrte wie vor einem Geiste … Er ergriff die Lampe und leuchtete Lucinden entgegen und diese erleichterte die Erkennung, indem sie kurzweg sprach:

Klingsohr! Sie sehen, welches Opfer ich Ihnen bringe! Ich habe von Ihrer Gefangenschaft, Ihrem Seelenschmerz, Ihrem Körperleiden gehört, von Ihrer Sehnsucht nach dem Kloster zurück! Können Sie es möglich machen, daß Sie diesen Ort verlassen, so soll von morgen in der Frühe an unausgesetzt bis Abends ein Wagen dort drüben in der Allee halten, um Sie aufzunehmen, Mittags ausgenommen, wo die Pferde zu wechseln haben!

Es waren dies Ergebnisse eines Briefes an Nück und eines Besuches des Herrn Maria bei ihr … Sie sprach diese Worte wie eine soldatische Meldung.

Klingsohr stand nur und hielt sich am Tische, hörte nur, betrachtete nur den schönen Knaben … Das, was er allein begriff, war die Anrede nicht mehr mit dem alten „Du“ …

Auf einen Sessel, Lucinden dicht zur Seite, mußte 310 er sich niederlassen … seine Schwäche übermannte ihn … eine schmerzliche Lebenslage ohnehin, wenn sich Menschen, die in so naher Beziehung standen, wiedersehen, das Band, das sie einst vereinte, gelockert finden, das Wort, das einst so warm gesprochen, kalt, die Vergangenheit ausgelöscht von einer neuen, inhaltreichern, und – berechtigtern Gegenwart! Wenn dann auch Klingsohr die alte Zärtlichkeit der Empfindung nur im Zittern seiner Stimme verrathen wollte – er war ein Mönch …

Lucinde empfand mehr Abneigung als Rührung.

Glücklicherweise hatte sie Eile und konnte damit ihre Grausamkeit verdecken …

Klingsohr! fuhr sie fort. Man muß mit Ihnen Mitleid haben! Einflußreiche Leute gibt es, die Ihnen wohlwollen, Ihren Geist schätzen! Wie konnten Sie gerade diesen Orden wählen, der Ihnen eine völlige Entsagung vorschreibt, Ihnen nichts mehr zu sein oder zu werden erlaubt?

Klingsohr überlegte von dem Gesagten nichts. Er horchte nur der so wohlgeordneten Rede und dachte: Bist du denn das Mädchen vom Düsternbrook, von den beiden Apfelblütenzweigen, vom Fest der Dämonen in jener Nacht, du, die Mondscheinwandlerin am Alsterufer, die Reiterin am Busen der Baltischen See?

Eine schreckliche Last, die auf Ihnen liegen muß! fuhr sie fort. Ich verstehe Ihren ganzen Lebensüberdruß –

Seit unserm Abschied in Lüneburg! hauchte er endlich tonlos …

Auch Lucinde horchte seinem jetzigen Redeton …

Noch immer, weißt du, hab’ ich die Hand der Serlo’-311schen Kinder in der meinen! sagte er leise. Vor einigen Monaten sah ich sie hier wie Marionetten springen!

Lucinde wollte den Uebergang in elegische Töne, die Klingsohrn, wie sie hörte, noch immer zu Gebote standen, hindern …

Dennoch begann sie vom Vergangenen, wenn auch im kühlsten Tone:

Ich habe mich oft gefragt, Klingsohr, was Sie damals wol bewegen konnte, so den Kronsyndikus zu schonen!

Schenkte er mir nicht Lucinden? …

Klingsohr sprach dies in der zarten Dämpfung, die ihm eigen war, wenn er Stellen aus eigenen oder fremden Dichtungen sprach …

Das ist es nicht allein! sagte sie. Steht Ihnen Ihre Mutter immer noch so rein und unbefleckt, wie damals vor Augen?

Derselbe Engel! …

Das Gespräch schien nun so in der Erörterung der Vergangenheit fortgehen zu können, aber plötzlich trat Lucinde ans Fenster …

Es hatte geklingelt … Draußen fuhr schneidend der Wind, rissen die Hunde an der Kette …

Ich muß eilen! brach sie mit einem ängstlichen Blick auf das feuchtbeschlagene Fenster ab … Also, was sag’ ich Ihren Freunden? Wohin wollen Sie fliehen?

Drei Worte nur und dann – in den Tod! rief Klingsohr, faltete die Hände und hielt sie empor, wie für sich betend …

Lucinde entsetzte sich über diese Geberde …

Die Hauspforte hatte einen heimkehrenden Bewohner 312 eingelassen … Sie ließ sich beruhigter auf einen harten Sessel nieder …

Lucinde! rief Klingsohr voll Feuer …

Vom Kronsyndikus sprechen Sie! lenkte sie auf Mäßigung zurück …

Warum ich den Kronsyndikus schonte? sprach Klingsohr sich sammelnd. Sieh, Lucinde, hier in meinen „Stufenbriefen vom Kalvarienberge des Lebens“ steht: „Gerechtigkeit übt sich nur im Kampfe gegen sein eigenes Ich! Wer zu dem erhabenen Bau der Pyramiden voll Bewunderung emporblicken will, muß der blutigen Geißel nicht achten, die einst die im Sonnenbrand verschmachtenden Völker zwang sie zu bauen! Wie erstirbt in den Gemüthern immermehr jener Geschichtssinn, der das Erbe der Vorvordern nur mit der Absicht antritt, es ebenso den Enkeln zu hinterlassen! Voll Andacht betrittst du die Stelle, wo einst ein großer Mann athmete; bewunderst den Federzug, den eine Hand führte, die wir mit schauerndem Entsetzen so gleichsam lebendig sehen, die Hand, die Reiche stürzte, Schlachtenpläne schrieb! Um wie viel denkwürdiger ist der Griffel Klio’s, sind die Runen, in denen Saturn schreibt –“ … Doch, lies das selbst, unterbrach er seine Feierlichkeit, sank auf seinen Sessel und hauchte leise: Ich werde nicht allem Worte geben können, was damals mein Inneres durchschnitt! Auf der einen Seite die Leiche eines Vaters, auf der andern ein Mörder, von Angst und Reue gefoltert! Haargesträubt saß der Freiherr mir gegenüber, bekannte die Uebereilung. Im Wortwechsel am Düsternbrook war ihm die Hand an den Hirschfänger gerathen; der Vater wandte sich zum Suchen eines Steins 313 oder Holzes als Gegenwehr; die Waffe fuhr aus, fuhr in die unbeschützteste Stelle am Nackenwirbel, dahin, wo jede Verwundung tödlich ist. Der Zorn des Feindes war mit dem strömenden Blute verraucht; die Erinnerung der Freundschaft sogar stieg in dem zum Tod entsetzten Freiherrn wieder auf. Die Wildheit seines Wesens – was ist sie denn? Ein Uebermaß der Selbstwerthschätzung dieser Naturen. Sie kennen ihr menschliches Maß so gut wie andere. Soll ich’s sagen? Ich empfand Mitleid mit ihm. Mehr noch! Ich nahm Partei. Ruchlos mag es erscheinen – Meine erste wissenschaftliche Arbeit war eine Betrachtung über die Politik der Bienen. Wir sollen dem Geiste leben, auch dem Geiste in der Natur; aber schon die Natur hat nicht alles gleichgestellt. Ich liebe die alte Regelung der Geschichte, liebe die Stände, liebe die Unterschiede, die die Modephilosophie ausgleichen will. Spinoza, ihr erster Tonangeber, löste, was bunt und farbig im Leben blüht, in aschgraue Einerleiheit auf, die er die Substanz oder Gott nennt. Schon Kant aber lehrte uns, auf unser Ich und das innere Gebot zu lauschen. Wie viel mehr ein Glaube, wie der – unsere! Die Persönlichkeit, die sich in der Geschichte austrägt, ist mein Gesetz! Verblendet von deinem Bilde, bestochen vom Glanz der Versprechungen des Kronsyndikus, befangen durch seltsame Märchen, die von meiner Mutter gehen, dazu der Gedanke: Das ein Enkel Wittekind’s? Der Gedanke: Wollte Gott, es ginge groß noch und hochherrlich und in jedem Sinn hochfreiherrlich her im bureaukratisch geknechteten Vaterland! Ich beweinte meinen Vater, beweinte mich; was konnte es helfen, daß ihm der Kron-314syndikus Ehre und Freiheit zur Sühne brachte! Des Freiherrn Schuld wuchs mir zur tragischen. Wenn ich auch zagte, wenn ich auch das Herrscherwort des Gewissens hörte – nenne so diesen dürren Kantischen königsberger Imperativ – wenn ich auch im kleinen Schacher und Handel mit dem Schicksal, im Versteckspiel mit der Entlastung der Brust mir den Streifen Tuch, der von des Freiherrn Jagdrock abgerissen, zu bewahren vorbehielt, ich mochte die weltliche Justiz nicht zur Siegerin machen über Poesie … Lucinde, das ist aber mein Leiden! Ich will den Göttern ein gigantisches Schicksal abtrotzen und dennoch – mußt’ ich Jérôme tödten, dennoch mußt’ ich dich verlieren, dennoch mußt’ ich –

Lucinde unterbrach seine gesteigerte Aufregung. Aufs neue erschreckt sprang sie ans Fenster … Der Wind jagte durch die Bäume und ließ den schrillen Ton der Laternen pfeifen, die an ihren eisernen Haltern hin- und herschwankten … Auf dem Gange rauschte es dahin daher mit schwerem Fußtritt … Auch Klingsohr horchte auf … Denn deutlich wurde die Stimme Kratzer’s vernehmbar, der dem rumorenden Knechte zurief:

Ist denn der Bursch noch immer oben?

Klingsohr! sprudelte Lucinde in mächtigster Erregung auf und ihr Ton nahm vor Angst eine größere Wärme an … Ein Wort! Ich, ich verstehe gewiß Ihren Uebertritt! Jagte mich denn nicht selbst das Schicksal und hetzte mich so lange, so furchtbar, bis ich –

Lucinde! jauchzte Klingsohr auf und hob die beiden halbnackten Arme aus seiner braunen Kutte ihr entgegen …

315 Beide Convertiten hatten vielleicht nie so die Kraft ihres neuen Bekenntnisses gefühlt, so im Vergessen ihrer Gewissensbisse wieder sich riesig erstarkt gefühlt …

Aber Lucinde gewann eher die Besinnung und die kalte Erwägung, als Klingsohr …

Doch warum dieser Orden? fuhr sie fort. Warum dieses Gewand der Buße und Entsagung? Das ist ja deine unglückliche Natur, daß du jedem Ding, das dein eigen geworden, sogleich die andere Seite abgewinnst! Erkennst du die schönste Lage, in der du dich befindest, zu tief, so quälen dich schon ihre Mängel! Immer gefiel dir die Sache, die du selber triebst, aber sie misfiel dir, wenn du sie auch unter den Händen anderer sahst! … Ist der Beruf eines Bettelmönchs deiner würdig? Kannst du so deine That eines Vatermordes – denn Hehler wie Stehler! – vergessen? So diese That sühnen? … Lehne den Vorwurf nicht ab! Auch mich beschuldigen oft desselben Verbrechens die gespenstischen Schatten von Vater und Geschwistern. Trotze jedoch unserm Menschenloose! Bleibe groß! Ringe dich höher und höher! Flieh nach Belgien! Nach Lüttich! Deine Gönner bieten dir die Hand! Kannst du dies Haus verlassen, der Wagen führt dich, wohin du willst! Werde Jesuit …

Klingsohr hatte sich erhoben, ging mit seinen Sandalen zwar unhörbar auf und nieder – aber die schöne, muthige, beredsame Sprecherin hatte ihn in Flammen versetzt … Im Begriff war er, sie an sich zu reißen und mit seinen Küssen zu bedecken … Zu ihren Füßen mochte er sich werfen, die schlanke Gestalt umschlingen …

Lucinde ahnte diesen sich mehrenden Sturm seines 316 Innern, deutete, um ihn durch Vorsicht zu beschwichtigen, auf einen anrollenden Wagen und fuhr fort:

Ich finde dich ganz so, wie Serlo dich beurtheilte! Du glaubtest, sagte dieser seltene Mensch, andere zu beherrschen und wärst der Sklave nur derer, die dich bewundern! Ohne den Wind, den du selber um dich her machtest, wärst du sogleich auf dem Sande! Stürme glaubtest du zu beschwören, die die Welt erschüttern, und du wärst doch nur der Mann des Sturms im Glase Wasser! Kleine Huldigungen könnten dir zur Abschlagzahlung für die größten Erwartungen dienen, in denen du dich täuschen ließest! Wahre Erfolge wärst du so wenig gewohnt, daß man dich mit Kupfer statt mit Gold befriedigen könnte!

Nein! rief Klingsohr wild und ergriff einen Riegel des Fensters, als könnte er diesen vom Holze reißen vor beleidigtem Ehrgefühl …

Nimm von mir die Lehre, fuhr Lucinde lächelnd fort, die sich auf die bitterste Erfahrung auch meines Lebens begründet, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir uns kein Ziel mehr stecken! Im Kloster könntest du zwei Ziele haben: Priester zu werden, du bist es nicht, dann ein Heiliger! Beides aber wird deiner Natur mislingen. Tritt aus diesem Cirkel, in dem du lebst, heraus! Geh nach Belgien! Unterwirf dich den Strafen und Bußen, die man anfangs über dich verhängen wird! Bei der Beurtheilung des Dranges, der dich trieb, deinen Ueberzeugungen mehr zu nützen, als du im Kloster Himmelpfort vermöchtest, wird man etwas deinem Geiste Natürliches in dieser Flucht finden und dir in Rom Verzeihung erwirken!

Für Klingsohr war schon Melodie, sich so von Lucinden 317 nur das alles gesprochen zu vergegenwärtigen. Dann aber auch regte sich sein Ehrgeiz. Längst schon zwang man ihn, sich aufzugeben. Und nun sollte er von ihr, von ihr wieder neu aus den Trümmern seines Lebens zu einem „Titanengebilde“ zusammengestellt werden, von ihr, deren Hand einst dies Bild zuerst zerschlagen hatte? Gönnte sie denn der Kirche wirklich, forschte sein trunkener Blick, einen Streiter wie ihn? Hatte sie noch so viel Theilnahme, daß sie ihm in seinem Jammer beistand und die Verwerthung seiner Fähigkeiten erleichterte? Klingsohr glaubte in der That nur aus ihrem Munde die Sprache eines Philosophen zu hören, der alles in der Welt an seinem rechten Platze wünschte, keine Fähigkeit unbenutzt, jede Bestimmung der Natur von den Umständen eingeholt. Bei der fernern Besprechung des von ihr vorgeschlagenen Planes bewunderte er die gereifte Einsicht eines Mädchens, dessen Entwickelung er selbst gefördert, zu solcher Höhe des Charakters bildsam sich nimmermehr vorgestellt hatte. Schon war er gefangen von ihren Vorschlägen, überredet von den Erleichterungen ihrer Ausführung, geblendet von den Mitteln, die ihr in unbegrenzter Anzahl zu Gebote zu stehen schienen … Er versprach es, sich aufzuraffen … Morgen in erster Frühe sollte ihm der Druckerbursche Kleider bringen … In der Abenddämmerung wie jetzt wollte er entschlossen auf das Hofthor zugehen, den Schlüssel, der von innen steckte, umwenden, und noch ehe man ihm nachsah, versicherte er, daß der Wagen ihn schon aufgenommen und entführt haben könnte … Diese Verständigung war, als wenn ein in Schutt begrabener Brand durch den Hinzutritt von 318 Luft sich aufs neue entzündet. Die Flammen der Jugend schlugen empor, alle Wahngebilde der Selbsttäuschung wirbelten in flockigen Feuerzungen … Ich dich lassen! rief er wie einst. Ich dich nicht wiedersehen, Lucinde! Mein Geschick ist und bleibt, zu sterben am gebrochenen Herzen durch deine Untreue, deine Falschheit, deine Lüge – Himmelsbote, vergib, daß ich dich lästere! Lucinde! Lucinde! Liebst du wirklich jetzt –

Sie entwand sich seiner Frage, seiner Berührung …

Nur den Saum deines Kleides laß mir! Ganymed! Götterknabe! Bist ja nur – mein Bruder! … Ach Lucinde! Zu wissen, daß dein Herz, deine Liebe einem andern, einem Mann gehört, der die Himmel deines Besitzes nicht ahnt – verschmäht wol gar –?

Plötzlich unterbrach Lucinde seine ihr tief schmerzliche und theilnehmende Rede …

Es war ihr eben gewesen, wie wenn mit einem Eisenstab an die Thorpforte geklopft wurde … Dann klingelte es heftig …

Sie sprang auf und sah in den Hof hinunter …

Jemand leuchtete mit einer Laterne im Hofe Ankommenden entgegen … Statt eines traten zwei Männer herein. Die Thorpforte blieb offen …

Wer kommt da? fragte Lucinde, schon erstarrt, den gleichfalls völlig Besinnungslosen …

Ihre Worte erstickten im Schrecken vor dem Zurückspringen eines scheuen Pferdes und dem Hören eines metallenen Klanges, der von einer Waffe zu kommen schien …

Auch eine geschlossene Chaise ließ sich aus der spärlich erhellten Dunkelheit als draußen vorgefahren erkennen …

319 Wem gilt das? fragte Lucinde …

Klingsohr wollte das Fenster öffnen … Sich langsam sammelnd sprach er vom andern Flügel des Hauses, in den man vielleicht einen wahnwitzigen Priester brächte oder aus dem man den, der das Haus schon lange beunruhigte, abholte …

Dem Joseph war unten die Laterne ausgegangen und hellauf gellten die ihm von Kratzern über seine Ungeschicklichkeit gemachten Vorwürfe. Frau Hanne wurde gerufen und im selben Augenblick, wo gerade einer der Bewohner des Hauses heimkehrend durch die offene Pforte eintreten wollte, sprengte der Reiter ihm in den Weg und fragte nach seiner Befugniß, hier einzutreten …

Es war ein Gensdarm …

Was wird?! fragte Lucinde verzweifelnd und die Worte: Wenn ich entdeckt würde! erstarben schon auf ihren Lippen … trotzdem, daß sie auf mögliche Entdeckung vorbereitet und auf alles gefaßt gekommen war …

Klingsohr beruhigte sie und horchte … Die beiden Civilisten hatten mit Kratzer schon den Mittelbau betreten. Schon hörte man sie auf der Stiege reden, ohne daß durch die langen Corridore der Inhalt ihrer Worte verständlich werden konnte …

Mich hier treffen – mich erkennen! Nimmermehr! rief Lucinde. Auf ewig wär’ ich verloren!

Alle ihre Fassung war hin … Schon hatte sie die Thür ergriffen und sogar ihren Regenschirm wie zum Schutz in der Hand …

Man geht drüben hinüber! beruhigte Klingsohr, der sich in die Störung nicht finden konnte … Oder geh’, 320 geh’! sprach er ihr nach, da sie schon ging. Man wird dich durchlassen. Hier nimm die Papiere! Muth! Muth! Morgen geh’ ich nach Belgien! Wir sehen uns wieder!

Lucinde stand plötzlich, einer Ohnmacht nahe …

Lucinde! Hast du mich nicht neu belebt? Und du willst zagen? Höre ruhig! Was du mir räthst, ist nichts Kleines. Ich werde ein Verräther an meinem Orden! Ich büße drei neue furchtbare Jahre meines Lebens! Man wird mich in Kerker und Peinen der entsetzlichsten Art werfen! Ich kenne, was ein Flüchtling aus einem Orden in einen andern zu bestehen hat! …

Lucinde hörte nicht mehr …

Nummer Sechzehn? sprach sie nach außen das Ohr spitzend einem Worte nach, das sie gehört zu haben schien …

Mechanisch sprang sie an die Seitenthür, die zu Klingsohr’s Schlafcabinet führte …

Klingsohr konnte sie nicht halten und in der That – schon nahten sich die Schritte der Ankömmlinge und schienen wirklich nur seine Thür zu suchen …

Instinctmäßig drückte Lucinde die Kammerthür an und tastete im Dunkel nach dem Ausgange, der gleichfalls auf den Corridor führte. In demselben Augenblick, wo sie bei Klingsohr eintreten hörte und voll Furcht nach der Thür griff, um nach einem Schlüssel zu fühlen, schloß sie auch schon, da sie einen Schlüssel vorfand, leise auf, drückte die Klinke nieder und wollte davonhuschend sich entfernen …

Beim ersten Schritt aber, den sie hinaus that, sah sie einige Schritte weiter den zurückgebliebenen Kratzer mit 321 dem zweiten der Angekommenen, in dem sie sofort an seiner Montur einen Commissär der Polizei erkannte …

Belebte sich auch ihr Muth, jetzt an dem Castellan vorüberzugehen und trotzig das Freie zu gewinnen, so entschwand er im selben Momente. Wie der Blitz trat sie zurück, als sich die Thür bei Klingsohr geöffnet hatte und nun auch Kratzer von einem Manne mit hereingerufen wurde, den sie sofort aus Kocher am Fall und von ihrer Reise dorthin erkannte, dem Assessor von Enckefuß. Nun würde sie der Commissär sicher nicht haben ungefragt vorübergehen lassen. Auch stand ihr noch jener am Thor wachende Gensdarm mit dem Anspringen seines Rosses vor Augen …

Bebend hielt sie den Thürdrücker in der Hand und lauschte der geöffnet gebliebenen Nebenthür, wo sich eine lebhafte Erörterung entspann, die jeden Augenblick durch das Eintreten des Assessors auch zu ihr konnte unterbrochen werden. Ihre Lage war so verzweifelt, daß sie sich mit unwillkürlicher Ideenverbindung in ihren schrecklichsten Lebensmoment zurückversetzt fühlte, den, wo sie einst bei den Worten: „Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!“ den höhnischen Beifall eines versammelten Publikums vernahm …

Mit den lauten und absichtlich betonten Worten: Das Gepäck eines Bettelmönchs, meine Herren, ist leicht! trat Klingsohr der Thür näher, gleichsam um zu verhüten, daß man die Kammer betrat …

Man verhaftet ihn! sagte sie sich zitternd … Er muß den Wagen besteigen …

Mit dieser schneller gedachten, als sich selbst aus-322gesprochenen Vermuthung, hatte Lucinde den Muth – oder die Furcht, die Thürklinke noch einmal leise niederzudrücken und auf den Corridor mit einem hurtigen Blick hinauszuspähen. Im selben Moment kam Joseph mit der neu angezündeten Laterne. Der Commissär wandte ihm das Antlitz zu, ging ihm sogar einige Schritte entgegen. Nun hielt sie keine Besorgniß zurück. Mit einem einzigen Sprunge war sie aus dem Zimmer, huschte den Gang hinunter, tiefer in die vom sich annähernden Lichtstrahl nicht getroffene Dunkelheit hinein und hielt sich augenblicklich, ohne das Geräusch, das sie bei alledem hatte machen müssen, fortzusetzen, in der Thürböschung einer der andern Zellen …

Fest angedrückt harrte sie der Dinge, die kommen würden.

323 11.#

Im Leben der Seele ist es eine eigene Erfahrung, daß sie in Momenten ihrer höchsten Anstrengung Erleuchtungen wunderbarer Art erlebt.

Wie vorhin Lucinde in schwindelnder Angst das Lachen eines Theaters hörte, wie hundert Vorstellungen vom Schicksal Klingsohr’s, dem zerstörten Plane seiner Flucht, ihrer eigenen Gefahr, dem nun gewissen neuen Herabsturz von der Höhe, auf der sich ihr Lebensschicksal befand, ja der sofortigen Gewißheit, ein Opfer Nück’s zu werden, ihr Inneres fiebernd durchliefen, sah sie plötzlich nichts weiter vor sich, als den Tag, wo sie im vorigen Jahre den St.-Wolfgangberg hinauffuhr, die Stunde und den Moment, wo der Knecht aus dem Weißen Roß am Fuß der Maximinuskapelle vor ihr herging und lauernd von dem Begräbniß des alten Mevissen in St.-Wolfgang sprach.

Denn als sie aus der Thür auf den Corridor hinausgespäht hatte, fiel gerade der Schein der von dem Knecht hochgehaltenen neu wieder angezündeten Laterne so grell auf seine Züge, daß sie im Moment des Hinaus-324schlüpfens sich sagte: Das ist ja jener Knecht, der den Sarg erbrochen hat! … Ebenso schnell wußte sie den Namen Bickert und ebenso schnell baute sie auf diese Entdeckung, deren Wahrscheinlichkeit wuchs, einen Plan der Rettung.

Noch schien man, mit der Verhaftung Klingsohr’s beschäftigt, ihrer nicht wieder gedacht zu haben. Von Secunde zu Secunde, wo sie es wagen zu dürfen glaubte, machte sie einige Schritte weiter zu einer nächsten Thür, an die sie sich andrückte. Glücklicherweise waren diese Zimmer ohne Bewohner. So lebendig es auch inzwischen im ganzen Profeßhause geworden war, so zahlreich am entgegengesetzten andern Ende des Corridors Neugierige aus den Zellen kamen und einer gewaltsamen Abführung des Paters Sebastus mit Staunen zusahen, in ihrer nächsten Umgebung blieb es still. Schon war sie an einer Stiege angekommen, die einen Stock höher ins Dach, hinunter ins Erdgeschoß führte …

Eben zögert sie, ob sie den letztern Weg wählen soll oder nicht, eben sieht sie Klingsohrn aus seinem Zimmer schreiten, barfuß, barhaupt, ohne andere Habe, als die Kratzer, in ein Bündel zusammengelegt, hinter ihm herträgt; da scheint plötzlich die ganze Aufmerksamkeit von fünf Menschen zu gleicher Zeit auf die Erinnerung an sie allein gerichtet zu sein …

Das Herausschreiten aus der Zelle Nr. 16 war nun schon ein Suchen nach ihr …

Die Worte: Noch ein Bursche war da? Wo? Wann? Noch eben hier? Niemand ist doch hinausgegangen! schollen durcheinander. Das Offenstehen der zweiten Thür 325 wurde ebenso schnell als Zeichen heimlicher Entfernung erkannt und nun war sie schon mit behendem Fuß die abwärts führende Treppe hinunter …

Die nachkommenden Schritte, das Suchen der Rufenden hörte sie, als drohte ein Welteinsturz … Herr von Enckefuß gebot mit lauter Stimme, alle Ausgänge zu besetzen … Ihr klang es wie Todesurtheil. Der Commissär fing an, rasch nacheinander alle Klinken der oben liegenden Zellen niederzudrücken … Wie ein laufendes Gewehrfeuer klang es … Kratzer’s Ehre war im Spiel. Klingsohr hatte versichert, daß der Bursche nicht mehr bei ihm war.

Lucinde lag an die Mauer gelehnt. Ein kalter Schweiß trat auf ihre Stirn … Die Stiege brachte sie offenbar vollends ins Verderben, denn unten war der Raum abgeschlossen. Die einzige Thür, die in ein Souterrain führte, wich keiner der Anstrengungen, die sie machte, sie zu öffnen. Sie mußte zurück, mußte ihren Verfolgern in die Hände fallen …

Schon hörte sie Schritte und mit Verzweiflung warf sie sich wieder auf die Vorstellung: Käme jetzt der Knecht! Wär’ es wirklich jener Bickert! Könnte, müßte er dich nicht retten? … Er trägt die Schlüssel! Ich höre sie klirren! Oeffneten sie vielleicht diese Thür? …

So stand sie mit glühenden Augen, krampfte sich mit der einen Hand an die Lehne der Treppe und blickte von der untersten Stufe empor, um, wenn wirklich der Knecht kommen sollte, ihn mit der andern festzuhalten. War er es, schaffte er nicht Hülfe, so riß sie ihn mit ins Verderben …

326 Ja, die groben Fußtritte des Knechts waren es, die immer näher kamen … Er fluchte und tobte laut, lachte, schien seine Dienstbereitwilligkeit im allerglänzendsten Lichte zeigen zu wollen …

Lucinde kämpfte vor Spannung und Furcht gegen ein Ohnmächtigwerden …

Geh’ nach unten! rief Kratzer … Hanne! Hanne … Ich suche oben! Licht!

Auch die Hanne antwortete mit einer lauten Lache …

Der Commissär versicherte dazwischen, seinen Augen trauen zu dürfen … er hätte Niemanden hinausgehen sehen … Glücklicherweise klang diese Stimme noch ziemlich entfernt …

Nahe aber, ganz nahe sprach in dem landesüblichen, fast künstlich betonten und Lucinden nicht geläufigen Dialekt der Knecht des Profeßhauses fortwährend durcheinander. Sie verstand nur: Hier vielleicht! Da! Im Ratzenfange! … Dann tappte Jemand die Treppe niederwärts und ringsum verbreitete sich ein Lichtschimmer …

Lucinde ließ, jetzt sich ergebend, den Feind näher kommen, immer näher … sie machte sogar ein leises Geräusch, nur um ihn vollends niederwärts zu locken. Auf diese Art brachte sie ihn dicht an die verschlossene Kellerthür.

Wie er jetzt triumphirend vor ihr stand, jauchzte ihr Herz auf, es war ihr kein Zweifel mehr: Es war der Leichenräuber! Derselbe halb verschmitzte, halb stumpfsinnige Ausdruck des Antlitzes! Dieselben lauernden Mienen, wie damals unter dem Nußbaum, als Bonaventura die Grabrede sprach!

Ha, ha, ha! lachte der Ankömmling grell auf …

327 Aber mit dem Rufe: Bickert! sprang sie dem sich zu einem Triumphgeschrei, das alle herbeilocken sollte, eben Anschickenden entgegen …

Da hielt der Mensch inne … Schon der Anruf seines Namens entsetzte ihn …

Dieb! Leichenräuber! Kennt Ihr mich nicht mehr aus St.-Wolfgang? fuhr sie mit tonloser, aber energischer Stimme fort …

Der Verbrecher taumelte zurück … Er erkannte auch die Verkleidung …

Geht hinauf! fuhr Lucinde mit unterdrückter Stimme, doch fest und bestimmt fort. Sprecht, hier wär’ ich nicht! Oder ich rufe laut Euern Namen, Euer Verbrechen! Ich reiß’ Euch mit ins Verderben! Fort!

Der Mensch taumelte wie angedonnert zurück und stammelte helllaut hinaus ein wiederholtes:

Da – ist – niemand! Da nicht – da ist niemand –

Nun hörte man die Stimme des Assessors, hinter ihm den Ruf des Commissärs:

Ist denn also unten ein Ausgang?

Bewußtlos halb vor Freude, halb vor erneuter Furcht sank Lucinde an die Kellerthür und halb auf den Fußboden zurück. Sie wußte nicht mehr, wo sich halten …

So lag sie einige Secunden …

Daß dann Schlüssel rasselten, hörte sie … daß eine Thür aufflog, daß sie plötzlich von tiefster Finsterniß umgeben war, daß sie die eine Hand ausstreckte, um sich zu halten und nur die Thür wieder faßte, die ebenso schnell wieder zugedrückt und geschlossen wurde … alles das 328 war ein einziger bewußtloser Augenblick. Erst das Gefühl, der nächsten Gefahr entronnen zu sein, rief ihr die entschwundenen Lebensgeister zurück. Sie hätte aufjubeln mögen vor Freude, aber auch sich ausweinen in Thränenströmen vor Jammer der Seele, von den Thorheiten ihres Herzens getrieben, sich in solche Lagen gewagt zu haben …

Rings um sie her blieb alles dunkel und still …

Eine dumpfe, feuchte Luft wehte sie aus der Tiefe an …

Bei einigen Schritten, die sie, sich langsam erhebend und behutsam tastend, versuchte, bemerkte sie, daß sie sich beim Anfang niederwärts gehender steinerner Stufen befand …

Daß sie vor der nächsten Gefahr, in ihrer Verkleidung erkannt zu werden, jetzt geborgen war, schien ihr bei der Verschmitztheit Bickert’s fast gewiß zu sein.

Wie aber, wenn sie nur der einen Gefahr entronnen war, um einer andern entgegenzugehen? … So in diesem Dunkel und im Beginn jener unterirdischen Gänge, von denen sie so oft gehört hatte, kam sie durch eine nahe liegende Gedankenverbindung auf die Vorstellung des Lebendigbegrabenwerdens. Sie sah sich selbst in jenen Leichentüchern, die einst ein Räuber entweihte, den gerade ihre wühlerische und unruhige Phantasie verführt hatte, in ihnen Schätze zu suchen. Wie, wenn sie der Verbrecher, der die Entdeckung fürchtete, aus Rache, mindestens aus Furcht nicht mehr ins Leben zurückließ? Wenn sie ohnmächtig und vergeblich an dieser Thür rütteln müßte? Wenn sie hier den Tod der Verzweiflung sterben sollte, schon am Ende ihrer – die dunkelste Zukunft ihr schon immer zu bergen scheinenden Lebensbahn?

329 Eine Gefahr des Augenblicks konnte Lucinden ganz beherrschen, wie jedes andere zagende Weib. Hatte sie aber Zeit, sich erst auf eine Gefahr zu rüsten, so lag völliges Verzweifeln nicht mehr in ihrer Natur. Auch gleich das Schlimmste festzuhalten war nicht auf die Länge ihre Art, wenn auch sogleich im ersten Schrecken höhnisch alle Dämonen sie anlachten, die im Benehmen der Menschen gegen uns und noch mehr in den Situationen, namentlich für die, die nicht das beste Gewissen haben, liegen können. Sie malte sich aus, was draußen geschah. Man wird mich vergebens suchen, die Polizei entfernt sich mit Klingsohrn – das Bellen der Hunde hörte sie – Kratzer wird Befehl erhalten, die Haussuchung fortzusetzen, Bickert wird meine Entdeckung fürchten und vielleicht mein Bundesgenosse werden, vielleicht aber auch …

Wieder befiel sie Furcht …

Unter der Blouse war sie glücklicherweise warm gekleidet. Kühl fühlte sie sich nur angeweht, so lange sie erhitzt blieb. Ihre Stirn trocknete sich allmählich, sie gewöhnte sich an die Luft, die sogar über die steinernen Stufen von unten her wärmer heraufströmte. Schon entdeckte sie, daß man etwa mit acht Stufen im Beginn eines ausgemauerten Raumes war, der auch noch einen andern Ausgang haben konnte; denn unten umhertastend fühlte sie wiederum neue Stufen. Es lag hier jene Oeffnung, die in den Hof ging. Ein scharfer Zugwind, der aus einem entgegengesetzten Winkel kam, schien auf andere Oeffnungen zu deuten. Vielleicht begannen dort die Gänge, die, wie man sagte, fast unter 330 der ganzen Stadt hinliefen und in jenen Palast mündeten, in welchem einst die hohen Kirchenfürsten, als sie noch souverän waren, oft von ihren eigenen Unterthanen belagert wurden. Jetzt waren diese Gänge theilweise verschüttet, doch nicht ganz. Ein Zusammenhang sollte noch immer z. B. mit dem „steinernen Hause“ des Herrn Maria statthaben, auch hie und da eine Thür sich befinden, die in Kirchen und geistliche Wohnungen führte.

Alles das stand gespenstisch vor der Phantasie der ungeduldig Harrenden …

Sie stieg die Stufen wieder hinauf, die an die von Bickert verschlossene Thür führten …

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als sie endlich Geräusch vernahm … Es waren die Schritte eines Mannes, der sich vorsichtig näherte … Die Thür wurde aufgeschlossen … Auch ohne Licht sah ihr an die Dunkelheit inzwischen gewöhntes Auge ihren – fraglichen Retter vor sich stehen.

Eine Weile erst wie prüfend sie anstarrend bedeutete er sie, jedes Geräusch zu vermeiden … Im Hause wäre alles im Glauben, sie müßte sich irgendwo versteckt haben. Wenn sie nicht um Mitternacht, bis wohin er wiederkehren würde, von einem näher von ihm bezeichneten Fenster an einer Strickleiter hinuntersteigen wollte, würde sie erst am folgenden Tage entfliehen können, wenn vielleicht Kratzer ausginge und Frau Hanne in der Küche beschäftigt wäre. Das Hausthor wäre bis dahin heute verriegelt und der Schlüssel von Kratzern selbst schon abgezogen worden … Ein Steigen über 331 die Mauer war der wachsamen Hunde wegen nicht möglich …

Nimmermehr! rief Lucinde. Ich muß fort! Fort! Sogleich!

Sie erbebte bei dem Gedanken, wie sie ihr Ausbleiben im Kattendyk’schen Hause entschuldigen sollte …

Bickert, der plötzlich eine ganz andere, auffallenderweise mit französischen Brocken gemischte Sprache redete, als vorhin und als sie auch auf dem St.-Wolfgangberg von ihm gehört zu haben sich erinnerte, Bickert erklärte, dann wäre kein anderer Ausweg möglich, als hier durch die unterirdischen Gänge … Die Schlüssel hätte er, sagte er … Wollte sie, so könnte er sie an die nächste Oeffnung führen, durch die sie vielleicht ins Freie käme … Mais – nun wandte er sich mit einer drohenden Geberde, ergriff ihren Arm und sah ihr mit aufgerissenen Augen ins bleiche Antlitz …

Seid ruhig! antwortete sie. Rettet mich und ich schwöre Euch Verschwiegenheit! … Dann wiederholte sie, wie sehr sie Eile hätte … Schaudernd blickte sie in die Tiefe, die sie wie ein Grab anstarrte …

Fürchten Sie sich nicht! wiederholte Bickert. Aber schwören sollen Sie mir unten am Muttergotteskreuzweg, daß Sie mich nicht denunciren!

Am Muttergotteskreuzweg? wiederholte Lucinde …

In einer guten halben Stunde sollen Sie so gut naß werden, wie jetzt jeder andere draußen – schon wieder regnet es –

Lucinde bemerkte erst jetzt, daß sie bei all diesen Momenten des Schreckens ihr völlig unbewußt sowol den 332 alten Regenschirm, der Veilchen gehörte und leicht eine Entdeckung hätte herbeiführen können, wie die Druckermappe krampfhaft in den Händen festgehalten hatte …

Bickert wollte wissen, wie sie zu dem Pater käme, und lachte höhnisch und zweideutig … Aber bei alledem gingen sie schon vorwärts … Er voran …

Lucinde nahm die Frage nach dem Pater nur insoweit auf, als sie sich erkundigte, was mit ihm geschehen wäre …

Sie haben ihn au collet genommen, sagte Bickert, sie haben ihn in den Wagen gesetzt, monsieur le commissaire nebenan und so um die Stadt herum! Ich denke, sie fahren ihn in sein Kloster zurück, von wo er hergekommen. Pst! … unterbrach er sich selbst, blieb stehen und horchte auf, als wenn sie gestört werden könnten …

Lucinde hielt sich an der feuchten Mauer …

Ich will Ihnen lieber etwas zu soupiren bringen, sagte er nach einer Weile; und auch einen alten Mantel … Sie werden Angst kriegen vor – vor – und bleiben die Nacht lieber hier –

Wovor Angst? Nimmermehr! hielt ihn Lucinde zurück … Ich fürchte nichts!

Bickert untersuchte seine Schlüssel und tastete vorwärts … Mit einem Streichhölzchen machte er Licht und zündete eine kleine Laterne an, die er aus der Tasche zog … Rings sah man, wie in einem Bergschacht, nur feuchte Wände; doch konnte man bequem und aufrecht stehen …

Inzwischen ging Bickert wieder voran … Lucinde folgte klopfenden Herzens …

333 Plötzlich hielt er inne und sagte mit fürchterlicher Drohung: Mais –: Wissen Sie, daß Sie mein Verderben ganz allein gewesen sind?

Lucinde wich entsetzt zurück …

Sie haben mir’s in den Kopf gesetzt ... o mon Dieu! Ich war auf einem so räsonnablen Wege …

Fast die Zähne knirschend stand er mit geballter Faust vor ihr …

Lucinde blieb starr und sprachlos …

Ein Gefühl der Erlösung sprach sich erst in einem laut ihr entschlüpfenden Ah! aus, als Bickert im Gehen fortfuhr:

Und das Beste ist, der Pfaffe aus St.-Wolfgang ist hier, und ich komme neulich in seinen Confessional und sag’ ihm alles. Ich selbst! Sapristi!

Lucinde hörte nur, ohne zu verstehen …

Aber ich erhielt mon fait! Ich hatte in Frankreich zwanzig Jahre Galeere! Warum blieb’ ich nicht räsonnabel!

Lucinde blieb hinter dem entsetzlichen Menschen zurück. Sie überlegte, ob sie folgen konnte …

Courage! Courage! rief er. En avant! Das erste mal hatt’ ich auch noch keine Courage! Die Ratz meinen’s besser als sie aussehen! Stoßen Sie sich nicht! Warten Sie! Das Licht brennt méchant!

Lucinde war ohne Athem. In kurzen fiebernden Schlägen klopfte ihr Herz. Sie sah, wie Bickert die Gläser seiner Diebslaterne heller putzte … Und der Mauerspalt wurde immer enger und enger …

Ihrem Pater, au prisonnier, hab’ ich auch einmal hier den Weg gezeigt – Wenn der jetzt wüßte, daß 334 Sie – Figurez vous! Ich beichte dem Pfarrer und habe versprochen, ihm alles, was ich damals auf dem Kirchhof aus dem halben Geripp herauswickelte – zu schicken! Qu’avez vous?

Ein Schrei des Schauders entfuhr – aus doppeltem Anlaß – Lucinden …

Bickert blieb stehen …

War’s eine? lachte er …

Er meinte eine Ratte … Schon hörte man ein Huschen und hastiges Dahinspringen …

Worauf tritt man denn hier ewig? fragte Lucinde, wieder über eine andere Erfahrung erbebend …

Der Führer beleuchtete den Boden …

Das war gut! sagte er. Da liegen sie! Tous crevés! … Nehmen Sie nur nichts mit von dem Biscuit, das hier auf dem Boden liegt! Die dicken Kerle, messieurs les rats, haben gedacht: Das legen wir noch zurück für ein andermal! Die Ratz sind hier immer satt … weil es todte Katzen und Hunde genug hier gibt …

Lucinden war es, als athmete sie Gift und Pesthauch aus der Luft … Jetzt blieben ihre Vorstellungen haften bei dem Gedanken an die „Frau Hauptmännin“, an Hammaker, an das Schaffot, an Nück’s grauenvolle Rede …

Die Wanderung durch einen kaum drei Fuß breiten und sechs Fuß hohen Gang glich in jeder Beziehung dem Besuche eines Bergwerks. Die Wände oben und zur Seite waren gemauert, aber so feucht, daß sie von Schimmel und Schnecken bewachsen waren. Der Boden unten war festgetretene Erde, aber schlüpfrig zum Ausgleiten. An Stellen, wo die Decke eingestürzt war, 335 mußte man über die Trümmer hinweg und den Kopf bücken. Die Luft war schwül und giftig, sodaß die Wanderer sich wol Muth durften einflößen lassen durch die zuweilen von Mauersteinen hervorgebrachte Form des Kreuzes, vor dem auch Bickert regelmäßig sich verbeugte …

Wenn wir nur erst an die großen Keller kommen, rief er, so haben wir bessere Luft!

Dabei lärmte und polterte er fort und fort und huschte vor sich hin. Diese Vorsicht galt den Ratten, die auf die Art vor ihnen hergejagt wurden …

Die Ueberzeugung, der Verbrecher vertraute ihrer Verschwiegenheit und hätte nichts Uebles im Sinn, gab Lucinden Muth und schon nahm sie ihr Erlebniß von seiner abenteuerlichen Seite. Ihr jedesmaliger Aufschrei, wenn sie auf ein Opfer des kürzlich gestreuten Giftes trat, wurde beiden schon zur Unterhaltung …

Der Gang erweiterte sich und zeigte an einigen Stellen runde, stark vergitterte Oeffnungen. Eine derselben war so groß, daß man in einen Keller sehen konnte, in den Bickert hineinleuchtete …

Da, sagte er, da möcht’ ich manchmal die Eisenstangen ein wenig poliren – er meinte feilen – Sehen Sie die großen Fässer! Die gehören Monsieur Moppes. Ich glaube, sie werden aufgespart für die Gerechten beim Jüngsten Gericht!

Lucinde kannte Herrn Moppes junior, seinen Humor und seine vortreffliche Stimme. Noch gestern hatte im Kattendyk’schen Hause sein Genius geleuchtet … Welch ein Unterschied der Situation! Gestern sie mit ihm im Salon 336 und heute – sein Name ihr hier gesprochen unter der Erde! … Auch des Stephan Lengenich gedachte sie … Sie folgte mit beklommenem Athem …

Jetzt kamen die Stellen, die schon lange Veranlassung gegeben hatten, diese Gänge theilweise zu verschütten. Sie kreuzten sich auf eine gefährliche Weise mit den Kanälen der Stadt. Schon war vorgekommen, daß diese oberhalb sich hinwegziehenden Rinnen durchgebrochen waren und die tiefer liegenden Gänge überfluteten. An diesen Stellen befanden sich Stützgerüste und doch rieselte es von oben herab, ja Bickert sagte, daß man bei großen Regenwettern bis ans Knie im Wasser stünde, von dem man dann weder wisse, wo es herkäme, noch wie es abflösse …

Der Weg durch die Stützbalken konnte den Beherztesten erbeben machen. Man mußte sich hindurchzwängen mit Gefahr, eine der Palissaden einzureißen. Dabei waren die Moppes’schen Keller noch nicht zu Ende …

Eine Ermuthigung lag in dem Anblick einer kleinen uralten Gottesmutter, die in der That an einer Stelle, wo der Gang sich in zwei Theile spaltete, in einer Mauernische stand. Bickert beleuchtete sie mit der Laterne. Er schien nicht die Empfindung Stephan Lengenich’s zu haben, daß dies alte Steinbild Lucinden glich … Und doch hatte in einem Punkt der alte Geisterseher Recht … In dieser schauerlichen Einsamkeit war der Anblick des wohlerhaltenen alten Steinbildes wenigstens wirklich, als wenn man ihm Leben hätte zuerkennen müssen. Die Augen, der Mund, die Stirn unter dem weit über sie hinfallenden Schleier hatten auch eine gewisse Aehnlichkeit mit 337 Lucinden. Das Kind auf dem Arm der kleinen Figur schien wie lebendig, ja wie sprechen zu können. Lucinde fühlte selbst, wie mächtig der Eindruck war, der einen Räuber bestimmte, hier die Mütze abzuziehen, die Laterne auf den Sims der Nische zu stellen und den steinernen Saum des Kleides der hier in dunkeln Grabesgrüften wie mit Bewußtsein wachenden Gruppe zu küssen …

Dann bekreuzte er sich und ließ Lucinden näher treten …

Wenn ich damals auf dem Cimetière in St.-Wolfgang, sagte er, diese hier im Sarge gefunden hätte, wäre ich schon früher zur Erkenntniß gekommen … Es ist mein Fluch, daß ich Bickert heiße, eigentlich Picard, Mademoiselle! Das ist die alte Chochemfamilie, die ihre Vettern am Galgen hat paradiren sehen, la bonne famille de Damian Hessel und manchem andern da oben am Hundsrück! Sie haben alle den Schwur gehabt, nie Blut zu lecken, und doch sind sie durch die Luft und mit dem großen französischen Balbiermesser aus der Welt gegangen. Ah! Ah! … Nun treiben sich die Enkel und Nachkommen umher, haben sich auch umgetauft, wie mein Vater selig schon, der mit fünfundzwanzig Jahren travaux davonkam und mich heilig machen wollte wie einen Kanonikus. Aber es liegt im Blut und erst die da – sehen Sie, jetzt wird sie sprechen! – Die da sagt mir immer hier unten, wo mich die alte Jeanette unterbrachte – eine Connaissance von meinem Vater selig – Picard! Picard! sagt sie, dein Großvater war zwar ein Jude, aber in deiner Großmutter Dina Jakob und Rebekka, ihrer Schwester, war Stolz; 338 beide haben auch darum, aus Eifersucht und Rache, selbst ihre Männer an den Galgen gebracht. Vom Großvater und vom Großonkel hast du’s, daß du noch immer den Hahn nicht krähen hören kannst, ohne an Brecheisen und Rennbaum zu denken! Aber nimm dich zusammen, Picard! Komm zu mir, so wird es gehen und du wirst noch Rathsherr werden in Gröningen, wo deine Ahnen wohnten!

Lucinde hatte einen Augenblick der Ruhe nöthig … Sie lehnte sich an das Marienbild und hörte den Worten des Räubers schauernd zu … Auch ihr sprach das Bild …

Das Wunder belebter Statuen und augenbewegender Bilder beruht, wenn auch nicht immer, doch meist auf der Einbildungskraft und dem Zauber der Kunst. Wem würde ein lange betrachtetes Bild nicht zuletzt mit dem Auge geblinkt haben! Welcher gemalte oder richtig plastisch geformte Mund würde nicht leise zucken, den man beobachtet im Zusammenhang mit allem übrigen, was an einem Bilde oder an einer Statue dem Leben abgelauscht wurde? Einem Künstler sprach die Sixtinische Madonna: Komm’ in mein Himmelreich! Er hatte deutlich die Worte gehört, dieser berühmte Kupferstecher, der Linie um Linie die majestätische Himmelskönigin mit dem Grabstichel wiedergeben wollte. Der Wahnsinn umnachtete sein Gemüth für immer; der Glaube ist eine Umnachtung für den Augenblick.

Die schauerliche Einsamkeit hier unter der Erde, die edle Gesichtsform des Bildes, die Beleuchtung durch die wenigen Lichtstrahlen der Laterne, die Stimmung und Prädisposition des Gemüths, alles kam zusammen, daß 339 auch Lucinde auf Verlangen des grauenvollen Menschen feierlich bei diesem Bilde betheuerte, den Zufluchtsort, den hier ein Verbrecher im alten Profeßhause gefunden, nie zu verrathen.

Noch mehr … Bickert hob an der Madonna einen Stein auf, zog ein schmuziges Bündel hervor und sagte:

Ich mag nicht mehr an die Galeere! Ich wollte hier im Lande Pferdehandel treiben! Mais – ich kam auch da wieder auf falsche Fährte. So wurd’ ich Knecht im Weißen Roß. Niemand kannte mich. Ich simulirte einen ganz andern Menschen. Es ging – mais! Da müssen Sie kommen, Mademoiselle, Sie – n’ayez peur! Siebenundvierzig bin ich jetzt, Mademoiselle. Ich ginge lieber – nach Amerika, wenn ich das Geld dazu hätte! Verdienen konnt’ ich’s schon, aber der Weg kam – un peu trop étroitement da vorbei, wo neulich Monsieur Hammaker gehabt hat un très mauvais accident

Kannten Sie – auch den? hauchte Lucinde, aufs neue erbebend …

Monsieur Hammaker sah mir gleich den alten Picard an – wie ich – il y a cinq mois – hierher bin geflohen und ich saß ihm vis à vis im Trankgäßchen und mir schmeckte nicht der Heurige. Den Posten hier verschafft’ er mir durch die ihm bekannte Madame Jeanette, eine alte Freundin meines Vaters. Er verlangte blos als don gratuit von mir – eine kleine Affaire – den rothen Hahn auf ein Schloß – à peu près zwanzig Meilen von hier –

Westerhof? rief Lucinde entsetzt …

Comment –? fiel Bickert überrascht ein und hielt das 340 Bündel, als wollt’ er es Lucinden übergeben, die schon vor Abscheu nur vor seinem Aussehen die Hand zurückzog …

Sapristi, wo wissen Sie – Ich kenne einen, der alle Tage auf mich wartet! Tausend Thaler, und dann nach Amerika! sagte Monsieur Hammaker, und auch zusammen wollten wir gehen. Aber er hatte noch nicht genug, le petit maitre, er wollte Extrapost. Die hat er bekommen! Als ich ihm die Nacht begegnete, wo er in die Sieben Berge machen wollte mit einem sehr hübschen Koffer, sagt’ er mir: Adieu Picard! Folgen Sie mir bald! Machen Sie nur ein compliment – an – an –

Den Oberprocurator Nück –?

Diacre! Woher wissen Sie –? Mademoiselle! Ich ging nicht. Ich dachte, er wird mich zum Hause hinauswerfen, wenn ich um die tausend Thaler komme – für Reisegeld! Mais – Neulich, da zog ich an der Klingel – ich hatte das Leben hier – nein, nein, denken Sie nur nicht Marcebillenstraße – Aber es stand wieder einmal quarante sept mit mir. Hier das Leben unter den Ratten, die schlechte Kost, die Furcht; ich dachte: Du verdienst dir dein Reisegeld, gehst erst in den Dom und sagst’s en confession – Ich bin versucht, wollt’ ich sagen, ein groß Feuer zu legen und ein Papier – so war le mot d’ordredans une bibliothèque – und ich thät’ es gern; wer kann hier leben! Unter den Ratten! Hunde füttern! Hanne Sterz um den Bart gehen! Einen Bart hat sie, Mademoiselle! … Da knie’ ich im Confessional und fange an zu sprechen und sage meine Sünden und ich sehe auf und …

Ihr seht den Domherrn von Asselyn!

341 Einen Geist, der mir spricht: Was enthielt damals der Sarg? …

Gestanden Sie es ihm?

Da! Nehmen Sie, Mademoiselle!

Jetzt griff Lucinde nach dem Bündel in heftigster Bewegung. So abschreckend feucht das Tuch war, sie empfand keinen Widerwillen mehr …

Plaudern werden Sie nicht! wiederholte Bickert und beleuchtete unheimlich die Gestalt und äußere Erscheinung der Verkleideten … Und eine wiederum ballend erhobene Faust deutete die Möglichkeit seiner Rache an …

Dann aber sagte er:

Gut! Geben Sie das –

An den Domherrn von Asselyn –

Im Kapitelhause –

Und was enthält es?

Eine Schrift – kein Geld – nur eine Schrift – in Latein – tant je crois

Damit ging er weiter …

Und die Reise nach Amerika? Schloß Westerhof? Das Papier? rief sie hinter ihm her …

Der Knecht hörte nicht die verhallenden Worte und ging voraus …

Lucinde folgte athemlos … Sie hatte das kleine Bündel in ihre Mappe gezwängt und sich dabei aufgehalten … Mit dem Schirme tastete sie, um dem Schimmer der Laterne zu folgen …

Noch einige hundert Schritte in dem links sich erstreckenden engern Gange ging es so fort.

342 Dann standen sie an einer kleinen, mit verrosteten Eisenklammern beschlagenen Thür …

Bickert gab Lucinden die Laterne und zog sein Schlüsselbund …

Leise steckte er einen mit wunderlichem Zierrath versehenen alten Schlüssel in das noch wohlerhaltene Schloß …

Mit knarrendem Tone ging noch ein Riegel zurück und die Thür öffnete sich …

Halten Sie sich an mich! sagte der Führer und stieg einige sich windende steinerne Stufen in die Höhe, während die Laterne zurückblieb …

Bald kam eine zweite Thür …

Bickert horchte … Er wollte lauschen, ob niemand in der Nähe war …

Wo kommen wir hinaus? fragte Lucinde, von den Anstrengungen erschöpft …

Statt zu antworten schärfte Bickert sein Ohr nur noch vorsichtiger …

Jetzt war es Lucinden, als hörte sie einen heiligen Gesang. Es war wie ein Strom klingender Luft, der auf sie niederwallte. Die Töne schwollen und erhoben sich. Wie aus erquickenden Quellen ringssprühender Staub, so rieselte sie es an … Nach so langer dumpfer Stille wurde ihr der Ton fast zum Licht, das Licht zur Welle, Geistiges wie leiblich sie Berührendes … Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten …

Les chanteurs! Es ist die Domschule! flüsterte Bickert und öffnete …

Es strömte wie Lobgesang des Lebens auf sie ein …

343 Hier jetzt den Corridor hinauf, dann à travers la maison!

Bickert drängte Lucinden schon vorwärts …

Nach einem noch einmal weniger drohend, als schon hoffnungssicher gesprochenen: Mais Mademoiselle –! stand sie plötzlich allein … Bickert war verschwunden.

Ein schmaler Gang zwischen zwei hohen Mauern führte Lucinden in einen größern, mit Quadersteinen gepflasterten Hof und aus diesem über einige Stufen in ein alterthümliches Haus. Auch auf der großen Diele war alles wie von Musik erfüllt. Links von ihr sangen die Chorschüler Uebungen. Ein altes Klavier begleitete die Accorde …

Eine Weile lauschte sie …

Deposuit potentes de sede et exaltabit humiles!

Dazwischen sprach ein Priester Erläuterungen … Die Stimme war ihr fremd … Aber die Worte klangen ihr in der Tonart des Gesanges … kein Dur folgte auf Moll, kein Allegro auf ein Andante … selbst die Belehrungen über die zu machenden Pausen, die gegeben wurden, waren nur der Aushall des verklungenen Tones … Alles, alles war ihr Harmonie …

Gern hätte sie glauben mögen, es würden ihr die beiden Arme zu riesigen Flügeln, die sie hätte ausbreiten mögen, die wieder errungene Freiheit zu erproben …

Aber nur wie eine verscheuchte Fledermaus huschte sie durch die Flur und an die Hausthür. Diese war unverschlossen … Sie war im Freien, im Regen mit ihrem Bündel, aus dem sie ein zerknittertes starkes Papier herausfühlte …

344 Mußtest du diese Schrecken erleben, um das zu erlangen, was du vielleicht brauchst, um morgen mit – ihm zu sprechen, vielleicht zum letzten mal – Dies führt dich bei ihm ein, auch wenn er dir die Beichte abschlägt!

Sie hätte sogleich zu Bonaventura fliegen mögen … Fast hatte sie ihre Knabentracht vergessen.

Sie breitete den Schirm aus und schoß auf einen Fiaker zu …

In die Rumpelgasse! rief sie. Zu Nathan Seligmann!

Die Adresse war bekannt …

Eine Viertelstunde darauf war sie bei Veilchen Igelsheimer, die um sie auf den Tod gezittert hatte. Ihre Begleitung an das Profeßhaus hatte sie abgeschlagen. Veilchen erfuhr zu ihrem Entsetzen, daß alles gescheitert war und Lucinde nur mit Lebensgefahr ihre eigene Freiheit gerettet hätte …

Zu Aufklärungen für das „trotz Spinoza verzweifelnde“ Mädchen, Aufklärungen, die Lucinde auch ohnehin schwerlich gegeben hätte, blieb keine Zeit … Sie gab ihre Kleider zurück, nahm die ihrigen, entleerte die Mappe, die sie Veilchen ließ, riß das schmuzige Tuch Bickert’s fort und wollte eben die Einlage, einige Bogen Papier in amtlichem Briefformat, einstecken …

Da erblickt Veilchen die Aufschrift und ruft:

Gott im Himmel!

Was ist? fragte Lucinde, halb schon im Gehen … Herr Nathan war noch nicht wieder daheim …

Das ist – das ist ja – die Handschrift –

Veilchen öffnete die Bogen, die Lucinde jedoch zu 345 gleicher Zeit schon wieder zurücknahm, nur um sie rasch zu bergen, weil sie Eile hatte …

Nur einen Blick, Fräulein! …

Was haben Sie? fragte Lucinde drängend und auf dem Sprunge …

Schon gab Veilchen die Bogen zurück, wie mit einem Schauder – Ein Siegel, das neben dem Namen stand, der die Bogen unterschrieben hatte, schien ihr die Besinnung zu geben …

Lucinde sah ein Kirchensiegel – das Bild des Gekreuzigten …

Sie forschte nicht länger … blieb ihr doch die volle Muße eigener Untersuchung und die Gelegenheit der Wiederkehr … Sie hatte nicht Zeit, sich von dem wie bewußtlos ihr nachblickenden Veilchen die Ursache ihres Schreckens erklären zu lassen …

Eine Stunde später saß sie zum Thee bei der Commerzienräthin, die vor Ungeduld nach ihr „fast vergangen war“. Denn seltsamerweise blieb sie heute allein … Aus Furcht vor Pitern ließen sich selbst die Hausfreunde nicht sehen. Das Haus war von seinem beginnenden Strafgericht in Belagerungszustand erklärt. Johanna hatte von ihrem in aller Frühe abgereisten Verlobten schon per Expressen einen Brief voller Vorwürfe über die Frau Oberstin, die übrigens gestern schon vor dem plötzlichen Tumult gegangen war … Dann kam die Frau Oberprocurator angefahren und brachte die Kunde, daß morgen Abend der Domherr von Asselyn nach Witoborn reise und eine Demonstration der Huldigung stattfinden würde mit Blumen, Gedichten, ja persön-346licher Anwesenheit seiner Verehrer … Ob die Mutter ginge? Was man dazu anzöge? … Endlich hörte man Pitern sich lärmend in den Hinterzimmern ankündigen … Alles zitterte … Zum Glück hörte man zu gleicher Zeit den Besuch des Oberprocurators von der andern Seite … Lucinde hatte keine Antwort aus dem Kapitelhause vorgefunden. Sie erhob sich, schützte Kopfweh vor, schoß an Nück vorüber und flüchtete sich auf ihr Zimmer.

Hier ergriff sie einen Bogen Papier, eine Feder und schrieb die Worte:

„Hochwürdigster Domherr! Ich beschwöre Sie! Wenn Sie nicht einen Seelenmord begehen wollen, so bitt’ ich um Antwort – wegen meiner Generalbeichte!

Lucinde.“

Sie couvertirte, klingelte und schickte einen Diener mit diesen Zeilen ins Kapitelhaus an den Domherrn von Asselyn – wie schon heute in der Frühe …

Schlug ihr Bonaventura den Empfang ab, so hatte sie ein letztes Mittel. Den Auftrag Bickert’s … Nach allem, was sie von Benno über den Eindruck wußte, den damals die im Sarge des alten Mevissen gefundenen Dinge auf Bonaventura gemacht hatten, durfte sie annehmen, daß dieser sie dann unmöglich zurückweisen würde, wenn sie an ihn ein drittes Schreiben richtete mit der Bitte, ihm wenigstens noch die Dinge, die ihr der Knecht aus dem Weißen Roß gegeben, persönlich einhändigen zu dürfen …

Nun klopfte es …

Nück meldete sich …

Ich bin krank! sagte sie an der Thür, rasch ver-347schließend – schaudernd vor dem Manne, bei dem für Bickert – tausend Thaler harrten und der ihr selbst –

Sie wissen – –? sprach schon Nück dringender.

Nichts! Nichts!

Der Pater ist gefangen …

Darauf schwieg sie …

Man führt ihn in sein Kloster zurück …

Doch! doch! sprach sie bebend, aber nur für sich …

Darf ich –? Ich bitte dringend …

Ich bin krank!

Schrieben Sie doch nicht dem Pater? …

Sie schwieg …

Wenn man Ihren Brief mit Beschlag belegt hätte! Oder wie verständigten Sie sich mit ihm? …

Sie athmete auf, wie kein Verdacht vorlag, daß sie selbst zu Sebastus gegangen …

Bestellen Sie die Pferde ab! Sonst nichts! Gute Nacht! sagte sie, sich ermuthigend, und brach kurz ab.

Nück’s murmelnde Stimme hörte sie nicht mehr … auch sein Fortgehen verhallte …

Dann holte sie das verwitterte, nicht zu alte Schreiben, einen langen Brief in lateinischer Sprache, unterzeichnet „Leo Perl“.

Nun verstand sie den Schrecken der Jüdin …

Sie las und las … übersetzte und – stockte endlich …

Um den Brief völlig zu verstehen, mußte sie nach dem Wörterbuche greifen, das ihr Benno gekauft hatte …

Darüber schlug es elf …

348 12.#

In einem der großen, „kaltgründigen“ Zimmer des Kapitelhauses herrschte am folgenden Tage eine feierliche Stille …

Es war im Studirzimmer Bonaventura’s …

Der Abend hatte sich niedergesenkt … Zwei Lichter brannten … In dem großen eisernen Ofen, der von außen geheizt wurde, hörte man das Zulegen neuen Holzes … Nicht Renatens sorgende Hand war es, es war die eines Hausdieners, der zu diesem Amt für die Herren des Kapitels bestellt war.

Auch nicht im Nebenzimmer saß Renate … Der Domherr hatte die alte treue Dienerin gebeten, nach allen schon längst getroffenen Zurüstungen seiner Abreise auf Witoborn, die für die neunte Stunde bestimmt war – sein einfacher Sinn und seine gemessenen Mittel wollten sich mit gewöhnlicher Postgelegenheit begnügen – erst um acht Uhr von einem Geschäft zurückzukommen, das er sie ersuchte, sich außerhalb des Kapitels zu machen. Sie hatte schon lange für Benno’s Abwesenheit sich eine Durchsicht seiner Wäsche, eine gründlichere Anordnung seiner 349 Wohnung vorgenommen; diese vollzog sie, obgleich es Sonntag war, schon von vier Uhr an und gegen acht erst wollte sie zurückkehren …

Bonaventura kannte die Abneigung der alten Frau gegen Lucinden und wollte jeden Conflict vermeiden … Als Lucinde zum zweiten mal geschrieben, verwilligte er ihr, was sie begehrte – Aber nur auf seinem Zimmer konnte er eine Generalbeichte abnehmen … Er rüstete sich zu einem schweren Kampf, zu einer großen Prüfung – An die Seltsamkeit, daß sich auf seinem Zimmer Seelenkämpfe solcher Art ausringen, ist der katholische Priester gewöhnt. Lucinde hatte nicht nöthig gehabt, ihr letztes Mittel zu ergreifen –

Mit der Abenddämmerung war sie in Begleitung des Meßners gekommen … Durch die hohen Fenster mit ihren vielen kleinen Scheiben, durch eine grüne Hecke von Epheuranken, die den Schreibtisch von dem Fenster schied, brachen die blutrothen Strahlen der Sonne, die den ganzen Tag sich nicht hatte sehen lassen und nur am Abend noch einmal sich zeigte zum kurzen Willkomm … Im Ofen prasselten die Flammen, die an der metallenen Wölbung einen singenden Ton gaben … Alles das begleitete die nur bei katholischen Priestern und Aerzten mögliche seltsame Scene, daß eine Liebende zu dem sie verschmähenden Manne ihrer Liebe selbst zu gehen wagt.

Schweigend hatte Bonaventura Lucinden, die verschleiert kam und den Hut nicht abnahm, angedeutet, daß sie sich setzen möchte …

Nach seinem Brevier langte er dann mit zitternder Hand, gab dem Meßner, der sich wieder entfernte, einige 350 geschäftliche Anweisungen und suchte sich durch diese und jene kleine Zurüstung die Sammlung zu geben, die ihm fehlte …

Lucinde schwankte bewußtlos …

Als er sich wandte, sah er, daß sie selbst schon einen Fußschemel ergriffen hatte und auf diesem knieete …

Daß es eine Entscheidung für sein ganzes Leben galt, ahnte er …

Ueber eine Stunde lang verharrte Lucinde in dieser knienden Stellung und lehnte jede Erleichterung ab … Bonaventura saß vor ihr und hörte nur ihrem dumpfen, doch vernehmlichen Gemurmel …

Das obenerwähnte feierliche Schweigen war eingetreten, als die Reihe ihrer Bekenntnisse zu Ende war …

Bonaventura kannte aus der Stadt her, wo er Priester, Lucinde katholisch geworden, eine Menge von Thatsachen, die zu dem Leben der Gesellschafterin der Comtesse Paula gehörten; aber in einer solchen Vollständigkeit wie heute lag das Leben des, wie es schien, von einem unheilbaren Wahn bethörten Mädchens niemals vor ihm … Sie hatte nichts verschwiegen, was sie belasten konnte, nichts, als ihre Liebe zu dem Manne, vor dem sie knieete … Sie war grausam, rücksichtslos gegen sich selbst … Sie klagte sich an, wo selbst andere noch entschuldigten … Alles, was ihr Leben an Widersprüchen bot, leitete sie aus ihrer Todsünde her, die die Kirche „Acedia“, die „Trägheit des Herzens“, die Indifferenz für Liebe und Haß nennt … Sie gab ein Lebensbild von sich, das alles enthielt, was wir wissen. Nur eine einzige große Strömung der Empfindung 351 in ihrem Innern nannte sie nicht, doch war sie ersichtlich aus einem Lebenslauf, von dem sie andeutete, daß er ewig in der Irre gegangen, ein einziges großes Ziel verfehle und rettungslos verloren scheine …

Auch von Klingsohrn gestand sie alles. Sie klagte weder ihn, noch den Kronsyndikus an, nannte überhaupt, was nicht gestattet ist, nicht die Namen, Bonaventura wußte sie aber und ergänzte selbst, was verschwiegen wurde …

Ein seltsames Bild diese Zwiesprache, unglaublich für die, die außerhalb des römischen Lebens stehen!

Ein Mann, vor dem sich ein Weib in Liebe windet, blickte wie ein Gottgesandter streng und sich beherrschend zu ihr nieder. Er sah eine Nachtwandlerin an schwindelnder Klippe dahinwanken, zitterte mit den Gefahren, die von Lucinden nur überwunden wurden durch immer wieder bekannte neue Schuld … er blieb fest und stark.

Von Serlo hatte er noch nie so Ausführliches vernommen, wenn er auch aus frühern Geständnissen wußte, daß er selbst es war, der Lucinden anfangs eine auferstandene Wiederholung desselben erschien … Zwei Jahre des Aufenthalts im orthopädischen Institut wurden erzählt, Jahre der Selbstbildung, aber nur jener „Bildung, die die Kraft geben sollte, Welt und Menschen abzuwehren, zu hassen, zu beherrschen“ … Die Reise nach Kocher, die Erfahrungen in der Dechanei, die Verstellung im Kattendyk’schen Hause … alles bis zu den neuesten Vorgängen, ja den Vorgängen des gestrigen Tages, alles, alles wurde erzählt, nur noch die Rettung durch den unterirdischen Gang verschwiegen, um der lateinischen Urkunde und – ihres Letzten willen …

352 Religiös blieb von beiden Seiten die Färbung des Ganzen, der Ton alles dessen, was gesprochen wurde, ein heiliger …

Ist das Leben, wie die sittlichen Atomisten sagen, eine millionenfach fortgesetzte und ineinander verwundene Kette von Selbsttäuschungen, dann darf es wunder nehmen, wie unser moralisches Scheinleben sich dennoch gleichsam ablösen kann von unserer ersichtlichen körperlichen Hülle. So fließt das Licht der Sonne und des Mondes um die dunkle Erde, so leuchtet der Phosphor an unsern Händen, die ihn nicht fühlen. Zwei Menschen, körperlich vor einander zitternd, bebend vor einer Berührung, wenn zufällig der Saum des Schleiers nur ein Blatt des Breviers streifte – und ihre innerste moralische Welt doch wie ein fast sichtbarer geistiger Aether um sie her und hin und wieder fließend. Diese Worte, diese Geständnisse, diese Accorde wie von einer unsichtbaren Musik sollten nicht in eine Weltordnung den Weg bahnen, wo die millionenfache Täuschung aufhört und der Geist, auch wenn vom Körper getrennt gedacht, wonnigste, seligste Wahrheit bleibt? …

Lucinde hoffte das schon für diese Erde …

Doch – Bonaventura blieb – ein Priester voll Hoheit. Er vertrat die Religion. Er glich einer Kirche, in die man, innerlich noch so weltlich gesinnt, doch äußerlich voll Demuth und zur Ehre des Höchsten eintritt. Auch hörte er im Geiste die Worte, die ihm und dem Mönch Sebastus vor wenigen Monaten der Kirchenfürst von der Milde des Heilands zur Magdalena gelesen …

Daß sich etwas, was liebestollste Zudringlichkeit war, 353 hier in einer Form aussprach, die schon zum Wahnwitz geworden, konnte er nicht verkennen … Er hatte Lucinden im Lauf der von ihr in düsterm Unmuth und wahrhaft schmerzensvoll bekannten Leiden, die sie durch ihre eigene unausgesetzte Thorheit und moralische Hülflosigkeit über sich heraufbeschworen, gebeten – den Hut abzunehmen; sie that es mechanisch und legte den Hut neben sich auf den Fußboden. Ihrem Haar entglitt eine Flechte, die nicht genug befestigt war. Lang und schwer hing diese Haarflechte nieder. Lucinde merkte nichts von diesem Schein der Verwilderung … Die Formen der Kirche kamen ihrer Selbsttäuschung zu Hülfe … Sie wand sich wie Magdalena.

Bonaventura wußte nun: Dies irrselige, schöne Frauenbild bekennt alles das, nur um dich in die Kreise ihres Lebens zu zwingen, von dir Worte der Liebe zu hören, vielleicht – jetzt nur deine Hand küssen zu können und – stumm zu gehen … Sie will jetzt, wo du reisest, nur vielleicht einen Briefwechsel mit dir führen, nur, wenn du wiederkehrst, mit ihren Blicken dich umwerben, mit ihrem Lächeln dich umschmeicheln dürfen … Sie will nur den Stolz vor der Welt haben, daß man sagt: Dieser Geweihte ist ein Heiliger; strauchelte er, so würde er es nur mit jenem Mädchen können, das bei jeder Messe, die er liest, immer an demselben Pfeiler ihm zur Rechten oder Linken sitzt …

Bonaventura wußte, daß er straucheln konnte, wenn Lucinde – Paula war … Jene hatte mehr Geist, mehr Wissen, mehr Thatkraft und – für die Meinung anderer vielleicht selbst mehr Schönheit, als diese …

Doch wirkte Lucinde auf ihn, wie er einst auf einen Scherz 354 Benno’s gesagt hatte, feuermagnetisch. Sie wirkte abstoßend durch Ueberkraft und eine zu große Willensstärke …

Er blieb bei seiner Priesterpflicht.

Aeußerlich wollte Lucinde nur einen Rath haben, wie sie nach einem so geschilderten Leben und innerlich gänzlich zerstörten Dasein nicht die Lust am Leben und an sich selbst verlöre, zur Wahrheit käme, die Lüge und Verstellung miede, sich an fremdem Glück erfreuen, vor allem in der von ihr gewählten Religion wirkliche Beruhigung und Erhebung finden könnte …

Eben die Religion verschleierte alles.

Bonaventura hatte sie zuletzt aufgefordert, sich zu setzen …

Auch das that sie wie Magdalena und stützte das Haupt …

Jetzt fühlte sie die losgegangene Flechte. Sie steckte sie erröthend auf, während Bonaventura die beiden Kerzen anzündete …

Endlich sprach er ihr mit einer Stimme, die auch nur ihm angehören konnte:

Meine verehrte, liebe, theure Freundin! Wie, wie lange kennen wir uns doch nun schon! O, glauben dürfen Sie mir – daß ich oft, oft – wie oft! über Sie nachgedacht, über Sie mit Gott geredet habe! Was Sie mir vielleicht vor einigen Monaten schon sagen wollten – dies Neueste da, der Besuch Ihres frühern Verlobten in Knabenkleidern, nun, das ist eine Waghalsigkeit, die auf Rechnung Ihres abenteuerlichen Sinns kommt, ein Kampf gegen die Obrigkeit, den ich nicht billigen kann, ein Vergehen, das die gute Absicht des Helfenwollens entschuldigt – Ihre wahren 355 innern Peinen erfahre ich erst jetzt. Und daß Sie jenes Neueste hinzufügten, das nehm’ ich für einen Beweis Ihres Vertrauens zum Priesterthum. Sie vermissen, sagen Sie, eine Reinigung und Heiligung Ihres ganzen Seins und Lebens. Das ist ein schönes, ernstes, für Ihre ganze Zukunft entscheidendes Wort! … Die Fehler Ihrer ersten Jugend will ich nicht rügen. Sie haben die Liebe nicht gekannt. Sie haben sie von andern nicht erfahren; ich rüge nicht, daß Sie sie auch nicht erwiderten. Auch Ihren mächtigen Ehrgeiz will ich nicht tadeln. Es war vielleicht der Trieb nur des Wachsthums zum Bedeutenderen. Daß ein Baum gen Himmel anstrebt, ist ein Preis Gottes, kein Preis seiner selbst. Ein armes Mädchen vom Lande gingen Sie durch eine seltene Schule der Erfahrung, die Ihnen bald weh that, bald schmeichelte. Immer wollten Sie mehr sein, als was das Geschick Ihnen zu sein anmuthete; Sie rangen sich gewaltsam auch vielleicht deshalb empor, weil Sie einen Trieb hatten, geistig mit sich zufriedener zu sein, als dies mit sich Tausende von Menschen sind. Die Fähigkeit, einen Klingsohr glücklich zu machen oder gar zu erziehen, konnten Sie damals nicht besitzen. Auch Ihr Leiden mit Serlo, Ihre Demüthigung, als Sie die Bühne betreten wollten, waren Sühnopfer für manche Schuld der Uebereilung, für manche Herzlosigkeit und Eitelkeit. Als Sie dann den Uebertritt zu unserer Kirche vollzogen, da begann vorzugsweise Ihr innerster Bruch. Immer schon mußte ich tadeln, daß Sie diesen Schritt nicht aus innerm Bedürfniß thaten … Richtiger, Sie thaten ihn aus Bedürfniß, doch machten Sie sich über die Mahnung Ihres 356 innersten Herzens, über dies Gebot Ihres guten Genius, der Ihnen bei diesem Schritt zur Seite stand, kein Geständniß. Nun schwanken Sie zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Religion und Unglaube, ja sogar zwischen dem Guten und dem Bösen – Ihre Natur, fürcht’ ich und sprech’ es offen aus, wird Sie niederwärts ziehen, wenn Sie sich nicht mit einer gewaltigen Gegenmacht rüsten! Andere (Bonaventura dachte an die Scene beim Kirchenfürsten), andere würden Ihnen rathen, Ihrem Geiste zu mistrauen. Das will ich nicht. Es wäre ja entsetzlich, wenn dem Geiste sich nicht das Gute gesellen könnte. Eines aber möcht’ ich Sie fragen – und ich fasse damit, glaub’ ich, Ihren ganzen Zustand zusammen – : haben Sie sich je vergegenwärtigt, was die Kirche mit so mancher ihrer großen und uns gerade von andern Religionen unterscheidenden Lehren sagen will, zum vorzüglichen und Ihnen insbesondere zweckdienlichen Beispiel erwähn’ ich – unsern Mariencultus?

Lucinde war von dem Ton dieser innigen Rede wonnig durchrieselt. Den Sinn der Worte behielt sie nicht, nur ihren Klang. Erst bei Erwähnung des Mariencultus stutzte sie. Sie gedachte des noch rückständigen Bekenntnisses ihrer Wanderung durch den unterirdischen Gang und des von Picard empfangenen Auftrags … Das Marienbild am unterirdischen Kreuzweg stand wie mahnend vor ihrer Seele …

Sie kennen die Lauretanische Litanei? fuhr Bonaventura voll Gelassenheit fort, still zu seinen guten Genien betend …

Die Lauretanische Litanei! dachte sie und plötzlich 357 fuhr durch ihr Innerstes ein Streiflicht ihrer Doppelnatur. Die Gottesmutter hat in dieser Litanei Bezeichnungen, als da sind „Gefäß der Andacht“, „geistliche Rose“, „elfenbeinerner Thurm“, „goldenes Haus“, „Arche des Bundes“. Heute in der Frühe, als noch Bonaventura’s Ja! nicht gekommen war und sie in die Messe stürmte, wo eben die Lauretanische Litanei gesprochen wurde, hatte sie sich in ihrer aufgeregten, gottfeindlichen Stimmung gesagt: Namen sind das ja, wie das Verzeichniß zu einer Auction oder als säh’ ich die Fenster der Trödler in Seligmann’s Rumpelgasse!

Die seligste Jungfrau, fuhr Bonaventura in Sanftmuth fort, die Ihr früheres protestantisches Bekenntniß nur in ihrer Menschennatur kennt, nennt die Litanei unter anderm die mystische Rose. Mag sie von denen, die sie als solche sehen mögen, in dieser Eigenschaft als ein liebliches Symbol alles Unaussprechlichen verehrt werden, Ihnen gegenüber ziehe ich eine andere Bezeichnung aus dieser Litanei vor, daß uns die heilige Frau – ein Spiegel sein solle. Gerade Sie möcht’ ich fragen: Wie ist Ihnen das nur? Wenn Sie nach einem solchen Leben, wie Sie es mir geschildert haben, jetzt an Maria denken, zu dieser aufblicken, sich mit dieser ganz einig, ganz verbunden, ganz Freundin zu sein wünschen, was empfinden Sie da?

Lucinde blickte im Geist auf das kleine, in unterirdischer Einsamkeit stehende Muttergottesbild – und mußte schweigen …

Maria, fuhr Bonaventura fort, mag Ihnen in Ihrer menschlichen Gestalt erscheinen, wie sie will; die Evan-358gelisten haben nichts verschwiegen, was die Vernunftkritik gegen sie deuten kann. Halten Sie sich aber an das, was Maria durch das Christenthum erst selbst geworden ist, wie denn überhaupt die Tradition und das lebendig fortwirkende Leben innerhalb der christlichen Gemeinschaft eine der immer frisch zuströmenden Quellen unseres Glaubens ist. Maria wurde schon der allerersten christlichen Zeit eine Mutter, so groß, so verklärt, daß sie ohne Sünde empfing, die Verehrung vor der Frauenreinheit Mariä wird noch dahin kommen, daß die Kirche dem Verlangen nicht widersteht, sogar von ihr zu sagen, daß sie selbst ohne Sünde empfangen wurde. Das sind Dogmen des Bedürfnisses, Dogmen der Huldigung und der nicht versiegenden Liebesströme innerhalb unserer kirchlichen Gemeinschaft selbst. Wir wissen, wer die heilige Anna, die Mutter Maria’s war, wir kennen die Schleier, die auf ihrer Verbindung mit dem heiligen Joseph ruhen; aber alles das schwindet gegen das, was Maria in den wilden Geburten der Geschichte wurde. In der Barbarei der Zeiten! In der rohen Entwürdigung der Frauen! Immer schwebte sie da in den Lüften als ein unentweihtes Symbol des Frauenthums. Der glühende Spanier und Provençale mag sie wie eine Geliebte verehrt haben, der Slawe wie eine Mutter, der Germane vielleicht am kühlsten nur wie eine Schwester: immer war es Maria, die die Wildheit zähmte und der Leidenschaft die tödliche Waffe aus der Hand schmeichelte. Die Civilisation der Sitten ist durch sie gewonnen und erhalten worden. Und erst in unserer Zeit! Der Mariencultus ist nicht mehr die Bürgschaft der mildern Sitten; jetzt ist er der lebendig gewordene reine weibliche, 359 sittliche Sinn. Gerade die Reinheit Mariä zu verehren drängt es diese unreine Zeit, die Zeit der Frivolität, der Emancipation von der Sitte, die Zeit des fast ins Allgemeine mitwirkend und mitstimmend aufgenommenen Frauenberufes, die Zeit der Nivellirung der Familie und Erziehung. Und nun, nun frag’ ich Sie: Finden Sie den Weg zwischen Ihrem Innern und diesem Frauenbilde, das Sie ja in jeder Kirche sehen können, ganz frei und ungehindert? Fühlen Sie sich so, daß Sie den ob milden, ob strengen, immer sittlich reinen Blick unserer Himmelskönigin nicht zu fürchten brauchen? Können Sie, als Weib, als Jungfrau, zur Mutter mit dem Kinde aufblicken und sagen: Das Leben hat mich viel umgetrieben, ich war mancherlei und erlebte noch mehr, aber du, du kannst nichts gegen mich haben! Du würdest mich nicht aus deinem himmlischen Hofstaat verweisen! Ich füge hinzu, liebe Freundin, ich fand immer, daß die Frauen voneinander mehr wissen, als wir Männer. Untereinander beurtheilen sie sich strenger, als wir ahnen. Sie durchschauen die weibliche Eitelkeit und Koketterie leichter als wir. Sie lassen sich nichts ungerügt hingehen, dulden keine Verschönerung und Ausschmückung, die wir Männer, geblendet vom Frauenreiz, immer noch in Bereitschaft haben. Jeder Blick einer Frau, die ihr Geschlecht beurtheilt, sagt: Was wir Frauen uns sein müssen, das wissen wir schon! … Und so denn also – im Chor der seligen Jungfrauen denken Sie sich die Königin des Himmels und prüfen Sie sich, was die Allerseligste sagen würde, wenn unter Tausenden nun auch Sie zu ihr hinträten und sie bäten, in ihrem Hofstaat eine Ehrenstelle im weißen Kleide erhal-360ten zu dürfen, eine Ehrenstelle durch die Reinheit des Herzens, die wahre, geistige Schönheit, die Lauterkeit des Gemüths! Können Sie ein solches Bild der allerseligsten Jungfrau festhalten? Können Sie, rückblickend auf Ihr ganzes Leben, von sich sagen: Maria! Mit dir bin ich einverstanden! Maria! Du bist es mit mir! Maria hat nichts gegen mich?

Lucinde, von Bonaventura geführt wie ein Kind, schlug ihre Augen anfangs nieder. Jetzt schlug sie sie auf, als suchte sie das von ihm geschilderte Bild an den – bunten Stuccaturen der Decke des Zimmers …

Ihre Augen leuchteten … aber – wie mit irrem Stern …

Sie schüttelte ihr Haupt …

Was trennt Sie von diesem Bilde? fragte Bonaventura mit gesteigerter Innigkeit und eher wie gewonnen durch diese aufrichtige Verneinung, als abgestoßen. Liegt nicht Ihr ganzer neuer Glaube in ihm? Liegt nicht Demuth, Unschuld, Entsagung, jede weibliche Tugend und Ehrlichkeit in diesem Bilde?

Als wenn die Luft, die Lucinde gestern bei einem solchen Bilde geathmet hatte, wieder sie zu ersticken drohte, stand sie auf, machte einige Schritte und sagte, sich wieder setzend:

Was ich von Maria sehe, ist alles starr und todt und wie von Stein!

Blicken Sie das Bild nur lange, lange an! bat Bonaventura im liebevollsten Ton. Es wird sich beleben! Es wird sprechen, es wird der Sammelpunkt Ihres ganzen Menschen werden! Geht es nicht, steht etwas dazwischen, so werden Sie nichts mehr thun wollen, was 361 nicht auch diesem Bilde gefiele! Sie werden sich vor ihm eine Magd erscheinen, selbst wenn Sie eine Krone trügen! Sie werden Ihren Geist unterdrücken, wo nur Ihr Herz nöthig ist! Sie werden, sogar leidend, sich nicht mit andern in stolze Vergleichung bringen! Und will es so nicht gehen, wie Sie es gern im Leben möchten, immer vergegenwärtigt Maria, was ein Weib erfahren, was ein Weib überwinden muß, ohne sich zu rächen! Sie vergibt! O sie vergibt auch Ihnen vieles, denn sie kennt die Schwäche des Weibes; aber sie vergibt nicht alles. Sie würde nicht jede Ihrer Bitten am Throne ihres Sohnes auszusprechen übernehmen. Sie besitzt die Schwäche einer Mutter, sie kann von dem Kind ihrer Liebe Fehltritt über Fehltritt vernehmen und vergibt ihm; aber in vielen, vielen Dingen verlangt sie eine unbedingte Unterwerfung und ich glaube, dies ganze, ich sage nicht mystische, sondern einem Spiegel gleichende Verhältniß zwischen Maria und einem weiblichen Herzen – ich glaube, Sie kennen es nicht und darin, darin liegt Ihr ganzes Unglück!

Dumpf vor sich hin sprach Lucinde einen Einwand … Bonaventura kannte die Berechtigung dieses Einwandes aus seinem eigenen Leben und empfand ihn jetzt noch mehr, seitdem ihm so nahe bevorstand seine Mutter wiederzusehen … Warum sagte nur Jesus: Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen? hatte Lucinde gemurmelt …

Bonaventura erwiderte:

Maria ist keineswegs die letzte Richterin über unsere Seele! Sie ist nur eine Vorstufe zum Gottesthron und allerdings die ihm nächste! Aber ich glaube nicht, daß die 362 Seele jedes Mannes an ihr Urtheil verwiesen ist; sie richtet auch nicht, sie bittet nur. Nur möcht’ ich wiederholt wissen: Sind die Sünden und Irrthümer, die Sie mir heute gebeichtet, die eines weiblichen Herzens, das mit der allerseligsten Jungfrau einen innigen Freundschaftsbund schloß? Mir scheint es, daß Sie vorzugsweise Eine reine, wahre Freundschaft schließen sollten, diese mit unserer Mutter Maria! Welch ein unschuldiger, edler, froher Sinn würde Sie plötzlich heiligen! „Maria stand auf, ging eilends über das Gebirge in das Haus des Zacharias und grüßete Elisabeth“ … so steht in der Schrift –

Und sich unterbrechend erhob sich Bonaventura wie in innigster Freudigkeit rasch, schlug den Vorhang von einem Büchergestell zurück, suchte eine kurze Weile nach einem Buch, fand es, kam wieder, schlug es auf, blätterte und las eine schnell gefundene kurze Erläuterung über den Gruß Mariens an Elisabeth, über den Gruß der Jugend an eine Matrone, über den Inhalt der Rede, die Maria wol Elisabeth gegenüber gehalten haben mochte, über die Darbringung solcher Empfindungen und Seelenstimmungen, die ihr dafür das Wort der greisen Gönnerin eintragen konnten: „Du bist gebenedeiet unter den Weibern!“ Bonaventura las diese Betrachtung aus einer Blumenlese geistlicher Erweckungen und wollte keine Erbauung. Er wollte Lucindens Geist anregen, nicht blos ihr Herz. Er wollte ihr die sittliche Schönheit als das Ziel auch einer reinen Phantasie hinstellen … In wärmsten Worten schilderte er den Zustand dieses „Gebenedeiten am Weibe“. Ueberall würde eine Gebenedeite freundlich empfangen, überall wie 363 der kommende Mai begrüßt; in jeden Streit brächte sie Friede, in jedes Leid Trost; ihre Schritte wären gesegnet; wo sie hinträte und wär’ es in der Wüste, blühte eine Blume auf – wie die Jerichorose unter den Füßen Maria’s, als sie mit dem Kinde gen Aegypten floh …

So deutete Bonaventura die „Jerichorose“ …

Dann ertheilte er Lucinden einige leichte Bußübungen, ließ sie knieend seinen Segen empfangen und wollte nun von ihr Abschied nehmen …

Lucinde stand zwar auf, zog ihren Shawl über die Schultern, hatte sich ihren Hut wieder aufgesetzt, schickte sich an zu gehen … sie war jedoch – wie gebannt …

Die Glocken der Kathedrale läuteten zu einem Kirchenfest … Schon sechs Uhr schlug es …

Wie sie schon nahe der Thür sich befand, die unmittelbar in den Corridor führte, stand sie plötzlich still …

Bonaventura trat hinzu. Er glaubte zu sehen, daß sie sich entfärbte …

Was ist Ihnen? fragte er …

Lucinde erwiderte nichts, doch hielt sie sich an der Epheulaube …

Bonaventura glaubte, daß ihr unwohl war und ging an einen am Fenster stehenden Tisch, auf dem Wasser stand …

Sie winkte ablehnend und starrte in die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit zum Fenster hinaus …

Bonaventura sah, daß sie von seiner Rede, seinem Zuspruch nicht befriedigt war, daß sie etwas vorhatte und mit sich kämpfte. Doch mied er die Saiten des Seelischen und des Gemüthes noch einmal wieder anzuschlagen. Er 364 sprach beruhigend von der Lebhaftigkeit der Gegend draußen und stand, als wollte er eines der Lichter ergreifen und ihr auf den Corridor leuchten …

Sie reisen nach Witoborn? begann Lucinde, schon über diese Andeutung, als fürchtete sie vielleicht nur die Dunkelheit draußen, gereizt …

Noch heute! … erwiderte Bonaventura, sichtlich befangen durch ein Wort weitern Gespräches, das nicht durch sein Amt veranlaßt wurde …

Lucinde sah diese Förmlichkeit, diese plötzliche Kälte und hauchte:

Schon so bald!

Dabei blieb sie vor dem Epheu stehen und pflückte gedankenvoll ein einzelnes welkes Blatt ab …

Wer hätte an dieser Handlung erkennen mögen, daß sich die ganze seit Monaten angesammelte Fülle der Spannung wieder auf ihre Brust wie riesig anstemmte und in irgendeiner Weise helfen wollte; sie hatte die Befriedigung des Gemüths nicht so gefunden, wie sie gehofft … Sie wollte und hoffte nur – – ihre Liebe …

In einigen Stunden … sagte Bonaventura, jetzt sogar drängend …

Dieser sein plötzlich immer kälterer Ton reizte sie mehr und mehr und schon war es nur ein Hauch, mit dem die erstickte Stimme sprach:

Grüßen Sie – Gräfin Paula! …

Bonaventura antwortete durch ein äußeres Zeichen …

Lucinde fuhr fort, wie bewußtlos in dem Epheu nach welken Blättern zu suchen … Da sie deren nicht zu viele fand, brach sie auch schon die grünen ab …

365 In Bonaventura’s Innerm drängte sich jetzt Unmuth, sogar eine Aufwallung des Zorns, doch suchte er nach Geduld und Selbstbeherrschung …

Paula’s Sehergabe soll Wunder wirken! fuhr Lucinde fort, zitternd und nicht von der Stelle könnend … Ich wünschte wohl, Sie frügen sie, was für mich – noch alles in den Sternen steht!

Das würd’ ich die Sterne der eigenen Brust fragen! sagte Bonaventura lächelnd und machte Miene, um Schonung seines Epheus zu bitten … Schon das längere Verweilen Lucindens verdroß ihn …

Sie merkte nichts von dem, was sie that … Sie brach Blatt um Blatt, zerknitterte das Gebrochene, warf es weg … sie war im Geiste bald in der Ebene von Witoborn … bald gedachte sie des Picard’schen Auftrags, das Schreiben Leo Perl’s abzugeben …

Grüßen Sie Herrn von Asselyn, Ihren Vetter Benno! sagte sie – wie spottweise – und nur um zu sprechen und sich zu sammeln …

Bonaventura versprach die Ausrichtung dieses Grußes und ging von dem Tisch, wo er gestanden. Er machte in der That Miene, sich mit höflicher Neigung des Hauptes in sein Nebenzimmer zurückzuziehen …

Lucinde machte sich durch Scherze Muth zum Bleiben und gefiel sich darin, durch das Zerrupfen des Epheus auch die ihr wohlbekannte – Pedanterie der katholischen Geistlichen, die überhaupt mit den Jahren jede ehelose Lebensweise annimmt, schon an diesem jungen Mann zu reizen … Schon in St.-Wolfgang hatte sie ihn ja im Geist früh vergrämeln und verzärteln gesehen …

366 Er soll sich hüten, sagte sie, Armgart nicht zu schwesterlich zu lieben! Das kann dann im Ernst so kommen! Auch Frau von Hülleshoven, ihre Mutter, könnte Armgart zuvorkommen, einen gewissen Herrn von Terschka zu wählen …

Bonaventura hörte schon nicht mehr. Seine Entrüstung nahm immermehr zu und auch sein Kampf; denn jedes Wort, das Lucinde sprach, war ersichtlich nur eine Verschleierung der Rede: Du Thor, warum umschlingt mich nun nicht dein Arm? Warum lässest du mich nun jetzt so hingehen, wie ich gekommen bin?! Voll Seligkeit läg’ ich – trotz Mariens – in deinen Armen …

Herr von Terschka, fuhr sie den Epheu zerzupfend fort, nimmt jede Religion an, die die schöne junge Frau mit ihren koketten Locken von ihm verlangt! Aber sie hätte die Conversion gar nicht nöthig! Wär’ ich in Rom und flüsterte – nur zwei Worte – mit den Cardinälen der Sacra Dotaria, sie sollte ohne weiteres geschieden werden! …

Warum scherzen Sie über so ernste Dinge! fragte Bonaventura verdrossen – doch staunend …

Kein Scherz! … Ich lernte neulich die Frau kennen! Ihre Seele ist aus heißer Luft gewoben! … Wer möchte glauben, daß auf der Heide von Witoborn solche Blumen wachsen! … Sie kennen ja dies Geschlecht mit dem ewig gleichen Perpendikel des Herzens! … Ein Schlag wie der andere! Bim – bam! … Es ist ja wahr – auch – Ihre Heimat ist’s!

Bonaventura sah Lucinden ganz so wieder, wie sie sonst und noch zuletzt in seinem Pfarrhause gewesen war …

367 Das muß ich doch noch sagen, ich liebe nur den katholischen Glauben, wenn er die Seele zum Muthe entflammt! fuhr sie in einer Aufregung, die sie nun nicht mehr bemeistern konnte, fort … ich liebe ihn, wenn er die Menschen aus der Gewöhnlichkeit erhebt und ihnen Flügel gibt! Dort?! Dort – ist wirklich alles nur Aberglaube und so vieles, so vieles – auch hier –

Bonaventura, seine vorhergegangene tief vom Herzen gekommene Ansprache verhöhnt, kalt abgewiesen fühlend, athmete hörbar vor immermehr zunehmender Entrüstung …

Schon war Lucindens ganze Hand voll grüner abgerissener Epheublätter …

Sie werden auch Schloß Neuhof sehen? sprach sie, noch wie harmlos, aber doch, da sie nun gehen mußte, aller Fassung beraubt …

Ohne Zweifel! sagte Bonaventura kalt …

Auch den Kronsyndikus? …

Man erwartet seine Auflösung …

Das bedaure ich! … Ich wünschte, Sie frügen ihn nach seiner zweiten Frau, die noch in Rom leben soll … Und ob – die alten – Stammers – wol noch im Parke hausen? – Und Bruder Hubertus – werden Sie – sehen – auch Klingsohr –

Nicht unmöglich …

Wenn ich einmal Paula im magnetischen Schlafe sähe, wollte ich sie etwas fragen – Aber es ist ja wahr – Immer, wenn ich an ihr Lager trat, wissen Sie wol noch, hörte – die Posse auf …

Bonaventura stand auf glühenden Kohlen …

Nur einmal glaubt’ ich selbst, daß sie im Traum 368 wahr sprechen konnte … Einmal! … Am Tage Ihrer Weihe! Warum aber auch – thaten Sie ihr das!

Der bitterste, schrillste, ja ein frecher Hohn war es, mit dem Lucinde diese Worte sprach …

Und Bonaventura nahm die Kriegserklärung auf …

Er ergriff das Licht, ging an die Thür, die zum Corridor führte, und machte die Miene, als wollt’ er ihr ruhig hinausleuchten …

Jetzt blieb Lucinde stehen und verwüstete erst recht den Epheu …

Schonen Sie diese unschuldigen Blätter! rief er …

Lucinde ließ alle Blätter, die sie gerade in der Hand hatte, zu Boden sinken und suchte Bonaventura’s Auge …

Der Priester versuchte ihren Blick auszuhalten …

Sie starrte ihn an wie die Walkyre …

Er – stellte den Leuchter auf den Tisch zurück, um sich aus ihrer Nähe entfernen zu können und ins Nebenzimmer zu gehen. Die Augen niederschlagend und sich den letzten, entscheidenden Rest von Selbstbeherrschung gebend, den er solcher Herzenshärtigkeit gegenüber noch besaß, hauchte er an der Thür des andern Zimmers mit erstickter, aber deutlicher Stimme:

Fräulein! Da ich so wenig über Ihren unglückseligen Sinn vermag, so möcht’ ich ein für allemal gebeten haben – Sie suchen sich für jeden künftigen Fall Ihres – Beichtbedürfnisses einen – andern Freund Ihrer Seele –!

Eine kurze tödliche Pause folgte auf dies sich im Sprechen mildernde, aber doch mit dem entschlossensten Aufdrücken der Nebenthür endende kategorische Ersuchen, 369 nie wiederzukommen und sich für immer einen andern Beichtvater zu wählen.

Lucinde verstand das tödlich entscheidende Wort.

Bald auch machte sich ihr Seelenzustand in einem furchtbaren Ausbruch Luft …

Kein Lachen stieß sie aus, auch kein Weinen …

Es war ein Ton, der sich ihr, wie sie an der Thür stand, vom Herzen losriß, ohrzerreißend, von Lachen und Weinen eine Mischung, unerhört für den Priester, der wie in Betäubung stand und sich bei alledem sagte: Jetzt oder nie! Es muß ein Ende sein! …

Nie von ihm gesehen war auch das, was er jetzt sehen mußte …

Lucinde lag plötzlich am Boden, hingestreckt wie eine Leiche … dicht an der Thürschwelle lag sie wie leblos … völlig starr … beide Arme lagen zu ihren Häupten weit ausgestreckt, ihr ganzer Körper war wie gelähmt …

Erst wollte der zum Tod Erschrockene sich dennoch entfernen …

Dann mußte er bleiben … Der Gedanke, daß Lucinde an einem plötzlichen Krampf erstickt wäre, erfüllte ihn mit Entsetzen …

Er beugte sich zu ihr nieder, rief sie an … ergriff ihren rechten Arm, der wie gefühllos hing … der Hut lag im Nacken, der Shawl war ihr von ihren Schultern geglitten … kein Glied mehr bewegte sich …

Erst als Bonaventura sich erhob, an den Tisch eilte, auf dem das Wasser stand, sein ganzes Taschentuch eingetaucht hatte und zurückkehrte, um ihr die Stirn und Schläfe zu befeuchten, regte sie sich und suchte aufzustehen …

370 Sie lehnte dabei seine Hülfe ab, drückte ihren Hut fest und in die Worte der Bestürzung, die er sprach, hinein erhob sie ihre Stimme, faltete die Hände, blieb in ihrer knieenden Stellung und rief:

Maria! … Ich wage es doch, dich anzublicken! … Gib mir Kraft, mein Loos zu tragen, wie du das deinige ertrugst! … Sieben Schwerter durchbohrten deine Mutterbrust und du sahst doch noch die Herrlichkeit deines Sohnes! …

Dann sprang sie auf, riß ihren Hut herab, stand wie wahnsinnig, erhob den Arm und flüsterte fast heiser:

Auch ich werde sie sehen! Gott hat die Zukunft meiner Liebe, das Glück und die Lebensruhe des grausamsten aller Menschen in meine Hand gegeben! …

Dabei bebten durch die blendenden Zähne hindurch die von ihr wiederholten Worte Bonaventura’s:

„Einen andern Freund Ihrer Seele!“

Vielleicht würde Bonaventura in einem Versuch der Aussöhnung von Lucinden geschieden sein, wenn ihn die räthselhaften Worte, die sie sprach, nicht aufs neue erschreckt, der furchtbar betonte Sinn der Drohung, der in ihnen lag, nicht befremdet hätte …

Ja, sagte sie wie geisterhaft zu dem sie Anstarrenden; das hat Gott in meine Hand gegeben! Wie Ihr Schatten werde ich Ihnen durch Ihr Leben folgen – Herr – von Asselyn!

Wahnsinnige! rief Bonaventura aufs neue ermuthigt …

Ja, setzte sie fast lachend ihre Rede fort, ich bin die Ursache, daß das Grab erbrochen wurde, in dem der letzte Begleiter Ihres Vaters bestattet war …

371 Bonaventura horchte auf und starrte dieser neuen Gedankenreihe …

Ich, ich kenne den Verbrecher! Ich, ich besitze, was er im Sarge gefunden hat!

Sie – Sie besitzen – was ich seit jener Stunde –?

Keine Verletzung der Beichte! unterbrach sie bitter höhnend … Ich kenne den Verbrecher ohne Ihre Andeutung! Mir gab er, Ihnen das Gefundene einzuhändigen. Der Muth des Mannes regt sich in Ihnen? Sie glauben, mir das Geheimniß entreißen zu können? Suchen Sie! Mit allen Häschern der Erde … Sie finden Ihr Lebensgeheimniß nicht … das halte ich!

Bonaventura, in äußerster Verwirrung, sprach fast zitternd durcheinander:

Ich kenne – den Haß – dessen Sie fähig sind … aber Sie dürfen beruhigt sein … durch die Gerichte werd’ ich ihn nicht nähren …

Schmeicheln Sie? Wandeln Sie dahin, wohin Sie Ihr Geschick ruft! In die Thäler, auf die Berge! Lassen Sie die Mitra auf Ihr Haupt setzen, wie Paula prophezeite – ich habe das Geheimniß, Sie in jeder Stunde des Tages, in jeder der Nacht – an mich zu erinnern!

Ich fürchte dich nicht! Dämon! Was könntest du besitzen?

Ein Bekenntniß!

Von meinem Vater? Er ist die Liebe selbst!

Nicht von Ihrem Vater!

Von meinen Angehörigen? … Meiner Mutter?

Nicht von Ihrer Mutter!

Die Ehre meines Namens befleckt kein Bekenntniß der Erde!

372 Die Ehre Ihres Namens!

Die Ehre eines Angehörigen? Ha, meines Vetters Benno?

Lucinde stockte, dann sprach sie:

Auch das nicht!

Lucinde! Ich habe Sie zu allen Zeiten einen Teufel nennen hören! Sind Sie denn wirklich ein Geist der Hölle –?

Ein Mann im rothen Haare saß in Ihrem Beichtstuhl! antwortete sie kalt dem fast bittenden Tone … Er bekannte Ihnen, daß er eine Schrift in lateinischer Sprache gefunden … Fürchten Sie nicht, daß ich die Hülfe eines andern in Anspruch zu nehmen hatte, um sie zu entziffern – Ich erzählte Ihnen ja heute, von wem ich alles – Latein gelernt!

In ihrer Stimme zitterte fast eine Thräne …

Betrifft die Schrift – –? fragte der Gefolterte. Aber er wußte selbst nicht mehr, in welchen Verhältnissen er forschen sollte. Dunkel war ihm ja nur außer dem Tode seines Vaters – eine, eine geheime Stelle in seinem Innern – sein Beruf –!

Nichts betrifft die Schrift, was Sie hindern kann, alle Prophezeiungen von Westerhof wahr zu machen! fuhr Lucinde fort und faßte sich allmählich. Werden Sie Bischof, Erzbischof, setzen Sie sich die dreifache Krone aufs Haupt –! Ein Wort von mir entwerthet Ihr Dasein! Ein Wort von mir nimmt Ihrem Segen die Kraft! Ein Wort von mir, und was Sie blühend glauben, muß verwelken, was Sie für die Ewigkeit geschaffen wähnen, muß untergehen!

Wahnsinn! Wahnsinn! rief Bonaventura außer sich …

Dann sprechen Sie das Wesen Ihrer Kirche aus … erwiderte sie und wollte gehen …

373 Ihrer – unserer – Kirche!? … Die Urkunde hängt mit meinem Glauben zusammen?

Unserm Glauben! …

Mit der Wahrheit – dieses Glaubens?

Mit dem ganzen – ganzen Bau der Kirche!

Ein Hohnlachen schien ringsum von den Wänden widerzuhallen …

Bonaventura wandte sich, um sein Bewußtsein nicht zu verlieren … Die Stirne brannte ihm … Die zitternde Hand fuhr über die düstern Furchen hin und wischte die Vorstellungen ab, die sich auf ihr wie leibhaft zu sammeln schienen … Schon wieder die kaum beruhigte Seele in Aufruhr versetzt? Schon wieder eine Mahnung des Zweifels? … Wieder das Herz im Tumult wie damals, als der räthselhafte Brief aus Italien gekommen, der ihm von Fehlern der Kirche, von Huß, Savonarola, Arnold von Brescia gesprochen?

Und wie er sich wandte, um in Güte mit Lucinden sich zu verständigen, sogar sein hartes Wort: Sie sollten sich einen andern Beichtvater suchen! vielleicht zu mildern, mehrte sich sein Entsetzen …

Lucinde war verschwunden …

Die Stelle, wo sie noch eben wie eine Botin der Hölle gestanden, war leer.

Das Auf- und Zugehen der Thür, nichts hatte er in seinem Schrecken und der tiefsten Verlorenheit in sich selbst vernommen … Sie war nicht da.

Selbst, als er die Thür aufriß und in die hellerleuchteten Corridore blickte, fand er nirgends eine Spur mehr …

Nun war alles wie ein Traum.

Seine Geister rasten …

374 Wahnsinniger! riefen sie ihm … Was trotzest du mit deiner Tugend? Was mordest du dich und andere? Trittst Blüten der Menschlichkeit mit Füßen und gewinnst nur blutige Dornen dafür? Bist du nicht ein Thor mit deinem entsagenden Herzen! Lügst du nicht selbst, indem du einem Mädchen, das dich liebt, doch nur – um einer andern Liebe willen kalt bist, die, verboten wie sie ist, doch in deinem Herzen thront? Thor, der du den erquickenden, berauschenden Trank der Leidenschaft nicht zu kosten wagst! Wagst? Ha, ein Schatten, ein Schatten bist du, ein Spiel der Täuschung! Ein Gedankenschemen ohne Wahrheit! Ein mit bunten Kleidern behängtes Nichts! Ein Mensch ohne Leben, ohne Zeugniß für den Schöpfer, der dir den Athem seines eigenen zeugungskräftigen Daseins in die Seele blies! … O, wäre sie geblieben, riefen die Leidenschaften in ihm fort und fort, eine Secunde noch, vielleicht wäre die Maske gefallen und das Spiel, das erheuchelte, zu Ende gewesen! Der Welt hätt’ ich, und wenn im Arme eines Teufels, gerufen: Unmöglich, unmöglich ist die Kirche, weil das Priesterthum unmöglich ist!

Zwischen dieser rasenden Nachwirkung einer in Liebe und Haß so gleichbestrickenden Frauenleidenschaft jammerte es tief wehmuthsvoll in ihm: Was kann sie von dir besitzen? Was wissen? Von deinem Vater? Von uns allen –?

Noch kämpfte es in seinem Innern, als schon manche Mahnung wieder an seinen Beruf sich ihm näherte, manches Wort von ihm mechanisch gesprochen werden mußte, Renate kam, plauderte und ihm Fragen stellte, die er beantwortete, ohne zu wissen wie …

Dann sah er den Hauswart, sah seine Koffer holen und in den Wagen tragen, mit dem er zur Post fahren wollte …

375 Abschied nahm er von Renaten, von seinem Zimmer, von seinen Büchern, von seinem zerstörten Epheu, dessen zerrissene Blätter wie seine Ideale lagen …

Im Hof fand er den Wagen, in den er einstieg, geschmückt mit bunten Kränzen, hoch den Sitz mit Blumen belegt …

Er sah Männer mit Fackeln, die ihm Abschied sprachen, Frauen, die mit den Taschentüchern winkten und wehten …

Als der Wagen durch das große Portal fahren wollte, umringte ihn ein Chor von Knaben, die ihn mit einem Lobgesang begrüßten …

Er erkannte die Kattendyks, seine Beichtkinder, auch Treudchen Ley, sogar im Scheine hochgehaltener vierflammiger Kirchenlaternen einen kleinen Mann, schwarz und weiß angethan, Herrn Jean Baptiste Maria Schnuphase, der eine feurige Rede hielt …

Auch die Frau in silbernen Locken schien ihm an einem Pfeiler zu stehen und sinnend und träumerisch ihm nachzublicken …

Ringsum öffneten sich die Fenster im Hofe und die sonst so grämlichen alten Bewohner des Hauses – ihm waren sie freundlich, ihm lächelten sie Abschied und frohes Wiedersehen! – denn, wie Klingsohr gesagt hatte, „die göttinger Ritter des Guelphenordens fühlten die Transfusion des jungen Blutes in ihren Adern“ …

Der junge Domherr, leichenblaß, sprach der zahlreich versammelten Menge Worte des Dankes, Worte der Wehmuth …

Was er sprach, sprechen konnte, stand mit dem Schmerz des Abschieds im Einklang …

376 So kam er grüßend, handwinkend auf die Post, wo er von allen Blumen nur einen kleinen Strauß zurückbehielt und ihn in den engen Postomnibus mitnahm, der nun erst wieder auf das kleine Stückchen schon benutzter Eisenbahn fuhr …

Unmittelbar mit eigenem Fuhrwerk zur Eisenbahn zu fahren, war keinem gestattet, der mit der Post später weiter wollte. Im Posthof mußte man sich sammeln und dort wurden die Namen aufgerufen … So war das Ghibellinenthum. Präcis, höchst geordnet, ganz nach dem militärischen Geiste Grützmacher’s und Schulzendorf’s und wie Thiebold de Jonge bei den Freunden Piter’s berichtet hatte, der Generalpostmeister (Bundestagsgesandter) sprach einst wirklich das historische Wort gegen Einführung der Eisenbahnen: „Mit solchen Neuerungen hört die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!“ …

Benno’s Kampf lag eben in diesem unvermittelten Gegensatz so vieles Hochherrlichen am Ghibellinen- und so manches Hochherrlichen am Welfenthum …

Wie sehnte sich Bonaventura nach dem Geist eines Dritten, das über diesen Gegensätzen versöhnend schwebte –!

Er fuhr von dannen – tief unglücklich – das Räthsel der Welt im Herzen.

Ende des vierten Buches.

Apparat#

Der Apparat für alle Bände des Zauberers von Rom ist unter dem ersten Band einzusehen.