Ein Mädchen aus dem Volke. Bilder der Wirklichkeit#
Metadaten#
- Herausgeber
- Dirk Göttsche
- Fassung
- 1.0
- Letzte Bearbeitung
- 27.11.2022
Text#
Ein Mädchen aus dem Volke.#
Bilder der Wirklichkeit von Carl Gutzkow.#
5 Ein Mädchen aus dem Volke.#
7 Erstes Capitel.#
Eine Ueberraschung bei Gersons in Berlin.#
Ob über wogende Kornfelder hinweg oder durch die saubergekehrten Gassen stillgewordener Städte von den läutenden Sonntagsglocken die Lüfte erklingen, Sonntagsfrühe ist erquickend und anregend für Alle, auch für den Einsamen, selbst für den Trauernden. Der Arbeiter erwacht ohne den mahnenden Ruf seiner Alltagspflichten. Die Spuren des mühseligen Wochenberufs werden entfernt; das frische Quellwasser, der geöffnete Wäschschrank schaffen neue Menschen. Sonntagsfrühe, ob gefeiert im Chor der Gemeinde unter rauschenden Orgeltönen oder im Blättergrün des Waldes unter zwitschernden Vogelstimmen, ob gefeiert sogar nur unter aufgeschlagenen 8 geheimen Geschäftsbüchern und bei stillprüfender Uebersicht der Wochenabschlüsse, wie sie in Sonntagsvormittagsruhe der sorgernde Geschäftsmann liebt, oder gefeiert durch ein fesselndes Buch oder eine Musik, die man seinem Instrumente aus Schonung andächtiger Seelen vielleicht nicht während der Kirchenzeit entlocken wird … Sonntagsfrühe ist belebend und erhebend wie die Sonne selbst, in deren östlichen Strahlen für die Natur und den Menschen eine viel gewaltigere Kraft zu liegen scheint als in ihren westlichen.
Aber der Sonntagsnachmittag!
Du wonnen- und qualenreichster Abschnitt des Tages der Ruhe und der Freude! Wer sie nie gefühlt hat die unendliche Leere eines einsamen Herzens, wer nie in seiner ungestillten Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft sogar von Thränen sich beschleichen ließ (die etwa ein armes Mädchen kennt, das alternd und alternd immer mehr ihres Looses, nie geliebt zu werden, inne wird), wer immer Freunde, immer Zerstreuungen fand, immer von Andern gesucht wurde, der kennt euch nicht, ihr Stimmungen der Wehmuth, die Sonntagsnachmittage wecken können!
Die Straßen sind öde und leer. Ausgeflogen über Feld und Flur ist Alles, was an Familienleben, 9 an die Liebe oder auch nur an einen einzigen Freund sich anlehnen kann. Still, einsam Alles ringsum. Die Sonne wirft wie träge Schatten. Die Plätze sind menschenleer. Die Kirchen sogar mit ihrem Nachmittagsgottesdienste für ältere Dienstboten und arme Hospitalfrauen rufen nicht an ihre hohen Portale. Es ist, als ruhten sich auch ihre Werkzeuge von der vormittägigen Andacht aus. Kein Gruß eines Vorübergehenden. Nichts erblickt man als vielleicht eine alte taube Kinderfrau, die daheimgeblieben als Hüterin eines Hauses oder darin einer Wiege; da ein paar Blumentöpfe am offenen Fenster, eine Katze, die auf einem Blumenbret spinnend ausruht.… Der Sonntagsnachmittag ist die unglückseligste Zeit für junge, sehnsuchtgeschwellte Herzen, die entweder einsam stehen oder, was noch schmerzlicher, die einst schon glücklich waren, einst schon Freundschaft und Liebe gefunden hatten, einst mit Gütern des Herzens gesegnet waren und nun entbehren, an den einzigen wahren Gütern des Lebens darben müssen.
Ernst Oswald, ein junger zum Staatsdienst sich vorbereitender Rechtskundiger, Referendar, Auscultator oder Accessist genannt in unserem an Titeln so reichen und bei Stellungen, die nur hoffnunggebende 10 Exspectanzen sind, an ihnen doppelt reichen Vaterlande, empfand diese Vereinsamung eines melancholischen Sonntagsnachmittags in ihrer ganzen drückenden Schwere.
Selbst die Kaffeehäuser und die Billardtische in ihnen standen öde und selbst wie gelangweilt. Oswald, schlank und gefällig, von brauner Locke, brauner Wange, mit schwarzen Sternen in braunen Augen, schlenderte durch die Straßen der großen Stadt, die seine Heimath nicht war. Vor kurzem erst aus der Provinz gekommen, wollte er an den obern Gerichten seine letzten Prüfungen bestehen. Empfindsamkeit suchte er von sich zu weisen, suchte sogar – im lichten Sommergewande, dann und wann mit dunkelrothem Taschentuch die heiße Stirn trocknend und den leichten Strohhut lüftend und im stillen Genuß einer Cigarre – auf den einsamen Straßen ein Behagen zu finden. Aber er täuschte sich. Die Stimmung blieb die des drückendsten Verlassenseins. Ernst Oswald gedachte der Heiterkeit, die in diesen Stunden auf dem ländlichen Besitzthum seiner Eltern waltete. Er berechnete, wie um diese Stunde seine Mutter zu einer Fahrt nach einem nahegelegenen Badeorte trieb, die Schwester sich schmückte, der Vater aus seinem Nachmittagsschlafe 11 sich erhob, selbst Apoll, der Wächter des Hauses, aus seiner Hütte sprang und bellend die kühnsten Trampolinsprünge an der Kette zum besten gab, und wie endlich dann der Einspänner aus der Wagenschauer gezogen wurde. Er sah die Fahrt nach dem kleinen Bade durch einen Buchenwald, sah die Ankunft an der eingefriedigten Quelle, einem Stahlwasser, wo seine Schwester regelmäßig aus einem von baarbeinen Kindern dargebotenen Glase zu nippen pflegte, sah das Glas in der Sonne blinken, sah sogar die Gasperlen des Wassers in ihm aufwirbeln … ach so deutlich stand die Ferne vor ihm! Und ihn, ihn umfing die ödeste Oede, die es innerhalb der Civilisation nur geben kann, der Sonntagsnachmittag einer großen Stadt.
Oswald hatte einen Freund, Scharfeneck, einige Jahre im Leben und auch in der gemeinsamen Laufbahn ihm voran.
Mit Scharfeneck verflogen ihm sonst die Stunden, auch die zwecklosesten. Der geistreiche, treffend urtheilende, frühgereifte Genosse war verreist, war eben in jenem kleinen Bade, das seine Eltern, seine Schwester um diese Stunde besuchten. Scharfeneck war der Sohn eines reichen Grundbesitzers, dem die 12 kleine eingefriedigte Quelle und das zu ihr gehörende ländliche Curhaus gehörten.…
An wen sollte sich Oswald halten? An sich selbst? Ach! Der redlichste Fleiß und die eifrigste Selbstbeschäftigung hat ja Augenblicke, wo sogar große Denker sagten: Ich fühle mich glücklich, jetzt ganz dumm, aber auch nur ganz dumm zu sein! Nur die systematischen Egoisten genügen sich immer. Oswald war kein Egoist, weder systematisch, noch aus Instinct. Mit pochendem, hingegebenem Herzen hatte er jüngst drei Empfehlungsbriefe aus der Heimath an einflußreiche Adressen der großen Stadt abgegeben. Mit welchen frohen Erwartungen hatte er die Straßennummern sich aufgesucht, auf welche das dicke Adreßbuch der Stadt ihn für seine Empfehlungen verwies! Wie reich, wie wohlgeborgen war er sich vorgekommen, wenn er sich dachte: Dieser Geheime Obertribunalrath Wallhard war der Jugendgenosse deines Vaters, mit dem er in den Befreiungskriegen unter denselben eichenlaubbekränzten Fahnen stand! Dieser reiche Handelsherr, ein Millionär, Finanzagent Strack, war ihm von dem Kaufmanne Neubert, einem Geschäftsfreunde seines Vaters, der ihn empfohlen, als ein wohlwollender, entgegenkommender Mann, sein Haus als ein Tempel der 13 Gastfreundschaft bezeichnet worden! Endlich war die dritte Adresse geradezu eine solche gewesen, wie wenn die verwitwete Frau Justizkanzleidirectorin von Wolmany seine eigene Mutter hätte werden müssen! Dieser Empfehlungsbrief war sogar von dem Geistlichen seines Heimathortes gekommen. Und was war das Ergebniß aller dieser geträumten glänzenden Anknüpfungen gewesen? Der Geheime Obertribunalrath war ein grämlicher Hagestolz, der auf den kostbaren Teppichen seiner einsamen und stillgelegenen Wohnung zwei Hunde lieber zu dulden schien als einen Menschen. Er hatte, es wäre ungerecht es verkennen zu wollen, ganz freundlich nach dem Vater, der die militairische Laufbahn fortgesetzt und sich mit dem Range eines Hauptmanns auf die Bewirthschaftung eines alten Erbgutes zurückgezogen hatte, gefragt, hatte sich über die merkwürdig schnelle Flucht der Zeiten gewundert, hatte dem Sohne eines alten Waffengefährten die Hand geschüttelt und ihm für seine Laufbahn feierlich jedes Glück gewünscht mit der an sich wahren und ohne Zweifel treffenden Bemerkung: Jede geregelte Zukunft hätte der Mensch in seiner eigenen Hand und gegen das Außerordentliche gäbe es eben keinen andern Vorbau als die Stählung der eigenen sittlichen Kraft und ein 14 lebendiges Gottvertrauen! Der fromme Obertribunalrath bot auch Oswalden die Mitbenutzung seines Stuhles in einer Kirche an. Der Finanzagent, der reiche Herr Strack, schrieb sich Namen und Wohnung des Empfohlenen mit großer Genauigkeit auf und ließ etwas von seinen Winterbällen fallen, worauf ihm jedoch die Geschäfte schon so wieder auf die Finger brannten, daß Oswald wegen der übelgewählten Stunde um Entschuldigung bitten mußte. Endlich die dritte Adresse, Frau von Wolmany, die Witwe eines Justizkanzleidirectors, war nicht einmal anwesend. Mit frühestem Lenze pflegte die Dame auf ihre Güter zu gehen.… Was hatte Oswald von allen seinen erträumten Beziehungen? Herbe Verletzungen eines jungen, zur Schwärmerei geneigten Herzens. Er wanderte bei den prächtigen drei Häusern, die er vor Wochen mit so frohen Hoffnungen betreten hatte, an diesem Sonntag mit dem Gefühl vorüber: Wie ist die Welt so anders, als man sie sich ausmalt! Und diese Häuser waren heute erst recht stumm und still. Und das der verreisten Witwe war noch nicht einmal so öde als das des frommen Obertribunalrathes, der so freundlich gewesen war, ihm die Mitbenutzung seines Kirchenstuhles anzubieten, worin doch vielleicht, wie Scharfeneck bemerkte, dieses Mannes 15 Absicht, Oswald’s Carriere zu befördern, wohlwollend und sehr zeitgemäß ausgesprochen lag.
Schon war Oswald einer der vielen Vorstädte eines Ortes, der ihm heute recht wie ein Gefängniß erschien, näher gekommen, als ihm plötzlich ein Wort des Vaters einfiel, das dieser ihm beim Scheiden gesprochen.
„Lieber Ernst,“ hatte der noch rüstige Greis zu seinem einzigen Sohne, dem Sprossen einer zweiten Ehe, nachdem die erste kinderlos geblieben, gesagt, „lieber Ernst, ich habe Unrecht gethan, Dich nur auf den kleinen Universitäten der Provinz studiren zu lassen. Franz, der Sohn unsers Nachbars – er meinte Scharfeneck – kennt das Leben besser. Er besuchte die Schulen großer Städte. Doch, denk’ ich, wird Dein reines und immer auf das Gute und Edle gerichtet gewesenes Bestreben sich schon zurechtfinden. Die Empfehlungsbriefe von mir, von unserm guten Neubert und von Deinem Seelsorger, dem braven Dämmer, werden Dir treffliche Dienste leisten. Sie werden Dich in die große Welt einführen, die so schwer zugänglich, aber für Deinen Beruf fast unentbehrlich ist. Lassen Dir Deine Studien, Deine Prüfungsarbeiten und die vielen Zerstreuungen, die ohne Zweifel die Folge dieser Empfehlungen sein 16 werden, einmal eines Tages Zeit genug, um einen verlorenen Augenblick nicht allzu sehr zu bereuen, so sieh’ Dich doch einmal irgendwo um, ob Du nicht einen alten Invaliden, Namens Waldmann, vor den Thoren der großen Stadt entdecken kannst. Der alte Knabe war mein Unterofficier, als ich mit der damaligen Jugend dem Rufe des Vaterlandes folgte. Ich überholte ihn und wurde bald sein Lieutenant, sein Capitain, indessen er es mühsam nur bis zum Quartierschreiber brachte – denn eben das Schreiben war seine schwächste Seite. Als ich aber vor Jahren zum letzten Male in der Hauptstadt war, besuchtʼ ich die treue, ehrliche Seele wieder und fand ihn wohlgeborgen bei seinem Sohne, der ein junger rüstiger unternehmender Mann schien und sich als Gärtner in einer der Vorstädte niedergelassen hatte. Hast Du Zeit, so such’ einmal meinen alten Waldmann auf, wenn er noch lebt, grüß’ ihn von mir und sag’ ihm, daß Du mein Sohn bist!“
Dieß Wort des Vaters kam in Ernst Oswald’s lebendigste Erinnerung, als sich die Häuser immer mehr vereinzelten, lange hölzerne von Wind und Wetter geschwärzte Plankenzäune sie verbanden und hier und da durch einzelne Gitter freundliche Gärten dem Anblick sich darboten mit gefälligen, meist von 17 wildem Wein umrankten Wohnungen, die zuweilen die Ueberschrift ,Kunstgärtnerei‘ trugen. Oswald entsann sich des Namens Waldmann, erkundigte sich bei einer dieser Gärtnereien nach einem Geschäfte solches Namens, erhielt den Bescheid, daß ein derartiges, und sogar in der Nähe, bestünde und richtete seinen schon ermüdeten Fuß nach der bezeichneten Straße hin. Er erreichte den Zaun, auf den man ihn aus der Ferne schon verwies. Das Haus mußte im Garten liegen. An einer mit neuen Planken ausgebesserten Thür und dicht unter der laufenden Nummer der einsamen Gasse fand er demnach die vierte Adresse seiner Empfehlungen. Sie hieß: ‚Wilhelm Waldmann, Kunstgärtner.‘
Der erste Anblick, der sich beim Oeffnen der unverschlossenen Thür dem Sonntagsnachmittagsgaste darbot, war ein freundlicher.
Der Hof des Häuschens war mit dem Garten verbunden und dieser selbst dehnte sich mit Gemüse-, Blumen- und Obstanlagen in ziemlicher Entfernung aus. Kinder verwiesen den Gast an den noch lebenden Großvater, der an der dem Garten zugewandten Seite des Hauses auf einer Bank saß und ein kurzes Pfeifchen schmauchte. Auch der Sohn, selbst früh’ gealtert, war bald in der Nähe und die Freude, 18 den Sprossen des Hauptmanns Oswald zu begrüßen, schien nicht gering. Eine Mutter fehlte dem Hause, sie war seit einigen Jahren todt; von den zahlreichen Kindern aber waren schon einige erwachsen und wie es schien verständig genug, um die Pflichten einer Mutter an ihre eigenen helfenden Hände zu vertheilen. Die Zahl der Kinder, eigenes und Nachbarvolk, war endlos. Immer wieder kam noch ein anderer mehr oder minder sonntäglich erhaltener vorstädtischer kleiner Weltbürger aus einem Heck oder über einen Baum oder über eine niedrige Zwischenmauer gesprungen. Und zuletzt war das Angenehmste – viel junger Mädchenflor, der sich neugierig genug um Oswald versammelte.
Die meisten davon schienen Nachbarinnen. Auch einige Männer, die wohl Freunde der erwachsenen Söhne oder Gehilfen des Vaters waren, auch städtische Gestalten fehlten nicht. Es war das eine kleine belebte Welt, die Oswald, trotz der einfachen Kleiderstoffe, der befangenen Haltung und der gebräunten, nicht immer edlen Gesichtsformen, schon einen Reiz abgewann. Man nöthigte ihn sogar, zu einigen großen Schalen saurer Milch sich niederzulassen und bediente sich dabei mehrfach einer bedauerlichen Wendung, die jedoch als Vertröstung 19 gespendet wurde, es wäre Schade, daß Ernestine noch nicht da wäre. Dieß war die älteste Tochter und seit dem Tode der Mutter die eigentliche Lenkerin des Hauses, obgleich Brüder da waren, die wieder wohl auch über sie emporragten.
Ernestine wurde jeden Augenblick erwartet und erschien auch zuletzt. Hatte Oswald schon durch die Erklärung, wie dieß junge Mädchen zu dem Namen Ernestine, der seinem Vornamen entsprach, gekommen, sich gleichsam wie auf ein verwandtschaftliches Verhältniß mit ihr hingeführt sehen müssen – beim letzten Besuche des Hauptmanns hatte man seinem Sohne Ernst zu Ehren die gerade zur Welt gekommene Enkelin des alten Quartierschreibers Ernestine getauft, – so war der Eindruck des persönlichen Entgegentretens ein in der That überraschender.
Oswald fand ein blühendes, schlankes junges Mädchen, nicht so gebräunt wie die übrige weibliche Genossenschaft, ein Mädchen, zwar in bescheidener Tracht und einer dem Kreise, in dem es sich hier bewegte, wie es schien entsprechenden Bildung, aber es lag ein so angenehmes Lächeln in den von der Ueberraschung und Verlegenheit gerötheten Zügen des regelmäßigen Antlitzes, es war eine so wohlthuende 20 Art, wie Ernestine den Hut in ein Stacket von Weinlaub hing, ein leichtes Tuch, das sie sich abnahm, kurzweg über einen Heckenbusch warf, daß Oswald augenblicklich sich gefesselt fühlen mußte.
Er nannte bald auch Ernestinen scherzend seine Namensschwester. Wenn sie auf seine Versuche ein Gespräch anzuknüpfen, erwidern wollte, gestalteten sich ihre Antworten zwar zu keinem zusammenhängenden und treffenden Sinne, – wie lange währt es nicht auch selbst bei jungen Bildungsüberfütterten, bis sich ihnen, Mädchen oder Jünglingen gegenüber, trotz alles Wissens und Könnens ein vernünftiger Satz mit einem tüchtigen Abgemacht, Punctum! rundet – aber ihr Verkehr mit der übrigen Genossenschaft war so unbefangen, daß Oswald aus ihm schon einen lebhaften Geist und ein rasches Urtheil entnehmen mußte. Ernestine Waldmann hatte schweres, dichtes, goldblondes, in Flechten gebundenes und den ovalen Kopf rings umschließendes Haar, dunkle große blaue Augen, die frischeste Haut, einen schlanken, in den Hüften sich scharf abzeichnenden Wuchs und einen Mund, der bei dem wohlwollenden Lächeln, das ihn umspielte, zwei Reihen der schönsten Zähne zeigte. Und Oswald scherzte nur deßhalb so viel mit dem kleinen Kindervolk, um sich an dem Zauber dieser 21 schönen Zähne zu weiden, wenn Ernestinens leises und allmäliges Lächeln ihre Lippen in die Mundwinkel zurückdrängte. Anmuth ist allen Männern mehr werth als Schönheit, und Ernestine wäre sogar eine Schönheit gewesen, wenn sie sich ihren Teint auf einige Wochen von der Salonluft eines Theecirkels hätte bleichen lassen können.
Oswald schied von der Laube, in der er unter nicht gerade armen, aber, wie es schien, doch nicht im Ueberfluß lebenden Menschen vortreffliche saure Milch mit mürbem Schwarzbrod gespeist hatte, ziemlich spät.
Er kam, da er ,den Kindern etwas schenken‘ wollte, schon den folgenden Tag wieder.
Dann auch ohne Geschenk schon wieder am Mittwoch.
Darauf bezwang er sich, drei Tage auszubleiben, aber am Sonntag fehlte er gewiß nicht und es währte nicht vierzehn Tage, so wanderte er schon fast jeden Abend in die Gartenstraße, saß jeden Abend unter den Kindern eines Gärtners und den Enkeln eines armen Soldaten in einer Geißblattlaube und Ernestine fragte nicht einmal, wie das möglich wäre.
Niemand fragte. Diese abendliche Wanderung war ihm Bedürfniß, den Andern Gewohnheit geworden. 22 Die Wirkung seines vierten ungeschriebenen Empfehlungsbriefes war eine vollendete Thatsache und wenn es nach dem Erwarten seines Vaters gegangen wäre, so hätte sein Sohn Ernst gerade mit diesem Eifer, mit dieser Hingebung an den Diners des Obertribunalraths, an den Soireen des Finanzagenten und den anderweitigen, noch unbekannten Erholungen der noch immer auf ihren Gütern befindlichen Frau von Wolmany theilnehmen sollen. Einmal war Oswald in der That beim Finanzagenten Strack zu Tisch geladen gewesen, fand eine große Gesellschaft, aß vortrefflich, entfernte sich aber zeitig, um noch nach seiner Gartenstraße zu kommen. Es war Sonntag; rath- und thatlose Sonntagsnachmittage kannte er nicht mehr. Die Vorstadt hatte ihn erobert, sie machte ihn glücklich.
Vor seinem Freunde Scharfeneck, der inzwischen zurückgekehrt war, hielt Oswald diese enge Beziehung zu einer armen Gärtnersfamilie denn doch geheim.
Er konnte dem Freunde zwar nicht ganz ableugnen, daß ihn in der Vorstadt eine mit seinem alten Vater bekannte Familie fesselte; er gestand auch dem sarkastischen Lächeln des Freundes zu, daß sich im Schooße derselben allerlei blühende junge Welt befände, daß man scherze, tändle, lache; aber 23 ein ihn bindendes Verhältniß konnte er um so mehr in Abrede stellen, als in der That ein solches mit Ernestine Waldmann nicht bestand. Ernst Oswald war zweiundzwanzig Jahre. Es ist dieß ein Alter, wo die Sehnsucht nach Liebe im Gemüthe der Jugend ebenso lebendig, wie die Verehrung der Frauennatur aber auch eine fast andächtige ist. Kein Jüngling liebt in diesen Jahren mit der stürmischen Ungeduld des Mannes, der nur erobern, nur besitzen will. Der Jüngling würde seine Liebe zu entweihen glauben, wenn er sich das schöne Bild seiner Verehrung zu bald zerstörte. Er sieht die Rose blühen, athmet ihren Duft und betet sie nur an, ohne die Hand auszustrecken, sie zu brechen. Tugend und Besonnenheit in einem Mädchen weiß eine solche Hingebung Jahre lang an sich zu fesseln, ja in Schach zu halten, ohne daß jenes entscheidende Wort fällt, das oft so gefahrvoll und in mancher Lage, wie hier, vielleicht unmöglich ist. Oswald lebte in jenem Kreise wie unter den Seinen. Er liebte, aber eine Erklärung war nicht gegeben. Sie stand vielleicht demnächst bevor, am wenigsten aber deßhalb, weil sie etwa verlangt wurde.
Mitten in diesen zweifelhaften Zuständen sagte eines Tages Scharfeneck, als dieser mit seinem Freunde 24 von ihrem gemeinschaftlichen Mahle heimkehrte, wie beiläufig zu Oswald: „Bester Freund, Deine dritte Adresse ist angekommen!“
„Frau von Wolmany?“
„Frau von Wolmany; eine Witwe, von der ich zu meinem Erstaunen gehört habe, daß sie jung, reizend, hochgebildet und reich sein soll.“
Oswald bestätigte, was auch er inzwischen in Erfahrung gebracht, daß Frau von Wolmany einst einen bejahrten Gatten genommen hatte, früh Witwe wurde und mit Herrn Dämmer, dem Pfarrer seines Ortes, in freundlichem Zusammenhange stand. Sie war von ihm erzogen worden und stand mit ihm noch in Briefwechsel.
Oswald erklärte, er hätte keine Neigung, diesen Empfehlungsbrief abzugeben.
„Warum nicht?“ fragte Scharfeneck.
Die Antwort, die er erhielt, war unbestimmt. Oswald wich einem klaren Geständniß aus, sagte, auf eine junge, vornehme Weltdame wär’ er nicht im mindesten vorbereitet, sprach von der Umständlichkeit solcher Besuche, den ‚moralischen Kosten,‘ in die man sich zu setzen hätte, erklärte alle diese Beziehungen mit der großen Welt für lügnerisch, eitel, nichtig und führte die geringen Ergebnisse seiner beiden 25 andern Briefe an, um zu beweisen, daß er Recht thäte, auf diesen dritten nicht mehr zurückzukommen.
Scharfeneck schwieg eine Weile. Dann forderte er den Freund auf, mit ihm seine nahegelegene Wohnung zu betreten.
Unterwegs schien er von dem Gegenstande abgekommen. Doch in seinem Zimmer angelangt, nahm er ihn wieder auf. Die Fenster vor der Herbstluft schließend, eine Kiste Cigarren vor Oswald öffnend, das Streichfeuerzeug ihm hinschiebend, sagte er wie in leichter, abgebrochener Anmerkung:
„Der Finanzagent wird Dich schwerlich wieder einladen.“
„Wie so?“ fragte Oswald.
„Ich habe gehört, alter Freund …“
Scharfeneck stockte.
Oswald mußte lange drängen, bis er fortfuhr.
Scharfeneck that es mit den Worten: „Ich habe gehört, alter Freund, daß Dich Herrn Strack’s Familie kürzlich complet ausgelacht hat.“
Oswald stutzte. Er dachte an das bestandene Sonntagsdiner und besann sich, was ihm dabei konnte widerfahren sein.
Scharfeneck erzählte aber einen ganz andern Fall. „Man hatte,“ sagte er, „in jenem Hause kürzlich eine 26 Spazierfahrt beschlossen und machte sie in eine entlegene Waldgegend an dem obern Ufer unsers Stromes hin … Dort im Sande langsamer fahrend, entdeckt man eine lautschreiende, lachende, lärmende Gesellschaft unter den breiten Aesten der herrlichen Eichen und Buchen, die daselbst beisammen stehen. Man kommt näher und findet ein Durcheinander von jüngern und ältern Leuten, in Hemdärmeln, theils sich lagernd und schmausend, theils in dem idyllischen Spiele, das man Blindekuh nennt, con amore begriffen. Die Leute schienen dem Handwerkerstande anzugehören. Mein Berichterstatter, unser College Dankmar Wildungen, der die Ehre hatte, die Partie des Finanzagenten und dessen Damen zu begleiten, erkannte sogar aus seiner Criminalpraxis einige zweideutige, ihm schon unter verschiedenen Umständen vorgekommene Physiognomieen, aber die merkwürdigste Figur von Allen war doch ein junger Elegant, der mit verbundenen Augen im Haschespiel hin und her tastete und eben einige junge, allerliebste Mädchen jagte, Mädchen, die allerdings charmanter sein mochten als Manche, die ihr Lebensziel darin finden, Chopin und Schulhoff vom Blatt zu spielen …“
Oswald sprang auf. Die Gluth der Scham färbte seine Wangen. Der Gedanke, bei einer 27 kürzlich in den Wald unternommenen Landpartie der ganzen zusammengerafften Vorstadtsbekanntschaft beobachtet, erkannt, lächerlich gefunden zu sein, lächerlich gefunden von dem weiblichen Theile einer ihm bekannten gebildeten Familie, … war ihm im höchsten Grade fatal. Sein Stolz, durch diese Erzählung so außerordentlich gedemüthigt, konnte sich kaum sammeln.
Scharfeneck schwieg eine Welle. Es schien seine Absicht zu sein, den Stachel gründlich wirken zu lassen. Er zog ihn nicht heraus, bohrte ihn im Gegentheil nur noch tiefer ein, indem er die Berechtigung der Finanzagententöchter, so satirisch, wie sie gethan, einen ganzen Tag lang über den Anblick des Blindekuhspielers zu lachen, mit allerlei Scherzen bestritt. Die Wirkung blieb bei Oswald dieselbe. Er war vernichtet, beantwortete keine einzige der Fragen, die Scharfeneck über die jungen Mädchen an ihn richtete, besonders eine, die Malvina hieß, an Reiz sogar Ernestinen überstrahlte und eine, wie er jetzt erst erfuhr, bewunderte Schönheit der ganzen jungen Stadt-Gentry war.
Endlich aber reichte Scharfeneck dem Freunde die Hand und sagte:
„Mein theurer Freund! Schließ Frieden mit 28 Deinem Stolz und fass’ einen männlichen Entschluß! Diese kleine Welt ist Deiner nicht würdig. Du hast Dich in sie geflüchtet, um nicht mehr den schmerzlichen Druck des Verlassenseins zu fühlen! Du sehnst Dich nach Liebe, Hingebung, gemüthvoller Anlehnung. Ich kenne Dein gutes, weiches Herz. Aber sei aufrichtig und geh’ einen Schritt weiter! Was wir Gemüth nennen, ist es denn nicht so oft nur unsere Muthlosigkeit, ja geradezu unsere Trägheit? Die ganze deutsche Nation beschönigt ihre Muthlosigkeit und ihre Trägheit mit diesem blumengeschmückten Aushängeschilde des Gemüths. Du giebst Dich den nächsten und zufälligsten Umständen hin, weil Du nicht wagen willst, Dir andere zu erobern. Diese große Welt, die Dir bis jetzt nur verschlossene Thüren und den Rücken gezeigt hat, will erobert, gewonnen, von der Hand eines kräftigen, markvollen Ringers zu seinem Vortheil gebändigt sein. Du fürchtest diesen Kampf vielleicht nicht aus Trägheit, ich denke, Du kennst ihn nur nicht. Du glaubst, die hingeworfene Verurtheilung dieser großen Welt als einer nur herzlosen, kalten, egoistischen Sphäre genüge vollkommen, sie Dir werthlos zu machen. Und was ist die Folge dieser Verachtung? Du setzest in Deinem Werthe Dich selbst herab. Ich kenne vollkommen den Reiz 29 dieser kleinen Welt, wo uns Alles mit offenen Armen entgegenkommt, ja durch unsere Herablassung sich geehrt fühlt. Aber selbst an dem stolzen Egmont unsers Goethe hab’ ich doch nie leiden mögen, daß der Dichter uns die ritterliche Gestalt eines Helden, der sein Haupt für die Freiheit seines Volkes auf den Block legen mußte, in einer, allen geschichtlichen Erinnerungen unverantwortlich widersprechenden Art, zum galanten Cavalerielieutenant, zum tändelnden nächtlichen Buhlen eines Bürgermädchens macht, die mit dem goldenen Schnur- und Litzenwerk seines spanischen Costüms spielt. Es hat einen wohlthuenden Reiz, ein gutes Mädchen zu kennen, das, wenn uns ein Knopf am Rocke losgegangen ist, ihr Nähtischchen öffnet und ihn im Handumwenden wieder annäht; allein sich so mit seinem ganzen Werthe, mit seiner ganzen Zukunft an eine Idylle und an einen solchen Knopf mit annähen zu lassen, das kann nur ein Brackenburg thun, der mir immer wie ein weichmüthiger, neu etablirter junger Tischlermeister erschienen ist, trotzdem daß er von Brutus spricht und auf der Schule lateinische Exercitien gemacht haben will. Theurer Freund! Aufwärts den Blick! Immer emporgeschaut zur Höhe eines großen Zieles! Und wäre der Weg hinauf voll schwindelnder Klippen 30 oder regenglatter Wege, müßte die Hand auch an knorrigen, dornendurchzogenen Aesten von wirrem Strauchwerk sich festhalten, um nur einen ersten Vorsprung zu gewinnen, beklemmte die Brust auch die Angst um die fast unmögliche Rückkehr oder die Anstrengung des Steigens oder die Furcht vor einem verfehlten Wege oder vor bösen Geistern gar, die uns im Spuklichte des Mondes, wenn uns die Nacht überrascht, ein verzerrtes Antlitz zeigen und uns in Abgründe locken wollen, aushalten muß man und nur emporschauen in die Höhe, zu den Wolken, zu den Sternen! Was hinter uns ist, das zeuge erst für uns, während wir schon wieder weiterklimmen. Du vollends, Oswald, bist eine Natur, die sich keine Ruhe gönnen darf, eine Natur, die den Muth besitzen muß, mit Irrthümern zu brechen, selbst wenn sie Dir wie Deine Lieblingswahrheiten aussehen. Ich sage nicht, daß Du den Tribunalrath hättest zwingen müssen, Dir mit der Zeit eine Stelle in seinem Testamente statt einen Stuhl in der Kirche anzuweisen, aber ich sage, daß ein Mann wie Du, jung, gefällig, nicht ohne Mittel, jedenfalls nicht ohne die Mittel des Geistes, den Finanzagenten hätte zwingen müssen, eine Heirath mit einer von seinen, wie ich höre liebenswürdigen und gebildeten Töchtern 31 zu bewilligen. Und ich wäre auch nicht einmal für einen solchen frühen Abschluß. Jeden Kahn, der Dich eben an irgend ein Ufer gebracht hat, sollst Du noch hinter Dir wegstoßen. Die Welt nennt das Egoismus. Der Egoismus aber, der in kleinen Erfolgen Befriedigung findet, der sich genügt, im Unbedeutenden ein Herrscher zu sein, der ist viel größer und verwerflicher. Ueberlege Dir, was Du, um Dich als Mann zu retten, in diesem Falle zu thun hast!“
Oswald dankte dem Freunde von ganzem Herzen.
Er erklärte, sein Entschluß bedürfte keiner weitern Erörterung; er würde die Vorstadt nie wieder besuchen; es verstünde sich von selbst, daß er sich von einer Neigung losrisse, die nur eine gemüthliche Schwäche gewesen wäre. Ueberdieß versprach er, bei der jungen Witwe den dritten Brief abzugeben und, im Fall er freundliche Aufnahme fände, auch den Freund daselbst einzuführen. Beide schieden voll Uebereinstimmung und neu befestigter Herzlichkeit.
Um sich zu zerstreuen, die brennenden Wunden seines Stolzes und doch auch einen schon sich meldenden leisen Schmerz des Entsagens so traulich gewesener Gewohnheiten zu betäuben, ging Ernst Oswald dem Gewühl der innern Stadt zu. Was sonst selten 32 geschah: er blieb bei manchem Schaufenster stehen, betrachtete glänzende Läden, sah auf manche Erscheinung des öffentlichen Lebens, die ihn sonst gleichgiltig gelassen hatte. Oswald bekämpfte sich eben und suchte sich durch die Welt schon zu bezwingen …
Wie er sich so durch die engen Durchgänge an den ersten Modemagazinen der Stadt vorbei einem kleinen freien Platze zuwandte, bemerkte er daselbst, dicht vor einem Modemagazin von europäischer Berühmtheit, aus einem vornehmen herrschaftlichen Wagen zwei Damen steigen, von denen die eine eine so außerordentliche Aehnlichkeit mit Ernestine Waldmann hatte, daß er auf den ersten Anblick hätte schwören mögen, sie wäre es selbst. Seines Irrthums gewiß, ging er weiter, verlor sich, mit Schmerz der nothwendigen Trennung gedenkend, in andere Straßen; die Aehnlichkeit der Dame mit Ernestine Waldmann war auffallend, aber doch nur eine Aehnlichkeit gewesen. Jetzt sah er, wie schön Ernestine war, wie gefällig sie hätte erscheinen können, wenn sie nicht arm und ohne Bildung gewesen wäre.
Der Zufall führte ihn aber an die Stelle des ersten Anblicks zurück und unter mehreren herrschaftlichen Wagen, die inzwischen vor dem großen Magazine sich hinzugefunden hatten, hielt noch dasselbe 33 leichte elegante Gespann von vorhin. Oswald blickte, mehr wie um seine drückenden Empfindungen loszuwerden, als aus sicherer Erwartung, durch die Spiegelscheiben des berühmten Magazins.
Es war voller Menschen. Die Ausdehnung dieser Räume hinderte, sie ganz zu übersehen. Den in glänzender Livree harrenden Bedienten der Equipage zu fragen, wem sie gehöre und welche Dame so sehr Ernestinen gleichen könnte, würde ihm eine Thorheit erschienen sein, um so mehr, als mit diesem Bedienten Jemand sprach, den er kennen mußte: ein gewöhnlicher Mann in einem weißen Hute, den er schon öfters in den Kreisen der Vorstadt getroffen hatte und der ihm sogleich eingefallen war, als er vorhin von Scharfeneck hatte hören müssen, sein Freund Dankmar Wildungen hätte bei jener Partie Physiognomieen erblickt, die der Criminalpflege nicht unbekannt wären. Oswald besann sich, daß dieser immer mit weißem Hute gehende kleine gedrückte, etwa in den Dreißigen zählende Mann mit sonderbarer Vertraulichkeit von diesen geringen Menschen gewöhnlich Lude Wächter genannt wurde. Es war Oswald doch, als er diesen Mann sah und vielleicht nun doch Ernestinen wirklich in der Nähe vermuthen konnte, als schnürte ihm etwas den Athem zu. Er konnte 34 nicht reden, nicht fragen; er unterdrückte mit Gewalt den Glauben, wirklich Ernestinen gesehen zu haben. Darauf entfernte er sich.
Kaum war er aber einige hundert Schritte weiter gegangen, als er, sich umwendend, dieselbe Equipage erblickte, die rasselnd auf dem Straßenpflaster hinter ihm herflog. Die Damen fehlten nicht. Die eine saß ihm abgewandt und konnte nicht erkannt werden, die andere war in der That Ernestine. Daß sie es war, bestätigte ihm nicht nur ihr Erröthen, ihr erschreckendes Zurücklehnen, sondern ihr halber und doch ausdrücklicher Gruß.
Oswald mußte an die Thüre eines Hauses treten, um sich zu halten, um sich zu sammeln. Es war ihm, was er da sah, wie eine Traumerscheinung. Ernestine Waldmann in einem glänzenden Wagen, mit kostbaren Kleidern, wie er sie nie an ihr erblickt! Jede Vermuthung, daß sie plötzlich in die Dienste einer vornehmen Herrschaft hätte eingetreten sein können, wurde durch diesen reichen Spitzenhut, durch einen türkischen Shawl, den sie breit auseinandergelegt selber trug, widerlegt.
In Oswald tobte und raste jetzt Alles nach Aufklärung. Er eilte zurück an das große Magazin – wir dürfen es wohl nennen, es war das Gerson’sche 35 in Berlin –, suchte an den noch haltenden Carrossen jenen Ludwig Wächter, den er jedoch nicht mehr fand, trat dann im Magazin ein, fragte nach den beiden Damen, die eben die Räume verlassen haben mußten. Seine Lippen bebten …
Da die weitläufigen Räume überfüllt waren, mußte erst dieser und jener Comptoirdiener gerufen, diese oder jene Verkäuferin befragt werden … Man kannte die Damen nicht. Beide hatten sich Stoffe zeigen lassen und vorläufig nur einige Kleinigkeiten gekauft. Oswald trat aus dem glänzenden Hause und verglich sich einem Wanderer, den ein Irrlicht verlockte, oder mit dem Helden eines Märchens, mit dem ein Kobold im Walde Versteckens spielt. Zuletzt mußte er sich sagen: Die Gaukelbilder sind nur in dir, in deinem eigenen verschlossenen Auge! Welche Wirklichkeit lebte um dich her? Mit welchen Menschen verkehrtest du? Was hast du Alles dort draußen in der Vorstadt und unter dem Volke nicht gesehen? Wer ist Ernestine, die dir ein Mädchen der Armuth schien und die jetzt in einem glänzenden Wagen wie eine Fürstin an dir vorüberrollte?
Es läßt sich aber denken, daß er seinen Entschluß, für immer mit der Vorstadt zu brechen, doch noch um einen Tag aufschob.
36 Zweites Capitel.#
Der Emporblick.#
Ernst Oswald hatte den Beruf der Rechtskunde und späteren Gerechtigkeitshandhabung zwar nicht aus besonderer Neigung gewählt, aber so weit war ihm doch der leitende Grundsatz der Juristen: ,Jeder Mensch gilt so lange für schlimm, als nicht von ihm das Gegentheil bewiesen ist,‘ gegenwärtig, daß er sich auf dem Wege nach der Vorstadt in Vermuthungen über Ernestine Waldmann und ihre Begleiterin erging, die jetzt nicht frei von Mißtrauen gegen ihre Sittlichkeit waren.
Er fand Ernestinen nicht daheim. Auch der Vater war in Geschäften abwesend und die ältern Brüder arbeiteten in einer Fabrik, nicht, wie er anfangs geglaubt hatte, im Gartengeschäft.
37 Der alte Großvater war, was er schon lange bemerkt hatte, kindisch und unzurechnungsfähig, aber von den im Hause befindlichen kleinern und mittlern Geschwistern erfuhr er so viel, als ihm hinreichend schien, sich schmerzlich genug aufzuklären. Man erzählte ihm auf seine Fragen über den gestrigen Tag, daß es keineswegs eine Fürstin oder Gräfin gewesen wäre, mit der die Schwester in einem glänzenden Wagen sich befunden haben konnte, sondern jene schöne vielbesprochene Malvina Wilde, die sich seit geraumer Zeit nicht hätte sehen lassen, gestern aber in einem prachtvollen Wagen, in Sammet und Seide und mit einem Bedienten vorgefahren gekommen wäre und erzählt hätte, sie wäre durch eine unerwartete Erbschaft plötzlich steinreich geworden. Wie man noch gegafft und gestarrt hätte, wäre Ernestine von ihr ersucht worden, sie zu begleiten. Sie hätte es gethan und eben wäre die Schwester wieder bei der Freundin …
Oswald hatte genug gehört. Er verstand, was Malvina Wilde eine ,Erbschaft‘ nennen konnte …
Das Herz zuckte ihm in innerster Brust. Er sah Ernestinen noch unschuldig, aber in grenzenlosester Gefahr.
Sich nun zwischen diese Gefahr werfen, eigen-38mächtig in ihr Schicksal und ihren Lebensweg eingreifen, weiterfragen, weiterforschen, handeln – dazu hätte er Scharfeneck’s so tiefgebilligte Mahnung zum Emporblick und den Gedanken an seine Würde vergessen müssen.
Sein Inneres war schmerzlich bewegt, zerrissen. Er schied zögernd, voll Wehmuth sogar, beschloß auch anfangs, wiederzukommen – den Vater zu warnen, die Brüder zu warnen; doch wieder allein mit sich, verschob er diese Wiederkunft von Tag zu Tag – von Woche zu Woche. Er riß zuletzt mit Gewalt den Gedanken an Ernestinen aus seinem Herzen, sich zwingend, an den ganzen Kreis, in dem er damals gelebt hatte, nur noch mit entrüstetem Stolz und mit völligster Nichtachtung zurückzudenken.
Darüber verfloß der Winter.
Schon daß man nicht aus der Vorstadt das geringste Zeichen des Erstaunens über das plötzliche Abbrechen seiner Besuche gab, bestätigte ihm den Verdacht, daß auch Ernestine, verleitet durch Malvina Wilde, einem bekannten traurigen Loose der Armuth verfallen war.
Ihn in seinem Schmerze aufzurichten fand sich manche Zerstreuung und seine besondere Zuflucht wurde das Haus der Frau von Wolmany.
39 Diese Dame war allerdings nicht mehr so jung, als Scharfeneck geglaubt hatte. Sie war in dem Uebergangsalter von einer Jugend, die man nicht mehr, auch dem Scheine nach, behaupten kann, zu demjenigen Alter, dem man, wenn man ohne Kinder und ohne unerlaubte Gefallsucht ist, allmälig die Unterlage eines höhern und darum dauernden Reizes für die Gesellschaft zu geben bemüht ist. Frau von Wolmany wollte gefallen, aber innerhalb edler Grenzen. Sie war reich genug, ihr Haus zum Mittelpuncte der interessantesten Begegnungen zu machen. Künstler, Gelehrte, Staatsmänner fanden nicht nur die entsprechendste Aufnahme, sondern wurden, wie dieß bei allen Geistesarbeitern, um sie zu fesseln, nothwendig ist, ausdrücklich von ihr gesucht, mit Absichtlichkeit von ihr herangezogen, sogar verwöhnt und um etwaige Vergeßlichkeit oder Außerachtlassung sonst üblicher Rücksichten nicht im mindesten mit Empfindlichkeit bestraft. Sie hatte jeden Abend Gesellschaft. Fast immer war bei ihr eine Unternehmung im Werke, eine musikalische oder litterarische Vorbereitung, und sollte aus letzterem Bereiche auch nur die Vorlesung eines neuen Dramas oder einiger gefälligen Gedichte zur Ueberraschung kommen. Mit besonderer Vorliebe pflegte sie ihre Montage, an denen jeder ihrer 40 Hausgäste, die es damit wagen durften, der Reihe nach einen Vortrag hielt.
Oswald war in nicht geringer Verlegenheit, als er im November erfuhr, daß auch ihn die Reihe, etwas lesen zu müssen, etwa im Februar treffen würde.
In dieß gesellige, anregende, immer offene Haus ward auch Scharfeneck eingeführt. Die ruhige, klare, wohlwollende und auf Prüfung sich stützende Weise dieses jungen, mit gefälligen Formen ausgestatteten Mannes wußte sich einen ganz besonders sichern Erfolg zu erwerben; doch trat Oswald darum nicht in den Schatten.
Sein inneres und äußeres Wesen wuchs. Eine etwas lange niedergehaltene Kraft der Entwickelung sprang wie mit stählernen Springfedern empor und gegen die Frühjahrszeit hin hatte Scharfeneck nicht nöthig, einige male auf den Kreis, in dem Oswald im Sommer gelebt hatte, mit Ironie zurückzukommen. Er fragte nach einem, in einer großen Fabrik angestellten Buchhalter Wenk, nach einem jungen Commis Sigmund Hartmann, nach einer Wäscherin Peltzer, nach einem Händler mit gewöhnlichen Lebensmitteln Bietz … Oswald, fast verletzt, wich aus und wollte nicht Rede stehen. Befremdender und zur Neugier reizend konnte es scheinen, als zuweilen 41 Malvina Wilde, auch Ludwig Wächter genannt wurde, aber Oswald ging auf nichts mehr ein. Erst da trat mit unausweichlicher Macht die Vergangenheit wieder auf, als Oswald eines Tages Scharfeneck auf einem Verhörzimmer des peinlichen Amtes besuchen wollte und dieser zu ihm sagte: „Ernst, verlaß das Zimmer! Jeden Augenblick kann Jemand eintreten, den so wiederzusehen Dich mit schmerzlichen Empfindungen erfüllen müßte!“ Wie Oswald noch zögerte, noch die Fürsorge des Freundes bei keiner Möglichkeitsvorstellung unterbringen konnte, kam die Sorge schon zu spät. Die Thür öffnete sich und ein junges, einfach gekleidetes Mädchen trat blaß und schüchtern herein.
Es war Ernestine.
Sie zu grüßen, sie anzureden vermochte Oswald in einer ihn sogleich sprachlosmachenden Bestürzung nicht. Aber auch um sich zu entfernen fehlte ihm die Kraft. Er trat von dem hohen Lehnstuhle, auf dem Scharfeneck neben seinem Protocollführer saß, zwar zurück, brachte aber seinen Entschluß, nicht Zeuge der hier bevorstehenden Verhandlung zu werden, nicht weiter zur Ausführung als bis zum letzten Fenster des Saales. Er wandte den Rücken und Scharfeneck hatte schon mit der im Gegensatz zu dem Tage bei 42 Gersons fast ärmlich Gekleideten ein Verhör begonnen, das wörtlich so lautete:
„Wie heißen Sie?“
„Wilhelmine Ernestine Waldmann.“
„Wie alt sind Sie?“
„Neunzehn Jahre.“
„Wo wohnen Sie?“
Oswald erstaunte nicht, eine andere Wohnung als die des Vaters zu hören.
„Leben Ihre Eltern noch?“
„Nur mein Vater, ein Gärtner in der Vorstadt.“
„Womit beschäftigen Sie Sich?“
Die Pause, die hier eintrat, griff Oswald so in’s Herz, als streckte sich eine eisige Hand gegen ihn aus.
Ernestine sagte: „Ich nähe Wäsche für ein Nachweise-Bureau, das unter der Leitung des Frauenvereins steht.“
„Wie viel Brüder besitzen Sie?“
„Fünf.“
„Ist Ihnen bekannt, daß der Aelteste, Heinrich, schon zweimal in Untersuchung war?“
„Ja.“
„Kannten Sie die Betheiligung des zweiten Bruders Wilhelm?“
43 „Nach der Untersuchung gegen Heinrich.“
„Kennen Sie die Vergehen, deren sie schuldig sind?“
„Diebstahl bei Nachbarn.“
„Seit wann sind Ihnen diese Vergehen bekannt?“
„Seitdem ich das Haus meines Vaters verließ.“
„Ihr Vater ist schwach und vernachlässigt seine Pflichten?“
„Die Mutter fehlt. Meine zweite Schwester läßt sich an, ihr ähnlicher zu werden, als ich es leider bin.“
„Warum leider?“
„Weil ich meinen Brüdern gegenüber keine Gewalt habe.“
„Kennen Sie Malvina Wilde?“
„Ja!“
„Seit wann?“
„Sie ist Schulfreundin von mir. Auch wohnten ihre verstorbenen Eltern in unserer Nähe.“
„Wie kannten Sie Malvina Wilde von Character?“
„Froh und gutmüthig, unwahr und eitel.“
„Sind Sie früher von der Verbindung unterrichtet gewesen, durch die Malvina Wilde im vorigen Herbst drei Wochen lang eine auffallende Existenz führte?“
44 Ernestine erröthete und sprach ein festes: „Nein!“
„Sie behauptet aber, ihre Einkäufe immer mit Ihnen gemacht zu haben?“
„Einmal nur! Ich ließ mich von einer ihrer fast unwiderstehlichen Unwahrheiten, in denen sie Meister ist, täuschen. Das Vorfahren in einem Wagen mit einem Bedienten schien mir zu überraschend, um eine Erfindung zu sein. Ich war Thörin genug, ihr einige Tage zu glauben.“
„Haben Sie sie seitdem wiedergesehen?“
„Nur einmal.“
„Auf welche Veranlassung?“
„Sie kam mit Thränen zu mir, klagte, daß sie Feinde hätte, die ihr das Leben verbitterten und all’ ihr Glück zerstört hätten. Man hätte sie als Schwindlerin verklagt.“
„Was verlangte sie von Ihnen?“
„Ich sollte von den kostbaren Dingen, die sich jetzt hier auf dem Gerichte von ihr befinden, aussagen, daß sie diese sämmtlich mit mir damals schon im Herbste auf unserer ersten und einzigen Ausfahrt sich für ihr damals schon besessenes Geld gekauft hätte.“
„Haben Sie Sich diese Dinge draußen angesehen?“
„Ja.“
45 „Können Sie bezeugen, daß sie sämmtlich damals von Ihnen gemeinschaftlich gekauft wurden?“
„Nur von einem Hute kann ich es und von einem Shawl; sie waren beide für mich zum Geschenk bestimmt. Ich nahm sie nur deßhalb in dem Laden an, um das Aufsehen zu vermeiden, wenn ich diese Sachen zu tragen ablehnte, stellte aber nach einer halben Stunde schon Beides zurück. Malvina hat diese Dinge, gutmüthig wie sie ist, mir noch immer aufbewahrt. Alles Uebrige an Ringen, Brochen, Kleidungsstücken ist mir unbekannt und kann erst in neuerer Zeit von ihr angeschafft worden sein. Ich will dieß beschwören.“
„Sie können abtreten, wenn Sie vorläufig das Protocoll noch einmal durchgelesen und unterschrieben haben.“
Ernestine ergriff die Blätter, stellte sich so, daß sie Oswald’s nicht ansichtig wurde, las wahrscheinlich ohne Bewußtsein, voll Vertrauen, unterschrieb und entfernte sich mit mühsamer Fassung, aber in einer unverkennbaren Erhebung und würdevoll.
Oswald hatte die Hand an’s Herz gelegt.
Es drohte ihm zu zerspringen. Es stand bei ihm fest, daß er zwar das auch von ihm verkannte arme, eingeschüchterte und durch eine leichtsinnige 46 Freundin so beschämte Mädchen hier nicht anreden konnte, aber er hätte sich der entschiedensten Herzlosigkeit anklagen müssen, wenn er nicht beschloß, sie noch heute in der von ihr genannten Wohnung aufzusuchen. Es lag in Ernestinens Ton, in ihrer Haltung, in ihrer Art sich auszudrücken etwas so Elegisches, etwas so neu ihn Anziehendes, daß er ihrer, obgleich sie von der Frische, die die freie Luft des Gartens sonst ihren Wangen angehaucht, schon verloren hatte, jetzt wieder mit wahrer Schwärmerei gedenken mußte. Die sanfte Blässe, das öftere Erröthen gaben ihr in seinen Augen etwas Verklärtes.
Und Scharfeneck ahnte wohl die Folgen dieser zufälligen Begegnung. Er sprach sich auch, als beide Freunde nach einem geheimen Verhöre, das Scharfeneck noch mit Ludwig Wächter, dem Mann mit dem weißen Hute, anstellte, und sie später wieder zusammentrafen, darüber mit ängstlicher Besorgniß aus.
„Es thut mir leid, Oswald,“ sagte er, „daß Du Zeuge einer solchen Scene werden mußtest. Dem verkannten, armen, allerdings interessanten Mädchen war diese Vernehmung vor Gericht nicht zu ersparen. Daß sie so grausam dadurch geschärft sein mußte, Dir zu begegnen, thut mir herzlich leid. Uebrigens 47 muß ich Dir sagen, es ist kaum glaublich, was sich damals Alles im Stillen um Dich her bewegt hat, und sich vor Dir verbarg und von Deinem gutmüthig Alles verschönernden Auge nicht beobachtet wurde! Schon seit sechs Wochen hab’ ich die Verwickelungen ganz einfacher, ihren Keimen nach in einer ländlichen Idylle entsprungenen Thatsachen und Begegnungen zu lösen. Ich will heute Abend versuchen, davon ein Bild in der Vorlesung zu geben, die ich bei Frau von Wolmany halten muß. Ich möchte Dir das Versprechen abnehmen, Oswald, daß Du Ernestinen nicht früher wieder aufsuchst, bis auch Du meinen Vortrag gehört hast.“
Oswald hatte Bedenken, fürchtete etwas für Ernestinen Verletzendes, vielleicht gar etwas ihn selbst Betreffendes zu hören …
Aber Scharfeneck sagte: „Du trugst neulich eine Art Dorfgeschichte aus unserer Heimath vor. Ich will einmal eine Stadtgeschichte vortragen, bei der Du weder mit verbundenen Augen, noch sonst in Deinem und leider so allgemein verbreiteten harmlosen Glauben an das ,edle, sittliche, gute‘ Volk persönlich sollst gekränkt werden. Versprich mir jedoch –“
Oswald brach des Freundes Bedenken ab…
48 Der Abend kam heran.
Eine große Gesellschaft hatte sich versammelt. Die Kerzen brannten. Frau von Wolmany hatte den Tisch des Vorlesers mitten unter Blumen und hängende Rankengewächse gerückt. Scharfeneck trat vor, blickte etwas sarcastisch, suchte nach Oswald, der sich in einem Winkel verborgen hielt, und begann erst mit einer Bitte um Nachsicht für eine städtische Dorfgeschichte, wie er sie nannte.
„Glücklicherweise,“ sagte er, „haben wir es in unserm Geschmack dahin gebracht, uns für die kleinen Abenteuer von Bauern, Milchmägden, Viehhirten, Recruten ebenso zu interessiren, wie man sich sonst für Undine und Kühleborn, Schlemihl und seinen Schatten, Goethe’s Eugenien und Theresen, Natalien und Ottilien interessirte. Ich bitte, mein kleines Lebensbild zu nennen: ,Die Weihe der Arbeit,‘ oder wenn Sie einen humoristischen Titel lieber wollen: ,Die Kartoffelsetzer.‘“
Man ermuthigte den allbeliebten jovialen Gesellschafter zu beginnen.
Oswald horchte zu erfahren, mit welchen Menschen er unwissentlich umgegangen wäre. Er war auf eine Satire über das sogenannte ,Volksleben‘ gefaßt und zwar auf eine mit den derbsten Strichen.
49 Drittes Capitel.#
Die Weihe der Arbeit.#
Ich führe, las Scharfeneck, die Aufmerksamkeit der geehrten Hörer – die Hörerinnen stell’ ich bei so unromantischen Gegenständen aus Artigkeit in zweite Linie – auf eine Gruppe von Menschen, die sich in der Nähe einer großen Stadt eine eigenthümliche Aufgabe gestellt haben.
Sie wandern, einige zehn oder zwölf Köpfe stark, aus Männern, Weibern, Kindern bestehend, von den Thoren des rauschenden staubigen Chaos, in dem sie leben, an einem Sonntage in aller Frühe hinaus auf’s Feld und wollen, es ist im Monat Mai, acht Tage nach dem grünen Pfingstfeste, jenen Spruch des Dichters: ,Es giebt im Menschenleben 50 Augenblicke, wo man eine Frage an das Schicksal frei hat,‘ auf ein Stück Ackerfeld anwenden, das in der Ausdehnung von hundert Quadratschuhen zwischen einem blühenden Weizengrunde und einem Mastenwald von Hopfenstangen sich mehrere Jahre als ergiebiger Boden für eines Bauern Rapssaat bewährt hat und dießmal in der Brache gründlich ruhen sollte. Ihre Hoffnung auf eine Ernte ist auf das tägliche Brot des Jahrhundertes, die Kartoffel, gerichtet. Mit der Kartoffel wagen sie einen Dilettantenversuch im Ackerbau, der in großen Städten nichts Seltenes ist. Man miethet einem Bauer, der Armen und Reichen täglich die Milch bringt, ein Stück Feld ab zu einer einmaligen Kartoffelernte. Man entlehnt von ihm, wenn er sie billig giebt, die Satzfrüchte. Im andern Falle bringt man auch selbst seinen Sack voll Aussaat mit und sieht dann zu, was Gott bescheren wird.
Es versteht sich von selbst, daß die Gruppe dieser ,Kartoffelsetzer‘ nicht etwa aus unsern reichen Brauherren oder Bäckern oder Fleischern besteht. Es sind geringe Leute, die mit dem ersten Sonnenstrahl heute vom Bett sich erheben und die ihnen einzig übrige Zeit, den Sonntag, anwenden, um die von ihnen gemietheten hundert Quadratschuh umzugraben, 51 dann mit mehreren vom Bauer entliehenen Hacken Gruben und Grübchen zu machen und diese mit einer Aussaat zu füllen, die der Bauer gleichfalls bereit halten wollte. Doch sind es auch wieder nicht Bettler, die daher vom Thore wandern, an den Kirchhöfen und Schenken vorüber, das erste größere Dorf bei Seite liegen lassen und um sieben Uhr endlich an dem Vorwerke Rugenwalde anlangen. Es sind Leute aus den Mittelschichten, Handwerker, Gesellen, auch ein Meister unter ihnen, deren Weiber, Hausfreunde und die mit Körben belasteten Kinder. Die Männer gehen in Hemdärmeln. Ihre Röcke tragen sie auf Ziegenhainern oder krummgehalsten Schlehdornstäben. Im Sonnenschein funkeln die reinen Hemden, die eine scharfe Kritik ertragen müssen, denn die Führerin des ganzen Zuges und ihre leitende Seele ist eine berühmte Wäscherin.
Der Bauer und sein Gesinde waren in die Kirche nach Buchenau hinüber. Doch hatten einige Kinder die Instruction erhalten, die ,Stadtminschen‘ (im Gegensatz zu den ,Buuerslüden‘) zum Feld hinauszuführen und ihnen einige kleine Säcke voll Kartoffelaussaat und eine Anzahl Spaten, Rechen, Handhauen zur Verfügung zu stellen. Nach einem herzhaften Frühstück ging man um halb acht Uhr an 52 die Arbeit, die sich keineswegs gering anließ, denn der Bauer gab seinen Acker gerade nur so, wie er im vorigen Jahre seinen letzten Raps von ihm geerntet, ihn dann umgepflügt und so zu einer längern Pause bestimmt hatte. Der Gatte der Wäscherin, Steinsetzer, brummte über den Mangel an Vorbereitung nicht wenig; aber seine Frau, seine Schwester, sein Schwager, ein Schneider von einer besondern Muthigkeit, dessen Altgesell, ein dürres, flügges Junggesellelein, drei erwachsene Töchter des Schneiders, ein besonders anmuthiges, sehr gefälliges Mädchen, das man Malvina nannte, Alles ermunterte sich wechselseitig, den Muth nicht sinken zu lassen, sondern mit dem Werke um so mehr zu beginnen, als von Stunde zu Stunde neue helfende Hände von der Stadt nachkommen würden.
Die Männer ließen Getränke wandern. Die Kinder fangen. Die Frauen lachten. Es ging flink und lustig und die anfeuernde Kriegsmusik kam besonders von zwei Menschen, die, obgleich mit verschiedenen Mitteln, doch zugleich die Hände und den Geist in Bewegung setzten.
Die eine muthige Trompete blies Malvina, die andere ein junger Mann mit feinern Gesichtszügen, zierlichem Bart um Lippe und Kinn, sauber gefältelter 53 Wäsche, ein junger Mann, den man Hartmann nannte, die Kinder wohl auch Siegmund.
Malvina trillerte und wirbelte wie eine Lerche, jubelte und zwitscherte. Sie wußte die Arbeiter anzufeuern mit den schönsten Opernreminiscenzen; denn sie hatte sehr oft Billets und sogar an einem Abend für sämmtliche Theater zwei. Sah man das volle, blühende junge Mädchen mit dem Spaten, den auch sie führen wollte, und verglich dabei ihre städtische Tracht, den zierlichen durchbrochenen Strohhut mit fliegenden langen Seidenbändern, eine schwarze Echarpe von Seide und ein Sommerkleid, unten mit dreifachen Volants, so hätte man wirklich glauben dürfen, hier würde eine Theaterscene gespielt. Es war Margarethe aus den Hagestolzen und gerade so wie aus der Maskerade gekommen. Die zarten Hände, die nur das feinste Bügeln bei Frau Peltzern, ihrer ,Tante,‘ besorgten und die im Kräuseln und Plätten der schwierigsten Chemisettenfalten ihres Gleichen suchten, fanden sich zwar mit dem Spaten nicht zurecht, das zierliche Füßchen mit den leichten Sommerkamaschen von Nanking und den Perlmutterknöpfchen daran konnte dem eisernen Scheit keinen Nachdruck geben, aber ihre Mitwirkung war und sollte nur sein eine moralische. Sie belebte die ganze Unternehmung. 54 Sie lachte, sie scherzte, sie sang, sie spottete, und in dem Altgesellen Leimgang, der sichtlich, trotz seiner Jahre, und vielleicht gerade wegen ihrer in sie verliebt war, in dem hätte sie heute geradezu einen Wettkampf mit allen Arbeiten des Hercules hervorbringen können. Tante Peltzer warf ihr zuweilen gewisse Blicke zu, die von einem Nachsinnen Kunde gaben, das viel ausdrücken konnte. Der Hauptsinn dieser oft schmunzelnden, ja zuweilen unheimlichen Blicke war jedenfalls der: ,Schon’ Dich nur, Malvina, sonst liegst Du da und hast die Bescherung!‘
Die andere Belebung und Anfeuerung, die von Herrn Siegmund Hartmann, einem jungen Handlungscommis, ausging, war gleichfalls eigenthümlich.
Der ergriff auch den Spaten, merkte jedoch bald, daß seine Cigarren mit solcher Arbeit in Collision kamen. Er hatte sich dieser Partie nicht etwa als Interessent an der Ernte, sondern nur deßhalb angeschlossen, weil er in Malvina eine Liebe zu ihm voraussetzte. Er ließ bei Frau Peltzer waschen und zog sich die Achtung dieser umsichtigen Frau besonders durch seine Genauigkeit, deutsch: Accuratesse, zu; denn Siegmund Hartmann war einer derjenigen ihrer Kunden, die am schwierigsten zu behandeln waren, obgleich sie für einen Geheimrath und sogar 55 einen jungen Grafen wusch, dessen Vertrauen sie selbst in der Auswahl seiner Completirungen genoß. Sie war es, die dem jungen Grafen Luchsifuchsi die Leinwand ankaufte, sie ließ für ihn nähen und hielt ihm auf eine Art das Haus zusammen, die ohne Zweifel den Neid seines ersten Bedienten, Herrn Morbiller, erregt hätte, wenn nicht Beide in allen diesen Geschäften, wie noch in einigen andern, vorgezogen hätten, Hand in Hand zu gehen. Siegmund Hartmann war indessen noch ,eigner‘ als Graf Luchsifuchsi, der doch seinerseits für einen jugendlichen und nur seinen Erfolgen lebenden Don Juan galt, ,eigner‘ und accurater sogar als sein Kammerdiener Morbiller, der im Punct seiner Vorhemden mit seiner sonst besten Freundin, Frau Peltzer, nicht immer harmonirte.
Und Malvina schien wirklich Siegmund Hartmann zu lieben, obgleich dieser auf den ersten einfachsten Kennerblick ein Tyrann war, ein junger Mann voll Eitelkeit und dem gefährlichsten Selbstgefühl.
Sie bewies ihre Liebe durch Neckereien. Da es Herrn Hartmann unmöglich war, beim Graben, Setzen, Schaufeln seine Cigarren zu rauchen, deren er sich ein Dutzend für den Sonntag in einem Strohetui mitgenommen, so gab er sich das Ansehen, als 56 stünde er über dem ganzen Vorhaben dieser Gesellschaft, und ließ sie es merken, daß sie es sich zur Ehre anrechnen sollte, wenn er sie unterstützte. Und sie rechnete es sich wirklich zur Ehre. Sie ertrug, daß Hartmann unausgesetzt die Hoffnungen verspottete, die man auf die Octoberernte setzte. Allgemein war die Bewunderung vor seinen: Auch nicht übel! A la bonne heure! Merkst Du was? Zwei Schritt vom Leibe! und ähnlichen sogenannten ,Witzen.‘ Hartmann war in Frankreich gewesen, und ohne seine eigene Muttersprache richtig zu sprechen, warf er mit französischen Brocken um sich, die sich in eine an’s Aeffische streifende Nachahmung verloren. Wenn er dann und wann seinen Spaten ergriff und Miene machte, einen Haufen Erde abzustoßen oder zuzudecken, so rief er wie ein französischer Aufläder: Hé! Holá! Houp! womit er eine unbeschreibliche Wirkung bei Jung und Alt hervorbrachte. Mochten diese aber noch so sehr über ihn lachen, noch so sehr sein Hé! Holá! Houp! bewundern, wie wir einen Einfall von Swift oder Voltaire bewundern, das hinderte ihn nicht, in dem Falle, wenn ihm von ihren Spaten auch nur Ein Sandkörnlein an seine weißen Piquébeinkleider sprang, in hellen Zorn auszubrechen und Worte zu rufen von eisigster Gemüthskälte. 57 Diese Gemüthskälte wurde von Allen als Sinn für Sauberkeit und Ordnung aufgenommen, und in der That, auch Malvina schwärmte für ihn.
Soll ich noch einige dieser edeln und echten Volkscharactere genauer schildern?
Genug! Es kam endlich der Bauer Thomas mit seiner ganzen Familie aus der Kirche zurück. Er mußte nicht wenig erstaunt sein, die Arbeit auf seinem Felde in so munterem Fortgange zu erblicken. Der Bauer lachte, nicht ohne einen kleinen Anflug von Neid, wie er dem Landmann eigen ist. Zu einem Lächeln, zu einem Kopfschütteln sogar und zu einem Kratzen hinter’m Ohr war zuletzt Raum genug gegeben. Wie dem schulgerechten Reiter der lateinische lächerlich erscheint, so lateinisch und laienhaft mußte dem Bauer Thomas, seinem Weibe und seinen Knechten diese Ackerwirthschaft der ,Stadtminschen‘ erscheinen. Er stopfte sich die Pfeife, setzte sich unter einen großen Weißfliederbaum, der seinen Räder-, Deichsel- und Pflugvorrath beschattete, und sah der in der Erde wühlenden, übermüdeten, halbtrunkenen Gesellschaft lachend von Ferne zu.
Zur höchsten Freude der Frau Peltzer und zur Erlösung von langer Spannung hatte diese sich inzwischen durch zwei neue Gäste vermehrt, den 58 Kammerdiener des Grafen Luchsifuchsi, Herrn Jean Morbiller, und einen blassen, aber wohlgekleideten Mann in einem weißen Hute, Namens Lude Wächter …
„Lude Wächter?“ rief eine Dame von Scharfeneck’s Zuhörerinnen. –
Er hielt inne.
„Ist das,“ sagte die Dame schüchtern, „jener Ludwig Wächter von der schlesischen Grenze, den einst mein seliger Schwager, der Landrath von Werthern, als ein Muster der seltensten sittlichen Anlagen, die nur im Volke schlummern können, aus einem Dorfe herausnahm und nicht eher ruhte, bis dieß Kind auf Staatskosten erzogen wurde?“
Scharfeneck erschrak fast, daß er so unvorsichtig gewesen und Wächter’s wahren Namen ausgesprochen hatte.
Indessen bejahte er die Frage und fuhr fort:
Wenn man den Kammerdiener des Grafen Luchsifuchsi mit einigen kurzen Strichen äußerlich kenntlich machen wollte, brauchte man nichts, als ihn einen Mann zu nennen, der zu seinem Leibrock eine Elle Tuch mehr als andere Mitmenschen brauchte, ein behäbiges Doppelkinn hatte, das sich tief in seine leichtgeknotete weiße Halsbinde einwühlte, einen rothen Backenbart, Ringe an den Fingern und Ringe in 59 den Ohren. Frau Peltzer rief ihm ein lautes Ach! der Freude entgegen, Malvina fast ein Ach! des Schreckens . . Ludwig Wächter bezog diesen Schrecken auf sich … Dieser gebückte, schmächtig gebaute, verdrießliche Mann mit blasser Miene, stechenden grauen Augen, fast bartloser Lippe war ein halber Gelehrter. Er gab Unterricht in Elementarkenntnissen. Seine Herkunft war unbekannt, Alle aber wußten, daß er ein geregeltes Leben führte, hohe Gönner hatte und sich durch Stundengeben in den untern Sphären allmälig eine Summe Geldes erspart hatte. Berechnete man freilich, wie gering der Ertrag aus solchen einzelnen Groschen sein konnte, so begriff man wiederum nicht, welche Kunst der Oeconomie Herrn Wächter zu Gebote stand. Man behauptete, daß er zugleich die Functionen jener öffentlichen Schreiber verrichtete, die in Rom, Venedig, Paris in ihren Buden auf offenem Markte den jungen Burschen und Mädchen, die nicht schreiben können, ihre Herzensangelegenheiten in briefliche Formen bringen. Für diese Thätigkeit, die sich auch auf schriftliche Eingaben bei Gerichten, ja sogar auf schwungvolle Gelegenheitsgedichte erstreckte, hatte der, wie man sagte, ‚verdorbene‘ Lehrer Lude Wächter – der Ursprung dieses vertraulichen Vornamens war 60 unbekannt – einen weitverbreiteten Ruf. Er mußte in eine Menge von Geheimnissen eingeweiht sein, mußte die Lebensbeziehungen von Menschen kennen, die sich selbst Niemanden verriethen, am wenigsten in der Eigenschaft, nicht lesen und nicht schreiben zu können. Er schrieb dem Schneider alle halbe Jahre seine Rechnungen, einem Krämer führte er sein Jahresbuch, er war in allen Familien heimisch, bei keiner eigentlich beliebt, bei Niemanden eigentlich gern gesehen und doch überall zugegen. Lude Wächter schien auch von Malvina zu wissen, daß sie nicht gut schreiben konnte, wenigstens da nicht so, wo man nicht gern verräth, daß einer so reizenden Außenseite so wenig innere Bildung entspricht. Malvina erschrak vor Lude Wächter wie ein freigelassener Verbrecher vor seinem ihm zufällig begegnenden frühern Inquirenten. Die hübsche Närrin wird nicht viel mehr von Lude Wächter sich haben schreiben und aufsetzen lassen als allerhand ablehnende Huldigungen, aber sie war eitel und verrieth nicht gern, daß sie nur unorthographisch und eigentlich so gut wie gar nicht schreiben konnte, am wenigsten aber verrieth sie dieß gern in Gegenwart des Herrn Morbiller, des Kammerdieners beim jungen liebenswürdigen und schwarzgelockten Grafen Luchsifuchsi.
61 Herr Morbiller und Lude Wächter halfen noch, jener, trotz seines Siegelringes am Finger, dieser trotz seiner geringen physischen Kräfte, an der Kartoffelsaat. Es war noch immer ein großes Stück Arbeit zurückzulegen. Man fand es zu gnädig, daß auch Herr Morbiller hier helfen wollte. Doch zog dieser wirklich den Frack aus, legte sich ein seidenes ostindisches Tuch unter sein mächtiges Knie und fing an mit aufgekrämpten Armen zu wühlen, zu setzen, zu häufeln.
Wer die geheimen Gedanken errathen hätte, die da mit in die Erde vergraben wurden! O du heiliger Boden der Natur! Welche Hände berühren dich! Welche Blicke wurzeln sich in die unbefleckte Reinheit deiner Schollen ein! Der Eine durchwühlt dich stier und schon halbtrunken, der Andere voll innerer Verwünschung um all’ die Plage, der Dritte mit dem Geize eines Harpagon, der Vierte mit den Folterqualen der Eifersucht, ein junges leichtsinniges Mädchen mit Ringen am Finger, die über ihren Stand hinausfunkelten! Nur die Kinderhände arbeiteten mit freudiger Hingebung an die Sache selbst; den Kindern schwebte einzig und allein von ihrer Mühe das erreichte Bild einer geernteten Saat vor. Sie wußten von der Schule her, wie reich sich der 62 Segen Gottes in dieser Frucht bewährt, wie sie von fernem Meere kam, eine Wohlthat der neuen Welt wurde, und wohl erinnerten sie sich, im letzten Herbst gesehen zu haben, wie ein solcher grüner Strauch, den man anfangs für die Frucht selbst hielt und vor hundert Jahren kochen wollte, allmälig abwelkend herausgehoben wird, und was für ein Gewimmel und Gedränge das war! Da hingen an den Wurzeln große und kleine Knollen, Früchte von der Größe eines Weihnachtsapfels bis zu den kleinsten, die einer Erbse glichen! Und wie viel bunte und wunderliche Figuren durcheinander! Früchte, die wie Eier, andere, die wie Kegel aussahen, manche zu zwei, Zwillinge, ein Altes und ein Junges wie zusammengewachsen, das Bild einer Familie, eines ganzen Stammbaumes der Fortpflanzung, eine Caritas der Natur.
Gegen sechs Uhr war denn endlich das mühselige Werk vollendet. Die Sonne stand noch golden. Aber manche der müden Arbeiter waren schon unbeschreiblich ungeduldig geworden. Hartmann entwickelte Characterzüge, die der Hinneigung, die Malvina in der That mit aller Reinheit der Gesinnung für seine ‚Absonderlichkeit‘ und seine ,Eigenheit‘ fühlte, jeden Halt nahm. Sie liebte ihn. Lude Wächter wußte es. Sie hatte bisher noch allen Lockungen 63 und Huldigungen der Welt widerstanden; doch war sie wie eine zu sehr erblühte Rose, die den Gärtner bittet, sie noch in einen schönen Kranz zu winden, ehe sie auseinanderfallen würde.
Die Sonntagsspaziergänger kamen schon von Buchenau herüber und standen an dem Acker still, wo Stadtleute wie Bauern arbeiteten. Sie lachten. Die Scham reihte sich jetzt an Aerger. Der Schneider, der Ehrgeiz und bedeutende Kunden besaß, blickte kaum auf. Der Steinsetzer begann mit den Gaffenden einen Zank. Morbiller seufzte und sprach vom Walde und vom Kaffee, den man selbst hatte kochen wollen, sprach von Brombeerhecken und den grünen Rasenplätzen. Endlich war man zu Ende. Hartmann gab dem ganzen Werk, wie er sagte, den ,Segen‘, indem er mit seinem rechten ,Vernisstiefel‘ einen Bogen rund über das Feld zirkelte und sich dabei auf dem linken Absatz umdrehte. Man belachte auch diese Wendung des glücklichsten aller erzwungenen Komiker, reinigte sich am Brunnen des Bauern und ging dem Walde zu, wo man die im Auge gehabte grüne Stelle, um sie nicht andern Spaziergängern abzutreten, von einigen Kindern hatte bewachen lassen. Der levantische, dünne, aber doch heiße Trank, den man sich auf zusammengerafftem Reißig selber braute, belebte 64 einigermaßen die erloschenen Lebensgeister. Hartmann ergriff schon seine neunte Cigarre. Malvina schwieg. Sie war am meisten erschöpft, sie streckte sich auf einem Umschlagetuche, das sie über dem Rasen ausgebreitet hatte und sah gedankenlos oder gedankenvoll, wer konnte es errathen, in den staubigen Kiefernwald, der sich, da plötzlich Regenwolken heraufzogen, zu verdunkeln anfing.
Morbiller hatte ihr schon einige mal zugeraunt, sie möchte ihm für einige Worte Gehör geben; er hätte ihr eine Mittheilung zu machen.
Endlich brach man auf. Bei der Wanderung durch den Tannenwald drängten sich drei Menschen um Malvina. Sie hatte den Hut in der Hand und schlenkerte ihn an den seidenen Bändern hin und her. Ein ihr zuweilen in dem langen Kleiderbesatz fest sich nestelnder Tannenzapfen gab Gelegenheit, daß sich bald Morbiller, bald Hartmann, bald der durch alle außerordentlichen Eindrücke dieses Tages in Ekstase gerathene Altgesell Leimgang ihr dienstbar beweisen wollten. Eine solche kleine Coquette der Bürgerwelt – wahrlich sie genießt mehr Huldigungen als alle gebildeten ,Töchter edler Herkunft,‘ welche die Sprache der Liebe nur aus ihrem goldgeschnittenen ,Geibel‘ oder der minniglichen ,Amaranth‘ kennen. 65 Ihr Armen, all’ euer Französisch, euer Englisch, eure Musik, euer romantisches Schwärmen trägt euch nicht halb so viel Befriedigung der innern Sehnsucht ein, wie eine solche kleine Königin der Dachstuben- oder Kellerwelt an einem einzigen Sonntage erntet! Malvina tändelte mit der Beflissenheit der drei Männer (im feurigen Ofen der Eifersucht), wie ein Escamoteur mit seinen Bällen spielt.
Endlich aber gelang es doch dem Kammerdiener, sie an einem Busch festzuhalten, während Hartmann eilte, aus Furcht, das Gewitter könnte seine ,Vernisstiefeln‘ überfallen.
„Fräulein!“ – sagte Morbiller und hielt Malvina so fest, daß sie hinter dem Busche stehen bleiben mußte.
„Was wollen Sie?“ fuhr sie auf und wollte sich losreißen.
„Lesen Sie!“ flüsterte Morbiller: „Ein Brief vom Grafen.“
Er drückte ein zierliches Billet in die von einem schwarzen Floretthandschuh bedeckte Hand Malvinens.
Diese aber stieß das Billet hocherröthend zurück und sagte: „Hier, daß ich’s nicht vergesse! Ich brachte den Ring heute der Tante zurück. Sie wollte ihn nicht nehmen. Jetzt nehmen Sie ihn!“
66 Aber Morbiller war schon weitergegangen. Der zierliche kleine Brief mit gräflichem Wappen lag schon zwischen dem Buschwerk mitten unter den Dornen und den Brennnesseln. Des Mädchens Hand zuckte nach dem Papiere. Welche Ueberredung liegt nicht in drei Zeilen, die zugesiegelt und an uns adressirt sind, und noch dazu von solcher Hand! Sie erbrach mit klopfendem Herzen und wollte –
Ja! Malvina! Du wolltest? Was wolltest Du? Bei Lude Wächter Stunden im Lesen und Schreiben nehmen, aber wo fandest Du Zeit, Geduld, wahren Lebensernst dafür! Malvina mußte dem Vertrauten winken, mußte sich’s von Lude Wächter vorlesen lassen und hörte dann durch das geistige Organ aller dieser Menschen folgende Worte:
,Malvina! Angebetete! Ich schwöre Dir, nie Dich zu verlassen, Dein zu sein auf ewig! Laß mich hoffen! Ein Wort der Liebe von Deiner Hand; keine spröde Ablehnung wie bisher! Sei mein, und Dein Leben soll gekrönt werden, wie es Deiner Schönheit, Deiner Liebenswürdigkeit gebührt! Rechne auf mich in jeder Lage Deines Lebens! Ich will Dir Alles sein, wenn Du mir es bist! Dein Edgar!‘
Lude Wächter gab den Brief ruhig an Malvinen zurück und ging. Zitternd hielt das sichtlich 67 gefolterte Mädchen das sauber duftende Papier in Händen. Ohnehin aufgeregt durch die Abwechselungen dieses Tages verdunkelten sich ihr die Augen. Sie sah nichts von Dem, was um sie her war. Sie sah nur den jungen, vornehmen, reichen, schönen Edgar, der diese Zeilen schrieb, ihr so schreiben konnte! Sie sah ihn, wie schon einmal – als sie in Angelegenheiten der Tante bei Morbiller war und Edgar eintrat und sie umfangen wollte und sie ihn zurückstieß, und doch sah sie jetzt die bunten Teppiche, die Bilder, die Vorhänge wieder, die ihr damals einen Eindruck machten wie mit tausend Ueberredungen. Sie blickte auf. Morbiller’s grinzendes Antlitz mit dem rothen Barte und den Ringen im Ohre stand vor ihr. Er sprach: „Nun? Nun?“ Aber sie rief: „Lassen Sie mich!“ stieß ihn zurück und entfloh.
Morbiller hatte den Brief rasch wieder an sich genommen. Mehr wollte er ja vorläufig nicht, dieser Mensch, dem nur ein Burnus, nur eine weiße Kapuze über dem Kopfe fehlte, um ihn zu einem achtbaren Geschäftsmann auf dem Sclavenmarkte von Aleppo zu machen.
Auf dem Buchenauer Tanzsaal kam man gerade zur rechten Zeit an; denn eben brach das Wetter los. Das war in dem Wirthshaus ein Gewühl, 68 ein Lärmen, ein Drängen, ein Drücken, ein Qualm von Tabak, ein Winseln von getretenen Hunden, ein Schreien der Kinder, dazwischen die lustigsten Polkas mit schmetternder Trompete.
Der Steinsetzer war schon so ,wild‘, daß er sich mit den Ellenbogen Bahn brach und mit einem derben Faustschlag einen Tisch eroberte, der, wie der Augenschein zeigte, von Andern besetzt war, die eben tanzten. Er zerschlug bei dieser Gelegenheit einen Spiegel, der eine augenblickliche Confiscation des Umschlagetuches seiner Frau von Seiten der Wirthin zur Folge hatte. Voll Prahlerei löste er sich und das Tuch mit drei Thalern aus, eine Summe, über die dem um Gottes willen um Ruhe bittenden Schneider ein Gedanke kam, als wollte er sagen: „Siehst Du! Da liegen schon drei Scheffel Kartoffeln!“
Malvina tanzte. Bald mit Hartmann, bald mit Andern, die sie aufforderten, mit Manchem, der sie schon kannte.
Hartmann hatte auch im Tanze mehr die Eitelkeit, sich als Tänzer zu zeigen, als die Absicht, durch den Tanz dem Herzen eines Mädchens näher zu kommen, von dem er wußte, daß sie ihn liebte.
Wächter saß unter jungen zechenden Handwerkern und Arbeitern, von denen einige Gärtner, 69 andere Fabrikarbeiter, andere Söhne wohlhabender Fischer aus der Vorstadt waren, junge wilde Männer, die Malvina alle kannte, die sie aber hier und sonst vermied. Die Fabrikarbeiter und Gärtner gehörten einer Familie Waldmann an, die Fischer waren ihre Kameraden, Alles gefährliches, unruhiges Volk, mit dem es zuletzt zum Handgemenge kam. Selbst Leimgang war vom Trunk, vom Tanz und dem Ehrgeiz der Liebe so gehoben, daß er Antheil nahm. Und wirklich – Blut floß. Die ,Freude‘ war hin, das ,Vergnügen‘ gestört und die Rückkehr zu Fuß, selbst wenn es nicht regnete, jetzt unmöglich. Der Regen strömte aber. Man mußte nach dem Vorwerk schicken und den Bauer um einen Leiterwagen nebst möglicher Bedachung durch ein Leintuch bitten. Nach einer Stunde, die unter Vorwürfen, Zank, Drohungen, Geschrei der Kinder hinging, kam endlich ein Knecht des Bauern mit einem bedeckten Wagen, wo sich auf ausgebreitetem Stroh die ganze Gesellschaft wie die zu Markt gefahrenen Kälber zurechtlegen mußte. Leimgang, von allen Seiten mit nassen Tüchern umwunden, mußte fast hinauf getragen werden. Hartmann hatte alle Gegenwart des Geistes, das Interesse an Malvinen und sogar an seinen Stiefeln verloren. Als man den total sinnlosen Steinsetzer 70 in’s Stroh hineinschob, riefen die Kinder halb weinend halb lachend: „Hé! Holà! Houp!“
Vom Thore an wurden die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft bald da, bald dort abgeladen.
Zuletzt blieb nur noch Morbiller, Malvina und Lude Wächter.
Der Knecht wollte nicht weiter. Es war spät; er drängte, umkehren zu dürfen. Malvina stieg am Palais des Grafen aus. Morbiller ersuchte sie einzutreten, da er ihr einen Regenschirm leihen wollte. Lude Wächter ging, um seinen weißen Hut zu schonen. Das große Portal öffnete sich, der zweite Bediente leuchtete. Morbiller sprach von einem Regenschirm. Malvina trat nur auf die Schwelle der Portierstube. Es war dunkel. Morbiller wollte ein Feuerzeug anzünden. Das Schwefelholz zündete nicht. Malvina trat etwas näher. Es öffnete sich eine Thür …
Genug! Der Sonntag war zu Ende. Frühkartoffeln gab es unter der Hand schon im Juli, auf dem Markt freilich erst im August. Um diese Zeit konnten die Kartoffeln im Vorwerk Rugenwalde erst blühen. Der Bauer Thomas wunderte sich, daß so wenig Nachfrage kam. Nur der arme Leimgang hinkte einige male aus der Stadt hinaus und sah wehmüthig die weißen Blüthen an, die man auf der 71 verkümmerten mißrathenen Pflanzung zählen konnte. Der Bauer tröstete, es würde sich schon machen. Im Spätoctober hätte die Ernte mit Muße und Lust heimgebracht werden können, aber sie war nicht danach. Nicht der zehnte Theil der gesetzten Früchte war aufgegangen. Die Wurzeln von denen, die geblüht hatten, waren keine Symbole der allfruchtbaren Caritas der Natur. Die Theilung erzeugte einen Proceß, der Proceß Verwickelungen, die noch nicht geschlichtet sind. Und als der Schnee geschmolzen war und die ersten Lerchen stiegen, trieb der Bauer seine Pflugschar über den entweihten Acker und ließ das neugeschärfte Eisen tief in die Erde greifen. Sein Auge sah rechts und sah links und achtete des Bogens, wenn das Eisen sich zu wenden hatte. Er hielt den Strich mit nerviger Faust. Entdeckte er da und dort noch einen glänzenden Gegenstand, eine Haarnadel, eine zerknitterte Bandschleife, sah er die Reste weggeworfener Cigarren, es kümmerte ihn nicht in seinem ernsten Werke. In diesem Jahre sollte der Acker mit neuer Kraft tragen und gerade die Kartoffel, um deren Erzeugungsfähigkeit ihm sein Feld bedroht schien. Mit frohem Muthe pflügte er die Saat ein. Zwei Pflüge hintereinander. Einer, der die Furche für die Saat öffnete, der andere, der 72 sie deckte. Raum zwischen den Reihen, nicht die Früchte zu eng aneinander, daß Schäufler und Häufler im Sommer wirken und schaffen können. Und im Frühherbst trug der Acker hundertfältige Frucht. Das Auge der Liebe hatte die knospenden Augen unter der Erde bewacht, sie vor Mißwachs, wucherndem Unkraut und ungebetenen Eindringlingen gehütet. Als die geernteten Scheffel Sack an Sack beisammen standen, dachte der Bauer freilich nur an den möglichst guten Verkauf auf dem Markte, aber wenn er dem Pfarrer den ganzen Vorfall, wie ich ihn schilderte, erzählt hätte, so würde dieser ihm vielleicht gesagt haben: Die Natur ist nur bis zu einem gewissen Grade Sclavin. Sie dient willenlos, dient aber nur Dem, der sie liebt und pflegt. Die Natur hört auf eine todte Kraft zu sein, wenn man Das, was sie so gern bringt, für eine Nothwendigkeit hält, die sich von selbst versteht. Sie kann uns durch wunderbare Einfälle, die wir nicht erwarteten, überraschen. Sie kann Erzeugnisse hervorbringen, die kaum möglich scheinen, Bastardwerke des Zufalls. Aber in Dem, was der Mensch ihr zumuthet und was er von ihr voraussetzt, erfordert sie einen heiligen Cultus, wie jedes ernste Werk, das gedeihen und gelingen soll. Auch die Arbeit hat ihre Weihe.
73 Die Gesellschaft urtheilte.
Alle Bedenken, die sich anfangs geäußert, in Blicken, leisem Murmeln auch ausgesprochen hatten, verschwanden vor einer Moral, die die geschilderte Scene demnach als eine Art Allegorie und anwendbar auf manchen Unterschied zwischen Berufenem und Unberufenem erscheinen ließ. Man unterdrückte die nähere Forschung nicht, warum der Vorleser einer Person, jenem Ludwig Wächter, nicht die Bedeutsamkeit gegeben hätte, die durch die Aeußerung der Dame, deren Schwager ihn so gerühmt, verheißen schien. Scharfeneck wich nähern Erörterungen über alle diese Persönlichkeiten aus und sagte:
„Ich bin kein Dichter, kein Philosoph, seien Sie mit der Plauderei zufrieden, die ich gegeben habe, um einmal das Volk so zu schildern, wie man es gewöhnlich nicht schildert!“
Oswald aber war verletzt und innerlichst verwundet.
„Nein! Nein!“ rief es in ihm. „Nicht das ganze Volk ist so tiefbeschädigt wie diese städtischen Erdäpfelpflanzer! Es giebt auf diesem niedern Boden noch duftende Blüthen! Du hast Deinen Zweck verfehlt, Freund! Ich glaube an das Volk und suche mir in der Schale den edlern Kern! . .“
74 Er riß sich still von der Gesellschaft los, brachte eine schlaflose Nacht zu und führte am Morgen den Plan aus, der bei ihm unwiderruflich feststand, auf’s neue anzuknüpfen mit einem für ihn und ein reines Auge rein und gerechtfertigt dastehenden Mädchen aus dem Volke.
75 Viertes Capitel.#
Unter dem Dache.#
Oswald hatte in der von Ernestinen im Protocoll bezeichneten Wohnung vier Stiegen hinter sich und hielt jetzt einen Draht ohne Griff in der Hand, der eine Klingel bedeuten sollte.
Eine alte Frau öffnete.
Die Nähterin, die für den Frauenverein arbeitete, hieß es, wäre nicht daheim, würde aber wohl jeden Augenblick kommen. Oswald fragte, ob er warten dürfte. Mit dem größten Vertrauen öffnete man ihm eine auf den engen Vorplatz hinausgehende Thür …
Er trat in Ernestinens kleines, aber freundliches Zimmer. Nur ein Fenster erhellte es; es ging auf’s 76 Dach hinaus. Eine Schlafkammer nebenan war geschlossen. Unter den schrägen Seitenwänden der Mauer nach der Straßenseite zu standen eine Commode, ein geschlossener Waschtisch. Die Fensternische selbst war verstellt mit einem Tisch, auf dem unter mancherlei Nähapparaten ihm Schulhefte und Bücher auffielen. Auf dem Fensterbret stand ein Tintenfaß mit einem Kästchen, das wahrscheinlich Stahlfedern enthielt. Die Beinhauer’sche bunte Etiquette der Stahlfedern lag wenigstens auf dem Tische zerschnitten zu kleinen Sternen, auf denen Zwirn und Seide aufgewickelt war. Die Wirthin, die mehr aus Höflichkeit als aus Mißtrauen den wahrscheinlich seiner Weiß-Wäsche wegen so hoch gestiegenen Herrn aufhalten wollte, erzählte ihm von Ernestinens Fleiß und lachte über die Bücher und Schreibhefte. Oswald, wohl entnehmend, daß Ernestine die Absicht hatte, ihre wildwachsene Erziehung etwas zu berichtigen, blätterte darin. Es waren französische Elementarbücher, Rechenbücher, Lesebücher mit verschiedenen Schriftsorten. Der Lehrer, erfuhr er, war auch hier wieder Herr Wächter. Oswald gefiel sich in dem Gedanken, ob dieser Trieb der Selbstbildung wohl über Ernestinen gekommen wäre, seit sie sich so plötzlich seines Interesses für sie beraubt sah? Einige Augenblicke darauf nahm ihm Ernestine selbst 77 diesen Glauben und sagte ihm als nächste Ursache dieser Studien eine ganz andere Veranlassung.
Ernestine war nach einer Viertelstunde erschienen. Sie erröthete wohl, war aber von dem Besuche Oswald’s nicht überrascht. Sie gestand ihm offen, daß eine innere Stimme ihr gesagt hätte, ein ihr und ihrer Familie früher so freundlich gewesener Mann würde nach der traurigen Begegnung vor den Schranken des Gerichtes sie nicht unbesucht gelassen haben, um ihr ein Wort des Trostes zuzusprechen. Oswald erstaunte, Ernestinen von dem Geschick ihres Verkehrs mit den Gerichten fast ganz allein erfüllt zu sehen. Er hätte viel lieber gehabt, in Ernestinens Seele nur das eine Gefühl, das des Schmerzes und des Verlassenseins durch seine Trennung, anzutreffen. Im Gegentheil, diese Trennung verstand sich für Ernestinen, wie sie sagte, von selbst. Was sollte er auch länger in ihrem Hause, in ihren bescheidenen Verhältnissen, unter rohen Geschwistern, die ihr schon angefangen hatten Schande zu machen! Von ihrer glänzenden Ausfahrt mit der immer abenteuerlicher gewordenen und doch nach Scharfeneck’s Erzählung fast bemitleidenswerthen Malvina sprach sie wie von einer großen ‚Unvernunft,‘ welche die Quelle alles ihres gegenwärtigen Mißgeschickes geworden wäre. Und 78 als Oswald sie über den Proceß beruhigte und von ihrer dem Inquirenten, seinem Freunde, vollkommen erwiesenen Nichtbetheiligung an dem Leichtsinn eines Mädchens, das später auf den Namen bald des Grafen, bald seines Kammerdieners überall entliehen und geborgt hatte, sprach, mußte er die mit wahrer Angst ausgesprochene Frage hören: „Aber kommt denn das nicht Alles vor’s öffentliche Gericht?“
Oswald beruhigte sie und erstaunte, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß Ernestine Ehrgeiz besaß. Sie gestand ihm, daß sie zum ersten male über ihre mangelhafte Bildung erschrocken wäre, als sie, wegen ihrer Brüder vor Gericht gerufen, lesen, schreiben und einige dabei vorgekommene Zahlenverhältnisse hatte ausrechnen sollen. Man hätte damals manches Wort, das sie eben gesprochen, in der Niederschrift verbessert; seitdem wage sie kaum den Mund aufzuthun in der Angst, die Sprache wohl irrthümlich zu gebrauchen. Sie war darüber so in Sorge gerathen, daß sie beschlossen hatte, nachzuholen, was bei dem traurigen Frühverbrauch der Kinder zu den Zwecken des Hauses und der väterlichen Gewerbe bei den Kindern der Armen auch an ihr versäumt worden wäre. Oswald erstaunte über alle diese Aufklärungen, die Ernestine in einer eigenen Mischung von Scherz und Ernst 79 gab. Ausdruck von Bedeutung gab ihr dabei ihre Darstellung der Lagen, in denen sie seither sich befunden, und eigentlich raffte sie Alles mit Aengstlichkeit zusammen, was sie an Thatsachen nur auftreiben konnte, um nur ihren Besuch zu unterhalten oder wohl noch mehr, um eine gewisse Leere und Lücke nicht eintreten zu lassen, die bei einem gefahrvollen Gegenüber mit Männern für Frauen oft verhängnißvoll wird. Oswald hatte freilich des plaudernden Mädchens Hand ergriffen, aber es lag so viel Unbefangenheit in ihr, daß er seiner aufwallenden männlichen Empfindung Schranken setzte … Die in Scharfeneck’s herber Skizze mitgetheilten Verhältnisse kannte sie größtentheils. Sie bestätigte dieß chaotische Drängen und Ringen im Schooße des Volkes. Sie bestätigte dieß halbbewußtlose Treiben und Wachsen der Masse, dem ein Ziel und Anhalt überall fehle. In der That thut es so außerordentlich Noth, daß die Bildung selbst sittlich feststeht und sich von Unten her nur das Gute anschließen läßt.
Inzwischen kam eine Störung. Herr Wächter, der Lehrer, hatte draußen geklopft. Oswald erhob sich mit der Bitte, sich zuweilen nach Ernestinens Wohl erkundigen und sie mit seinem Rathe unterstützen zu dürfen. Ernestine erröthete und dankte 80 befangen. Den blinzelnden Seitenblick des draußen harrenden Lehrers, der einen Stoß von Büchern unter’m Arme trug, bemerkte Oswald im Gehen um so weniger, als für sein mildes Gefühl schon bei Scharfeneck’s Vortrag etwas Rührendes in dieser Abhängigkeit so vieler Bildungslosigkeit von einem einzigen verkommenen Lehrer gelegen hatte.
Und wem ist es dann nicht schon so ergangen, daß er zu einer Begegnung mit einem weiblichen Wesen sich mit allen Einflüsterungen seiner Eitelkeit und seiner Phantasie rüstete, sich ausmalte, wie er vor Augen, von denen er sich bevorzugt träumte, hintreten, wie sich niederlassen, wie sprechen, was erwidert hören würde, und zurückgekehrt an den Ort, wo die Phantasie oder die Eitelkeit ihre triumphirenden Erwartungen sich ausmalte, wie fühlte man sich enttäuscht, beschämt, nicht selten von einem edeln, würdevollen und tugendhaften Weibe bestraft!
Oswald hatte ein ähnliches Gefühl. Er hatte geglaubt, er würde von Ernestinen sich heute nicht trennen können, ohne daß sie vertrauensvoll in seinen Armen läge; er hatte geschwelgt in den Gedanken, sie würde ihre Trauer an seinem Herzen ausweinen; und nun war der Eindruck so völlig anders. Er fand sie gereifter, entwickelter als früher, wenn auch die 81 Röthe ihrer Wangen sich verloren hatte und dafür die Ränder der schönen vollen klaren Augen geröthet waren. Aber ihre ganze Erscheinung wirkte heute mehr electrisch abweisend, als magnetisch anziehend. Diese Bildungsstudien, wie erfreuten sie ihn, wie erfüllten sie ihn mit staunender Achtung! Aber daß er nicht aus Ernestinens Geständnissen hatte abnehmen können, sie dächte nur im Rückblick auf ihn an eine Ausbildung! Aus Furcht vor der gerichtlichen Oeffentlichkeit lernte sie? Das streifte alle Blüthen seiner Träume ab –
Und doch, doch wuchs auf die Länge wieder ihre ganze Erscheinung. Die Dachkammer des vierten Stockes, so still – so friedlich – dieß freie selbstständige Walten einer Arbeiterin für sich, – diese engbegrenzte, ihr allein angehörende Welt, – diese Wärme der Hand, die er einige Minuten gehalten hatte, – diese räthselhaften und so viel verschließenden Augen, – dieß sichere Sichselberangehören eines blühenden, schönen Mädchens – alles Das schmückte ihre Erscheinung mit neuen Zaubern und war wiederum etwas so Verändertes für Oswald’s sanftes Gemüth, daß er zu Scharfeneck hätte eilen und ihm sagen mögen: Auch in dieser kleinen Welt, die Du verachtest und so herabsetzest, giebt es Erschei-82nungen, welche die Seele ergreifen und die Dein ,emporgerichtetes‘ Auge lange prüfen müßte, bis es ihren Grund und ihr wahres Wesen ganz erforscht hätte. In weichen Seelen wirkt die Liebe electrisch; in starken magnetisch. Für Scharfeneck’s Natur wäre es unmöglich gewesen, sich durch Ernestine angezogen zu fühlen. Oswald aber – je öfter er sie sah, desto offener wurde sein Bekenntniß. Sie beschäftigte ihn und nicht etwa nur sein Gefühl des Verlassenseins, sein Bedürfniß des traulichen Sichanschmiegens, wie er sich zuweilen vorwarf und mahnend sich anklagte; nein, die Wiederherstellung dieses Umgangs war tieferes Bedürfniß. Trug seine dem Idyllischen zugewandte Natur die Schuld, so konnte er diese Natur nicht ändern. Er sah Ernestinen fast jeden dritten Tag, schrieb ihr oft in der Zwischenzeit, schickte ihr Bücher zum Lesen, holte sie an Orten ab, wo er sie zu finden hoffen konnte. Und weil ihn zu diesen Huldigungen Liebe trieb, reine und lautere Liebe, so wagte er in beklemmender Betrachtung seiner Gesellschaftsstellung am wenigsten stürmische Bewerbung. Wieder fürchtete er, jede Berührung der Hand müßte die zarte Luftspiegelung seines gegenwärtigen Lebens zerstören. Es war wieder wie in der Vorstadt. Und ist nicht reine Liebe das Gegenbild Pygmalion’s? 83 Pygmalion konnte nicht ertragen, daß ein Marmorbild von unendlicher Schönheit unter seiner Hand nur kalter Stein blieb und die Götter Griechenlands, die Götter des sinnlichen Olymp schenkten ihm eine in seinen Armen Fleisch und Blut gewinnende Galathee. Die Liebe der christlichen Welt aber formt umgekehrt die Wirklichkeit, das volle, warme, pulsirende Leben in Gegenstände der Anbetung um, in Marmorbilder, die nur der Andacht und Verehrung geweiht.
So verflossen bis zu einer hereinbrechenden Katastrophe Monate.
Oswald konnte vor den Augen der Nachbarn nur für Ernestinens Geliebten gelten und wie sehr er es war, bewies ihm die unbedingte Hingebung ihres Vertrauens. Würde sie sein Werben, seine Besuche, seine Aufmerksamkeiten geduldet haben, wenn sie davon nicht beglückt gewesen wäre?…
Und fast ein Jahr ging so hin. Ernestine war von der Nothwendigkeit eines öffentlichen Erscheinens an den Schranken des Gerichtes verschont geblieben. Ihre Brüder waren von der Strafe, die sie für kleine Diebstähle traf, endlich wieder frei geworden; auch Malvina, die ,bei verschlossenen Thüren‘ ein Urtheil getroffen, war auf freien Füßen und hatte sich vom Schauplatz ihrer Verirrungen nach Hamburg 84 entfernt. Oswald vernachlässigte seine Laufbahn nicht. Er arbeitete in Civilsachen und mit Erfolg. Er schrieb den Eltern regelmäßiger als in der Zeit, wo er bei Frau von Wolmany verkehrte. Er war fröhlich, befriedigt durch sich selbst, durch seine Lage, durch Ernestinens Liebe, die ihm diese schenkte ohne einen Gedanken an die Zukunft. Sie wußte, daß sie nicht das einzige Mädchen aus dem Volke war, das einem von der Gesellschaft über sie hinaus gestellten Jüngling eines Tages nichts sein würde als ein aufgegebener Zeitvertreib oder ein Opfer der Rücksichten, die eine gesunde Vernunft in der Ordnung finden mußte. Oswald’s Gattin … das war ein Begriff, der unter ihrem Dache nicht ausgesprochen wurde.
Scharfeneck war verreist in die gemeinschaftliche Heimath. Um so eifriger in seinen Besuchen wurde Oswald eines Tages von einer seltsamen Unruhe überrascht, in der er Ernestinen betraf. Sie hatte schon oft in großer Angst ihm gestanden, daß ihre Brüder sie belästigten, Geld von ihr erpreßten, sie des Hochmuths anklagten und auf wilde Art ihr friedliches Leben störten. Sie hatte nicht den Muth hinzuzufügen, daß die Brüder aus ihrem Verhältniß zu Oswald Berechtigung zogen, sie mit Spott und Hohn 85 zu behandeln. Sie sagten ihr wohl, sie sei nur Ihresgleichen und kaum mehr als Malvina Wilde … Oswald ahnte diesen Zusammenhang und glaubte, als er sie an jenem Tage in äußerster Unruhe antraf, ihr die Versicherung geben zu müssen, daß er sie vor den Belästigungen ihrer Verwandten schützen würde. Es war aber, wie sie sagte, eine andere Ursache, die sie in diese Aufregung versetzte. Oswald forschte. Unter Zusicherung des unverbrüchlichsten Schweigens erfuhr er, daß ihr ausdauernder, unermüdlicher Lehrer, Herr Wächter, ihr eine ansehnliche Summe Geldes übergeben hätte, die sie ihm aufbewahren sollte, er fürchte in seiner Wohnung seit einiger Zeit für deren Sicherheit. Oswald fand dieß Vertrauen lästig. Er sah darin eine Zudringlichkeit. Schon längst war ihm aufgefallen, daß er in dem nahe an die Vierzig gerückten Manne, obgleich er vor ihm seinen weißen Hut immer bis tief zur Erde zog, eine Art Rivalen hatte. Ernestine nannte Wächtern einen verkommenen und bemitleidenswerthen Menschen. Immer furchtsam, gedrückt, ängstlich hätte Wächter ihr schon oft gesagt: er sehne sich, die Liebe nur eines einzigen Menschen auf Gottes Erde zu gewinnen. „Es ist ein schmutziger Geizhals,“ erwiderte Oswald, „ein Angeber, ein Zuträger, einer der Menschen, wie ich deren 86 Vielen schon begegnete, einem Fritz Hackert, einem Privat-Schreiber Schmelzing und ähnlichen unsichern Leuten, ohne die leider die Gerechtigkeit nicht den Sieg über die Werke der Nacht davontragen kann!“ Ernestine hatte diese Anklage entschieden in Abrede gestellt und ihren Lehrer mit einer Wärme vertheidigt, die Oswald mit Scherz und doch verwundert aufnahm. Nun fand er das Vertrauen Wächter’s, Ernestinen eine Summe von fünfhundert Thalern zur Aufbewahrung zu übergeben, geradezu aufdringlich. Er sah darin eine ganz offene Bewerbung, eine Darlegung seiner Glücksumstände und nannte das Geld einen Sündenlohn. „Nein,“ erwiderte Ernestine, „ich weiß, daß Wächter seit Jahren spart, schon als Kind in einer Erziehungsanstalt ein eigenes kleines Vermögen erworben hat, weil sich vornehme Gönner für ihn interessirten, er darbt sich den Bissen vom Munde und lebt mit der Uhr in der Hand.“ „Nun,“ fiel Oswald ein, „dann ist die Verantwortlichkeit, die man für die Bewahrung einer so ansehnlichen Summe hat, nicht minder gefahrvoll.“ Ernestine gab ihm Recht und versprach, dem Lehrer das anvertraute Gut schon morgen zurückzustellen.
Es war an einem Spätherbsttage. Scharfeneck war zurückgekommen und hatte dem Freunde tausend 87 Umarmungen und Grüße von der Heimath gebracht. Oswald nahm auf seinem Zimmer alle Beweise der Liebe mit gleicher Stimmung entgegen, verrieth aber doch, daß auf die Länge ihm Scharfeneck’s Besuch drückend wurde: es war die Zeit, wo er nunmehr schon jeden Abend zu Ernestinen ging. Aber gerade, als wenn Scharfeneck geahnt hätte, daß Oswald eilte, gerade deßhalb blieb er. Er rauchte nicht einmal, streckte sich nicht einmal behaglich, wie er pflegte, auf dem Sopha, sondern trommelte mit den Fingern auf den Tisch und erzählte Dieß, erzählte Jenes und blieb. Wie Oswald nahe daran war, nach der Uhr zu greifen und damit ein discretes Zeichen seiner Ungeduld zu geben, begann Scharfeneck ein Geständniß, das den Freund seine Uhr, seine gewohnte Stunde und für heute Ernestinen vergessen ließ. Scharfeneck berichtete seine Verlobung mit Evelinen, Oswald’s Schwester. Der überraschte Bruder sprang auf, warf sich dem Freunde an die Brust und mit Thränen, die ihm vor Freude und Rührung in die Augen traten, rief er: „Eveline verlobt? Und mit Dir? Doch mit Dir?“ Scharfeneck mußte erzählen, wie er die längst im Stillen gehegte Neigung der Schwester für ihn erkannt und wie er dazu gekommen, sich auszusprechen. Eine Schwester, eine gute und selbstlose 88 Schwester kann einem selbstlosen Bruder über Alles gehen. Was wir Männer an dem weiblichen Geschlechte oft hassen, verdanken wir – wer will es widerlegen? – den Erfahrungen an Bräuten oder Gattinnen, und was wir an ihm wahrhaft lieben, verdanken wir der Erinnerung an unsere Mutter oder an eine Schwester, die sich bewährte und selbstlos war.
Nachdem Scharfeneck dem Freunde sein ganzes Glück erzählt, war natürlich für heute Oswald’s Plan, Ernestinen zu sehen, aufgegeben.
Am folgenden Morgen kamen Briefe von Hause, Anfragen, Aufträge, Grüße wieder an den Freund, die er selbst ausrichten mußte. Er suchte Scharfeneck schon in aller Frühe auf, und so neu befestigt war jetzt der Zusammenhang beider Herzen, so viel gab es zu erzählen und so ernstlich Pläne zu entwerfen, daß Oswald wieder den ganzen Tag von Scharfeneck gefesselt blieb. Und konnte sich der jüngere Freund verschweigen, daß in dem Bunde Scharfeneck’s mit seiner gebildeten, in geregelten, edlen, reinen, in der Weihe des Familienlebens aufgewachsenen und von ihr behüteten und nun ihm plötzlich ganz wie neu verklärten Schwester etwas lag, was ihn mit der Geschichte seines eigenen Herzens gegen den Freund tief herabdrückte? Hätte Scharfeneck die Hand der 89 Frau von Wolmany, wie man lange glaubte, gewonnen gehabt oder sich mit einer von den Finanzagententöchtern verlobt, sein Verhältniß zu einem armen Mädchen aus dem Volke würde ihm nicht nur mit der vollen Poesie einer höheren Berechtigung dagegen bestanden haben, sondern es hätte sein Gefühl an Wahrheit und innerer Begründung noch überwogen. So aber gegen diese ruhiggeschlossene, zwei edle Familien beglückende Verbindung, gegen diese von den heiligen Laren des Hauses gestützte Liebe, die eine hoffnungslose gewesen war, da Eveline nicht glauben konnte, bei Scharfeneck mit den Erscheinungen der großen Welt wetteifern zu dürfen, gegen dieß dennoch erfolgte Erklären der Gefühle des Freundes an dem kleinen Brunnen des Bades, am Rande der eingefriedigten Stahlquelle, in den traulichen Schatten eines nahegelegenen Parkes, der einst Scharfeneck selber gehören sollte, gegen diese tiefe, gehaltvolle, innere Sittlichkeit des Glückes seiner einzigen Schwester trat sein Bund mit einem Mädchen der Vorstadt, einer Schwester verbrecherischer Brüder, einer Proletarierin, die vor der Bewerbung eines unheimlichen Menschen, der ihr, um seine Mittel zu zeigen, fünfhundert Thaler aufdringt, wie vor einem maskirten und fast in ernstliche Ueberlegung zu ziehenden 90 reellen Eheantrage erschrecken mußte, entschieden in den Schatten. Er schwieg zwar nicht, als ihn Scharfeneck nach Ernestinen fragte, er verwies ihm seinen Spott, doch mußte er schweigen, als der Freund sagte: „Deine Eltern sind nicht wenig betrübt über diese Verirrung, wie ich sie nennen muß. Sie haben von mehr als einer Seite darüber die genauesten Erkundigungen eingezogen. Pfarrer Dämmer erzählt jeden Posttag Neues. Man glaubt Dich verloren. Ich gab aber dem Vater Recht, der mir sagte, sein Stolz verböte ihm, Dir über diese unglückselige Folge einer Bekanntschaft zu schreiben, die er leider selbst veranlaßt hätte. Ich erklärte Allen, daß Du Dich sammeln würdest. Und in der That komm’ ich wieder auf meinen alten Satz zurück. Ich sprach von Goethe’s Egmont vor länger als einem Jahre, denke an Jean Jacques Rousseau! Was wäre aus diesem großen Geiste geworden, wenn er sich von dem unwiderstehlichen Drange nach den untern Regionen der Gesellschaft hätte befreien können! Die Großen zogen ihn hervor und nur weil er linkisch war und eitel und sich nirgends benehmen konnte, erklärte er die Großen für falsch, hassenswürdig, erbärmlich und kehrte immer wieder in den Schmuz einer geringen Existenz zurück mit einem Weibe wie Therese Levas-91seur! Wohl, Du willst kein Rousseau sein und ich will Dich nicht kränken, wenn ich Ernestine Waldmann mit Therese Levasseur vergleiche. Es mag ein braves, mit einem starken Geist begabtes und anziehendes Wesen sein. Aber die Umgebung, Freund! Diese Menschen, die an ihr haften! Wie kannst Du Das trennen von ihr, einen trunksüchtigen Vater, verbrecherische Brüder, sittenlose Freundinnen! Du sagst vielleicht, Du trügest sie Dir empor aus diesen Flammen wie Mahadöh der Gott der Erde beim Dichter das verlorene Kind der Sünde! Aber der Gott, der zu dem reinen Aether einer vorurtheilslosen Welt steigt, wirst Du durch eine Heirath mit diesem Mädchen nie werden. Im Gegentheil, mit ihr verbunden, dann beginnt erst die irdische Bedingung, dann hört die Entwickelungsfähigkeit, die sich jetzt an Deiner Hand zu bilden sucht, auf; dann tritt der Abschluß des Bishierher und nicht weiter! sogar unter dem Glorienschein der häuslichen Tugend und der bürgerlichen Einfachheit auf. Selbst dieß Abwerfen der angeborenen verwandtschaftlichen Elemente würde mich an dem Mädchen erschrecken. Ich würde immer fürchten, ein solches Wesen büße etwas von der Reinheit ihres Herzens ein, wenn man sich vor den Besuchen eines unwürdigen Vaters verleugnen 92 muß, wenn man nothgedrungen kalt und schroff gegen Brüder, Schwestern, Freundinnen aufzutreten hätte. Ich würde Dich ewig bemitleiden, Freund, wenn Du Dir diese Zukunft bereitetest. Noch ist es Zeit, daß Du Dich aufraffst! Noch gelingt Dir ein männlicher Entschluß und wenn Du Liebe bedarfst, wenn Du sehen mußt, daß Deine Person mit klopfendem Herzen irgendwo erwartet wird, so knüpfe irgendwo ein Verhältniß an! Geh’ von diesen kleinen Wiesenrainen fort! Die Wolmany, eine Mitvorsteherin des Frauenvereins, hat nicht gelacht, als man ihr sagte, eine gewisse Ernestine Waldmann würde von der Liste der Arbeiterinnen auszustreichen sein, seit sie die ihr übergebenen Arbeiten unregelmäßig abliefere und ihren Unterhalt von einem jungen Referendar Namens Ernst Oswald bestritten erhalte – sie ist bleich geworden wie die Wäsche, die sie zu controliren hatte; sie fuhr noch im Spätsommer nach Marienbad; ich wette, daß diese Frau Alles aufgäbe, Litteratur, Kunst, alle Musen, Goethe, Schiller, die Vorlesungen, Alles, Alles, wenn Du Dich entschließen könntest .…“
Oswald unterbrach den Freund.
„Zücke Dolche auf mich,“ sagte er, „aber vergifte sie nicht!…“
93 Aufgeregt schritt er im Zimmer, sprach von Uebertreibung, schmollte sogar, aber dieß neue Bild – das mit der Näharbeit, dem Frauenverein und der Frau von Wolmany – das wirkte wie damals der Bericht Dankmar Wildungen’s vom Blindekuh-Spiel im Walde. Er sah diese Arbeiten, er hörte seinen Namen genannt. Dieß Gefühl, sich gegenständlich unter den Leuten zu wissen und im Munde Anderer und als Schatten an der Wand und besprochen und erörtert in einem verborgenen Verhältnisse – das war ihm furchtbar. Es verging wieder ein Tag, bis er sich entschließen konnte, Ernestinen wiederzusehen.
Scharfeneck benutzte diese Stimmung. Die Nachmittage, die Abende schnitt er dem Freunde geradezu ab, bemächtigte sich seiner und gab ihn ohne Gewalt nicht mehr heraus. Ernst Oswald, ein Gemüthsmensch, verzweifelte an seiner eigenen Schwäche. Er wollte an Ernestinen ein Lebewohl schreiben und zerriß die Briefe. Er wollte gehen und erschrak am fünften, sechsten Tage, wie er sein Ausbleiben bis zum vierten, fünften entschuldigen sollte. So gingen zehn Tage hin. Mit Gewalt legte er sich Entfernungen auf, die er zurückzulegen hatte, er nahm Fiaker und fuhr weit über Land, um sich zu zwingen, zu Fuß zurückzukehren, Abends spät erst wieder in der Stadt 94 einzutreffen. Dennoch erlag er. Bei einem dieser gezwungenen Spaziergänge überkam ihn in Mitten eines Waldes, an dem stillen Spiegel eines kleinen Sees, wo am Uferrand zwischen Schilf und Moos stillverborgen Vergißmeinnicht blühten, eine solche Wehmuth, daß er an sein zuckendes Herz greifen und fast laut ausrufen mußte: „Ich ertragʼ es nicht länger!“ Er rannte durch den Wald der Landstraße zu, rief den ersten Miethwagen an, den er leer zur Stadt zurückfahrend erblickte, sprang hinein und bezahlte für die beschleunigte Fahrt das Doppelte.
Noch war die Sonne nicht untergegangen, als er am Eingang der Straße, wo Ernestine wohnte, still halten ließ, den Wagen verließ und mit stürmischem Drange die Stufen zu dem bescheidenen Kämmerlein im Dache hinaufsprang. Er klopfte. Man öffnete nicht. Er klingelte. Man näherte sich drinnen schüchtern und behutsam. Die alte Frau, die den Kopf zwischen die kaum geöffnete Thürspalte steckte, fragte ängstlich: „Wer da?“ Oswald nannte sich. Man öffnete und berichtete jetzt Dinge, die ihm das Haar zu Berge sträuben mußten .…
Ernestine war gefänglich eingezogen! Ihr Zimmer war untersucht, ihre kleinen Habseligkeiten waren versiegelt worden.
95 Ludwig Wächter, den Lehrer Ernestinens, hatte man auf einem der am Wasser gelegenen Quais in verwichener Nacht ermordet gefunden.
96 Fünftes Capitel.#
Ludwig Wächter.#
In großen Städten verdrängt ein Ereigniß das andere. Nur der Anfang und das Ende dunkler Verwicklungen beschäftigt eine Zeit lang die allgemeine Neugier. Der Anfang über den Tod Ludwig Wächterʼs brachte eine Darstellung, die, aus vielerlei abweichenden Meinungen herausgelesen, etwa so lautete:
Ein Privatlehrer wäre in der Nacht auf offener Straße, am Kopfe mit einem scharfen Gegenstande stark verwundet, gefunden worden. Man hätte unter den Effecten seiner Behausung nach dem möglichen Anhalte irgend eines Verdachtes gesucht und unter seinen Papieren die Bemerkung gefunden, daß von ihm ein Ersparniß, im Betrage von fünfhundert 97 Thalern, an Ernestine Waldmann, eine von ihrer Hände Arbeit lebende Gärtnerstochter, die er, wie das Gerücht hinzusetzte, hätte ehelichen wollen, wäre anvertraut worden. Die Polizei stattete bei diesem Mädchen einen Besuch ab, fand sie auffallend bestürzt, verlangte das übergebene Geld und traf sie unvermögend, das Eigenthum des Erschlagenen auszuliefern. Da sie die Auskunft, wo das Geld geblieben, verweigerte, auch über den Tod des Lehrers bis zur Verzweiflung in Thränen ausbrach und nicht etwa über den Tod des Lehrers selbst so sehr, sondern über Umstände, die mit ihm zusammenzuhängen schienen, so hätte man kein Bedenken getragen, sich sogleich ihrer Person zu versichern. Die Untersuchung führte der kürzlich der Staatsanwaltschaft beigegebene Assessor Scharfeneck. Und wie sich in tragische Dinge oft ein komischer Zwischenfall drängt, eine derjenigen Störungen, die das öffentliche Verfahren für Verbrecher, die vielleicht binnen kurzem aus dem Leben zu scheiden haben, ganz besonders grausam steigern kann (wir erinnern nur an die komischen Wirkungen der Zeugenschaft in dem Processe des Grafen Bocarmé), so wurde auch bei dem Tode des allbekannten Lude, wie ihn das Volk nannte, ein zum Lachen reizendes Wort erzählt. Der bis zum Tod 98 Verwundete hätte nämlich nur noch so viel Kraft gehabt den Namen irgend eines Fisches auszusprechen. Seine letzte Besinnung, als man ihn aufhob, in einer Tragbahre von dannen trug, war mit dem Namen eines Fisches erfüllt, den er, wie die Leute sagten, vielleicht gern aß oder der, wie die Aerzte erklärten, ihm durch die Hallucinationen des erschütterten Gehirns kam, vielleicht auch durch die Ideenverbindung des Ortes wo ihn der mörderische Ueberfall traf; denn es war dicht am Wasser, in der Nähe der daselbst aufgestellten Fischkästen. Erst einer späteren Zeit sollte es aufbehalten bleiben, aus diesem letzten von Ludwig Wächter ausgesprochenen Worte andere Schlüsse zu ziehen.
Für Oswald begann eine Zeit der Trauer. In seiner einmal unwiderstehlich von Ernestinen beherrschten Hingebung bot er sich als Vertheidiger Ernestinens an. Da er selbst aber ein Zeuge im Processe werden mußte, konnte er als Vertheidiger nicht bestätigt werden. Er wünschte Einlaß zu ihr, Unterredung. Sie wurde ihm verweigert.
Scharfeneck versicherte, daß die moralische Ueberzeugung vorhanden wäre, Ernestine wäre an der blutigen That selbst völlig unbetheiligt, aber ohne 99 Zweifel wisse sie den Mörder. Bei ihren Verwandten hätte man nichts Auffallendes entdeckt; so lange sie aber die Auskunft über das ihr von dem Gemordeten anvertraut gewesene und bei ihr nicht gefundene Geld verweigerte, könnte sie nicht auf freien Fuß gestellt werden. Uebrigens würde sie gut gehalten und dürfte sich nach Wunsch beschäftigen. Sie nähe, läse, schriebe und befände sich meistens in einem brütenden Nachdenken. Scharfeneck verschwieg nicht, daß sie auf seine Erinnerung an Oswald gerade diesen am wenigsten zu sehen und zu sprechen verlangt hätte.
Oswald hatte das Doppelgefühl des innern Vorwurfes, Ernestinen zehn Tage aufgegeben zu haben und das des Schmerzes über den Vorfall selbst. Er sah Ernestinen, wie schon einmal, wieder in ein Gewebe von räthselhaft entsetzlichen Geheimnissen verstrickt und doch stand sie ihm rein und schuldlos da. In seinen eigenen Zeugnissen für sie hatte er Erklärungen gegeben, die über die Fragen des Richters hinausgingen, ja einem öffentlichen Geständniß seiner Liebe gleichkamen. Auch kannte man bereits sein ganzes Verhältniß zur Angeschuldigten. Begreifen läßt sich, wie ihn dieser Vorfall der Gesellschaft gegenüber ungünstig stellte. Nur das einzige 100 Haus der Wolmany besuchte er noch. Freiern Blickes die Menschen und die Welt übersehend, zog ihn diese wohlwollende Frau ausdrücklich an sich. Hier war es, wo er sich allmälig sammelte, allmälig für die Umgebungen wieder empfänglich wurde.
Die alten Wintervorlesungen begannen. Man brachte, was Jeder bringen konnte, und nahm, was geboten wurde. Er selbst kaufte sich von der Nothwendigkeit, lesen zu müssen, durch eine Anzahl Gedichte ab, die seine Stimmung in möglichster Allgemeinheit aussprachen. Scharfeneck dagegen gab wieder eine Ueberraschung aus seiner Criminalpraxis. Bei der endlichen Oeffentlichkeitsreife des Processes über den Tod Wächterʼs hatte er die Anklageacte abzufassen gehabt und durfte sich eine Mittheilung über die Persönlichkeit, um die es sich vorzugsweise dabei handelte, und deren inzwischen näher bekanntgewordenen Ruf um so mehr erlauben, als die Oeffentlichkeit bald jede Verschleierung aufhob. Oswald kannte die Discretion seines Freundes. Er durfte es wagen, einer Vorlesung beizuwohnen, zu der sich ein außerordentlicher Zustrom, ja sogar Menschen gedrängt hatten, die sonst in die Kreise der Wolmany nicht für immer aufgenommen waren. Scharfeneck las 101 die Geschichte Ludwig Wächterʼs und nannte seinen Vortrag: Der Wahrheitstrieb.
An den Landrath eines der schlesischen Grenze nahegelegenen Verwaltungsbezirks, begann er, gelangte vor länger als dreißig Jahren eines Morgens die Meldung, daß einem benachbarten Gutsbesitzer aus einem mit vielen Kosten angelegten Fischteiche die schwersten Karpfen wären gestohlen worden. Der Gutsbesitzer bäte, Alles aufzubieten, den Dieb zu entdecken und natürlich wo möglich noch mit den Karpfen selbst.
Der Landrath, nach einiger seiner üblichen Betrachtungen über die Sündhaftigkeit des Zeitalters und die verdorbenen Sitten sogar der unschuldigen Landbewohner, rief den ihm zu seiner practischen Polizeipflege beigegebenen Gensdarmen und trug ihm auf, sein Pferd zu satteln und alle nur erdenkliche List und Spürkraft anzuwenden, den Plünderer eines Fischteiches kennen zu lernen, dessen leckern Inhalt der Landrath aus den Mahlzeiten, die der Gutsbesitzer, Herr Semmler, den Standespersonen der Umgegend zu geben pflegte, vollkommen zu würdigen wußte.
Der vom Landrath beauftragte Gensdarm war in seiner Truppe ein Unterofficier. Er nahm seiner Gewohnheit gemäß den ihm ertheilten Auftrag mit 102 ruhiger Aufmerksamkeit entgegen. Er bedurfte dieser Zurückhaltung, denn sein Chef hatte die Gewohnheit, statt seinerseits Winke über mögliche Verdachtsspuren zu geben, immer die in Anzeige gebrachten Polizeifälle nur mit einer Fülle von allgemeinen Erwägungen zu begleiten, die bei jeder Contravention gegen die gute Ordnung und den allgemeinen Landfrieden, und wenn es sich um einen ausgenommenen Karpfenteich handelte, Politisches, Irreligiöses und sonstig Himmelschreiendes in einer Fluth von Jeremiaden zur Rüge brachte. Kam dann noch die Frau Landräthin hinzu und ließ auch sie sich in Erörterungen über die näheren Umstände solcher Begebenheiten ein, so konnte man, wie der Gensdarm dießmal bei den auch im Hause des Gutsbesitzers vortrefflich zubereiteten Karpfen mit Recht und ohne alle Figürlichkeit sagen durfte, aus der Sauce gar nicht mehr herauskommen und verlor jenen Vorsprung, der bei allem ,Gelingen der practischen Polizei‘ das erste und Haupterforderniß ist.
Der Gensdarm beschloß zuerst zu Herrn Semmler selbst zu reiten. Der Landrath hatte von der Art, wie sein Untergebener diesen wichtigen Fall behandeln wollte, zwar eine andere Auffassung, allein ein für allemal hatte sich der Unterofficier schon bedungen, 103 daß die Ausführung seiner Recherchen und Vigilationen seine eigene Sache wäre. Langheinrich hieß der Gensdarm. Es war einer der eigenthümlichsten Menschen, die jemals einen grünen Rock mit blauem Kragen und ditto Aufschlägen getragen haben. In seiner frühen Jugend auf eine freiere Laufbahn angewiesen, hatte Langheinrich Militärdienste genommen und lange Zeit sich beflissen, in der Artillerie, die seine Waffe war, es bis zur silbernen Degenkoppel zu bringen. Leichtsinn, fröhlicher Jugendübermuth verdarben diese Pläne. Seines frühesten Zeichens Oeconom, hatte er nach mancher Störung der neun Jahre, die er im doppelten Tuche zugebracht, sich von dem letzten Reste eines kleinen Vermögens auf den Versuch einer Pachtung gelegt und Landwirthschaft getrieben. Verheirathet mit der Tochter eines armen Wirthes konnte er bei seinem sorgsamen Eifer einige Erfolge voraussehen. Doch blühten sie ihm nicht. Mißwachs, üble Wahl der Pacht, Unglück mit dem angekauften Viehstand, offenbarer Betrug eines Capitalisten, der sich an Langheinrichʼs Gewinn betheiligen wollte, alle diese Umstände kamen zusammen und zwangen den auf einem gefährlichen Gebiete operirenden Neuling, von seinem Wagniß abzustehen. Langheinrich liquidirte. Rathlos, ohne Mittel, 104 verlassen von jedem Beistand, ergriff er die ihm als Hilfsarbeiter der Polizei möglich gemachte Rückkehr in den Militärdienst und war bereits seit geraumer Zeit an der schlesischen Grenze als Unterofficier eines Gensdarmencorps postirt. Er fügte sich in diesen schweren, aber eine gewisse, beinahe möchte man sagen poetische Freiheit gestattenden Dienst mit einer zuweilen humoristischen Ergebung. Von seiner frohen Jugendlaune hatte er sich einen Rest leichter Lebensauffassung erhalten, die ihm leider durch manche häusliche Noth mit Weib und Kind, durch die dienstliche Abhängigkeit und gewisse, oft melancholische Anwandlungen getrübt wurde. Sein Amt selbst trug nicht wenig zu dieser jeweiligen Verstimmung bei, die ihn mitten unter den Seinigen und selbst bei gelungenen Untersuchungen und dem Lobe seiner Vorgesetzten überfiel. Langheinrich hatte ebenso viel Herz wie Verstand. Diese Charactere sind nicht glücklich. Sie möchten Alles leicht nehmen und doch treibt sie ihr Eifer, ihre Gewissenhaftigkeit bis an das Ziel, das ihnen entweder ihre Pflicht oder ihr Ehrgeiz steckt. Er ruhte und rastete nicht, bis er ein Verbrechen entdeckt hatte, und wenn er den armen Sünder von seinem Weibe, seinen Kindern, seinen Eltern und Geschwistern mit sich nehmen mußte, brach ihm das 105 Herz. Die Nothwendigkeit, so Vieles gegen sein Gefühl unternehmen zu müssen, hatte ihn schwermüthig gemacht. Oft wenn er einsam durch die Föhrenwälder ritt und der Säbel an den Weichen seines Pferdes klirrte und klapperte, traten ihm Thränen in die Augen. Er gedachte dann der Vergangenheit, alter glücklicher Tage und verglich sie mit seiner Gegenwart, die ihn zum Diener eines drückenden und schmerzlichen Berufes machte.
Bei Herrn Semmler hatte Langheinrich alle nur möglichen Untersuchungen angestellt. Der schöne, von Hängeweiden umschattete Teich war in einer stürmischen Nacht fast gänzlich ausgefischt. Die Spuren von Tritten, die wohl im Wiesenrande des Teiches sichtbar waren, verloren sich zur Hinterpforte des Parkes, von da aber in das hier allgemeine Element, den Sand. Drei Tage lang spähte Langheinrich in der ganzen Gegend. Mit einer ihm, so lange sein Ehrgeiz gereizt war, eigenen Schlauheit und pfiffigen Umsicht wußte er auf die treuherzigste Art da und dort ,auf den Busch zu klopfen‘. Gastwirthen, Müllern, einsamen Büdnern sah er fast wie zufällig im Vorbeireiten in die Küche. Mit Gesinde schäkerte er. Alles vergebens. Die gestohlenen dreißig bis vierzig Karpfen blieben unentdeckt. In den 106 nahegelegenen Städten waren Karpfen verkauft worden, aber unter verdachtlosen Umständen. So blieb trotz der Prämie, die Herr Semmler ausgesetzt hatte, trotz der nun immer unwirscher werdenden Mienen des Landrathes der Thäter unentdeckt. Langheinrich konnte nichts erwidern, wenn die Landräthin murrte und über die nächste Weihnacht klagte, wo sie seit Jahren gewohnt war, nach der Bescherung die ihnen vom Herrn Semmler verehrten Karpfen und eine aus ihrer ostpreußischen Heimath geschickte Schachtel Marzipan zu verzehren.
Am vierten Tage nach jener Anzeige ritt Langheinrich in der Abenddämmerung zum ,Schloß‘ des Herrn Semmler, um den betrübenden Bericht von der Erfolglosigkeit aller seiner Bemühungen und das tiefste Beileid der Frau Landräthin abzustatten. Er ritt langsam und wollte nicht einmal, wie sonst gewohnt und jedem Gensdarmen zukommt, rechts und links lugend und forschend um sich blicken. „Schäme Dich!“ sprach er zu sich selbst. „Du hast die Bäume am Weg, die Aehren auf dem Felde in Verdacht, Böses zu thun! In jedem Busch schläft Dir ein Verbrecher, bei jedem Lüftchen meldet sich Dir eine Unthat! Du willst hier auf Deinem Gaule thronen wie der einzige Gerechte, und wer weiß, ob Du nicht 107 noch Mißtrauen in Dich selber setzest und die Karpfen vielleicht in Deinen eigenen Pistolenhalftern stecken!“
Wie Langheinrich so mißmuthig um sich herblickte, näherte er sich einem Dorfe, das er gleich am ersten Tage eines kleinen durch seine Gärten fließenden muntern Baches wegen, die Illritz genannt, mit Späheraugen durchsucht hatte. Wie er dicht bei den Hecken ist, welche die von der Illritz durchschnittenen Kohlgärten des Dorfes einfriedigen, sieht er einen Knaben daherlaufen, baarfuß, mit ärmlichen Kleidern. Der Knabe winkt ihm schon von ferne, duckt sich unter die Hecken und macht eine Miene, als wenn er ihm etwas zu sagen hätte. Langheinrich hält seinen Fuchs an. Der Knabe, sich umsehend, schleicht näher und steht mit geöffnetem Munde vor dem Gensdarmen, bei dem er offenbar ein Anliegen hatte. „Was willst Du, Junge?“ frägt Langheinrich. Und als der Knabe, ein Kind von vielleicht neun Jahren, schweigt, frägt er wieder: „Wer bist Du? Wie heißt Du?“ Der Knabe antwortete in offenbarer Aufregung: „Ich bin Wächterʼs Lude.“ „Nun? Was giebtʼs, Lude?“ fragte Langheinrich, betroffen von dem blitzenden unruhigen Auge des Knaben. Jetzt fiel dieser mit den Worten heraus: „Herr Gensdarm! Ich weiß, wer die Karpfen gestohlen hat!“ „Die Karpfen? Welche Karpfen? 108 Aha! Nun, wer denn?“ Es währte eine Secunde. Der Knabe sammelte Kraft zum Geständniß und sagte dann: „Mein Vater hat sie gestohlen.“
Bei diesem überraschenden Worte eines Kindes, das seinen Vater als Dieb anklagte, war es Langheinrich, als hätte sein sonst so scharfes Ohr nicht recht gehört. „Wer?“ wiederholte er mit aufgezogenem Augenlid … „Mein Vater hat sie gestohlen!“ wiederholte der Knabe mit einer wunderbaren Festigkeit. „Kommen Sie nur hinterʼs Haus bei uns. In der Illritz … da sind sie alle.“ „Aber warum giebst Du denn Deinen eigenen Vater an?“ fragte Langheinrich, seiner eigenen lieben Kinder gedenkend. „Weil sie mein Vater gestohlen hat!“ sagte Lude. „Heutʼ Nacht soll meine Mutter die Kufe nehmen und die Karpfen in die Stadt tragen auf den Markt. Sie will nicht. Da hat sie der Vater geschlagen. Er ist eben zum Müller gegangen. Kommt er wieder und die Mutter geht nicht, so hat er gesagt, wolltʼ er sie umbringen. Drum sagʼ ichʼs Ihnen, Herr Gensdarm, daß der Vater die Karpfen gestohlen hat.“ „Also Deine Mutter schickt Dich?“ fiel Langheinrich sich von seiner Bewegung allmälig sammelnd ein. „Ihr habt mich auch schon die Landstraße heraufreiten sehen und habt Angst gekriegt?“ „Nein, 109 ich wollte selbst zu Ihnen und allein, Herr Gensdarm“, sagte der Junge mit immer gleicher Festigkeit. „Die Mutter weiß nicht.“
Langheinrich mußte schweigen, mußte sich sammeln: es erschütterte ihn zu sehr, ein Kind zu sehen, das seinen eigenen Vater zum Verbrecher machte, der nun der strafenden Gerechtigkeit anheimfiel! Da der Knabe still stand und mit ruhiger Gelassenheit zu dem Pferde hinaufsah, sagte Langheinrich noch: „Sindʼs denn noch alle Karpfen?“ „Nein“, sagte der Junge, „vier hat der Vater an den Müller drüben verkauft. Die andern aber sind alle noch in der Illritz. Die Mutter soll sie nach der Stadt tragen oder er schlägt sie todt.“ „Geh nach Hause, Lude Wächter!“ fiel der Gensdarm ein. „Laß Dir nichts vor Deinem Vater merken, auch vor der Mutter nicht! Sei still oder sie schlagen Dich jetzt alle Beide todt.“ Damit gab Langheinrich dem Pferde die Sporen und wie er sich noch einmal umsah, war Ludwig Wächter, der Angeber seines Vaters, hinter den Hecken verschwunden.
Erschüttert von dem Vorfall trabte Langheinrich zuerst zu dem bezeichneten Müller. Der wohnte in einsamer Abgelegenheit. Die Sonne war schon untergegangen, doch blieb es hell genug, um noch 110 Untersuchungen und im Dorfe Verhaftung vorzunehmen. Unterwegs begegnete Langheinrich schon dem Vater Ludeʼs, der eben vom Müller kam. Es war eine kurze stämmige Figur. Offenbar scheuen Blickes und eilfertigeren Ganges als die Landleute, wenn sie unter den Feldern wandeln, daherschreitend, bestätigte sein Erscheinen schon des Sohnes Angabe. Und doch hätte Langheinrich dem Mann, der ihn vermeiden zu wollen schien und gerade durch sein Gewissen doch gezwungen wurde, mit einem kräftigen Guten Abend! dicht an ihm vorüberzugehen, zurufen mögen: „Wächter! Dein eigenes Kind hat Dich verrathen!…“ Er bezwang sich natürlich, grüßte sogar scherzend, machte Halt und fragte, ob der Müller daheim wäre, er hätte ihn wegen der Steuer zu fragen. „Der Müller nicht,“ stotterte Wächter, „aber seine Frau!“ „Ist auch gut!“ sagte Langheinrich und gab die Sporen. Mit befremdetem Blicke sah Wächter den Gensdarmen über ein Brückchen der Illritz reiten und hinunter zur Mühle.… An der Mühle bedurfte es für Langheinrichʼs scharfes Auge keiner langen Ueberlegung, wo er sich zuerst hinwenden sollte. Er stieg vom Pferde, bandʼs an einen Zaun und ging die paar Schritte in das Haus zu Fuß, um, wie er sagte, sich einen Span aus der Küche zu holen, den er 111 für sein Riemzeug bedurfte. Eine Magd der Müllerin war zugegen. Ein paar Scherze scheinbarer Galanterie, dabei einige Blicke auf die Töpfe und den Herd der Küche stellten sogleich heraus, daß heute und gestern hier Fische verzehrt waren. Die Magd lobte ganz unbefangen die Nase des Gensdarmen, der sogleich von Fischen sprach und ließ ihn erst auf Hechte rathen. Dann sagte sie selbst, es wären Karpfen gewesen, und die hinzugekommene Müllerin konnte nicht anders als bestätigen, daß ihr Mann diese Karpfen von dem Büdner Wächter erstanden hatte; wo der sie her hätte, wisse sie nicht. „Aber doch wohl aus einer reinen Quelle?“ sagte Langheinrich scherzend, bestieg seinen Gaul, und ritt zum Dorfe hinauf. Spornstreichs. Seine Gedanken waren schon wie nur von der Sache selbst gehetzt. Er begriff nicht, wie sich Karpfen in der Illritz lebendig erhalten konnten, da ein rinnender Bach kein stilles Wasser ist, wie es jene bemoosten Häupter bedürfen. Der sogleich requirirte Ortsschulze erschrak nicht wenig und erklärte den Fall wegen der Illritz für unmöglich, folgte aber rasch und sogleich mit einem Zuge, der sich schon aus der jungen müßigen Dorfbewohnerschaft gebildet hatte. Es ging in des Büdner Wächters Haus. Wächter war im Garten, die Frau in der Küche. 112 Sie wurde sofort bleich wie die Wand, als sie den Gensdarm und alle die Leute sah. Wächter und Lude standen im Kohlfeld, durch das sich die schmale kleine Illritz schlängelte. Beide hatten eben Weidenzweige in der Hand, die der Vater von einem Baume schnitt und der Sohn über den Bach legen sollte.… Langheinrich hatte immer einige harmlose Redensarten bereit, wenn er eben seinen Fang sicher schon in der Hand hatte. Hier brauchte er nur zu grüßen. „Wetter,“ sagte er, „standet Ihr einst bei den Kanonen? Macht Ihr Faschinen, Wächter? Guten Abend! Wie gehtʼs? Teufel, was habt Ihr denn da mit der Illritz vor? Soll die nicht hinunter mehr nach Walddüren fließen? Das muß ich sagen! Der Teich da ist doch zu klein für die Karpfen! Da hättest Du sie bei Semmlerʼn lassen sollen, Wächter! Wächter, laßt nur Alles jetzt ruhig liegen und kommt nur in Gottes Namen gleich mit mir! “
Es zeigte sich, daß Wächter der durch das Dorf ohnehin mit nur wenig Wasser fließenden Illritz – der Müller half sich unten durch Schleusenwerke, Abfallgitter und allerhand Wiesenrinnsale – ein eigenes Bette abgegraben hatte, in dem zwei Sanddämme das Wasser in stiller gestauter Ruhe erhielten. In diesem künstlichen Tümpel wimmelte es von 113 schwarzgoldglänzenden Karpfen. Die geschnittenen Weidenzweige sollten den Raub bedecken. Es war zu spät. Mit stummer Ergebung und wie zum Tod zusammenbrechend, folgte der überführte Dieb dem Ortsschulzen und der lautlosen Menge, welche die That des sonst unbescholtenen Mannes, eines ehemaligen und noch jetzt zur Landwehr verpflichteten Soldaten, nicht begreifen konnten. Man empfand nicht Hohn, man empfand Mitleid. Es gab Allen einen tief inneren Schreck, als Wächter nur nach seiner Mütze fragte und ohne Abschied von seiner jammernden Frau und dem einzigen, abwärts gewandten, auf die Kohlfelder blickenden Knaben so von dannen gehen mußte. Man brachte seine Mütze; sie hatte eine Cocarde und ringsum einen rothen Streifen. Langheinrich duldete nicht, daß Wächter diese Mütze aufsetzte. Er behielt sie, als seiner unwürdig, in der Hand, während der Verbrecher durch das Dorf in den Gewahrsam des Schulzen geführt wurde. Man nahm ein Protocoll auf und noch in derselben Nacht ließ Langheinrich erst einen berittenen Amtsgenossen requiriren, dann geleiteten Beide den Karpfendieb in aller Frühe in das Inquisitoriat der nahegelegenen Stadt, wo man gerade am großen Wochenmarkte vorüber mußte, gerade an den Fischbehältern, wo es 114 munterer und fröhlicher herging als in dem Herzen Dessen, der seinen Fang hier geglaubt hatte heute verwerthen zu können.
Als Langheinrich dem Landrath den ganzen Vorgang, so wie er von mir erzählt wurde, mitgetheilt hatte, brach sein Chef in die Worte aus: „Wunderbar und ohne Gleichen! Soll man denn noch glauben, daß Sittlichkeit, Tugend, Moral und christliche Gesinnung in dieser Canaille wurzeln! Dieser unwürdige Landwehrmann! Und ein Kind, das jetzt auf Ruhe und Ordnung im Lande sehen muß! Merkwürdig! Ein Junge, der seinen eigenen Vater angiebt! Ich lasse anspannen! Das hoffnungsvolle Kind muß ich kennen lernen.“
Langheinrich erlaubte sich eine Entgegnung,
„Es ist ja gerade, Herr Landrath,“ sagte er, „als glaubten Sie, der Junge hätte die Anzeige uns zu Liebe gemacht?“
„Wem denn sonst!“ erwiderte der Landrath. „Alles, was Sie mir von dem Vorfalle auch bei der Arrestation des Taugenichts, der dem Kriegsheere Schande macht, erzählen, beweist ja die pure Seelengröße des Jungen, eine Conduite, wie mir so etwas unter solchen Umständen noch gar nicht vorgekommen ist! Sagen Sie selbst, Langheinrich, wenn 115 der Junge eine entsprechende Erziehung erhielte, was könnte aus Dem nicht werden!“
Langheinrich hatte den Muth nicht, seine Gedanken auszusprechen. Er strich sich seinen Knebelbart und bemerkte nur: „Der Junge wollte seine Mutter vor Schlägen behüten und gab deßhalb lieber den Vater an.“
„Ach was! “ fiel der in allen Lagen immer eines gewissen Schwunges bedürftige Landrath ein und ging dabei in seinem Zimmer auf und ab, daß die Tassen auf der Servante klapperten. „Die Prügel, die der Wächter seiner Frau angedroht hat, wenn sie die Karpfen nicht auf den Markt trüge, werden die ersten nicht gewesen sein, die die Frau schon besehen hat, ohne daß sie davon gestorben ist!“
„Es soll gegen den Mann doch sonst nichts vorliegen.“
„Geprügelt hat er seine Frau! Längst! Ich weiß das! Hier zu Lande prügelt jeder seine Frau, bei den Deutschen wenigstens! Drüben die Wenden weniger. Die glauben noch Heiden- und Hexenkram und wo dergleichen noch aufkommt, stehen sich die Frauen besser. Nein, Langheinrich, dafür haben Sie die Bildung nicht, das zu begreifen. Ich weiß es. Die Wächter hat alle Wochen ein paar mal 116 ihren Dezem gekriegt, so gut wie jede andere deutsche Frau hier, und um die Mutter hat der Junge den heroischen Schritt nicht gethan! Das war Seelengröße, Ordnungsliebe, Sinn fürʼs Gesetzliche, und ich lasse mirʼs nicht nehmen, ich muß das Kind sehen und dʼrüber Bericht machen. Ohnehin haben wir Herrn Semmler zu seinen Karpfen zu gratuliren.“
Der Landrath ließ anspannen. Langheinrich versprach bis zur Illritz ihn zu begleiten. Zu Herrn Semmler selbst mochte er nicht eintreten. Er wollte den Schein vermeiden, als beanspruche er eine Belohnung. Das Einzige versprach ihm noch der Landrath, das Geheimniß des Kindes hier in der Gegend vor aller Welt aufrecht zu erhalten. Niemand dürfte die That des Jungen erfahren, am wenigsten die Mutter; „denn“, setzte der Gensdarm hinzu, „ich habe es dem Kinde versprochen. Glauben Sie mir, die Mutter würde jetzt ruhig die Hehlerin abgeben, wenn sie den Stehler aus dem Inquisitoriat wieder zurück hätte. Lude hat sich zwischen zwei Stühle gesetzt.“
Der Landrath ließ sich nicht irre machen. Mit den Worten: „Dʼrum muß man ihm helfen! Von Staats wegen! Das verstehen Sie nicht, Langheinrich! Diese Geschichte liegt tief im Herzen und unter den Nieren! Da könnte ein Prediger einen Vers 117 dʼrüber machen!“ bestieg er seinen Einspänner, den er gewohnt war selbst zu führen.
Im Hause des Büdners und Landwehrmannes Wächter an der muntern Illritz sah es inzwischen gar traurig aus. Die Dorfleute arbeiteten im Felde. Doch einige Alte und die Kinder, die daheimgeblieben, folgten dem im Dorfe einfahrenden Landrath und dem Gensdarmen, um die Karpfengrube noch einmal mit betrachten zu können. Ein eigenes Urtheil, eigene Justiz, wenn auch nur in Mienen und Worten, hatten diese Leute nicht. Diese Gegenden des Vaterlandes sind so seit Jahrhunderten gewohnt, nur regiert und geführt zu werden, daß sich überall da, wo die Autorität ihre Hand walten läßt, ein Schweigen und Gehenlassen zur Gewohnheit gebildet hat. Diesen militairisch-disciplinirten Stämmen geschah es schon zu oft, daß sie da, wo ihr Rechtsgefühl einmal sich in natürlichem Ausbruche gern Luft gemacht hätte, von der Autorität zurückgewiesen wurden mit Worten: Ob sie mitzureden hätten? Ob sie Dieß oder Das was anginge? Ob sie Advocatensporteln bekämen oder Gerichtskosten zu bezahlen fürchteten? So sah man hier tausendmal, daß selbst das Urtheil über Diebe und Mörder dem Volke nicht gestattet wurde, und Diebe und Mörder gegen 118 Die, die ,ihre Nase in fremde Dinge steckten,‘ von den Gensdarmen und Ortsbehörden in Schutz genommen wurden. Genug! Die Frau des Büdners saß in der Küche und rührte stilltraurig in einem Topfe. Der Landrath polterte in der armen Hütte seine Verwünschungen aus, lechzte aber in alle Winkel mit sehnsüchtigen Augen nach Lude. Im Garten, in einem kleinen Kohlfelde stand der auch ganz geruhig und verlas von den blaugrünen Blättern die Raupen. „Wieder etwas Sauberes und Accurates!“ sagte der Landrath zu Langheinrich, als er draußen an der Illritz die eigenthümliche Vorrichtung untersuchte und den Jungen so still da raupenlesend antraf. Der Ortsschulze, vom Felde requirirt, erklärte alles Geschehene noch einmal aufʼs Deutlichste, während Langheinrich schwieg und seine Augenweide an seinem Chef, dem Ordnungsschwärmer hatte, der Lude Wächter wie einen Genius betrachtete. „Einzig! – Merkwürdig! – Baarfüßiger Junge – Verliest die Raupen! Schmeißt sie alle in einen alten Topfscherben! Bringt sie den paar Hühnern da auf dem Miste! Sieht und hört nichts! Giebt seinen Vater an! Lebt nur im Recht und in der Ordnung. Dem König möchte man privatim dʼrüber schreiben. Was kann aus so einem Jungen noch, richtig angefaßt, 119 Alles werden!… “ Diese Worte brummte der Landrath zwischen seine Verwünschungen der Räuberbagage und die jammernden Klagen der Mutter immer zwischen durch. In die glänzendsten Zeugnisse, welche die Frau der sonstigen Solidität ihres Mannes gab, Noth und Armuth als Gründe seines Verbrechens geltend machen wollte und den Landrath bei allen Verheißungen des ewigen Lebens bat, für Wächterʼn in der Stadt ein mildes Urtheil zu verwirken, polterte er: „Wird sich finden! Cocarde beschimpft! Mütze noch tragen wollen! Siehʼ mal! Ein Jahr Steine klopfen! Mit Schimpf ausgestoßen aus dem Bataillon, wo ich sein Major bin! Mir das anthun! Donner!“ Und dann ganz sanft zu Lude, als dieser eben den Schüsselscherben in der Illritz ausschwenkte und in die Hütte zurücktragen wollte: „Thut Dirʼs denn leid, daß sie Deinen Vater geholt haben? . .“ Er winkte dabei dem Gensdarmen, aufzuhorchen, was der Genius der Gesetzlichkeit erwidern würde. Lude schwieg. Er blinzelte nur zum Gensdarmen hinüber, der polternd losbrach: „Junge, wenn der Herr Landrath was frägt, antwortet man.“ Die Geschwätzigkeit des Schulzen unterbrach des Kindes nähere landräthliche Seelenprüfung.
Der Landrath bestieg seinen Einspänner wieder 120 und fuhr langsam zum Orte hinaus. Langheinrich gab ihm das Geleit bis zur Mühle, wo er abschwenken und heimreiten wollte. Die Gründe, warum sich sein Chef immer höher in seiner Bewunderung Lude Wächterʼs steigerte, konnte er nicht in Abrede stellen. In der That hatte das Kind sich in der schwierigen Situation mit Haltung, ja mit einer gewissen Würde benommen. Ohne Furcht zu verrathen, gab es kein Zeichen auch des Trotzes. Langheinrich hätte sich sagen dürfen: Das Kind vertraute eben Dir, Deiner Verschwiegenheit, Deinem Schutze! Es konnte nicht wissen, ob der Landrath von seiner That unterrichtet war. Dieser aber war bei dem wiederholten Ausrufe geblieben: „Mann! Dieser Blick! Diese Festigkeit! Diese Ruhe! Dieser erhabene sittliche Stolz! Es war eine Conduite, die der König erfahren muß! Ich ruhe nicht eher, bis für den Jungen etwas geschehen ist. Aus Staatsmitteln! Hier würde man eine Sünde begehen, wenn man das so unterʼm Miste verkommen ließe! Wir sprechen noch davon.“
Nach einigen Wochen überraschte der Landrath seinen Untergebenen mit einer Nachricht, die diesem die schon fast entschwundene Erinnerung an Ludwig Wächter zurückrief. Der Vater war zu acht Monaten 121 Strafarbeit, Cocardenverlust, künftiger Einstellung in eine Strafcompagnie verurtheilt, die Mutter tagelöhnerte und „Luden habʼ ich die Carrière eröffnet,“ sagte der Landrath. „Keinem Menschen habʼ ich hier den Vorfall mitgetheilt, auch Herrn Semmler nicht, aber der Frau Oberpräsidentin hat meine Frau einen langen Brief geschrieben. Der Junge macht jetzt seinen Weg. In Erwägung, daß sein Taugenichts von Vater nichts für ihn wird thun können und die Mutter nicht das liebe Brot im Hause hat, wird Lude für elternlos angesehen und kommt drei Meilen von hier inʼs Militairwaisenhaus. Mit dem Schulzen und der Mutter ist Alles richtig gemacht. Die Mutter kann das Kind sehen so oft sie will. Ohnehin wird sie bei den Wenden dʼrüben mehr Arbeit suchen müssen als in unserer Gegend, wo man ihr aus dem Wege geht. Heute noch holt meine Frau den Jungen ab. Wir bringen ihn selbst an den neuen Ort seiner Bestimmung. Jetzt geben Sie Acht, Mann! In drei Jahren sprechen wir uns wieder!“
„Ich bin begierig!“ sagte Langheinrich voll wahrer Freude über diese Wendung. Es wehte ihn ein Trost an, als schützten unsichtbare Engel auch vielleicht einmal seine Kinder, wenn sie von ihrem 122 Vater auch nicht angeben konnten, daß er gestohlen hätte.
Das Militairwaisenhaus lag noch in dem Bezirke des Landrathes, und Langheinrich, der inzwischen zum Wachtmeister befördert war, behielt die Umgebungen auch dieser berühmten und von der Regierung sehr großmüthig gepflegten Anstalt im Auge, wenn auch in dem Städtchen, an dessen Eingang das große stattliche Gebäude mit seinem von einem Eisengitter eingefriedigten Spiel- und Exercierplatze lag, andere Diener der öffentlichen Sicherheit die nächste Aufsicht hatten. Zwei Jahre waren vergangen, als Langheinrich zum ersten male wieder Lude Wächterʼs ansichtig wurde. Der Knabe grüßte ihn, als er eines Tages, im Begriff, eine Inspectionsronde zu halten, an dem zwischen den beiden mächtigen Flügeln des Militairwaisenhauses gelegenen Spielplatz vorüberritt. Obgleich Lude durch die gute und geregelte Ernährung sich fast bis zur Unkenntlichkeit stattlich entwickelt hatte, so konnte ihn doch der Gruß des uniformirten Knaben nicht irre führen. Er ritt heran und fragte nach seinem Befinden. Lude dankte und lobte die Anstalt. Von seinem Vater hatte er, wie er erzählte, einmal einen Besuch erhalten. Hinzugetretene Lehrer und Aufseher der Zöglinge 123 schilderten dem Wachtmeister das Wiedersehen zwischen Lude und seinem Vater als eine besonders ergreifende Scene. Lude schlug dabei, auch bei dem vielen Lobe, das ihm gespendet wurde, die Augen nieder. Sein Geheimniß verstanden die Lehrer nicht; nur zwischen ihm und Langheinrich waltete es. Befragt, welche Laufbahn der Zögling denn einst einschlagen würde, antworteten die Lehrer, vielleicht daß er in den Kaufmannsstand treten würde. Es hätte sich nämlich der reichste Mann im Orte gefunden, der Ludwig Wächter seines Sohnes wegen mit besonderer Zuneigung behandle. Julius Handtke wäre zufällig in nähere Bekanntschaft mit dem immer stillen und zurückgezogenen Militairzögling getreten und hätte an ihm, wie eben die Schwärmerei und das Bedürfniß der Hingebung in solchen Kinderseelen wirke, einen so mächtigen Gefallen gefunden, daß man gern gestatte, oft Tagelang den Zögling in das Haus des Herrn Handtke zu geben, der auf dem Markte der kleinen Stadt die Haupt-Specerei- und Materialwaarenhandlung inne hatte, gerade dem ,Schwarzen Adler‘ gegenüber, einem Gasthofe, der von einem Bruder des Kaufmanns gehalten wurde. Die Gebrüder Handtke waren somit die Honoratioren der Stadt und die Auszeichnung, die Lude Wächter 124 durch Julius Handtke fand, konnte für ein ausnehmend glückliches Loos gehalten werden. Der Vater seines Freundes war bereit, ihn als Lehrling in seine Handlung zu nehmen.…
Langheinrich wünschte Ludwig Wächterʼn zu diesen Aussichten für seine Zukunft Glück, konnte aber doch nicht umhin, da er Julius Handtke als einen wilden, oft übermüthigen und verzogenen Knaben kannte, ihn zu warnen, sich von dem gefährlichen Beispiel seines Freundes anstecken zu lassen. Es war schon Manches mit Julius Handtke vorgekommen, was sogar in eine Berührung mit der öffentlichen Sicherheit geführt hatte. Er hatte Pulver abgebrannt, wo er nicht sollte, Nester ausgenommen, Laternen zerschlagen und galt im Orte für einen von den Seinigen, dem Vater und dem Onkel zwar ziemlich strenggehaltenen, aber doch naschhaften und vergnügungssüchtigen Knaben. Lude Wächter hörte die Warnung ruhig mit an und erklärte, daß er sich schon hüten wolle. Auf die Frage, ob er denn Julius Handtke gern hätte, blieb die Antwort nicht aus, daß er sein bester Freund wäre. Und diese Versicherung bekam noch mehr Bedeutung, da einer der Lehrer, den Wachtmeister begleitend, als Beide allein waren, hinzufügte: „Es ist auch sein einziger. In der Anstalt 125 wollen die Kameraden keine gemeinschaftliche Sache mit ihm machen!“ Dieß auffallende Wort blieb ohne nähere Erläuterung; denn die Aufmerksamkeit Langheinrichʼs wurde schon wieder von einigen Grüßenden abgezogen, auf die er, mit seinem ohnehin unruhigen Gaule, zur Bewillkommnung ansprengen mußte.
Den Gensdarmen des Ortes fand der Inspicient abwesend und zwar in Sachen eines Diebstahls, der kürzlich im ,Schwarzen Adler‘ vorgekommen. Man hatte dem Bruder des Kaufmanns Handtke aus dem Nebenzimmer seiner eigenen Gaststube kürzlich seine goldene Uhr gestohlen. Der Ortsgensdarm hatte viel Mühe, den Thäter zu entdecken und glaubte ihn jetzt in einem Handwerksburschen gefunden zu haben, der kürzlich im ,Schwarzen Adler‘ übernachtete und in der Gaststube, in die er seiner Aermlichkeit wegen nicht hingehörte, einige Augenblicke verweilt hatte. Langheinrich wartete auf die Rückkehr seines Untergebenen, konnte sich aber dabei nicht erwehren, auch seinerseits wegen der mit dem Uhrschlüssel und einem Petschaft daran gestohlenen Uhr rechts und links seine Augen über Dieses und Jenes streifen zu lassen. Er besuchte den Gastwirth, sah sich die Localität, die Umgebungen an, die Hausbedienung, die üblichen Gäste. Nichts kam ihm verdächtig vor. Auch den Kaufmann 126 gegenüber besuchte er, fand dort Ludwig Wächter wieder mit seinem Freunde und überzeugte sich, daß dessen Vater in der That die großmüthigsten Absichten mit einem Knaben hatte, dessen, wie er sagte, stilles und apartes Wesen ihm ausnehmend gefiel und ein wahrer Schatz für seinen etwas verwilderten Sohn und dessen fernere Zukunft wäre. Auch von der goldenen Uhr war die Rede und der Schrecken, in einem so gut gearteten Orte einen Dieb zu wissen, kam in entschiedensten Ausdrücken dabei zur Erörterung. Auf einige sonst achtbare Bürger war schon Verdacht gefallen, andere hatten erklärt, sie zögen vor, unter solchen Umständen den ,Schwarzen Adler‘ nicht mehr zu besuchen, Allen lag daran, daß der Thäter jener Handwerksbursche gewesen sein möchte, nach dessen Verhaftnahme der Ortsgensdarm ausgeritten war. Dieser kam am folgenden Tage zurück mit dem von ihm verhafteten muthmaßlichen Thäter. Diese Angelegenheit berührte Langheinrich nicht weiter. Nach einigen geschäftlichen Rücksprachen ritt er von dannen.…
Es war zeitig. Noch tiefe Morgenfrühe. Kaum war Langheinrich an dem Militairwaisenhause, den Kohl- und Kartoffelfeldern der Ackerbürger des Oertchens vorüber, als er hinter sich rufen hörte:
127 „Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister!“
Langheinrich sah sich um. Ein Zögling des Waisenhauses lief ihm nach und sein scharfes Auge ließ ihn sogleich aus der Uniform heraus Ludwig Wächterʼn erkennen. „Was will der?“ sagte er zu sich und hielt seinen Braunen an. Als der Knabe näher kam, rief Langheinrich: „Lude, was giebtʼs denn noch?“ Stumm und sich ängstlich umspähend sprang Lude in den Chausseegraben, der ihn halb deckte, und kam so zu dem unter einem Baume haltenden Wachtmeister.
„Ich will Ihnen sagen,“ begann er sogleich, „wer die Uhr gestohlen hat: Julius Handtke.“
Langheinrich erschrak.
Die Erinnerung an den Vorfall vor zwei Jahren erschütterte ihn.
„Junge, bist Du des Teufels?“ rief er, faßte mit der Linken rasch die Mähne seines Gauls und war im Nu hinunter.
„Julius Handtke hat die Uhr gestohlen?“
„Ja!“ sagte Lude mit derselben Festigkeit, wie er einst seinen eigenen Vater angegeben.
„Warum sagst Du das?“ fuhr ihn Langheinrich fast zornig an. Lude schwieg. Langheinrich besann sich, daß es seines Amtes nicht war, Jemanden zu schmählen, der das Gelingen der practischen 128 Polizei unterstützte; aber im ersten Gefühle hättʼ er den Säbel ziehen und mit der Klinge den Angeber durchfuchteln mögen. Sich bekämpfend, fragte er nur: „Weißt Du denn das auch ganz gewiß?“
Lude erwiderte: „Julius hat schon oft gestohlen. Er will bei seinem Vater noch einbrechen und dann nach Amerika gehen. Ich soll ihn begleiten. Die Uhr habʼ ich bei ihm gesehen.“
„Aber, Lude, Deinen Freund verlierst Du ja nun! Verlierst ja Deine ganze glückliche Zukunft! Der Kaufmann wird Dich ja nicht mehr ansehen wollen.…“
Lude schwieg und blickte nieder. Er schien an die Folgen seiner Entdeckung nicht im mindesten, sondern nur an die Wahrheit selbst gedacht zu haben. Nach einer Weile rathlosen Schweigens auch des erschütterten Wachtmeisters, der von diesem Knaben so viel Vertrauen genoß, sagte Lude nur noch: „Der Handwerksbursche istʼs doch nicht gewesen, Julius Handtke istʼs gewesen. Die Uhr steckt in seiner Tasche. Ich habe sie gesehen.“
Langheinrich überlegte, welches der wahre Grund dieser Anzeige war. Vielleicht selbst Liebe für den Freund. Vielleicht Besorgniß, der Verführung desselben nicht widerstehen zu können? Er war völlig 129 ohne Entschluß, wußte nicht, was er mit dem Geständnisse machen sollte und blieb auch ohne Entschluß. Lude, um für seine Entfernung nicht bestraft zu werden, eilte inzwischen spornstreichs zurück. Er hatte sich versteckt nicht seiner Anzeige, sondern seiner Entfernung wegen. Und Langheinrich, einer der edelsten und gefühlvollsten Menschen, die je in die schwierigen Collissionen von Pflicht und Rücksicht gekommen sein mögen, sah ihm schwermüthig nach, bestieg seinen Gaul, ritt im Kreise auf und ab, ohne zu einem Gedanken zu kommen. Er wußte nicht wie, er hatte Lude Wächterʼn jetzt selber lieb. Es schien ihm ein tragisches Geschick zu sein, das diesen Knaben ewig folterte und quälte, die Dinge, wie sie sind, nicht verschweigen zu können. Er sah einen Unschuldigen leiden und gab lieber seinen eigenen Freund an. Er gab ihn an in der dunklen Ahnung, daß er dem Freunde und vielleicht seinem eigenen sittlichen Selbst nütze! – Und doch – sollte er das Bekenntniß brauchen? Sollte er ohne weiteres zurück in die Stadt, den Sohn eines angesehenen Kaufmannes auf offener Straße anhalten lassen, seine Kleider untersuchen, ihn, die Eltern, den Angeber selbst unglücklich machen? Es waren zu viel und in der That zu ernste Vorstellungen, die ihn bestürmten. 130 Er beschloß, sich Jemanden anzuvertrauen, der den Fall unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit ihm erörtern sollte; er wählte dazu dießmal nicht den Landrath, sondern den Pfarrer von Walddüren, dem Orte, wo auch der Landrath und in dessen Nähe er selber wohnte.
Unglücklicherweise wollte der Zufall, daß Herr von Werthern, Langheinrichʼs Landrath, bei dem Pfarrer von Walddüren gerade zugegen war. Seit einiger Zeit hatte der Landrath, der bei allen Sonderbarkeiten ein wahrheitsstrebender und sogar etwas schwärmerischer Mann war, mit dem Pfarrer mancherlei Streitigkeiten. Der Pfarrer, ein bejahrter Herr schon, gehörte der alten sächsischen Vernunftsschule an, der Landrath aber, der in seiner Art gern auch etwas Theologie trieb, segelte mit dem Winde, der aus den frommen Kreisen der Residenz wehte, so wenig sein dialectischer Character, sein eigenwilliger und nächst dem Könige sich selbst am meisten vertrauender Sinn mit diesem Winde in seinem ganzen Wesen so zu sagen aus einer Ecke blies. Er mußte sich zur Auffassung der Oberkirchenbehörden mit Gewalt bekehren und ergriff nun jede Gelegenheit, wo sich etwas Räthselhaftes ereignete, davor still zu stehen, alle seine Logik und vernünftige Erklärung gefangen 131 zu geben und auszurufen: „Es ist etwas dʼran an dem Mystischen! Es ist etwas dahinter! Man muß es sich nur nicht nehmen lassen!“
Als Langheinrich seinen Landrath entdeckte, mochte er nun nicht in die Pfarrerswohnung. Herr von Werthern hatte jedoch ein scharfes Ohr und hörte den Säbel eines berittenen Waffenträgers schon in weitester Ferne. Er erblickte seinen Wachtmeister kaum im Dorfe, als er ihn auch schon von der Straße herüberrief und zum Zeugen eines lebhaften Streites machte, in dem er eben mit dem Pfarrer begriffen war.
Der Pfarrer lachte eben über einen Vorfall, den der Landrath sehr ernst nehmen wollte. „Sagen Sie selbst, Langheinrich, war es nicht merkwürdig, was uns Beiden in Wielka, dʼrüben in dem Wendendorfe, neulich begegnet ist?“
„Die Geschichte mit der schwarzen Katze?“ sagte Langheinrich.
„Kommen Sie herunter und erzählen Sie, Wachtmeister!“ befahl der Landrath und sah dabei rauchend auf seine Meerschaumpfeife mit der Bernsteinspitze fast wie ein Fakir herab, der andächtig seine Nase betrachtet.
Er zwang also den Wachtmeister, abzusteigen, sein Pferd draußen anzubinden, in das niedrige, aber 132 freundliche Haus des Geistlichen einzutreten und den Vorfall zu erzählen, wie er in Wielka, einem alten wendischen Stammorte mit allerhand wunderbaren Sitten, zum Beispiel der, daß dort sogar die alten Frauen Tabak rauchten, kürzlich ein Feuer hätte löschen helfen, das bei einem reichen Bauer ausgekommen war. „Die Bauern,“ erzählte Langheinrich, „wollten nicht löschen, einige wenige fremde Zuzüger ausgenommen, unter denen der degradirte Landwehrmann Wächter, der auf dem Hofe arbeitet, einer der eifrigsten war. Ich hörte von dem dummen Volk, es würde nicht viel helfen. Das Feuer wäre ja von dem Drachen gekommen, der dem Bauer das viele Geld brächte. Dem Drachen, den er heimlich im Hause auffüttere, hätte der Bauer dießmal zu viel heiße Hirse gegeben; davon wärʼ ihm die Zunge angebrannt und nun hättʼ er Flammen speien müssen und solche Drachenflammen lösche man vergebens. Als ich erwiderte, mit Hilfe Wächterʼs wäre man ja doch des Feuers Herr geworden, sagten sie: Das wohl! Der Drache wäre auch aus dem Brande davongeflogen; sie hätten ihn Alle gesehen … Wohin denn, Ihr Narren? fragtʼ ich. Einstimmig bezeichneten sie mir einen alten hohlen Baum in der Nähe, dem sich jetzt Niemand, und wenn man Geld 133 geboten hätte, nähern wollte. Ich denke, ich mache es, wie ich einmal von dem alten Heidenbekehrer Bonifacius gelesen habe, und lasse den Baum umhauen. Für einen Wachtmeister der Gensdarmen ziemt sichʼs, Aberglauben so mit Stumpf und Stiel auszurotten. Aber du liebe Zeit! Keiner erbietet sich, dazu auch nur eine Axt oder eine Säge zu leihen. Alles weicht scheu und ergrimmt über meine Methode zurück. Dem Tagelöhner Wächter, der mich unterstützen wollte, verbot ichʼs, weil der seinen übeln Ruf wiederherstellen muß und Freunde bedarf. Ihr Taugenichtse! rufʼ ich. Die Bäume im königlichen Forst sind Euch nicht heilig, aber den da, wo Euer Drache, der zu heiße Hirse gefressen hat, drinnen sitzt, den wollt Ihr schonen, obgleich er keinen grünen Zweig mehr hat? Gebt Acht, ich will Euern Drachen schon hervorlocken. Damit requirirʼ ich Leute aus Walddüren. Herr Landrath kommen selbst mit und eigentlich“ – unterbrach sich Langheinrich – „eigentlich sehr ergrimmt auf mich – …“
„Weil Sie Aberglauben ausrotten wollten?“ rief der Pfarrer lachend dazwischen.
„Hören Sie nur!“ sagte der Landrath bedeutungsvoll und auf seine Tabakswolken voll erzwungener Andacht blickend.
134 „Wir nahmen,“ fuhr Langheinrich fort, „Sägen und Aexte und fingen die Arbeit an. Rings stehen die Wenden und schauern zusammen über unsere Tollkühnheit. Sie erwarten nicht anders, als daß der Drache uns sämmtlich verschlingen würde. Die Arbeit dauert eine halbe Stunde. Endlich ist der Baum zum Umstürzen durchsägt, wir stoßen ihn nieder, da fährt aus der Höhlung, die nun zu Tage kommt, eine dicke, große schwarze Katze heraus, rennt mitten durch die schreienden Wenden hindurch und verschwindet im nahestehenden Korn. Zu erwischen war sie nicht und freilich wir standen beschämt da. Die Wenden hatten Recht, der Drache hatte sich in die schwarze Katze verwandelt.“
„Und nun fragʼ ich,“ rief der Landrath, „giebtʼs nicht Dinge, über die sich gar nicht reden läßt? Alle unsere Vernunft reicht dabei nicht aus und die Ober-Kirchenbehörden haben Recht: Man muß sich blindlings unterwerfen!“
Ein Ausspruch, dem der Pfarrer Alles entgegenstellte, was man in einem solchen Falle nur von einem gesunden alten hallischen und leipziger Standpuncte erwidern konnte.
Die Erwähnung des gebesserten Wächter aber und die feierliche Stimmung des Landrathes verführten 135 den Wachtmeister, in des exaltirten Mannes Gegenwart sein neues Erlebniß mit Lude, Wächterʼs Sohne, nun dennoch anzubringen.
Die Verwunderung war beim Pfarrer, der zum ersten male von diesem Knaben hörte, nicht minder groß als das erneute Erstaunen des Landrathes.
Dieser, noch erfüllt von dem Wunder des heiligen Wendenbaumes, sah jetzt geradezu in Lude Wächter ein Mysterium. „Es geht nicht anders,“ schloß er, die Pfeife ausklopfend, „diesem Knaben muß geholfen werden! Dieser Lude ist zu Großem berufen!“
Und auch der Pfarrer meinte, nach Langheinrichʼs Erzählung läge hier allerdings ein Fall vor, über den man nachdenken könnte. Er griff hinter sich, lüftete einen Vorhang und langte auf seine Bücherbreter, um Reinhardʼs ,Moral‘ herunterzuholen. Alle Drei kamen darin überein, daß Lude Wächter vor den Folgen seines Wahrheitstriebes am besten dadurch zu schützen wäre, daß auch Julius Handtke dießmal noch ohne Strafe bliebe und die Uhr so wiedergefunden würde, daß über den wahren Dieb im Orte ein ewiges Geheimniß bliebe.
„Wie das aber anfangen?“ fragte der Pfarrer.
„Da weiß unser pfiffiger Wachtmeister schon 136 Rath,“ sagte der Landrath, klopfte Langheinrich auf die Schulter und schickte sich zum Gehen an, denn es brannte ihn schon, seine Frau zu suchen, dieser wieder den merkwürdigen neuen Fall mit Lude zu erzählen, dießmal selbst an die Gemahlin des Oberpräsidenten zu schreiben und für Lude Wächter jetzt die weitere Carrière zu eröffnen.
„Aber, Herr Landrath,“ fiel Langheinrich ein und fand die Aufgabe, die er ihm zurücklassen wollte, schwierig.
„Sie wissen schon,“ sagte sein Chef. „Fällt Ihnen nichts ein? Erinnern Sie Sich nicht, wie Sieʼs damals auch in Wielka machten, als die zwanzig Thaler Classensteuer dem Schulzen gestohlen waren?“
„Damals beging ich,“ sagte Langheinrich, „gleichfalls eine gottlose Sünde an dem heiligen Wendenthum.…“
„An dem heiligen Wendenthum?“ fragte der Pfarrer.
„Auch fremden Glauben muß man heilig halten…“ polterte der Landrath dazwischen.
„Wie war das damals?“ hieß es, und Langheinrich, sich orientirend über die Möglichkeit, die Uhr durch List herauszubekommen, erzählte, er hätte vom Schulzen in Wielka, der die Classensteuer nichtstim-137mend fand, einen Bauer bezeichnet erhalten, der die ihm fehlenden zwanzig Thaler wahrscheinlich gestohlen hätte. Er hätte darauf den Schulzen bestimmt, sämmtliche Bauern Abends in der Schenke zu versammeln und wohl darauf zu achten, daß auch der Verdächtige käme. Wie er dann wie durch Zufall eingetreten wäre, hätte er in gebrochenem Wendisch Allen den Fall erzählt und mit der Erklärung geschlossen, unfehlbar hole Den, der dieß Verbrechen begangen, nächstens und vielleicht sogleich Czernebog, der schwarze Geist. Dann hätte er, da man über diese Erklärung still und kleinlaut wurde, seine Brieftasche hervorgezogen, sie geöffnet, einen glücklicherweise schwarzen Bleistift genommen, ihn drei mal angeblasen und dem Zunächststehenden anzufassen gegeben. Der hätte dann zugreifen müssen auf die Gefahr, wenn er der Thäter wäre, plötzlich durch Czernebogʼs heimliche Berührung schwarz zu werden. Der Erste blieb weiß, der Zweite auch, der Dritte auch; so ging es die Reihe herum, bis aus der engen, überfüllten Stube heimlich einer von den Zitterndbeklommenen verschwunden war. Langheinrich hätte gethan, als bemerkte er die Angst eines Menschen, der schwarz zu werden fürchtete, nicht und wäre mit seinem feierlichen Gottesgericht fortgefahren. 138 Plötzlich hätte man die Thür aufgerissen, die Magd des Schulzen wäre hereingebrochen und hätte gerufen: Eben wäre ein Sack mit Geld durchʼs Fenster in die Küche geflogen. Sie brachte den Sack. Er enthielt die vermißten zwanzig Thaler. Das Geld wäre demnach dagewesen und die Bauern wüßten heute noch nicht, wer von ihnen es gewesen, der, um den Teufel durch Reue zu versöhnen, sich so still davongeschlichen.
„Nun gut,“ sagte der Pfarrer, „wenden Sie jetzt etwas Aehnliches an; nur bitte, incommodiren Sie dabei den Czernebog nicht wieder, der bei dem Herrn Landrath eine geweihte Person zu sein scheint.“
Langheinrich bestieg sein Roß und sprengte inʼs Städtchen zurück.
Es war fast Abend. Zuerst bestimmte er Lude Wächterʼn, den er sich aus ,Privatgründen‘ von der Direction des Waisenhauses frei erbat, zu seinem Freunde zu gehen und ihn einzuladen, zum Onkel in den Schwarzen Adler zu kommen, wo Abends auch sein Vater verkehrte und fast alle wohlhabenden Männer der Stadt. Vorerst sollte er sich wieder die Uhr von Julius zeigen lassen, sie mit dem daran befestigten Schlüssel aufziehen und dann, ohne etwas zu sagen, zurückgeben.
139 So geschah es.
Um acht Uhr trat Langheinrich in die von Tabaksrauch gefüllte Gaststube zum ,Schwarzen Adler,‘ wo etwa zwölf Herren und auch bereits die Knaben Julius Handtke und Lude Wächter beisammen saßen. Nach einem Guten Abend! und dem Erstaunen über seine Rückkehr sagte Langheinrich: „Meine Herren, vor drei Tagen ist um diese Stunde aus dem Nebenzimmer dieses Saales in Gegenwart der meisten hier versammelten Anwesenden Herrn Handtke die goldene Uhr gestohlen, vielleicht ist sie aber auch nur verlegt worden. Wohl weiß ich, daß die geehrten Herren sämmtlich achtungswürdig sind; dennoch erlaubʼ ich mir, Sie zu bitten, mir Jeder die Uhr zu geben, die er bei sich trägt. Das Weitere wird sich dann schon finden.“
Man war bestürzt, nicht beleidigt. Wer sollte nicht selbst die Hand dazu bieten, daß ein Dieb, als der nicht zu erscheinen Jedem gelegen sein mußte, entdeckt oder die Uhr als nur verlegt betroffen würde? Als Langheinrich sämmtliche Uhren in Händen hatte, gab er sie dem Wirth zur Aufbewahrung außerhalb des Zimmers und zugleich ordnete er an, daß auch die Lichter hinweggenommen wurden und die 140 Versammlung ganz im Dunkeln blieb. Man stand erschrocken auf und begriff nicht, was werden sollte.
Als die Uhren und die Lichter fort waren und der Wirth noch die Bedeutung bekommen hatte, auf den ersten Ruf: Licht! sogleich mit einem brennenden Lichte hereinzutreten, bat Langheinrich die durcheinandergerathene, an Tischen und Stühlen sich in der Finsterniß stoßende Gesellschaft jetzt durchaus ruhig zu sein, aber auch so ruhig, daß man Mäuschen könnte wispern hören. Halb betroffen, halb lachend über das Beginnen des Wachtmeisters hielten die Gaste sämmtlich den Athem an. „Nun bittʼ ich“, sagte Langheinrich, „daß Sie Sich ganz auf mein Gehör verlassen! Befindet sich in diesem Zimmer noch irgendwo eine Uhr, so werdʼ ich sie unfehlbar entdecken. Ich höre jede Uhr auf zehn Schritte. Und nun still!“ … Nach einigem Räuspern und Hin- und Hertreten wurde es feierlich still. Langheinrich horchte auf. Es währte geraume Zeit, bis er das Ticken einer Uhr vernahm. Endlich unterschied er deutlich den leisen, gleichmäßigen Schall einer Pendelschwingung. „Pst!“ sagte er. „Ich werde jetzt Licht! rufen, aber Alles bleibt still und an seinem Platze. Licht!“ rief er donnernd. Der Wirth trat herein; 141 Langheinrich bezeichnete einen Platz am Fenster, wo die Uhr sich befinden müßte.
Niemand war am Fenster als Julius Handtke. Dieser stand jedoch unerschrocken. Die Uhr tickte viel höher, weit über ihm. Langheinrich, der geahnt hatte, daß sie von dem Knaben in der Dunkelheit würde fortgeschafft werden, stieg auf einen Fenstertritt, hob einen daselbst befindlichen dichtverwachsenen Blumenstock in die Höhe und zeigte die Uhr. Die demnach ,verlegt gewesene‘ Uhr lag zwischen den Aesten eines Blumenstocks. Noch in demselben Augenblicke wurde Befehl ertheilt, dem armen Handwerksburschen die Freiheit zu geben. Man lachte viel, verwunderte sich, spöttelte auch wohl der ,lange nicht begossenen‘ Blumen und deutete damit die Furcht oder Reue nach einem doch wohl stattgehabten Diebstahl an; aber es genügte, daß die Uhr wieder da war. Dem eigentlichen Diebe konnte nicht weiter nachgeforscht werden.
Vierzehn Tage nach dieser Begebenheit wurde Lude Wächter in ein berühmtes Pädagogium als Alumnus gegeben.
Zwei Jahre darauf wurde er aus dieser Anstalt in ein Schullehrerseminar versetzt.
142 Schon ein Jahr darauf kam er als Hilfslehrer an eine öffentliche Lehranstalt.
Als mehrere Lehrer dieser Anstalt wegen ihrer Gesinnungen in eine Untersuchung geriethen, wurde die ganze Anstalt aufgelöst und Lude Wächter an eine neue als ordentlicher Lehrer versetzt.
Von dieser Zeit an stockte äußerlich seine für einen armen Landtagelöhnerssohn immerhin glänzende Laufbahn; er kam in seinen Verhältnissen nicht recht weiter.
Die Wahrer der öffentlichen Ordnung, die vier-, fünf mal auf seine Angaben hin wichtige Thatsachen entdeckt hatten, wollten sich seiner als eines Agenten bedienen und machten ihm Anträge, in die höhere Polizei einzutreten. Dem Staate zwar verpflichtet, der Alles für ihn gethan hatte, widerstand Wächter dennoch, aber er blieb der vereinsamteste Mensch von der Welt. Ueberall hin verfolgte ihn unklarer Haß und Mißtrauen. Man hat Aeußerungen von Wächter, daß ihn auch als Lehrer jede aufgehobene Hand eines Kindes, das einen Mitschüler angeben wollte, erschreckte. Sie schien ihm eine aus dem Grabe wachsende Hand eines Kindes, das seine Eltern gemordet hätte. Er hatte die Unbefangenheit des Umgangs mit allen Menschen, ganz besonders 143 aber mit der Jugend verloren. Wer die Menschennatur in ihrer Lebendigkeit, wildwachsenen Frische und ihrem üppigen Aufwuchern nicht harmlos hinzunehmen gelernt hat, wird sich nimmermehr unter der Jugend heimisch fühlen. Der Lehrer Wächter war ausgezeichnet mit dem Einzelnen, aber mit der Masse besinnungslos, feige sogar und ängstlich, schüchtern bis zum Kinderspott. Wer die geheimen Gründe jenes Schlusses einer in ihrem Lehrerbestande anstößig gewordenen Schule kannte, sagte, das böse Gewissen ließe Wächterʼn keine Ruhe. Aber man irrte sich. Wächter war sich bewußt, damals, als durch ihn Menschen ihr Brot und ihre Freiheit verloren, nur einer gesetzlichen und verdienstvollen Pflicht gefolgt zu sein; aber in ihm selbst war es einsam und elend. Er zog vor, Privatstunden zu geben. Sein scheues ängstliches Wesen gefiel in der großen Welt nicht, an die er die glänzendsten Empfehlungen hatte; so sank er immer mehr zur kleinen herab, wurde Misanthrop, Geizhals, Cyniker. Man nannte ihn einen verdorbenen Lehrer, aber es war ein verdorbener Mensch, verdorben in dem Sinne, daß er ein Lebensziel gänzlich verfehlt hatte. Es war ein edler Stoff in ihm gewesen; denn der Wahrheitstrieb ist eine der schönsten Eigenschaften eines reinen Herzens. 144 Aber die Bedingungen, die nicht nur die Welt, sondern gerade die Tugend stellt, verlangen, daß Jeder, der die Wahrheit üben will, auch ein Zeuge oder Märtyrer dieser Wahrheit werden muß. Nur da ist die Wahrheit groß und bewunderungswürdig, wo ihr Zeugniß mit dem Einsatz aller Gefahren, die nur zu oft in ihrem Gefolge gehen, abgelegt wird. Nur wer sich durch die Dornen seines Wahrheitstriebes hindurchringt, Mißachtung, Spott, Schande, Rache erträgt und doch im Leben immer bei der Wahrheit bleibt, nur der ist groß zu nennen. Ludwig Wächter war ein Kind von großer sittlicher Kraft, aber man entzog ihn den Rückwirkungen dieser sittlichen Kraft. Sein Heroismus wurde klein. Er war zu wohlfeil erkauft. Der Haß eines Vaters, die Züchtigung einer Mutter nach seinem ersten Wahrheitszeugnisse, die Mißgunst eines reichen Mannes, der ihn von sich gestoßen hätte, der Fluch eines Freundes nach seinem zweiten Wahrheitszeugnisse, wären Prüfungen für ihn geworden, an denen er seine sittliche Kraft hätte stählen müssen. So aber entzog falsche, einseitige und abstracte Lebensauffassung, die schon beim besten Willen soviel Unheil über die Welt gebracht hat, ihn regelmäßig den Rückwirkungen seines Wahrheitstriebes und die Folge war, daß 145 ihn zuletzt die furchtbarste Rückwirkung traf; ohne Zweifel sind es nur Menschen aus dem Volke, in dem er sich zuletzt haltlos verlor, sind es Verbrecher gewesen, die von ihm eine Entdeckung fürchteten und ihn erschlugen. Und noch im Tode zeigte sich Merkwürdiges.… Als ich von dem inzwischen längst aus Walddüren geschiedenen, jetzt in andern Sphären wirkenden Langheinrich die Geschichte Lude Wächterʼs bei gerichtlicher Aufnahme, so wie sie hier erzählt, erfuhr, war der Ausruf des Ermordeten: ,Bei den Karpfen!‘ erklärt. Mit der Entdeckung jener Fische, die man auch aus ihrem Elemente genommen hatte, wie ihn, begann eine Laufbahn, die mit dem Tode endete, und wenn auch Langheinrich sagte: ,So sollte sich Lude verändert haben? So sollte er, wie unser braver, in trüber Andacht und fast religiösem Tiefsinn verstorbener Landrath es auch gedeutet haben würde, ordentlich mit Thränen im Auge gestorben sein und in seinem letzten Augenblicke an Herrn Semmlerʼs Karpfenteich und die kleine künstliche Diebesgrube in der Illritz gedacht haben? Nein –‘
Bis hierher hatte Scharfeneck gelesen, als sein Vortrag von einem Diener unterbrochen wurde, der 146 geräuschvoll eintrat und mit einem: „Herr Assessor!“ die fast überreizte Spannung unterbrach.
Es bedurfte nur eines einzigen zugeflüsterten Wortes, als auch schon Scharfeneck, ohne seinen Satz zu beenden, das Manuscript zusammenrollte und den Saal verließ.…
Die Gesellschaft stand befremdet auf, sah nach der Thür, folgte inʼs Vorzimmer, die Damen waren in ängstlicher Bewegung und ihre Nerven ohnehin ergriffen. Frau von Wolmany bedeutete Alles, sich zu beruhigen. Es war fast als wenn man den Ruf: Es brennt! fürchtete. Es hieß, draußen wären die Commissarien der Polizei. In die allgemeine Bestürzung, die sich indessen bei Erwägung der Stellung des Vorlesers zur Staatsanwaltschaft löste und einer Erörterung der gehörten Lebensskizze Raum machte, kehrte Scharfeneck zurück und erklärte laut:
„Den Schluß meines Vortrages, Verehrteste, muß ich ändern. Ich kann es mit zwei Worten und thuʼ es aus dem Stegreif. Langheinrich zeigt mir soeben an, daß die wahrscheinlichen Mörder von ihm entdeckt sind. Der Scharfsinnige wollte an meine sentimentale Deutung der von Lude Wächter gesprochenen letzten Worte nicht glauben. Er besichtigte noch einmal den Ort des Verbrechens. Es sind 147 dieß die Quais unserer Stadt. Sein Blick fiel auf die in dem ruhigen und schlammigen Wasser aufgestellten Fischkästen, in denen die Fischer der Vorstadt für die Marktzeit ihre Vorräthe aufbewahren. Er ließ diejenigen durchlöcherten Kästen öffnen, in denen man gewöhnlich Karpfen aufbewahrt. Schon beim zweiten oder dritten Kasten entdeckte man einen schweren Beutel mit einigen Hundert Thalern. Der Besitzer desselben, ein leichtsinniger junger Fischer der Vorstadt, ist meinen vorjährigen Zuhörern schon bekannt. Er wurde gerade mit denselben Gärtnerssöhnen, die damals die Verwirrung im Tanzsaal zu Buchenau anrichteten und schon damals auf Wächterʼs Angabe verhaftet und bestraft wurden, zusammenbetroffen. Sie sind verhaftet und eben eilʼ ich einen Thatbestand aufzunehmen, der wahrscheinlich beweisen wird, daß noch das letzte Wort Lude Wächterʼs eine wahrscheinlich unwillkürliche Huldigung an die Wahrheit ist, die ihm aber zum ersten male in seinem Leben unmittelbar die Folgen eintrug, vor denen die alten Wahrheitspfleger zu seinem Verderben ihn bisher behütet hatten.“
Scharfeneck entfernte sich eiligst.
Die Worte: „Ich begleite Dich!“ die er hinter sich auf der Stiege hörte, konnten nur von Oswald 148 kommen, der den Hut ergriff und das Schmerzlichste, was er auch hören mochte, den Debatten vorzog, die sich wie aufgezogene Schleusen über die dießmalige, und wie es schien ansprechendere Darstellung seines Freundes ergießen mußten.
Und war es denn schmerzlich, was er eben vernommen? Ernestinens Geheimniß lüftete sich. Schon am folgenden Tage, als sie die Gefangennehmung ihrer Brüder erfuhr, hörte, daß die Spuren eines Ruderhakens in Wächterʼs Kopfwunden paßten, und die Gemeinschaftlichkeit des begangenen Verbrechens zwischen fünf Ergriffenen auf der Hand lag, gab Ernestine eine Darstellung ihrer Schuld, die ihr nach der öffentlichen Verhandlung augenblicklich Freiheit erwirken mußte.
Oswald hätte selbst zu ihr fliegen, selbst sie in dem unwürdigen Gewahrsam an sein Herz drücken mögen, aber Ernestine bat unter Thränen, gerade Ernst Oswald ihr nicht vorzuführen. Scharfeneck schien andere Gründe für diese Bitte zu haben, als die der Freund aus dem Zartgefühl des Mädchens herleitete; doch begnügte man sich vorläufig mit der einfachen Thatsache: Ernestine ist unschuldig! Ihre Seelengröße stand noch reiner, ihr Character heroischer 149 da als früher; denn gerade ihre schwesterliche Liebe war es gewesen, die das Opfer eines Gewebes von Schandthaten geworden war, das wir darzustellen im Folgenden versuchen müssen.
150 Sechstes Capitel.#
Die Brüder.#
Ernestine hatte fünf Brüder.
Zwei davon, die älter als sie selbst waren, Heinrich und Wilhelm, sind uns in ihrem Leichtsinn bereits bekannt.
Doch übertraf sie Alle ein, Ernestinen selbst gleichaltriger, Dritter, Namens Gustav, äußerlich fast liebenswürdig und von einem Schein gefälliger Solidität.
In jener großen Fabrik, die Wilhelm und Heinrich, obgleich sie auf kurze Zeit schon in Gefängnissen gewesen waren, aus Nachsicht als Arbeiter duldete, stand Gustav, äußerlich unbescholten, als Comptoirist. Seiner scheinbaren Treuherzigkeit war 151 es immer gelungen, die Brüder dem reichen Fabrikherrn wieder zu empfehlen, während seine eigene Gleißnerei, seine versteckten Ausschweifungen und Unredlichkeiten nicht zu Tage kamen. Ernestine kannte dieses Gustavʼs ganze Keckheit. Sie verabscheute ihn mehr als die beiden älteren Brüder, die nur aus Wildheit und schlechtem Umgang, besonders mit den Söhnen eines wohlhabenden Fischers, Namens Brunck, auf ihre unregelmäßige Bahn gezogen wurden.
An einem Morgen, wo lautlose Stille um Ernestinen herrschte, ihre Miethsleute auf Arbeit ausgegangen waren, hatte es leise bei ihr angeklopft. Sie öffnete …
Ihr Bruder Wilhelm trat ein. Er war noch unter Ernestinens Brüdern der Treuherzigste, während sie dem ihr verhaßten Gustav verbot, sich je vor ihr blicken zu lassen. Aber schlechte Gesellschaft hatte auch Wilhelm verdorben. Ernestine hatte schon oft Thränen, Worte der Liebe verschwendet, ihn von dem Pfade, auf dem sie ihn wandeln sah, abzubringen, ihn vor böser Gesellschaft zu warnen. Wenn der junge, scherzende, lachende Mensch damals in dem Garten seines Vaters erschien, hatte Oswald niemals Ahnung gehabt, was diesen Jünglingen schon Alles an den Fersen haftete!
152 An jenem Tage in der Frühe, als Alles um Ernestinen still war, tritt Wilhelm bleich, verstört, düster bei ihr ein, setzt sich, stützt den Kopf auf und seufzt mit tiefster Herzensangst. Er erzählt, er würde die Stelle in der großen Fabrik, wo man ihn aus Freundlichkeit und durch die Fürsprache des schmeichelnden Gustav wieder aufgenommen, bald für immer verlieren. Auch wärʼ es besser, er lebte nicht mehr! fuhr er fort.
„Wie?“ rief die Schwester entsetzt und horchte auf.
„Seine Tage kämen ihm ohnehin gezählt vor,“ sagte Wilhelm, und stieß dabei dumpfe Worte aus, die er mit den auffallendsten Geberden unterstützte.
Ernestine erschreckt, drängt nach der Ursache seines Kummers, räth auf ein böses Gewissen, auf einen neuen Leichtsinn, dessen Entdeckung Wilhelm fürchtete, auf ein Verbrechen wohl gar ….
Wilhelm antwortete nicht und bestätigte durch sein düsteres Schweigen nur der Schwester entsetzliche Ahnung. Nach langem Drängen stößt er endlich einen herzzerreißenden Seufzer aus und sagt mit halb wahnsinnigem Lachen: „Das wird nun Zuchthaus und mindestens zehn Jahre!“
„Um Gottes willen!“ schreit Ernestine auf, schließt 153 alle Fenster, sieht nach den Thüren auf dem Vorplatze. Alles still, Alles hinlänglich ruhig, um die Verwünschungen auszusprechen, die sich ihr zwischen ihre Thränen drängten. „Elender!“ rief sie voll Verzweiflung. „Was hast Du begangen?“
Wilhelm schwieg und sagte nur: „Du kannst mir und uns Allen doch nicht helfen!“
Als sie dieß Wort und die Andeutung eines ganzen Complots hörte, war es ihr erst, als wenn das ein Wort wäre, hervorgegangen aus einer erlangten Wissenschaft von dem anvertrauten Gelde Ludwig Wächterʼs. Es war ihr geradezu gewesen, als wenn bei diesem Worte: ,Du kannst uns doch nicht helfen!‘ die Augen des jungen Wüstlings einen unheimlichen Blitz entsendet hätten auf die Thür des Schlafkämmerchens nebenan, wo in einer Truhe dicht an ihrem Bette über eine Woche schon fünfhundert Thaler verschlossen lagen; Wächter hatte sie wieder abholen wollen. Der Gedanke an das Geld gab ihr Kraft. „Bube!“ rief sie. „Wenn Du unverbesserlich bist, so verlaß meine reine Schwelle, wirf Dich inʼs Wasser, wo Du willst, ein Mühlstein an den Hals eines Diebes!“ Es war die Sprache der Verzweiflung, die so schon mit dem Aeußersten sich gegen Schreckliches wehrte ….
154 Wilhelm, statt sich zu erzürnen, breitete die Arme kreuzweise auf den Tisch, legte den Kopf auf und fing zu weinen an.
Das Schluchzen eines feigen Mannes kann für Frauen erkältend wirken bis zur Verachtung. Hier untergrub es aber ihren Widerstand und lockte selbst Thränen hervor. Ernestine, außer sich über die Dinge, die einer solchen Verzweiflung, solchʼ einer plötzlichen Furcht eines verwegenen Menschen zum Grunde liegen konnten, wehrte sich noch gegen ihr Mitleid. Sie ließ hellauf wieder ihren Zorn lodern, trat an Wilhelm heran und rüttelte ihn, faßte ihn am Kragen seines Rockes, tobte die ganze Entrüstung einer sittlichen Natur aus, die mit den furchtbarsten Anstrengungen sich wehrt gegen den Gedanken an Entsetzliches und nicht glauben will, nicht glauben kann und die tiefste Verzweiflung empfindet vor der dennoch bestehenden Wahrheit.
Wilhelm ließ Alles geschehen und brachte sie eben dadurch in Verzweiflung bis zum Weinen. Er bewahrte sein Geheimniß. Als kennte er die Natur eines Weibes, ließ er Ernestinen sich erst in ihrem Zorne auskämpfen und wußte dann wohl, daß die Erschöpfung mildere Saiten aufziehen würde.
Mitten in diesem Aufruhre aller Gefühle der 155 durch die ohnehin durch Oswaldʼs fast zehntägiges Ausbleiben und den offen ihr damit ausgesprochenen Bruch im Zustande kraftlosester Erschöpfung Befindlichen hörte sie Geräusch auf dem Vorplatze.
Sie öffnete.
Wie auf Verabredung kam leise die Treppen heraufgeschlichen Heinrich, der älteste Bruder. Schüchtern grüßte er die Schwester, die über den Anblick des ohne Zweifel Betheiligten erstarrte. Heinrich that, als wisse Ernestine nichts von der Verlegenheit der Brüder. Er wollte Wilhelm nur, wie er sagte, herausrufen und endlich mit ihm gehen heißen. Wilhelm stand auf und wollte gehen.
„Du bleibst!“ rief Ernestine entschieden und drückte mit einer sie wie ein Krampf überkommenden Gewalt der Hände den Bruder nieder. „Du kommst herein!“ herrschte sie den Andern an, warf die Thür zu und drückte Heinrich fest an die Wand. „Was habt Ihr vor?“ stöhnte sie. „Was giebts unter Euch!“
Heinrich war sonst kurz und bündig. Heute ließ er Alles mit sich geschehen und nur wie mit bösem Gewissen sagte er: „Was ist denn? Was willst Du denn? Wilhelm soll herunter kommen, Hartmann ist da. Wir haben mit ihm zu sprechen.“
„Hartmann?“ rief Ernestine außer sich und ein 156 neuer Schauder überfiel sie; denn sie sah einen Zusammenhang von Menschen und Verhältnissen, die ihr entsetzlich waren. Sie sah wie damals, als sie Oswald verlassen hatte, den Grund in ihren Umgebungen, sie sah jetzt, wo sie wieder ihres Looses, von Oswald eines Tages vergessen, preisgegeben zu sein, inne war, Menschen in ihrer Nähe, die reine Naturen von ihr entfernen mußten. Dieser Hartmann! Sie wußte nichts von ihm, als daß er zu den vielen Bureaukräften der Fabrik gehörte, wie ihr Bruder Gustav, dabei ein eitler Prahler, ein Elegant war, den Malvina Wilde liebte, dieselbe Malvina, die schon einmal so verhängnißvoll in ihr Leben eingegriffen hatte. Als Malvina an jenem Abend einer Landpartie, die wir kennen, ermüdet und ohne Halt (in sich oder in einem eitlen jungen Manne, dem ihr Herz gehörte), ein Opfer des Zufalls und der Intrigue geworden war, hatte sie das Loos, das ihr der junge Graf Edgar – Luchsifuchsi war ein scherzender von Scharfeneck erfundener Name für den Sproß einer großen und reichen Familie – auf kurze Zeit, bis seine Eltern Einsprache thaten, bereitete, als Uebertäubung ihrer Scham benutzt. Als der junge Graf sie aufgeben mußte, die gemietheten Bediente und Pferde von seinen Angehörigen 157 untersagt erhielt, er selbst verheirathet wurde, hatte sie die Demüthigung eines so schnellen Sturzes nicht ertragen mögen und dennoch ihre schimmernde Existenz fortsetzen wollen. Die Gerichte machten diesem Beginnen ein Ende. Für einige Zeit, die sie theils im Gefängnisse, theils auswärts zubrachte, verschwand sie. Sie kehrte zurück mit aller List und Verschlagenheit, die allmälig die Folge eines solchen immer tiefer gehenden Verfalls, selbst bei sonst nicht gerade schlimmen Naturen, ist; doch war ihr die Anhänglichkeit an jenen Siegmund Hartmann geblieben, den sie, fast möchte man sagen gerade seiner Sprödigkeit und Herzlosigkeit wegen, nicht in ihrem bessern Innern hatte aufgeben mögen. Sie traf mit dem jungen Manne wieder zusammen. Wie ihr näheres Verhältniß war, wußte Ernestine nicht. Sie hatte die verlorene Jugendfreundin mit Strenge von sich abgewiesen, so viel auch Wächter, der sie noch öfter sah, von ihr erzählte.
Mit einem, tief aus gepreßter Brust wie ein Hilferuf sich lösenden und schon mit Thränen, die von ihrer nachlassenden Kraft kamen, gemischten Seufzer, sagte sie auf einen Stuhl sinkend: „Was soll Hartmann? Was habt Ihr? Redet!“ …
Heinrich wollte Wilhelm nun wegziehen und 158 meinte trotzig: „Das ginge sie ja allʼ nichts an! Was Wilhelm sich hier aufhalte!“
Wilhelm aber erwiderte: „Die Schwester könnte helfen; sie hätte einen Freund, der reich wäre! Freilich,“ setzte er hinzu, „anders als mit etwas Ordentlichem ist uns nicht geholfen!“
Oswald also sollte Geld geben! Das war das Ziel! Diese Erwähnung Oswaldʼs mehrte Ernestinens Schmerz! Schon konnte sie unter erstickten Thränen nicht mehr als wiederholen, was es mit Hartmann solle, und so erfuhr sie denn:
Seit geraumer Zeit hätte sich, freilich unter ganz neuen Bedingungen, wieder jener Kreis zusammengefunden, der sich vor Jahr und Tag wegen der Kartoffelaussaat und auf dem Tanzsaale in Buchenau erzürnte. Diese Aussöhnungen sind im Volksleben characteristisch. Der Kreis von Bekannten ist bei geringen Leuten so klein und doch sind die Leidenschaften und der Egoismus groß. So kommt das Ende immer wieder in den Anfang zurück. Frau Peltzer, trotz eines Processes, regierte wieder und veranstaltete wieder Partien. Hartmann, Malvina, die Brüder Wilhelm, Heinrich und Gustav Waldmann, die Brunckʼs, das wäre, erfuhr sie, ein Verkehr geworden, wo Einer den Andern im Wetteifer überbot. 159 Man hätte mehr Geld ausgegeben, als man durfte. Man hätte geborgt, Einer vom Andern. Man hätte sich zu helfen gesucht wie es eben ging, bis die anvertrauten Geschäfte der Fabrik wären veruntreut worden. Seit einigen Wochen schon hätte man Zahlungen nicht eingetragen, in den Büchern Irrthümer verdeckt, ja sogar einen Wechsel gefälscht .… Die Entdeckung stünde jeden Augenblick bevor und nur zwei Wege der Rettung gäbe es, entweder Flucht aller Betheiligten oder ein versteckter, die Unordnungen deckender Einbruch in die Casse der Fabrik, zu der die Brüder riethen ….
„Allmächtiger Gott!“ unterbrach Ernestine; „Ihr geht mit Tollkühnheit an ein zweites Verbrechen, um ein erstes gut zu machen!“ …
„Was bleibt uns übrig!“ sagte Heinrich. „Auf meinen Theil könntʼ ich wohl hundert Thaler wieder zur Stelle schaffen.“
„Und ich durch Brunckʼs zweihundert Thaler,“ sagte Wilhelm.
Aber Beide setzten hinzu, daß Gustav, der die Seele dieser Comtorverbrechen war, sich nicht helfen könnte, wenn er nicht sechshundert Thaler sogleich zur Hand hätte. Hartmann hätte sich durch Malvinen geholfen. Sie könnten den Bruder nicht im 160 Stiche lassen, umsoweniger, als sie selbst verschuldet wären und nicht wüßten, wie frei bleiben. So müsse denn Rath geschafft werden! So oder so! Wollte sie die Schwester angeben, wärʼs Recht. Sie hätten mit dem Leben längst ihre Rechnung gemacht. Neulich hätten sie im Flusse geschwommen, Wilhelm hätte einen Krampf im Fuß bekommen und wäre gesunken. Fritz Brunck hätte ihn nur sollen sinken lassen … sie müßten sich jetzt ordentlich helfen und (Heinrich stieß Wilhelmʼs Kopf gegen die Wand als den eines Feiglings, der sie hier an die Schwester verrieth) … es bleibe dabei … in der Nacht kämʼ es zur Ausführung … was der Schwager, Herr Oswald, solle, Geizhals wäre der immer gewesen … Gustavʼs falscher Wechsel wird heute entdeckt. „Komm! Komm!“ herrschte Heinrich und riß den Bruder an sich, um ihn mit fortzuziehen.
Ernestine sprang dazwischen. Sie hatte ein anvertrautes Pfand von fünfhundert blanken Thalern im Nebenzimmer liegen. Gab sie dieß Geld zur Deckung des Deficits her, so besaß sie die Mittel nicht, durch ihrer eigenen Hände Arbeit sie Ludwig Wächterʼn je wieder zu erstatten. Oswald um ein Darlehn anzugehen? Wie konnte sie das über sich gewinnen, selbst wenn sie nicht von ihm verlassen 161 gewesen wäre! Der älteste Bruder drängte, tobte, sah zum Fenster hinaus, sprach von Gustavʼs Verzweiflung und Hartmannʼs Ungeduld, dem sie schuldeten! Heinrich sagte: man könnte sie alle heraufrufen, sie ständen unten …
„Nein!“ rief die verzweifelnde Schwester. „Eine Herberge von Räubern und Dieben hier?“ Sie kannte Hartmann nicht, sie mochte ihn nicht sehen und nun hörte sie draußen schon Tritte. Sie öffnete. Gustav stand auf der Treppe, bleich wie die Wand, scheu wie das böse Gewissen und, als Ernestine öffnete, wie auf der Flucht. Sprachlos winkte sie ihm. Das Wort im Munde schien auch ihm zu stocken. Er deutete auf Jemanden, der unten warte.… So ließ sie die Thür der Hand entgleiten und verlor die Besinnung. Sie sah sich mit allen diesen Menschen schon vor Gericht, sah sich nicht mehr herauskommen aus dem Fluche ihrer niedern und so unglücklich bedingten Herkunft, sie schwankte zurück, taumelte, sie wußte nicht, was sie that, als sie die Kammerthür öffnete, die Truhe aufschloß und den staunenden Brüdern, die in der That nur einen Brief an Oswald, den reichen Sohn eines Gutsbesitzers erwartet hatten, den schweren Beutel mit Geld übergab. Die Brüder waren starr. Sie umarmten 162 Ernestinen. Wilhelm küßte der Schwester die Hände. Heinrich wandte sich abwärts und schien seine Gedanken zu verbergen. „Das Geld gehört Wächterʼn,“ sagte Ernestine, „ich werde schon sehen, wie ich mit ihm fertig werde ….“ Draußen hinter der geschlossenen Vorplatzthür näherte sich Gustav, sie rief aber: „Fort! Fort! Laßt mich allein!“ In wenig Augenblicken waren die Brüder verschwunden und Ernestine war allein – mit dem furchtbaren Gefühl, was sie Ludwig Wächterʼn sagen würde … Und vierundzwanzig Stunden darauf wurde dieser ermordet gefunden.
Oswald hätte den Namen eines Rechtskundigen nicht verdient, wenn er nicht nach dieser, ihm allerdings sogleich nicht im Ganzen vorliegenden Aufklärung gesagt hätte: „Diese Schurken sind dreifach strafbar! Sie sind Mörder, Diebe und Betrüger! Sie wußten, daß Wächter, der sich mit ihnen hielt, das Geld ihrer Schwester gegeben und waren uneinig, ob sie es einfach ihr rauben oder durch List abgewinnen sollten.…“ Er fuhr fort: „Jenem Siegmund Hartmann trauʼ ich die Theilnahme an diesem Ueberfalle kaum zu. Malvina ist bei dem ganzen Streich nur genannt worden, weil man von Ernestinen wußte, daß sie eher Alles thun würde, als sich etwa bei ihr 163 erst nach dem Zusammenhang erkundigen –“ und so sprach Oswald diese und jene Vermuthung aus und gab auch zu, daß man vielleicht auf ihn selbst und seine eigene Casse es abgesehen hatte; „wie aber Wächterʼs Tod? Erfuhr Wächter das Schicksal Ernestinens? Was sagte der zu dem verlorenen Gelde?“ „Er suchte es sich wahrscheinlich selbst wieder,“ vermuthete Scharfeneck; denn nur Vermuthungen ließen sich aussprechen, da Wächter auf ewig stumm war. „Ob er die wahre Geschichte der nothgedrungenen Veruntreuung Ernestinens erfuhr, kann zweifelhaft erscheinen;“ fuhr Scharfeneck fort; „sicher blieben ihm die Namen verborgen. Doch suchte er sie sich selbst. Sein Instinct konnte ihn, als Ernestine sich ihm offenbart hatte, nur auf die Brüder führen. Ich denke so. Er paßte diesen Menschen auf, schlich sich nächtlicherweile sie irgendwo entdeckend nach, fand sie mit den Söhnen des Fischermeisters Brunck auf einem gemeinschaftlichen Wege. Wohin? Zu dessen Fischbehältern. Konnten sie der Schwester trauen? Mußten sie nicht eine Untersuchung gewärtigen? Erschreckten sie nicht, als Wächter genannt wurde, dem sie schon einmal Gefängniß verdankten? Wo das Geld verbergen? Bei sich selbst? Irgendwo vergraben? Sie trugen es in die verschlossenen Fischbehälter, deren 164 Schlüssel die jungen Brunckʼs führten. Dort muß er sie beobachtet haben. Als sie von den Fischbehältern zurückkehrten, begab sich Wächter ohne Zweifel selbst an die Kästen, wo man einen schweren Gegenstand eingesenkt hatte. Die Räuber kehren noch einmal zurück, entdecken ihn, sie sehen sich verrathen, verfolgen den Fliehenden und schlagen ihn nieder. Das einzige Wort, das er noch sprechen konnte, verrieth sie.“
„O,“ rief Oswald aus, „giebst Du nun nicht zu, Freund, daß Ernestine sich aus allen diesen Schrecken wie ein Phönix von seinem Flammenneste erhebt? Könntest Du noch einen Funken von Achtung vor mir haben, wenn ich dieß edle und seltene Mädchen ihr grausames Schicksal entgelten ließe, sie nicht vielmehr wie eine gehetzte Unglückliche an mein Herz zöge und sie in meiner Liebe die Ruhe finden ließe, welche die Arme nach so vielen Leiden verdient?“
Scharfeneck schwieg. Der Freund wallte in schmerzlicher Empfindung auf. „Sprich nicht mehr vom Emporblick!“ sagte er, „ich würde mich selbst nicht mehr achten, wenn ich die Hoffnungen täuschte, die das Mädchen auf mich setzen darf.…“
Scharfeneck erwiderte nichts, zog sein Portefeuille, 165 öffnete es und gab Oswald ein von seiner eigenen Hand geschriebenes Blatt.
„Was soll das?“ fragte Oswald.
„Hier, Ernst!“ sagte Scharfeneck. „Dieser Brief von Ernestine Waldmann wurde in der Brieftasche des Erschlagenen gefunden. Das Original mit Blut bespritzt liegt bei den Acten und wird nicht zur öffentlichen Verhandlung kommen. Die Abschrift ist von mir. „Ich kann Dir die Kenntnißnahme dieser Zeilen nicht ersparen.“
Oswald las einen Brief, den Ernestine Waldmann einige Stunden nach dem Ueberfalle, den die Brüder auf ihr gläubiges und schwesterliches Herz versucht und glücklich ausgeführt hatten, mit gewandter, zierlicher Handschrift an Ludwig Wächter gerichtet hatte.
Er lautete, auch in stilistischer Hinsicht überraschend, folgendermaßen:
,Lieber Herr Wächter! Sie haben mir durch allzu großes Vertrauen den Muth gegeben, in einem der qualvollsten Augenblicke meines Lebens die Feder zu ergreifen und nach Fassung ringend mich mit Ihnen schriftlich auszusprechen. Ihr Leben haben Sie mir seit dem letzten Jahre unserer Bekanntschaft so oft erzählt, daß ich es wage, die gute Meinung, 166 die ich immer von Ihnen hegte und die ich oft genug gegen Ihre Feinde vertheidigte, heute zu meinen Gunsten sprechen zu lassen; denn ich habe Ihnen Schmerzliches anzuzeigen. Die Summe, die Sie mir anvertrauten, besitzʼ ich nicht mehr. – – Wie ich dazugekommen, ohne Sie zu fragen, die Ersparnisse Ihres freudlosen Lebens an Jemanden auszuleihen, der nicht im Stande ist, mir auch nur die geringste Bürgschaft der Wiedererstattung zu leisten und sie auch schwerlich jemals wiedererstatten wird, darüber lassen Sie mich mit Stillschweigen hinweggehen. Sie kennen mich zu gut, lieber Herr Wächter, als daß Sie nicht glauben sollten, ich hätte Ihr Vertrauen nur erst nach den fürchterlichsten Prüfungen getäuscht, nach Prüfungen, die mir das Schicksal auferlegen wollte. – – Ich fühle mich jetzt Ihre Schuldnerin. Was Sie seit länger als einem Jahre zu meiner Ausbildung thaten und ferner noch ohne Ansprüche auf Entgeltung thun wollten, das habʼ ich dennoch immer mit meiner Hände Arbeit und nach Ihren geringen Forderungen gutgemacht. Wie ich aber den Verlust Ihres Eigenthums gutmachen und die Ersparnisse Ihres Lebens, die Hoffnung Ihrer Zukunft Ihnen ersetzen soll, das ist ein Gedanke, der mich vernichtet. Erwerben kann ich es nicht; noch 167 weniger kann ich den Freund, den Sie kennen, um Beistand angehen; denn Sie wissen, daß ich seit dem Tage, wo er zum ersten male nicht wieder in unsere bescheidene Hütte, damals in der Vorstadt, die leider nicht die Hütte der Unschuld und Tugend war, zurückkehrte, die Ueberzeugung gewann, ein so Hochstehender könnte ein armes Dasein wie das meinige durch Freundschaft nur dann auszeichnen, wenn es ihm nicht verpflichtet ist. Ich fühle oft, daß es doch wohl ein unreiner Geist war, der mir einflüsterte: Du mußt die Spuren Deiner Armuth und Deinen Mangel an Bildung verwischen, wenn Du die Freundschaft eines solchen Mannes verdienen willst! Sie wissen, lieber Herr Wächter, wie ich, von thörichter Verblendung getrieben, gerungen habe, aus meinen häuslichen Verhältnissen mich frei zu machen und meinen Mangel an Bildung zu verdecken! Wenn ich mir die Schreckensaugenblicke vergegenwärtige, wo ich das mir von Ihrem Vertrauen übergebene Pfand aus meinen Händen geben konnte, so muß ich mir zu meiner tiefsten Beschämung gestehen, daß es wieder nur die Furcht war, vor dem Freunde im düstern Lichte zu erscheinen, umgeben von Verhältnissen, die ihn in der That auch jetzt schon wieder von mir entfernt haben. Er wird nicht mehr zurückkehren. Seit 168 zehn Tagen von ihm gemieden, fühlʼ ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo ich von einer thörichten Einbildung, die meine Eitelkeit mir schon seit zwei Jahren gefangen nahm, mich auf ewig trennen muß. Ach, welchʼ eine Verblendung! Seit einigen Wochen erhielt ich Briefe aus Oswaldʼs Heimath, von Beauftragten seiner Eltern, welche die Trennung mir zur Pflicht machen. Die Berufung auf meine Vernunft hat mich bestimmt. Ich raubte edlen Eltern einen edlen Sohn! Ich habe das Vertrauen eines Geistlichen, der mir aus Oswaldʼs Heimath schrieb, nicht täuschen wollen, habe die Briefe des Herrn Dämmer dem Freunde nicht mitgetheilt. Aber unwürdig wie ich bin, jemals Oswaldʼs Gattin zu werden, muß ich meinem Wahne ein Opfer bringen und endlich, endlich mit Gewalt selbst der Möglichkeit vorbeugen, daß der Freund, wie schon einmal, so auch jetzt aus alter Gewohnheit je wieder zu mir zurückkehrt. Ich muß diesen Wahn aus meinem Herzen reißen und ginge damit mein Leben hin und – – auch aus seinem; denn er gehört andern, edlern Verhältnissen!… Sie sehen, lieber Wächter, wie es in meinem Herzen aussieht! Ich bin nicht im Stande, Ihr Vermögen Ihnen zurückzugeben. Ich muß Sie beschwören, fußfällig beschwören, es nicht zu fordern. Ich 169 muß Sie bei Allem, was Sie mir je über Ihre Zuneigung zu mir und Ihre Wünsche seit drei Jahren schon gesagt haben, anflehen: Lassen Sie jede Untersuchung! Fragen Sie mich nie, was aus diesem Gelde geworden ist! Ich kann es Ihnen nicht wiedergeben, ich kann Ihnen auch nicht sagen, wem ich es geben mußte. – – Ich bin arm und habe nichts, womit ich Sie einigermaßen zufrieden stellen kann. Seit drei Jahren schon sagen Sie mir, daß Sie mich lieben. Sie haben mir oft gesagt, daß ich das einzige Glück Ihres Lebens werden könnte. Seit drei Jahren folgen Sie mir auf Schritt und Tritt und duldeten ruhig, daß ich Sie zurückwies, Ihrer anfangs spottete, dann Ihnen die Huldigung eines Jüngern und Reichern vorzog. Sie störten nie diesen unglücklichen Bund; Sie harrten aus und behüteten mich, wie ein Vater sein Kind behütet! Sie bildeten mich aus, soweit meine Anlagen reichen. Daß ich diese Zeilen niederschreiben kann, wem verdankʼ ich es denn anders als Ihnen? Mitleid und Dankbarkeit sind es, die ich für Sie gefühlt habe in jeder Stunde meines Lebens, seit ich Sie kenne. Sie hofften auf Liebe! Ich kann Ihnen schwärmerische Liebe nicht geben. Aber wärʼ es möglich, ganz mit diesem Leben hier zu brechen, wär’s möglich, das Meer 170 zu gewinnen und in Amerika irgend ein ehrliches Gewerbe gemeinschaftlich zu treiben, so könntʼ ich mich entschließen, mich loszureißen und, um alle Brücken mit der Vergangenheit abzubrechen, Ihnen, Herr Wächter, in Geduld und im Vertrauen auf Gott, der helfen wird, zu folgen.‘
Als Oswald diesen Brief, den offenbar nicht die Verzweiflung, sondern eine ruhige, ergebene Fassung in die Feder dictirt hatte, gelesen, mußte sein Herz zucken. Was half es ihm, während dem er las, in Zorn gegen Pfarrer Dämmer, ja seine eigenen Eltern anfzulodern! Was half es ihm auszurufen: Herr des Himmels, bin ich denn verdammt, der ewig Getäuschte der Dinge zu sein, die sich ohne mich hinter meinem Rücken machen? Was half es ihm, von dem Todten auszurufen: Mit dieser wie fußfälligen Bitte um Verschwiegenheit in Händen konnte dieser Elende nach dem ihm verlorenen Gelde dennoch forschen, dennoch spüren! Was half es ihm endlich, sich zu sagen: Wächter suchte aber vielleicht das Geld, um nach Amerika zu gehen, mit seinem Rettungsengel, meiner verlorenen Liebe? Es half nichts. Seine Kraft war gebrochen. Scham und Wehmuth, beide warfen ihn in einen Zustand, aus 171 dessen rathlosesten und ohnmächtigsten Entschlüssen er sich nicht aufraffen konnte.…
Ueber die Fischersöhne und die drei Gebrüder Waldmann wurde in Folge geschickter Vertheidigung nur eine dreijährige Zuchthausstrafe ausgesprochen. Ernestine, die vor Gericht nur noch als Zeugin zu erscheinen hatte, und durch die Sicherheit ihres Auftretens, die Bestimmtheit ihrer Antworten allgemeine Theilnahme erregte, wurde sofort in Freiheit gesetzt. Oswald kämpfte mit sich, ob er ihr dennoch trotz dieses Briefes an Ludwig Wächter seinen Schutz und Beistand anbieten sollte. Aber noch ehe er wagte, dem unwiderstehlichen Drange seiner noch immer nicht erloschenen Liebe Gehör zu geben, war Ernestine verschwunden. Niemand wußte wohin sie sich begeben. Es währte lange, bis man erfuhr, daß sie nach Osten zu gereist, in Stettin ein Schiff bestiegen und sich nach Petersburg begeben hatte, von wo sie aller Nachforschungen ungeachtet spurlos im Innern Rußlands sich verloren.
172 Siebentes Capitel.#
Der Himmelsblick.#
Die Jugend schmollt mit dem Leben, das ihr nicht nach Wunsch gehen will, länger als das reifere Alter. In gesetzten Jahren weiß man die Flucht der Zeiten mehr zu schätzen und findet sich mit ihrer Ungunst gelassener ab. Die jungen Jahre gehen mit sich verschwenderisch um und geben auch ihrem Kummer mehr Raum, als sich der kühlere Sinn späterer Zeit gestattet, ja sich zuweilen kaum noch erklären kann.
Oswald ergriff mit Eifer seinen Beruf, besuchte seine Heimath, sah die frohen, entwölkten Mienen seiner Eltern, denen er nach ihrem Sinne für die vom Pfarrer Dämmer gewagten Schritte eher hätte 173 danken als von ihnen eine Abbitte dafür verlangen sollen, feierte die Verbindung Scharfeneckʼs und seiner Schwester mit, aber es lag ein Druck auf seiner Seele, der nicht weichen wollte. Scharfeneck, vor ihm zur Residenz zurückkehrend, begründete sich eine Häuslichkeit, die seinem Weltsinn entsprach. Er sah viel Menschen um sich und erzog seine junge Frau mit Geschick für die nicht leichte Aufgabe, ein Haus zu machen. Oft ermunterte er den Schwager, ihrem Beispiele zu folgen und sich zu verehelichen. Oswald lehnte die Zumuthung fast verletzt ab.
Scharfeneck kam selbst nach einigen Jahren noch auf manche Ausläufe der Verirrungen, die sein Schwager durchlebt hatte, zurück.
Während er Ernestinens Entschluß, sich der Ehre Oswaldʼs und dem Rufe seiner Eltern zum Opfer zu bringen, in einer für dessen Gefühl fast übertreibenden Weise pries und sich jetzt, seit Ernestine verschollen war, fast mit ihr ausgesöhnt hatte, häufte er über die Dinge, welche sich rings um Oswaldʼs verblendete Sinne, wie er sagte, damals so behaglich ausgebreitet hatten, allen Spott, dessen seine scharfe Beobachtungsgabe nur fähig war.
„Um Dir ein Bild von Deinem edlen Volke zu geben,“ sagte er, „gehʼ einmal in eine der 174 Nebenstraßen des Schloßplatzes! Dort findest Du ein Modegeschäft unter der Firma: ,Siegmund Hartmann und Comp.‘ Eine reizende junge Frau sitzt am Fenster und nimmt die Bestellungen an. Es ist Malvina. Das Geld, das zu diesem Geschäfte nöthig war, hat einen Ursprung, der Dir die eigenthümliche Vorstellung, die alle diese Menschen mit Macht und Besitz verbinden, vergegenwärtigen wird. Ernestinens Brüder wußten nichts von Wächterʼs bei ihr aufbewahrtem Gelde. Sie kamen nur in der Absicht, durch ein Gewebe von Lüge die Schwester zu bestimmen, ihre Verbindung mit Dir zu ihrem Vortheil auszubeuten. Exploitiren! Das ist nach oben eine Kunst, die doch noch manchmal Ueberwindung kostet; nach unten versteht sich das Exploitiren von selbst. ,Wie machen wirʼs, daß Der einmal herausrückt!‘ war das Thema ihres verschmitzten Planes. Hartmann würde sich viel zu vornehm gedünkt haben, mit diesen Leuten gemeinschaftliche Sache zu machen. Sie nannten ihn um Malvinaʼs und der Schwester willen, die vor diesen Namen schauderte. Hartmann war nur schlecht in einem ganz andern Stil. Woher bekommen wir Juristen unsere allerdings traurige Verachtung und Gleichgiltigkeit vor den menschlichen Characteren? Kann man sie uns verargen, wenn 175 wir Thatsachen erfahren wie die: Hartmann nimmt die Liebe der in seine Vernisstiefeln und seine Cravattenknoten vernarrten und auf eine, wie man nach Verirrungen dieser Art oft findet, geregelte Ehe fast mit einer Art Prüderie bedachten Malvina mit ruhigem Hochmuth an und beschließt, seine pariser Erfahrungen und sein Hé! Holà! Houp! dadurch zu nutzen, daß er ein Modemagazin anlegt. Woher aber das Geld dazu nehmen? Rathe! Er, verlobt mit Malvina Wilde, schreibt an den jungen Grafen Luchsifuchsi! Dieser schickt verächtlich für einmal einen Beitrag zur Ehe und zum Etablissement. Jean Morbiller, sein Kammerdiener, der Wuchergeschäfte macht, oft mit seinem jungen Herrn selbst, schießt ein Capital vor und macht sich nunmehr zum Herrn der ganzen, jetzt eröffneten Firma ,Siegmund Hartmann und Comp.‘. Ob da nun früher ein Schimmer von Poesie vorhanden war, den ich in meiner Skizze, wie oft ein junges Wesen in diesen Sphären der raffinirtesten Verführung unterliegen muß, andeutete, das mildert sich nun Alles ab in Täuschung und löst sich in Verhältnisse auf, wie sie leider eben dazu dienen müssen, die Großen so unverbesserlich hochmüthig und von den Kleinen so unverbesserlich geringschätzend denken zu machen.“
176 „Du hast Recht,“ sagte Oswald mit Bitterkeit, „ich werde mir auch deßhalb lieber eine Fürstin zum täglichen Umgang wählen. Frau von Wolmany empfahl mich wenigstens in ein Haus, wo ich solche Erfahrungen, wie Du sie schilderst und ich selbst erlebte, nicht wieder machen werde.“
„Thuʼ das!“ fiel Scharfeneck ein. „Besuche die Cirkel der jungen Fürsten Bagration! Schade, daß sie nicht aus Petersburg, sondern aus Italien kommen. Feodore Bagration, die berühmte Bildhauerin, meißelt ihre Amorʼs und Psycheʼs nicht, um sie nur vom Hofe bewundern zu lassen. Sie rafft Künstler und Gelehrte, Civil und Militair, Alles durcheinander auf, um ein Haus zu machen, in welchem Dir vielleicht einmal ein Reisender aus Petersburg begegnet, der Dir von der guten und vortrefflichen Ausnahme Ernestine Waldmann Nachricht bringt.“
Und wirklich erlebte Scharfeneck, daß sein Schwager ein eifriger Besucher einer zahlreichen russischen Familie wurde, deren jüngere Mitglieder aus Italien zurückgekehrt waren, um sich mit den ältern, die aus Petersburg kamen, in dieser Residenz ein Rendezvous zu geben. Das ehrwürdige Haupt dieser reichen und kunstsinnigen Familie war eine Matrone, die von Moskau eintraf. Es war eine geborene Deutsche, 177 eine hochgebildete, wohlwollende Frau, leider seit Jahren erblindet. Scharfeneck erfuhr, daß sich Oswald, eingeführt von Frau von Wolmany, gerade am liebsten in dem engern Kreise dieser greisen Fürstin bewegte und oft in der Woche zwei bis drei mal bei ihr den Thee trank. Die Schwester wurde fast eifersüchtig, wenn Oswald die Behaglichkeit dieser Abende rühmte. Die greise Fürstin ordnete, als sie ankam, sogleich ihren Kreis für sich an. Ihre Enkel und Enkelinnen waren ihr zu erregt, zu lärmend. Sie hatte eine kleine erlesene Gesellschaft für sich, eine Gesellschaft, die ihr mit etwas Umständlichkeit angemeldet wurde, dann auf wollenen Teppichen nahte, in dem matterhellten Zimmer Platz nahm und sich die Gespräche gefallen lassen mußte, die die eigenthümliche und etwas strenge erblindete Dame nach ihrem Wunsche angab oder nach Gefallen abschnitt. Wenn Oswaldʼs seitdem merkwürdigerweise fast wie ungewandeltes Wesen, seine fast zurückgekehrt scheinende Heiterkeit erwähnt wurde, pflegte Scharfeneck in seinem illusionslosen Eifer zu äußern: „Sage man, was man wolle, es liegt etwas Veredelndes, Erhebendes, Läuterndes im Umgang mit den bevorzugten Ständen! Geringe Anschauungen mögen da am allerwenigsten fehlen, aber sie werden entweder verborgen 178 oder nur nach dem Maßstabe irgend eines allgemeingiltigen Gesetzes ausgesprochen. Immer sucht man doch die Vermittelung mit dem Ueblichen und Ueberlieferten. Und welche unaussprechlichen Wirkungen liegen schon im Tacte! Ist der Tact schon die eigentliche Seele der Musik, ohne die allʼ ihre sonstige Harmonie nicht bestehen kann, so ist der Tact im Umgang geradezu die wahre Seele des Handelns. Wie schleift sich in solcher Umgebung alles Schroffe und Spröde ab! Wie sind die Menschen auf einander angewiesen und tauschen nur ihr Bestes und ihren wahren Reichthum miteinander aus! Ernst ist jetzt erst in die Bahn getreten, in die ich ihn von Anfang an drängen wollte. Er wird jetzt seinen Werth zu schätzen lernen und sich nur an Das verlieren, was seiner würdig ist.“
Eine Störung dieser glücklichen Zeit brachten häusliche Trauerkunden. Die Eltern Oswaldʼs und Evelinens erkrankten und schieden in kurzen Zwischenräumen rasch nacheinander. Der Fall war erschütternd. Der Schmerz, zwei so theure Wesen so kurz hintereinander zu verlieren, schien anfangs kaum zu ertragen; aber in die Trauer mischte sich, wie gewöhnlich, sogleich die Umständlichkeit der Erbschaftsanordnungen. Wenn Menschen, die uns theuer sind, 179 aus dem Leben gehen, will nur unser Herz klagen, und sogleich wird unser Verstand, nicht selten unsere Leidenschaft in Bewegung gesetzt. Es ist dieß traurig genug, aber es ist so.
Ueber diese Zwischenfälle, erst der Trauer, dann der Erbschaftstheilung, ging der Winter hin.
Als die ersten Lerchen stiegen und eines Tages Oswald nur mit Mühe zu bewegen war, einen Spaziergang durch die vom Eise befreiten Felder vor den Thoren der Stadt mit seiner Schwester und dem Schwager zu unternehmen, mußte er, da er wieder das Haus der Fürstin vorschützte, den Vorwurf hören, daß ihn jetzt diese Welt des vornehmen Scheins denn doch auch zu sehr in Anspruch nähme; ja Scharfeneck ließ sogar in der Laune des Nachtisches – Oswald hatte wie oft bei seinem Schwager zu Mittag gegessen – das Wort fallen: „Ich glaubte wahrhaftig, Du liebtest die Prinzessin Feodore und spieltest, wie sich für einen jungen bürgerlichen Advocaten kaum anders ziemt, bei dieser Dame die Rolle eines Toggenburg; aber ich höre ja ganz anders! Ich höre, daß Du ganz der treue Bologneser der alten blinden Fürstin bist und ohne die Wärme ihres Kamins und die Stille ihrer Teppiche nicht mehr leben kannst. Wer hätte das gedacht!“
180 Oswald hatte schon den noch mit Flor umbundenen Hut in der Hand. Er stockte einen Augenblick, dann zog er sein Portefeuille und fragte den Schwager – wo er seine Verlobungskarten hätte stechen lassen? …
„Verlobungskarten?“ fragte man erstaunt.
Und zur Bestätigung, daß auch er ein solches verhängnißvolles Blättchen wollte vervielfältigen lassen, reichte er Beiden ein Papier. Man ergriff es und las:
Ernestine Waldmann,
Ernst Oswald.
Sprachlos stand die Schwester. Sie mußte an dem sonnenbeschienenen, mit Hyazinthen geschmückten Fenster, das sie eben öffnen wollte, um die erquickendste Märzluft inʼs Zimmer einzulassen, sich festhalten.
Man rieth auf einen Scherz.
Oswald aber erwiderte feierlich: „Zu allen Zeiten wären mir diese Erinnerungen zu heilig gewesen, um mit ihnen zu scherzen. Es ist Ernst! Hört, was in diesen sechs Monaten der Trauer um unsere Theuern mich aufrecht erhalten hat, was mir die Kraft gab, mit der Fassung, die Ihr sonst an mir kaum gewohnt seid, unter dem Druck der schwierigsten Pflichten nicht zu wanken!“
181 Und so erzählte er:
„Im Hause der blinden Fürstin Bagration, in dem grünen verhangenen Zimmer, auf den stillen Teppichen, beim Schimmer eines mattgeschliffenen Lampenglases habʼ ich Ernestine Waldmann wiedergefunden.
Nach der wilden Schreckenszeit, die sie durchlebt hatte, war sie dem Norden zugeflüchtet, erst in der Absicht, dort in untergeordneten Verhältnissen zu dienen. Aber bald wurde ihr Werth erkannt. Man zog sie nach Moskau, wo sie in eine Familie aufgenommen wurde, die ihre Bildungsfähigkeit nicht nur, sondern ihre wirklichen schon erworbenen geistigen Besitzthümer mehr zu schätzen wußte, als nur ihr Herz, dessen stiller Druck, dessen noch immer nicht ausgerungener Schmerz ihr auch nicht die Miene gegeben haben würde, um in der Salonwelt zu gefallen. Man stellte sie bei der erblindeten Fürstin Bagration, einer geborenen Deutschen, als Vorleserin an. Ihr reines, zum Herzen sprechendes Organ, ihre gewählte Aussprache, ihre unermüdliche Geduld im Ertragen der vielen Launen einer mißmuthigen und verwöhnten hohen Frau und ihrer noch verwöhntern Umgebungen erwarben ihr, wie ja das nicht anders geschieht, zwar nicht die wahre volle Anerkennung ihrer 182 Trefflichkeit, aber brauchbar erschien sie und sehr nützlich und zuletzt, wie die vornehme Kälte dafür immer vom gerechtern Schicksal bestraft wird, nothwendig.
Nach zwei Jahren sprach man von einer Reise nach Deutschland. Die Rückkehr nach der Heimath konnte Ernestinen nicht erlassen bleiben, denn eine Weigerung, dorthin zu folgen, würde von diesen starkwilligen Menschen nicht angenommen worden sein.
So fügte es der versöhnendste Zufall, daß ich sie wiedersah, als beim Eintreten zur Fürstin gerade eine sanfte Stimme aus Humboldtʼs ,Kosmos‘ vorlas und mein Auge nicht sogleich auf die weißgekleidete junge Vorleserin fiel. Die Stimme versagte der Lesenden schon, als ich gemeldet wurde. Aber die Fürstin zwang sie, dem ihr von ihren Enkeln vorgestellten Neuling ihres Cirkels noch einmal einige Stellen mitzutheilen, über die sie sogleich ein Gespräch mit mir anknüpfen wollte. Ich erkannte weder sogleich die Gesichtszüge der Vorleserin, noch ihre bebende, nach Fassung ringende Stimme. Erst als sie schweigen, als sie leise sich entfernen durfte, erst da war es mir, als hätte ich eine alte Melodie in meinem Gedächtnisse anklingen gehört, als zöge etwas Geisterhaftes, Fremdes und doch so unendlich Bekanntes durchʼs Zimmer. Ich wagte es, nach dem 183 blassen jungen Mädchen, das so sicher die schwierigsten Worte und in so vollkommener Aussprache vorgetragen, eine schon die Wahrheit ahnende Frage zu stellen. Ich hörte, schon zitternd, von der blinden Fürstin den Namen Ernestine und Ernestinens Schicksal.
Einen Besuch zu ihr selbst, im obern Stockwerke, durfte ich nicht wagen. Aber zwei Tage darauf, an demselben Kamin, in derselben Beleuchtung gab ich Ernestinen zum Gruße meine zitternde Hand. Die Fürstin sah es nicht … sie war blind. Sie sah die stumme Begrüßung zweier Menschen nicht, die das Schicksal für einander bestimmt hat.
„Was haben Sie?“ fragte die Fürstin in französischer Sprache, als Ernestine eine Antwort auf eine von ihr gewünschte Auskunft geben sollte.
Ernestine wußte, daß in dieser Umgebung ihr Leid und ihre Freude nicht gelten durften. Sie bezwang ihr Gefühl und erwiderte in gleicher Sprache, … ihr wäre nicht wohl.…
„Sie haben zu viel gearbeitet,“ sagte die Fürstin; „wissen Sie,“ fuhr sie zu ihrem Besuche sich wendend fort – „wissen Sie, Herr Oswald, diese junge Dame hat den Fanatismus der Bildung. Ich erlebe noch, daß sie Griechisch lernt! . .“
184 Ernestine lächelte und sagte nur mit verweisender Bitte: „Durchlaucht! .“
„Ja, ja! Warum soll ich es nicht verrathen,“ fuhr die Fürstin fort, „ich habe Fräulein Waldmann als eine junge Dame kennen gelernt, die vor den Wissenschaften zwar schon viel Achtung hatte, aber nicht gewagt haben würde, den ,Kosmos‘ zu lesen aus Furcht, über die schweren Ausdrücke in ihm zu straucheln. Sie faßte Muth und strauchelt jetzt nicht mehr. Aber,“ fuhr die Fürstin fort, „ich höre daß ihre Wangen bleicher sind, als sich für so viel Jugend und wie ich höre Schönheit ziemt. Nicht von Andern hörʼ ichʼs, daß Sie schön sind, Ernestine; wer anmuthig ist, das hört sich an der Stimme. Wir Blinden sehen mit allen den Organen, die bei Euch nur hören und fühlen können.“
Und dann begann die Fürstin wieder von sich selbst.…“
Oswald erzählte, er hätte während dieser Worte Ernestinens zitternde Hand in der seinen gehabt, hätte sie mit Küssen und mit Thränen bedeckt. Darauf wäre ein Besuch gemeldet worden und der Abend in jener Selbstbeherrschung vorübergegangen, die einen neuen Reiz, einen neuen Zauber über dieß Wiederfinden ausgebreitet hätte.
185 „Ach,“ erzählte Oswald mit leuchtenden Augen, „es begann jetzt ein Glück, dem ich oft versucht war, in Eurer Gegenwart Worte zu leihen. Aber ich begnügte mich, Euch nur die strahlenden Mienen meines Antlitzes zu zeigen. Giebt es denn einen süßern Reiz als das Geheimniß der Liebe? So sich entbehren müssen und sich dennoch besitzen, so unter Fremden verweilen, sich scheinbar fremd und doch so fest sich angehören, so unter dem schützenden Deckmantel der Formen und des Tactes sein theuerstes Besitzthum nicht an Die verrathen, die es ganz zu würdigen doch nie verstehen würden! Ich war glücklich selbst in diesem Zwange, den wir uns auferlegen mußten. Ein Briefwechsel entspann sich statt der persönlichen Begegnung, die nicht zu oft stattfinden durfte. Und wie sprach sich Ernestine in diesen Ergüssen einer gebildeten, bewußtgewordenen Seele aus! Noch immer war sie ein Mädchen aus dem Volke, sie stand über den Formen dieser conventionellen Welt, die sie sich nur angeeignet hatte als eine leider unerläßliche Bedingung ihrer neuen Existenz. Sie ging nicht in diesen Formen auf, nahm sie nicht für mehr, als was sie sind. Sie blieb das frohe Geschöpf der Natur, harmloses Kind bei aller grausamen Zweideutigkeit, in der das Leben schon mit 186 ihr gesprochen und ihr die von Träumen aufschreckende Wahrheit unserer gesunkenen Civilisation gezeigt hatte. Diese Briefe sollt Ihr lesen. Wenn ich eintrat zur Fürstin, wechselten wir unsere Empfindungen aus, Rückblicke, Erlebnisse, aufgeschrieben in Blättern, die wir uns beim ersten Gruße in die Hand drückten. Ihr werdet den Antheil lesen, den sie an unsern herben Verlusten nahm! Sie, die Mutterliebe und Vaterwürde nicht aus eigener Erfahrung kannte, wie rührend spricht sie von beiden! Ernestine hat mir während des ganzen Winters, wo der Tod eine Ausgleichung zwischen dem allzu vielen Glücke, das mir werden sollte, herstellte, nur drei oder vier mal Gelegenheit geben können, sie auf offener Straße, frei vom Zwange der Formen, in denen sie lebte, zu sehen. Wir wanderten in die Vorstadt, sahen mit Rührung das elterliche Haus, das in andern Händen sich befindet; ihr Vater arbeitet mit den Kindern bei andern Gärtnern, empfängt Unterstützung von Ernestinen, und hat trotz seines Alters und seiner vielen Kinder zum zweiten male geheirathet! Wir sahen das Haus, wo Ernestine in ihrem einsamen Zimmerchen die Schrecken mit den drei nach der Gefängnißstrafe wenigstens vor ihr verschollenen Brüdern erlebte. Die Erinnerung an Ludwig Wächter 187 zuckte in ihr schmerzvoll auf. Sie sagte: ,Schon einmal bin ich gestorben, als ich mich von Dir losreißen und dem unglücklichen Manne mich zum Opfer und Ersatz darbieten mußte. Aufleben in dieser Welt, die ich auf ewig fliehen mußte, konntʼ ich nur durch Dich!‘ Aber zu selten,“ fuhr Oswald fort, „zu selten wurden mir diese Augenblicke der Vertraulichkeit mit meiner wiedergefundenen Liebe. Der Zwang eines so vornehmen Hauses ist fürchterlich. Ernestine ist das Augenlicht jener Fürstin, die mit Geist und einer nicht zu leugnenden Herzensgüte doch auch die ganze Strenge ihrer Kastenansprüche verbindet und Ernestinen wie ein Instrument behandelt. Immer muß sie in ihrer Nähe sein, immer bereit, der Dolmetscher ihrer Unruhe und Wißbegier zu werden. Sie muß es die Fürstin gleichsam vergessen lassen, daß sie blind ist. Mit meiner Verlobung endet ein Verhältniß, das an Ernestinen wie ein Fieber zehrt. Sie bedarf der Erholung, der Pflege, und ich hoffe, wenn noch ein Funke von Freundschaft für mich in Euren Herzen lodert –“
Scharfeneck ließ Oswald nicht ausreden und versicherte ihn seiner innigsten Theilnahme. Oswald blickte fragend auf die Schwester, die gerührt schien, aber doch nicht einem von ihrem Bruder angedeuteten 188 Wunsche eher entgegenzukommen wagte, bis nicht ein Blick auf ihren Gatten ihr die Bahn des Rechten angewiesen.
Scharfeneck sagte: „Du willst, daß wir sie bis zu Deiner Vermählung bei uns aufnehmen?“ Oswald bejahte.
Man erwog die Möglichkeit, Ernestinen ein Zimmer einzuräumen.
Es geschah nicht ganz in der raschen Freudigkeit, die Oswald gehofft hatte. Er grollte. Aufdrängen wollte er nicht, was er mit liebendem Entgegenkommen begrüßt und mit Sehnsucht an sich gezogen wünschte.
Scharfeneck befreite ihn aber von allen Verlegenheiten. Er überholte alle seine anderweiten Entschlüsse, indem er noch am selben Tage selbst zur Fürstin ging, von ihr selbst, fast wie ein Brautwerber, Ernestinen für seinen Schwager als künftige Gattin erbat und sie aus dem staunenden hohen Familienkreise nach einigen Tagen in der That in die Arme seiner Gattin führte. Oswald war glücklich, als er endlich die Umarmung dieser Menschen sah, die ihm über Alles gingen. Ernestine weinte – ihre Thränen rührten alle.
Nicht so sehr der Rückblick auf ihre Vergangenheit that weh, als der Gedanke an ihre Zukunft. 189 Sie war von hoher schlanker Gestalt, von edlen Formen, die blonden sich niederwärts senkenden Locken standen ihr wie einer stillen Abendlandschaft Mondenschein. Aber sie war krank. Die Blässe ihres Antlitzes verrieth, welche Anstrengungen es sie gekostet hatte, sich die Bildung zu erwerben, die man in der That bei ihr antraf. Um diese Augen, die so hell, so geisterhaft glänzten, lagen die düstern Schatten nächtlicher Stunden, die an der Lampe hingebracht waren. Die Stimme so wohltönend und kräftig, und der Körper, den sie beseelte, so hinfällig und erschöpft. Oswald konnte sich nicht verschweigen, daß Ernestine, wie sie beim Lampenschein in dem dunklen Zimmer der blinden Fürstin vorlas, und wie sie hier unter den frischen Eindrücken des gesunden Lebens am hellen Sonnenlichte stand, zwei verschiedene Wesen war. Es bekümmerte ihn, als er in den Augen der Seinigen trotz der Theilnahme mehr Wehmuth als Freude entdeckte. Selbst Abneigung würde ihn nicht so geschmerzt haben wie die Rührung, mit der die Schwester dem weinenden Mädchen zusprach.
Die Verbindung wurde angesetzt, dann wieder aufgeschoben. Ernestine kränkelte. Sie war wie eine Blume, die im Treibhause sich entwickelt hatte, aber 190 dort gewachsen und erstarkt, die Luft des wirklichen Lebens nicht ertragen konnte. Ihre Bescheidenheit machte niemals den Umfang ihres Wissens geltend. Sie hatte der Fürstin mehr Bücher vorgelesen, als Oswaldʼs Schwester je hatte nennen hören. Und nicht bloß äußerlich kannte sie alle diese, den verschiedensten Bereichen angehörenden Werke, sie hatte sie auch in sich aufgenommen. Sie verstand Französisch und Englisch. Um ihre Ausbildung ganz vollkommen zu machen, fehlte ihr nur die Musik. Oswald stand oft vor ihr mit gefalteten Händen. Er betrachtete sie wie eine Heilige. Er nannte ihr Leben ein Wunder.
Die Wunder dieser Welt sind nur kurze Geschenke des Himmels. Ernestine litt an allen offenen und geheimen Zeichen jener Krankheit, die man ein schon auf Erden sichtbares Engelwerden nennen kann. Diese zunehmende Reife der Seele, diese glänzenden Augen der Verklärung, diese wachsende Stärke des Gemüths, die feste, ruhige Vorbereitung auf den endlichen Abschied vom Leben, das Verschwinden aller Zeichen des physischen gesunden Seins, der beschleunigte Puls, die magernde Hand, die sich zuspitzenden Formen des Antlitzes, – Alles verrieth die Zehrung, die Ernestinen dem Grabe zuführte. Das einst so blühende, frische Mädchen verschwand zum Schatten.
191 An einem frühen Herbstmorgen hauchte sie die vielgeprüfte Seele im Arme des Verlobten aus.
Als sie zur Ruhe bestattet und ihr Grab mit Blumen geschmückt war und Oswald zum ersten male die Kraft gewann, selbst zu reden, nicht den tröstenden Zuspruch nur der Andern zu hören, sagte er zu Scharfeneck, des Freundes Hand ergreifend:
„Nun versprechʼ ich Dir, nur noch nach oben zu sehen. Dein Emporblick ist Himmelsblick geworden. Mein Stern dort oben glänzt so hell, daß ich ihn nicht mehr verlieren werde.“
Der sanfte, stille, junge Mann schied auf einige Zeit aus dem Kreise der Freunde. Er kehrte zurück nicht ohne die Tröstungen, welche die Schönheit der Erde wohl bieten darf; doch blieb er bei seinem Worte. Alle seine Anschauungen, alle seine Gedanken leben nur wie in einer jenseitigen Anknüpfung. Was um ihn her ist, das erfaßt wohl sein Auge, zumal wenn sich mahnende Forderungen der Pflicht an ihn richten; aber sein eigentliches Leben und Sein fesselt nichts Niederes mehr. Was ihn wahrhaft erhebt, muß in die Höhe gehen. Um mit dem Leben abzuschließen noch zu jung, pflegt er wohl zu Scharfeneck zu sagen: „Was ich auch beginne oder erfahre, ich verlasse mich auf eine Hand, die aus den Wolken zu mir niederlangt.“
192 Wir schließen diese Schilderung der Folgen eines träumend und zwecklos hingelebten Sonntagnachmittags mit der Verwahrung, als hätten wir düstre Scenen aus dem Leben des Volkes deßhalb nur erzählt, um dessen in sich befriedigte und selbstgenügsame Abgeschlossenheit darzuthun. Ernestine und Ludwig Wächter bleiben nur Beispiele, wie schwierig die Bildung des Volkes bedingt ist. Möchte unsere Zeit, die sich bei ihren vielen philanthropischen Zwecken auch den gesetzt hat, Formen des bildenden und emporziehenden Verkehrs der höheren Klassen mit den niederen zu erfinden, einen Mittelweg anbahnen lernen zwischen spröder Ablehnung der Volkselemente und allzusorgsamer Beflissenheit, ihnen entgegenzukommen. Noch ist das Leben der Massen ein Chaos. Die Lichtstrahlen der Liebe zu ihm waren noch nicht stark genug, es ganz zu erhellen. Mag man die vorstehenden Blätter als fragmentarische Studien ansehen, diesem spröden Stoffe wenigstens in der Erkenntniß der dabei in Betrachtung zu ziehenden wirklich gegebenen factischen Sitten und der oft in den wunderbarsten Gegensätzen befangenen Meinungen beizukommen.
Ende.
Apparat#
Bearbeitung: Dirk Göttsche, Nottingham; Joanna Neilly, Oxford; Apparat: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Mit der Erzählung Ein Mädchen aus dem Volke ließ Gutzkow im Herbst 1852 sein wöchentlich erscheinendes Familienblatt „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ an den Start gehen (hier nachträglich mit dem Hinweis im Inhaltsverzeichnis zum ersten Jahrgang Seite V: Erzählung vom Herausgeber). Im Sommer 1853 kam ein Nachdruck in einer New Yorker Zeitschrift heraus, der von Gutzkow vermutlich nicht autorisiert worden war und daher für die Textgeschichte keine Rolle spielt. Gleichfalls wohl ohne Mitwirkung des Autors wurde die Erzählung 1855 aus den „Unterhaltungen“ in eine Anthologie dichterischer Werke Gutzkows aufgenommen, Teilband einer „National-Bibliothek der Deutschen Classiker“, die 1855/56 in über hundert Bänden im Verlag des Bibliographischen Instituts von Carl Joseph Meyer herausgebracht wurden. Ob Meyer dafür eine Publikationserlaubnis eingeholt hatte, ließ sich nicht feststellen. - 2022 wurde ein 1868 erschienener Nachdruck in einer selbstständig paginierten, kleinformatigen „Feuilleton“-Beilage der „Ausgburger Neuesten Nachrichten“ entdeckt (J4). Dieser ohne Zweifel illegitime Nachdruck, ohne Verfasser- und Quellenangabe, folgt dem Erstdruck des Erzählwerkes in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ von 1852.
Drei Jahre nach seiner Erstpublikation erschien das Erzählwerk als selbstständiger Band in der von Ignaz Leopold Kober herausgegebenen populären Serie „Album. Bibliothek deutscher Originalromane“. Dabei änderte Gutzkow den Untertitel in Bilder aus der Wirklichkeit, ließ den knappen Einleitungstext fallen, der in der Journalfassung den sieben Kapiteln vorangeht, und modifizierte stark die Absatzgestaltung, die er in der Buchfassung wesentlich kleinteiliger anlegte. Die Buchfassung (gedruckt im Kleinoktavformat) hat wesentlich mehr Absätze als die Journalfassung (gedruckt im Großoktavformat). Am Text nahm Gutzkow nur geringfügige stilistische Änderungen vor. Lediglich den Schluß arbeitete er 1855 um, strich den letzten Satz des letzten Absatzes der Journalfassung (Mein Freund, der rechte Emporblick muß über diese Erde hinaus nach Oben gehen! J, S. 111) und fügte der Buchfassung einen zusätzlichen, erklärenden Schlussabsatz hinzu.
Wesentlich stärker fallen die Textüberarbeitungen aus, die Gutzkow 1873 vornahm, als die Erzählung im Rahmen der zweiten Ausgabe seiner Gesammelten Werke herauskam. Gutzkow änderte den Titel in Der Emporblick, den Untertitel in Novelle aus dem Volksleben der Großstädte und setzte 1852 als Jahr der Erstpublikation bzw. Entstehung hinzu. Die Kapitelüberschriften wurden 1873 weggelassen, der Text durch zahlreiche Hinzufügungen, Streichungen, Wortumstellungen stark verändert, die Absatzgestaltung durch Zusammenziehen von Absätzen deutlich reduziert und modifiziert.
Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Kleine erzählerische Schriften. Band 2. Hg. von Dirk Göttsche unter Mitarbeit von Joanna Neilly. Münster: Oktober Verlag, 2021. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I: Erzählerische Werke, Bd. 9.)
Die Sigle ›Rasch‹ im Apparat verweist auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow. (1829-1880.) 2 Bde. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1998. Eine bibliographische Kennziffer mit dem Zusatz N am Ende bezieht sich auf die → Nachträge zur Bibliographie.
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
2.1.1. Texteingriffe#
15,12 andern den andern
32,15 dreifachen dreifafachen
43,17 daß das
80,16 weitere weitete
81,6 Czernebog, Czernebog.
2.2. Lesarten und Varianten#
Sowohl in E als auch in A2 fehlen die einleitenden Worte des Erstdrucks in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ (Nr. 1, [15. September] 1852, S. 3). Dem ersten Kapitel geht in J1 folgende Vorbemerkung voraus:
Es mag nicht allgemein bekannt geworden sein, daß vor einigen Jahren nächtlicher Weile in den Straßen einer großen norddeutschen Hauptstadt ein meuchlings Verwundeter gefunden wurde, der nach einem einzigen räthselhaften Worte, das später die Ursache der Entdeckung seiner Mörder wurde, den Geist aufgab. Die nähere Geschichte dieses Vorfalls würde billigerweise den Sammlungen von Criminalfällen einzureihen sein, vielleicht auch vorzugsweise nur den Seelenforscher interessiren, da das Leben des Ermordeten – es war ein Mann, angeblich aus dem Lehrerstande, hieß Ludwig Wächter oder, wie ihn die an seinem Tode näher betheiligten untern Stände nannten, Lude Wächter – voll merkwürdiger Thatsachen für die Erfahrungsseelenkunde sich ergab. Indessen diese Umstände allein würden uns nicht bestimmt haben, sie zum Gegenstand unserer Darstellung zu machen. Es waren vielmehr in die Geschichte dieses, wie sich später bei öffentlicher Gerichtsverhandlung ergab, eigenberufenen Mannes Lebensumstände noch anderer Personen verwickelt, und diesen zunächst gelten die folgenden Blätter. Sie werden die Verhältnisse Ludwig Wächter’s, sein Ende und das räthselhafte Wort, das zur Entdeckung seiner Mörder führte, nicht verschweigen, haben es aber zunächst nur mit zwei Lebensläufen zu thun, deren Darstellung selbst in den Leiden, die sich in ihre Geschicksfäden verflochten, den Leser hoffentlich fesselt oder wenigstens in ihm Stimmungen zurückläßt, die erheben, nicht niederziehen.
Kommentar#
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