Ein neuer Roman von Wilibald Alexis#
Metadaten#
- Herausgeber
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.1
- Letzte Bearbeitung
- 01.02.2020
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2217 Ein neuer Roman von Wilibald Alexis.#
Die Absichten die W. Alexis durch seinen Roman: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (Berlin, Barthel) vorzugsweise zu erreichen sucht, lassen sich, obgleich davon erst zwei Bände vorliegen, doch schon ziemlich deutlich übersehen. Der Verfasser will der Gegenwart den Spiegel der Vergangenheit vorhalten. Er will das Bild eines Staates zeichnen der seinen Glanz nicht vor dem Roste zu schützen wußte, in sorgloser Sicherheit sein altes Ansehen, so lange die alten Formen früherer Größe sich erhalten hatten, irrthümlich zu behaupten glaubte, das Bild eines Staates, dessen Lenker durch Intrigue ersetzten was ihnen eine innere Stimme als Mangel an Kraft und Charakter zuraunte. Preußen, wie es von der Höhe seines durch Friedrich gewonnenen europäischen Ansehens bis zu den Demüthigungen der Jahre 1806 bis 1812 herabstürzen konnte, ist der eigentliche Held der Begebenheiten die W. Alexis in seiner Erzählung aufrollt. Borussia selbst ist die hervorragendste, bis jetzt anziehendste Figur derselben, Borussia, angethan wie Minerva, und dennoch rathlos, blind wie ihre Eule am Tage, Borussia eben des Höchsten sich vermessend, dann wieder von ängstlichen Rücksichten erschreckt, anspruchsvoll und doch mit Schatten abgefunden, endlich, aber zu spät, die schlimmen Rathgeber von sich schüttelnd, den letzten Einsatz wagend, heldenmüthig und doch nicht mit heroischer Würde, sondern nur wie ein Verzweifelnder untergehend. Dieß ganze Geschick hat der Dichter mit jener Sorgfalt und patriotischen Hingebung geschildert die seinen auf märkischem Grund und Boden spielenden romantischen Darstellungen eigen ist. Er züchtigt seinen Gegenstand, weil er ihn liebt. Er giebt ein Lehrgedicht, zeichnet an der Wand ein politisches Mene Tekel. Diese Haugwitz, Lombard, Voß, Schulenburg, Lucchesini sind wie Rahmen, in die man versucht wird Charaktere späterer Zeiten einzuhängen. Wenn man von Haugwitzens idyllischen Freuden, seinen Popularitätsbestrebungen, seinem zur Schau gestellten Antheil an dem Leben des Berliner Kleinbürgers liest, so versteht man worauf eigentlich der Verfasser zielt.
In der Tendenz dieses Romans liegt seine Kraft. Die Wirkung dieser Kraft aber würde auch über die preußischen Marken hinausgehen, wenn der Dichter sich zu einer allgemeindeutschen und welthistorischen Höhe hätte aufschwingen wollen. Wir sagen nicht gerade - obgleich in Herzenssachen wohl das non ultra posse gilt - aufschwingen können. W. Alexis, in seinem specifisch preußischen Nationalgefühl, zog aus Gründen des Herzens die Einseitigkeit des ausschließlichen Schmerzes über den Untergang der Schöpfungen Friedrichs II vor. Der objectivere Leser wird über diesen Punkt mit dem Dichter rechten. Er wird ihm abstreiten daß das über Preußen hereingebrochne große Unglück lediglich in dem Zusammensturz der Hinterlassenschaft von Sanssouci zu suchen war. Er wird geltendmachen daß man so empfindsam in die Klagen über die Nichtbehauptung der Positionen des siebenjährigen Kriegs nicht miteinstimmen kann. Er wird das tragische Leid dieses Romans nur als ein relatives können gelten lassen, und den Wunsch nicht unterdrücken der Dichter hätte uns die damalige unglückliche Zeit auch in ihren productiven, glückverheißenden Factoren geschildert, Napoleon anders geschildert als durch die Vermittelung der preußischen Anschauung, Deutschland anders als nach den Reminiscenzen an die alte heilige römische Reichszeit. Selbst die Bedeutung Oesterreichs in den Wirren und Drangsalen jener Tage ist nicht scharf genug als derjenige Vordergrund hingestellt gegen den sich die Lage Preußens in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit abheben konnte. Die bekannte Litteratur der „Fakkeln,“ „Feuerbrände,“ „Lichtstrahlen,“ „rothen Bücher,“ „Löscheimer“ und wie sich die dem Tage von Jena nachströmende Fluth der Nun-Alles-Besserwissens-Broschüren nannte, ist doch nur eine trübe Quelle, aus der man mit Vorsicht schöpfen muß. Was die Totalität seiner Anschauungen anlangt, scheint es, als wenn der Dichter dieser Quelle zuviel zugesprochen hätte. Oder es müßte denn seyn daß im Verlauf des Romans die Modificationen noch kommen werden, nach denen man sich in dem zuweilen erdrückenden Jammer der aufgeführten Personen um die untergegangene Herrlichkeit des alten Königs mit dem Krückstock bis jetzt vergebens umsieht.
Unterrichtete Leser werden den genrebildlich gehaltenen historischen Schilderungen dieses Buches mit großer Befriedigung folgen. Diese lebendigen Scenen aus der damaligen Chronik Berlins, diese Orgien entfesselter Sinnlichkeit unter Männern die oben das nächste Vertrauen genossen, diese Schaustellungen der tiefsten Entsittlichung im Beamten- und theilweise dem Kriegerstand sind mit Geist und Kenntniß entworfen, wenn sie sich auch zu oft wiederholen. Das größere Publicum dürfte ein bestimmteres Hervortreten einer anekdotischen Handlung vermissen. Der Faden der Erzählung wird etwas unsicher fortgeführt. Zu oft abreißend, wird er zu oft mit Umständlichkeit wieder angeknüpft. Manche Figuren die sich ohne Zweifel noch zum Interesse erheben werden, dämmern in der Anlage und vermögen nicht sich aus einem gewissen Nebel herauszufinden. Wie flimmernd, unbestimmt wird z. B. den meisten Lesern, die in der Lupinus nicht sogleich die bekannte Giftmischerin Ursinus errathen, diese sichtlich auf psychologischen Reiz angelegte Figur erscheinen! Sie thut nichts, sie beginnt nichts, trotz ihrer Jugend liebt sie nicht einmal, sie dämmert so hin. Wie lebhafter würde sie und so manche andere Gestalt ergreifen, wenn der Dichter sie gleich von vornherein scharf umrissen, und in eine bewußte, irgendein Ziel anstrebende Thätigkeit versetzt hätte! Dieß Ziel braucht nicht immer ein Factum, wie im Drama, zu seyn. Im Gegentheil, die ästhetische Meinung des Referenten ist ganz und gar im Roman für Charaktere, deren Schicksal mehr der Führung als der Wahl unterliegt, aber zum Schicksal muß sich mindestens doch noch ein ausgesprochener Charakter gesellen, und mit ihm irgendein bewußtes Wachsthum und Anstreben aus dem allgemeinen heraus. Diese Lupinus ist aber ebenso wie einige andere Charaktere mit zitternden Contouren gezeichnet. Schärfer treten schon Wandel und die Fürstin Gagarin heraus, völlig klar van Asten und der anziehende junge Bovillard. Daß die zur Zeit- und Sittenschilderung sich etwas zu üppig ausbreitenden Repräsentanten der Frivolität, Haugwitz, St. Réal, der alte Bovillard (Lombard?), der zweite Lupinus ausgezeichnete Porträts sind, versteht sich bei dem Hauptverdienst dieses Romans, der Zeitcharakteristik, von selbst.
Im übrigen ist die Stylweise und sozusagen die poetische Manier unsers Autors bekannt. Es ist dieß eine gewisse ironisirende Sentimentalität, die zuweilen reizende Wirkungen hervorbringt. Da wo das Halbe, Anmaßende und doch in sich Zerfallene in seiner Blöße aufgedeckt werden soll, da wo dämmernde Seelenzustände, unklare, sich selbst überraschende Gefühle ausgedrückt werden, ist diese Darstellungsweise außerordentlich gefällig. Durchgängig aber festgehalten kann sie der Objectivität nachtheilig werden. Sie kann die zusammengedrängte Kraft der Situationen beeinträchtigen. Sie kann den Dichter verführen, zuviel seine Personen, zu wenig seine eigne Darstellung sich ergehen zu lassen. Das Gespräch namentlich hat der Autor zu üppig aufwuchern lassen. Wer in einem Roman an sich die Gespräche tadeln wollte, würde Romane mit stummen Personen oder eine Chronik verlangen. Das Gespräch im Roman muß indessen immer der nothwendige Ausdruck der Situationen, nicht das bloße Hülfsmittel der Charakteristik seyn. Kaum erlaubt ist die Wortfülle die der Dichter anwendet um sich Personen zu dem Ende aussprechen zu lassen, nur damit wir ihre Art im allgemeinen oder wohl gar nur die Art der Zeit kennen lernen. Das Gespräch im Roman soll die Blüthe, die άχμή, die Gipfelung der Situationen seyn; es soll die Situation in derjenigen Schwebe erhalten deren sie bedarf um sich in ihrer Bedeutung und organischen Nothwendigkeit für die Dichtung zu ergeben; viel mehr aber auch nicht. Bei unserm Dichter haben die Gespräche ein apartes Leben für sich. Sie ergehen sich z. B. auf vertrauliche und sogar spannend angelegte Tète-à-Tète-Erörterungen über die Frage: ob wohl Napoleon von Josephinen Kinder bekommen würde, eine Frage (II. 239) die für das Ganze rein müßig ist; sie besprechen alles, nur das nicht was man in einer bestimmten Situation allein zu hören erwarten kann. Dem geistreichen und wohlwollen-2218den Verfasser wird der Gebildete immer zuhören; ob sich aber nicht doch selbst der Kunstrichter auf die Seite derer wird stellen müssen die diese unmotivirten Gespräche überschlagen?
Wir brechen, nur eine Voranzeige bezweckend, in unsern kleinen Rügen ab. Es gäbe noch manche Frage an den Dichter zu stellen, ob z. B. in den Circeln eines gewöhnlichen Berliner „Geheimenraths“, wo man sich nach dem Thee zum „warmen Abendessen“ mit Förmlichkeit zu Tische setzt, der bevollmächtigte französische Gesandte erscheinen und sich, gemüthlich an einen Ofen gelehnt, mit allerlei kleinem Gehofräthsel politisch unterhalten kann; ob ein Duellant, im Begriff mit einem scharf treffenden Gegner Kugeln zu wechseln, von einem tactvollen Secundanten fünf Minuten vor seinem möglichen Tod auf politische Erörterungen, Depeschen, dechiffrirte Noten im Gespräch geführt werden wird; ob es möglich ist daß ein preußischer Minister vor fünfzig Jahren in der Nacht keine Depeschen vom Kriegsschauplatz annimmt, oder solche Grundsätze debitirt wie sie von ihm ein junger Amtsbewerber (II. 287) in erster Audienz zu hören bekommt; allein die meisten dieser und ähnlicher Bedenken verschwinden gegen das starke und volle Interesse des ganzen Buches, verschwinden gegen den mit Fleiß zusammengestellten Apparat von Thatsachen, gegen die gemüthvolle Vertiefung in den mit Liebe erfaßten Gegenstand, gegen das ersichtliche Hindrängen der Handlung auf Entwickelungen, die uns von der hoffentlich nicht zu lange ausbleibenden Fortsetzung des Werks noch einen gesteigerten Genuß und in der Lösung des Ganzen eine ungetheilte Befriedigung schon jetzt für fast gewiß voraussehen lassen.
Apparat#
Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Die Liste der Texteingriffe nennt die von dem Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
2.1.1. Texteingriffe#
1,18 angethan angethau
2,30 "Löscheimer" Löscheimer"
5,1 Tète-à-Tète-Erörterungen Tète à-Tète-Erörterungen
Kommentar#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.