Briefe aus Paris (Fünfter bis Siebenter Brief)#

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  1. Thomas Bremer
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1.1: TEI-Transfer, formale Anpassungen
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04.05.2022
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Briefe aus Paris.#

Erster Theil.#

55 Fünfter Brief.#

Paris, den 17. März.

Grade heute, es ist mein Geburtstag, fühl’ ich denn doch, daß ich über die Jahre der Illusionen hinauskomme. Oft getäuscht, hab’ ich mich gewöhnt, nichts mehr zu erwarten. Ich habe mir die meisten Dinge von der Poesie, die ich früher an sie anknüpfte, selbst entkleidet. Der Schmelz, den sie besitzen, er wird ihnen darum bleiben; Das erfreuet uns nur noch wahrhaft, was uns überrascht.

Das Meiste, was wir schön, erhaben, groß finden, haben wir in unsrer Vorstellung uns schöner, erhabener, größer gedacht. Die ersten Berge, die wir sahen, schienen uns kleiner, als sie uns hätten erscheinen müssen, um uns vollkommen zu befriedigen. Die gerühmtesten Wunder der Welt, wenn wir sie sahen, blieben hinter Kupferstichen, Erzählungen, hinter unsern Phantasien zurück. Die Liebe! Nahm sie nicht anders sich aus, als wir noch kein Herz gefunden hatten, das wir unser 56 nennen durften? Wem gab sie, als wir wirklich liebten, nicht Größeres, als wir hofften, und wem - nicht Kleineres?

Je älter man wird, desto bescheidener, desto anspruchloser sollte man werden. Man sollte die Grenze sich ziehen können für Alles, was diese Welt gewähren kann. Sie hat Alles und gibt so wenig. Wie viel Glück, wie viel Freude - nur dir ist nichts davon beschieden! Armes Herz, so hast du entbehren gelernt, bist einfacher in deinen Wünschen, reiner in deinen Genüssen, glücklicher geworden in deinen kleinen Befriedigungen!

Nur ein abstracter Mensch, ein Mensch, der in Büchern heimischer ist, als unter Seinesgleichen, konnte nach Italien reisen und sich stören lassen durch Alles, was die Natur diesem wunderbaren Lande als Zugabe seiner Wunder gegeben hat. Da die Wunder der Erde natürliche sein müssen, so wirft auch Alles, was himmlischer Abglanz scheint, seinen irdischen Schatten. Wie klein jene Fremden, die unser Vaterland besuchten und alles Das zum Maßstab ihres Urtheils über das Ganze nahmen, was sie im Einzelnen befremdet, was von ihren Gewohnheiten abweicht oder wirklichen Tadel verdient. Ich kam nach Frankreich mit Indignation über hundert widerliche Eindrücke. Ein jämmerlicher Postwagen, gedrückte, erbärmliche Plätze, ein grober Conducteur, nicht die Spur von Aufmerksamkeit auf das 57 Befinden der Reisenden. Schlechte Kost, Prellerei, für den kleinsten Dienst geöffnete Hände, die gemeinste Plusmacherei in Allem, was uns begegnet. In jeder Festung, die wir passirten, wurden die Pässe abgefordert, nur damit die Unterbedienten Trinkgeld fordern konnten. In Peronne verschmachtete ich vor Durst. Es war noch nicht zehn Uhr Abends. Ich äußere mein Bedürfniß: keiner der Passagiere hat den Muth, den plumpen Conducteur zum Oeffnen des Schlags zu bewegen, keiner steht mir bei, meine Bitten um ein verre d’eau sucrée zu unterstützen. Der Conducteur hört mein ganzes Lexikon französischer Flüche und läßt ruhig weiter fahren. Ich dachte, daß unter Ludwig XI. in Peronne Hunderte verschmachtet sind, und duldete bis zum nächsten Morgen, wo wir Milchkaffee statt Kaffee mit Milch, förmlich eine Suppe und einen großen Löffel, unser Frühstück damit statt zu trinken, zu essen bekamen. Und doch! Ich will nicht klagen. Ich will Frankreich nicht, wie es Manche gethan haben, nach seinem Milchkaffee und seinen Trinkgeldern beurtheilen. Jeder Sou, auf dem ich lese: République française, jedes Bildniß des unglücklichen Ludwig auf der groben Kupfermünze ergreift mich so, daß ich nur noch den welthistorischen Boden unter mir fühle und getrost durch die Barrière St. Denis bei schönstem Frühlingswetter in das große Babel einfahre.

58 Ich bin in Frankreich, in Paris. Ich muß mich besinnen, um zu wissen, was mir einst dieser Gedanke war. Als Knabe hab’ ich Frankreich gehaßt und Paris geliebt. Meine Gedanken klammerten sich an Deutschlands Fall und Deutschlands Größe; meine Gefühle, meine Phantasien schweiften durch Paris, das ich früh kennen lernte aus den Erzählungen meines Vaters. Mein guter Vater war in Paris gewesen, zwei Mal, 1814 und 1815. Er hatte dem Knaben Wunderdinge erzählt von den Boulevards, von Franconi, von einem Hirsch, der durch Feuer springt, von einem Sattler, bei dem er wohnte. Ich bin in Paris, ich möchte nicht Louis Philipp sehen, ich möchte den Sattler besuchen, bei dem mein Vater gewohnt hat. Noch vor der Julirevolution haßt’ ich Frankreich. Ein junger, französischer Professor, St. Marc Girardin, kam nach Berlin, um die deutschen Universitäten zu studiren und deutsch zu lernen. Er nahm Unterricht bei mir und erklärte mir Frankreich; ich erklärte ihm Deutschland. Wenn ich ihm gesagt hatte, was Deutschland, was der Tugendbund, was die Burschenschaft war, kam eine Stunde später Gans, Eduard Gans, und sagte ihm, Das, was er von mir über Deutschland gehört hätte, wäre nichts, als eitel Albernheit. Deutschland könne nur durch Frankreich zur politischen Freiheit kommen. So Gans. Gans ist nun todt. St. Marc Girardin 59 ist maître des requètes, Staatsrath, Deputirter, Candidat eines Portefeuilles geworden. Und ich? - Wehmuth ergreift mich, wenn ich diese Gedankenreihe verfolge.

Nach der Julirevolution hat sich in der Auffassung Frankreichs Alles geändert. Man empfand nicht r, sondern mit Frankreich. Dieselbe Lage, die Frankreich bei sich verändert hatte, fand sich bei den meisten Völkern Europas vor. Selbst England, so fest gewurzelt in seinen historischen Bedingungen, machte die Reformbill und die Entwickelung des Chartismus zum Nachhall der pariser Bewegung. Deutschland vollends, in seiner politischen Lage sogar hinter den geringen Versprechungen der Wiener Congreß-Acte zurückgeblieben, mußte freudig den Sieg des Constitutionalismus begrüßen, einer politischen Form, die, nur halb bei uns eingeführt, auch in sich selbst schon zusammenfiel. Die Hingebung an Frankreich lag vorausgesetzt in einer beschämenden Selbsterkenntniß. Frankreich wurde der Mittelpunkt und der Leitfaden unsrer Reformen.

Seither hat sich auch dies wieder verändert. Deutschland hat Kraft gewonnen, Frankreich Kraft verloren. In Frankreich ist der Bodensatz der Gährung ans Tageslicht gekommen, bei uns hat die Gährung, die wir Frankreich verdanken, unsere edleren Bestandtheile zum Vorschein gebracht. Frankreich fällt in seine historische Alltagsstimmung zurück, Deutschland ist in der 60 nämlichen Gefahr, wenn auch der Umweg, den wir neuerdings genommen haben, sehr neu, großartig und bedeutend scheint. Die Dialektik ist schimmernder, origineller als früher; die Axiome sind aber die alten. Diese Bewegung ist nicht gut; aber wir werden sie nicht aufhalten können. Ich sage wir: und verstehe darunter die Denkenden, im Gegensatz zur Masse, die nur Leidenschaft und von der Geschichte Das kennt, was geschehen ist, nicht was geschehen wird.

Das sind Gedankenreihen, die mich viel beschäftigen werden. Vorläufig hab’ ich Mühe, meine Gesichtspunkte nicht zu verlieren. Ich muß mich zuweilen besinnen auf das Frankreich, das ich mitgebracht habe, weil das Frankreich, das ich finde, mich irren kann. Louis Philipp, Guizot, Thiers, der bewaffnete Friede, der Friede um jeden Preis, die Pairskammer, die Königsmörder, die Deputirten, die Epiciers, die großen Männer und die kleinen Intriguen, die Kunst und Wissenschaft, Véry, Vefour, Musard - ich habe Mühe, von alle Dem, was ich früher wußte, hier nichts zu vergessen. Ein Fiacrepferd, das auf dem Boulevard für todt liegt, beschäftigt mich mehr, als drüben das Hôtel des capucines, in dem Guizot seine Diners gibt. Eine Holzpflasterung am Ende der Rue Richelieu weckt mehr Betrachtungen in mir, als das heutige Bülletin der Débats. Sie pflastern Paris mit 61 Holz, um der Revolution den Baustoff zu entziehen. Aus Holzblöcken lassen sich keine Barricaden mehr machen. Lieber mögen Die, die nicht hören können, übergefahren werden, wenn sie auf dem Holzpflaster das Rollen der Wagen nicht vernehmen, als daß Die, die nicht sehen wollen, ewig in Gefahr sind, ihre Kronen zu verlieren. Gedankenlos geht Paris an den aufgerissenen Straßenecken vorüber und beklagt an der Neuerung nichts, als daß sie den Spaziergängern eine Zeitlang die freie Passage hindert.

Schade, daß die diesjährige Frauenmode widerlich schwarze Trauerkleider sind, es fehlte nichts, um Alles frühlingsschön zu haben. Blauer Himmel, Sonnenschein, die Bäume grünen schon, die Fontainen am Obelisken glänzen diamanten, in den Champs élysées freuen sich die Pferde, auf den Boulevards die Menschen, im Palais royal die Engel. Hunderte von Bonnen führen die kleinen Kinder spazieren; Alles will hinaus in’s Freie, und es ist so schön, daß man in Paris selbst förmlich über Land gehen kann. Zum Ueberfluß ist der Salon der neuen Gemälde eröffnet. Soll ich dort schon hingehen? Draußen Veilchenduft und drinnen die Oelfarbe suchen?

In Paris kommt die Kunstausstellung mit den Veilchen, in Berlin mit den Astern. Ich ziehe den gemalten berliner Nachsommer dem gemalten pariser Vorfrühling vor. 62 Auch innerlich, was die Kunst betrifft. Unsre deutschen Ausstellungen bringen mehr Poesie. Bei uns ist die Malerei lyrisch, hier will Alles dramatisch sein. Jedes Bild drängt sich hervor, jedes schreit um Beifall. Ich sehe ungeheure Effecte, aber wenig Gefühle. Die Religion ist in einigen riesenhohen Altarblättern bedacht. Es sind Votivtafeln einer Andacht, die nur deshalb für die Heiligen sorgte, weil einige neue Kirchen neue Gemälde haben müssen. Bei neuen Kirchen kommen in Anschlag: Steine, Holz, Gold, Silbergeräth, eine Orgel, ein Gemälde für den Altar. Diese Heiligenbilder gehören zum Baudepartement; man sieht ihnen an, daß sie auf Bestellung gearbeitet sind. Sonst wimmelt es in dem Salon von orientalischen Scenen, Familiengemälden und Portraits. Die ersten sollen für Algier begeistern, die andern das Glück der Ehe veranschaulichen, die letzten sind gemalte Heirathsgesuche. Auf den Familiengemälden sind Kinder und kleine Hunde die Hauptsache, auf den männlichen Portraits die Bärte. Ich mag hier keinen Mann mehr ansehen, weil ich nichts als Haare sehe. Alles trägt mittelalterliche Bärte, die Flaneurs, die Kutscher, die Marquis, die Ouvriers. Man ist von allen Seiten umgeben von Van-Dyk’s-, von Rubensköpfen, von poetischen Bärten, zu denen prosaische Augen, fahle Lippen und die geschmacklosesten Trachten des Jahrhunderts gehören. Diese Männer lassen sich ihre 63 Bärte wachsen, ohne daß sie selbst ihren Bärten gewachsen sind.

Die Gemälde des Salons sind im Grunde nichts mehr als gemalte Kupferstiche, colorirte Lithographien. Sie gehen mit wenigen Ausnahmen über den Geist des Kupferstiches und der Lithographie nicht hinaus. Die Mode, die gesellschaftliche Bestimmung scheint die Muse zu sein, die diese Künstler begeistert, und der sie ihre oft schönen und kühnen Talente opfern. An großen Kunstschöpfungen muß eine Periode immer ärmer werden, wo man die Bedeutung der Epoche angefangen hat, so zu verstehen, daß die Menschen dieser Epoche bedeutend wären. Seither wollen denn auch alle diese Philister, die die Haupthebel der Epoche zu sein sich einbilden, sich in der Kunst abgespiegelt finden. Auf den Gemälden, wie in der Poesie, und nirgend mit größerer Tyrannei für die Dichter, als im Drama.

Der Weihrauch der Feuilletons, die den Salon umdampfen, muß erst den frischen Oelgeruch der Kunstausstellung vertreiben. Hinaus in die sonnigen Champs élysées! Hunderte von eleganten Equipagen, mit vorreitenden Jokeys, begleitenden Cavalieren, untermischt mit reitenden Amazonen, machen Queue zu beiden Seiten der Promenade, um bis zum Arc de l’étoile die Renten zu zeigen, die die weißen Handschuhe und die Stulpstiefeln der Jokeys, die diese englischen Wagen, 64 diese Spiegelfenster, diese gestutzten Rosse und die Augen der schönen Damen, die sie ziehen, bezahlen. O, diese schönen, diese stolzen Augen! Diese Fülle von Glanz, dieser Hintergrund von Glück und Unglück, von Liebe, Leidenschaft und den dunkelsten Schlaglichtern der Poesie! Hingelehnt auf sammtne Polster, den Arm auf einen Vorsprung der seidnen Kissen gestützt, blicken diese pariser Frauen der großen und reichen Welt mit ihren heißen und doch so furchtbar ruhigen Augen hinaus durch die niedergelassenen Jalousien des Schlages in die noch kahlen Bäume, die für sie kein Frühling zu belauben braucht. Oder bedürft auch ihr, ihr schönen Wesen, des grünen Schleiers der Natur, um ihn auf euer brennendes Auge zu legen? Brennen diese Blicke auch von Schmerzen, können diese Augen fiebern, diese Finger unter den glacirten Hüllen auch zittern? Habt auch ihr in euren Freuden eure Schmerzen, in eurem Reichthum eure Armuth, in Eurem Uebermaß eure gestillte Sehnsucht? Seht, dort bringt der aufgerührte Staub ein Beispiel unsers Erdenglücks! Louis Philipp, König der Franzosen, umringt von einer halben Schwadron seiner Leibgarde, ein kaum sichtbares, kleines Fenster in dem tiefen sechsspännigen Wagen, vorüberfliegend, nicht rastend, nicht zum Schlage hinausblickend, sich verbergend in der Rücklehne, bei der schon drückenden Hitze schwer athmend unter dem stählernen Ringelpanzer, 65 den er nach dem Glauben des Volks stets unter seinen Kleidern trägt! Doch davon später.

Wie ich gestern durch Zufall am Palais royal vorüberstreife, find’ ich le Cid angekündigt. Dem. Rachel Chimêne. Das Glück will mir wohl. Beim ersten Spaziergang seh’ ich den König, bei meinem ersten Theaterbesuch die Rachel. Vielleicht wäre es gerathener, wenn ich meine Meinung so lange zurückhielte, bis ich sie zum zweiten Mal gesehen habe. Ich will sie noch oft sehen, will ihr ganzes Repertoir von sechs Rollen studiren. Möglich, daß ich noch eine bessere Meinung von ihr bekomme, als die ich durch die Chimêne erhielt.

Um nun gleich mitten in die pariser Eindrücke hineinzugreifen, so bekenne ich mit großem Leidwesen, daß diese berühmte junge Schauspielerin mich nicht befriedigt hat. Das Leidwesen geht nicht auf Rachel Félix, sondern auf die Möglichkeit, wie man in unserm Zeitalter berühmt sein kann, ohne es wahrhaft zu verdienen. Ungleich sind die Gaben des Geschicks, ungleicher noch die Belohnungen des Genies ausgetheilt. Dem Einen wächst der Lorbeer so hoch, daß seine Stirne ihn nie erreichen wird, dem Andern wuchert er unter den Füßen, wie Brennnesseln. Dieser niedrig wachsende Lorbeer erstickt aber auch oft in den Brennnesseln. Der Ruhm der Rachel ist nicht so hoch, daß er über Janin’s Kritik erhaben wäre.

66 Man rühmt am Corneille’schen Cid, daß er natürlicher ist, als die französische Tragödie natürlich zu sein erlaubt. Man versteht vielleicht einige Verwandlungen darunter, die gegen die Einheit des Ortes verstoßen. Ich finde das Natürliche des Cid in seinen Fehlern und seine Fehler in seinen Vorzügen. Das Stück ist planlos, und, da es von einem starken Geiste ausging, naiv. Das Naive des Cid ist sein schönster Vorzug, und wer diese Tragödie ganz ehren will, muß als Schauspieler sie in ihrer Naivetät beleben, muß in ihr mehr Empfindung entwickeln, als sonst auf dem französischen Cothurn üblich ist.

Dem. Rachel hat dem Cid des Corneille diese Ehre nicht erwiesen. Sie war eine eben so frostige, mürrische, gelangweilte Chimêne, als die echte Chimêne ein warmes, liebendes, lebensfrohes, gutes Mädchen sein soll. Der Kampf zwischen Liebe und Pflicht würde nicht von Corneille auf die Schultern Chimênens gelegt worden sein, nicht in ihre Wangen, in ihre Augen, in die Biegungen ihrer Stimme hineingedichtet, wenn er sich in Chimênen ein Wesen gedacht hätte, wie es Dem. Rachel wiedergibt. Diese Schauspielerin scheint von ihrer Pflicht, den Mörder des Vaters zu hassen, so erfüllt, daß man nicht weiß, warum die Pflicht mit ihrer Liebe in Kampf geräth. Sie hat keine Liebe, sie hat sie wol in ihren Worten, nicht in ihren Mienen. 67 Corneille wußte, was Chimêne will: Dem. Rachel wußte nicht, was Corneille will.

Die Rachel ist eine lange hagre Gestalt, mit Zügen, die grade nicht unschön sind, mit Augen, die nicht blitzen, doch schimmern, wohlbegabt, angewiesen vielleicht auf den Beruf, den sie wählte. Doch zuvörderst gebricht es ihr an Organ. Diese noch so junge Schauspielerin hat in ihrer Stimme nur noch Kraft, wenn sie ihre Stimme anstrengt. Für den gewöhnlichen Lauf des Dialogs fehlt ihrem Organ Lieblichkeit, Fülle, Metall. Sollte man glauben, daß Dem. Rachel eine Schauspielerin ist, die Anstrengung verlangt, um in Stellen, die nicht leidenschaftlich sind, gehört zu werden?

Chimêne, von einer deutschen jungen Tragödin gespielt, würde zunächst die liebende Geliebte des Mannes sein, den die Umstände sie zu hassen zwingen. Dem. Rachel liebt nicht. Sie hat allerdings die Scala der Liebestöne, sie weiß, wenn man mit der Stimme zittern, wo man die Augen niederschlagen muß, sie weiß, welche Sätze man fallen lassen, welche Worte hervorheben, welche Abgänge man in einander schleifen und zusammengurgeln muß, um das Publicum klatschen zu machen - das ist aber Alles. Ein Gemüth zu verschenken, ein Herz uns zu geben, hat sie nicht. Sie declamirt vortrefflich. Sie hat alle Regeln des dramatischen Vortrags inne, sie weiß, wo Gleichgültigkeit, 68 wo Ironie, wo langsames, wo schnelles Sprechen wirkt, ihr ganzes Spiel ist, wie man das in der deutschen Theatersprache nennt, aus Druckern zusammengesetzt, aber sie producirt, was sie spricht, aus sich selbst nicht wieder. Nichts erschöpft sie, nichts bewegt sie. Sie liebt nicht, nicht einmal lächeln kann sie. Chimêne, und nicht ein einziges Lächeln! Nicht einmal ein Anlauf, das Lächeln werden könnte und sich nur in einen Schmerzenszug verwandelte.

Ihre einzige, dem Gefühl sich nähernde Stelle war, wo sie Act 5, Scene 1 zu schließen hat, indem sie Rodrigue anredet:

Sors vainqueur d’un combat dont Chimêne est le prix.

Adieu: ce mot lâché me fait rougir de honte.

Das Gefühl, das sie hier zeigte, bestand in Folgendem: Sie zerlegte das Wort Chimêne in seine drei Sylbentheile und setzte auf jede förmlich ein musikalisches Trillerzeichen. Sie trillerte erst Chi-, dann meckerte sie mê- und ließ rallentando die ganze musikalische Figur auslaufen in die letzte Sylbe -ne, die sie wiederum nur trillernd aussprach. Dann bückte sie sich, als suchte sie auf dem Boden etwas, sprach leise ihr rougir de honte aus und lief zuletzt in die Coulisse fort, wie eine über eine Schmeichelei rothwerdende Grisette, die die Schürze zwischen die Beine klemmt und, um ihre Verlegenheit zu verbergen, auf und davon 69 läuft. Uebrigens fand man dieses kleinliche und gemeine Spiel bewunderungswürdig.

Gerechtfertigt werden kann die Kälte der Rachel durch den Character der Französinnen überhaupt. Ich werde mich durch Proben nicht überzeugen können, aber ich glaube, daß die französischen Frauen es verstehen, sich in der Liebe eine größere Selbständigkeit zu erhalten, als die deutschen. Ich glaube, daß die Hingebung einer Französin die einer Deutschen nicht erreicht. Es ist mir immer vorgekommen, als wenn in Frankreich die Liebe ein Vertrag ist, dem ein gewisses Bewußtsein von gegenseitigen Rechten und Pflichten zum Grunde liegt. Ohne Zweifel ist in der französischen Liebe noch bei weitem mehr der Character der Chevalerie vorherrschend, als bei uns, die wir uns durch Höflichkeit nie auszeichneten. Die Französinnen lieben, ohne auf die égards zu verzichten, die man ihnen schenken mußte, ehe sie erhörten. Die deutsche Liebe wird ihren sinnlichen Fond schneller erschöpfen, als die französische, die ein Talent besitzt, auch hier zu ökonomisiren. Eine französische Liebe wird den Mann mehr beschäftigen, als eine deutsche; sie wird ihm minder schnell geschenkt werden, als bei uns, aber auch dafür länger andauern. So kommt in den Charakter der französischen Sexualverhältnisse ein abstractes Element, etwas Bewußtes, etwas Gedankenmäßiges, das wir nicht kennen. Die 70 sinnliche Flamme lodert in einem Behälter, aus dem sie, auch in der Kunst, und ganz besonders in ihr, nur spielend hervorzüngeln darf, nicht aufsteigen in voller heiliger Lohe.

Auch die Liebeskälte der Männer hat mich im Cid angefröstelt. So abgeschmackt und kindisch sich die Helden des Vaudevilles stellen, wenn sie verliebt sind, so kalt war die tragische Liebe Rodrigue’s. Oder lag die Schuld dieses völlig ungenügenden Eindrucks an Ligier? Dieser Schauspieler hat eine gewisse ungeschlachte Roheit, die für seine Rolle vollkommen passen möchte, aber sie schien ihm angeboren zu sein, noch mehr, sie schien dem Publikum männliche Größe zu bedeuten. Ligier ist nicht mit einem unsrer berühmten deutschen „ersten Liebhaber“, unsern Tasso- und Posaspielern, zu vergleichen. Was er an Kraft und Natürlichkeit vor ihnen voraushaben mag, das fehlte ihm an Grazie, Anmuth und Würde. Ein unschöner Kopf, eine plumpe Gestalt. Dafür freilich ein großes Redetalent und die feinste Nüancirung aller nur möglichen declamatorischen Effecte. Der Vortrag der Scene, wo er die Schlacht am Meere schildert, war ein Meisterstück.

Ein durchaus tüchtiger und mir sehr lieb gewordener Schauspieler ist Guyon, der den Don Diego spielte. Hier wehte mich etwas von unserer guten deutschen „alten Schule“ an, nicht von der alten Schule, die 71 ihren Stolz nur darin findet, daß sie schlecht auswendig lernt, sondern von jener alten Schule, die durch biedre Treuherzigkeit des Tons, Natürlichkeit des Benehmens und jenen Humor sich auszeichnet, den die echte Mimenkunst auch beim Erhabensten, ja selbst noch beim Schmerze zu entfalten weiß.

Das Ensemble war gut, das Arrangement ohne Bedeutung. Die Weise des Spiels der untergeordneten Rollen entsprach der Vorstellung nicht, die man von der Tradition des Théatre français hat. Wenn Ligier den Unterleib vorstreckt, die Rachel gegen alle Gesetze der dramatischen Aktion ganze Tiraden mit vorgestrecktem Zeigefinger declamirt, dann kann es nicht Wunder nehmen, daß eine Confidente beim Reden die Hände so familiär zusammenlegt, wie eine Ladendame, die ihren handelnden Käufern erklärt: Es thut mir leid, prix fixes, wir schlagen nichts vor! - Die Bärte waren auch hier, wie jetzt fast überall die Hauptsache. Schöne Bärte, schlechte Schauspieler.

Die Stimmung des Publicums war merkwürdig. Jede politische Anspielung, jede schöne Stelle wurde mit Enthusiasmus aufgenommen. Gewiße Force-Phrasen erregten allgemeine Theilnahme. Vieles, Vieles davon hat mich verwundet. Ich liebe diesen französischen Pathos nicht, ich liebe diese Lakonismen nicht, die meist erhaben klingen sollen und zuweilen gemein sind. Als Ro-72drigue den Grafen auffordert, sich mit ihm zu schlagen, und dieser ausweicht, sagt Ligier:

As-tu peur de mourir?

Er sprach diese Worte mit einer Kälte, mit einem Hohn, daß man Fouquier Tinville zu sehen glaubte, der einem Girondisten die Süßigkeit der Guillotine vormalen will. Die Franzosen waren außer sich über dieses: as-tu peur de mourir. Vielleicht in ihrem Sinn mit Recht, mit Recht in der Erinnerung an ihre Geschichte, mit Recht an die Erinnerung der blutigen, furchtbaren Dinge, die sie nicht würden ertragen haben, ohne einen finstern, ruhigen Todesmuth.

Bei drei Stellen war der Applaus von specieller Bedeutung. Man klatschte begeistert bei der schönen Phrase:

Je suis jeune, il est vrai, mais aux âmes bien nées

La valeur n’attend pas le nombre des années.

Noch größer war die Aufregung bei den Versen, wo der König sich weigert, Krieg zu führen mit den Worten: Sortir d’une bataille et combattre à l’instant, und Diego mit Beziehung auf die obenerwähnte Schilderung der Schlacht mit ruhiger Ironie sagt:

Rodrigue a pris haleine en vous la racontant.

„Der Friede um jeden Preis“ hätte hier bei dem donnernden Jubel der Menge beschämt zu Boden blicken 73 müssen. Endlich wurde der Versuch einer kleinen Partei, bei den Worten:

Et quand un roi commande, on lui doit obéir

zu klatschen, mit lautem Lachen und zischend zurückgewiesen. Als der Vorhang fiel, rief man die Rachel, Ligier und Guyon hervor. Sie kamen und verbeugten sich. Ich fixirte die Rachel. Kein Lächeln, noch immer kein Lächeln! Stummer, starrer Ernst in ihren Mienen. Die gemalte Kälte!

74 Sechster Brief.#

Paris, den 19. März 1842.

Guizot hat wegen eines häuslichen Krankheitsfalles mehrere Tage nicht empfangen. Gestern war zum ersten Mal wieder im Hotel des Capucines jener Salon geöffnet, den hier jede politische Renommée unterhält, um an dessen Besuch den Grad zu zeigen, auf welchem sein politischer Thermometer steht. Guizot’s Salon war nicht sehr gefüllt; theils Militairs, theils Gesandte, einige Deputirte und Gelehrte. Die Charwoche hat begonnen. Die in der Nähe von Paris auf dem Lande wohnenden Staatsmänner machen sich Ferien.

Ich wurde Guizot vorgestellt. Für einen Ketzer eigenthümlich genug, nach dem Gesandten des Papstes. Guizot ist klein, von Figur gedrungen, ein angehender Sechsziger. Auge und Haltung lebhaft, der Vortrag sehr bestimmt; die Lebhaftigkeit schien sich fast der Reizbarkeit zu nähern; es lag eine gewisse Spannung, eine gezwungene Elasticität in seinem Wesen. Wenn ich 75 seine gegenwärtige Stellung bedenke, wenn ich nichts vergleiche, als nur die polemischen Artikel der Oppositionsblätter von heute früh, die Drohung, daß sich in allen Seehäfen der Kaufmannsstand eines nicht gegebenen Gesetzes wegen gegen ihn erheben würde, die triumphirende Hinweisung auf das Resultat der bevorstehenden Wahlen, so ist es nicht zu verwundern, daß Guizot’s Innerstes über sein Aeußeres hinauszulangen scheint. Sein ganzes Wesen schien mir wie galvanisirt.

Frankreichs Allianz, sei’s nun unter Guizot mit England oder unter Molé mit Rußland, wird schwerlich etwas Aufrichtiges und Dauerndes sein. So hat Frankreich denn allerdings das größte Interesse, sich mit Deutschland zu verständigen. Unglücklicherweise ist aber Deutschland ein Land, das einer bestimmten politischen Sympathie nicht fähig ist. Man kann von den Sympathien des Rheins sprechen und hat nicht die Sympathien der Donau. Die Stimmung des Volks ist nicht die der Gelehrten. Die Regierungen haben wieder ihr System für sich und hängen von Preußen und Oesterreich ab, zwei Staaten, deren Politik sich noch immer nicht hat entschließen können, rein und ausschließlich deutsch zu sein. So ist es außerordentlich schwer, irgendwie für die Stimmung Deutschlands gut zu sagen.

Vor zehn Jahren, noch unter Casimir Perier, der zuerst anfing, die Julimonarchie ihres revolutionairen 76 Ursprungs zu entkleiden, war die französische Politik daruf bedacht, in den westlichen und südlichen kleinern Staaten Deutschlands die alten Rheinbundsideen zu nähren. Die Stimmung des deutschen Volkes war beinah reif, sich von einem Regierungssystem loszusagen, das die Protokolle von 1832 gegeben und in jenen unglücklichen Verhaftnahmen und Verfolgungen das einzige Mittel erblickte, Deutschland zu beruhigen. Später haben sich alle diese Dinge geändert; Vieles, was Andre ihrer Weisheit zuschreiben werden, muß man der Erschöpfung zuschreiben. In Frankreich geschieht Alles durch die Personen, in Deutschland geschieht Alles durch die Umstände.

Wenn es Frankreichs Interesse ist, von Richelieu bis Thiers bewiesen es alle seine Staatsmänner, Deutschland uneinig zu wissen, so hätte es den Moment der kölnischen Wirren benutzen können, um die drohende und damals wirklich eingetretene Spaltung weiter aufzureißen. Frankreich ist aber solchen umgreifenden Unternehmungen nicht mehr gewachsen. Den innern Parteiungen, die das Land zerfleischen, preisgegeben, geleitet von einer Politik, die nur die Befestigung der Dynastie Orleans einzig und allein im Auge hat, hätte es auch, wie es jetzt ist, nicht die moralische und religiöse Weihe besessen, um der katholischen Sache in dem Sinne sich anzunehmen, wie Graf Montalembert und die ihm ähn-77lich gesinnte Partei vielleicht die Grundzüge dieses Schutzes würde entworfen haben. Frankreich wird nur noch von administrativen Ideen regiert. Es ist die Regierung einer absoluten Polizei. Frankreich hätte den legitimistischen Principien des Romanismus gegenüber eine andre Weltanschauung, die rein liberale, fest begründen können. Seitdem es sich aber vor dieser Weltanschauung selber fürchtet, sind ihm auch die Zügel der Weltregierung entfallen. Frankreichs Regierung ist kein Organismus mehr, sondern nur noch Administration. Von Ministerium zu Ministerium, von Kammersitzung zu Kammersitzung befestigt man nichts, als die Centralisation. Hatte es doch selbst eine Fehde mit dem Erzbischof von Paris, wie konnte es den Erzbischof von Köln in Schutz nehmen!

Auch die deutsche Politik ist mehr administrativ und polizeilich, als organisch. Es liegt dies in der Furcht vor der Revolution. Als man sahe, daß die liberale Partei mit ihren constitutionellen Wünschen sich in die kirchliche Fehde mischte und der Zwiespalt zwischen deutschem Norden und deutschem Süden immer bedenklicher wurde, beeilte man sich, das kirchliche Gebiet zu verlassen, die schwebende religiöse Frage wie nur irgend möglich beizulegen und das locker werdende Band des Zusammenhanges am Bundestage enger wieder als je zu knüpfen. Die Festungen sind ihrem Ausbau näher 78 gebracht worden, die eben ausbrechende Krisis der orientalischen Frage erlaubte, unter einem guten Vorwande, den Kriegszustand aller deutschen Territorien zu prüfen und zu verbessern, die Rheinfrage mit ihren poetischen und musikalischen Accidenzien kam hinzu, und so hat sich Deutschland im Augenblick eines Zusammenhanges, einer Einigkeit zu erfreuen, die ihm plötzlich eine seit lange nicht behauptete Stellung gegeben hat. Die französische Politik ist in diesem Augenblick Deutschland nicht gewachsen.

Die Thatsache dieses unsres Aufschwunges kann für jeden Deutschen nur erhebend sein. Wenn die Regierungen so verständig sind und dem revolutionairen Princip dadurch zuvorkommen, daß sie die Versprechungen desselben zu ihren eignen Leistungen machen, so wird Deutschland zunehmen an Kraft, an Kraft des Widerstandes, an Kraft, dulden zu können, an Kraft der Neutralität. Eine handelnde Kraft kann aus Deutschland nicht werden, so lange sein Zusammenhang ein Mechanismus ist. Mechanisch lassen sich sechszig Hände zu zwei Händen vereinigen, aber nicht dreißig Willensmeinungen zu einem Willen. Doch hindert das nichts. Schon als europäischer Schwerpunkt ist Deutschland groß, und wenn unsre Regierungen nicht zu schroff dem Volksleben sich entziehen, wenn nicht so unzeitige Erbitterungen, wie die von Seiten der ministeriellen Partei 79 in Baden und der dynastischen in Hannover das zunehmende Vertrauen stören, so könnte wol eine Zeit kommen, wo die Frage: Monsieur est Allemand? in einem politischen pariser Salon an uns gerichtet, uns nicht in Verlegenheit setzt, sondern mit einer kräftigen Bejahung stolz beantwortet werden kann.

Es ist eine Lieblingswendung der Franzosen, Deutschland müsse mit Frankreich Hand in Hand gehen. Früher klang diese Phrase etwas nach der Klugheit des Löwen, der den Esel einladet, an der gemeinschaftlichen Beute Theil zu nehmen; jetzt liegt wirklich etwas Aufrichtiges darin. Die Franzosen räumen uns so außerordentlich viel ein, daß man mehr als mistrauisch wäre, ihren Versicherungen keinen Glauben zu schenken. Die Franzosen bedauern selbst, daß die Rheinfrage von einigen allzu sanguinischen Hitzköpfen, von einigen Radoteurs aufgeworfen wurde, die gern mit Phrasen paradiren. Die Franzosen sagen: Nehmt uns nicht übel, daß wir zuweilen an unsere Eroberungen denken; seid ihr doch zwei Mal in unserm Lande gewesen, im Revolutionskriege und am Ende der großen Tragödie Napoleon! Man sagte mir: „Nur die sinkenden Größen in Frankreich, Größen, die keine populaire Idee mehr zu verarbeiten haben, greifen nach dem letzten Rettungsbret, nach der Rheinfrage.“ Es wären dies die Geister, die Frankreich selbst schon aufgegeben hätte.

80 Ich rathe allen Deutschen, die nach Frankreich reisen, dort im Gefühl ihrer Nationalität aufzutreten. Die Franzosen kennen an sich selbst keine andere Methode sich einzuführen und achten nur diese. Freilich muß sich ein unabhängiges, tief verstimmtes Gefühl überwinden. Aber ich mochte nicht grollen mit dem Vaterlande in einem Augenblick, wo man in Frankreich anfängt, bei der Frage: Monsieur est Allemand? den Hut abzuziehen.

Was gibt dem deutschen Namen in Paris dies Feierliche und Bedeutsame? Nicht der Bundestag, sondern der Geist unsres Volks! Unsre einst große Geschichte, unser Tiefsinn, unsre Poesie! Guizot stellte mir frei, deutsch zu reden; er behielt sich nur die französische Antwort vor. Ich wollte ihn nicht auf die Probe stellen, aber daß er es wagt, deutsch verstehen zu wollen, ist schon ehrenvoll für uns. Man schätzt jetzt in Frankreich mehr an uns, als nur den deutschen Sammlerfleiß. Man kauft mehr von unsrer Literatur, als nur unsre medicinischen, historischen, philologischen Werke. Man ist von unserm Fleiß auf unser Genie übergegangen. Man wird uns in Allem die Form absprechen und mit großem Rechte, in dem Meisten aber, vielleicht mit Ausnahme der socialen Philosophie, uns nur das Tiefste und Gründlichste zuerkennen. Es gilt in Frankreich für ein Mittel, sich einen Weg zu bahnen, wenn 81 man eine specialité allemande ist. Unsre Musik ist uns zugestanden. Die Musik ist unsre Domaine. Auch die Malerei wird es werden, wenn der hiesige Salon sich von Jahr zu Jahr, wie es den Anschein hat, verschlechtert und aus der deutschen Kunst die unglückselige Heiligenjagd und Mysticisterei verbannt wird. Am weitesten zurück sind die Franzosen allerdings in der Anerkennung unsrer neuen Poesie. Und mit Recht. Denn unsre neuere deutsche Poesie ist zu sehr die Frucht der französischen gewesen. Es lag darin ein nothwendiges Gesetz, das wir befolgen mußten wider Willen. Die Zeit wird kommen, wo wir auch hier die Franzosen, die in der schönen Literatur weiter als wir waren, aber es jetzt nicht mehr sind, wieder einholen, vielleicht übertreffen.

Ich komme auf Guizot noch einmal zurück. Je vous reserve encore une heure du matin, ou nous causerons à notre aise. Wir werden wahrscheinlich über deutsche Philosophie sprechen. Es ist die gewöhnliche Kost, die die Franzosen den deutschen Besuchern vorsetzen. Guizot ist ein guter Philosoph. Dies hindert aber nicht, daß ihn heute die Kammer über den Runkelrübenzucker interpellirt und er wie ein Oekonom darauf antworten wird.

82 Siebenter Brief.#

Paris, den 22. März.

Das Frühlingswetter will doch noch nicht Bestand haben. Ein regnerischer Tag, grau der Himmel, trüber die immer trübe Seine; alle Steine auf den Straßen zum Hinfallen schmuzig. Man flüchtet sich in die Passagen, ins Palais-Royal. Die Passagen, die Lesekabinette sind Oerter, wo man sich Rendezvous gibt. Man ißt im Boeuf à la Mode, im grand Vatel, im Restaurant anglais. Very, Vefour, den Rocher de Cancale spart man sich noch auf, wenn ein schöner Tag, eine heitere Stimmung kommt.

Meine ersten Studien sind der Oertlichkeit gewidmet. Ich habe mir den Plan von Paris gekauft, abgedruckt auf einem Taschentuch. So unregelmäßig Paris gebaut ist, so hat es doch gewisse topographische Punkte, von denen aus man sich wenigstens über die Arrondissements, über die Brücken, die bedeutenden Gebäude und Hauptplätze zurecht findet. Großartig ist der An-83blick der Stadt vom Pont-Neuf. An beiden Seiten der Seine dehnt sich die ungeheuere Stadt mit ihren Quais, ihren Palästen, ihren Kirchen. Im Gewühl der engen Straßen wird man fortgedrängt. Die Lastträger, die Ausrufer, Alles umschwirrt, umwirrt uns. Mit Mühe erreichen wir die Punkte, die wir suchen. Neugierig bleiben wir an den Läden stehen, an den Straßenecken, an die sie die ungeheuern bunten Plakate heften, an hundert Erscheinungen, die von unsern deutschen Gewohnheiten abweichen.

Auf den Boulevards streifen die Flaneurs. Tausende von Fremden zeigen sich zum ersten Mal, wie sie sich in dem neuen pariser Costüme ausnehmen. Frauen, die uns verwirren würden, wenn sie so hübsch, wie elegant wären, treten auf uns zu: Pardon, vous êtes Monsieur Albert?“ Der künstliche Irrthum zerrinnt in eine ironische Verlegenheit, die nur uns, nicht die sich doppelt irrende Dame irre macht. Dort rechts von Notre-Dame de Lorette, links hier von den bains chinois erzählt man uns mehr, als sich beim Nachforschen bestätigen möchte. Die Phantasie erfindet über Paris mehr, als die Stadt in Wirklichkeit darbietet. Ermüdet von den Wanderungen, ermüdet von diesem Prüfen, Aufnehmen, Beobachten, fühlt’ man, wie überspät doch in Paris gegessen wird, und tritt drüben ins Café Foy ein, um den Charivari zu lesen, Chocolade à la 84 crème zu trinken. Die dame du Comptoir zeichnet mit wichtiger Miene den gezahlten Frank in ihr Hauptbuch ein. Wüßte man nicht, daß diese Frauen in gewissem Sinn eine doppelte Buchhaltung führen, man würde die Mode der dames du comptoir lächerlich finden.

Ich sahe an meinem zweiten Theaterabend die Dejazet, und der erste Anblick, der erste Ton den sie sprach, der erste Gruß ihres Genies im Palais-Royal-Theater entlockte mir, während Alles lachte, Thränen. Ich weiß nicht, alles Große und Schöne macht mich weinen. Ich kenne keine andere Bewunderung, als eine mit feuchten Augen. Jedes große Wort, das irgendwo gesprochen wurde, jede That, die göttlicher ist, als die menschliche Kraft, rührt mich. Ich kann meine Wehmuth nicht zurückhalten, daß das Große so einzeln steht, daß das Erhabene nicht von dieser Welt ist. Und wenn ich gezweifelt habe, wenn ich mistraue und ich mich plötzlich getäuscht sehe - auch die Rachel hätte mich so erschüttern können, wenn ich meine Erwartung bestätigt gefunden hätte. Die Dejazet übertraf aber meine Erwartung.

Sie spielte in einem kleinen Schubladenstück, la fille de Dominique. Sie ist die Tochter eines verstorbenen königlichen Schauspielers zur Zeit Molière’s. Sie kommt nach Paris, um sich unter die Truppe aufnehmen zu lassen, der ihr Vater angehörte. Sie soll Pro-85ben ihres Talents ablegen und hat es schon gethan, ehe man es vermuthete. Sie war beim Schauspieler Baron gewesen und hatte sich als Bäuerin, als phantastische Dame, als junger Tambour von der königlichen Garde präsentirt. In allen diesen Rollen sehen wir sie. Sie tritt in ländlicher Tracht mit ihrem Tragbündel auf. Das erste Wort, das sie spricht, ihr erster Schritt, ließ mich die große Wahrheit ihres Spiels erkennen. Es ist keine Königin, keine Fee, keine Dame eines Scribe’schen Lustspiels, es ist die junge Bäuerin, die angehende Grisette, die Heldin des Vaudevilles. Alles an ihr neckisch, lieblich, wahr. Dabei die sichersten Bewegungen und trotz ihrer rauhen Altstimme, trotz ihres Organs, in dem viel wilde Nächte, viel Champagnerräusche zu schlummern scheinen, doch ein Vortrag des Couplets, der rein in der Intonation, geschmackvoll in der Behandlung des Gesanges und nicht selten erschütternd in seiner Wirkung ist. Ich kann die ganze Entfaltung dieses eigenthümlichen Spieles hier nicht entwickeln. Alles, was sie gab, war Variation des lieblichsten: Je danse, je chante, je danse!

Und diese Erscheinung nahmen, fand ich, die Franzosen schon ziemlich leicht hin. Sie stießen sich, man sah es wohl, schon an den 45 Jahren dieser Schauspielerin. Arme Dejazet! 45 Jahre! Ein Glück, daß sie wenigstens noch lieben kann. Noch hat sie Leidenschaft und die 86 Leidenschaft wird sie jung erhalten. Die Dejazet ist nicht schön und war es nie. Sie würde vielleicht weniger genial sein, wenn sie schöner wäre. Auch weil sie geistreich ist, kann sie nicht schön sein. Man behauptet, sie wäre reich an guten Einfällen. Man hat eine Sammlung ihrer Calembourgs unter dem Titel: Perroquet de Mademoiselle Dejazet herausgegeben. Wenn man sie in dem Dessert des gestrigen Theaterabends sahe, möchte man glauben, daß diese Autorschaft keine erfundene ist. Das Stück: un scandale, wurde fast ganz aus dem Stegreif gespielt. Die Dejazet erschien darin auf der Gallerie des ersten Logenranges, als Madame Fromageac, plauderte vertraut mit ihrem Begleiter, machte sich über das Publicum lustig, sprach ins Parterre hinein und erzählte ihre Lebensgeschichte als Madame Fromageac. Es fehlte hier natürlich nicht an den ärgsten Zweideutigkeiten, die sie indessen alle mit einem sich immer gleichbleibenden Anstand vortrug. Mes péres et méres étaient, fing sie an, unterbrach sich aber und fragte einen der Schauspieler auf der Bühne, ob es französisch wäre zu sagen: mes péres? - Sie bekam die witzige Antwort, daß „mes péres“ leider nur zu französisch wäre. Mitten im lustigsten Zuge ihrer Lebensgeschichte erscheint im dritten Range ihr Mann und stellt sie von dort zur Rede, wie sie mit einem Liebhaber ins Theater gehen könne. 87 Das drolligste Intermezzo beginnt. Mann und Frau zanken sich und werfen sich einander die Nichterfüllung ihrer ehelichen Verbindlichkeiten vor. Um dem Publicum einen Beweis von der Dummheit ihres Mannes zu geben, erzählte sie, sie esse gerne junge Hühner und wäre mit Herrn Fromageac, ihrem Gatten, gegangen, um sich welche zu kaufen. Der Geflügelhändler hätte für das Stück 1½ Frcs. gefordert: für alle sechs aber, die er hatte, sechs Franken. Was thut mein Geizhals von Gatte? Er handelt und handelt, nimmt erst eins und dann noch eins und schließt endlich den Kauf so ab, daß er vier nimmt, das Stück zu 1½ Frcs., macht sechs Franken, statt daß er dafür hätte alle sechs haben können!

Von den übrigen Mitspielenden läßt sich nicht viel Bedeutendes sagen. Ravez hat eine gute, passive Komik. Im Allgemeinen mach’ ich vielerlei Entdeckungen über die Bildung der französischen Schauspieler. Zum Besten der deutschen theil’ ich sie später mit.

Wenn man in den Lesekabinetten die Unzahl von Zeitungen sieht, die man in Deutschland kaum dem Namen nach kennt, Zeitungen, die nicht aus der Nothwendigkeit eines politischen Dranges, sondern nur aus Geldspeculation entstehen, wenn man diese Gleichgültigkeit der Masse, die Interesselosigkeit der Verhandlungen in den gesetzgebenden Körpern zusammennimmt, so 88 möchte man die gesammte politische Debatte Frankreichs, die ganze sociale Polemik, die uns im Auslande so beschäftigt, für eine Erfindung der Journale halten. Und doch, unter dem Einerlei der Alltäglichkeit sind alle diese Parteien, alle diese Gährungen und Leidenschaften da. Viertausend Arbeiter, die mitten in diesem so geregelt scheinenden Leben und Treiben täglich frühe auf dem Grêve-Platze stehen und noch nicht wissen, wovon sie den Tag leben sollen, wenn sie keine Beschäftigung finden, zehntausend, die unsicher über den morgenden Tag, zwanzigtausend, die unsicher sind über die nächste Woche - das ist der Krankheitsstoff, der sich täglich von der äußern Haut dieser Stadt, von den Barrieren und den Faubourgs auf die innern Theile des gesellschaftlichen Körpers werfen kann, auf den Bund der Macht mit dem Reichthum, auf die Würden und das Besitzthum. Es ist wahr, immer schwächer wird jene politische Opposition, die nur aus Leidenschaft, wie bei den Legitimisten, nur aus Princip und Ehrgeiz, wie bei dem größten Theil der parlamentarischen Opposition, gegen die nun seit zwölf Jahren bestehende Ordnung der Dinge geführt wird: immer stärker aber dafür die Opposition des Bedürfnisses und der Widerspruch der arbeitenden gegen die genießenden Klassen. Hier in Frankreich, wo noch kein Steffens gewagt hat zu sagen, daß den Armen ihre Arbeit Genuß, und den Reichen ihr Genuß 89 Arbeit wäre, hier fängt durch die grellste Hervorstellung dieses Gesichtspunktes die politische Polemik an, sich immer mehr zu vereinfachen. Der Communismus ist nicht blos das Glaubensbekenntniß einiger verworrenen Handwerker, sondern die wissenschaftliche Theorie einiger Denker geworden, die inmitten zwischen den Debats und dem National einen neuen methodischen Widerspruch begründen, der einen erstaunlichen Zulauf findet. Es ist dies die Partei, aus deren Schoße die Königsmörder kommen, die Partei, welcher zu Liebe George Sand ihren Frack mit der Blouse, die revue des deux mondes mit der revue indépendante vertauscht hat, dieselbe Partei, welche die Gedichte der Handwerker über die Gedichte Lamartine’s und Victor Hugo’s setzt und kürzlich erklärt hat, ein Gassenkehrer in Paris, der seine Gedichte soeben herausgegeben hat, wäre der größte jetzt lebende Dichter in Frankreich.

Die Noth der Zeiten drängt. Die Bedürfnisse des Volkes müssen uns heilig sein. Ehre den Geistern, die ihre Gedanken einer so edlen Sache, der Wohlfahrt des Volkes widmen, die für ihre Betrachtungen, Vertheidigungen und Vorschläge den üblichen Undank der Masse, dem Golde, den Belohnungen und Bestechungen der Reichen vorziehen! Aber der Weg, den die neue communistische Philosophie Frankreichs einschlägt, ist nicht der rechte. Er führt vom Ziele ab, er verdirbt die 90 Wissenschaft und bessert nicht die Glückseligkeit. Er schleudert uns in den Materialismus des vorigen Jahrhunderts zurück und überliefert uns entweder der Revolution oder dem Aberglauben. Denn von diesem Materialismus zum Aberglauben ist nur ein Schritt. Wie Lamennais vom Katholicismus ausging und zum Communismus kam, so wird Pierre Leroux vom Communismus ausgehen und zum Katholicismus zurückkehren.

Frankreich hat jetzt die Sucht, neue Philosophien und neue Gesellschaften zu bauen. Die ersten sind geistlos, wie können die zweiten richtig sein? Geistlos ist dies Schematisiren der Stände, der Beschäftigungen, der Arbeiten und des Lohnes, das die Communisten von St. Simon und Fourier geerbt haben. Man soll die Gesellschaft nicht deshalb so hinnehmen, wie sie ist, weil die Geschichte sie so gebildet hat, sondern weil man nicht die Fähigkeit hat, auf dem Papier eine abstrakte Gesellschaftsbildung aus Nichts hervorzurufen. Alle unsere faktischen Verhältnisse, unsere Wünsche und Bedürfnisse drängen über eure Paragraphen hinaus, ihr zeichnet die Arbeit hin, wo die Menge schon Genuß will, ihr macht Unterscheidungen, die sich von selbst aufheben, ihr theilt und ordnet und wißt nicht, daß die Masse nach Einheit, alle Unterschiede nach Aufhebung streben! Ihr reißt die ganze gegenwärtige Gesellschaft 91 ein, um diese Gesellschaft glücklich zu machen. Ihr wollt der Geschichte eine schöne Zukunft geben, ohne daß ihr die nachwirkende Kraft der Vergangenheit ersticken könnt!

Ich ziehe die Opposition im alten Sinne vor. Ich ziehe es vor, den Staat, wie er jetzt ist, nicht für einen Rechnungsfehler zu halten, den man nicht tilgen kann, wenn man nicht ganz auf den ersten Ansatz, auf das Einmaleins und die vier Spezies der Gesellschaft zurückgeht, sondern ich halte ihn für einen erkrankten Organismus, der sich heilen läßt, ohne ihn darum zu zerstören. Die moderne Gesellschaft in ihrer ungleichen Vertheilung der Güter, in ihren Lasten auf die Arbeitenden, in allen den Ungerechtigkeiten, die die oft künstliche Zusammensetzung unserer Verhältnisse mit sich bringt, ist ein vegetativer Organismus, dessen Wurzeln zwar hie und da von der schützenden Erde entblößt sind, die aber noch tief genug in den Schoß der Geschichte greifen, um ihm noch auf lange Zeiten Wachsthum und kräftige Entfaltung zu sichern. Die wahre Philosophie und die politische Opposition, die soeben bei uns in Deutschland einen so erhabenen Bund mit der Philosophie geschlossen hat, beide sind berufen, diesen Organismus zu überwachen. Wuchernde Auswüchse - fort mit ihnen! Erstorbene Aeste - weggesägt! Grünes junges Laub, was an den Zweigen ansetzt - geschont, 92 gepflegt! Die sociale Philosophie unsrer Tage darf nie den historischen Boden verlieren, nie unsere objektiven Bedürfnisse, unsere faktischen Nothwendigkeiten absichtlich vergessen wollen. Man überwache die Entwickelung des modernen Staates, sorge aus reinem, edlem, rechtem Herzen für das Reine, Edle und Rechte, man verbessere die Gesellschaft, indem man sie ermuthigt, an ihren göttlichen, ihr inwohnenden Geist zu glauben, nicht indem man sie lehrt, sich für verworfen zu halten und sich neu zu begründen - aus Nichts!

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich habe diese moderne, socialistische Philosophie Frankreichs einen veredelten Materialismus genannt. Ich nenne sie einen Materialismus, der sich auf Genußsucht begründet, und leite diese aus dem französischen Charakter her. Alles jammert jetzt in Frankreich über die Last der Arbeit. Niemand will arbeiten, weil es Menschen gibt, die genießen. Ja, sie wollen arbeiten, aber nur zehn Jahre, sie wollen in zehn Jahren so viel erwerben, daß sie dreißig Jahre lang von ihren Renten leben können. Arbeit, Renten. Um diese Begriffe dreht sich in Frankreich Alles. Man ist so erfaßt von der Genußsucht, so erschöpft vom Verlangen nach sinnlichen Anregungen, daß man das Proletariat in Renten umzaubern und die Mittelstraße, die einzig das Proletariat zu Renten brin-93gen kann, die Arbeit, überspringen möchte. Alles träumt hier von plötzlichem Glück, Alles will mit einem Schlage haben, woran man in friedlichen und fleißigen Zeiten die ganze Kraft seines Lebens setzte. Die Erfindungen der Dichter sind voll von plötzlicher Umgestaltung häuslicher Existenzen, Alles schwärmt von Marquisinnen, Prinzessinnen, von den Wundern der Tausend und einen Nacht. Es ist ein Opiumrausch, der das ganze Volk ergriffen hat. Die Industrie hat hierin noch mehr verdorben, als die Poesie. Die Industrie hat den Aktienschwindel erzeugt, die Exploitationen aller möglichen Dinge, die man zu künstlichen Bedürfnissen machen wollte, und die Manie für Dividenden. Alle diese Neuerungen entsprechen dem Charakter der Franzosen. Wer weiß nicht, daß ein Franzose glücklich ist, es dahin zu bringen, endlich mit einer kleinen Rente sich zur Ruhe zu setzen? Und wäre die Rente noch so klein, wären es nur jährlich 1000 Franks: er hungert, er darbt sich die Bedürfnisse vom Munde weg, er ist mit 1000 Franks vorm Hungertode gesichert, braucht nicht zu arbeiten, zieht nach Paris - und flanirt.

Als Europa noch nicht gesittet war, machten es um zu Renten zu kommen die Franzosen anders. Sie gingen in den Krieg. Sie plünderten und beraubten als Normannen die Küsten bis nach Sizilien, sie schlossen 94 sich allen kriegerischen Expeditionen an. Die Kreuzzüge führten sie zu Hunderttausenden aus dem Lande, als Armagnacs dienten sie, wo sie Geld fanden. Napoleon verstand es vortrefflich, diesem alten französischen Räuber- und Erpressungssinn seine Befriedigung zu verschaffen. Millionen schleppten die Friedensschlüsse und Brandschatzungen nach Frankreich für das Ganze, Millionen schleppten mit ihnen die Einzelnen fort. Die nobelsten Charaktere des Schlachtfeldes waren Wucherer in der Einquartierung. Die größte Last der gegenwärtigen französischen Politik, die Eroberung Algiers, würde längst nicht mehr so drückend auf den Schultern des Landes liegen, wenn nicht die Officiere und Beamten ihre Mission nach Afrika nur als eine Gelegenheit ansähen, in der Weise römischer Proconsuln sich dort ein Vermögen zu machen. Vor einigen Jahren wurde ein schmuziger Prozeß verhandelt, bei welchem es offen zum Vorschein kam, daß Louis Philippe selbst, der sich auf Renten versteht, einem General in Algier ein Commando mit der Weisung gab, dort seine zerrütteten Vermögensumstände wieder herzustellen.

Ehrsucht beseelt in Frankreich die Gebildeten, Geldsucht die Massen. Darum bei so vielen der Wunsch nach Krieg; nur Krieg, es sei für welche Sache es sei! Da man England und Spanien nicht erobern 95 kann, Italien zu arm, und Rußland zu kalt ist, so kann nur Deutschland die Beute werden, das passive, sparsame, dumme Deutschland. Doch ich will noch nicht urtheilen, ich will erst beobachten. Die Aussenseite kann täuschen und in das Innere hab’ ich erst noch einzudringen.

Apparat#

Bearbeitung: Thomas Bremer, Halle#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
E Briefe aus Paris. Von Karl Gutzkow. Theil 1-2. Leipzig: Brockhaus, 1842. (Rasch 2.24)
A1 Briefe aus Paris 1842. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Bd. 12. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1846. S. 1-384. (Rasch 1.2.12.1, 1.2.12.2)
A2 Briefe aus Paris. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 7. Jena: Costenoble, [1874]. S. 47-344. (Rasch 1.5.7.2)

2. Textdarbietung#

2.1 Edierter Text#

E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Die Liste der Texteingriffe nennt die von der Herausgeberin berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

2.1.1 Texteingriffe#

22,26 auf den Boulevards auf dem Boulevards

3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte#

Gattungsfolien:#

Ludwig Börne: Briefe aus Paris (von 1831 bis 1834, insgesamt 115 Briefe; als Buchveröffentlichung: 2 Bde, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1832 [Briefe 1830-31]; Paris: Brunet, 1833 [Briefe 1831-32]; 2 Bde, Paris: Brunet, 1834 [Briefe 1832-34]).

Heinrich Heine: Französische Zustände. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1833 (die Vorrede dazu getrennt, Leipzig: Heideloff und Campe, 1833) und ders.: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben (ab 1840 und damit zeitgleich zu Gutzkows Briefen aus Paris in der „Allgemeinen Zeitung“, Augsburg).

Anspielungshorizonte:#

Die kulturelle, soziale und politische Situation Frankreichs in der zweiten Hälfte der Julimonarchie unter dem ‚Bürgerkönig‘ Louis Philippe (so genannt nach der Julirevolution von 1830).

Die städtische Situation von Paris mit ihrer noch weitgehend mittelalterlichen Innenstadt und der (vor allem in hygienischer Hinsicht defizitären) Infrastruktur vor den Urbanisierungsmaßnahmen der fünfziger Jahre, der sogenannten ‚Hausmannisierung‘.

Die Situation der Literatur, vor allem im Blick auf Victor Hugo und George Sand, das Pressewesen, die Formen der Öffentlichkeit und die Diskussion intellektueller Vorbilder für die deutsche Situation.

Die Situation des Theaters in Frankreich im Kontrast zu Deutschland einschließlich ihrer materiellen Seite im weiteren Sinne (Stücke, Einnahmen, Bühnenbilder und Inszenierungen, Sprechweise, berühmte Schauspieler).

Die unmittelbare politische Situation unter der Regierung Guizot, die Algerienfrage, die Arbeiterbewegung einschließlich der sozialen Utopiebewegungen und die Rolle der politisch-parlamentarischen Institutionen (Abgeordnetenversammlung, Pairs-Kammer) sowie ihrer Protagonisten im Kontrast zu Deutschland.

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#
4.2. Entstehungsgeschichte#

Überlegungen Gutzkows, eine Paris-Reise zu unternehmen, hat es offenbar bereits in den dreißiger Jahren gegeben. Diese Absicht wurde sicherlich verstärkt dadurch, dass sich nach der Julirevolution von 1830 zahlreiche Deutsche für kürzere oder längere Zeit dort aufhielten - nicht zuletzt Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle, die diesen Aufenthalt anschließend publizistisch verwerteten -, sowie unmittelbar durch den Bruch mit Heine, der sich als Folge von dessen 1840 erschienenem Börne-Buch ergeben hatte. Sowohl Börne als auch Heine, daneben aber zahlreiche weitere, vor allem mit kleineren Stadtschilderungen hervorgetretene Autoren waren nach 1830 Referenzpunkte der literarisch-publizistischen Parisschilderung für deutsche Leser, während zeitgleich Balzac und George Sand im Bereich des Romans, Lamartine und Hugo in der Lyrik und im Theater zu Modellen literarischen Schreibens auch in Deutschland geworden waren. Meldungen wie Korrespondentenberichte etwa aus dem Pariser Theater- und Modeleben erfreuten sich daher - neben der Schilderung des politischen Lebens, das mit den deutschen Verhältnissen so stark kontrastierte, und dem Referat neu erschienener literarischer Werke - in allen Journalen einer intensiven Leseraufmerksamkeit.

Vor diesem Hintergrund ist Gutzkows Parisreise von März bis Mai 1842 zu verstehen. Der erste der Briefe aus Paris ist vom 4. März, der 29. und letzte vom 2. Mai 1842 datiert; Gutzkows Aufbruch (aus Hamburg) wird unter anderem auch durch eine vom 1. März 1842 stammende und am 11. März in der „Allgemeinen Theater-Chronik“ in Leipzig erschienene Notiz dokumentiert, die wegen einer längeren Abwesenheit alle Leser bittet, sich in Gutzkow betreffenden Angelegenheiten in dieser Zeit an den Souffleur Wolff in Berlin zu wenden. (Vgl. Rasch 3.42.03.11.1) Die ersten vier der Briefe aus Paris thematisieren die Reise (mit den Stationen Hannover, Köln, Aachen, Brüssel); mit dem fünften, auf Gutzkows 41. Geburtstag datierten Brief setzen die eigentlichen Schilderungen aus Paris ein.

Auffallend ist, dass Gutzkow diese Texte nicht zunächst abschnitt- oder briefweise als Journalbeiträge drucken ließ, sondern dass der Erstdruck (wie auch bereits im Falle der gleich betitelten „Briefe aus Paris“ von Börne) sofort als Gesamttext in Buchform, nämlich als zweibändige Ausgabe bei Brockhaus in Leipzig erschien, versehen mit einem Anhang. Frankfurt a. M. den 15. August 1842. Bereits vier Jahre später (1846) übernahm Gutzkow diesen Gesamttext der Briefe, redigiert (und dabei vor allem in der Adjektivierung mancher Schilderungen zurückgenommen) sowie um die Pariser Eindrücke erweitert, als eigenständigen Band in die erste Werkausgabe. Zu dieser Zeit erschienen die (bereits vor Gutzkows Reise begonnenen) Pariser Korrespondentenberichte Heines weiterhin in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“, also in Journalform.

5. Rezeption#

5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.2. Rezeptionsgeschichte#

Vor diesem Hintergrund verwundert ein gewisser Skandalerfolg nicht, den Gutzkows Briefe sofort nach Erscheinen hatten. Pariser Korrespondenten der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ protestierten gegen Gutzkows Schilderung („Leipziger Allgemeine Zeitung“, 22. November 1842 und „Allgemeine Zeitung“, 25. November 1842), so dass sich Gutzkow zu einer Entgegnung genötigt sah („Leipziger Allgemeine Zeitung“, 7. Dezember 1842 und „Telegraph für Deutschland“, 16. Dezember 1842; Rasch 3.42.11.22 bzw. 3.42.12.07).

Insgesamt löste Gutzkows Text eine breite Rezeption von zumeist uneinheitlichen, häufig polemischen, teilweise auch aufeinander polemisch reagierenden Kritiken aus (vgl. Rasch 14.24). An umfangreicheren Besprechungen bekannterer Autoren sind diejenigen von Willibald Alexis, Heinrich Laube, Gustav Kühne und Georg Jung erwähnenswert; hervorzuheben ist auch, dass sich die französische wie die englische Presse (mit Besprechungen im „Courrier français“, in der „France“ und, am umfangreichsten wie vom Publikationsort her am prominentesten, in der „Revue des Deux Mondes“ sowie in der „Foreign Quarterly Review“) in die Debatte einschaltete.

Ein spektakulärer ökonomischer Erfolg waren die Briefe aus Paris jedoch eindeutig nicht. Von der Auflage von insgesamt 1500 Exemplaren waren 1867, also 25 Jahre nach dem Erstdruck, noch 148 Exemplare unverkauft, weitere fünf Jahre später ging der Rest von 129 broschierten Exemplaren an den Verleger der letzten Werkausgabe zu Gutzkows Lebzeiten, Costenoble in Jena (vgl. Rasch 2.24).

6. Kommentierung#

6.1. Globalkommentar#

Gutzkow hat sich bei mehreren Gelegenheiten in Paris aufgehalten; das Corpus seines Gesamtwerks verzeichnet insgesamt fünf größere zusammenhängende Textgruppen, in denen er sich intensiv mit Paris und Frankreich auseinander gesetzt hat, nämlich 1. im „Zeitgemälde“ Frankreich im Jahre 1834, 2. in den Briefen aus Paris (1842), der mit Abstand umfangreichsten und bekanntesten Thematisierung seiner Pariserfahrungen, sowie 3. kurz darauf mit den Pariser Eindrücken von 1846 und dann - mit einem gewissen Abstand, in dem sich auch der Gegenstand, Paris und Frankreich, entscheidend verändert hatten - 4. bzw. 5. mit den Skizzen Nach dem Zweiten December (dem Datum des Staatsstreichs) von 1852 und Durch Frankreich im Jahre 1874.

Der Kontinuität dieser vierzig Jahre umfassenden Textproduktion muss man notwendigerweise nicht nur den radikalen Wandel der politischen Verhältnisse, sondern auch die komplette Verwandlung des Pariser Stadtbildes korrelieren. Die drei ersten Textkorpora befassen sich mit den Verhältnissen unter der Julimonarchie des ‚Bürgerkönigs‘ Louis Philippe und mit seiner Politik, die vor allem die Banken und den Handel, also das Kapital favorisiert (gegenüber dem zuvor politisch wie wirtschaftlich dominanten altadligen Großgrundbesitz). Die ersten drei Textsammlungen sind nach 1830, aber vor 1848 entstanden, wobei unter innenpolitischem Gesichtspunkt gerade 1834 und 1842 wichtige Wendedaten der Julimonarchie markieren. Aus der Epoche um 1848 gibt es keine Texte Gutzkows aus unmittelbarer Anschauung. Der Text Nach dem Zweiten December bezeichnet die Verhältnisse nach dem Staatstreich Louis Napoléons, des Neffen des ersten Napoleon, im Dezember 1851, aber noch vor dessen Selbstproklamation zum Kaiser Napoleon III. Der fünfte Text, Durch Frankreich im Jahre 1874, bezieht sich auf die Epoche nach Napoleon III.: Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 führt bekanntlich dazu, dass der französische Kaiser abdankt und ins Exil geht und Frankreich - ironischerweise unmittelbar durch die Hohenzollern - seither Republik ist; der Text besichtigt gewissermaßen die Provinz des soeben besiegten Gegners.

Wichtig ist aber auch zu sehen, dass sich das Paris, das Gutzkow schildert, zwischen den Texten vor 1848 und nach 1848 völlig gewandelt hat, bzw. dass die von Gutzkow in den Briefen aus Paris geschilderte Stadt mitnichten mit der Topographie von heute übereinstimmt. Gutzkow schildert noch die im Grunde mittelalterliche Stadt, die kurz darauf im Zuge der ‚Hausmannisierung‘ nahezu vollständig beseitigt und durch die großen Boulevards und die Prachtgebäude des Second Empire (mit dem Zentralstück der Oper Garniers) ersetzt wird. Das Paris der Gutzkowschen Briefe liegt damit zeitlich auch noch vor Baudelaires Schwan, der vom Rinnstein aus die neuerrichteten Teile des Louvre betrachtet und dabei ausruft: „Hélas!, le vieux Paris n’est plus“. („Le Cygne“, Erstdruck Januar 1860; vgl. zum Kontext Wolfgang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre: Baudelaire, Marx, Proudhon und Victor Hugo. Reinbek 1978)

Zumindest drei große Themen lassen sich in Gutzkows Schilderungen als durchgängig behandelt identifizieren:

1. die Institutionalisierungsformen der Politik (die Schilderung der Parlamentssitzungen, die informellen Kontakte der Politiker, die Rolle der Opposition), ein Thema, das natürlich gerade auch vor der Folie (fehlender) deutscher Parallelerfahrungen interessant sein musste;

2. das Sprechtheater, seine Inhalte (Stücke, Erfolgsthemen), Repräsentationsformen (Regiedarbietungen, Schauspieler, Gebäude, Direktoren) und Veränderungen (Artikulationsveränderung, Wandel des Bühnen- und Ausstattungsgeschmacks), ein Thema, das in Gutzkow immer wieder auch den theaterpraktisch Interessierten erkennen lässt, sowie

3. die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen in der Gesellschaft.

Vor allem die Punkte 1 und 2 kommen in den hier abgedruckten Briefen deutlich zur Geltung.

Literatur:#

Thomas Bremer: Gutzkows Briefe aus Paris, die Wahrnehmung der Großen Stadt und die Umstrukturierung intellektueller Öffentlichkeitserfahrung. In: Gustav Frank / Detlev Kopp (Hgg.): Gutzkow lesen! Bielefeld 2001, S. 207-226.

Johann Friedrich Geist: Passagen, ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. 3., erg. Aufl. München 1979.

La Grande Encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts par une société de savants et de gens de lettres sous la direction de MM. Berthelot [...]. Paris: Lamirault, o. J. [ca. 1885].

Grand Dictionnaire Universel français, historique, géographique, biographique, mythologique, bibliographique, littéraire, artistique, scientifique, etc. [...] par Pierre Larousse. Paris: Administration du Grand Dictionnaire Universel, 1865-76.

France. Dictionnaire encyclopédique. Par M. Ph. Le Bas (= L’Univers, ou Histoire et déscription de tous les peuples, de leurs réligions, mœurs, coutumes, etc.: Dictionnaire encyclopédique de l’histoire de France). Paris: Firmin Didot, 1840-45. Unter leicht variierendem Titel in Lieferungen erschienenes Lexikon in 12 Bden, sowie parallel dazu erschienene „Annales historiques“, 2 Bde, 1840-43 (für die Zeit bis 1830 mit fortlaufendem Text; von 1830 bis 1841 nur Datentafeln) und 3 Bde Kupferstiche, 1845.

Gilbert Ziebura: Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation. Frankfurt, New York 1979.

Stellenerläuterungen#