Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Die neuen Dorf- und Bauern-Novellen#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.1
Letzte Bearbeitung
30.01.2020
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Text#

1 Die neuen Dorf- und Bauern-Novellen.#

Seit einiger Zeit begibt sich im Schooße unserer Literatur eine Entwickelung, die organisch zu werden scheint. Der fashionable Roman ruft ein offenbares Gegentheil hervor, Gemälde aus dem untersten Volksleben, Genrebilder vom Lande, Dorf- und Bauern-Novellen, wie diejenigen, welche diese Richtung einschlugen, sie selbst genannt haben. Diese Krisis ist neu, beachtenswerth und kann schon jetzt als glücklich durchgearbeitet angesehen werden. Es ist ein Genre erfunden worden, auf dessen weitem Felde die erschöpften Talente sich stärken können; eine Fundgrube des reichsten Unterhaltungsstoffes thut sich vor unsern Augen auf, ein neuer Stufengang ist angebrochen, der die edelsten Metalle zu Tage fördern kann.

Es ging auch mit dem fashionablen Romane nicht mehr weiter. Ueber die Salonwelt unserer schreibenden Damen kann man nicht mehr hinaus. Ewig die Chaise longue, die Causeuse, die Nipptische, die in der dresdener Galerie copirenden Damen, die stolzen Amazonen zu Pferde, die Duelle, die Badesaison, die Spieltische, die Emancipation, Nizza und Ischl und Ischl und Nizza, - wie lange wird selbst unsere vornehme Welt das noch aushalten? Erst jetzt wird man das fürchterliche Ennui begreifen, welches die vornehmen Stände plagen soll, erst jetzt den falschen Schimmer dieser goldenen Livreen, dieser funkelnden Kronenleuchter, dieser echten Diamanten. Man hat sie satt, übersatt diese geistreichen Legationssecretäre, diese mysteriösen Spanier, diese spröden, reflectirenden und „unverstandenen“ jungen Witwen, diese Witwen, die nur noch einmal lieben, aber nie wieder heirathen wollen. Mehr auf den Kopf stellen läßt sich das menschliche Herz nicht, als es in den fashionablen Romanen geschieht. An die Stelle der alten, immer poetisch gewesenen Leidenschaft ist die Caprice getreten. Frauen sind uns geschildert worden, wahrhaft paradoxe Ungethüme, die mit der Reitpeitsche in der Hand sich den Weg durch das Leben bahnen wollen. Diese Wesen malen, musiciren, aber lieben nicht mehr, und wenn sie lieben, so ist ihre Liebe eine Quintessenz von Gefühlen, die uns kalt lassen. Es ist ein Glück, daß wir in den Romanen der Gräfin Hahn ein abschreckendes Beispiel der verzerrtesten Lebensanschauungen und der poetischen Nullität des Salonlebens haben. Die Poesie hört da auf, wo die Conversation anfängt. Romane, in denen nur bedeutende Gespräche und bedeutende Briefe gewechselt werden, spannen unsere Theilnahme ab. Menschen, die nur im Salon leben, heute Vormittags reiten, morgen um zwei Uhr fahren, alle acht Tage einen Ball besuchen, auf dem Balle sich ennuyiren, endlich das Bedürfniß nach Anregung fühlen, diese Anregung mit der Liebe verwechseln, dann reisen und plötzlich auf dem wormser Joch ihren Gegenstand wieder finden, wieder reisen und ihn in Nizza auf der Terrasse finden, wieder reisen und den Unvermeidlichen am Trolhätta sehen und hernach doch, doch einen Andern heirathen - und diese geistreichen Erfindungen eingetaucht in einen Schwall von Sätzen, die alle so anfangen: „Ich hasse Dies“ - oder „Ich liebe Jenes“ - „Zuwider sind mir blaue Augen“, - „Willkommen sind mir braune Augen, die ein wenig ins Grüne spielen“, - ich sage, eingetaucht in einen Schwall von „Aperçus“, „Paradoxen“, „Idiosynkrasieen“ - eine aus solchen Elementen zusammengesetzte Dichtgattung kann vielleicht den Beifall derer finden, deren ganze Lebenssehnsucht auf eine parfumirte höhere Existenz geht, den Beifall einiger Kritiker, die es nicht in Abrede stellen würden, wenn man behauptete, manche Menschen kämen mit Glacéhandschuhen auf die Welt; aber der gewissenhafte, an die Natur sich haltende Kunstrichter wird ihr nimmermehr Geschmack abgewinnen.

Nun ist ein Widerpart aufgestanden. Für das geglättete Parket des Salons die glatte saubere Lehmtenne in der Scheune, für die Damenschuhe die Barfüße oder Holzpantoffeln, für die Albums und die Crayons das Kerbholz und die Wirthskreide, für die Keepsakes der hinkende Bote und der hundertjährige Kalender, für die dresdener Galerie die bemalte Wachsleinwand der Bänkelsänger, für den glänzenden messingumrahmten Kamin mit dem Nippsims die große Ofenbank und die Ofenhölle mit dem Luxus eines für sechs Kreuzer entstandenen Bildes von Napoleon oder dem alten Fritz zu Pferde oder wohl gar dem Luxus eines Kätzchens aus Gips mit wackelndem Kopfe. Das alles will sich verändern. Für den Ball des Ministers, wo die Toscas, die Renaten, die Faustinen glänzen, die Kirchweih mit den Gretelchen und Evchen und Bärbelchen. Für das Piano die Fiedel, für das Duell Prügel, und für den Schlußeffect des Selbstmordes die Auswanderung nach America.

Diese Reactionen der wirklichen und zuweilen groben Natur gegen Ueberkünstelung haben wir in der Geschichte unserer Literatur schon öfter erlebt. Gegenüber der mythologischen Reifrock-Literatur erhob sich der schlichte Simplicissimus; als Geßner’s arkadische Hirtenwelt sich überlebt hatte, wurden wir mit Idyllen aus dem wirklichen Landleben bekannt durch Maler Müller, Ulrich Hegner und Hebel’s allemanische Lieder. Die Poesie bedarf dieser Anlehnung an das Gegebene; die Phantasie hört auf, Poesie zu sein, wenn sie sich zu weit in das Allgemeine und Leere verliert. Schon deßhalb, weil sie uns an das gegebene Maß des Lebens verweis’t, soll uns diese neue Dorf- und Bauern-Literatur willkommen sein.

Merkwürdig ist, wie diese Erscheinung, die sich auch in Frankreich und England wieder findet, sich doch bei uns in ganz anderer Form als dort kund gegeben hat. Während Boz gegen den fashionablen Roman, dessen gediegenste Entfaltung in Bulwer liegt, in Bulwer, der die Fashion noch als Sitte, als charakteristischen Gesellschaftston unseres Jahrhunderts mit dichterischer Kraft und dem Bewußtsein über seine Aufgabe dargestellt hat, während Boz gegen diese Gattung durch die grellsten Schilderungen des Elends der untern Volksclassen reagirte, während Sue in seinem vielbesprochenen Buche das Volk als den unglücklichen Träger und Martyrer der raffinirtesten, von oben herab drückenden Sittenverderbniß darstellte, hat sich bis jetzt diese demokratische Tendenz in Deutschland noch nicht über das Genrebild hinaufgeschwungen. Der Natur unseres Volks gemäß haben wir mit Glauben, Liebe und Hoffnung angefangen, finden auch vielleicht nicht einmal jene Skeptik, jenen Haß und jene Verzweiflung bei uns in solcher Fülle, daß wir Mystères de l’Allemagne erwarten könnten. Wir fangen mit dem deutschen Bauer an, vielleicht hören wir mit dem berliner Voigtländer auf. Die Möglichkeit, auf diesem ganzen breiten Felde, auf dieser Stufenleiter von Volksexistenzen Neues und wirklich Dichterisches zu Tage zu fördern, ist unermeßlich. Daß man dies Feld langsam bebaue, ist innig zu wünschen; denn fiele die Industrie 2 der Vielschreiber darauf, so wäre es für die Poesie verloren. Aus wirklichem Erlebniß, wirklicher Anschauung, aus Liebe zum Volke, mit dem man gelebt und gelitten hat, muß diese Literatur hervorgehen, und darum ist es gut, daß sie sich bei uns nicht aus einer polemischen Tendenz, sondern aus dem feinen poetischen Blicke für das ländliche Genrebild entwickelt hat.

Drei Schriftsteller haben in neuerer Zeit sich auf diesem Felde einen rühmlichen Namen erworben, A. Weill, ein Elsasser, B. Auerbach, ein Schwabe, Josef Rank, ein Böhme; die beiden ersten sonderbarer Weise Israeliten, was ich deßhalb hervorhebe, weil, da man unter Andern auch dem Judenthume den Ruhm abstreiten möchte, sich im Befreiungskriege zahlreich zur Fahne des gemeinsamen Vaterlandes gestellt zu haben, man es kaum für glaublich halten wird, daß Israeliten eine so sinnige und zarte Beobachtung der deutschen Volkssitten sich erwerben und diese in so deutsch-gemüthlichen Schilderungen wiedergeben konnten. A. Weill, ein Schriftsteller, der sich hier und da durch überkecke journalistische Aeußerungen und eine zu weit getriebene Subjectivität Feinde gemacht hat, darf es sich unbestritten zur Ehre anrechnen, daß sein immer regsames, schlagfertiges und auf dem Quivive stehendes Talent das erste war, das mit Bauern- und Dorfgeschichten aufgetreten ist.

Die elsässischen Sittengemälde sind schon mehr als Genrebilder, sind wirklich dichterisch abgerundete Erzählungen, deren Grundlage die feinste Beobachtung des elsässer Landlebens. Die Charaktere sind nicht nur der Wirklichkeit entnommen, sondern auch geschickt gruppirt. Möglich, daß dem Verfasser das eigenthümliche muntere und von französischen Elementen schon mannigfach schattirte elsässer Volksleben in die Hände gearbeitet hat. Das Elsaß, so grunddeutsch und doch schon hineingerissen in die französischen Strudel. Die jungen Bursche, der Conscription verfallen, kehren aus der Garnison in Metz und Nanzig mit veränderter Haltung zurück, sehen vornehm auf das Bauerleben herab oder tragen Affectationen, die sie von ihren französischen Unterofficieren lernten, in die schlichten deutschen Sitten über. Die Mädchen sind schon in Paris gewesen, zu Fuß, sie haben sich durchgebettelt, wie es eben ging, mit ein wenig Französisch und ein wenig Leichtfertigkeit, sie haben sich in Paris ernährt, wie der Herr die Lilien auf dem Felde ernährt und die Vögel unter dem Himmel, sie kehren in die Heimat zurück, vielleicht verdorben, wenn sie gut waren, und wenn sie schlecht waren, vielleicht gebessert. Die wahren Herrscher des Elsasses sind nicht die Herren Maires und Municipalräthe, sondern die Juden, die zu all den Kirchweihfesten und lustigen Tagen das Geld herschießen, auf Pfand borgen, den Viehhandel treiben und mit ihrer rastlosen Thätigkeit, die aus Pfennigen Groschen, aus Groschen Thaler macht, das ganze Elsaß umsponnen haben. Alle diese Elemente treten in den Erzählungen von A. Weill lebensfrisch und charakteristisch auf. Man sieht mit Wehmuth, wie ein so durch und durch deutsches Land sich in fremde Sitten und Zustände verliert, wie die jungen Dorfstutzer, die jungen Beurlaubten Französisch radbrechen und sich ein wichtiges Air geben, wie der Bauer kaum das Bedürfniß fühlt, sich des nachgeäfften Franzosenthums zu entledigen, wie alle Lebensfunctionen des Elsasses, Industrie, Handel, auf den natürlichen Verkehr mit dem rechten Rheinufer angewiesen sind und künstliche Bestimmungen diesen Verkehr doch nach Westen lenken. Das Aeußere und das Innere der Volkszustände ist mit klugem Auge und reinem Ohr erschöpft. Der Verfasser hat sich nicht nur der Sprache, der Sprüchwörter, der Redewendungen des Volkes bedient, sondern auch seiner eigenthümlichen Logik, seiner sonderbaren Trugschlüsse, seiner vorgefaßten Meinungen, die sich der deutsche „gemeine Mann“ seit Jahrhunderten nicht ausreden läßt. Die „elsässischen Sittengemälde“ stehen jetzt zwar nicht mehr einzig in ihrer Art da, verdienen aber in reichem Maße jene bewundernde Anerkennung, die sie selbst bei einem so verwöhnten ästhetischen Kostgänger, wie Herrn Varnhagen von Ense, gefunden haben.

Auf einem verwandten Gebiete bewegen sich B. Auerbach’s schwarzwälder Dorfgeschichten. Unsere Leser kennen sie schon aus F. Freiligrath’s in prächtigen Versen geschriebener Kritik. Auerbach steht hinter Weill an Phantasie, eigener Erfindung und Esprit zurück, ist aber darum nicht minder bedeutend geworden durch die Wahrheit seiner Lebensschilderungen, durch den reinen und edlen Ausdruck, den er seinen heimatlichen Zuständen lieh und der, schon des Gegenstandes, des anders bedingten Volkscharakters wegen, von elsässer Auffassungen verschieden sein mußte. Besonders anziehend ist die Gemüthlichkeit, mit der sich Auerbach auf seinem heimatlichen Felde ergeht. Er gibt weniger Dichtungen als Erinnerungen an seine auf dem Schwarzwalde verlebte Knabenzeit. Kommt auch dadurch in seine Darstellung eine gewisse Monotonie, wird das Gemüthliche zuweilen klein, und verliert sich das Kindliche zu sehr in die Kinderzeit und Kinderwelt, so hat man doch auch hier einen so treuen Spiegel deutscher Zustände, daß man einen Schriftsteller liebgewinnt, der so rein auffangen, so harmlos fühlen konnte. Das Volksleben auf dem Schwarzwalde und der schwäbischen Alb steht uns allerdings durch manche werthvolle Sittenschilderung schon näher; Nefflen’s „Vetter aus Schwaben“ ist eine Quelle des gesundesten Humors oder, wie Max Kornicker in Aachen sagen würde, „ein Buch zum Todtlachen“. Auf diesem Felde hat aber Auerbach mit poetischem Talente weiter gearbeitet, hat die schlichten Landleute in ihren Leiden und Freuden belauscht und unsere Literatur mit einem Buche bereichert, das dem Verfasser Ehre macht. Jene Stellen, wo Freiligrath sagt, man müsse über sie laut auflachen, sind drollige Schwabenzüge, naive, oft in einem einzigen Pinselstrich liegende Charakterzüge.

Wenn Auerbach nicht seine Kindheits-Erinnerungen allein ausgebeutet hätte, wenn er jetzt noch, als reifer Beobachter, unter seinen Landsleuten auf dem Schwarzwalde lebte, er würde seine anziehenden Gemälde vielleicht noch dadurch zu größerer Vollkommenheit gebracht haben, daß er uns mehr Züge aus der Männerwelt geschildert, mehr Eröffnungen über das Leben des Volkes, dem Staat, der Kirche gegenüber, gegeben hätte. Die Geschichte von der eigenmächtigen Vernichtung einer Oberamts-Verordnung durch den kühnen Buchmeier ist eine Probe jener Auffassungen, die uns willkommner gewesen wären, als die etwas weichliche Geschichte vom Ivo. Dem Schloßbauer hätte ein großes Uebergewicht gebührt, er gemahnt ja fast an den stattlichen Hofschulzen Immermann’s. Nicht die hohe Vortrefflichkeit und Gediegenheit der Volkscharaktere allein sollte geschildert werden, sondern auch ihre Einseitigkeit, ihr obstinater Trotz, ihre Grobheit und 3 ihr Prahlgeist, Grundfehler des deutschen Bauerncharakters, eingerottete Uebel, die sich selbst dem Besten, was der Zeitgeist verlangt, nur allzu oft hartnäckig entgegenstämmen. Kommen solche Darstellungen wieder an die Quelle zurück, wo sie geschöpft wurden, dringen sie ins Volk, so sollen sie dem Volke nicht schmeicheln, sondern ihm auch seine Fehler vorhalten. Ueberhaupt darf es auch in dieser Literatur an selbstständig hinzugedichteter eigener Erfindung nicht fehlen. So poetisch ist kein Volksleben, daß man nur mit der Hand hineingreifen könnte und immer ein Gedicht hätte. Wenn diese neue Dorf-Novellistik sich ihre glücklichen Debuts sichern und erhalten will, so muß sie sich über das Genrebild erheben, muß zu einer selbstständigen Dichtung auf diesem Gebiete reifen, und die treu aufgefaßten Volkszustände auch geistreich verknüpfen, verwirren und sinnig lösen können.

In dieser Hinsicht stehen die Leistungen von Josef Rank, dem dritten dieser Dorf-Novellisten, schon auf der wahren Kunsthöhe dieser neuen Literaturgattung. Dieser bisher noch unbekannt gewesene Name hat sich plötzlich auf unserm Gebiete einen volltönenden Klang erworben. Raummangel entschuldige, daß die Anzeige seiner beiden Bücher „Vier Brüder aus dem Volke“ und „Aus dem Böhmerwald“ für ein anderes Mal zurückbleibt.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow, Frankfurt am Main: Die neuen Dorf- und Bauern-Novellen. In: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 357, 23. Dezember 1843, [S. 1-3]. (Rasch 3.43.12.23.1)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.