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Die Zeitgenossen. Erster Band#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Martina Lauster
Fassung
1.3
Letzte Bearbeitung
15.02.2024

Text#

E. L. Bulwers#

Werke.#

Supplement#

zur#

achner, stuttgarter und zwickauer Ausgabe. #

Erster Band.#

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Notiz.#

Dieses Werk, dessen hohe Vortrefflichkeit in kurzer Zeit von ganz Europa anerkannt sein wird, erscheint in monatlichen Lieferungen, jede Lieferung zu 15 kr. oder 4 ggr., für die Besitzer der verschiedenen Ausgaben von „Bulwer’s“ Werken.

Durch eine besondere Uebereinkunft des geistvollen Dichters mit der deutschen Verlagshandlung, kann es keine andere Buchhandlung in Deutschland herausgeben, ohne dem wohlerworbenen Verlagsrechte der Erstern zu nahe zu treten.

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Die Zeitgenossen. #

Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, #

ihre großen Charaktere. #

Aus dem Englischen#
des#

E. L. Bulwer. #

Erster Band. #

Stuttgart.#

Verlag der Classiker.#
1837.#

I Die Zeitgenossen.#

III An Sir Ralph * * * *#

(einen berühmten Staatsmann).#

Wenn ich Ihren Namen an die Spitze dieses Werkes stelle, von dem ich selbst noch nicht recht weiß, ob es ein abgeschlossenes Buch oder ein Journal werden wird, so veranlaßt mich dazu außer .......*) besonders die gleiche Richtung, in der sich unsre Wünsche zu begegnen pflegen. Sie gehen gern von der Politik auf die Poesie über; ich verlasse gern meine poetischen Beschäf­tigun­gen und politisire. Sie sind ermüdet von dem un­aufhör­lichen Zählen der Pulsschläge, welche das Leben des Staates verrathen, und deren schnellere oder langsamere IV Bewegung auf politische Erkältungen, Entzündungen und Quartanfieber schlie­ßen läßt; Sie ermatten, jenen Chimborassos von Akten­stößen gegenüber, welche über eine wichtige Frage des Tages verglichen seyn wollen, und sehnen sich, Sie haben es mir oft gestanden, nach den glückseligen Gestaden der Poesie, wo es Ihnen bei dem übergroßen Verlangen manchmal sogar gleichgültig ist, ob Sie den steifen und bebänderten Allegorien der my­thologischen Periode in der Literatur begegnen oder den Verwilderungen unsrer modernen Waldpoesie, einer Tragödie mit drei Einheiten oder einer Tragödie, die deren so viel zählt, daß sie keine mehr hat.

Mir geht es umgekehrt. Mit der Poesie steh’ ich des Morgens auf. Gleich an meine ersten Verrichtungen knüpfen sich die Ver­worrenheiten poetischer Bilder. Meine Nachtmütze ist der Helm des Achilles. Mein blumiger Schlafrock ist bald der Früh­ling mit dem Füllhorne seiner Florapracht, bald ist mir sein langes Rauschen und Wallen eine so deutliche V Vorstellung des Meeres, daß ich immer in Sorge leben muß, über eine Erkäl­tung meiner Phantasie einen reellen Schnupfen meiner Nase zu be­kommen. Ich treibe mich dann, die Feder ergreifend, in den ent­ferntesten Gegenden der Erde um, klage, weine mit Menschen, die ich nie gekannt habe, lache laut über Späße und Situa­tionen, wobei ich vielleicht nur der Einzige bin, der sie für witzig hält. Ich härme mich ab, wie es mit meinen Helden werden wird, ich biete alles Mögliche auf, ihnen die Hand eines Wesens zu ver­schaffen, das sie lieben, ich spende Reichthümer, lasse ostindi­sche Onkel ster­ben, kurz ich pfusche dem lieben Gott unaufhör­lich in seine Schöpfung hinein, schiebe ihm Menschen und Schicksale unter, die er nie contrasigniren wird, und sinke zuletzt, von meinen Träu­mereien erschöpft, auf ein Sopha zurück, das mich erst allmählich wieder lehrt, hart von weich, Comfort von einer Ofenbank zu unterscheiden.

Halten Sie es für ein Glück, Dichter zu seyn? Ich wenigstens nur dann, wenn ich von irgend einem VI verrufenen Kritiker, aus dessen Munde der böswilligste Tadel zum beschämendsten Lobe wird, in allen Gelenken zerschlagen werde. Diese Art von Feindseligkeit (denn für das Lob literarischer Freunde, das im­mer nur langweilig ist, dank’ ich) ermuntert mich, weil ich weiß, daß ich jetzt Enthusiasmus erregen werde. Sonst hindert mich der dichterische Lorbeer. Es ist unmöglich, so bekränzt wie Dante zu seyn und sich einen wassergeprüften fashionablen Hut aufzusetzen. Glauben Sie mir, daß in mir das ewige Idealisiren einen rechten Heißhunger nach der Wirklichkeit erweckt. Ich möchte kein Staatsmann seyn, aber immer auf die Politik zurückkommen. Meinen precären Erfindungen gegenüber haben für mich die Thatsachen einen unendlichen Reiz. Ich gestehe Ihnen, daß ich die meisten Dinge richtiger zu beurtheilen glaube, als die, welche dafür besoldet werden. Ich bilde mir sogar ein, die Kriegskunst zu verstehen, und habe, wenn ich des Abends nicht einschlafen konnte, im Bette manche Schlacht zwischen Nationen aufgeführt, von welchen VII aber immer diejenige unterlag, die ich commandirte. Denn über dem Kanonendonner schlummerte ich allmählich ein und mußte das Schlachtfeld räumen.

In allem Ernste, mein hochgeachteter Freund, ich habe die Neigung zur Politik mit den meisten ältern Dichtern gemein, wie sehr ich auch sonst hinter ihnen zurückstehe. Dante und Milton ergriffen sogar Partei, die Andern lieferten nicht ungern Stro­phen und Scenen, welchen sich eine Bezüglichkeit auf die große Welt abgewinnen ließ. Ueberhaupt war aber auch die Stellung der Literatur in vergangenen Zeiten eine andre, als jetzt. Die Literatur stand über den historischen Thatsachen, sie wurde um Rath gefragt, sie hatte noch Gewalt genug, um etwas entschei­den zu können. Die Literatur verlor dieß Uebergewicht erst, als sie sich der historischen Autorität selbst unterordnete und ihr zu schmeicheln anfing. Die französische Literatur hat diesen Ver­rath an der Selbstgesetzgebung des Geistes zu verantworten. Sie machte sich anheischig, die Thaten der Könige VIII beur­theilen zu wollen, und endete damit, daß sie sie nur erklärte, aufschrieb und pries. Friedrich II. und Katharina geizten nach dem Beifalle Voltaires; aber indem sie die Literatur zu erheben schienen, setzten sie sie nur herab. Denn Literatur blieb nicht mehr die geschlossene Kette einer bestimmten, streng vorge­zeichneten Freiheit, sie hielt ihre einzelnen Glieder nicht mehr zusammen, sondern wurde, statt sich in den Objekten zu con­solidiren, individualisirt, wurde Eigenthum eines Einzelnen, der Witz und Kenntnisse genug besaß, um sie zu beherrschen, mit einem Worte, die Literatur war nicht mehr Masse, sondern Per­son. Durch eine solche von den Franzosen verschuldete Umkehr ihrer Bestimmung hat auch die Literatur seither ihre Kraft ver­loren und kann nur noch als individuelle Meinung wirken, als eine Meinung, die sehr wenig ausrichtet, wenn sie nicht durch Namen, Rang und großen Ruf unterstützt wird.

Bei uns Engländern findet noch so ziemlich zwischen Leben und Literatur ein Gleich-IXgewicht Statt. Dieß kömmt aber weniger von dieser, als von jenem her. Denn unsre Geschichte hat sich früher, als die anderer Nationen, bestimmte Formen erobert, innerhalb deren sich das Urtheil der Publizisten bewegen konnte. Eine frühe Spaltung unserer politischen Be­griffe theilte sich der ganzen Nation mit, es kam darauf an, man erwartete es, daß hier Etwas angegriffen, dort Etwas vertheidigt wurde. Die Formen unsrer politischen Existenz mußten erklärt werden und, da sie zunächst nur Kreise ohne Inhalt sind, ausge­füllt. Die Feder war an die Stelle des Schwertes getreten, d. h. sie war eine Hülf­leistung und wurde wenigstens dort als eine unumstößliche Thatsache anerkannt, wo sie unter den Ihrigen, unter der Partei war. Allein diese günstige Entwickelung der Literatur, welche, wenn nicht unsern gründlichen Werken, doch unsern Pamphlets und Journalen eine große Wirksamkeit gelas­sen hat, findet sich auf dem Continente weit weniger. Mit Na­po­leon hörte in Frankreich die Furcht vor der Literatur auf. Paul X Louis Courier fiel nur als eine Ausnahme. Jetzt, werden Sie gestehen, ist in Frankreich der gedruckte Buchstabe, schon ehe er trocknete, zu Makulatur geworden. Ich kann nicht blos an Eng­land denken, sondern muß die Gefälligkeit des Continents, meine Schriften zu übersetzen, dadurch ehren, daß ich sie auch für ihn einrichte.

Aus diesen Thatsachen ist nun ersichtlich, wie undankbar es ist, wenn man sich mit der Kritik der öffentlichen Angelegen­heiten als Autor beschäftigt; aber eben so auch, wie erklärlich, immer wieder von Neuem Etwas zu versuchen, was nur Wasser­schöpfen ist in das Faß der Danaiden. Die Literatur will sich ein Recht erobern, das ihr bestritten wird. Sie beschwört alle Mittel, die ihr zu Gebote stehen, um die Tyrannei kalter, spröder und vornehmer Thatsachen zu stürzen. Die Philosophen kom­men mit ihren ersten und letzten Gründen der Dinge, strecken ihre knöchernen Hände aus und weissagen. Die Dichter runden ihre lachenden Gleichnisse ab, spitzen ihre feinen Spöttereien und umziehen den Gegner XI mit so viel Blumen­guirlanden, bis sie ihn eines sanften, scherzenden Todes ersticken sehen. Es ist eine gährende und gefährliche Bewegung, die immer gerüstet an den Thoren der offiziellen Hôtels steht und sie entweder mit stür­menden Ballisten berennt oder sich erst bei der Frau des Conci­erge, dann bei ihm selbst einschmeichelt, sich in die Freundschaft des Kammerdieners hineinwitzelt, zuletzt in der Anti­chambre der Autorität steht und aus einem muntern Scherze sich in den Schlangenstachel verwandelt, der aus dem Blumen­strauße der Cleopatra züngelt. Es soll in Deutschland Schrift­steller geben, welche über die Aepfel der Hesperiden schreiben und darunter eigentlich nur die Reichsäpfel der Könige verste­hen.

Es scheint mir aber, daß sich diese Polemik einige Fehler zu Schulden kommen läßt, die alle ihre Wirkungen aufheben. Man läßt sich in Kämpfe ein, deren Terrain man nicht untersucht hat. Man spricht in einer Sprache, die Dem, der sich belehren lassen soll, unverständlich ist. Endlich mischt man zu viel XII Arca­dien in unser runzeligtes Europa, man macht aus der alten Schönen eine Theaterprinzessin, die sich schminkt und eine Jugend affectirt, die sie längst verloren hat. Unsre Zeit hat Thorheiten, von denen der Cabinette bis zu denen des Boudoirs, von der Krone herab bis zur Cravatte; aber ist es nicht lächer­lich, statt Jemanden zu sagen, du würgst dir deinen Kehlkopf so unvernünftig zusammen, daß du hinten ein wenig lüften mußt, ihm rundweg zu erklären: Geh’ mit blosem Halse! Unsre Zeit hat etwas ungemein Anziehendes, selbst wenn man ihre Abge­schmacktheiten vergleicht. Es gibt nichts so Unvernünftiges, was bei uns die Gedankenlosigkeit in der Politik, Moral und der Mode ausgeheckt hat, das nicht zu gleicher Zeit einen gewissen Anstrich, eine gewisse Raison hat, wenn man auch über sie nur lachen muß. Der Nonsens unsrer conversationellen Beziehungen ist kein Defizit an Vernunft, sondern Uebervernunft, die uns bei schlechter Laune albern, bei guter zuweilen recht ergötzlich erscheint. Von Sprache XIII z. B. ist nirgends mehr die Rede, alle Verhältnisse, die gelehrten wie die gesellschaftlichen, haben ihren Jargon. Die Religion hat ihren Jargon, die Moral, die Politik, die Industrie, die Liebe. Man kann sich mit Redensarten weit kürzer und bequemer ausdrücken, als wenn man vernünftig spricht. Man gähnt, man sagt eine Stelle aus Hamlet, man ruft: Sehr, sehr! und man hat beinahe eine Rede gehalten. Denn Jeder, der eingeweiht ist, versteht diese Abkürzungen und Citate. Ein Vernünftiger hält zwei Menschen, die sich auf diese Weise durch Knurren, Schnalzen, Gähnen und einige unartikulirte Interjektionen ihre Ansichten und Gefühle wechselseitig zu ver­stehen geben, für verrückt, während sich doch diese Leute vor­trefflich mit einander unterhalten. Ich kenne zwei junge Gentlemen, welche durchaus nicht wie Sprößlinge einer reichen Primogenitur le­ben können, die sich im Gegentheile noch unter dem Loose jün­gerer Söhne befinden und tüchtig rudern müssen, um zu schwim­men. Sie haben unendlich viel Erfah­rungen durchzu-XIVmachen, sie kennen auch einer des An­dern Begegnisse und schwierige Lagen, und dennoch wird man niemals finden, daß sie ein Wort mit einander reden. Sie sitzen zusammen, gähnen, seufzen, beobachten ein pythagoräisches Stillschweigen und wissen doch Alles, was ihnen passirt. Waren Sie bei der Lady Fitz***? frägt der Eine, wenn sie sich sehen. Der Andre stößt einen Ton aus, der zwar das Anhören eines Seufzers hat, aber doch so hoch hinauf gezogen ist, daß er weit mehr Vergnügen als Schmerz auszudrücken scheint. Jetzt schweigen sie eine Vier­telstunde, während welcher sie nur mit ihrem Mienenspiele sich verständlich sind. Sie lachen, sie beißen die Lippen über einander, sie spitzen die Zunge und drücken ihre Backen in die Höhe, kurz sie betrachten sich wechselsweise wie Telegraphen und erreichen durch allerhand pantomimische Merkwürdigkeiten ein Resultat, das auf einen ungefähren Roman hinauskommt, und einen Bogen von 16 Seiten brauchen würde, wenn man ihn mit all’ den witzigen Nüancen wieder XV geben wollte, mit welchen sie sich ihn erzählt haben.

Diese Abschweifung entschuldig’ ich durch das, was ich so­gleich sagen werde. Ich finde nämlich, daß Diejenigen, welche über die öffentlichen Angelegenheiten schreiben, den Charakter unsrer Zeit nicht gründlich studirt haben, und daß, wenn sie auch die Zeit kennen, ihnen doch wieder die Zeitgenossen gänzlich unbekannt geblieben sind. Es läßt sich vielen Verhältnissen uns­res Jahrhunderts eine bessere Form geben; allein der Stoff, aus dem man schaffen will, wird ein andrer seyn, als der ist, welchen man vorfindet. Man kann, streng genommen, nichts Neues gründen, man kann immer nur das Alte verbessern, einen Acker, der brach lag, umpflügen, ihn düngen, man kann Früchte erzielen, Grund und Boden aber müssen gegeben seyn. Was sind nicht für Theorien aufgestellt worden, um unserm Jahrhundert zu Hülfe zu kommen! Sie schöpften alle nur den Schaum von den Zeitgenossen ab und berechneten ihre Schriften für ein Ab­straktum, das XVI nirgends existirt. Mich wenigstens treibt es augenblicklich aus den Allgemeinheiten heraus, wenn ich mich in sie verflogen habe, und es klopft an meine Thür. Herein! Der Friseur. Eine Gestalt, die uns mitten im Sommer das Bild des Winters gibt, weil der Puder wie festgefrorner Reif auf dem Kleide sitzt; eine krumme, servile, höfliche Schwatzhaftigkeit, welche die Menschen nach ihren Toupé’s beurtheilt, und deren täglicher Refrain ist: „Ja, ehemals! Der Perruquier ist für unsre Zeit hin: Alles scheert sich glatt; die Frauenzimmer stehen des Morgens auf, links, rechts, hin und her, so, der Zopf ist fertig, herumgewunden, aufgesteckt, zwei Löckchen an den Ohren mit Pomade oder, wenn sie fehlt, mit etwas ganz Anderm gedreht. Das ist die heutige Kunst, die sich selbst bedient!“ Dieser Mann ist unausstehlich, er gehört dem vorigen Jahrhundert an, er macht aber schon mehr als dreißig des neuen mit. Darf ich ihn übergehen? Und so den ganzen Tag. Das Rufen und Lärmen auf der Gasse, die neuen Erfindungen, die Plakate, XVII die Stiefelwichs­patente; kann man dieß Alles vergessen, wenn man über sein Jahrhundert nachdenken will? Dort steht ein junger idealistischer Revolutionär vom Continent, ein Eingebürgerter von St. Pelagie. Sein Haar wallt lockig über die Schultern, es ist schwarz und hat vor Frühreife schon, gegen das Licht gehalten, ein graues Lüstre; er runzelt die Stirn, er liest in den Werken St. Justs, er ist adelig und läßt die Bezeichnung davon aus, er ist reich und hungert, um die Empfindungen der Proletairs zu studiren. Und hier führ’ ich Euch in ein Haus, das mit Tulpen rings umpflanzt ist, ein sauber lakirtes Haus in Holland, in wel­chem man nichts, als Milch und Kupfer im Hofe sieht, in die Nähe Derer, die es bewohnen, zweier Eheleute, die ohne Kinder alt geworden sind. Sie stehen spät auf, frühstücken eine Stunde, lesen sich wechselseitig die Zeitung vor, von dem leitenden Artikel an bis zum Hunde, der verloren ist und auf den Namen einer Sängerin hört, mit welchem ihn sein Herr taufte; sie lesen Alles, früh-XVIIIstücken dann zum zweiten Male, lassen sich dann von vier Ziegenböcken durch ihren Tulpengarten fahren, essen eine lange Zeit hindurch zu Mittag und beginnen das Ko­mischste, was ich mir von zwei alten kinderlosen Eheleuten denken kann. Er im Schlafrock, mit der Nachtmütze, sie noch immer in der Morgen­contusche, einem Jäckchen, das nur kaum bis über die Taille geht und dann weiter unten einem flanellenen Unterrocke Raum gibt. So setzen sich die beiden Leute, die eine Million besitzen, einander gegenüber, beide rauchen Cigarren, eine Flasche Portwein steht zwischen ihnen, rings ist Alles fest verwahrt, sie spie­len eine Kartenpartie, sprechen dabei kein Wort, sondern gehen, vom Spiel, Dampf und dem Portwein allmählich übermannt, stumm und steif um acht Uhr zu Bette. Ist dieß nicht auch eine Scene des Jahrhunderts? Darf sie der Re­formator übersehen?

Ich sagte schon, daß es Schriften gibt, wo dieß Alles überse­hen wird. Die Verfasser derselben thaten die unzähligen Charak­tere und XIX Individualitäten unter den Zeitgenossen zusammen in einen großen Trog, wie man die Kartoffeln zusammenstampft und preßt, bis ihre Quintessenz, aus der man Mehl, Zucker, Aquavit bereits gemacht hat und vielleicht sogar auch Fleisch machen wird, ihre Medulla, wie die Alten auch vom Kern der Menschen sagten, herausgedrückt ist. Für diesen Durchschnitts­charakter der Zeit stellen sie dann ihre guten Leh­ren auf, die sie mit Stellen aus antiker und mittelalterlicher Weisheit zu erhärten suchen. Dieß Verfahren hat uns eben so viel geistreiche Köpfe wie Charlatane kennen gelehrt. Ich billig’ es nicht. Ich mag meine lieben guten Nachbarn, die so wenig Lärm machen und wenn nicht durch das Parlament, doch durch die Kirche mit der Zeit zusammenhängen, ich mag meinen Comte - prolétaire und meine bei­den Holländer nicht um ihr Stimmrecht in den Angelegenheiten des Jahrhunderts bringen. Sie gehören mit dazu, wenn sie sich auch nur durch ihre Ruhe, durch ihre Thorheit oder durch ihre Steuern, welche sie zahlen, auszeichnen.

XX Es ist ein Fehler, daß die reformirenden Schriftsteller fast immer nur die Intelligenz, selten die Materie im Auge ha­ben. Es ist sogar ein Nachtheil für Diejenigen, welche durch eine Einseitigkeit dieser Art am meisten geehrt werden. Ist denn unsre Bildung, die nämlich, welche für das Jahrhundert in An­spruch genommen werden kann, nicht eher ein Verdienst, als eine Voraussetzung, die sich so leicht von selbst versteht, und mit der man nach Belieben statistisch-moralische Berechnungen anstellen kann? Die Reformatoren wollen immer nur die Ideen gegen einander ausgleichen, statt daß sie die Ideen mit der Ma­terie, mit meinen beiden Holländern ausgleichen sollten. Ob ich dem Systeme der Bewegung, meine Kritiker dem des Wider­standes an­gehören, das sollte zuletzt weit weniger entscheiden. Ein System ist immer ein weiter Vorsprung. Die Vorzüge des Jahrhunderts mit einander in Kampf zu bringen, ist wahrlich nur eine ganz ein­seitige Polemik! Mit einem Worte, es handelt sich weit weniger um Revolution, als um Aufklärung.

XXI Wenn ich diesen Empfindungen nachhing, so bildete sich in mir eine Idee aus, von welcher ich durch dieses Werk, das ich Ihnen, mein Herr, widmen wollte, nur eine Vorstellung geben kann. Ich sann über eine Schrift, die zwar den Zweck, für den sie geschrieben ist, niemals selbst wird erfüllen können, die aber doch Viele, die für ihn arbeiten könnten, darauf aufmerk­sam machen wollte. Ich kann nicht auf die Leute wirken, die ich liebe, auf das Volk, aber auf die, die mit ihm umgehen. Meine Schrift sollte Alles umfassen, was den Geist unseres Jahrhun­derts begreift, aber sie sollte vom Individuum, nicht von den Tendenzen anfangen. Ich hätte gern zuerst ein Kind unsrer Zeit geschildert, wie es geboren und erzogen wird, dann die Begriffe, die es einsaugt, dann die, welche ihm später zur Auswahl ange­boten werden. Ein Gemälde des Jahrhunderts vom 5. Mai 1789 bis auf die berüchtigte Quadrupelallianz unsrer Tage würde sich an diese Prämissen angereiht haben. Jetzt folgen Religion und Staat, Kunst und XXII Literatur in ihrer schwebenden, vom Momente tyrannisirten Lage, mit all’ den lächerlichen Neuerungseinfällen, welche mit so vielem Ernste von unsern Zeitgenossen behandelt zu werden pflegen. Und dieß Alles ist sogar keine Vorstellung mehr, sondern ich habe in diesem Werke versucht, sie wahr zu machen. Es ist der Rhodische Coloß, von dem ich hier eine Miniaturausgabe veranstalte.

Auch auf große Charaktere macht’ ich Jagd; allein die Sechzehnender sind auf unsern ausgeschossenen Revieren selten. Ich habe gefunden, daß man immer ein Rudel zeitgenös­sischer Pygmäen mitnehmen muß, um das Mittelmäßige als groß erscheinen zu machen. Diese Erfahrung bestimmte mich, meinem Buche eine ungewisse Ausdehnung in die Zukunft zu geben, es als geschlossenen Versuch in drei Bänden zu beginnen und es beinahe als Journal enden zu lassen. Addison und alle Blaustrümpfe sind mir verhaßt, allein die Form, deren sich Addison und Steele bedienten, muß Jeden ansprechen, den der Augenblick XXIII zwingt, Etwas zu sagen, und der doch nicht täglich gezwungen seyn will, es sagen zu müssen. Möglich, daß meine Zeitgenossen, nachdem sie ein Buch gewesen sind, sich zuletzt in eine Monatsschrift verwandeln.

Sie aber, mein hochgeehrter Herr, müssen mir verzeihen, daß ich Sie in diesen Strudel von Ungewißheit und interimistischen Plänen hinabziehe. Ich kenne Ihren Abscheu vor aller Politik, ich kenne auch die Grundsätze, welche Sie aufstellen, wenn Sie einmal gezwungen sind, sich mit ihr zu beschäftigen. Sie sind der erste Leser dieses Buches: wie werd’ ich mich also anstren­gen müssen, daß Sie auch der letzte bleiben! Ich werde dieß nicht anders erreichen können, als daß ich suche, in der Politik so viel wie möglich Dichter zu seyn. Für den Stoff kann ich es nicht versprechen; denn meinen Pfeilen kann ich doch die Spitze nicht abbiegen? Für die Form aber, hoff’ ich, wird mich meine Art, die Dinge anzuschauen, da am wenigsten verlassen, wo ich für die Dinge, für die Gegenstände nicht verant-XXIVwortlich bin. An Unterhaltung wird es nur für Miß *** in meinem Buche fehlen; denn ich bin noch immer nicht im Stande, es die­ser Dame recht zu machen. Sie verachtet meine Schriften, weil sie nur das schildern, was man alle Tage selbst sehen kann. Mich beunruhigt dieß, weil es möglich ist, daß sie, eines Tages einmal ihre Frühlinge zählend, sich noch entschließt, Schriftstellerin zu werden, und es mir gehen würde, wie Orpheus unter den Mänaden, wenn sie nämlich die Freiheit bekäme, anonym an einer kritischen Anstalt mitzuarbeiten.

Uebrigens, wie immer,

Ihr ergebenster Diener

E. L. B.

Herfortstreat, im October 1836.

1 Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts.#

Das Jahrhundert, in welchem Hume und Voltaire lebten, setzte das Individuum höher, als unsre Zeit, die durch Napoleon die Kraft nur in den Massen finden lernte. Es ist eine eben so interessante als belehrende Aufgabe, die psychologischen Eigen­thümlichkeiten des vorigen Jahrhunderts zu untersuchen, seine historischen Begebnisse auf die Menschen zurückzuführen und diese wieder zu verfolgen bis in die Träumereien, welchen sich jene Zeit der erwachenden Freiheit hingab. Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts läßt sich in ein Capitel der allgemeinen Geschichte der Mode verwandeln. Denn die Philosophie dieses Jahrhunderts, seine Literatur und beinahe auch seine Politik, dieß Alles hatte einen eigenthümlichen, durch äußere Auf­fallenheiten bestimmten Anstrich. Vom Reifrock an bis zu Rous­seau’s nackten Menschenthieren ist die Geschichte der öffent­lichen 2 Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Individuum.

Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen be­rechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theo­rien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schät­zen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Sta­dien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis XIV. zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Er­findung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligée oder der griechisch-franzö­sischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu die­nen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu ma­chen. Das ist Alles anders geworden.

3 Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zu­geschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre ver­schla­ge­nen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Individuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Individuen.

Ich will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außer­ordent­lichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichts­farbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen 4 Antlitze zuckt, ist mir eine Offenbarung deiner Gedanken, deiner Gefühle und deiner Zeit!

Master Wilson, (es ist aber ein Name, der erfunden ist, und auf welchen sich keine Erben melden dürfen, überhaupt nie, nie, mein Trefflicher!) Master Wilson wurde in London geboren, erzogen, verließ es nie, er kennt nur London, aber von einer Sei­te, wie Andre nur ihre kleine Meierei auf dem Lande kennen, ihren Wiesengrund, ihren Erlenbach. Sein Vater war ein reicher Passamentirer, der damals, als die Soldaten noch in Schnüren, wie in Strickleitern und Takelwerk hingen, Etwas, wie die Leute sagen, geschafft hatte. Mein Freund hat es mir nie gesagt, aber ich hab’ es erfahren, daß seine Eltern gemein und ausschweifend waren. Sie wurden durch ihr Glück übermüthig, übernahmen sich und stürzten in Verlegenheiten hinein, die mit einem Bankerutte endeten. Mein Freund war damals ein artiger Bursch von sechzehn Jahren, der bis in sein vierzehntes Jahr hoffte, Arzt, Advokat, Parlamentsglied zu werden, und kaum darauf geachtet hatte, daß zu diesem Zwecke die Eltern an seine Erziehung Etwas hätten wenden müssen. Dieß war nicht nur nicht geschehen, sondern der junge Mann mußte sich auch bequemen, an die Passamente zu gehen und Schnüre zu winden. Er sagte mir einmal beiläufig, er hätte damals in seinem Schmerze gedacht, daß er sich ja selbst den Strick drehen könne, mit welchem er sich sein Ende machen wollte. Der Schmerz war groß. Er hatte sich 5 selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirth­schaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne’s und Rousseau’s hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all’ unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz 6 zu tödten und hinzugeben auf die glühende Hand des Molochs: Allgemeinheit. Wilson war in dem Alter, wo andre junge Leute schon einen scheuen Blick haben, ihre heimlichen kryptogamischen Gänge, wo man sie auf der Angst ertappen kann, daß ein gewisser Mangel an Zurückgezogenheit gegen das Kammermädchen ihrer Mutter Folgen haben könnte. Wilson war immer noch mit seinen Sternen be­schäftigt, er lief mit Pope’s Menschen hinaus in die schöne Natur, die bekanntlich erst da anfängt, wo man Londons Schornsteine nicht mehr rauchen sieht. Des Sonntags lief er den Strand der Themse entlang, Arm in Arm mit seinem Freunde, sie philosophirten, sie stritten sich, sie umarmten sich. Das war eine Begeisterung, stolzer noch als die, welcher sich unsre Söhne hin­geben.

Der Enthusiasmus des neunzehnten Jahrhunderts ist auf Ideen gerichtet, welche die Leidenschaft erregen, das Blut in’s Haupt treiben und ihre Wonne darin finden, Genossen, Anklang zu haben, Freunde, die eben so denken. Dann tritt man sich bei uns näher, drückt sich die Hand, blinkt mit den Augen und sagt mit erstickter Stimme: Die Zeit wird kommen! Der Enthusiasmus des achtzehnten Jahrhunderts aber war egoistischer und darum seliger. Er lag darin, die Welt zu vergessen und den Him­mel offen zu sehen, Gott in sich zu fühlen oder bei mystischen Naturen sich in Gott. Die Freundschaften hatten einen wunderbaren Schmelz: sie waren melancholischer, nicht wie jetzt 7 cholerischer Natur, sie waren auf keine Zwecke gerichtet, sondern dieß war ihr Zweck, sich zu haben und zu kennen, sich zu fühlen wie Brüder vor Gott oder der Natur, und dasselbe zu fühlen und eben so zu seyn der Eine, wie der Andre. Wilson spricht nie davon, aber ich seh’s an seinem leuchtenden Auge, wenn er von Freundschaft spricht, daß es so unter seinen Sternen muß gewesen seyn. Den Freund nennt er nur mit Thränen. Er erschoß sich später, aus Liebe zu einem Mädchen, das ihn verschmähte, weil er häßlich war und von Blattern ganz zerfetzt. Will der Häßliche bei den Frauen Glück machen, so muß er seyn, wie Mirabeau war, wild, unternehmend, ein Himmelsstürmer, vor dessen Zorn das Weib zittert, durch dessen Kühnheit gegen Andre sie sich geschmeichelt fühlt, und den sie nicht läßt, wenn sie ihn oder er sie einmal schwach gesehen.

Auch Wilson war unglücklich, als er mit einem weiblichen Wesen anknüpfte. Sein Freund war der Sohn reicher, kalter und vornehmer Eltern, Fabrikanten, die mit der Aristokratie der Geburt und des Ranges wetteiferten. Die Wilson anbetete, war die Schwester seines Freundes. Er sagte mir, sie hätten sich vier Jah­re geliebt und es sich mit den Augen, zuweilen mit der Hand gestanden, aber niemals sey eine weitere Annäherung zwischen ihnen vorgefallen. Ihr Verhältniß hielt sich in den Schranken einer conventionellen Begegnung. Wilson war ein niederer Hand­werker. Eines Tages reichte sie ihm schluchzend die Hand, er wand­te sich ab, er 8 verstand sie, einige Wochen darauf war sie verheirathet. Ein Jahr später starb sie im Kindbette.

Den Schmerz dieser Geschichte kann man fühlen, wenn man nur ein Herz hat; aber die ganz eigenthümliche heilige Weihe, die auf ihr liegt, versteht man nur, wenn man dabei Wilsons lächelnde Resignation auf einem hinreißend einnehmenden Antlitze sieht, wie er fast beschämt, fast jungfräulich sein Auge niederschlägt und eine Thräne nicht zu bemerken scheint, die ihm zwischen seinen schwarzen Augenwimpern hängen bleibt! Wilson ist jetzt seit zwanzig Jahren verheirathet. Es war Pflicht der Dankbarkeit, die ihn bestimmte, einem Frauenzimmer seine Hand zu geben, das ihn anbetete (er war schön), und das ihn doch verschmähte. Ein eignes Verhältniß! Sophiens Eltern waren einfach genug, aber sie zogen eine ansehnliche Pension, die sie durch irgend einen Zufall mit der von Wilson nur mühsam ernährten Passamentirfamilie theilten. Dieß edle Verhältniß währ­te lange Zeit hindurch. Wilson bekam freie Hand. Er warf sich auf die Kaufmannschaft und trat, durch seine Kenntnisse und seine imponirende Gestalt empfohlen, sogleich in eine große Hand­lung ein. Für seine Eltern war gesorgt. Sophie wurde darüber dreißig Jahr: es verstand sich von selbst, daß Wilson die stillschweigende Verpflichtung hatte, sie zu heirathen. Sie sträub­te sich, weil sie einen starken, fast männlichen Charakter hatte. Er, weil er sie nicht lieben konnte. Endlich verbanden sie sich, ohne Rücksprache, ohne vor dem Altar sich 9 anzusehen, stumm und kalt. Nach der Trauung, welcher ein einziger Zeuge beiwohnte, schlief Sophie in ihrer Wohnung (Wilsons Eltern und ihre eigene Mutter waren todt). Wilson schlief bei sich. Es kränkte ihn, daß er keine Wirthschaft hatte und daß es heißen sollte, er wäre zu ihr gezogen. Sie erwartete ihn nicht. Sie hätte ihn von sich gestoßen. Aber die Zeit ist ein Tropfen vom Dache, der zuletzt einen Stein aushöhlt. Sie näherten sich, und beide besitzen jetzt zwei Töchter.

Wilson hat viel mit seinem Herzen zu thun gehabt. Er hat die Dinge der Welt übersehen. Er hörte von Napoleon und wurde sein Vertheidiger, weil er ihn ohne Politik, weil er ihn nur aus dem poetischen Gesichtspunkte betrachtete. Für die Reaktionen der Bourbonen und Castlereaghs hatte er keinen Sinn. Auch ist er gegen ein Uebermaß von Freiheit, ohne daß er dieß jemals ausspricht. Er scheint sagen zu wollen, daß ihm eine große politische Freiheit nur denkbar scheine, wenn ihr eine Selbstemanzipation der Individuen vorangegangen wäre. Er würde sich recht gern zu einer Republik bereit finden, nur müßte sie aus lauter solchen Philosophen bestehen, wie er einer ist. Cuviers Geschichte der Erdrevolutionen machte mehr Eindruck auf ihn, als die Julirevolution. Es war kurz nach dieser, als ich ihn kennen lernte.

Wilson ist den ganzen Tag beschäftigt; doch benutzt er jede Pause, die er erübrigen kann, um irgend eine werthvolle neuere Erscheinung, zu denen er meine Schriften 10 nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. „Sie zerpflücken,“ sagte er über die modernen Dichter zu mir, „sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen.“

Wilson’s Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich 11 aber, als einer Reliquie der Vergangenheit, nicht umgehen kann. Nicht ein Blutstropfen der neuen Zeit wohnt in ihm, und doch ist er so ach­tungswerth. Wer würde nicht das stille Glück dieses Mannes theilen mögen, der nur den Sonntag sein nennt, dann schon früh hinauswandert in die wilden Verschlingungen des königl. Parks, einen Band von Tristram Shandy in der Tasche! Wenn er Menschen kommen hört, flieht er; denn der Sonntag ist sein, am Sonntag ist er selbst sein Eigenthum. Dann kann ihn nichts erfreuen, als höchstens ein Waldhorn, das weither durch die Gebüsche schallt. Kurz, Wilson ist hinter seiner Zeit zurückgeblieben. Dem neunzehnten Jahrhundert ist er durch nichts verwandt. Man wird ihn auch nie sehen, daß er beim Poll irgend einem Candidaten für das politische Leben unsrer Zeit seine Stimme gäbe. Leben Sie wohl, Wilson! Jenseits, jenseits, mein Theurer! Dort wird Alles wahr!

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Ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts dagegen liegt vor mir in der Wiege. Sie steht nicht mehr auf runden Füßen, die getreten werden, das ist schon von Rousseau geerbt; aber das Kind ist in Federn gehüllt, nicht in Pferdshaaren, das ist wieder alte Praxis, Empirie ohne Rousseau, das haben die Aerzte so gewollt; denn ein Kind soll Wärme haben, Alles, was wächst, muß Wärme haben. Das neunzehnte Jahrhundert verbindet den 12 Idealismus mit der Gesundheit, die Phantasie mit einem unverstopften Magen, die Schwärmerei mit einem warmen Umschlagetuch, das vor Erkältung schützt. Wir combiniren die erste und zweite Hälfte des 18ten Jahrhunderts, den Comfort mit dem Spiritualismus; wir sind nicht ganz so bequem, daß wir nicht über die Nachtigall, die am Weg im Gebüsche singt, fünf Minuten still ständen, um sie zu belauschen; aber auch nicht ganz so idealisch, daß wir nicht schnell nach Hause gingen, wenn wir merken, daß wir von der feuchten Abendluft den Schnupfen be­kommen werden. Unsre wunderbare Industrie, unsere Eisenbahnen und Dampfmaschinen sind aus diesem Triebe entstanden, das Mährchenhafte mit dem Handgreiflichen zu verbinden. Sollt’ ich einem Künstler die Vorstellung unseres Jahrhunderts in einem Bild anrathen, so würd’ ich ihm sagen: Malen Sie, mein junger Mann, die Schneekuppel der schweizerischen Jungfrau, rosig angeglüht von der aus der Tiefe aufgehenden Sonne, und oben auf der Spitze, recht in der Mitte des Glorienscheines (wie man von Napoleon dergleichen Apotheosen hat), einen dünnen, zerbrechlichen Gentleman im bis an den Hals zugeknöpften Frack, zitternd vor Frost in Nankinbeinkleidern! Unser Jahrhundert ist dieser Contrast zwischen Poesie und Prosa.

Meinem Normalmenschen, der bereits laufen kann, wird viel Freiheit gelassen, und wenn sie gestört wird, so geschieht dieß nicht durch System, sondern durch 13 Temperament der Erziehenden. Ueber den Säugling und die junge ohne Fallhut herumlaufende Brut machte sich das achtzehnte Jahrhundert schlaflose Nächte. Gatte und Gattin erzürnten sich über das Erziehungssystem, welches sie befolgen wollten bei einem Kinde, das erst geboren werden mußte. Man sprach damals sehr viel von der Natur; doch war die damalige, darunter gemeinte Natur weit künstlicher, als die jetzige, die nahe an Verwilderung streift. Der Zweck unsrer Zeit ist der Bürger, nicht mehr der Mensch. Dem Bürger schadet das Ammenmährchen nicht, das Federbett nicht, das zu hohe Liegen mit dem Kopfe nicht. Mein Emil, der des neunzehnten Jahrhunderts, wird für den Staat erzogen, für die Partei; mein Emil vegetirt unter dem Schutze der Kindermädchen, die ihn auf der Promenade in’s Gras legen, während sie mit einem Constabler sich etwas zu erzählen haben. Emil hat nicht die Bestimmung für die Familie, für das Haus, sondern er muß eine Zahl werden, die mit angeschlagen werden kann. Er wuchert auf, ohne ein andres pädagogisches Moment, als das der Leidenschaftlichkeit. Jetzt kommt Emil dem Vater recht, er will ihn auf den Schoß nehmen, jetzt hat er zu thun, jetzt küßt er ihn, jetzt schlägt er ihn. Er lernt früh, daß alle Wissenschaft und Kunst, alle Civilisation und Ueberfirnissung der Menschheit nichts ist; daß der alte, finstre, zornige und despotische Adam unausrottbar bleibt, und heuchelt, verstellt sich, schreit, lacht, kurz er schickt sich oder schickt sich nicht, und bekömmt 14 dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus ver­dächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Individuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß.

Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als Vorkennt­nisse besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz 15 verzwickte Kunst, wo die Kinder nur zu mauzen, prauzen, pusten, husten und zu zischen brauchen, um nicht nur die Buchstaben, sondern sogar buchstabiren zu lernen. Oder, was sag’ ich? Sie buchstabiren nicht mehr, sie syllabiren sogleich und lesen sogar, wenn es sich auch anhört, als wollten sich eigentlich die Kinder übergeben. Dem mag seyn, wie ihm wolle, ist diese Methode nicht für den Magen schädlich, so ist sie es doch für die Zunge; denn ich glaube, das jetzt so häufig verbreitete Stottern kommt von dieser neuen Methode des Lautirens her.

Ich glaube ferner, es war ein sehr großes Unglück, daß sich unsre Großältern so lächerlich trugen. Wären wir weniger gereizt, über sie spotten zu müssen, wir würden weit mehr von ihnen entlehnen können, wir würden zumal ihre pädagogische Gewissenhaftigkeit nicht für Pedantismus ausgeben. Wir betrachten aber unsre Väter, diese ernsten, brummenden und mürrischen Männer, die stundenlang schweigen können; unsre Mütter, von denen die jüngern sehr zärtlich sind und unter den Vätern viel leiden, die ältern aber alle Indifferentismen der Väter theilen. Wir glauben, daß eine Erziehung, die diese Brummkreisel hervorgebracht hat, das Werk der schlechtesten Pedanterei gewesen seyn müsse. Keinesweges! Die tiefen Baßtöne kamen in unsre Eltern nur durch die Wendung, welche die junge gegen die alte Zeit nahm. Unsre Großältern sind so drollig und liebenswürdig, unsre Eltern so barsch. Dieß liegt in dem Widerspruche der Erziehung, die die letzten empfangen 16 sollten, mit der Bestimmung, welcher sie plötzlich durch das Jahrhundert folgen mußten. Sie waren erzogen für das Haus und wurden für die Welt in Anspruch genommen. Sie sollten sich als Menschen fühlen und durften sich plötzlich nur innerhalb der Begriffe des Bürgers bewegen. Das hat ihnen so übeln Humor ge­macht. Das bestimmt sie, da sie nie gerecht genug sind, ihre Magensäure nicht auf die Zeit und ihren Weinkeller, den sie unmuthig leeren, sondern auf die Erziehung zu schieben, ihren Kindern grade eine entgegengesetzte Erziehung zu geben, als sie empfangen haben. Wo die Alten streng waren, sind sie nachsichtig. Wo jene lachten, da erzürnen sie sich. Unsre Kinder werden zum Trotz erzogen.

Ich behaupte immer, man kann zwar einen sehr guten Gebrauch von seiner Freiheit machen, wenn man nur für sie erzogen ist; allein man kann seine Freiheit nicht so fühlen, wenn man sie nicht vorher hat entbehren müssen. Die Strenggezogenen pflegen, freigelassen, nicht selten zügellos zu werden. Mäßigt sie aber eine edle Bildung, ist sie der Ranzen, der recht schwer ihre Schultern drückt, dann werden sie ihre Schritte schon einhalten und sich Zeit nehmen. Ich finde, daß unsre so frei erzogenen Kinder sehr oberflächlich werden, weil sie die Freiheit mit den Kenntnissen zu gleicher Zeit erhalten, statt daß die Freiheit eintreten sollte, wenn sie sich die Kenntnisse bereits angeeignet haben. Es gibt viele sehr strenge Erziehungen unter uns. Besonders wird viel 17 gepredigt und viel auf den äußern Anstand gesehen. Die Kinder dürfen nicht auf das Sopha kommen. Sie müssen nach einer kurzen Mahlzeit den Tisch verlassen; das wenigste des zu ihrer Bequemlichkeit Dienenden dürfen sie vom Gesinde verlangen. Das läßt sich Alles hören. Es ist eine strenge puritanische Erziehung. Aber sie wird unvernünftig, wenn die Knaben sich nicht zwei Schritte von den Eltern entfernen dürfen, wenn sie noch in ihrem sechzehnten Jahre kurze Jäckchen und eine breite Tellermütze mit einer Troddel tragen müssen, wenn die Mädchen nichts ansehen dürfen, das nicht vorher von der Mutter mit einem moralischen Gesundheitsschein ausgestattet wurde. Hier ist die englische Erziehung namentlich die beschränkteste unter allen möglichen. Sie macht die Generation so langweilig, wie es unsre Sonntage sind.

Wenn man die Furcht kennte, welche das Kind vor der Wissenschaft hat, man würde nicht so eilen, es in sie einzuweihen. Ganz lebhaft schwebt mir noch die Scene vor, als ich zum ersten Male in die Gemeindeschule gebracht wurde. Meine Schwester führte mich hin. Ich war still bis auf die Hälfte des Weges, fing aber da so erbärmlich an zu schreien, daß die Leute still standen und meiner Schwester helfen mußten, um mich nur von der Stel­le zu bringen. Betäubt von hundert süßen Versprechungen folgt’ ich und kam unter Knaben zu sitzen, die, wenn sie einen Zoll größer waren, als ich, mir wie die Riesen vorkamen. Komisch ist aber 18 auch, daß wenn kleine Kinder zum ersten Male in die Schule gebracht werden, einige von ihren künftigen Kameraden heranzurücken pflegen und allerhand zärtliche, von ältern Personen nur sonst gebrauchte Ausdrücke an sie richten. Dieß tröstete mich aber nicht. Ich sah in ein Lesebuch, das ich mit­bringen mußte, und verstand nicht ein Wort, ich hörte, daß vor mir Einer nach dem Andern auftrat und aus dem Buche Etwas hersagen konnte: ich konnt’ es nicht, ich war außer mir vor Angst, schrie auf und sagte zitternd zum Lehrer, daß ich ja noch nicht einmal lesen könne! Der gute Mann beruhigte mich und hat gewiß über meine Furcht vor den Wissenschaften innerlich lachen müssen.

Noch bleibt aber dem Knaben zuweilen Zeit zum Spiele. Das Spiel ist massenhaft, es ist von kriegerischem Geiste beseelt, war es wenigstens, so lange noch auf den Straßen Pamphlets gegen Na­poleon ausgerufen wurden. Man hatte die Wahl, entweder im Garten des Vaters das Beet zu bepflanzen, welches Erbeigenthum des kleinen Pachters wurde, oder draußen auf den Plätzen sich den Freiwilligen anzuschließen, die unter dem edeln Herzog fech­ten wollten oder der kaiserlichen Garde, später den Griechen oder den Türken. Diese Spiele scheinen sich aber verloren zu haben mit den Congressen von Verona und Aachen und werden schwerlich durch die Quadrupelallianz wieder belebt werden. Im Gegentheil werden die Stimmungen unsrer Jugend immer friedlicher, so daß man glauben möchte, sie wollten 19 einmal alle in Staatspapieren handeln. Dennoch ist dieß keine Rückkehr und Einkehr bei sich selbst, sondern der Nachahmungstrieb hat sich erhalten. Ich habe Kinder beobachtet, die behaupteten, sie spielten Cholera. Jetzt spielen sie Eisenbahnen und Dampfmaschinen, sie fühlen es, daß einst die Welt enorme Anforderungen an sie ma­chen wird, und fangen bei Zeiten an, schon in ihre Scherze Ernst zu mischen. Die gemüthliche Phantasie geht leer aus. Die Theatermanie früherer Zeiten findet man jetzt nicht mehr bei den Kindern.

Dagegen brechen in den Schulen oft Empörungen aus. Die Souveränetät der Masse ist auch bis hieher gedrungen. Der Lehrer kann streng seyn, aber die Klasse wird immer lauschen, bis sie ihn überrumpelt. Es ist in manchen Collegien schon vorgekommen, daß Pulververschwörungen entdeckt wurden, die nichts weniger beabsichtigten, als die Lehrer in die Luft zu spren­gen. An Knallerbsen und Mordschlägen, die auf den Katheder gestreut wurden, fehlte es selbst bei Erziehern nicht, die für populär, so zu sagen, gehalten wurden. Es ist hier schon wie in der politischen Welt. Ein Agitator steht an der Spitze. Er hat Kraft, aber man traut ihm Alles zu. Was Niemand kann, wird O’Con­nell können. Er knechtet aber auch seine Anhänger genug zum Dank, daß er sie vertheidigt. Er erhebt sich täglich seinen Tribut, der entweder darin besteht, daß er den Schwachen ihre Arbeiten entreißt und sie für die seinigen ausgibt, oder daß er sich an die Thür der Klasse 20 stellt, die Scholaren abwartet und jedem einen Obst- oder Brodzehnten aus der Rocktasche nimmt. Dafür ist er aber auch der große Nationalheld! Er wagt sein Leben für sein Volk, er ist der, der mit den Gegnern parlamentirt, der, welcher den Tirailleur spielt, er ist Commandeur und Trompeter zu gleicher Zeit. Ruft er mit starker Stimme sein Hurrah, so stürzen sich ihm die Seinigen mit blinder Wuth nach, und wenn’s um den Kopf ginge. O’Connell ist auch die Personification der Ehre; alles in diesem Punkte Zweifelhafte (der irische kümmert sich darum nicht) wird von ihm entschieden; ja ich erinnre mich einer recht eigenthümlichen Servilität unter meinen Kameraden im Colleg. Sie drängten sich immer in O’Connells Nähe und trumpften mit Kerndrohungen und Faustredensarten nur deßhalb auf, damit er sie hörte und würdigte, gleichsam als könnte er sie bei irgend einer Parlamentswahl unterstützen. O’Connell war dabei immer still und lächelte. Wer ihm zu vermessen, wer zu kühn für die Kühnheit O’Connells sprach, den griff er dann von der Seite auf, hob ihn hoch in die Luft, die Beine verkehrt, und ließ den strebenden Rivalen so lange zappeln, bis sich die Thür öffnete, und das hereintretende Ministerium zu sehen hatte, wer auf’s neue eine Rüge verdiente. Das Ministerium mußte aber selbst darüber lachen.

Wenn die Menschen unsres Jahrhunderts von ihren Kenntnissen nur Kopfweh haben, so liegt dieß weniger, wo man es immer sucht, in der Methode, als in der 21 Unentschlossenheit, den alten Unterrichtsstoff mit dem neuen auszugleichen. Die alte und die neue Welt streiten mit einander; wir werden erst für Asien, dann für Amerika erzogen. Wenn wir wissen, wo die Griechen sich ihre Orakel holten, dann erfahren wir erst, woher wir den Zucker holen. Ich halte das Erstere für so wichtig, wie das Zweite. Man sollte es nur verbinden. Man sollte nicht erst Gelehrte machen und sie dann in Kaufleute umformen. Mühe, Zeit und Lust gehen verloren. Der Knabe hat eine schnelle Phantasie. Er versetzt sich bald von der Tiber an den Orinoko. Man brauchte den Gelehrten vom Kaufmanne nicht so entschieden zu trennen, wenn man nämlich, wie bei uns noch immer geschieht, den Kaufmann noch immer erst die Hälfte Weges auf die Gelehrsamkeit losgehen läßt. Es kömmt Alles darauf an, die Periode des Unterrichts abzukürzen, ihre Ausdehnung zusammen zu drängen und in dem Augenblicke, wo plötzlich der Funke der Erleuchtung in den menschlichen Geist fällt, ihn einen fertig Unterrichteten seyn zu lassen. Erst in dem Momente Stoff erhalten, wo man lernt, Stoff beherrschen, heißt, um die entscheidendsten Momente seines Lebens betrogen werden. Man biete bis in das sechzehnte Jahr Unterricht massenweise und nur für das Gedächtniß; späterhin aber arbeite man nur auf Ordnung und Zusammenhang!

Ich greife die gothische Physiognomie unsrer Erziehung, wie sie überall auch auf dem Continente ist, 22 ungern an, weil ich fürchte, die weißgetünchte Flachheit unseres modernen Maschinen- und Dampfgeistes möchte ihre Stelle einnehmen. Ein Entschluß ist schwierig. Die Gelehrsamkeit der lateinischen Schule wird freilich immer mehr in das Extrem getrieben. Früher traktirte man den Horaz, das neue Testament und einige Dialogen des Plato; die Lehrer waren Theologen, welche, ehe sie ein Vicariat hatten, auf der Schule zurückließen, so viel sie wußten. Jetzt sind es eigens zugerichtete, sogenannte Philologen, die eine Menge von Subtilitäten in die Köpfe der Jugend einschmuggeln und ihnen statt von Pompeji’s Untergang zu erzählen und sie vor meinem Romane zu warnen, die ganze Geschichte der Pompejanischen Ausgrabungen hersagen und es versuchen, an etrurischen Nachtgeschirren den Sinn für die Antike zu wecken. Die Inschriften auf den Marmordiebstählen des Lord Elgin beschäftigen diese Herren mehr, als die klassische Literatur und deren Schönheiten. Ich habe mir diese Menschenklasse auf immer erzürnt, seitdem ich auf dem Kollegium um einen Pedanten zu verspotten, in das Lokalblatt einrücken ließ:

„Ergebenste Anfrage an die Herren Philologen!

„Ein junger Gentleman, der von seinen Eltern und Hof­-

„meistern eine dringende Vermahnung zum Anstande mit

„auf die Lebensbahn bekommen hat, wünscht sich dem

„Alterthume zu widmen und fordert alle Lehrer desselben

„auf, sich unter der Bedingung bei ihm zu melden, daß

23 sie ihm authentische Versicherungen sowohl über

„die Schnupftücher, wie über die Speinäpfe der Alten ge-

­ „ben können. Sollte derselbe Gentleman aber in Erfahrung

„bringen, daß die Alten ohne Weitres in’s Zimmer ge-­

„spuckt und in die Hand geschneuzt haben, so brächte

„denselben keine Bill des Parlaments dahin, ihnen irgend­

„wie eine ergebenste Berücksichtigung zu schenken. Das

„Nähere auf dem Bureau des Morning Herald von ***“.“

Ich wurde wegen dieses Inserats auf ein halb Jahr excludirt, eine Zeit, die ich so gut benutzte, daß ich die spätern Unter­richts­stunden nur für Gelegenheiten zum Schlaf ansah.

Ich kehre endlich zu Emil zurück. Emil soll kein Gelehrter werden, sondern in das Geschäft seines Vaters treten. Emil ist ein wunderliches Wesen geworden. Er hat auf der Schule auch seine Rede gemacht, ist nicht dumm und nicht gescheidt, aber er be­hauptet sich, wie einen sehr Eingeweihten. Das Beste aber und zugleich Eigenthümliche ist, daß Emil plötzlich an sich die Erzie­hung beginnt, welche die Eltern an ihm vernachlässigt haben. Sein Kopf wird von einem neuen Enthusiasmus der Abhärtung, Gleichgültigkeit und des männlichen Sinnes beherrscht. Er steht um fünf Uhr auf. Er kauft sich eine Weckeruhr, um die Zeit nicht zu verschlafen. Er liest Byron, Moore, Shelley, es wird licht in seinem Haupte; wenn man nachsieht, wird man an der 24 Stirn eine Flamme brennen sehen. Emil trinkt Milch, kei­nen Thee mehr. Er lernt schwimmen, er ficht sogar und schießt auf dem Schützenhofe alle Samstag sechs Pistolen ab (der Schuß kostet einen Schilling). Ueber seinem Bette wird man auch bald ein paar eigne Pistolen, kreuzweis gelegt, erblicken. Darüber zwei Stoßdegen und eine abgeschmackte Mütze, wie sie unsere Rheinreisenden als die Studentensymbole aus Heidelberg und Bonn mitbringen. Die Nacht hindurch liest der fürchterliche Emil Romane, er lernt Geschichte aus Walter Scott, Geographie aus Cooper. Dieser Enthusiasmus des Frühaufstehens, des Schwim­­mens und der Abhärtung dauert ein Jahr. Es ist die Zeit, wo Emil sich von der Schule den Weg in das Comtoir bahnen soll. Er wirft einen Blick in die große Welt, er sieht zugleich, daß die Ro­mantik mit der doppelten italienischen Buchhaltung zwar ein Vaterland, aber keine weitre Verwandtschaft hat, er wird das, was wir mehr oder weniger Alle sind, Commis. Einige Jahre vergehen in Zurückgezogenheit und Bescheidenheit. Der junge Mann hat ein schüchternes Wesen; man sieht ihm nicht mehr an, daß er früher für jede Pistole, die er abschießen konnte, einen Schilling zahlte. Emil macht die erste Reise zu einem Ge­schäftsfreunde seines Vaters. Seitdem wird er ein Mann seines Willens, seiner Kraft und, ohne welches Beides nicht möglich wäre, ein Mann seiner eignen Kasse.

Das Stutzern war im achtzehnten Jahrhundert nur 25 das Privilegium entweder des Standes oder der Narrheit. In unsrer Zeit ist es eine Bahn, die einmal von Jedem eingeschlagen wer­den muß. Es liegt in der Luft unsers Jahrhunderts, daß die jungen Leute insgesammt in einem gewissen Alter den Verstand verlieren und sich wie Wahnsinnige gebärden. Der Begriff des Fashionablen ist über die ganze Erde verbreitet, ruinirt eben so viel Gemüther, wie es deren kräftigt. Es ist eine Passage, die der Engländer macht, der den Stein der Weisen in seiner Weste sucht. Der Franzose, der ihn im Hut und der Cravatte findet, der Spanier, dem Alles auf die weiten Pantalons ankommt, der Deutsche, Russe und Italiener, die es dem Engländer, Franzosen und Spanier nachmachen. Dieß Stadium der modernen Bildung ist so eigenthümlich, daß es ein längeres Verweilen an dieser Stelle verdient.

Ich habe jedoch das Leben der englischen Stutzer zu oft geschildert, die französischen Incroyables sind zu bekannt, als daß ich nicht einen Ausweg vorziehen sollte, den mir ein Freund angeboten hat. Er lebte länger als zwölf Jahre in Deutschland, spricht deutsch und hat, ob er gleich die deutschen Sitten oft lächerlich macht, sich ihnen doch gänzlich anbequemt. Warum haben die Deutschen nie etwas in einer Manier geschrieben, fragt’ ich ihn, die von Franzosen und Engländern mit so vielem Glück cul­tivirt ist? Ich habe über deutsche Sitten weder etwas Des­criptives entdecken können, noch eine poetische Schöpfung, der sie mit einer guten Dosis romantischer 26 Wahrschein­lich­keit wären einverleibt gewesen. Schriften von Jean Paul hab’ ich zu le­sen versucht, aber so weit ich sie verstand, enthalten sie nur Be­schreibungen ganz abseits gelegener Zustände, Idyllen, die auf einer Straße liegen, wo die Post nicht durchfährt. Erklären Sie mir dieß!

Mein entengländerter Deutscher that dieß in einer sehr weit­läuftigen Weise, indem er vom Ei anfing. Dennoch bin ich ihm dafür verbunden, weil es mir jetzt die Mittel gibt, folgende Be­merkungen herzusetzen:

Wien und Berlin geben den Ton an. In diesen beiden Haupt­städten kann wirklich von einer systematischen Gewißheit und Nothwendigkeit in diesen Dingen die Rede seyn. Am Rhein, in den süddeutschen Residenzen herrscht ein gewisser Dilet­tan­tismus in dieser Rücksicht vor, eine Beliebigkeit, die sich nach Pariser und bei den untern Klassen allenfalls nach Frankfurter Traditionen richtet. Der junge Baron, der nach Paris reist, läßt sich dort auf einige Jahre seine Garderobe anfertigen; der junge Commis, der die Frankfurter Messe bezieht, versieht sich bei dortigen Modisten. Es gibt hier sehr viel Nüanzen, aber in der Hauptsache möchten sich doch die verschiedenen Terrains gleichkommen.

Ein junger Mann beginnt seine Civilisation zuerst mit der wichtigen Frage, wie er künftig seinen Hals bedecken soll. Er hatte früher seinen Hemdkragen über die Achseln gelegt. Plötz­lich sieht man ihn eines Tages mit einer ungeheuern Cra­vatte erscheinen, daß man über ihn laut auflachen 27 möchte. Das letztre würd’ ich jedoch Niemanden rathen, der nicht einiger durchbohrender Blicke gewärtig seyn will. An die Cravatte reihen sich gern kleine gesteifte Lappen, die durch ihre gefähr­lichen Spitzen sich den Namen der Parriciden zugezogen haben. Hiermit ist der Grund gelegt; höchstens, daß sogenannte Sprungriemen der aufgeschossenen Gestalt künftig ein glattes Ansehen geben, oder daß sie wohl gar die Länge ihrer Röcke beschneidet, um recht kurze, Jagdröcken ähnliche Taschenflügel über die Lenden schwirren zu haben. Der Hut von oben quetscht das rothe, wangige, blonde Haupt ebenso sehr zusammen, wie von unten die Cravatte, das Prinzip der Emanzipation, mit fischbeingemäßer Elasticität hinaufstrebt.

Wenn dieß bis jetzt noch keine Narrheit war, so pflegt sie regelmäßig in dem Momente einzutreten, wo sie sich mit einer gewissen Melancholie verbunden zeigt. Es ist nämlich die Frage des Bartes, die sich mit einer dringenden Nothwendigkeit gel­tend macht. Sie hängt an einem einzigen Haare, welches sich bereits auf der Oberlippe eingestellt hat, und welches plötzlich der jungen Phantasie einen ganzen Wald von im Nothfalle ge­färbten Täuschungen vorzaubert. Armer Junge! Ich versichre dich, dieses Haar ist nur die Frucht eines Leberfleckes, du wirst noch zehen Jahre brauchen, um einen Rothbart auf den Lippen zu haben! Allein der junge Mann, dem täglich das Blut höher in den Kopf steigt, glaubt nicht und blickt wie ein indischer Fakir stundenlang 28 auf seine aufgeworfene Oberlippe herab, auf welcher freilich ein Flaum, wie ihn auch Mädchen haben, nicht fehlt. In der Sonne sitzend, richtet er seinen Kopf immer so auf die Seite, daß er im Schatten, wo die kleinen Federn sich ver­größern, in der That einen Dragonerunteroffizier zu sitzen glaubt. Wir Engländer, die wir keine Bärte tragen, haben keinen Begriff von dieser stillen Tollheit, welcher sich in Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, Rußland, kurz auf dem ganzen Continente die jungen Leute hinzugeben pflegen. Sie lassen sich rasiren, um das Wachsthum zu befördern, ja es fehlt sogar an einer Leichtgläubigkeit nicht, die sich aufreden läßt, der Abgang der Tauben, frisch aufgelegt, beförderte den Haarwuchs. Mein Freund sagte mir, er hätte einen jungen Mann beobachten kön­nen, der sich Buxbaumholz siedend heiß abkochen ließ und mit der daraus erzeugten Lauge sich täglich Oberlippe und beide Wangen bepinselte!

Endlich aber ermüden entweder die fruchtlosen Anstren­gungen oder die ersehnte Zierde stellt sich wirklich ohne Ge­heimmittel ein. Das Nächste, dem sich der werdende Dandy auf dem Continente hingibt, sind jetzt die Kaffeehäuser bei den Feinern, die Tabakspfeifen bei den Gröberen. Ich unterlaß’ es, eine Schilderung der ungeheuren Schwierigkeiten zu machen, die beim Tabakrauchen überwunden werden müssen, und erin­ne­re nur, daß das achtzehnte Jahrhundert diese Mode nur bei Holländern und alten Philistern kannte. Sie ist 29 aber ganz übereinstimmend mit dem Charakter unsrer Zeit, mit der ruhigen Gleichgültigkeit, welche sich in einen selbstverfertigten Dampf einhüllt und von hier aus orakelt, zuweilen ausspeit, und seine wohlgeborne, übrigens unzielsetzliche Meinung abgibt. Frägt man aber die andre jugendliche Partei: Was thun Sie denn den ganzen Tag beim Zuckerbäcker? so wird der Befragte unfehlbar antworten: Ich lese nur die Journale. Das ist es. Jetzt beginnt jene Bildung, welche mitsprechen kann, die Bildung des The­aters, der Conzerte und der literarischen Hahnenkämpfe. Zuerst wird dieß Alles noch mit einer Art frommer Neugier betrachtet, dann ist man schon im Zusammenhange, man weiß, heute muß diese Kritik, morgen jene Antwort auf einen schaam­losen aber sehr belustigenden Angriff kommen; jetzt wird man bald in die Kolonnen jener tiefsinnigen Ge­schmacks­kenner treten, welche im Parterre das Glück oder Unglück eines ganzen Theaters wörtlich in ihren Händen haben. Der Cursus ist jetzt fertig. Emil, auf dem Continente geboren, kann jetzt in die große Welt ein­treten.

Und wie tritt er ein! Der Idealismus seiner früheren Gar­derobe ist verwischt. Er ist jetzt das Machwerk seines Schneiders. Nur für seine Handschuhe und die Westenzeuge, die er wählt, sorgt er selbst. Er ist noch nicht in das zweite Stadium zurück, wo sich der junge Mann in einen einzelnen Herrn verwan­delt, er sorgt noch nicht für comfortable Wohnung, Wachslichter und feine weiße Wäsche (dutzendweis). Er hat keine 30 ernst­lichen Liebschaften, wo er erwarten müßte, daß ihm eines Mor­gens ein Vater auf’s Zimmer rückte, um ernstliche Rück­spra­chen zu nehmen; sondern er richtet, mehr auf der Straße, als bei sich verkehrend, bis jetzt noch alle seine Aufmerksamkeit auf den ersten Eindruck, auf das Exterieur eines angenehmen in die Augen Fallens. Ich sehe mit Schrecken, daß Emil, der große Ge­schmackskenner, der mit zwei Feuilletonisten umgeht, ob sich gleich beide heftig befehden, Emil, der Freund des ersten Hel­den, der Anbeter der Soubretten­primadonna des Theaters sich ganz abgeschmackte Manieren angewöhnt. Ist es nicht, als nä­selte seine Stimme ein wenig? Hat noch ein Satz Zusam­men­hang mit dem andern? In der That, das hat Emil von den Eng­ländern angenommen. Jetzt macht sich Master Fop geltend. Jetzt werden die wahrscheinlich mit Stecknadeln befestigten Hand­manschetten über den Rockärmel zurückgeschlagen, so daß Emil aussieht, als wollt’ er jeden Augenblick einen Kapaunen tran­chiren. Die Hände ruhen sich wechselseitig in dem rechten oder linken Westenschlitze aus. Der Gang bekömmt etwas Unsichres, etwas um Hülfe Rufendes, eine Nelke im Knopfloche scheint in der That die Stelle eines Riechfläschchens zu ver­treten. Woher nur diese Gebärden? Es ist das jämmerliche Leib­schneiden der Langenweile, einer Zeit, die verloren ist bis zu der Stunde, wo sich Adelaide, die Sängerin, Fanny, die Tän­zerin, spre­chen läßt. Emil reitet täglich eine Stunde; aber er sitzt auf dem Hintertheile des Gaules, 31 zusammengeknickt, und läßt vorn die Zügel so tief schießen, daß man eine Don-Quixo­tiade zu sehen glaubt. Man nehme! Dieß ist alles Kunst, diese Ver­nachlässigung will ungemein genau studirt seyn, man muß, dieß ist die große Aufgabe! sich selbst ennü­iyren, ohne für Andre ennüiyant zu seyn. Alle Leiden­schaf­ten müssen gezügelt seyn, man muß schon Alles erfahren haben, man muß sogar auf Ge­nüsse resigniren, wenn auch hier Master Fop, der durch seine Abgeschmacktheit nur lächerlich wird, sich schon in einen fran­zösischen Blasé verwandelt, d. h. in einen Charakter, der für die Moral der Gesellschaft etwas Gefährliches hat.

Mein armer Emil! Die Mode wird dir alle Kraft aus den Sehnen saugen. Du kennst Sophokles, Horaz, Shakespeare, Göthe und welche jämmerlichen Scharteken liest du? Du liest Paul de Kock, um zu wissen, welche Wirkungen er auf die Phantasie der kleinen Grisette, der du nachstellst und einstweilen nur Bücher leihst, hervorbringen wird und wo du sie wirst anfassen können! Du bist Abonnent mehrer Morgenblätter, welche von deinen Freunden redigirt werden, und deren Witz dich vergessen lassen soll, daß sie auf deines, des Mäcenas, laufende Rechnung an hun­dert Orten laufende Schulden haben! Emil greift einige Fragen des Tages auf, er beschäftigt sich mit einigen gelehrten oder ungelehrten Streitigkeiten, welche gerade an der Tages­ordnung sind, er macht sogar Gedichte oder schreibt zuweilen an die Zeitungen Briefe, die dann unterzeich­net 32 sind: Ein Abonnent; ein Mann ohne Vorurtheile: ein Quidam, Utis, Nemo, Alethophilos und ähnliche Bezeichnungen mehr, die ihm und seinen Freunden dann immer sehr witzig erscheinen.

Endlich aber rückt auch die Zeit heran, wo entschieden wer­den muß, ob Emil unter den Hagestolzen oder den Ehemännern hinfort dienen wird. In diese beiden Lager, welche beinahe eine gleiche Anzahl enthalten möchten, theilen sich die Männer unsrer Zeit. Der freiwillige Cölibat scheint den gezwun­genen zu verdrängen. Die römischen Geistlichen haben die Aus­sicht, bald jene Frauen heirathen zu dürfen, welche die Cöliba­taire verschmähen. Diese Herren heirathen nicht mehr, wie ein gro­ßer Theil der Männer auch schon aufgehört hat, zu tanzen. Auf den Bällen bilden die Heirathsfähigen eine große Chaine rings um den Saal herum, und beobachten die unglück­lichen Mäd­chen, welche verurtheilt sind durch die Prüderie der Männer, nur noch mit jungen Menschen von neunzehn Jahren zu tanzen, die gewöhnlich die Brüder ihrer Freundinnen sind und vorher schon engagirt wurden, mit jungen Menschen, die in zehn Jah­ren erst an das Heirathen denken dürfen, wenn sie überhaupt jemals daran denken. Ich tanze nicht, ich bin zu alt; ein kin­disches Vergnügen! So urtheilen die, welche den Kreis rings­her­um bilden und ihren Witz erschöpfen, um diejenigen, wel­che noch unbefangen genug sind, um sich an der alten Tradi­tion der Françaisen, Cotillons und der neuen Erfindung der Walzer und 33 Gallopaden zu ergötzen, zu mustern und zu kri­tisiren. Es ist unausstehlich! sagen die Tänzerinnen und rei­ßen die noch unreifen Jünglinge, die erst kürzlich die Lektionen des Tanzmeisters verlassen haben, mit sich hin und her, rechts und links, wie es die Touren vorschreiben.

Es geht durch die Sitten unsres Jahrhunderts ein merkwürdig prüder Zug, der von den Frauen auf die Männer übergegangen ist. Diese Erscheinung ist so auffallend, daß man sich wohl er­klä­ren kann, wie närrische aber wohlmeinende Philosophen auf­standen und die Frauen, wie sie sagten, emanzipiren wollten. Diese Herren hätten bedenken sollen, daß die Reformation mit ihnen beginnen mußte, daß die Frauen sich verändert genug vorkommen würden, wenn die Männer nur dahin gebracht wer­den könnten, ihr Benehmen zu ändern. Es ist die Täuschung des Fahrenden, daß er glaubt, die Bäume der Landstraße flögen an ihm vorüber. Ebenso in dieser Rücksicht. Die Prüderie der Män­ner scheint ein Erbübel unsrer Tage werden zu wollen. Woher kömmt sie? Was bezweckt sie?

Wir glauben, daß sich hier ebenso viel moralische, wie ma­terielle Veranlassungen darbieten. Der Ernst unsrer Zeit theilt sich den Männern, die für die Zeit berufen sind, mit. Der Krieg kann nicht mürrischer stimmen, als ein Friede, der eine Menge Interessen, die Geist und Leib berühren, unaufhörlich in Frage und hitzige Abrede stellt. Im Kriege, in den finstersten 34 Zeiten, wo die Guillotine herrschte, wo Napoleon siegte, konn­te man durch die Ereignisse nicht so mißgestimmt werden, wie es jetzt die Männer sind. Denn damals war es das Schicksal, an welches man sich leicht gewöhnte, man sahe Begebenheiten, die vom Zufall oder individueller Energie herrührten, während man jetzt nur Personen als die Faktoren der Dinge beobachten kann, nur partikuläre Interessen und verblendete Ansichten. Die Hand an einen Säbel zu haben, der fest genietet ist, erzürnt heftiger, als ihn über das Haupt seines Gegners zu schwingen. So werden die Männer jetzt in einer fortwährenden Gallen­erregung erhalten, das öffentliche Leben absorbirt sie, und ohne Feuer, ohne Humor sinken sie in die Arme ihrer Weiber, die unter diesen Umständen, wenn sie brav sind, monotone Hausmütter werden, wenn sie aber Temperament haben, sich in jene Situationen werfen, welche von der neuern französischen Romantik so neu, soll man sagen, erfunden oder kopirt wer­den?

Die Männer ihrerseits bleiben auch bei der Erschöpfung nicht einmal stehen. Sondern, was bei ihnen nur eine Folge der Umstände ist, das nimmt sogar die primitive Farbe der Ueber­zeugung an. Aus der Erschöpfung, aus dem Momente, wird eine stationäre Leidenschaft, eine negative Leidenschaft, die Indo­lenz. Es bilden sich Begriffe unter den Männern, welche man wohl bis in ihren natürlichen Ursprung verfolgen kann, welche aber das Unnatürlichste sind, was sich voraussetzen läßt. 35 Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegi­timer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jung­fräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Indolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blasés erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blasés, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Ich habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten.

Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürf­nissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Con­kurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agra­risches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte. 36 Die Reichthümer sind weit ungewisser geworden, als sie es früher waren. Der kleine Zinsfuß, die Verführungen des Staats­papier­handels lockten das Geld aus den verschlossenen eisernen Tru­hen und setzten es in Umlauf, wo es seinen Ertrag auch Denen abwerfen muß, die den Umlauf, ich will nicht einmal sagen, befördern, sondern sogar Denen, welche sich überwinden, ihn nicht zu verhindern. Bei diesem allgemeinen Aechzen und Keuchen nach Besitzthum theilte sich die Besorgniß sogar Denen mit, welche reichlich daran gesegnet sind. Ein Reicher ist nicht mehr so sicher, wie er es ehemals war, er hat die alte Ruhe nicht mehr; ihn scheucht dieß laute Toben auf, so daß er glaubt, mit Hand anlegen zu müssen und dasjenige erst zu erwerben, was er schon besitzt. Und siehe, sein Reichthum mehrt sich. Denn es ist eine nicht minder erwiesene aber nicht minder betrübende Thatsache unsrer Zeit, daß nur diejenigen bekom­men, welche haben, und denen genommen wird, welche nichts haben. Man gewinnt nichts mehr ohne Einsatz. Ein Geschäft muß „hineinstecken“ können, wenn Etwas dabei „heraus­kom­men“ soll. Was ist Credit? Credit, der nur auf den ehrlichen Namen ausgestellt wird? Die ehrlichsten Leute haben fallirt. Credit muß Abglanz des bereits Vorhandenen seyn, Schatten einer Sonne, die baar und blank versilbert nachgewiesen werden kann. Kurz nur der Vermögende erwirbt; und ist das Vermögen kein Geld, so ist es ein Leben! Verkaufe deine Seele, setze dich selbst zum Pfand! Darbe, entziehe dir deine Lieblings-37ver­gnügen, bewohne ein Zimmer, richte dich ein, knapp, mit eigner Menage, halte dir eine Magd, eine Magd „für Alles“, kurz, wer­de Cölibatär, ein Hagestolz, dasjenige, was der Storch, der ewig einsam lebt, unter den Vögeln zu seyn scheint! Wer keinen baaren Einsatz machen kann, um zu erwerben, setzt seine Zu­kunft ein, die Resignation auf das stille Glück der Häus­lichkeit.

Es gibt auch schwankende Charaktere in unsrer Zeit, die zwar die Mittel, aber den Muth nicht haben, oder von beiden Erfordernissen nur eine kleine Quantität. Diese ungewissen Menschen zu beobachten, erregt Lachen und Mitleiden zugleich. Sie sind unausgesetzt auf der Freite, wie Lord Bubbleton. Dieser edle Herr besitzt nur ein geringes Vermögen; doch würd’ es, wenn er noch eine Richterstelle annähme, hinreichend seyn, ihn, seine Frau, vielleicht auch zwei Kinder, wo aber kaum für eines Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, zu ernähren. Zuweilen glaubt er dieß, zuweilen zweifelt er daran. Sie werden heirathen, My­lord? fragt’ ich ihn. Niemals; antwortete er entschieden. Auch Miß Eliza nicht? Wer ist Miß Eliza? Hier mußte man ihn sehen. Die kahle Platte des Kopfes überzog sich plötzlich mit einem üppigen Haarwuchs. Die zusammengeschrumpfte Gestalt glät­tete sich auf. Ein sanftes Roth flog über die trocknen Wangen. Er zog in lebhafter Unruhe seine Handschuhe aus und an, und zupfte so lange an seinen Manschetten, bis ich ihn erinnern mußte, daß sein Hemde zum Vorschein käme. Lord Bubbleton hatte eine 38 neue Hoffnungblase. Ich sprach Vielerlei von Miß Eliza; aber gleichsam als käme ihm jede recht, er hörte nicht darauf, sondern schien in ein tiefes mit Zahlen be­schäf­tigtes Nachdenken versunken. Er rechnete an den Fingern und hielt, um sich die einzelnen Posten zu merken, einen Rockknopf nach dem andern fest, so daß er die Hunderte nicht verwech­selte. Endlich warf er seinen Kopf auf und rief mit einem Lächeln, was an Verklärtheit grenzte: Yes, Sir! Er hatte sich überzeugt, daß er es wagen durfte. Er schlüpfte unter meinen Arm und zog mich fort, ihn mit Miß Eliza bekannt zu machen. Ich that es, weil ich die Wünsche dieser Dame hinlänglich kannte. Sie sahen sich öfters, Miß Eliza hatte ein kleines Ver­mögen, Lord Bubbleton rechnete, die Seifenblase zerplatzte und er war so resignirt, wie früher.

Als ich ihn sahe, war ich erzürnt und machte ihm empfind­liche Vorwürfe. Er sah aus, wie das Leiden Christi. Ich mußte Theilnahme für ihn empfinden. Ich glaube sogar, er weinte, als er mir die Berechnung machte, daß Miß Eliza ein Vermögen von 1000 Pfund besäße. Desto besser, sagt’ ich. Sie haben gut reden, fiel er ein; wer 1000 Pfund mitbringt, verlangt einen Aufwand für eine Summe, wovon diese 1000 Pfund nur die Zinsen sind. Ich übertreibe, verbesserte er sich, als ich die Augen aufriß; allein das werden Sie mir nicht streitig machen, daß eine Frau ihre Mitgift immer um die Hälfte höher anschlägt, und 39 immer von ihrem Eingebrachten 10 % Nadelgelder haben will. Miß Eliza ist ein himmlisches Geschöpf; aber sie hat eine Mutter, eine Tante, eine Großtante, eine Schwägerin ihres verstorbenen Bruders, der wieder von Seiten seiner verstorbenen Frau eine Nichte mütterlicher Seits in die Familie gebracht hat, kurz, was sie nicht weiß, wissen diese: und – es geht nicht, ich kann nicht, ich darf nicht, ich habe mich übrigens auch mit meiner eignen Kasse verrechnet. Er zuckt die Achsel und schleicht davon.

Lord Bubbleton ist ein ewiger Bräutigam. Wen er sieht, den will er heirathen. Er hat seine Emissäre, seine weiblichen Spio­ne, alte Kuppler jagen ihn des Morgens aus dem Bette und erregen seine Phantasie, die nie ermüdet. Mit dem Pupillen­collegium gibt es fortwährende Relationen: in den Magistrats­büchern auf Manshion-House wird nachgeschlagen, wie viel diese oder jene Partie besitzt, in den Kirchenbüchern, wie alt sie ist. Er ist in allen Winkeln zu sehen, wo sich mehr Damen als Herren befinden und dem Gespräche das Uebergewicht auf die weibliche Seite hingeben, indem die Unterhaltung dann die Damen zu Registern der Stadtchronik macht, aus denen er sich notirt, was er wissen will. Bei kleinen verabredeten Café’s erscheint er oft als zufälliger und unver­hoffter Besuch; aber alle, die sich hier treffen, treffen sich mit Voraussetzung. Es gilt eine Bekanntschaft, eine wechsel­seitige Musterung, es wird viel Zartes und Empfind­sames 40 zur Schau getragen. Bubbleton ist außer sich vor Uebereinstimmung und wenn er nach Hause kömmt, schlägt er sich vor den Kopf und wälzt sich im Bett herum, stöhnend: Es ist nicht möglich, es geht nicht, ich kann es nicht ausführlich machen. Ich hab’s nicht, Gott verdamm mich!

Lord Bubbleton hat alle Tage eine unglückliche Liebe und alle Tage eine neue, die ihn trösten kann. Es ist eigen, einen Mann zu beobachten, der in einer ewigen Ungewißheit zwi­schen Schmerz und Freude lebt, der in dem Momente eine Thräne zerdrücken möchte, wo schon wieder ein Hoffnungs­strahl aus seinen Augen blitzt. Er verbindet Abälard und Love­lace, er ist in einer fortwährenden Entsagung be­griffen und kostet dabei doch überall herum. Er gleicht einem Pfarrer, den ich kenne, welcher für das elegante Sonntags­publikum predigt, seine Augen mit allem Schmelz der Verklärung gen Himmel werfen kann, und der doch immer das Stechende, Forschende, seine Zuhörer Zählende in ihnen prädominiren läßt. Man weiß nicht, soll man sagen: da kömmt ein sehr unglücklicher Mann, oder: da ist so eben ein sehr frivoler Mensch um die Ecke ge­gangen!

Lord Bubbletons Liebschaften näher zu betrachten, erregt Mitleiden für den Gegenstand, welchen er sich ausgewählt hat. Das ist zuerst ein Flüstern und Wispern, ein Handdrücken und Einrichtungentreffen; die Mutter beschleunigte das wechsel­seitige Geständniß, sie hat Alles Interesse, auch die Verbindung zu beeilen. 41 Es wird gekauft, gemiethet, es fehlen nur noch die Ansätze für den Verlobungs- und Hochzeitstag. Man bera­thet sich darüber, Bubbleton wird bleich, rückt mit dem Stuhl, geht in Zerstreuung fort, kommt den folgenden Tag wieder und sagt, er hätte sich nur seine vergessenen Handschuhe holen wollen. Miß erschrickt, Bubbleton hält nicht mehr Wort, endlich kömmt ein Brief, und die Seifenblase ist zerplatzt. Stürben diese gewöhnlich schon 28jährigen Damen alle, so wie sie es zuerst nicht anders thun zu können vermeinen, so wäre durch Lord Bubbleton schon ein ganzer Kirchhof bevölkert, und man müßte diesem raffinirten Mörder eigner Art einen Prozeß und wo möglich auch einen Strick an den Hals werfen.

Genug von ihm! Er ist jetzt in die Vierzig getreten. Er wird so lange wählen, bis sich ihm keine Auswahl mehr darbieten wird. Kehren wir zu den Männern zurück, welche den Einsatz wagen und durch ihre Versuche, etwas für die Vermehrung der Bevölkerung zu thun, dem Zwecke der Geschichte sich zu nähern suchen! Aber für sie selbst ist die Ehe eine unerhebliche Um­wandlung. Ihre Geschäfte laufen darüber so fort, wie sie ange­fangen haben. Werthvoller ist es, an dieser Stelle einige Pinsel­striche an dem Bilde einer Dame unsres Jahrhunderts zu wagen, wenn sich auch ergeben sollte, daß plötzlich in unsern Sitten die Tendenz ausgebrochen scheint, die Existenz des Weibes der des vergangenen Jahrhunderts näher zu bringen. Es ist 42 zwei­felhaft, ob wir auf die Schönpflästerchen wieder zurückkom­men, aber vermuthen möchte man es, wenn man sieht, wie die Kleider der Frauen, wenn auch noch nicht den altfränkischen Zu­schnitt, doch allmählich schon wieder die altfränkischen Desseins bekom­men. Jene großen Blumen im weißen Felde, welche die Klei­dermuster des achtzehnten Jahrhunderts waren, und die sich nur auf Bettüberzügen erhalten hatten, kehren auf die Kleider wieder zurück. Die langen Taillen sind Annäherungen an die alte Zeit, die weiten Aermel ebenfalls, kurz es ist hier dieselbe Erscheinung ersichtlich, welche sich auch in den Formen der zur Bequem­lichkeit dienenden Gegenstände wahrnehmen läßt. Das Ameu­blement bekömmt jenen breiten, kolossalen Charakter wie­der, den die Stühle und Schränke des vorigen Jahrhunderts hatten. Das Tafelservice wird durchaus wieder altfränkisch; denn nach­dem es die Oekonomie lange mit Wedgeworth, Gesundheits­fayence und ähnlichen Surrogaten versucht hat, ist man wieder darauf zurück­gekommen, tiefe, bemalte Teller mit breiten Rän­dern, Suppen­terrinen mit Henkeln, Compottbehälter in viereckter Form, und dieß Alles aus feinstem Porzellan, für das Geschmack­vollste und Modernste zu halten.

Doch was sprechen wir von Tellern und Suppenterrinen, wo wir von unsern Weibern reden wollen!

Ein Mädchen unsrer Tage hat ohne Zweifel mehr Wissen­schafts­stoff, als ehemals. Im vorigen Jahrhundert ersetzte die Kenntniß der französischen Sprache alles Uebrige, 43 das heißt, die Frauen besaßen ein Mittel, sich immer für geistreich und gelehrt genug hinzustellen, da die französische Sprache, von einem Fremden gesprochen, bekanntlich auch der Abgeschmackt­heit selbst den Firniß des Genies gibt; eine absolute Uebung dieser Sprache, eine Uebung, die in der Illusion leben könnte, als wäre das Französische die Muttersprache selbst, wird doch nie­mals erreicht. Das Parliren ist und bleibt eine Gedächt­niß­sache, bei welcher die unleugbare, wenn auch noch so hinreichen­de Anstrengung in Betreff der Form das immer ersetzt, was man in der Muttersprache aus seinem eignen Kopfe an Inhalt hinzu­thun müßte. Diese Kenntniß versiegte, wie man einen Fluß abschützt und dann auf dem Boden untersuchen kann, was da verloren ist. Man sah, daß nicht viel da lag, daß man sehr viel andre Gegen­stände brauchte, um so viel Zeit mit Sprechen auszufüllen, als man früher ausfüllte, nur indem man französisch, d. h. ohne Inhalt sprach. Man besann sich nicht lange, sondern ließ für ein und dasselbe Geld die Mädchen am Unterrichte der Knaben Theil nehmen; denn wie anders kann man es erklären, daß sich die Bil­dung des Mädchens derselben Einflüsse und derselben Behand­lung gewärtigen mußte, welche die Bildung der Knaben erfor­derte? Die Mädchen haben auch bald die Männer überflügelt. Es stehen in einem Jahre jetzt mehr Schrift­stellerinnen auf, als deren das ganze Alterthum zählt, und nur bei den Griechen zählt; denn auffallend genug, bei den Römern gab es nie weibliche 44 Schrift­steller! Wir haben Schriftstellerinnen, wie Sappho und Erinna, die den Mond besingen, aber auch solche, die über Natio­nal­ökonomie schreiben. Die Manie der Autorschaft ist unter den Frauen so verbreitet, daß ich, wo ich ein unliebenswürdiges Frau­enzimmer sehe, immer bereit bin, sie für eine Schriftstellerin zu halten.

Es ist auffallend, daß die Frauen im ledigen Stande eine Sucht haben, sich zu vereinigen, um geschlossene Ketten zu bilden, dann aber als verheirathete Frauen sie wieder auflösen und lange Zeit mehre Kindbetten erst abwarten, ehe sie wieder auf den alten Trieb zurückkommen. Das Gefühl der Liebe ent­springt bei den meisten weiblichen Naturen nicht aus dem stillen Nachdenken über die Geheimnisse der Paarung, sondern aus einer magnetischen Gewöhnung an andre Individuen, die sie für besser und schöner, als sich selbst halten. Gewöhnlich geht der Liebe zum Manne eine oft grenzenlose Liebe zum Weibe vor­aus. Junge Mädchen verlieben sich in ältre, eine Erscheinung, die sich freilich auch bei den Knaben findet: wie ich mir denn bewußt bin, einst als Knabe zu einem meiner Kameraden, der mir jetzt ganz fatal ist, die heißeste Leidenschaft getragen zu haben. Wenn ich mit ihm zusammen arbeitete, so war mir dieß ein Festtag und die Krone desselben, wenn ich seinen fleischi­gen Arm überraschen und einen Kuß, der aber mehr Biß als Kuß war, darauf drücken konnte. Ich erinnere mich aus dem Colleg einer Knabenliebe, die etwas Bedenkliches für die Lehrer, die sie sahen und 45 duldeten, hätte haben sollen. Um einen Ka­me­raden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Ideals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn ge­schlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freund­liches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah’ ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Ich bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen.

Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da mora­lische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein verge­bens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Im Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie 46 allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen.

Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Ge­schlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher ste­hen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den er­stern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Ge­schlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe viel­leicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Ver­gleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Ver­pflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser 47 oder jener männlichen Personnage gelingen konnte, ein Weib zu bekommen. Der Grund lag darin, daß sie so glücklich war, einem Mädchen, das zum ersten Male einen Mann betrachtete, gerade in diesem Momente zu be­gegnen. Schont man die Verle­genheit des armen Kindes, so hat man sein Herz gewonnen. Welch’ ein Unterschied gegen die Liebe des Calculs, die gerade dadurch angefacht wird, daß man sie verletzt!

Die besten Hausfrauen werden durch die erste Liebesgattung, welches man statt der moralischen die eigentlich physische Liebe nennen sollte, erzogen. Aber ebenso auch ergeben sich die un­glücklichsten Ehen aus ihr. Ein Wesen, das gleichgültig von ih­rer Puppe zur Freundin, von dieser zum Geliebten übergeht und dabei auch recht gern die Wärme haben kann, welche die Ah­nung des Rechten und die Seligkeit des Besitzes erzeugt, wird leicht die Liebe als etwas Natürliches betrachten, da man sich fortdauernd doch nur auf übernatürliche, mehr himmlische als irdische Weise lieben kann. So einfach der Ursprung des Verhält­nisses war, so einfach wird auch der Maßstab, den das Weib an sich zu legen duldet, da doch alle Welt bezeugen wird, daß nichts so complicirt ist, ja in der That nichts so schwer, als sich ohne Wankelmuth ausdauernd zu lieben. Den Mann be­glückt der Ge­dan­ke, daß er in den Gegenständen seiner Liebe eine Revolution anstiftet, daß für sein Weib ein neues Leben beginne, und es sich oft besinnen wird: ist es ein Traum, oder ist es denn Wahrheit? Dieß Gefühl kömmt 48 schwerlich in Gemü­thern auf, die die Liebe als eine angenehme Fortsetzung ihrer Kindheit nehmen, die sich trotz ihrer Jugend höchst ge­wandt in ihr neues Haus instal­liren und fast immer hartnäckig und trotzig darauf sind, daß sie den Mann wählten und dann gern mit der Redensart zur Hand sind: Wenn dir meine einfache Liebe nicht genügt, so – Diese Ehen enden entweder damit, daß sie zwei unglückliche Menschen machen, falls im Manne ein eigner Sinn und vielleicht selbst Eigensinn wohnt, oder zwei Eheleute, die sich dulden und recht gut sind, ob sie gleich den ganzen Tag im Haus herumschlorren und immer zu brummen und zu zanken haben.

Das zweite Bindemittel der Herzen haben wir Calcul und Berechnung genannt, hätten es aber auch eben so gut freie Wahl und die Vernunft in der Leidenschaft nennen können. Der Unter­schied ist nur der, daß man eine Zeit lang gewartet hat, daß man älter geworden ist, als die, die sich unter der ersten Rubrik schon verheirathet haben. Es ist ein großes Unglück für die Frau, auf einen Mann zu warten, aber ein ansehnlicher Gewinn für den Mann, den sie endlich wählt. Wenn man das nur vollkommen genießt, wonach man eine Sehnsucht empfunden hat, so kann auch die Liebe erst den beseligen, der sich auf sie vorbereitete, und der ihr schon resigniren wollte, als er eben plötzlich am Ziele ankömmt. Die zweite Liebe ist sogar der ersten vorzu­ziehen; schon weil man die Fehler vermeiden kann, die 49 die erste aufgelöst haben. Es wird mir immer willkommner seyn, wenn mir meine Geliebte sagt, daß sie mich gewählt habe, als wenn sie sagte, daß ich ihr vom Himmel beschieden bin! Bin ich das letztre, so stehen wir unter dem Gesetze einer Noth­wen­digkeit, die, wenn wir sie zur Freiheit erheben wollen, immer mit einem Zanke endet. Bin ich das erstre, so verband uns ein freier Akt, der, zur Nothwendigkeit erhoben, eine Quelle der reinsten Beseligungen ist. Wir verschweigen nicht, daß die Aus­artungen dieser Kategorie die Prüden, die Sentimentalen, die Magnetischen, die Gefallsüchtigen und zuletzt die alten Jungfern sind.

Die Ehen unsres Jahrhunderts sind weit mehr compromittirt, als die des vergangenen. Ehemals waren die Verhältnisse, wel­che die Grundlage der Ehe bilden, weit geordneter, als jetzt. Das ganze familiäre Leben klang harmonischer zusammen. Bei uns sind durch die Zeiten tiefe Risse in die Familien gekommen, die Familien bilden keinen einigen Gesammtkörper mehr, son­dern stehen sich mit ihren Interessen und oft sehr schwierigen Auf­gaben kalt gegenüber. Das politische Leben hat eine Menge Laufgräben durch die bürgerliche Existenz gezogen, weniger, um sie zu vertheidigen und zu befestigen, als sie in eine Art von Belagerungszustand zu versetzen. Die Geschichte macht jetzt an die Männer beinahe dieselben Ansprüche, wie die Familie, und es ist dadurch ein nicht unwesentlicher Hebel des neuern Romans jener Zwiespalt geworden, mit welchem sich die Interessen der 50 Welt und des Herzens gegenüber stehen. Recht bürgerlich und platt-patriotisch ist dieß neue Prinzip, das Prinzip der Na­tionalgarde. So kann man meistens dieses Halbpart! bezeichnen, welches bei ihrem Manne das Leben dem Weibe zuruft! Wir wollen den höhern Offenbarungen dieses Leidens nicht nachspüren; denn in ihrer Höhe haben sie sich zu allen Zeiten wiederholt. Aber dieser Zwiespalt eines Nationalgar­di­sten, der aus seinem Ehebette springen muß, um in baum­wollner Nachtmütze das Feuer einer Revolution zu löschen, dieses Mal­heur ist das des Jahrhunderts und greift tief in unsre modernen Sitten und Anschauungen, selbst in Betreff des Fami­lienlebens ein.

Die Frauen unsrer Zeit befinden sich in einem zweideutigen Zustande. Sie scheinen einer transitorischen Krisis unterworfen, einem Zustande, der nur auf einstweilen halten wird. Die Frau­en, isolirt, von den Männern vernachlässigt, haben sich zu­vör­derst entschlossen, es den Männern nachzuthun. Sie er­lernten die Wissenschaften, sie eignen sich auch die physische Kraft der Männer an. Sie baden sich im offnen Strome, sie schwimmen; ja, man sieht sie sogar mit Schlittschuhen über gefrorne Teiche fliegen. England hat davon noch keine Ahnung. Aber unsre Frau­en zählen hier auch nicht mit. Sie haben eine ganz eigen­thümliche, von Gott nur für sie bestimmte Com­plexion. Ich gön­ne ihnen den Stolz, den sie über ihre Beschrän­kung empfinden, und gestehe gern zu, daß man eine eigne 51 Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten.

Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Ich meine jene gei­stige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen uns­rer Tage charakterisirt. Im Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Emp­fin­dungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige päda­gogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hin­arbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu culti­viren. Indem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmit­telbaren Dran­ge der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hin­zugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann, 52 den Moment zu ertragen. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude ver­ursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu ent­fliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hau­ses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Im Schmer­ze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld.

Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder heraus­kommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all’ ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahr­hunderts den philosophischen Zweifel dem vorange­gangenen 53 überlassen hätten und sich mit andern Negatio­nen beschäf­tigten. Ob sich diese Erscheinung schon in den Sit­ten nach­weisen läßt, möcht’ ich nach einigen Beispielen noch nicht be­haupten. Es sind auch diese Beispiele mehr aus dem fran­zö­sischen neuen Romane, als aus der Erfahrung hergenom­men. Wenn Madame Düdevant in ihren Poesien Recht hat, so ist es nur so weit, als Lelia Georg Sand selber ist.

Machen wir, indem wir jetzt zu den Männern zurückkehren, den Schluß dieser Skizze damit, daß wir noch einige Fragen der Natur, der Moral und der Politik mit individueller Rücksicht zu beantworten suchen.

Wir wollen im Verlaufe dieses Werkes die Höhen unsres Jahrhunderts erstürmen. Welche Truppen können wir gegen die Verschanzungen anführen? Welche Gestalten schließen sich un­s­rer bald beginnenden Expedition an?

Der jetzige Sultan wird besonders deßhalb von den Türken gehaßt, weil er den Ruf ihrer männlichen Schönheit vernichtet hat. Indem er den europäischen Kleiderzuschnitt bei der Armee einführte und die weiten Gewänder und Beinkleider abschaffte, stellte er plötzlich aller Welt die krummen aus- und einwärts gebogenen Beine dar, welche sich bei den Türken durch ihre sit­zende Lebensart traditionell gemacht hatten. Dasselbe erlebte Europa, als es die Kleidertracht des achtzehnten Jahrhunderts abwarf. In den weiten, bauschigen Gewändern der alten Mode hatte sich Alles das verbergen 54 können, was jetzt verlassen, knapp, bekleidet und jeder Kritik unterworfen dastand. Die zusammengeschrumpften Gliedmaßen mußten sich strecken, dem Körper mußte eine vorzügliche Pflege zugewandt werden. Seit­her werden wir finden, daß die Leiber unsrer Zeit so ziemlich schlicht und pappelhaft gewachsen sind. Doch gestehen wir es nur, wir sehen Alle ziemlich blaß aus und haben Reißen hier und da. Der Wuchs ist schlank und stolz; doch fehlt es an Uebeln nicht, die in der alten Zeit weniger allgemein waren.

Es gibt zwei Siechthümer: eines der Armen und eines der Reichen. Das letztre fand zu allen Zeiten Statt und steigerte sich nur in einer gewissen Beziehung, für die ich keinen Namen, sondern nur ein Beispiel habe. In großen Städten, besonders solchen, die eine eigne Separatverfassung haben, findet sich eine immer mehr gesteigerte Tendenz zum Krüppelhaften. Dieß ist nicht die Folge des Wohllebens, sondern eine physiologische Folge, die sich aus einer kümmerlichen Moral ergibt. Die Heirathen pflegen dort nämlich überzwerg aus einer Familie in die andre überzugehen, selten mit recht heißer Liebe, fast immer nach längst vorangegangener Bekanntschaft, die das Ueble für Liebende hat, daß es ihren Produktionen das kräftige Inkarnat der Neuheit nimmt. Ihre charakteristischen Züge haben sich durch langes Sehen und Beisammenleben ausgewischt. So hat selbst das Kind eines solchen Verhältnisses einen Zug, der es sogleich der Familie 55 einverleibt und ihm von vornherein schon einen Typus gibt, der immer nach der Schlafmütze der Großältern zu greifen scheint. Die Heirathen in der Verwandtschaft vernichten alle freie Ausbildung der Individualität; die Natur hat nicht Freiheit mehr und Raum, sich schöpferisch und originell zu bewähren. So kömmt es, daß z. B. in der reichen Stadt Hamburg so wenig körperliche Schönheit unter den Gebildeten zu finden ist, und daß man sie unter den Elementen suchen muß, welche vom Lande in die Stadt kommen, um dort entweder ihre Milch oder ihre Unschuld zu verkaufen. Die Aristokratie der Geburt ist zuletzt diejenige, welche Krüppel erzeugen würde. Dieß ahnte die englische Gentry und hat von jeher, nach Heinrichs VIII. verwünschtem aber originellem Beispiele sich immer aus den untern Volksklassen in ihrem stockigen Blute wieder auffrischen lassen.

Allein die niedern Stände sind selbst von der Gefahr bedroht, die Consistenz ihres Gesundheitszustandes immer mehr zu verlieren. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie in Fabrikstädten die meisten Arbeiter schlank und schön gewachsen sind, und wie sie doch von der Arbeit und den mannigfachen technologischen und Fabrikationseinflüssen, die in der Einsaugung giftiger Stoffe be­ste­hen, ein sieches und mattes Ansehen haben. Die Kartoffel hat sich zu diesem Verderben hinzugesellt. Denn, indem sie das einzige ist, was diese Menschen erhält, ist sie auch dasjenige, was sie tödtet. Man weiß, wie viel 56 Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus’sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Ideen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten.

Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen 57 Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht.

Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Interessen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann. 58 Wir würden uns höher erheben, wenn wir nicht von so tief unten her anfangen müßten. Ich vertheidige den Egoismus der Zeit nicht; ich such’ ihm nur eine günstigere Beurtheilung zuzuwenden.

In Epiktets Moral finden sich zwei Gedankenreihen, die zwar in dem Systeme der stoischen Schule nur eine seyn sollten. Die Ruhe des Weisen ist unleugbar eine Mischung aus Stolz und Gleichgültigkeit. Wir sind eben so unleugbar trotz aller phi­lo­sophischer Moralsysteme, die in unsrer Zeit aufgestellt wur­den, doch im Allgemeinen, in der großen Praxis der Masse und der vorzüglicheren Individuen, die sie bestimmen, weit mehr dem Stoicismus, als selbst dem Christenthume hingegeben. Das Christenthum erleidet keine schlagende Anwendung auf die Geschichte. Es belohnt den Menschen nicht für seine Resignation; denn ist Demuth, welche das Ende all unsres Strebens seyn soll, nicht eine neue Aufopferung? Der Stoicismus lohnt aber; denn der Stolz, auf welchen er hinstrebt, ist Ersatz genug für die Gleichgültigkeit gegen alle Dinge, deren der Weise sich auch nur mit Preisgebung angenehmer Eindrücke befleißigen kann. Individuen, welche sich selbst bilden, die sich isoliren und einen gesunden Körper haben, werden in ihren Gedanken immer auf den Stoicismus hinauskommen. Das achtzehnte Jahrhundert kann­­te diese Moral mit all dem Stolze, der ihre Seele ist. Wir sind ihr noch ergeben, wenn wir auch mehr ihr egoistisches Prinzip cultivirt haben und statt dem Stolze, der Gleichgültigkeit zueilen.

59 Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an’s Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen 60 Art, von der man nicht sagen kann, ob sie etwas ursprünglich rein aus der menschlichen Natur Quillendes, ein nur unsern Zeiten gewordenes Phänomen ist oder eine Folge der unsre Zeit charakterisirenden Gedankenlosigkeit, die nichts Absolutes ist, sondern es duldet, daß sich alle Fähigkeiten und moralische Anlagen auf einen Punkt hindrängen und in einer Manie zum Ausbruch kommen, wo, wie bei den Mördern Louvel, Fieschi, Alibeaud, Sand, alles übrige Gute und Schlech­te in eine Indifferenz sich amalgamirt, daß man nicht mehr weiß, wo die Größe aufhört, und das Verbrechen anfängt. Hier sehen wir, wie dringend eine Verbesserung unsrer gesellschaftlichen Zu­stände Noth thut, da wir sonst in die Verlegenheit kommen werden, alle Thatsachen unsrer bisherigen Moral zu verlieren, oder Gefahr laufen, von unsern Kindern ausgelacht zu werden, wenn wir ihnen sagen: Dieß ist weiß, und dieß ist schwarz!

Man beobachte unsre Zeitgenossen, und man wird finden, daß sie in einem Stück Riesen und im andern Pygmäen sind. Klein sind unsre häuslichen Tugenden, klein ist alles Verdienst, das wir auf die Bildung und Veredlung unsres Herzens verwenden. Die Religion werden wir ebenso wenig andächtig verehren, wie wir nicht den Muth haben, sie zu verwerfen. Dieß ist unser Indifferentismus. Wir lesen wohl gar mit Vergnügen ein sinnliches Buch und billigen es, wenn der Verfasser desselben dafür bestraft wird. Es ist das die Consequenz einer Zeit, wo die Philosophen lehren: „Es gibt zwar 61 einen Gott, aber man kann sein Daseyn nicht beweisen.“

Die stille, sanfte Wärme des Gemüthes ist unsrer Zeit fremd. Dichter, welche auf sie zu wirken suchen, werden einsam dastehen und verhungern. Aber wer die lodernde Flamme der Leidenschaft zu schüren weiß, wer sein Licht in jenen Zugwind stellt, wo man Fackeln haben muß, um sie nicht vom Winde auslöschen zu lassen, dem folgt die jubelnde und schnell erregte Menge. Denn man muß eingestehen, daß Alles, was von energischer und origineller Moral in unsrer Zeit vorhanden ist, von der Beziehung des Individuums zum Allgemeinen ausgeht. Haben wir Tugenden, so sind es politische, oder, was dasselbe sagen will, polemische. Weiche Charaktere wurden stark, wenn sie mit den Ereignissen in Berührung kamen. Pépin weinte, als er vor’m Pairhofe stand, und rauchte hinausfahrend auf’s Schaffot gemüthlich seine Pfeife. Die Situationen sind schwieriger geworden in unsrer Zeit, und da Selbsterhaltung unser egoistisches Prinzip ist, so wachsen uns in schwierigen Momenten die Schwin­­gen, so daß aus Hänflingen Geier werden. Es ist zuletzt der Enthusiasmus der Ueberzeugung eine Kraft geworden, die unsrer Zeit mit den Anfängen des Christenthums und der Refor­mation eine Aehnlichkeit gibt. Wäre der Glaube, der unsre Zeit bewegt, ein gen Himmel gerichteter, wir würden bei unsern Zeitgenossen ein noch weit größeres Entzücken, den Scheiterhaufen zu besteigen, wahrnehmen, 62 als wir jetzt schon knirschende Ergebung und stille Freudigkeit bei denen antreffen können, welche in den Gefängnissen zurückgehalten werden, ihrer Meinung wegen.

Die Tugenden unsrer Zeit fangen erst dann an, wenn sie gegen das Hergebrachte anstoßen und uns mit dem Schrecken erfüllen, es könne wirklich eine andre Moral geben, als die der Tradition. Da wird gelogen und betrogen; aber nach dem schönen Beispiel, wie Pylades log, als er sich für Orestes ausgab. Da wird gemordet; aber wie Timoleon mordete, der die Tyrannen vertrieb. Da werden Eide gebrochen; wie Epaminondas seinen Eid brach, als er wider Pflicht und Befehl den Sieg bei Leuktra gewann. Da werden Dolche in die Brust gesenkt, wie Cato that und Otho, von denen der eine nicht die Schmach der Republik, der andre seine eigne nicht überleben wollte. Bei solchen Gedankenverbindungen – da werden wir sie laufen und rennen sehen, geschäftig, thätig, glühenden Auges, unsre Väter, Brüder und Kinder; hier ist das Centralfeuer, von welchem aus unser Leben seine Wärme erhält. Hier hat das Jahrhundert keine Scropheln mehr, keine krummen Beine, ißt keine Kartoffeln, hungert nicht und siecht; sondern jetzt haben sie alle die Genüge und Fülle an himmlischer Kost und glänzen wie die Auserwählten des Herrn, die auf weißen Streitrossen in goldner Rüstung zum Kampfe mit den Mächten der Finsterniß ziehen!

Dieß sind die Menschen, wie wir sie brauchen 63 werden, um das Gemälde unsrer Zeit vollkommen zu geben. Mit diesen Charakteren schuf sich Napoleon seine Welt, mit diesen wurde sie zertrümmert. Mit diesen Charakteren kämpft die Positivität, die Diplomatie, auch die Wissenschaft. Wenn wir jetzt einen Abriß unsres Jahrhunderts mit großen und gewölbten Strichen entwerfen, so vergesse man nie, daß die Menschen, die es beleben, verschiedenen Ursprungs sind, und daß sie, wenn sie auch eben noch in der Nachtmütze vor einem Glase Porterbier saßen, sich doch plötzlich in St. George verändert haben können, die uns wie Besessene zusammenreiten, und mit denen kein Auskommen mehr ist.

64 Das Jahrhundert.#

Wo beginnt das Jahrhundert? Mit der französischen Revolution, mit Napoleon oder mit dem Wiener Congreß? Mit der Demo­kratie, dem Militärdespotismus oder der Diplomatie? Welches ist das Saatkorn unsres Jahrhunderts, welches werden seine Früchte seyn?

Ich hasse die Sophistik, mit welcher Burke das große Ereig­niß der französischen Revolution statt den Umständen den Menschen zurechnete; allein ich glaube, daß diese Revolution nur die Blüthe des achtzehnten Jahrhunderts war, die höchste Mittagshöhe, die ein schwüles Gewitter entlud und den Horizont so lange in graue Wolken hüllte, bis der Abend sich unmerklich in die Nacht verlor. Die französische Revolution war die Erfül­lung alles dessen, worauf das achtzehnte Jahrhundert verwies. Sie war der Schluß eines labyrinthischen Perioden, der die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts ausdrückte. Unsre Zeit emanzipirt nicht zur Revolution, sondern aus der Revolution. Wir denken 65 nicht mehr, um zu zerstören, sondern selbst unsere zerstö­rerischen Gedanken sind nur dazu da, um aufzubauen.

Man muß sich nicht täuschen lassen von dem gräßlichen Con­traste, wie die Geschichte Europa’s im achtzehnten Jahrhun­dert begann, und wie sie endete. Sie begann mit dem Pedantismus und der Steifheit, mit der Naivität und dem Lächerlichen und endete mit dem höchsten Pathos der Leidenschaft, mit dem blutigen Schrecken der Guillotine. Dieß ist ein Widerspruch, den wir niemals erklären könnten, wenn wir nicht wüßten, was zwischen dem Anfang und dem Ende gelegen hat. Die Unruhe des Geistes sowohl wie des Gemüthes lag dazwischen; der tiefe zwei­felnde Verstand der philosophischen Spekulation ebensowohl wie die frivolen Zweifel der Satire und des Witzes; eine Welt von gedankenloser Zerstreuung, ebenso wie eine Umwühlung in den bestimmten Absichten einiger dreister Köpfe. Und dennoch ahnte Niemand von allen denen, die eigentlich das Holz herbeigetragen haben, um die Guillotine zu bauen, die blutigen Schrecken der Zukunft. Herr von Malesherbes ahnte unter seinen Rosen nicht, daß dereinst aus seinem Blute die Rosen der Freiheit sprießen würden. Ja, selbst Rousseau, der so viel dazu beigetragen hatte, die Meinungen seiner Zeit, ich will nicht sagen, zu verwirren, sondern sie auf ein Fundament zu gründen, das freilich mit den bestehenden Verhältnissen im Widerspruche lag, selbst Rousseau war so weit entfernt von dem Gedanken einer Revolution, daß er in 66 seiner vortrefflichen Auseinandersetzung der Ideen St. Pierres über den ewigen Frieden sagen konnte: Es wird ein großer Irrthum seyn, zu glauben, daß sich der gewaltthätige Zustand unserer gesellschaftlichen Verhältnisse einzig und allein nur durch Gewalt verändern könne und nicht auch im Gegentheil durch friedliche Hülfe. Auf welcher Stufe es stehen mag, so hat das europäische Staatensystem doch so viel Solidität, daß es eine fortwährende Bewegung auch ohne völligen Umsturz aushalten kann. Und, fügt Rousseau hinzu, wenn unsere Uebel auch nicht aufhören sollten, sondern sich vermehrten, so ist doch jede große Revolution in Zukunft unmöglich. Dieß schrieb Rousseau einige 30 Jahre vor den Greueln der Jacobiner.

Wenn man nun bedenkt, daß im achtzehnten Jahrhundert Alles unwillkürlich und unbewußt darauf hinzielte, die Revolution zu erzeugen, so ist es thöricht anzunehmen, daß das neunzehnte Jahrhundert bestimmt seyn sollte, dieselbe Revolution zu reproduziren. Das achtzehnte Jahrhundert kam zur Revolution, ohne es zu wollen und zu fühlen; und wir, die wir immer mitten in der Agitation der politischen Leidenschaften inne leben, die wir weit mehr in ein System der Unordnung als der Ordnung eingefügt sind, die wir vergleichen können, welches die Extreme planloser Verirrungen zu seyn pflegen, wir, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, sollten wiederum in der Revolution enden zu müssen glauben? Dieß ist eine völlig unphilosophische Ansicht 67 unserer Zeit. Es ist nicht wahr, daß eine Tendenz zur Revolution in unserm Jahrhundert liegt; im Gegentheil, was wir von revolutionären Bestrebungen antreffen, das ist nur die ricochettirende Kraft der ehemals geworfenen Kugeln, die nicht sogleich verglühen wollen. Die erstaunlichen Ereignisse, welche unsre Eltern erlebt haben, verhallen nach und nach, und dasjenige, was man für die Absicht einer Wiederholung derselben zu halten pflegt, oder was sich selbst dafür ausgibt, kann man nur mit dem Echo eines vorübergegangenen Gewitters vergleichen. Alle die Bewegungen, welche in Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien eine Wiederholung der alten Revolution zu beabsichtigen schienen, waren sie etwas Anderes als natürliche Aeußerungen bei Völkern, die mehr als 20 Jahre hindurch vom Sturm der Zeit im Kreise gewirbelt wurden und (eine Nation gegen die andere) beinahe eben so lange die Waffen getragen hatten? Beweist die römische Geschichte nicht auf jeder Seite, wie sich die Armeen erst allmälig zu beruhigen pflegten, wenn sie geschlagen oder als Sieger aus den Feldzügen heimkehrten? Die revolutionären Kräfte relaxiren, die revolutionären Terminologien verlieren sich. Ist selbst die Julirevolution etwas Anderes gewesen, als der letzte Schlag eines Gewitters, eine in der Natur oft vorkommende Erscheinung, wo sich ein zurückgebliebener Rest von elektrischer Materie erst in dem Augenblicke entzündet, wo der Him­mel schon wieder zu blauen beginnt?

Nein, wir haben die Revolution überwunden; sie ist 68 nur noch ein Schreckbild, eine Warnung, ja selbst ein Hülfsmittel nur noch in der Art, daß wir sie in historischer Abrundung vor der Anschauung unserer Phantasie immer gegenwärtig haben, und immer vergleichen können, wie viel oder wie wenig wir von ihren Erfahrungen brauchen können, um unsere eigenen durchzusetzen. Die Tendenz unseres Jahrhunderts ist deßhalb eine ganz andere gegen die des achtzehnten Jahrhunderts, weil überhaupt das neunzehnte Jahrhundert einen ganz anderen Charakter hat. Wir streben auch darnach, die Kirchthürme den Privatdächern gleich zu machen, aber wir übersehen nicht, wenn wir dabei gegen die Gesetze der Proportion verstoßen. Wir haben es auch mit Hütten und Palästen zu thun; aber wir machen sie nicht gleich, sondern wir bemühen uns nur, eine anmuthige und schat­tige Allee zwischen beiden anzulegen. Mit einem Worte, wir nivelliren auch, aber nicht, um Alles gleich zu machen, sondern nur eine richtige, mathematische, die von Gott und der Natur gebotene Proportion zwischen Menschen und Dingen herzustellen. Unsere Revolution besteht darin, die Unordnung zu zerstören, Harmonie und Ebenmaß in die gesellschaftlichen Relatio­nen zu bringen und Jedem gerade so viel zu geben, als er entweder tragen muß oder tragen will, wenn er es nämlich nur tragen kann. Wir werden uns oft der Form der Revolution bedienen, uns aber niemals bereden, daß in ihr irgend ein Inhalt liegen könne.

Alles dieses werd’ ich noch weit klarer machen können, 69 wenn ich, so weit es geht, versuche, das Ziel zu bezeichnen, von welchem aus unsere Zeit einer andern Raum geben wird. Man hat schon angefangen, sich von dem Jahrhundert, welches auf das unsrige folgen wird, eine Vorstellung zu machen. Fast alle diese Vorstellungen kommen darauf hinaus, daß das zwanzigste Jahrhundert wahrscheinlich eine Zeit der Hyper-Culmination, der Hyper-Industrie, eine Zeit des absoluten Mechanismus seyn möchte. Zieht man das Mährchenhafte von den Bildern, welche diese Vorstellung begleiten, ab, so wird das Resultat wohl darauf hinauskommen, daß das zwanzigste Jahrhundert so ziemlich nur eine Periode des Verstandes und keine des Herzens ist. Ich glaube sogar, daß sich der beklagenswerthe Dualismus unserer modernen Bildung wahrscheinlich in jener Zeit an unserm Wissen und Glauben, an unserm Leben und Sterben empfindlich rächen wird. Sehet Euch vor! Wenn noch eine Revolution kommen kann, so wird es nicht mehr ausschließlich die der Staaten seyn, sondern all euer Denken und Trachten, all euer Meinen und Fühlen, all eure Existenz, all eure Kunst und Wissenschaft wird in sie hineingerissen werden. Und dieß Alles möchte sich nicht einmal durch eine Vorbereitung oder durch eine irgend wie veranstaltete Propaganda ereignen, sondern der Zwiespalt wird das Unbehagen erzeugen, das Unbehagen wird aus eurem eigenen Herzen kommen, und euer Herz wird, indem es am meisten stürmt, auch am meisten gefoltert seyn! Ich spreche 70 vom Dualismus. Welchen meine ich? Ich meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Idealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Ich lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch’ es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Ich höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion. 71 Ich bin Mensch, ich bin Engel, ich bin nichts von beiden und in meinem Himmel so unselig, wie der Verdammten einer. Ein Handwerker wird in seinem 23sten Jahre von einem verschmitz­ten Volksverführer in Beschlag genommen. Sein Enthusiasmus wird von einer Seite erregt, wo seine geringe Bildung gegen Thorheiten nur eine schwache Schutzmauer entgegenstellen kann. Der Enthusiasmus ist das Gute an ihm. Warum ist der Mann in seinem 23sten Jahre noch ein Kind, warum ist sein Gutes niemals angeregt worden, warum war er erst ein gedankenloser Knabe, warum erhielt er nichts, als den neumethodischen Elementarunterricht, warum gab ihm der Priester nur die Traditionen des Glaubens, wie sie einmal festgesetzt sind, warum dämmerte der Mensch so lange in einem alltäglichen Zustande fort, bis sein guter, göttlicher Theil, der auch in seinem Herzen tief vergraben gewesene Enthusiasmus, erst von einem Intrikanten in Beschlag genommen ward, der ihn zu einem Kinde, zu einem Thoren und unglücklich machte? Hier ist eine Lücke in unsrer modernen Bildung, die ausgefüllt werden muß, und wie wird man sie anders ausfüllen können, als durch eine radicale Verbesserung unseres Erziehungs-, Religions-, Unterrichts- und Staatensystems? Wenn sich eine Revolution denken läßt, so ist es unter diesem Gesichtspunkte. Wenn noch einmal ein Christus, ein Luther aufstehen sollte, so kann es nur der seyn, der jene chinesischen Stockwerke einreißt und der Harmonie der Bildung und des Lebens 72 eine Form gibt, die man nur mit den schönen, sanft in einander laufenden Linien einer antiken Säule vergleichen kann. Die Bildung muß mit dem allgemein Menschlichen beginnen, die Moral mit dem Enthusiasmus, die Religion mit dem Stolze. Die Gelehrsamkeit muß mit allen unseren Existenzen ausgeglichen werden und nur insofern, als sie Philologie ist, das Separateigenthum einer Kaste bleiben. Es muß eine Fundamentalunterlage für die Cultur einer ganzen Nation geben, die alle Menschen in dem, was sie für wahr, gut, schön und nützlich halten, ganz und gar einander gleichstellt, so daß die Voraussetzungen, die später darauf gepflanzten beliebigen Ideen und Projekte bei allen stimmfähigen Individuen der Nation dieselben sind. Dann wird es nicht mehr möglich seyn, daß die Menge von revolutionärem Schwindel beseelt ist, daß einzelne Charlatane auftreten und Anhang bei der blinden un­unterrichteten Masse finden. Separatismus und Conspiration sind unerhört, wo sich die Menschen in einer ebenbürtigen Reciprozität ihrer Ansichten und Bedürfnisse befinden. Das würde die Revolution verhindern, aber freilich ohne eine vorhergegangene Revolution nicht geschehen können.

Gewaltthätigkeit ist jedoch auch hier nicht die Form, unter welcher meine Prophezeihung auftreten dürfte. Was ich vorhersehe, ist das Produkt einer unzufriedenen Mißstimmung, die aber, wenn sie sich mit dem Wunsche der Verbesserung äußern soll, dann von Allen wird 73 geführt werden. Was aber Alle wollen, macht sich von selbst. Ich sehe voraus, daß diese Sublimation unserer künstlichen Bildung nicht so fortsteigen darf. Dieser Wettlauf des Geistes, den alle Nationen gegen einander anstellen, kann nur damit enden, daß sie den Athem verlieren und es wohl fühlen, daß sie für den Körper auch etwas thun müssen: nämlich für den Körper, welcher gleich ist dem Leben, der Allgemeinheit, der Nationalität, oder wie man es nennen mag. Mit dem Dualismus, der die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts ist, werden wir gerade so weit kommen, daß wir ihn endlich einsehen und nicht mehr ertragen werden. Wir werden entweder das Leben nach unserer Bildung modeln oder die Bildung nach unserm Leben. Wir werden entweder unsere Anstandsmeinungen, Sitten und gesetzlichen Gewohnheiten gerade so einrichten, daß sie die bloße Praxis unserer theoretischen Bil­dung sind, oder wir werden unsere theoretische Bildung trennen müssen in Laien- und in Tempelweisheit, in Weisheit für Einige und in Volksweisheit; und dasjenige, was dann zunächst geschehen müßte, wäre eine ganz neue Begründung des ersten Unterrichtes der Jugend, des Unterrichtes in den Wissenschaften, in der Moral und der dann sehr zu verallgemeinernden positiven Religion. Vielleicht ist diese Alternative nur ein verschiedener Ausdruck für eine und dieselbe Sache. Weiter zu schwärmen, verbietet vielleicht die Besonnenheit.

Ich kehre auf unser Jahrhundert zurück. Dort liegt 74 das achtzehnte Jahrhundert, wir kennen es; dort das zwanzigste, wir ahnen es. Jetzt, was liegt dazwischen?

Dazwischen liegt eine Reaktion und eine Bestimmung. Die Erstere ist die, daß in ihr die Individuen wie allzu schnelle Rosse am Zügel gepackt und wieder zurückgeführt wurden in die lange Kette der Allgemeinheit, wo die Person in der Masse untergeht. Die Bestimmung ist die, daß im Universalismus selbst das Individuum dadurch wieder anerkannt wird, daß es eine isolirte Stel­lung erhält, dasjenige, was man die Specialität unserer Zeit nen­nen könnte. Alle unsre Politik strebt dahin, die Individuen in die Masse zurück zu schleudern; die Bildung nimmt sie aber wieder hervor und gibt ihnen eigenthümliche Signaturen, die ihnen für die historische Unmittelbarkeit Ersatz werden sollen. Die Interessen der Industrie, des Handels, der Wissenschaft, verlangen aus­drücklich diese Specialität, welche, da nicht nur die Masse des Wissens nicht zu überwältigen ist, sondern das Ausgezeichnete auch nur durch eine auf das Einzelne ausdrücklich gerichtete Bestrebung geschaffen wird, allmählich das Prinzip der modernen Kultur zu werden scheint. Weil die Menschen dieser Zeit sich in der Allgemeinheit mit Bewußtseyn fühlen sollen, so greift besonders die konstitutionelle Staatsform um sich, deren vorzügliches Merkmal eben die innig verflochtene Ineinanderwirkung der Emanzipation und doch wieder der gesetzmäßigen Unterordnung ist. Fast Alles wird durch Gesellschaften, Associationen und Unterschriften erreicht; 75 statt der mittelalterlichen, gestürzten Corporationen treten neue ein und verdeut­lichen durch ihren Gegensatz auf’s klarste den Charakter, welchen wir als den unsrer Zeit bezeichnen müssen. Die Corpo­rationen des Mittelalters fußten allerdings zunächst auf das Prinzip der Association, hingen aber mit der Geschichte so innig zusammen, daß sie für eine Integration derselben gehalten werden konnten. Die modernen Corporationen sind zufällige, vom Staat unabhängige Verbindungen, die ihre Specialität gerade im Gegensatze gegen den Staat zu behaupten suchen. Das Bestreben unserer Zeit, allgemein zu seyn und sich doch zu zersplittern, ist so durchgreifend, daß wir für die abgeschmacktesten Zwecke tagtäglich neue Verbindungen entstehen sehen. Ich leug­ne nicht, daß ich auch die Errichtung von Denkmälern zu diesen abgeschmackten Zwecken rechne. Alle Augenblicke tritt ein Comité auf und will für diesen oder jenen in der Unsterblichkeit schon assecurirten Namen eine neue marmorne Einbalsamirung in Vorschlag bringen. Das Geld fließt bald zusammen, und der Zweck ist erreicht, noch ehe das Denkmal aufgebaut ist. Denn der eigentliche Zweck war nicht das Denkmal, sondern der Gedanke einer großen Vereinigung, an deren Spitze zwei Krämer aus der kleinsten Stadt der kleinsten Provinz stehen, ein Apotheker, der das Protokoll führt, und ein Zolleinnehmer, der sich den Cassirer und Rendanten des großen Vereines nennt.

Der Trieb unsrer Zeit nach Constitutionalismus, der 76 in jeder Beziehung das Jahrhundert charakterisirt, entspringt keineswegs ausschließlich aus der Eifersucht auf politische Berechtigung, sondern noch mehr aus der Vorsicht, sich über die All­gemeinheiten unserer Existenz beruhigen zu wollen. Das Nivel­lement reißt gewaltsam und unwiderstehlich ein, das Individuum rafft so viel Kraft zusammen, als es braucht, um sich in dem Strome der Verallgemeinerung sein isolirtes Interesse zu erhalten und irgend einen Standpunkt, den es selbst gern einnehmen möchte, als dauernd zu fixiren.

Die erste große Erscheinung unseres Jahrhunderts beweist die Richtigkeit dieser Ausführung. Die Revolution gebar aus ihrem Schooße einen Tyrannen, der sie bändigte. Napoleon planirte dieß zackige, hundertfach eingerissene Ufer der Revolu­tion, wo eine freche und lüsterne Begier des Individuums, sich selbst an die Spitze der Ereignisse zu stellen, eine Reihenfolge der unglückseligsten Schiffbrüche hervorbrachte. Napoleon stieg aus den Alpenklüften über die Straße des Simplon hinunter in die breite italiänische Ebene, wo zum Erstenmale der Krieg der Massen begann, die Parteien zu Armeen, die Armeen zu Völkern wurden. Es ist nicht schwer, von dem Auf- und Niedergang dieses großen historischen Meteors bis auf den heutigen Moment die allmähliche Tendenz der Ereignisse zu verfolgen; wie sie alle darnach strebten, zuvörderst Klarheit und Rechtmäßigkeit in den Völkerexistenzen zu begründen, ihnen sodann constitutionelle Hebel und Beruhigungen zu geben und 77 dadurch den Rücken zu sichern, um jene Specialitäten der Industrie, des Handels, des Lokalgeistes und eines mannigfach verzweigten Egoismus eröffnen zu können.

Napoleon hat die Massen in Bewegung gesetzt, und noch immer wird gestritten, zu welchen Zwecken? Seine Umgebun­gen, die ungeheuren Mittel, über die er gebieten konnte, die groß­artigen Schicksale, welche von seiner Willkür und seinem Genie abhingen, die historische Atmosphäre, in welcher Napoleon leb­te, erschweren es, dem Kerne seiner kometarischen Erscheinung nahe zu treten und mit der Sonde zu prüfen, wo des Mannes gesunde oder kranke Individualität begann. Es ist möglich, das Wundervolle im Leben Napoleons natürlich zu erklären. Es ist aber nur Dem möglich, welcher über seine Phantasie mit einer so großen Kraft gebieten kann, daß er sich mitten in die Anschauung der Zeit versetzt, in welcher Napoleon aufleuchtete. Man kann nicht sagen, daß sich Napoleon etwas geschaffen hat, was undenkbar war. Er verdankte dem 18. Brumaire, wo er das Direktorium stürzte, seine ganze Zukunft, aber die Usurpation und der Muth dieses Tages wurde ihm erleichtert durch die allgemeine Stimmung, die er nicht schuf, sondern nur benutzte. Man wird doch nicht behaupten, daß Napoleon sich ein Kaiserthum aus dem Nichts schuf! Man kann die Mittelglieder an Personen und Begebenheiten nicht übersehen, die zwischen seinem Beginnen und dem Risiko desselben inne lagen; ja, daß er im Grunde nur den Muth hatte, eine Stellung vorwegzunehmen, die, wenn er es nicht 78 gethan hätte, sich würden die Andern genommen haben. Mit einem Worte, das Außerordentliche seiner Größe hat Napoleon nicht gemacht. In Anschlag kann nur die Fähigkeit kommen, mit der er seine Größe behauptete.

Man versuche es einmal, sich den Anfang unserer Zeiten recht klar zu machen! Ich kann und werde dabei niemals den englischen Standpunkt festhalten; denn dieser ist der einseitigste von allen und läßt nur eine kalte Reflexion zu. Napoleons Größe zu bewundern und sich mehr an Hazlitt, als an Scott zu halten, das ist die geringste Gerechtigkeit. Die größere ist die, sich mitten in das Centrum der Continentalideen zu versetzen, und aus der englischen Peripherie, die mit Bestechung, mit Schmuggelei und mit einigen glücklichen Seeschlachten das große Drama jener Zeit umzirkelte, gänzlich heraus zu treten. Die Engländer haben alle ihre Fähigkeit angewandt, um sich den großartigen Eindrücken des endenden vorigen und beginnenden jetzigen Jahrhunderts zu entziehen; aber half es ihnen? Sie widerstrebten so lange, bis die Schuldenmasse, die ihre Thorheit veranlaßte, außerordentlich, ihr Heer durch einige Siege und einen autokratischen Befehlshaber demoralisirt war, und mußten die Demüthigung erleben, der Tochter das nachzuthun, nämlich der Julirevolution, was es bei der Mutter versäumt hatte. Oder hat sich England deßhalb so isolirt, weil es seine Kraft für die Zukunft sparen wollte? Lag dem Gegengewichte, das England der Revolution hielt, das Bewußtseyn zu Grunde, dem Strome 79 würde eine andere Richtung gegeben werden? Das Letzte schwerlich; allein es hat sich freilich dahin entschieden, daß die Ruhe Albions dem Continente imponirte und ihn zu uns heranzog. Wenn England zum Jahrhundert eine Stellung hat, so ist es die, daß es einmal die Preventive der Revolution zu besitzen scheint, und meistens, daß sein Egoismus, seine Kälte, seine Indifferenz wahrscheinlich dem ganzen Zeitalter seinen Charakter geben wird.

Die allgemeine Weltlage mit Beginn unsrer Zeiten war denkwürdig genug. Ein Staat im Vorgrunde, der sich über die blutigen Leichen seines Adels und Königthums hinweg zur Republik umgestaltet, der mit seinen Siegstrophäen die mörderische Erinnerung seines Ursprungs ausgelöscht hatte und bereits in Luxus und Mode wieder den europäischen geselligen Ton anzugeben begann. Die Furcht, Paris zu besuchen, hatte sich gemildert. Die Zeit des Direktoriums und Consulats war vielleicht üppiger, als die Ludwigs XV., weil sie sich weniger verhüllte, weniger Vorurtheile hatte und mehr Freiheit der Straße genoß. Bei diesem ungehinderten Besuche der Hauptstadt Europa’s mußte sich eine stillschweigende Nachgiebigkeit gegen die gefährliche Neuerung ergeben, die eben so gefährlich hätte werden können, wenn man nicht den Eifer gesehen hätte, mit welchem die Republik wieder nach dem Glanze des Königthums zurücktrachtete. Man konnte anfangen, sich mit dieser Republik in Güte abzufinden, und that es auch. Die 80 diplomatischen Verbindungen der übrigen Staaten mit Frankreich hatten einen Anstrich von Zuneigung, der nicht völlig erheuchelt war; die dynastischen Interessen der Throne fingen an, sich wegen Frankreich zu beruhigen. Unter diesen Umständen entwickelte sich die Erscheinung Napoleons, eines Mannes, dem Niemand verglichen werden kann, wenn man bedenkt, wie geliebt er wurde, als er stieg, und wie gehaßt, da er fiel. Napoleon wurde um so mehr der Zeitungsgott, da er seine Waffen nach Aegypten übertrug und dort für unsre Neugier, für unsre Admiromanie Wunder verrichtete, die uns nichts kosteten. Als er später Oestreich angriff, so waren auch diese Kriege populär, da man wohl wußte, daß sie von England bezahlt wurden. Man übersehe nicht, daß diese Hingebung an den Modehelden nicht günstig für die Dynastien wirken konnte, wenn auch Napoleon bald aufhörte, politische Begriffe der Heimath, nämlich Freiheitsideen, an seine Fortschritte zu knüpfen. Je mehr Napoleons Individualität in den Vorgrund trat, je mehr er selbst der Schwerpunkt seiner balancirenden Versuchungen des Glücks wurde, desto mächtiger die Anziehungskraft, die er auf die Gemüther hatte. Napoleon überwand nicht nur Völker, die ihn bewunderten, sondern sogar Armeen und Feldherren, welche sich’s für Ehre anrechneten, von ihm geschlagen zu werden. Dieser allgemeine Enthusiasmus hörte später auf und erholte sich wieder, als Napoleon fiel. Man muß diese beiden Wendepunkte seines Geschicks wohl 81 be­trachten, weil wir uns auf diesem Wege über die Ideen der Zeit und die Stimmung der Generation am klarsten werden können.

Napoleon, erst so populär, wurde plötzlich verabscheut. Sogar die Gegner, die er besiegte, hatten ihn angebetet. Man achte wohl darauf, daß es zunächst nicht Patriotismus war, der sich gegen seinen schwindenden Glücksstern wandte, sondern einzig und allein eine Täuschung. Man ließ sich gefallen, von Napoleon besiegt zu werden. Man hatte zu viel Ideen, die für eine Niederlage trösten konnten. Man freute sich der Niederlagen, weil sie dem alten verrosteten Systeme des Staates oder der Armee oder wenigstens ihrer Einbildung gegönnt wurden. Erst da begann die Empörung gegen den Sieger, als er seine Siege befestigen wollte. Napoleon, als Held angebetet, wurde verflucht, da er Eroberer wurde. Die Armeen und die geschlagenen Feldherren waren nicht populär gewesen, aber sich selbst konnte man doch nicht gering anschlagen, man sah sich verkannt, gedemüthigt und knirschte die Zähne. Man hatte Napoleon verziehen, daß er Einzelne beleidigte, und empörte sich, als er die Massen verachtete. Was die Ferne so zauberhaft hatte erscheinen lassen, das schrumpfte in der Nähe zu einer kalten, lästigen Persönlichkeit zusammen. Napoleon brachte keine Ideen mit. Er wollte nur den Zug des Dionysus und Alexander nachahmen. Seine Siege hatten keinen Zweck mehr, als den, ihre Anzahl zu vermehren. Napoleon brachte den Völkern keine 82 Anknüpfungspunkte. Er hatte seine Feldzüge schon bis zu den Feldzügen herabgewürdigt, welche wegen Erbfolgen, Theilungen und Gleichgewichtsinteressen ehemals geführt wurden; die französischen Armeen selbst waren nur aus ganz französischem, ganz nationalem Stoff zusammengesetzt. Dieß Alles förderte einen Gegensatz ähnlicher Art hervor. Und dennoch muß man noch immer gestehen, daß derselbe nicht aus dem Gefühle der nationalen Selbständigkeit zunächst hervorging, sondern daß der Patriotismus erst die Form für ein anderes Unbehagen war, das die Völker zum Kampfe gegen Napoleon entzündete. Selbst bei den rachesprühenden Spaniern muß man sagen, daß der Gedanke, sich getäuscht zu sehen, erst den andern Gedanken, daß die Na­tion sich erheben müsse, erzeugte. Schweden, das sich einen französischen General zum Herrscher nahm, trat gewiß nicht aus nationaler Idiosynkrasie gegen Napoleon auf. Nur Deutschland schien den Namen des Vaterlandes rächen zu wollen. Allein selbst in Deutschland war die Nation nicht der bloße Gedanke. Deutschland steckte zwar am begeistertsten diese Devise auf, aber es mußte die innerste Thatkraft der Nationalität beschwören, weil es seiner Zersplitterung wegen sonst nichts vermocht hätte, weil sie seine einzige Waffe war, und weil es zuletzt sein Alles in die Schanze schlagen mußte, um nicht die Schande zu erleben, daß es von der russischen Hülfe wäre überflügelt worden. Aber man bedenke nur das Ende. Ist eine Nation schneller auseinandergegangen, da Napoleon 83 besiegt war, als die deutsche? Wäre der Name der Nation nicht blos das Mittel, sondern der Zweck des Aufstandes gegen die französische Usurpation gewesen; wahrlich, Deutschland hätte auf dem Wiener Con­gresse eine andere Gestaltung gefunden, als seine jetzige ist!

Wenn ich beweise, daß die Nationalität keineswegs der ausschließliche Gedanke unserer Zeit ist, so will ich nicht in Abrede stellen, daß man sehr glänzend und bis zur Begeisterung hinreißend über diesen Gedanken reflektiren kann. Die Idee aber, welche die Völker mit Freiheit, Humanität, mit Fragen des Jahr­hunderts, ja leider sogar mit den egoistischen Interessen der Existenz verbinden, haben sich die Nationalität längst unterwürfig gemacht. Die Corporationen der alten Zeit leisteten mehr als unsere modernen Specialitäten. Jene ließen unmittelbare Bezüge auf den Staat und die Nation auch bei untergeordneten Ständen zu, ihre ganze Existenz war mit der des Staats unmittelbar zusammenhängend. Gegenwärtig aber ist das Staatsgebäude so sehr Vernunftsabstraktion geworden, daß die sogenannten Constitutionen gar nicht mehr aus historischen Anfängen entwickelt, sondern von allgemeinen Prinzipien der Doktrine hergenommen werden. Das Gefühl der Nationalität schwindet immer mehr und macht einem Universalismus Platz, der, wie er schon in unsere Bildung eingedrungen ist, auch unsere bürgerlichen Verhältnisse umgestaltet. Unser Jahrhundert ist hiedurch zwar um ein Vorurtheil ärmer, aber es ist auch schwächer 84 und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden.

Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet ge­wesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann 85 erblickt haben, im grauen Rock und dreieckigen Hut, der die Kanonen der Türken richtete. Auf mancherlei Weise sollte er wiedererscheinen. Man hielt ihn nur noch für einen Helden der Freiheit oder hoffte doch, daß er die Dinge wenigstens besser machen würde, als sie nach der Restauration wieder gemacht wurden. Als die Julirevolution aus­brach, wünschte man ihn schwerlich zurück. Aber jetzt, wo die Doktrinäre in ganz Europa durch ihre Prinzipien die Thatsachen wegleugnen wollen, jetzt würde man eher auf die Rückkehr etwas geben, wenn sie noch möglich wäre.

Es ist gewiß sehr bemerkenswerth für unsere Zeit, daß sich in unsern Erfahrungen das Erlebniß so bald nach den Gesichtspunkten modelt, nach welchen wir es gern beurtheilen möchten. Oder dieß vielmehr ist so bemerkenswerth, daß wir eine solche Aenderung ohne großen Widerspruch uns erlauben dürfen. Im Alterthum war der Tod des Cäsar der Tod des Cäsar, bei uns würd’ er noch etwas ganz Anderes gewesen seyn. Es ist originell unter manchen Charakteren, die man trifft, die eigenthümlichen Gründe zu hören, welche sie gewöhnlich den Ereignissen zu Grunde legen. Das Politisiren ohne die nöthigen Kenntnisse hat die Zeitgenossen schon auf die wunderlichsten Combinationen gebracht. Auch hievon ist Napoleon die Schuld. Denn, indem es hieß, er wolle England in Hinterindien angreifen, so hat dieß zu­nächst alle geographische Begriffe in dem Kopfe des gemeinen Mannes verwirrt. Die Continentalsperre 86 schloß überdieß Eng­land von Europa aus, und es war verzeihlich genug, wenn die gro­ßen Politiker der Alehäuser dem Zuge nach Rußland eine Inten­tion zuschrieben, die Napoleon durch die Einschiffung in Bou­logne nicht hatte erreichen können. So aber wie es hier im Alber­nen geschieht, geschieht es auch in dem, was sich klug dünkt. Die Unmöglichkeit, die Politik noch nach den veralteten offenbar egoistischen Zwecken früherer Zeiten, ich will nicht sagen, zu treiben, sondern nur offen hinzustellen, erzeugt die wunderlichsten Combinationen, wofür besonders noch immer die Angelegenheiten des Orients, der ewig eine fabelhafte Welt bleiben wird, Raum genug darbieten. Ich kenne einen sonst ganz vernünftigen Mann, der sich nicht ausreden läßt, Louis Philipp sey der größte Republikaner, den es nur geben könne, und Algier suche er nur deßhalb zu coloni­siren, um seinen Kindern ein neues Königthum zu hinterlassen, wenn Frankreich eine Republik werden sollte. Dieß ist lächer­lich; aber andere Schlüsse scheinen schon ernster zu seyn; z. B. hat ein Whig­reformer bei der letzten Wahl von den Hustings in Betreff der Sklaven­emanzipation fol­gende Deduktion aufgestellt: „Die Sklaven frei machen, heißt, Euch zwanzig Millionen aus der Tasche nehmen; aber ich sage Euch, Ihr zahlt sie nicht, Jonathan*) zahlt sie. Die Sklaven frei machen, heißt, in die verei-87nigten Staaten den Brand der Empörung werfen. Dort wird kein Sklave mehr arbeiten wollen, weil man auf unsern Kolonien nicht mehr arbeitet. Was ist Jonathan ohne die Hetzpeitsche? Sein Handel geht zurück. Ihr legt hier zwanzig Millionen zu fünfzig Prozenten an. Also seht, man muß eben so klug, als menschlich seyn.“ Solche Erläuterungen fesseln das Volk und machen, daß es Alles glaubt, wenn man es nur mit irgend einem Scheine zu beweisen versteht.

Es ist das aber sehr bezeichnend für unsre Zeit, daß die Interessen sich zu sehr verwickeln, um noch eine natürliche und freie Lösung derselben jedem nur einigermaßen gesunden Verstande möglich zu machen. Die höhere Bildung, besonders die Gelehrsamkeit, hat sich auch schnell diese Schwierigkeit zu Nutze gemacht, und allen Dingen ihrer Vernunft gegenüber eine andere Stellung gegeben, als sie in der Erfahrung haben. Die Folgen werden den Ursachen selbst zu Gute geschrieben, so daß z. B. in der französischen Revolution Absichten gelegen haben sollen, die die Zeitgenossen derselben nicht einmal würden verstanden haben. So wurde auch Napoleon, seitdem man ihn wie eine Idee behandelt, das Gegentheil seiner selbst, und muß gerade diejenigen Dinge vertheidigen, die von ihm am heftigsten bestritten worden sind.

Die beiden Hauptspaltungen, in welche unsre öffentlichen Begriffe gegenwärtig getheilt sind, kommen daher, daß man sich über die Kräfte nicht verständigt hat, durch welche Napoleon gestürzt wurde. Welches Europa 88 triumphirte bei Leipzig, bei Waterloo? Das Europa vor oder nach der französischen Revolution? War Napoleon nur eine Person; das heißt der Ehr­geiz? War er eine Nation, d. h. der Uebermuth? War er ein Begriff; d. h. war er die Revolution? Von hier aus gehen alle die Mißverständnisse, welche bis zur Julirevolution die Geschichte des ersten Dritttheils unsres Jahrhunderts bezeichnen. Ueber die Thei­lung der Beute erzürnte man sich. Rußland und Oestreich vertraten das Europa vor der Revolution gegen die Revolution, Spa­nien und Deutschland die Revolution gegen den, der sie entstellt und tyrannisirt hatte. Der Aufschwung Deutschlands war der seiner historischen Regeneration, die aus dem Ohnmachtsleben einer Reichsverfassung thatkräftiger und wahrhaftiger wollte erlöst seyn, als es durch Napoleons Rheinbund geschehen war. Das Spanien, welches gegen Napoleon kämpfte, war dasselbe, das sich die Constitution von 1812 geben wollte. Diese Elemente waren gleich der Revolution, weil sie dieselbe an Napoleon rächen wollten; sie waren noch höher als die Revolution, weil sie sich von der Anarchie befreiten und nach Gesetzen strebten. Beide Nationen hätten die Bedingung ihres Kampfes gegen Napoleon aufsetzen sollen. Sie waren zu gutmüthig, es zu thun, und die Bedingung wurde nicht gehalten.

Das Mißtrauen, welches seit dem Jahre 1815 bis 1830 die ganze europäische Gesellschaft erfüllte, gab dieser Periode einen sehr melancholischen und zum Rückblick 89 wenig reizenden Anschein. Man wird wenig Zeiten in der Geschichte auffinden können, welche mit der sogenannten Restaurationsperiode, die sich in England auffallenderweise dießmal ganz ebenso ent­wickelte, wie auf dem Continente, verglichen werden könnten. Die edelsten Absichten wurden verkannt und die edelsten Kräfte un­nütz verschwendet. Das Meiste auch, was benutzt werden konn­te, blieb unangerührt liegen, weil es sowohl an Einheit der Bestrebungen, wie an dem Sonnenschein einer allgemeinen heitern und unbefangenen Stimmung gebrach. Es ist eine eben so kahle Epoche, wie die gleichzeitige des vorigen Jahrhunderts, wo sich Europa im Süden durch den Erbfolgekrieg und im Norden durch Peter und Karl erschöpft hatte und bis zum Regierungsantritte Friedrichs II. von Preußen eine allgemeine Apathie auf den Gemüthern lastete, eine Apathie, wo weder in der politischen Welt, noch in der literarischen und wissenschaftlichen irgend etwas Außerordentliches geschaffen wurde. Man wird mir zugestehen, daß auch in unserem Jahrhundert, seit dem Sturze Napoleons, wenig Glänzendes das Auge geblendet hat, weder auf dem Schlachtfelde, noch in der Kunst und Literatur; auf mein Wort, wenig Glänzendes; es sey denn, daß Lord Crack auf seine Stiefeln blickte und lächelnd auf einen Firniß zeigte, den freilich so glänzend zuzubereiten zu keinen frühern Zeiten möglich war.

Auf die Restauration lassen sich zwei ganz entgegengesetzte und dennoch zutreffende Bezeichnungen anwenden. 90 Sie war eben so sehr eine Zeit der Gährung, wie der Stagnation. Sie war ein Uebergang und drückt doch etwas völlig Abgeschlossenes aus. Diese fünfzehn Jahre sind der Sauerteig unsres Jahrhunderts gewesen. Sie enthielten Alles, was die Zukunft heben und hebeln wird, wenn auch unklar und gegensätzlich. Sie bilden ein wirres Chaos von Licht und Finsterniß, von Freiheit und Gewaltthätigkeit, von Ohnmacht und Kraft. Da sie aber Alles ent­hielten, so enthielten sie Nichts und sanken machtlos in sich selbst zusammen. Eine europäische Geschichte der Restauration würde eine eben so unerquickliche, wie lehrreiche Aufgabe seyn. Ein Franzose kann, ein Deutscher darf sie noch nicht schreiben, und vom Engländer fürcht’ ich, daß er weder alle Materialien be­sitzt, noch die ganze Tiefe des Gegenstandes zu erschöpfen weiß.

Ein Begriff, mit welchem man heute nicht mehr alle Beziehungen des öffentlichen Freimuthes erschöpfen würde, der aber der zweite Faktor und der gefürchtete Feind der Restaurations­periode war, ist der Liberalismus. Unter Liberalismus verstand man mehr als Freisinnigkeit und weniger als Neuerungstrieb. Der Liberalismus war auf Grundsätze gebaut und konnte einer Religion gleich geachtet werden. Er enthielt eine Menge Anknüpfungspunkte an die Herrschaft der Fürsten, ob er dieselbe gleich, wie sie war, verwarf. Der Liberalismus nahm Vernunft an und ließ mit sich unterhandeln. Allmählich aber verlor er seine politische Farbe; da er zu 91 viel gesellschaftliche Theorie in sich aufnahm und mehr eine Stimmung des Gemüths, als ein Prinzip der Handlung wurde, so konnte es nicht fehlen, daß seine Ausbreitung in dem Grade zunahm, als sich seine Intensivität verringerte. Wer macht nicht jetzt alles auf den Liberalismus Anspruch? Man frage die Doktrinäre, ob sie sich nicht für eben so liberal halten, wie der Tiersparti; und die Partei der Republikaner, was sie wieder vom Tiersparti urtheilen? Einige Fürsten haben sogar angefangen, sich für den Liberalismus zu erklären, wie ich nur auf den Herzog von Utopicshire zu verweisen brauche, den Alle kennen. Er liest nur radicale Journale, er hat keinen Bedienten, sondern nur Freunde, die ihn bedienen. Sie besuchen ihn des Morgens im gentlemenliken Frack, unterhalten sich ein wenig mit ihrer Hoheit und werden dann sehr höflich ersucht, ob sie ihm nicht vielleicht das Frühstück aus der Küche holen möchten. Der Herzog hat dabei immer eine Entschuldigung als Motiv seiner Bitte. „Ich bin noch nicht angekleidet, Sir,“ heißt es. „Sie sind ja gerade auf den Beinen, Sir! Machen Sie mich zu Ihrem Schuldner, Sir, u. s. f.“ Wenn der Herzog ausfährt, so sind Kutscher und Bediente seine jüngern Brüder, die neben ihm sitzen, die Peitsche führen und den Schlag nur deßhalb aufmachen, weil sie gerade den Vorsprung haben. Der Herzog hat, weil es ihn beunruhigt, vorn einen Kutscher auf dem Bock sitzen zu sehen, sich deßhalb auch für den Winter zu offenen Wagen bequemen müssen, 92 weil anders sein Freund nicht neben ihm sitzen kann. Man hat schon oft gefürchtet, daß er bei strengen Jahreszeiten aus Demokratie erfrieren würde. Die Herzogin ist nicht von besonders hohem Stande, aber sie hätte jetzt wohl Anspruch darauf, da sie die herzogliche Würde durch ein enormes Vermögen, das sie dem Herzog zubrachte, erkaufte. Allein ihr Gemahl entzieht ihr jeden ebenbürtigen Umgang. Er ladet ihr oft Theevisiten ein, wo die Weiber erscheinen, von welchen das Geschirr, das auf dem Tische steht, gekauft wurde. Seine Kinder, die nachgrade zu wachsen anfangen, sind nicht ohne Unterricht; aber sie erhalten ihn nur, weil sie einst ihr Brod selbst verdienen sollen. Der älteste, der junge Lord John, ist bei einem Tischler in die Lehre gegeben. Er soll alle Jahre ein anderes Handwerk erlernen und den Sultan, der nur eins versteht, weit zu übertreffen suchen. Man ist noch immer nicht darüber beruhigt, ob nicht der Vater doch noch einen seiner oft ausgesprochenen Lieblingswünsche in Erfüllung bringen wird; nämlich der herzoglichen Würde zu entsagen und in Leeds ein Fabrikarbeiter zu werden. Seine Gat­tin wird kein anderes Mittel wissen, als in Leeds eine Adresse an ihn mit Unterschriften bedecken zu lassen, worin ihm die Arbeiter für seinen Entschluß danken, ihm aber ernstlich anrathen, lieber ihrem Verdienste zuweilen eine Zulage zu geben, als ihn zu verringern durch seine gewiß unentgeltliche Concurrenz. Den Herzog in ein Narrenhaus zu sperren, wird sich nicht machen, weil in diesem Falle 93 ein Aufstand des gemeinen Volks zu befürchten steht; Vernunft ist das, was die Menge dafür halten will *)..

Man kann Thistlewood, man kann die Verschwörer, welche die Bourbonen hinrichten ließen, man kann die unglücklichen Tugendbündler (?) in Deutschland keine Märtyrer des Liberalismus nennen; denn alle diese Opfer der Politik und ihres eignen Willens handelten im Auftrage bestimmter, von vergli­chenen Zeitabschnitten abstrahirter Theorien und haben dem eigentlichen Ziele des Liberalismus mehr geschadet als genützt. Der Liberalismus schließt niemals das gesetzmäßige Verfahren aus. Er ist nur eine Methode, eine Anschauungsweise, er ist eine Emanzipation des Herzens und Verstandes, er hat darum noch keine bestimmte Zielpunkte, die in diesen oder jenen fertigen Einrichtungen bestehen. Er haßt allen Geistesdruck, allen Egoismus in Sachen der Religion, Politik und Moral; er spricht für die Befreiung der Industrie von den sie drückenden Lasten, er befördert den Volksunterricht, er schwärmt über die Theorie der Armen; er emanzipirt die Juden, die Katholiken, die Sklaven. Der Liberalismus ist mit einem Worte die Philanthropie des vorigen Jahrhunderts, nur mit dem Firniß unsrer Zeit, mit der Bestimmung der Jetztwelt. Die Philanthropie tröstete, der Liberalismus 94 befreit. Jene machte die Armuth erträglich, dieser will sie gänzlich abstellen. Der Liberalismus ist freudiger, schneller zur Hand, als die thränenfeuchte Philanthropie des vorigen Jahrhunderts. Diese beschäftigt sich mehr mit dem Menschen, jener mehr mit dem Bürger. Diese entschuldigt, jener klagt an. Es ist zwischen beiden eine Proportion, die sich mit der Ungeduld der zunehmenden Zeit selbst vermehrte. Was früher nicht befriedigte, muß jetzt erzürnen, nachdem so viel Zeit vorüberstrich, ohne daß es abgeändert wurde.

Die Verbindung des Liberalismus mit der Propaganda ist erstorben. Es ist nur ein Merkmal von ihm übrig geblieben, die gesteigerte Philanthropie. Als solche ist der Liberalismus der Schmuck unsers Jahrhunderts, das Kleinod, das im Herzen zahlloser gewesener und kommender Individuen gelegen hat und liegen wird. Natürliche vernunftgemäße Freiheit der Menschen! Großes Wort, das mit Flammenschrift über dem geheimnißvollen Tempel aller zukünftiger Zeiten leuchten wird. Von diesem Worte wird die Zeit nicht einen Buchstaben lassen. Es ist die moralische Luft, die man athmen muß, um sich in Zukunft noch als Mensch zu fühlen. Wo ist die Philosophie, die hier verdunkeln, wo die Tyrannei, die hier tödten kann? Das Dunkel wird immer nur Dämmerung seyn und dem Tage weichen müssen; der Tod ist hier nur Verwundung: das kann nicht sterben, was die Heilkraft, die Genesung selber ist. Ob auch die Sonne, sagte ein sterbender Patriarch des Orients zu 95 seinen Söhnen, ob auch die Sonne den trüben Glanz des Mondes annehmen möge, und die Erde wie das Laub des Waldes zittre: eine Wahrheit wird nicht untergehen, die, daß zweimal zwei gleich vier ist!

Der gute Greis! Er hat Recht; aber wenn er in unsern Tagen lebte, wer weiß, ob er seines Glaubens noch so felsengewiß wäre. Er kennt Sir Thomas nicht, einen Gentleman, den ich nur mit seinem Taufnamen nenne, weil er selbst daran zweifelt, ob sein Vatername der rechte sey. Dieser Gentleman hält Nichts für gewiß, aber Alles für wahrscheinlich. Er ist auf diese wunderliche Vorstellung erst seitdem gekommen, daß er sich mit der Physik zu beschäftigen anfing. Die ewige Metamorphose des chemischen Prozesses verwirrte seine Vorstellungen; besonders erhielt seine gesunde Vernunft in dem Augenblicke einen empfindlichen Stoß, wo er hörte, daß der menschliche Körper in jedem Momente ebenso sehr nicht da ist, als er da ist, daß er fortwährend sich verzehre und sich wieder ersetze, daß er Conglomerat von zahllosen kleinen Atomenkügelchen wäre, die nur den Schein des Zusammenhanges hätten. Seither sind alle seine Begriffe in eine solche Unbestimmtheit übergegangen, daß er in einer überheißen Stube vor Frost zittert, daß er mit seiner Devise „Nichts Gewisses weiß man nicht,“ die ausgemachtesten Dinge in Abrede stellt. Weil er alle Dinge für möglich hält, so streitet er allen ihre natürlichen Eigenschaften ab. Er würde es auffallend finden, wenn Jemand daran zweifelte, daß in Zukunft die 96 Jahreszeiten mit einander umkehren. Er beweist uns sogar in seiner Art die Möglichkeit, zwischen den Frühling und den Sommer den Winter einzuschalten, und kömmt dann gewöhnlich nach solchen unvernünftigen Behauptungen auf die moralische Phrase zurück, daß bei Gott nichts unmöglich wäre. Unsere großen Erfindungen gaben Sir Thomas nur das Recht, im Geiste noch weit größere zu machen. Ein Zeitalter, das die Dampfschiffe und Eisenbahnen, die Taubenposten und die Schnellposten erfunden hat, kann bei ihm Alles zu Stande bringen. Allein diese Manie ließe sich noch ertragen. Sie macht Sir Thomas nur lächerlich. Unerträglich wird sie aber für Jedermann, wenn er sie auch auf seine nächsten Verhältnisse anwendet. Jeden Auftrag, den man ihm gibt, richtet er anders aus, weil er die Absicht des Andern richtiger zu treffen glaubt, wenn er sie umkehrt. Es ist in keinem Ding Verlaß auf ihn. Sagt man ihm: Wollen Sie heute bei mir diniren? so lächelt er und sagt: Ich komme zum Abendessen; weil er nämlich glaubt, meine eigentliche Absicht errathen zu haben. Er hat die Gewohnheit, nichts einfach zu verstehen, sondern hinter Allem noch etwas Verstecktes anzunehmen, das zu errathen er sich für gescheut genug hält. Sagt man zu ihm: Guten Tag, Sir Thomas, so denkt er, man will ihm eine Falle legen, und fragt: Wie meinen Sie das? Kurz, dieser Mann ist sehr weise, sehr gescheut, ein großer Dialektiker, im Uebrigen aber unausstehlich.

97 Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Iliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub’ ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Inhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcut­ta zurückgebracht haben. Die 98 Geschichte der römischen Könige hat der große Niebuhr in eine Fabel verwandelt. Wenn das so fortgeht, so werden wir in Miltons verlorenem und wieder gewonnenem Paradies bald nur noch die allegorische Darstellung eines Handelfallissements sehen, in Pope’s Menschen eine Theorie der Algebra, weil das Größte und das Kleinste darin besungen und gleichsam das Sandkorn, das den Schöpfer preist, darin gemessen wird; in Göthe’s Egmont endlich ein poetisches Handbuch der Technologie, weil soviel Handschuhmacher und sonstige Handwerker darin vorkommen.

Die abenteuerlichen und wunderlichen Vorstellungen, welche in den Köpfen der Zeitgenossen wohnen, entspringen aus der geringen Antheilnahme derselben an den Ereignissen, die mehr oder weniger doch nur in den Händen der Machthaber liegen. Oder, um gerechter zu seyn, es war die Restaurationsperiode, wo die Gemüther, dem öffentlichen Leben abgewendet, sich an die Annahme der widersinnigsten Behauptungen gewöhnten. Wenn die Bürger nicht mehr die Volksversammlung besuchen, so werden sie auf den Gemüsemarkt gehen, in die Ringschule, auf die öffentlichen Spaziergänge und werden bald den Sophisten in die Hände fallen. Alle reaktionären Maßregeln rächen sich. Sie wol­len die politische Beweglichkeit nur zügeln, aber die Spannkraft ist bald hin, die nicht in Thätigkeit gesetzte Maschine rostet. Wo zwischen Regierenden und Regierten kein vertrauensvoller und wechselsweise sich bedürftiger Verkehr 99 Statt findet, da lassen die Springfedern bald nach, welche das öffentliche Interesse straff und elastisch zusammenhalten. Der politische Indifferentismus ist noch gefährlicher, als der religiöse. Denn der letztere kann wenigstens mit einer Moral verknüpft seyn, die, weil sie Niemanden betrügt, Niemanden bestiehlt und überhaupt noch keinen Mord begangen hat, sich immer noch für hinreichend fromm und himmelswerth halten kann. Allein der politische Indifferentismus, selbst wenn er sich in den Schranken des polizeilichen Gehorsams hält, frißt und nagt wurmartig am Staatsgebäude und macht es so morsch, daß es Wind und Wetter nicht mehr ertragen kann. Warum sank Spanien von einem so hohen Gipfel des Ruhmes und der Macht herab? weil der Begriff der Oeffentlichkeit in diesem Lande völlig erschlafft war, weil eine Wechselseitigkeit des Throns mit dem Volke weder im Guten, noch im Bösen (denn selbst Kampf gegen das Volk belebt das letztere mehr als Indifferentismus) versucht wurde. Italien und Deutschland würden dieselbe Blöße geben, wie jetzt die pyrenäische Halbinsel, wenn diese Länder nicht den Vortheil gehabt hätten, daß sie in sich zersplittert waren und auf diesem Wege nicht so durchgreifend und massenhaft verfallen konnten. Und doch – die süddeutschen Fürstenthümer waren die ohnmächtigsten gewesen bis auf die französische Revolution, und in ihnen offenbarte sich auch der Indifferentismus am beklagenswerthesten, in ihnen traf Napoleon weder National- noch Territorialgefühle an.

100 Die reaktionären Maßregeln rächen sich sogar in dem Guten, was sie zu bewirken scheinen. Wenn in der Politik statt Per­sönlichkeiten künftig nur noch Ideen gelten sollen, wenn den unsichern parlamentarischen und mehr oder weniger auf Indivi­dualität zurückkommenden Gang der Staatsmaschine eine, wenn auch noch so geregelte Büreaukratie ersetzen soll; so wird sich das thatkräftige, energische, an der Oeffentlichkeit, wie am eige­nen Körper betheiligte Interesse der Bürger bald verlieren. Der Staat wird eine Domäne, die Bürger Kronbauern. Pachter oder Herr, Dieser oder Jener, das wird zuletzt den Dienenden gleichgül­tig. Ein Augenblick der Gefahr steht vor der Thür, die Hülfs­mittel der Büreaukratie, das sklavisch geschulte Militär sind er­schöpft und geschlagen: wo dann anpochen? wo neue Kräfte herneh­men? wo Opfer, Heroismus und Begeisterung aus der Erde stamp­fen? Nein, die Hauptsache wird in der Politik immer bleiben, sie, wenn nicht auf die Freiheit, doch wenigstens auf die Nationalität zu basiren. Das Volk muß die Regierung oft sprechen hören, sie muß sich mit ihm verständigen, sie muß fortwährend eine Bekanntschaft mit ihm unterhalten, die im Augenblick der Gefahr nicht so schnell gemacht werden kann. Wenn sich aber die Reaktion vor der Sprache des Volks, die allerdings platt, breit­züngig und regellos ist, entsetzt, dann wird sich auch das Volk gewöhnen, die Sprache der Regierung nicht mehr zu 101 ver­stehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn.

Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Sei­te kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen moch­ten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Ver­hältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesell­schaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheisch­ten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus.

Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die 102 Reaktion gegen den Idealismus durch das plötzliche Erscheinen der Cholera ausgedrückt scheint. Ich weiß zwar, daß Doktor Heftpflaster das ein­zige spezifische Mittel gegen sie besitzt: ich will es dem gelehr­ten Herrn nicht streitig machen, daß er Tag und Nacht seinen Gott bittet, nämlich die Zirbeldrüse der Welt, wie er seinen Gott nennt, er möchte England die Cholera und seinem Specificum, das er nicht bekannt macht, den Triumph bringen. Aber England bleibt von dieser Seuche so ziemlich verschont. Warum? Aus demselben Grunde, weßhalb nur der Continent von ihr heimgesucht wurde.

Um mich deutlicher zu erklären, die jetzige Richtung des Continents geht auf ein Ziel hin, das in England allgemein genug verbreitet ist. Wir stecken zu tief in dem Mechanismus der modernen Industrieinteressen inne, als daß wir durch die Cholera erst aus der Träumerei an die Wirklichkeit, die längst unser Bauch und unser Gott ist, brauchten erinnert zu werden. Die Ideenanarchie bedurfte eines Reagens. Der große asiatische Uterus der Geschichte, der Europa schon so viel Anstöße gegeben hat, that sich auf und spie die Pest über uns aus. Im Mittelalter sandte uns Asien den schwarzen Tod. Der schwarze Tod schuf den religiösen Pietismus. Der Pietismus schuf die Reformation. Die Cholera hat eine ähnliche Bestimmung. Die Cholera schuf eine überwiegende Tendenz zum Materialismus; denn er purgirte den Idealismus, der sich übergessen und übertrunken hatte, und aus dessen verdorbenem 103 Magen kein reiner Hauch mehr über Europa wehte. Der Materialismus wird eine neue Revo­lution schaffen, wenn auch mit Erscheinungen, die sich kaum ahnen lassen.

Ich besitze einen Freund, der sich bisher mit der Quadratur des Zirkels beschäftigte, der mir aber kürzlich erklärt hat, er halte es für das größte Philosophem unsres Jahrhunderts, aus dem Süßstoff der Runkelrübe Zucker zu machen. Er hatte dem Parlamente seine früheren Versuche, jenes Quadrat zu ent­decken, vorgelegt und von ihm beinahe eine Anweisung auf das Narrenhaus erhalten. Jetzt will er sich durch die Runkelrübe rä­chen. Er geht auf den Continent, legt eine Fabrik an und wird Englands Handel um so viel Prozent beeinträchtigen, als die Runkelrübe wohlfeiler ist, wie das Zuckerrohr. Ein Anderer schrieb bis jetzt Romane, von denen sogar die ersten Theile vergriffen sind, wenn auch die letzten immer liegen blieben. Jetzt arbeitet er unter Lord Broughams Auspicien an der Cabinetsencyclopädie und wird diese nützliche Unternehmung durch ein vollständiges System bereichern, wie man Kindern im Spiel die verwickeltsten Sätze der Mechanik deutlich machen kann. Sehen wir nicht, daß Gegenstände des abstraktesten Wissens, z. B. die Nationalökonomie, jetzt schon poetisch behandelt werden, ja sogar, daß es eine Dame ist, welche diesen Zweig der Poesie, das moderne Lehrgedicht, mit vorzüglichem Glücke behandelt? So nehmen alle unsere Vorstellungen einen auf die 104 Erleichterung der bürgerlichen Existenz, auf die Vermehrung prak­tischer und solider Kenntnisse, auf die Popularisirung dessen, was zu wissen allen nützlich seyn kann, hingerichtete Tendenz an. Die Menschen unsrer Zeit, von denen wir noch eben sehen, wie schwer es ihnen ward, Klarheit in ihre Begriffe zu bringen, somnambüle Träumer über Theorien des Staates und der Kirche, halbe Philosophen, deren Ideen nicht zum Durchbruch kommen konnten – diese erhalten jetzt plötzlich einen Stoß, wo sie die Wahrheit und Einheit der Gesellschaft wie einen Stern aufgehen sehen. Eine merkwürdige, vorher unerhörte Uebereinstimmung beseelt ihre Absichten. Sie durchkreuzen sich nicht mehr, um ihre Interessen zu verfolgen, sondern diese Interessen selbst verlangen, daß sie Einer des Andern bedürfen, daß sie ihre Arbeit theilen, und daß Jeder, wenn er vom Ganzen Vortheil haben will, nur für seinen Theil Ansprüche, sowie Leistungen einsetzen darf. Diese Erscheinung ist eine Reaktion des Verstandes gegen die Phantasie, eine Reaktion der Natur und der baren Wirk­lichkeit gegen den überfliegenden Idealismus. Die Massen, die sich zersetzen wollten, werden wieder geregelt. Durch eine materielle Abführung wird das Gleichgewicht des europäischen Körpers wieder hergestellt.

Ich glaube, man wird so lange fortfahren, die materiellen Tendenzen zu verfolgen, bis man mit Schrecken wahrnimmt, daß die moralischen darüber vernachlässigt sind. Wenn die Prosa uns die Poesie erstickt, ist das 105 noch nicht einmal so viel, als wenn auch das Herz erstickt wird. Man beruhigt sich zwar damit, daß man sagt: die Moral wird nicht zurück, sondern nur bei Seite gesetzt; man wolle sie nicht leugnen, sondern nur einstweilen auf sich beruhen lassen. Allein es gibt keine Tugend, wo es keine Uebung derselben gibt. Die Ideen, welche auf sich beruhen, sind todt. Sie bedürfen, um zu leben, gleichviel des Fürs oder Widers, der Vertheidigung oder des Angriffs; wenn sie nur in Bewegung sind, wenn sie nur anregen und angeregt werden. Das Salz kann auch dumm werden, sagte der große Begründer einer idealischen Weltordnung. Aber auch all unser Wissen, unser Glauben, unser Gott, unsre Freiheit, unsre Unsterblichkeit: dieß Alles kann dumm werden, wenn man es außerhalb der Discussion setzt. Spinneweben werden sich darüber ziehen. Schimmel und Fäulniß werden die Zinsen eines Kapitals seyn, das man nicht an irgend einen soliden Platz, an das Herz und Gemüth wenigstens, wenn man nicht an die Spekulation mehr will, anlegt.

Wenn mir durch eine Erfahrung dieß Phänomen recht klar gemacht wird, so ist es das Bild einer jüdischen Familie, die berühmt genug in der Handelswelt ist, als daß ich nicht gestehen sollte, sie mehr als oberflächlich zu kennen. Hier wird ein scharfer Beobachter leicht drei Abstufungen der Bildung wahrnehmen können, drei Abstufungen, die zu gleicher Zeit die verschiedenen Phasen unsrer Zeit veranschaulichen. Im Hintergrunde steht ein alter 106 Patriarch, der Großvater des Hauses, ein schlichter, rein an jüdische Sitte haltender Greis. Sein Anblick erregt Ehrfurcht. Sein weißes Haar, ein kurzer Bart, von dem er sich nicht trennen kann, sein dreieckiger Hut, sein Gang, sein röthlicher Rock, Alles dieß ruft eine verschwundene Zeit zurück, die nirgends weniger noch zu ahnen wäre, als in dem Hause, wo der alte Patriarch noch immer die erste Person ist, wo alle Extravaganzen der Mode ihren duftenden Tempel finden, wo Teppiche und Tapeten als Unterlagen einer Pracht dienen, die selbst von den Häusern der reichsten Würdenträger unserer Krone nicht wiedergegeben werden kann. Im Vorgrunde dagegen steht der Sohn des Hauses, ein bildschöner junger Mann, der dem charakteristischen Ausdruck eines Italieners mehr gleicht, als einem Juden. Der Großvater heißt Moses, dieser Enkel Moritz. Moritz spricht die meisten neuern Sprachen, zeichnet, malt, ist Virtuose auf dem Pianoforte, componirt, dichtet, er ist ein Genie. Und dieß noch nicht einmal genug! Moritz ist sogar Schwärmer, Enthusiast mit der Reverbère der Melancholie. Er fühlt sich unglücklich. Er verachtet seinen Reichthum, seine Eltern sogar, die ihn zusammenscharren. Er steht, kaum wissend, daß er Jude ist, an der Spitze eines Comité’s zur Emanzipation der Israeliten. Er hat Herrn Grant *) einen Wagen mit 107 sechs Pferden schenken wollen, wenn dieser nicht ein so guter Fußgänger wäre. Kurz, Moritz ist ein Kind des Tages und des Jahrhunderts, wenn das Letztere seinen schwärmerischen Zug behaupten sollte.

Wer steht nun aber in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen? Der Herr des Hauses, der Besitzer der Firma, ein Pair der Börse, ein Mann von mittlerer Größe, im feinsten königs­blauen Frack, eine goldene Kette wedelt ihm auf dem schwellenden Embonpoint, das Gesicht leuchtet von der Vortreff­lichkeit seines Mittagstisches. Man vergesse nicht! Dieser Banquier hat Geist, haarscharfen Verstand, Adlerblick, Combination, er hat sogar ein Herz, aber er braucht es nicht; er setzt es nicht in Bewegung. Die Nationen, die Könige, die Interessen derselben sind da, aber ihn kümmern nur ihre Anleihen. Seine Ideen erstrecken sich auf jede Lebensrichtung, aber sie er­regen sein Gemüth nicht, sondern beschäftigen nur seine arithmetische Combination. Mildthätigen Zwecken wird er sich nie entziehen. Er unterschreibt jede Subscriptionsliste, aber nicht aus Barm­herzigkeit, sondern weil er den Talisman seines Glückes damit beschwören will, weil er fürchtet, an der moralischen Ordnung der Dinge etwas zu verstoßen, das sich rächen könnte! Sonst ist sein Inneres kalt, frostig kalt. Aktien, Dividenden, Coupons, Eisenbahnen, Kanäle beleben seine rationelle Phantasie, Tunnel­ideen untergraben sein Inneres. Er interessirt sich für Alles, wenn es Interessen trägt. Kohlengruben sind seine Gefäße, 108 Metallgänge seine Adern. Und doch qualmt sein Wesen nicht, sondern es hat eine frische zugängliche Atmosphäre; er trägt die feinste Wäsche und verwendet sogar die Künste der Toilette auf einen dicken Backenbart, den er sich à la Louis Philippe zubereitet. Dieß ist der Mittler zwischen jenen beiden äußersten Grenzen. Er ist der Held des Moments, der Repräsentant einer Weisheit, die in der That die allgemeine Weltweisheit werden wird.

Allein es wird nicht Allen so leicht, die Moral zu vergessen, wie dem Sohne des Moses und dem Vater des Moritz. Dieser jüdische Gentleman hat gut seine Cravatte binden und sich den Backenbart schwärzen. Seine Philosophie ist nicht überall die des epicurischen Wohllebens, sondern noch öfter bei einer Andern stoischen Abhärtung und einer hündisch cynischen Anstrengung. Der Handel ist Dem ein Leichtes, der schon besitzt. Aber die, welche erst erwerben wollen, was können die einsetzen? Trauriges Bild, das sich vor unsern Augen entfalten würde, könnten wir aus der Vogelperspektive einen Augenblick das gleichzeitig sich erschöpfende Treiben und Laufen der Massen beobachten, wie sie stöhnen und ächzen, wie sie arbeiten mit zwei Händen, als hätten sie die Arme des Briareus, wie sie ermattet hinsinken und neue Schaaren, unbarmherzig entweder oder im Eifer blind, über sie hinwegstürmen! Großer Gott, jetzt in deine Welt zu blicken – ist, wie in das Gewimmel schauen, wenn man Mehlwürmer in einem Topf mit geriebener Semmel aufbewahrt; oder wenn man in einem Glase Wasser 109 mikroskopisch das Wüthen und Gebärden der Ungeheuer wahrnimmt, die nach einer sichtbaren und auf vier Füßen krie­chenden Existenz ringen. Wer ahnte, was uns umgibt? Wir trin­ken jenes fürchterliche Glas Wasser ungescheut. Wir trinken es, weil – uns dürstet; weil wir Bedürfniß fühlen, wie Alles, das lebt. Aber wie schwer wird es werden, in Zukunft zu leben! Eine ungeheure Conkurrenz ist für Eure materiellen Interessen da: welche entsetzliche Mittel müßt Ihr schon brauchen, um sie auszuhalten! In Euern Fabriken siecht und modert das edle Menschenthum; Kinder, die mit geraden Gliedern auf die Welt kamen, verlassen sie, noch lange nicht am Schlusse des gereiften Mannesalters, mit gekrümmten Gliedern! Eure dampfenden Maschinen sind die fürchterlichen Molochsgötzen, auf welche Jung und Alt geopfert werden! Ihr überbietet Euch gegen einander, bis Ihr ermattet hinsinkt und nicht mehr weiter könnt! Frische Wahnsinnige kommen und setzen da das Beginnen fort, wo Ihr es stehen ließet; es gedeiht aufs Aeußerste: über das Siech­thum der Generation, über den Untergang der Sitte und der Moral, über die edelsten Blüthen und Resultate der Jahrhunderte steigt die verwegene Industrie fort, um nicht bloß zu existiren, sondern doch mit einer kleinen Nüançe zu existiren, um einem Weibe einigen Comfort zu geben, um Kinder doch wenigstens so lange von der Arbeit zu befreien, bis sie ein gewisses Alter erreicht haben. Also nicht einmal um des Luxus willen so außerordentliche 110 Anstrengungen! Wie wird dieß werden? Die Hyperculmination der Industrie und des Merkantilismus wird von ihrer schwindelnden Höhe herabstürzen, und eine Noth, eine Oede wird eintreten, wo man freilich zu nichts Anderem zurückkehren kann, als zum Trost der Moral, zu Gefühlen der Resignation, zur Bescheidung und Bescheidenheit. Die Gesetz­geber und Fürsten werden dann ächzen und stöhnen, wie man es macht, daß wieder warmes, pulsirendes Leben in die verklammte Gesellschaft zurückkehre. Man wird die moralischen Interessen mit Gewalt zu befördern suchen, weil sie allein das Dulden und Entbehren lehren.

Um diesen Erfolg, der trotz aller Warnungen nicht ausbleiben wird, weil er in einer Naturnothwendigkeit begründet ist, noch anschaulicher zu machen, hat man nur nöthig, unsere jüngsten Erlebnisse genauer anzusehen. Wir sind mitten in einer bedenklichen Katastrophe des kalten egoistischen und nur auf die Materie gerichteten Zeitgeistes begriffen, wir haben sie in dem Mo­mente, wo dieß geschrieben wird, noch nicht völlig überwunden, können auch nur wünschen, nicht beweisen, daß sie bald vorübergegangen seyn wird. Unsere Bank war die Möwe, welche den Sturm voraussah und ihn zu verscheuchen suchte, indem sie zuerst zu schreien anfing.

Man muß wissen, daß die Basis des neuern Handels nicht mehr das Geld ist, sondern der Credit, daß man durch die Wechsel- und Bankerfindung zwar die Handelswelt näher gebracht hat, es ihr aber darum 111 doch möglich machte, sich mit ihrem Vermögen geheimer zu halten. Das Papier war zunächst nur ein Flügel für das schwere Geld, eine Erleichterung seiner Cirkulation. Papier sollte die gesteigerte Beweglichkeit des Geldes ausdrücken. Ja es war sogar billig und in der Ordnung, daß das Papier dem Gelde einen höhern Werth gab, weil nämlich die Erleichterung des Umsatzes eine schnellere Benutzung und Disposition der Zahlungs- und Unternehmungsmittel zuließ. Leider ist dieser Satz sogleich mißverstanden worden. Statt von dem nun höhern Werth des Geldes zu sprechen, sprach man nur von dem höhern Werthe des Papiers. Man emanzipirte das Papier zu einem unabhängigen Körper, da es doch nur der Schatten war, den das Geld in der Creditsonne warf, ein Schatten, je nach der Constellation der Umstände, länger oder kürzer als sein fester Körper.

Man kann das Verhältniß des Kredits zum Vermögen des Papiers und zum Gelde mit jener optischen Täuschung vergleichen, welche aus kleinen angezündeten Keilen durch die umrollende Bewegung feurige Sonnen und Räder macht. Die Bewegung darf, um die Täuschung zu unterhalten, nicht einen Nu ausbleiben. Allein so geregelt oft die Handelscirculation in günstigen Perioden war, so treten doch oft aus entfernteren Ursachen Stockungen ein, wo das Idealische vom Handel auf das reelle Maß wieder zurückgeführt werden muß. Ja oft liegen auch die Ursachen ganz nahe bei den Wirkungen und beinahe in den letztern selbst. Es gibt einen 112 Umsatz, der krampfhaft ist, den theils der Schwindelgeist des Einzelnen in Bewegung setzt, theils das System der Privatbanken in eine Höhe treibt, wo der fliegenden Hitze bald Zähneklappern folgt.

Der Idealismus der Börse beruht auf anderen Grundlagen als der des Handels. Jener fingirt Ausgaben, für welche er mit einem gewissen Risiko reelle Zinsen bezieht: es steckt jüdische Wucherei in dem System. Dieser fingirt unverhältnißmäßige Nennwerthe für eine kleine Summe, die ihm disponibel ist: es steckt in ihm die Verzweiflung eines Bankeruttirers. Dennoch hat die Börse einige baare Zahlungen unumgänglich nothwendig. Dieß machte, daß sie den übrigen Handel vollends absorbirte. Die Sucht, hohe Zinsen zu heben, verführte den Speku­lationsgeist zu einer Menge von Unternehmungen, die alle auf den Geldmarkt und den speziellen Merkantilismus eine nach­theilige Wirkung äußerten. Ein Enthusiast tritt auf und entwirft den Plan einer neuen Kanalverbindung, einer Eisenbahn, eines Tunnels, vielleicht noch einmal eines Tunnels unter dem Ozean fort. Er steht nicht lange allein, die Spekulanten, um nicht zu sagen die Kapitalisten, folgen ihm. Die erste Einschreibung ist allgemein, bei der zweiten fehlen schon einige, die dritte hält man der Ehre wegen aus, die vierte muß man schon des Kredits wegen. Alle nur mögliche Summen werden aufgetrieben, um die lachende Dividende zu beschleunigen; dem Handel fängt an das baare Geld auszugehen; er 113 rechnet, er macht seine Plus und Minus auf dem Papiere, die Werthe sind da, und das baare Geld fehlt, um sie einlösen zu können. Ginge das nur eine Zeitlang so fort, ohne eine entschlossene Maßregel, wie sie in unsern Tagen der englischen Bank so verdacht worden ist, so würde man bald da angekommen seyn, wo im vorigen Jahrhundert Frankreich stand, als die Mississippiaktien ins große Weltmeer, ins große Nichts zerflossen.

Ich will das Beispiel eines Schwindelhändlers geben. Master Robber gilt an der City, wenn auch nicht gerade für einen Chri­sten, doch für einen respektabeln Mann. Master Robber besitzt gerade so viel Ehrlichkeit, als er braucht, um den Strick zu vermeiden. Ich halt’ es für meine Pflicht, die Welt über dieß Originalgenie aufzuklären, das zwischen Scylla und Charybdis jede Linie kennt, die vor dem Scheitern sicher ist.

Master Robber erbte ein baares Vermögen von 1000 Pfund. Weil er es ohne Schulden erbte, so glaubte die Welt, er hätte wenigstens deren 10,000 geerbt. Er konnte wohl sagen, daß er einen Kredit von 9000 Pfund hatte. Man bot ihm diesen Kredit an, und er war ehrlich genug, – ihn anzunehmen. Er ist das Musterbild eines Schwindelhändlers, wie es deren wenige geben mag. Sein Geschäft besteht erstens im Papierhandel, zweitens in Aktiengeschäften, drittens in einem Indigohandel. Im ersten ist er nur Spieler: er bezahlt 114 die Differenzen. Im zweiten hält er bei der zweiten Einzahlung nicht mehr aus, und thut dieß, wie viele ehrliche Leute, von denen man bei einem solchen Verfahren nicht gradezu sagte, daß „etwas faul ist im Staate Dänemark,“ sondern nur, daß sie kluge und gewandte Geschäftsleute, keine Schwindelhändler, im Gegentheil Männer wären, die für ihre Familie Sorge trügen. Das dritte Geschäft endlich braucht das meiste Geld; denn bei den Versteigerungen muß baar bezahlt werden. Was er hat, reicht aber gerade für den Indigo hin. Für die Staatspapiere und die Aktien kann er sich das Geld nur durch Wechselreiterei und andere Künste zusammentreiben. Er stellt z. B. dem, welcher an ihn zu fordern hat, Mr. A., einen Wechsel zu auf Mr. B. Der Wechsel ist in vier Wochen fällig. Mr. A. frägt B., ob er den Wechsel honoriren werde? B. antwortet: Gewiß, wenn Mr. Robber mich bis dahin in Zahlungsstand versetzen wird. Es vergehen drei Wochen, da erhält Mr. B. einen Wechsel auf C., zahlbar in vier Wochen. B. frägt C.: Wirst du zahlen? Warum nicht, antwortet C., Mr. Robber ist ein ehrlicher Mann, ich werde bis dahin noch Summen für ihn beziehen können. Mr. B. besinnt sich demnach durchaus nicht, Mr. A. zu be­zahlen. Wenn man nun sagt, daß dieß Verfahren die Art eines Bankeruttirers ist, so hängt dieß nur immer von dem Vorurtheile ab, ob auch ehrliche Leute einen solchen Weg einschlagen. Wer kann Mr. Robber in die Karten sehen? Er stellt jährlich auf die obige 115 Weise zwölf Wechsel aus, jeden im Werth von 10,000 Pfund: jeder bezieht sich auf den andern. Es ist elfmal eine Fiktion, das zwölftemal auch eine Fiktion für den, der zahlt, aber für ihn nicht, der nimmt. Einige Jahre wird das noch so fortgehen. Dann hat sich Robber in den Firmen erschöpft und wird falliren, wenn er in die Lage kömmt, auf eine Firma anzuweisen, wo er nur im Minusangedenken steht.

Kehren wir auf den Zusammenhang unsrer Darstellung zurück – welch ein Abstand zwischen den ungeheuern Entwickelungen, welche dem Menschengeschlechte noch bevorstehen, und den kleinen Friedensstörungen, welche in unsern Tagen schon eine so weit verzweigte Macht ausüben konnten! Was ist selbst die Julirevolution mit ihren möglichen und erstickten Folgen gegen jene Umwälzungen, die unvermeidlich scheinen, wenn man die physischen, moralischen und intellektuellen Interessen der Nationen erwägt, wenn man die europäische Gesellschaft auf einem Punkt der Illusion und Einstweiligkeit antrifft, der nothwendig einmal überschlagen muß und der Natur, dieser großen Gleichmacherin aller Dinge, weichen wird! Vom sublimsten Gedanken herab bis zum täglichen Brode, Alles ist Hebel für die Zukunft geworden, Alles deutet auf eine neue Schöpfung des Himmels wie der Erde hin, die uns vielleicht das Alte wieder bringt, es aber in einem neuen Gewande bringt, in Kleidern, wo die Thatsachen den Ideen angemessen sind, überhaupt in einer Umgestaltung, wo sich die vorigen Wider-116sprüche, in welchen jetzt die Ideen- und die Sinnenwelt stehen, werden abgeschliffen haben. Was die europäische Staats- und gesell­schaft­liche Gemeinschaft noch in ihrer jetzigen Schwebe erhält und vielleicht noch fünfzig Jahre hin so forttragen wird, das ist die Differenz der beiden Pole, das geistige und leibliche Interesse; aber selbst aus dem Schooße der Mittelmäßigkeit, aus dem Gleichgewichte der beiden Wagschalen unsres Geschicks wird sich die Bewegung erzeugen müssen, da einmal Ruhe, das Gesetz der Trägheit für unser Jahrhundert, und mag man es noch so versinnlichen, als etwas Absolutes und auf sich selbst Begründetes unmöglich ist. Und sollte Europa jedes Lüftchen von sich abhalten, damit keine seiner Institutionen, die verkohlt und als Aschengestalten, den in Pompeji begrabenen gleichend, dasitzen, auseinanderstiebe; sollte es möglich seyn, daß die moralische und physische Revolution unseres Erdtheils sich verstän­digt und alle Leidenschaften von sich wirft, so muß es im Plane der Weltregierung liegen, auch die übrigen Erdtheile mit der Zeit an der Zeit Theil nehmen zu lassen und sie an die Gränzen Europa’s zu führen, mit stampfenden Rossen, mit drohenden Geberden, mit Rache oder Neugier, wie wir es verdienen werden. Ach, welch ein leichtes Athmen meiner Seele, wenn die Sklaverei unsrer Existenz, unsrer Vorurtheile und Privilegien einst mit einer Opposition enden sollte, die nichts von dem achtet, was ich achten muß, und die mich immerhin! dann auch selbst auf die Schlachtbank führen mag! Mißver-117standen zu werden, ist weit weniger unerträglich, als verstanden und nicht erhört!

Die Julirevolution war die Frucht eines Irrthums, den die Au­to­ritäten nicht hegen durften, ohne sich selbst wehe zu thun. Sie entsprang aus dem Hader, den die Vertheilung der Erbschaft Napoleons erregte. Napoleon hatte sich der Revolution be­mächtigt. Er wurde gestürzt von einer Reaktion, die den Fürsten, Zeuge dessen die Juliordonnanzen, nicht klar geworden war. Die Bourbonen nahmen von den Tuilerien wieder Besitz, von den alten Vorurtheilen und Privilegien, von ihren frühern Leiden­schaften; sie hatten nichts vergessen und nichts gelernt. Die Restauration wurde als ein Sühnopfer Ludwigs XVI. ausgelegt. Die außerordentliche Periode der französischen Geschichte wur­de aus den Annalen derselben gestrichen. Die Reaktion gegen Napoleon wurde falsch verstanden. Ja, der Corse war inpopulär, sein Ehrgeiz brannte durch sein Antlitz durch, alle Welt sah es, die Völker geriethen in Extase, als es schon unmöglich gewor­den schien, diesen Koloß zu zertrümmern. Aber was wollten sie retten? Ihre Dynastien. Gewiß ihre Dynastien, doch unter dem Siegel eines Vertrages, unter dem Versprechen einer gleich­getheilten Beute: Euch die Macht, uns die Freiheit!

Ich will nicht von Treulosigkeit sprechen, ich spreche nur von einem Irrthum. Die Julirevolution soll in meinen Augen kei­ne gehässige Rache, keine Strafe seyn; denn wie kann das Volk, das noch immer so schwache, 118 trotz alles Predigens von Volkssouveränetät so ohnmächtige und nichtige Volk, von Rache und Strafe sprechen! Die Julirevolution war eine Berichtigung. Sie war ein Akt des Zorns, aber die Mäßigung zügelte alle ihre Ausschweifungen. Sie suchte sich sogleich ein Bett, um ihre Fluth zu dämmen und als ein wahrhaft nützlicher und schiffbarer Strom so viel Terrain zu gewinnen, als verdürstetes und von der Sonne verbranntes Land da war. Und dieß lustige Dehnen und Schlängeln des Stromes ist es, was immer meine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen hat. Man bedenke die nächtliche Stille der Restaurationszeit. Der gallische Hahn kräht: plötzlich welch ein Regen und Bewegen, welches Feuer in Augen, die so verschlafen waren, welcher Accent in Redensarten, die sonst so monoton gesprochen wurden! Die Julirevolution drang in die Kasernen, in die Schulen, auf die Kanzeln, Niemand, auch nicht Einer, weder Metternich noch Wellington (den Herzog von Modena nehm’ ich aus), Niemand entzog sich dem Faktum. Es mußte bestätigt werden. Mit seinen Folgen mußte parlamentirt werden. Ich möchte hier keine Wunde wieder aufbrechen – ich kann nur dieß nicht umgehen, nämlich mein unerklärtes Erstaunen, wie wir uns kaum noch so sicher und behag­lich fühlen können und im nächsten Momente aufspringen müssen vor den Naphtha­flammen, die aus der Erde schlagen. Was hat nicht die Julirevolution Alles verrathen? Wie lehrte sie die Stummen reden und die Lahmen gehen! 119 Wir treiben jetzt alle wieder unser solides Geschäft und wiegen unsre Gewürze – dennoch ist es mir oft, als vernähm’ ich unterirdisch ein dumpfes Gähren und Brausen, ein Sieden und Rollen. Ich male mir eine Zukunft mit den schreiendsten Farben aus und muß an mein überwältigtes, zu ersticken drohendes Herz greifen und mir zuflüstern: Wär’s möglich?

Ich gehöre weder zu den Fatalisten noch zu den Radikalen. Ich werde immer annehmen, daß die europäische Gesellschaft einem Körper gleicht, für dessen Zustand die Sydenhame und Boerhave der Staatskunst noch Mittel und sogar spezifische übrig haben. Ich glaube, daß den Völkern die Revolution einen so großen Kampf gegen ihr Herz und Gewissen kostet, daß sie Jeden anbeten würden, der den Kelch an ihnen vorübergehen läßt. Ich glaub’ auch, daß dieß Gefühl so durchgreifend in Europa die Oberhand hat, daß aller Streit in der Politik mir nur daher zu kommen scheint, ob die Staatskunst positive oder negative Gesichtspunkte haben soll; ob es besser ist zu konstituiren oder nur vorzubeugen, mit einem Worte, ob man die Thatsache der Revolution anerkennt oder nicht. Niemand will sie. Die Frage ist nur: Wie vermeidet man sie? Hier divergiren die Meinungen. Die Einen wollen sie ignoriren; die Andern wollen ihr zuvorkommen. Jene wollen der Revolution die Macht nehmen, daß sie nicht ausbrechen kann; diese wollen ihr den Grund, das Recht der Berufung nehmen, so daß sie nicht ausbrechen darf. 120 Dieß ist der eigentliche Dualismus der beiden Prinzipien, welche jetzt in England und auf dem Continente sich bekämpfen. Die Revolution ist ein Schreckbild für Alle: nur wollen die Einen es bedrohen, die Andern es zähmen. Das ist der Unterschied. Die Mittel sind ganz individuell. Die Tories bilden sich etwas auf die entsetzliche Kraft ihres Adlerblickes ein. Sie erschrecken das Ungethüm. Die Whigs stopfen es voll und geben ihm, was sie können. Sie hoffen, das Thier wird sich dann nicht bewegen können.

Vergleicht man die Windstille des gegenwärtigen Momentes mit den Stürmen, welche vor sechs Jahren zu wehen anfingen, so muß sich jedes edlen Menschenfreundes Herz von der Hoffnung erwärmt fühlen, es gäbe Mittel, große und kleine, heroische und Hausmittel, um aus seinen Widersprüchen das Jahr­hundert mit heiler Haut sich retten zu sehen. Wir nament­lich, die wir uns die Aufgabe gesteckt haben, den Puls der Zeitgenossen zu fühlen und sie harmlos von ihrem Sinnen und Trachten erzählen zu hören, wollen uns den Horizont unsres kaum begonnenen Werkes nicht trüben, sondern versuchen, soviel leichten Sinn aufzutreiben, als nöthig ist, um eine Gefahr, die vorhanden ist, leicht nehmen und eine, die erst kommen soll, gänzlich vergessen zu können.

121 Die neue Welt.#

Ich hatte für das vorige Kapitel noch einen Passagier, der mitsegeln sollte. Allein der Wind blies so frisch in die Segel, daß ich die Anker lichtete und den nun am Strand sitzen Gebliebenen für ein neues Paquetboot bestimme.

Ja, Mr. Point hat mir’s erlaubt, daß ich ihn, ob er gleich mein Freund ist und mich des Jahres zwölfmal bei sich essen läßt, in meinen Zeitgenossen aufführen darf, und zwar nicht hinter dem Titel derselben, als Dedikation der Vorrede, sondern mitten unter den großen und kleinen Charakteren, welche ich mir in diesen Unterhaltungen zu zeichnen vorgenommen habe.

Wodurch ist Mr. Point so bemerklich? durch sein ungeheures Rechnungstalent. Was er sieht und hört, multiplizirt er. Er darf nur zum Fenster hinaussehen, so weiß er, wie viel Menschen auf der Straße sind. Ich ging nach einem seiner vortrefflichen Diners mit ihm in Drurylane und sagte: Point, geben Sie mir einmal das Biquadrat dieser hier versammelten Menschenmasse an! Er sah sich ein wenig um und sagte: Sie sind kein Kaufmann. Als solcher sag’ ich Ihnen, daß wenn Jeder hier unten im Parterre nur einen Schilling in der Tasche hat, die Summe gerade zwanzig 122 Pfund acht Schillinge betragen wird. Beim Hinausgehen an der Kasse fragt’ ich nach der Einnahme des Parterres. Der Eintritt war für die Person 5 Schillinge, die Kasse hatte gerade vom Parterre 102 Pfund eingenommen. So strikt und genau ist dieser Kopf. Was er sieht, gestaltet sich ihm in eine Combination um, die immer einer Größe gleich ist, welche er dividirt und addirt. Er geht auf der Straße und rechnet die Menschen zusammen, als wären es lauter Ziffern, benannte und unbenannte. Er soll der Napoleon der Buchführung in der ganzen Handelswelt der City seyn.

Allein dieß große Talent ist weit weniger dasjenige, was mich veranlaßt hat, Mr. Point unter meinen Zeitgenossen aufzuführen. Was mir weit bemerkenswerther geschienen hat, ist die mathematische Zurichtung seiner Familie. Ja, ich muß es gestehen, Mr. Point ist ein so großer Rechner, daß er alle Bande des Blutes, alle zarten und süßen Pflichten der Eltern- und Kinderliebe in ein arithmetisches System gebracht hat und über jede seiner Zärtlichkeiten und Vatersorgen einen Contocurrent führt. Besitzer eines ansehnlichen Vermögens ist er durch fünf Kinder gezwungen, es einst zu dividiren. Er ist zu sehr Mathematiker, als daß er sich durch die Gesetze über die Primogenitur bestimmen lassen sollte. Jedes Kind hat ein Buch, in welchem die Kosten, die es verursacht hat, eingetragen werden. Es ist dieß eine finanzielle Biographie von Kindesbeinen an. So wie ein neues auf die Welt kömmt, erhält es sein Folio in 123 der Bank des Vaters. Die Hebamme kostete soviel Guineen, der Kindtaufschmaus so­viel; ist das Kind größer geworden, so heißt es: Soviel Teller zer­schlagen, soviel Schaden im Garten angerichtet, so oft gefallen durch eigene Schuld, Heilungskosten; kurz, Mr. Point ist seit zwan­zig Jahren keinen Abend ins Bett gegangen, daß er nicht mit seiner Frau, die schon völlig auf seine Ideen eingegangen ist, vorher die Tagesberechnung macht. Der kleine Robert z. B. ist ein Näscher. Statt ihm nun dieses Laster abzugewöhnen, kann er Alles, was er nur wünscht, erhalten; doch sagt ihm Mr. Point jeden Tag: Es wird dir aber angeschrieben! Der kleine Robert denkt: Schreib du nur an! und ißt sich an Näschereien ungesund.

Ich muß gestehen, daß mir diese Methode, alle Tugenden und Thorheiten der Kinder in barem Gelde anzuschlagen, fürchterlich ist. Mr. Point mag mir das nicht übel nehmen. Wenn ich bei ihm im Familienkreise esse, so fehlen die Kinder nicht. Allein sie sind durch das ewige Vorrechnen, was der Eine mehr kostet, als der Andere, so bedächtig und pedantisch geworden, daß es mir war, als hungerten sie absichtlich bei den schönsten Speisen, weil sie gehört hatten und täglich hören, daß sie, je mehr sie jetzt äßen, künftig desto weniger zu essen haben würden. Der Vater beobachtet ganz genau, wie viel ein Jeder auf seinem Teller liegen läßt, und obgleich von verschiedenen Gegenständen die Unterhaltung immer recht gut belebt ist, so weiß ich doch, warum Mr. Point 124 seine Blicke zuweilen so abwesend herumschweifen läßt bei Tische. Dieß ganze Prinzip einer allzu gewis­senhaften Gerechtigkeit gegen die künftigen Erben scheint mir durchaus nicht dem Charakter der europäischen Gesellschaft ange­messen zu seyn. Nur ein Bewohner der vereinigten Staaten dürfte im Stande seyn, bis in diesem entsetzlichen Grade die Mathematik zu einer Hülfswissenschaft der Moral zu machen.

Weil ich in diesem Kapitel von Nordamerika sprechen will, spart’ ich mir Mr. Point als einen Uebergang aus der alten in die neue Welt auf. Wenn irgend etwas der Charakter der letztern ist, so ist es die Tarifirung aller Dinge im Himmel und auf Erden. Dem Amerikaner hat Alles einen Werth, und zwar immer einen solchen, der verhältnißmäßig ist und durch Zahlen ausgedrückt werden kann. Die Leichtigkeit, mit welcher der Amerikaner die subtilsten Begriffe auf Geld anschlagen kann, ist unglaublich. Selbst die Imponderabilien, als da sind, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, selbst die Metaphysik hat für ihn ein Gewicht. Sein Sinnen und Trachten ist eine ewige Reduktionsrechnung. Was unmittelbar mit dem Gelde keine Verbindung hat, das trägt er zuerst auf etwas Verwandtes über, sucht eine Analogie dafür, läßt diese die Metallprobe bestehen und findet so, daß sich Alles dasjenige, was zwischen dem Alles und Nichts in der Mitte liegt, auch mit einfachen arabischen Ziffern ausdrücken läßt.

Eine Erörterung dieses Phänomens der immer mehr 125 um sich greifenden Weltbildung schien mir an dieser Stelle nicht unpassend. Doch läßt sich der einzelnen schroff hingestellten Thatsache wenig Beleuchtung geben, und es möchte daher angemessener seyn, hier sogleich einen Versuch einzuschalten über jene politische, geistige und materielle Volksexistenz, welche jenseits des Ozeans aus einem wilden und rauhen Boden aufschoß und sich zu einer Blüthe erhoben hat, die Europa zu beneiden anfängt, und von welcher wir versuchen werden, immer mehr Ableger auf unsern eignen Boden zu verpflanzen. Ueberhaupt wird in Zukunft weder Geschichtsphilosophie noch Geschichtsdarstellung den Charakter der Vollständigkeit ansprechen können, wenn nicht den Amerikanern in ihr eine eigene Betrachtung gewidmet wird. Sie als ein Corollar, als einen Anhang zu betrachten, darf nur noch der Nationaleitelkeit oder denjenigen Philosophen gestattet bleiben, welche gewohnt sind, wie dieß in Deutschland der Fall ist, aus einer Formel, z. B. Ich ist gleich Ich! die ganze Welt zu ermitteln.

Wie verhalten sich Europa und Amerika im Weltplane der Geschichte? Ist das greise Europa bestimmt, vom jugendlichen Amerika überwunden und erfrischt zu werden? Wer von beiden Welttheilen darf Lehren geben, und wer muß sie annehmen? Diese Fragen beschäftigen Jeden, der die Politik von einem tieferen Grunde, als von dem der Intrigue schöpft. Es gibt eine Politik der Staaten und eine Politik der Völker. Jene hilft sich mit Manipulationen, Hand- und Kunstgriffen, mit 126 Maximen höchstens, die aus der Geschichte und der speziellen Lebenserfahrung gelernt sind. Diese forscht im Rathschlusse der Gottheit und verknüpft die Gegensätze der Erfahrung gern durch das liebende Band der Aufklärung, glättet die Widersprüche aus und sucht Gesammtzwecke aufzustellen, an welchen die Mensch­heit gemeinsam arbeiten solle. Was wir in diesem Kapitel geben wollen, ist eine Untersuchung nach den Grundsätzen der letztern Politik.

Es gibt zwei Ansichten in Betreff der vereinigten Freistaaten. Die eine, anhänglich an Europa, nennt sie Nachzügler der Geschichte, macht ihnen die Originalität streitig und gesteht ihnen nichts als einen Formalismus zu, den sie auf einseitige und hohle Weise durchführen sollen. Die andre, demokratischen Ursprunges, opfert ihnen die Zustände Europa’s, als überlebt und verbraucht, wirft ihnen den Kranz höchster Vollendung zu und fordert Europa auf, sich ihn so zu verdienen, wie Nordamerika. Dasselbe Land, welches Jenen eine Trivialität ist, ist Diesen ein Sitz der Freiheit und Gleichheit. Jene sehen aus Nordamerika eine Monarchie, Diese aus Europa eine Republik werden.

Man kann dem Gegensatze beider Meinungen noch einen anderen Ausdruck geben. Ist Nordamerika ein Musterstaat, der uns voranleuchtet, oder kultivirt er nur eine einzelne Branche des großen Weltgeschäftes, eine einzelne Frage, die Europa über Bord warf? Hat Amerika ein eigenes originelles, nur ihm angehöriges 127 Pensum zu lösen, oder entwickelt es eine allgemeine Idee, die einmal normal werden könnte für die ganze Geschichte?

Diese zweite Art, die Frage zu stellen, sagt mir besser zu. Ich werde mich immer dahin erklären, daß Nordamerika nur ein einzelnes Pensum zu lösen hat, daß es eine Spezialität ist. So viel Totalität des Lebens es haben mag, so ineinandergefügt alle seine Existenzäußerungen seyn mögen: gegen die Vorstellung einer allgemeinen Aufgabe, die sich der Weltgeist gestellt hat, kann ihm nur die Ehre gestattet werden, eine einzelne Strahlenbrechung derselben glänzend genug, aber nur eine einzelne wieder zu geben. Nordamerika hat eine große Mission; gerichtet auf eine Idee, ist es der Begriff der Demokratie, den es in seiner ganzen Einseitigkeit an sich ausbildet; gerichtet auf ein Land, ist es Amerika selbst, welches durch die vereinigten Staaten befreit und der Civilisation entgegen geführt werden soll. Englands Parlament wird protestiren und vielleicht eine Flotte ausrüsten, wenn es sich immer deutlicher ergeben sollte, daß Nordamerika seine Aufgabe versteht und nach der Eroberung oder Bundesgemeinschaft, wie man diese Erweiterung der Cultur nun nennen mag, trachtet; allein ohne Sorge. John Bull versteht von der Frage der Civilisation nicht mehr, als daß er lesen und seinen Namen nothdürftig schreiben kann. Das Parlament ist der poten­zirte John Bull. Amerika möge sich durch nichts hindern lassen, seinem Ziele zu folgen. Die Augen des denkenden 128 und aufgeklärten Europa werden immer mit Bewunderung auf es gerichtet seyn.

Ich behaupte, daß mit dem Tage der Verfall der vereinigten Staaten beginnen würde, wo sie anfangen würden, sich um Amerika weniger zu kümmern, als um Europa. Für unsern Welttheil seh ich auch nicht eine Brücke, die sie mit uns verbinden könnte. Sie würden überall eine zurückgesetzte Rolle spielen. In Amerika jedoch stehen ihnen alle Wege offen. Sie sind berufen, noch einst die Landenge von Panama durchzustechen, sie werden auf dem Rio de la Plata, wie auf dem Amazonenstrome mit ihren Dampfschiffen durch unentdeckte Wildnisse die Civilisation bringen. Nicht der Congreß von Washington wird dieß über die Prinzipien der Bundesregierung anordnen. Es kann Feindschaft bestehen zwischen dem Congreß und jenen Gegenden, deren Berührung mit ihm ich ahne; allein die Theorie, der politische Verstand, die Weisheit und die Mäßigung, welche die vereinigten Staaten auszeichnen, werden eine Ausströmung haben auf die Inseln und das südliche Festland. Texas und Mexiko dienen als Schrittstein für das Gebäude, welches in Amerika der Weltgeist sich für die Zukunft aufzubauen scheint.

Ich gebe mich gern der Vorstellung hin, welch ein herrliches Amalgam von Eigenschaften es werden müßte, wenn sich spanische, nordamerikanische und autochthonische Elemente zusammen vereinigen könnten, wenn dem nobeln Ernste des Spaniers sich die heftige und sinnliche Leiden-129schaftlichkeit des Eingebornen zugesellte, und die Mischung beider Anlagen durch die praktische Betriebsamkeit und die Verstandesrichtung des Nordamerikaners geregelt würde. Würde es nicht ein Meisterstück, nicht der Natur, sondern des schöpferischen Geistes der Geschichte seyn, wenn ein Südamerikaner in sich das schöne Gleichgewicht dieser drei Elemente halten könnte, wenn der feurigen raschen Hand, der moralischen, ehrgeizigen Anlage des Spaniers, seinem dunkelrollenden Auge und seinem schwarzen Haare sich das Herz, das Gemüth des Wilden anschlöße, die tiefsinnige Mystik der Empfindung und die reizende Naivetät seiner Anschauungen, die bekanntlich den amerikanischen Eingebornen auszeichnen, und zu dieser Anschauung noch die dritte Macht hinzutreten könnte, die Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung, die Aufklärung und der Industrialismus nebst der polizeilichen Gesittung des Yankee, der, wenn er freilich nicht mehr besitzt, als dieß, einseitig und kahl genug ist! Die Ordnung, welche Südamerika über kurz oder lang erhalten muß, wird es nirgend woher, als von Nordamerika entlehnen können.

Wenn man gegen diesen Traum einwendet, daß der Nordamerikaner keineswegs hinreichenden propagandistischen Fanatismus besitzt, um ihn möglich zu machen, so liegt gerade die Garantie der Erfüllung desselben in diesem Umstande, der das Gegentheil beweisen soll.

Einmal findet sich freilich Ausbreitungseifer genug in Nordamerika, und zwar in einem Maße, dessen 130 Grausamkeit für den guten Zweck nichts zu wünschen übrig läßt. Die Bürger der vereinigten Staaten verfahren gegen die Eingebornen mit einer Herz- und Gemüthlosigkeit, die freilich unsre Empfindungen empören macht, die aber unleugbar an Ort und Stelle ist, wenn es sich einmal um einen großen Zweck, und um die einfachsten Mittel, ihn zu erreichen, handeln soll. Sogar die Moral wird von Jonathan, der doch sonst so religiös ist, nicht selten aus den Augen gesetzt, um Völker zu ersticken, welche von Tausenden, die früher den Stamm bildeten, allmählig zu Hunderten zusammengeschmolzen sind. Man kennt die Hülfsmittel, welche man brauchte, um die Creekindianer und die Seminolen um ihre Wälder, Weiden und Flüsse zu bringen. Indem die Indianer von einer Niederlassung zur andern wandern müssen, werden sie entweder zurückbleiben, sich umzingeln und civilisiren lassen, oder sie kommen an der Südsee in einem Zustande an, der einer Reduktion auf Nichts vollkommen gleich ist.

Zweitens aber liegt in dem Nordamerikaner allerdings ein Element, welches ihn für die Propaganda der Cultur untauglich zu machen scheint. Die Religion ist dieß. So theuer sie von den Bürgern der transatlantischen Republik gehalten wird, so scheint sie ihnen mehr ein Privilegium für Einzelne zu seyn, als eine Idee, die sie erst dann beruhigt, wenn Alle ihrer theilhaftig wären. Die Toleranz, welche mit den ersten Einwanderern in die neuen Kolonien einzog, ist ihnen etwas, 131 das ihnen mit der Ausübung jeder Religion und jedes einzelnen Sektenglaubens stets verknüpft werden zu müssen scheint, im völligen Gegensatze zum Katholicismus, der in Südamerika keine Rast und Ruhe, kein Mitleid und Erbarmen hatte, um sich allgemein zu machen. Auffallend! Es ist, als hätte die feste Ueberzeugung, welche die Protestanten von ihrem Glauben zu beseelen pflegt, weit mehr Genüge an sich selbst und Zufriedenheit, als der Katholicismus, der, je unhaltbarer er sich fühlt, desto weitere Verbreitung sucht, und durch die Anzahl seiner Bekenner gleichsam sein unruhiges Gewissen zu übertäuben sucht. Der Nordamerikaner hat überdieß seine Religion nur für den Cultus, nicht für die Discussion. Sie ist ihm etwas Angebornes, das er andern ohne das Christenthum auf die Welt Gekommenen mitzutheilen verzweifelt. Darum wird man selten davon hören, daß der Bekehrungseifer bei den Unternehmungen gegen die Indianerstämme eine große Rolle gespielt habe. Dieß um so weniger, da der Sektengeist gemeinsame diesen Zweck verfolgende Maßregeln lähmt, und es noch schwerer ist, einen Wilden erst für das Thema, und dann sogleich für eine specielle Auslegung desselben zu gewinnen.

Wenn demnach die religiöse Propaganda die politische in Nordamerika zu verhindern, oder wenigstens nicht zu unterstützen scheint, so ist doch, wenn wir von der Zukunft des neuen Welttheils die oben angedeutete Vorstellung hegen, grade in diesem Mißverhältnisse der 132 Grund zu suchen, daß ich glaube, die Regeneration Südamerika’s könne durch Nordamerika reißende Fortschritte machen. Die religiöse Propaganda würde im Gegentheil die politische nur aufhalten oder bei dem Fanatismus, der den Südamerikanern in Sachen der Religion einmal eingeimpft, man kann wohl sagen, durch Scheiterhaufen eingebrannt ist, sie völlig verhindern. Auf die Religion keinen ausschließlichen Werth legen, heißt die Individualität, die angeborne Cultur, die Sitten und Gewohnheiten, heißt das Familienleben, kurz Alles in Schutz nehmen, was die Menschen nicht gern aufopfern, wenn man ihnen dafür auch noch soviel Aufklärung und politische Freiheit geben will. Die Toleranz in Sachen der Religion garantirt den Nordamerikanern, daß sie jenen großen Einfluß auf Südamerika, den sie nach dem Rathschlusse Gottes ausüben zu müssen scheinen, bald gewinnen oder, wenn der Gewinn schwierig seyn sollte, doch später dauernd befestigen können.

Dieß scheint mir die große Mission der vereinigten Staaten zu seyn! Sie dagegen mit Europa in Verbindung bringen, heißt Europa nicht kennen. Wir können niemals auf Nordamerika hinauskommen, weil wir in Europa ganz andere Faktoren zu summiren, ganz andere Stoffe zu verbrauchen haben, als die Söhne Franklins und Washingtons. Die Stoffe, aus welchen unsre Zustände zusammengesetzt sind, sind unübersehbar, und wenn wir noch so lange daran arbeiten und 133 revolutioniren, um sie einfacher zu machen, so werden sie sich doch nicht auf die Einfachheit Nordamerika’s reduziren lassen. Die Hindernisse der Freiheit, welche Amerika nicht hat, bekämpfen wir zwar; allein, sie zu tödten, wird uns die Macht fehlen. Wir werden immer nur darauf hinauskommen können, die Ebbe und Fluth der neuern Geschichte beweist es, uns mit unsern Gegnern abzufinden und Verträge mit ihnen zu schließen. Das Ideal nordamerikanischer Freiheit kennen wir. Stellen wir uns ein gleiches von europäischer vor, so wird sie weit länger, als jene, kämpfen müssen, ehe sie zum Siege kömmt, aber ihr Inhalt wird dafür auch voller und strotzender seyn, sie wird nicht wie die amerikanische nur einen Umfang für ihre Nachbarn, sondern für die ganze Welt haben; denn, mag auch ihr Symbol nur das einfache Bürgerthum seyn, so wird sie doch weit mehr Menschliches gerettet haben, als in dem Begriffe eines Bürgers der nordamerikanischen Demokratie steckt.

Die Wechselwirkung beider Welttheile auf einander liegt in den nicht selten gemeinsamen Strebepunkten, deren Gleichheit sowohl wie Verschiedenheit. Es wird immer darauf hinauskommen, daß Amerika für Europa eine Warnung und eine Lehre seyn kann, nie aber ein Beispiel, welches eine unbedingte Nachfolge verlangt. Sind auch die Tendenzen nicht selten gleichmäßig, so haben sie doch andre Voraussetzungen, hier und dort. Was der eine Welttheil hat, hat der andere nicht und 134 kann es nicht erlangen, weil doch Natur sich durch die Geschichte nicht schaffen läßt.

Wir wollen die vorzüglichsten Gegensätze beider Territorien zu entwickeln suchen.

Die vereinigten Staaten haben eine primitive Gründung gehabt, wie sich zwar oft Gemeinwesen auf diese Art, nämlich durch Colonisation, bildeten, allein selten in einem so ausgedehnten und von einem großen Terrain unterstützten Grade, wie in Nordamerika. Die transatlantische Republik, nicht hervorgewachsen aus dem Boden der Natur, war das Produkt einer rationellen Ueberlegung. Sie war in der That ein Contrat social, eine Erklärung unsrer politischen Rechte, wie wir dieselbe den Anfängen der Geschichte nur durch eine Fiktion sonst zu supponiren pflegen. Fertige, abgeschlossene Grundsätze schifften sich einst in England ein, nahmen eine durch die sektirerische Isolirung weit über das Jahrhundert hinaus schon gereifte politische und allgemeine Erfahrung mit sich über das Meer, und konnten die Urwälder durch eine Aufklärung lichten, die sie schon hatten. Die neuen Colonisten konnten Schwierigkeiten höchstens im Stoff ihrer Existenz finden, nicht mehr in der Form. Diese brachten sie fertig aus der Heimath herüber. Die Erfahrung und Bildung gründete ihre Gemeinwesen, ihre Gesetze hatten nicht nöthig, Unrecht zu verdrängen, sondern sie brauchten das Unrecht nur zu verhüten. Sie konnten gut Theorien über den 135 Staat aufstellen, da keine Privilegien von ihnen verletzt wurden.

Der zweite Vorsprung Nordamerika’s vor Europa liegt in dem Verhältnisse zur Revolution. Wenn in Europa keine historische Entwicklung gewisser Fragen möglich seyn kann, ohne daß dieselbe entweder eine alte darüber festgestellte Autorität bereits umgestoßen hat oder noch umstoßen wird, wenn die Revolution für Europa ein Engpaß ist, durch welchen einige Thatsachen, einige Völker bereits durchgegangen, und wo andere noch an der Pforte sind, so hat Amerika auch diese Nothwendigkeit schon überstanden. Es ist eben so sehr die Frucht einer nüchternen gesetzmäßigen Constitution, wie die Frucht einer milden und hinlänglich begeistert gewesenen Revolution, die außerdem das Gute hatte, daß sie nicht gegen einen Theil des Staatskörpers gerichtet war, sondern gegen ein auswärtiges, längst überflüssig gewordenes Gewand desselben. So hat Amerika längst etwas hinter sich, das Europa noch bedroht und hat es auf eine Weise überwunden, wie es Europa so friedlich, so wenig gewaltthätig niemals können wird.

Hierzu kommt drittens, daß Nordamerika keine auswärtige Politik hat. In allen seinen Verhältnissen zu Europa nur die strengste Neutralität beobachtend, schloß es sich bald an freie, bald an despotische Regierungen an. Es kümmert sich nicht um die innern Zustände der verschiedenen Länder, sondern knüpft seine Verbindungen da an, wo gerade der Pfahl der Macht steht, ob dieß 136 nun ein Freiheitsbaum oder eine Geßlerstange seyn mag. Wenn Europa keine auswärtige Politik hätte, um wieviel leichter würd’ es ihm nicht werden, die Feststellung seiner innern Verhältnisse zur Reife zu bringen. Wie oft muß nicht die auswärtige Feindschaft dazu dienen, eine innere Freundschaft aufzulösen! wie oft erzeugen die auswärtigen Abneigungen, z. B. der Regierungen gegen Staaten, welche im Rufe stehen, volksthümlichen Ideen Vorschub zu leisten, Abneigungen auch genug im Innern, wenn die Regierten ungern die Politik der Regierenden theilen! Von diesem Zwiespalt und allen Verlegenheiten auswärtiger Politik sind die vereinigten Staaten befreit. Als Jackson auf die Schadloshaltung Nordamerika’s für ehemalige Nachtheile gegen Frankreich neuerdings so fest bestand und sogar mit Feindseligkeiten den schmutzigen Geiz der „großen Nation“ zu strafen drohte, waren es nur die französischen Blätter, welche sich einbildeten, daß diese entschiedene Sprache von den Nordamerikanern nicht gebilligt worden wäre, daß diese großen Kaufleute sich eine Ehre daraus machen würden, um einen Saldo von zwölf Millionen von den Franzosen betrogen zu werden. Wo es Geld betrifft, sind alle Nordamerikaner Commis eines einzigen großen Banquierhauses.

Viertens haben die vereinigten Staaten für jede ihrer Bestrebungen, für physische und moralische Zwecke, eine Ausdehnung, die mit dem engen, abgezirkelten Terrain Europa’s ent­schieden kontrastirt. Die Steppen und Wälder dehnen sich nicht nur weit nach Westen 137 hin und locken zum Anbau, sondern viele unter den einzelnen Bundesstaaten selbst haben nur ihre Peripherie cultivirt und können tiefer ins Land hinein noch unzählige Stätten darbieten, wo die Betriebsamkeit und Gewinnsucht nach Abenteuern ausgeht und damit endet, die Wildniß lieb zu gewinnen, sich anzusiedeln und Licht zu schaffen mit der Axt und mit dem Verstande. Es ist demnach dem europäischen Schreckbilde, der Uebervölkerung, immer ein Damm gebaut oder vielmehr ein Kanal, der von der angehäuften Masse immer wieder Parcellen fortschwemmt und die Unregelmäßigkeiten der Population mit weiser Fügung der Umstände ausglättet und ebnet. Desgleichen haben auch die moralischen Intentionen der Menschen einen Abzugsweg, der in Europa nicht existirt, nämlich alles bessre Neue wollen zu können, ohne doch dem guten Alten zu schaden. Gesetzt, militärischer Ehrgeiz könnte sich des Nordamerikaners bemächtigen; ein General, der vortrefflich hin­ter den Comptoirtisch passen würde, berauschte sich an den Thaten Napoleons und träumte von Marengo’s und Jena’s: so könnt’ er seinen Thatendurst mit dem Blute der Wilden löschen, mit dem der Mexikaner und tiefer hinunter. Er würde, ich glaube recht gern, der zweite Napoleon werden, dabei aber der Civilisation und vor allen Dingen der Freiheit nicht einen solchen Abbruch thun können, wie es sein großes Vorbild that.

Dazu kommt nun, um fast alle Aehnlichkeiten unsrer Lage und der der vereinigten Staaten zu untergraben, 138 daß Amerika Grundsätze und Prinzipien hat, welche sich die Europäer nicht einimpfen lassen. Der Charakter des Europäers gleicht einem zackigen Waldbaume, der so und so kraus und konfus wächst, der des Amerikaners einer schlanken Pappel. Wie viel Selbstbestimmung bleibt nicht den Europäern überlassen! Während in Nordamerika die Sicherheit der öffentlichen Thatsachen eine harmlose Hingebung an den einfachsten Bildungsweg erlaubt, stellt sich der Europäer gegen Alles, was auf ihn einwirken könnte, in Opposition und kann selten zu jener gleich­müthigen Verfolgung eines einseitigen Lebenszweckes kommen, der dem Amerikaner selbst in seiner Jugend schon so viel Praxis gibt. Man nehme nur die Religion! Sie ist dem Amerikaner nächst der Freiheit das Wichtigste, allein sie beschäftigt ihn weit weniger, als den Europäer. Bei uns werden selbst die von Spekulationen über das Unsichtbare eingenommen, welche an das Unsichtbare gar nicht glauben. Der Atheismus der europäischen Gesellschaft ist aber eine Religion, die uns mehr zu schaffen macht, wie dem Amerikaner seine fromme Gebärde und sein vierteljährliches Abendmahl. Auch werden wir nie erreichen, alle Ideen, welche nach höhern Regionen streben, so eng verschwistern zu können, wie sie im Kopf und im Herzen des Amerikaners sich vertragen. So beschäftigt zwar unsre Philosophen vielfach die Verbindung der Politik mit der Religion; allein wir werden, wenn wir auf das sehen, was ist, auf die Menschen, wie sie sind, immer vor dem ungeheuern 139 Riß schaudern müssen, der Himmel und Erde, Ewiges und Zeitliches in unsern Ueberlieferungen sowohl wie in schon gewohnten eignen Anschauungen gespalten hat. In Nordamerika sind die Begriffe gehaltloser, aber sie hängen organischer zusammen. Die Freiheit wird nicht blos von der Religion unterstützt, sondern sie entwickelt sich auch aus ihr. Das Erste beweist, wenn z. B. ein Reisender erzählt, er habe einer Versammlung in Nordamerika beige­wohnt, welche dem Schicksal der unglücklichen Polen gewidmet war. Ein Geistlicher führte darin das Wort; er begann mit einem Gebete, schilderte Rußland, wie David die Heiden und Philister schilderte, und machte eine durchaus politische und menschliche Frage zu einem Texte, der sich durch die Bibel beweisen ließ. Das Zweite, den wirklichen Ursprung der Freiheit aus der Religion, erkennt man aus gewissen ältern Statuten der Strafgesetzgebung. Wir meinen hier jene ganz individuelle nordamerikanische Freiheit, die oft weit mehr die Physiognomie der Beschränkung hat, diejenige Freiheit, welche sich an das Gesetz bindet. Es ist eine Unterabtheilung des nordamerikanischen Freiheitssystems, daß z B. Niemand um Geld spielt. Natürlich, wenn erst der glückliche Zufall über den Besitz von Vermögen entscheidet, dann stellt sich bald eine Aristokratie ein, die mit der des Blutes eben die Eigenschaft gemein hat, daß sie nicht die des Verdienstes ist. Reich­thümer besitzen, stört ohnehin schon das Gleichheitsinteresse; um wie viel mehr, wenn die Reichthümer aus dem Zufalle 140 entspringen dürfen, wo in jedem Augenblick im Kleinen eine Revolution gemacht wird, die das öffentliche Wohl gefährden kann. So wird auch in den Kriminalgesetzen das Spiel bei Geldstrafen untersagt und dieses Wort durch Motive gerechtfertigt, die nicht aus der Politik, sondern aus der Religion hergenommen sind. Dieß Alles widerspricht dem Charakter der europäischen Gesellschaft, und macht eine gleiche Tendenz mit Nordamerika für uns zu einer Unmöglichkeit.

Diese Unmöglichkeit tritt noch schärfer hervor, wenn wir im Gegensatz zum Vorangehenden auch in Kürze dasjenige aufführen wollen, was Europa wieder vor Amerika vorauszuhaben sich theils rühmen, theils einfach gestehen muß.

Zuvörderst hat Europa eine ungeheure Vergangenheit. Die Geschichte ist mit lebendigen Farben in unser Gedächtniß geschrieben und wirkt mächtig auf unsere Meinungen und unsre Entschlüsse ein. Wir haben durch sie Perioden und Charaktere ererbt, die wir ihrer Größe nach nie erreichen werden. Die Geschichte lähmt auf der einen Seite, wenn sie auch auf der andern zur Nacheiferung spornt. Wir fühlen uns nur als Glieder einer großen durch die Jahrhunderte gehenden Kette der Gesellschaft, wir werden uns immer im Zustande jener höchsten Freiheit befinden, welche die Philosophie für die höchste Nothwendigkeit zu erklären pflegt.

Die Geschichte ist ein Vermächtniß, das wir verwalten müssen, selbst mit der Schuldenlast, die darauf drückt. 141 Sie ist eine alte Großmutter-Erinnerung für Jeden, so daß man nicht von ihr lassen kann, selbst an Thorheiten und Wunderlichkeiten derselben sich leicht gewöhnt und von einer angebornen Pietät für sie beseelt ist. Europa hatte seine Catone, seine Sokrates, Europa ist nicht nur mit der Lehre Christi, sondern auch mit dem Blute Tausender, die sie als Märtyrer besiegelten, eng verbunden. Wir sind gewohnt, den Finger Gottes in der Geschichte walten zu sehen, wozu wir öfter Gelegenheit hatten, als das junge Amerika. Weil wir älter sind, darum haben wir mehr Vorurtheile, sind zäher, spröder und halten fester an Institutionen, bei welchen wir den Faden bis auf ihren Ursprung meist immer verloren haben und sie gleichsam als organische Naturprodukte betrachten, gegen welche keine Einrede Statt findet und die wir tragen müssen, wie uns selbst.

Auch lassen sich in der That, wie wir schon oben sagten, diese Institutionen nicht tödten. Sie sind unvertilgbar, weil sie in mehr als in Personen bestehen. Die Idee des Königthums hat in Frankreich mit dem Tode Ludwigs XVI. nicht sterben können, sondern selbst, wenn es an dem fürstlichen Blute gefehlt hätte, würden neue Repräsentanten jener Idee gekommen seyn, wie denn auch Napoleon kam. Gesinnung, Sitte, dagegen kämpfen ist erlaubt, sie aber zu nivelliren auf eine solche Einfachheit, wie in Amerika, dazu müßte die jetzige europäische Generation aussterben und durch Einwanderer aus einem fremden Welttheile ersetzt werden.

142 Wie sehr z. B. Europa und Amerika, das nördliche wenigstens, verschieden sind, zeigt das Verhältniß beider Welt­theile zum Ehrgeiz. Die Liebe zur Macht ist, trotz dem, daß in neuerer Zeit mit der Macht auch die Verantwortlichkeit gestiegen ist, bei uns unausrottbar. Bei uns haben noch alle Revolutionen zuletzt eine monarchische Tendenz angenommen und zwar die Garantien der Freiheit verbessert, aber auch den Gegensatz gegen sie, eine überwiegende Macht, als etwas Natürliches beibehalten. Dieß ist in Nordamerika von Haus aus verschieden. Es herrscht daselbst statt Freude Ekel an der Macht. Die einfache, freie, ungebundene Stellung des Bürgers scheint daselbst wünschenswerther, als eine Bekleidung mit einem Amte, das dem Privatmanne nur Zeit raubt, ihm Gelegenheit nimmt, sein Geschäft ordentlich zu betreiben und mehr Prozent zu machen, als die Richter- oder selbst die Präsidentenstelle ihm jemals eintragen wird. Daß Nordamerika im Grunde noch ganz etwas Anderes als eine Republik ist, beweist die Bereitwilligkeit, welche in Europa herrscht, Aemter zu übernehmen, selbst wenn sie mehr kosten als einbringen, wenn sie nur Ehre einbringen, und die allgemeine Abneigung jenseits des Ozeans für den öffentlichen Dienst. Der Nordamerikaner erhält Alles bezahlt, was er für den Staat thut. Jede Minute, die seinem Geschäfte verloren geht, wird ihm in Geld angeschlagen und vergütet, eine Sitte, die allen republikanischen Gewohnheiten wenigstens des Alterthums ent­schieden widerspricht.

143 Um aber zuletzt den wichtigsten Entscheidungsgrund anzugeben, warum sich Europa niemals gespornt fühlen dürfte, mit Amerika zu wetteifern, so ist dieß die geistige und besonders wissenschaftliche Verschiedenheit beider Welttheile. Wir sehnen uns nach einer andern Zukunft; aber diese Zukunft ist an Erwartungen geknüpft, für welche Nordamerika nicht die geringste Voraussetzung hat. Wir sehnen uns nach der Auflösung zahlloser Fragen, welche jenseits des Ozeans kaum noch verstanden würden. Was ist nicht von scharfsinnigen und leidenschaftlichen Köpfen, von Philosophen und Dichtern unter uns angeregt worden! Welche Ideen durchkreuzen sich nicht in dem Denkvermögen unsrer Jugend, die die Erhabenheit des Alterthums, die Poesie des Mittelalters und die Empirie der neuen Zeit in sich vereinigen und durcharbeiten möchte! Sind dieß Alles Berührungspunkte für das Land der Comptoire und der Sklaven? Weder die Religion, welche bei uns schwerlich ihre leidenschaftliche Färbung verlieren wird, noch irgend eine Frage der Wissenschaft und Kunst scheint in Nordamerika enträthselt werden zu können. Amerika hat weder Kunst noch Philosophie, es hat nur eine Literatur, die aus ein paar nach Schiffstheer riechenden Romanen besteht.

Was die Zukunft getrennt hat, das liegt in der Gegenwart noch weiter auseinander. Es gibt keinen Contrast, der entschiedener wäre, als eine Parallele zwischen John Bull und Jonathan. John Bull ist eine kleine untersetzte Figur, wohlgenährt, mit kleinen 144 verquollenen und stechenden Augen, heiter ohne viel Falten; John Bull schwimmt in einem Meere, wenn nicht von Gesundheit, doch von guter Laune. Jonathan ist entschieden gesund, aber nur deßhalb, weil er Wasser trinkt und sich von keiner Leidenschaft beherrschen läßt. Jonathan ist lang aufgeschossen, mit überhängender Haltung, mager, gedörrt im faltenreichen Antlitze, mit einem felsenharten Stirnknochen und einem mehr eckigen als runden Schädel. John Bull ist weit beschränkter als Jonathan, was Kenntnisse anbelangt. Jener wird nicht wissen, wo Charlestown liegt, Dieser aber gewiß, wo Perth. Doch hat John Bull eine größere Geläufigkeit im Denken, er ist subjektiver und launiger, er hat bessere Einfälle, als Jonathan, der gar keine hat. Jonathan spielt eine beklagenswerthe Figur neben ihm. Jonathan kann nur die Hände falten und still zum Himmel aufsehen. Das ist seine ganze Waffe. John Bull verläßt sich aber mehr auf sich selbst, als auf den Himmel. Sein bester Freund ist er selbst. Der Egoismus berührt dennoch sein Herz nicht direkt. John Bull ist einer Aufopferung fähig, er schlägt sich z. B. in Frankreich für die Charte gegen Karl X. oder die Republik. John Bull ist fürchterlich in seinem Zorn, aber er ist schnell verflogen. Er reflektirt über sich selbst, er kommt sich komisch vor in der grotesken Gebärde und reicht gern seine Hand zur Versöhnung dar. Jonathan dagegen ist, ich will nicht sagen, Heuchler und verbände alle Laster der Hypokrisie; allein er hat das Wesen eines 145 Mannes, der lange mit sich necken und zerren läßt, dann aber die Zähne knirscht und in eine Wuth geräth, wo man ihn anbinden muß, damit er kein Unglück anstiftet. Der freie Amerikaner hat weit mehr leidendes Ansehen, als der feudale John Bull, der so große Steuern zahlen muß. Seine Schadloshaltung dafür besteht in der Anwendung seines Mutterwitzes, dem er eine Essigschärfe von ätzender Kraft zu geben weiß. John Bull tadelt Alles, was nicht von ihm ausgeht, er tadelt Alles das, was er nicht selbst ist, und wird so lange mit der Opposition stimmen, bis er selbst auf die Ministerbank gerückt ist. Das Raisonniren, das Besserwissen, die Unverschämtheit John Bulls ist nicht seine beste Seite, er ist darin ein weit größerer „Philister“ als Jonathan. Jonathan hat nämlich keinen Witz, er denkt nicht schnell, noch weniger, daß er, was der Witzige thun muß, zwei Dinge zu gleicher Zeit im Auge haben könnte, um von beiden die Aehnlichkeit oder den Unterschied anzugeben. Er tadelt auch die Regierung, aber nicht deßhalb, weil sie von ihm nicht ausgeht, sondern im Gegentheil, weil sie ihn viel zu sehr in Anspruch nimmt. John Bull kann die Regierung nicht oft genug sehen, Jonathan fühlt sich von ihr inkommodirt, er ist in dieser Rücksicht ein wahrhaft freier Mann, er kennt weder die knechtische Furcht vor der Polizei, noch den kleinen Spott, welchen die Polizei bei uns auch von ehrlichen Leuten ertragen muß. Moquiren, das ist das Laster John Bulls. Jonathan kennt es nicht. Die 146 Frivolität eines Spottes, der blos spottet, um seinen Verstand zu üben und seinen Uebermuth zu kühlen, würde ihm ein Verstoß gegen die Religion scheinen. Es ist seltsam, welche Inkonsequenz! Jonathan sollte der größte Menschenliebhaber seyn aus demselben Grunde, warum er die Frivolität verachtet. Beides wären die Folgen der Religion, keine dürfte im Grunde ohne die andere seyn. Und doch haßt Jonathan nur die Frivolität, kümmert sich aber im Uebrigen wenig um den Wanderer, der verwundet am Wege liegt, und den wieder niemand anderes verbinden und erquicken würde, als der sonst so ungläubig und samaritanisch gesinnte John Bull.

John Bull handelt leichtsinnig und ohne Consequenz. Der Instinkt und die Leidenschaft reißen ihn zu jeder Unternehmung hin. Grundsätze, dauernde Maximen hat er keine. Jonathan hat einen einzigen Erfahrungssatz: er sagt: Ruat coelum, fiat justitia! Er bleibt sich gleich; man weiß, was man an ihm hat, man kennt ihn, man wird ihm nicht ins Haus laufen und sagen: Borgen Sie mir tausend Pfund, Sir! Jonathan hat an sein Haus geschrieben: Hier gelten die einfachen Grundsätze des Einmaleins! John Bull beneidet dem Manne die Ruhe, das leichte Blut, den gesunden Schlaf. John Bull ist immer exaltirt und ärgert sich über Alles. Gingen Beide, John Bull und Jonathan, durch die Regentstreet in London, so wird jener alle hundert Schritte still stehen und etwas zu 147 bemerken haben. Dieses Haus scheint ihm geschmacklos, jenes steht mit dem Charakter des Bewohners in keinem Zusammenhange, da sind die Fenster gespart, „aus Furcht vor der Fenstertaxe!“ ruft er aus, „aus dem miserabeln Grunde, der reiche Mann!“ Jonathan hört ihm ruhig zu. Jonathan denkt nur an seine eigene Einrichtung und überläßt Jedem die Verantwortlichkeit der seinigen. In der That, diese Privatzüge muß man in Anschlag bringen, wenn man begreifen will, warum John Bull niemals für die Republik so reif seyn wird, wie Jonathan es ist.

Gesetzt, John Bull und Jonathan würden auf eine wüste, menschenleere und unangebaute Insel verschlagen. Hier würde sich vollends die Verschiedenheit ihres Charakters bewähren. John Bull würde mit einer herzzerreißenden Melancholie am Gestade des Meeres auf- und abgehen, würde jeden Vogel in der Ferne für ein Segel halten und, hundertmal getäuscht, doch nicht die Einsicht haben, daß vom Außerordentlichen und in einer außerordentlichen Lage nichts mehr zu erwarten ist, sondern daß es gilt, sich hineinzufinden und das Ungewöhnliche für das Gewöhnliche zu nehmen. John Bull würde von den Meerkrebsen gefressen werden, ehe er selbst Anstalten machte, sie zu fangen und durch irgend ein gescheutes Nachdenken sich Feuer und Material zu verschaffen, um sie zu sieden. John Bull sieht deutlich, daß auf der Insel keine Menschen leben, aber er kann die Hoffnung nicht aufgeben, dennoch welche zu finden. 148 Er bedarf eines anregenden Umganges, guter Freunde, die mit ihm schwatzen und mit denen er sich erzürnen kann. Jonathan benimmt sich dagegen weit respektabler. Er hat sich längst eine Hütte gebaut und sich in die Umstände gefunden. Er rechnet nebenbei darauf, Besitzer der Insel zu werden, und muß seine ganze Mäßigung aufbieten, John Bull von seinen Streichen abzuhalten. Mit einem Worte, Jonathan übertrifft ihn an Hoffnung, Charakter und praktischer Lebensphilosophie.

Jonathan hat dafür einige andere Fehler für sich voraus. Er ist prahlerisch und schneidet gern auf; er vergrößert sein Glück und verkleinert sein Unglück, das heißt, er kann eben so gut lügen, wie heucheln. John Bull – warum sollte der es nicht auch können! Allein Jonathan übertrifft ihn darin, daß dieser nicht blos Heuchler gegen Andere, sondern auch gegen sich selbst ist. Das kann John Bull nimmermehr. Gegen sich selbst ist er aufrichtig, sich gesteht er, wie’s mit ihm steht, er faltet keine andächtige Mienen und hängt den Kopf nicht zwischen die Beine, wie Jonathan, der sich selbst einen Sünder nennt, aber nur deßhalb, weil er durch diese kleine Aufrichtigkeit, gegen den Himmel, gegen die Erde desto versteckter seyn zu dürfen glaubt.

Jonathan hält sich für den ersten Staatsmann in der Welt. Er sagt und wiederholt es bis zum Ekel: Wir leben in einem freien Lande! Krieg, Marine, Verfassung, Wissenschaft, Alles ist bei ihm gleich unübertrefflich. Er verachtet andere Nationen mehr, als der Patriotismus 149 entschuldigen dürfte. Der individuelle Hochmuth mischt sich hinein, er spricht weniger von seinem Lande, als von sich, seinem Vater und seinem ältesten Sohne, von seinem Geschäft und seinem Folio in der Bank von New-York. Ich begreife nicht, wie man zu gleicher Zeit ein so großer Christ und ein so großer Prahlhans seyn kann. John Bull lügt auch, aber nicht aus Interesse, sondern weil es ihm Spaß macht, Jemanden etwas aufzuhängen.

Doch ist es unsere Absicht, später, wenn wir die einzelnen Volkszustände unsre Revue passiren lassen, auf Nordamerika wie­der zurückzukommen. Hier betrachteten wir nur die Stellung der Union zu dem allgemeinen Charakter der Gegenwart und suchten Momente herauszuscheiden, welche für den Universalismus der Geschichte von Bedeutung hätten seyn können. Wir haben gefunden, daß Amerika den Namen der neuen Welt recht gern verdient, aber nicht den der besten. Wir sind weit entfernt geblieben, die Zukunft Europa’s an die seiner Nebenbuhlerin zu knüpfen. Und dennoch drängt sich mir am Schlusse dieser Betrachtung der Gedanke auf, als ob das innere Wesen beider Welttheile nicht einen Coincidenzpunkt hätte, der sie einander näher bringen müßte? Das ist die Gewaltthätigkeit, die Tyrannei hier wie dort in den Fragen, welche die Existenz entscheiden, in Amerika die Sklaverei. Die Sklaverei ist ein Element im Leben Nordamerika’s, welches Analogien mit europäischen Zuständen zuläßt: der Feuda­lismus 150 ist im Grunde derselbe Krebs, von welchem die Befreiung Europa’s angenagt ist, wie die Farbigen jenseits des Ozeans. Der Egoismus, ja sogar eine gewisse Nothwendigkeit, die natürlich zu seyn scheint, spielen in beide Verhältnisse hinein. Die Ablösung der Feudallasten ist mit eben so großen Opfern verknüpft gewesen, als es die Emanzipation der Sklaven ist. Die südlichen Staaten können, wie man ihnen fast glauben möchte, ohne Neger nicht mehr das Zuckerrohr bauen. Und in Europa ist der Feudalismus, obgleich in seinen hauptsächlichsten Erscheinungen überall zerstört, wo Bildung und Freiheitssinn um sich griff, doch ein in hundert Vorurtheilen, Sitten und gesellschaftlichen Beziehungen versteckt gebliebenes Uebel.

Wie nun, wenn die Emanzipation der Sklaven, welche die großen Freiheitshelden und Christen in Nordamerika verweigern, dieselben Erscheinungen allmählich hervorriefe, wie bei uns in Europa der Kampf um bürgerliche Freiheit? Wenn, ich will nicht sagen, der Sklavengeist eine drohende Aehnlichkeit mit dem europäischen Liberalismus annähme, sondern nur die Gegner zwingen würde, andere Combinationen in ihr Urtheil einzulassen und eine politische Dialektik sich anzueignen, wie wir sie in Europa haben müssen, wo es so viel Sinn für Freiheit und leider so viel Rücksichten bei ihrem Dienste gibt? Eine lang ausgeübte Tyrannei wirkt auf die Herrscher selbst zurück, so wie man in Rom dem Monarchismus immer näher rückte, seitdem sich alle seine Kräfte 151 vereinigen mußten, um die Empörungen der Sklaven zu ersticken. Wir wollen nicht einmal sagen, daß die Neger furchtbar sind, oder daß sie eine zusammenhängende Opposition bilden könnten; allein wer einmal Blut kostete (und so kann man die Tyrannei der Pflanzer wohl bezeichnen), der hat immer Geschmack und Lust daran, der trägt seinen Sinn auf vieles Andre über, wo sonst weichere oder wenigstens indifferente Grundsätze gelten. Welche außerordentliche Rohheit haben die Nordamerikaner bereits in den Sklavenangelegenheiten beurkundet! Journalisten, welche die Emanzipation vertheidigt hatten, wurden von den angesehensten Personen im Lande, von einem General sogar, wie kürzlich ein Reisender erzählt hat, meuchlings erschossen, und, was das Unglaubliche ist, der Mörder nicht einmal anders als mit einer kleinen Geldbuße dafür bestraft. Ich gebe blutwenig auf einen Republikanismus, in dessen Consequenzen solche Entmenschungen liegen. Amerika wird, wenn dieser zügellose und tyrannische Geist um sich greift, bald von dem hohen Standpunkte herabsteigen müssen, auf welchen es sich durch äußerlich glänzende Thatsachen einer sehr leichten Revolution und späterer Volkswohlfahrt, am meisten aber durch seine eigene Ruhmredigkeit geschwungen hat.

Aber das geb’ ich gern zu: Schreitet die Union in dieser Theorie der Sklaverei fort, so möchte sie bald den Interessen Europa’s näher gerückt seyn. Ich sage dieß nicht, um Europa zu demüthigen. Es ist nur zu erwiesen, daß es unsre Schuld nicht ist, wenn die 152 Begriffe, welche wir mit Freiheit, Licht und Recht verbinden, mit tausend Winkelzügen und hypothetischen Bedingungen verklausulirt sind, und daß wir nicht vor die Thür gehen können, ohne über Verhältnisse auszugleiten, die uns der Thatbestand in den Weg legt, und die immer wieder aus dem Boden wachsen, selbst wenn man nicht ermüdete, sie zehnmal auszujäten. Ich meine, Nordamerika wird seine einfachen und etwas schaalen Begriffe über die Freiheit auflösen müssen, wenn es fortfährt, so unredlich sie im Kampfe gegen die farbige Bevölkerung anzuwenden. Oder diese Bevölkerung selbst zwingt die Union, ihr Rede zu stehen und mit ihr zu parlamentiren. Genug, dieß sind Ahnungen einer trüben Zukunft, die, so oder so, friedlich oder feindlich, Amerika und Europa näher bringen; im Bösen freilich, vielleicht aber bald auch im Guten. Alte und neue Welttheile haben ihre Plagen und ihre Gebrechen: warum sie unterscheiden und zu Feinden machen!

153 Das Moderne.#

Die Mode entspricht den massenhaften Bestrebungen unsrer Zeit. Sie gibt dem Einzelnen eine Auszeichnung und drängt ihn doch wieder in ein größeres Niveau zurück. Die Mode bindet und löset, ist eben so sehr Freiheit wie Gesetz und entspricht vollkommen dem konstitutionellen Charakter unsrer Zeit.

Den Quellen der Mode nachzuforschen, ist eine schwierige Aufgabe. Wie sie unmöglich von einem Einzelnen ausgeht, so scheint sie auch aus keiner Verabredung zu entstehen. Es ist, als müßt’ es in der Luft liegen, daß es plötzlich allgemein heißt: Rosa­hut mit schwarzem Krepp, Sammtröcke mit seidnem Zubehör, Brillen in Façon einer Schlange, die eine arabische Acht bildet, Schuhe mit abgestumpften Spitzen und dergleichen Bestimmungen der Mode mehr. Möglich, daß eine einzige Originalität vorangeht, ein erfinderischer Modist oder ein Gentleman, der seine eignen Launen hat; allein, daß ihm die Andern blindlings folgen, daß sie, indem sie doch selbst Geschmack haben, dem seinigen unbedingt gehorchen, das ist auffallend genug in einem Zeitalter, wo 154 Keiner auf den Andern Werth legt und Alle sich zu hassen scheinen.

Ich finde bei den Erfindungen der Mode noch mehr, das erstaunen macht, die unleugbare Tendenz nach dem Schönen hin. Man wird meinen Geschmack dieser Behauptung wegen für verdächtig halten; allein ich habe noch immer gefunden, daß, wenn mich der Anblick, z. B. eines Damenhutes, der eine Zeitlang in der Mode war, ermüdet, und die Mode eine neue Form entdeckt hatte, ich mir immer gestehen mußte, daß das Jüngste mich befriedigte, soweit die Thorheiten der Mode befriedigen können. Es gibt eine Kleiderästhetik, die von der Philosophie schwerlich so tief ergründet ist, als von einigen Modehändlerinnen in Paris.

Die Mode verwirft das sogenannte Altfränkische nicht: sie kömmt, wie wir in neurer Zeit gesehen haben, auffallend genug auf die meisten Geschmacksbestimmungen des vorigen Jahrhunderts zurück. Dieß ist ein Merkmal der Mode, welches den Weg bahnt zur Begriffsbestimmung des Modernen. Das Moderne verwirft das Alte nicht, sondern modelt es entweder nach eige­nem Geschmack um oder treibt es ins Extrem, wo es komisch wird, oder raffinirt sonst daran auf irgend eine Weise. Ein gothisches Zimmer mit bunten Fensterscheiben, mit plumpen altfränkischen Meubeln und der ganzen Illusion des Mittelalters ist das Modernste, was man haben kann. Das Moderne besteht demnach nur in einem gewissen Beigeschmack, in einem, fast möchte man sagen, 155 Hautgout der Dinge, in ihrer Culmination, die sie piquant macht. Man kann für die Antike und für die Romantik eingenommen seyn und dabei doch immer mitten inne im Modernen sich befinden.

Im Allgemeinen will ich gern meine Schwäche eingestehen, die innere Natur des sogenannten Modernen zu ergründen. Vorzugsweise das Neue ist es nicht. Es ist, wie wir schon sagten, oft genug das Alte, wenn auch im neuen Sinne genommen. Es ist ein so flatterhafter, leichtsinniger Begriff, daß man ihn kaum bis zu einer erschöpfenden Definition zügeln kann. Modern ist meine Weste, modern aber auch eine Anschauung, die ich hier oder da geäußert habe. Ich habe mich dabei so ziemlich auf die Höhe unsrer Zeit gestellt und eine Sache so beurtheilt, wie man es von einem Bürger des neunzehnten Jahrhunderts erwarten konnte. Gut, dann möchte das Moderne doch wohl Alles zusammenfassen, was die neue Zeit erstrebt, und in dem Augenblicke, wo es das Alte in Schutz nimmt, eben eine Toleranz üben, die unserm heutigsten Heute angehören sollte? Wie dem auch sey, praktische Beispiele werden den Begriff klarer machen, als Definitionen.

Das Moderne gegen die Antike genommen, ist eine negative Verfahrungweise. Wir brauchen nur das Alterthum zu schildern und werden von dem Unterschiede leicht auf das Moderne schließen können. Eine Tragödie zu schreiben, in welcher ein Chor die Stelle der Zuschauer übernimmt und reflektirt, eine Tragödie, die 156 mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Inhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der mensch­lichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird.

Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht 157 Gothik ist, so würde sich der moderne Charakter der Architektur schlecht genug empfehlen, wenn es Bernini und das vorige Jahrhundert in Schutz nehmen sollte. Wir sind in neuerer Zeit, aus Verzweiflung, einen modernen Styl in der Baukunst zu erfinden, zur Antike und zum Mittelalter zurückgekehrt und haben damit entweder eine außerordentliche Armuth an Geist und Erfindungsgabe zugestanden, oder die baare Prosa und Nützlichkeitsbestimmung, die einigen vorzugsweise modernen Bauten, z. B. Getraidehallen, Invalidenhäusern u.s.w. zum Grunde lag. Auch der Riß unsres neuen Parlamentsgebäudes erinnert zu entschieden an das Mittelalter und die unvertilgbaren „faulen Flecken,“ als daß man von England behaupten könne, es besäße vor dem Continente, der sich z. B. in Deutschland, wie bei Klenze, dem Dilettantismus und, wie bei Schinkel, einer Mischung aller Geschmäcke hingegeben hat, einen Vorsprung. Ein Parlamentsgebäude in dem lichten, klaren, modernen Sinne der Reformbill: das war eine Aufgabe, die ich durch den von dem Parlamente gebilligten Grundriß nicht gelöst sehe. Das Moderne hat bis jetzt sich immer nur noch an Brücken, Kanälen, Eisenbahnen und Tunnels bewähren können; eine moderne Kirche gibt es nicht, wie es auch noch kein modernes Christenthum gibt, es müßte denn ein platter Würfel mit bürgerlichen Fenstern, ein Gebäude in Gestalt eines Kassino’s jetzt für eine Kirche Christi ausgegeben werden dürfen.

Dennoch würde in der Baukunst Alles modern seyn, 158 was 1) nach der bloßen Eingebung des sanguinischen Dilettantismus gebaut wird: Museen, Odeen, Theater, Kirchen und Kapellen nach alten Mustern, in frivoler Nachahmung; 2) alles dasjenige Bauwerk, was wir wirklich leisten können, nämlich glatte, kahle, innerlich mit vortrefflichstem Comfort eingerichtete Häuser zu gemeinnützigen und Privatzwecken; 3) damit zusammenhängend alles Nebenwerk der Baukunst, als da sind Cloakenreinigungen, Wasserleitungen, Sumpfaustrocknungen u. dergl. mehr. Ein herrliches Phänomen der modernen Kraftlosigkeit! wird man ausrufen; allein dieß beruht auf sich; gerechter würde man thun, den Charakter des Modernen aus dieser Thatsache zu entwickeln und den Maßstab der vergangenen Zeiten nicht im moralischen Sinne an das Neue anzulegen. Denn das Meiste von dem, was wir haben durch uns selbst, hatten die Alten nicht. Die einzige Thorheit, die man uns vorwerfen kann, ist nur die, daß wir unsre Blöße zu bedecken suchen und uns mit Nachäffungen abmühen, daß wir griechische Städte entstehen sehen auf dem Continent, z. B. München, wo die Neustadt Athen und die Altstadt das erbärmlichste Häusergerümpel vorstellen soll.

Daß sich die moderne Zeit vielleicht noch einmal einen eigenen Baustyl erfindet, scheint mir keineswegs unwahrscheinlich. Doch müßte dieser Erfindung der Sieg aller der Ideen vorangehen, welche unsre Zeit alp-artig bedrückt. Wir müßten im Klaren seyn über den Staat, 159 über die Religion, klarer als Nordamerika, dem es zwar an Licht nicht gebricht, aber an Wärme. Diese Wärme des Gemüths, die Europa nie verlassen wird, dieser große Fond von Thatsachen, der an uns, selbst wenn wir, vollkommen emanzipirt, nur der Sonne noch als der Herrscherin des Jahrhunderts gegenüber stehen würden, doch immer noch festkleben würde, das ist der Mörtel, der vielleicht auch der Baukunst dann einen sinnigen und originellen Charakter geben wird. Wenigstens scheint es mir nicht allzuschwierig zu seyn, einen Tempel zu erfinden, der den Deismus und den Geschmack zu gleicher Zeit befriedigte, es sey denn, daß die Religion, die in Zukunft herrschen wird, keiner andern Tempel mehr bedürfen sollte, als, wie Christus selbst sagte, der menschlichen Herzen.

Kehren wir auf die Antike und das Romantische wieder zurück, so lagen nicht nur den alten Bestrebungen, das Daseyn zu verschönern, sondern dem Daseyn selbst ganz andere Prinzipien zum Grunde, als solche, die wir für moderne anerkennen würden. Alle drei Zeitepochen stehen in starker Beziehung zur Gesammtheit, allein jede in ihrer Art. Die Alten lebten dem Staate ohne die Familie, die Mittleren der Familie und durch sie erst dem Staate, die Neuern würden beide Prinzipien gern verschmelzen und doch immer darnach suchen, für sich ungeschoren zu bleiben und eine kleine originelle, ganz und gar nur ihnen gehörende Particularexistenz ansprechen zu dürfen. Die antike Philosophie erklärte den Ursprung 160 der Dinge, die romantische ihre Wesenheit, die moderne erklärt ihre Bestimmung. Wie und wodurch sind wir? fragten die Alten; was sind wir? die Mittleren; wozu sind wir? fragen die Modernen. So waren die Ersten mehr Dialektiker, die Zweiten Metaphysiker, die Dritten sind Teleologen. Modern ist es, die Welt anzuerkennen, wie sie geworden ist, aber das Recht zu bezweifeln, ob sie so bleiben darf, wie sie ist. Modern ist es, durch und durch modern, das Kapital der Wahrheit, mit welchem sich Platon und Aristoteles, Occam und Albertus Magnus abmühten, auf sich beruhen zu lassen – wenn nur die Zinsen gerettet sind! Wunder­barer Zusammenhang zwischen unserm Gott, unsrer Unsterb­lich­keit, unserm Wucher und unserer Staatsschulden­tilgungs­theorie! der Sinking found *) ist längst eine Chimäre. Das Kapi­tal, hätten wirs, würde uns nur in Verlegenheit bringen; hätten wir die Wahrheit, wir wüßten nicht, wo wir sie unterbringen sollten. Darum lebe der Zinsfuß, der halbjährige Coupon und die dreiprozentige ewige Rente!

Es ist eigen, wenn man von seinen Zeitgenossen spricht, wird man, selbst wenn man nur Gutes von ihnen reden möchte und allen Grund hat, sie gegen falsche Anklagen zu vertheidigen, doch oft von einem 161 herben Gefühle so schnell übermannt, daß man ein Lob niederschreiben will, welches sich unter der Feder in den bittersten Tadel verwandelt. Ich will nicht den Sittenprediger in diesem Buche spielen, weil ich mir sonst die Möglichkeit nehmen würde, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern, ist mehr, als sie belehren wollen, denn das Erstere läßt ihr Urtheil frei, während das Zweite es gefangen nimmt. Ich will keine Anklage stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich!

Kann etwas die Unbestimmtheit unsrer heutigen Zustände besser charakterisiren, als die Schwierigkeit dieses Kapitels, die ich unverhohlen eingestehe? Die neue Zeit schildern, den Liberalismus deduziren, das sind leichte Aufgaben für den, der merkt und hört; aber alle unsre momentanen und doch wieder an das Jahrhundert geknüpften Ideenverbindungen zusammenfassen und im Gegensatz gegen die Antike und das romantische Zeitalter den innern Kern der modernen Welt aussprechen, ist ein Räth­sel, das wir nur halb lösen werden. Wir werden gleichsam sagen: Der Horizont z. B. ist der Sinn des Räthsels! und nach Jahrhunderten wird es sich herausstellen, daß wir hätten sagen müssen: Das Auge ist die Lösung.

Moderne Moral! Kann es eine solche geben? Muß die Moral nicht eine ewige seyn? Und doch gab es eine ausschließlich antike, eine romantische Moral; beide einseitig, aber gerecht vor dem Richterstuhle ihrer selbst. 162 Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Intoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Schei­terhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Individuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Ich glaube, das Letztre. Ich glaube, 163 daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. Dieß ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Institutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie nicht mit Entschuldigung für unsre Leidenschaften eintreten, weil sie keinen liebenden und schützenden Mantel über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten.

Der Moral unsrer Zeit tiefer auf den Grund zu gehen, spar’ ich auf einen der folgenden Abschnitte auf. Hier ist mein Zweck erfüllt, wenn ich in den verschiedenen Manifestationen des Geistes und Herzens den Unterschied von antik und modern nachweise. Ich sagte so eben: die Moral unsrer Zeit, und will nicht behaupten, daß das Moderne auch vorzugsweise das Neuzeitige oder das Zeitgemäße das Moderne sey. Gegen unsre Zeit selbst genommen, ist das Moderne in dem gebräuchlichen Sinne weit mehr die Grazie, das ästhetische Gesetz der neuern Bestrebungen. Die Polemik unsrer Zeit, selbst die im Sinne des aufgeklärten Jahrhunderts, kann doch oft eine Physiognomie tragen, welche durchaus nicht modern zu nennen ist. Es gibt z. B. unter den politischen Parteien in Frankreich eine Fraktion, die dem ganzen chevaleresken Feudalismus des Mittelalters zustrebt und doch in Manieren und Haltung den feinsten 164 Modeton zu beobachten sucht, ja ihn sogar angibt. Die jungen Kavaliere Heinrichs V. aus dem Faubourg St. Germain drücken vollkommen die exclusive Thorheit der Modernität aus; denn daß sie eben gescheit genug sind, ihre Thorheit zu verachten, daß sie die Haltlosigkeit des Legitimismus durchschauen und doch die grüne Farbe desselben tragen, ist recht eigentlich die Grille des Modernen. Einem Steckenpferde seinen eigenen Verstand als Sattel auflegen und sich selbst zu reiten, was drückt den Formalismus der Zeit vollkommner aus? Mit einem Worte, das Moderne ist eben so sehr auf der rechten wie auf der linken Seite zu Haus. Es drückt die Meinung des Centrums und die der Extremitäten aus. Modern ist in einem gewissen Sinne auch der Klassiker und der Romantiker; denn Beide können sich keine ver­schollenen Jahrhunderte aus Schutt und Nebel wieder aufwühlen, sondern müssen nur mit einer Illusion raffiniren, die modern genug ist. So wäre denn das Moderne recht eigentlich das Objektive im schwebenden Momente, die Thatsache der Zeit, an und für sich ohne Streit und Gegensatz, ohne Beziehung betrachtet. Das Moderne liegt nur in der Culmination der neuen Dinge, selbst wenn sie nach Altem hin tendiren. Es ist ihr Geruch, ihr Hautgout, wie wir schon gestanden haben.

Einer der großen Männer, welche, ohne sich je zu vereinigen, doch die Bestimmungen der Fashion wöchentlich zu entwerfen pflegen, die sich hassen, soweit es dem 165 Gentleman ziemt, Leidenschaften zu äußern, und die doch alle auf ein einziges Ziel hinsteuern und sich in ihrer Art und Weise so ähnlich sind, daß man sie unter einander verwechseln könnte, einer dieser Herren wurde mir durch Zufall in seinen jüngern Jahren bekannt. Damals hatte Sir Anacharsis***, wie man ihn nicht wegen seiner Jakobinischen Verwandtschaft mit Anacharsis Cloots, sondern seiner vielen Reisen wegen nannte, nur den einzigen Ruf, ein Dandy im vollkommensten Sinn des Wortes zu seyn. Ich weiß nicht, durch welche Umstände es geschah, Sir Anacharsis verlor plötzlich die Lust an dem leeren Formalismus und schwang sich in eine Region auf, die wir hier zeichnen dürfen, weil sie die vollkommene Ausdünstung der Modernität ist. Er warf den Dandy mit einer Gewandtheit von sich, mit so wenigem Geräusch, daß die große Welt seine Revolution nicht bemerkte, sondern es eine Zeitlang noch immer Thoren genug in ihr gab, welche einzig und allein den Dandy in ihm suchten. Doch er belächelte sie, und das Lächeln, diese Ironie machte sie stutzig. Sie erschraken vor dem höllischen Spotte um seine Mundwinkel, sie erschraken vor den Grundsätzen der Männer, die ihn umringten. Bald hatte er ein permanentes Geleit um sich, Männer, mit denen er in den Zirkeln nie ein Wort sprach, die sich und ihm aber heimlich zuzuwinken schienen. Man ersann Mährchen über Anacharsis und seine Gesellen, erfand einen Clubb, in dem sie sich zu versammeln pflegten und nannte diesen den Satanischen. 166 Grade, wie es von Lord Byron hieß, daß er den Satanismus in die Poesie eingeführt hätte, so sollte Anacharsis dieß Prinzip in die Gesellschaft einführen. Ich kann aber die Versicherung geben, daß man dieser auffallenden Erscheinung Unrecht thut. Anacharsis ist nur der Urtypus jener Richtung, welche man vorzugsweise als die moderne bezeichnen kann.

Man muß ihn sehen! Sein Antlitz ist leidend, sein Auge abwechselnd sanft und durchbohrend, das Haar und der starke Bart haben sich eine glänzende Schwärze erhalten können, die Lippen brennen heiß, die Haltung ist stolz, sein Benehmen wegwerfend. Wohin er tritt, scheint ihm eine magische Kraft zu folgen, die seine Atmosphäre eben so gefährlich, wie sicher für ihn selbst macht. Er würde ein Duell annehmen, wenn es einer Idee gilt. Seine Person ist ihm gleichgültig. Da sieht man den Unterschied vom Dandy, der sich nur schießt, wenn es seiner Person gilt, und der in seiner Nähe Meinungen äußern hören kann, welche es seyn mögen. Ich halte es für eine persönliche Beleidigung, sagte mir Sir Anacharsis einmal, als ich ihn besuchte, wenn man in meiner Gegenwart dummes Zeug spricht. Die Dummheit ist die größte Unanständigkeit. Die Dummheit, schlecht vorgetragen, ist vollends eine Insulte.

Ich war höchst angenehm überrascht von dem Eindruck, den Sir Anacharsis häusliche Einrichtung auf mich machte. Seine Umgebung war eben so comfortabel, wie modisch, und doch hatte Alles noch einen Beigeschmack, 167 eine naive Sinnigkeit, die in der gedankenlosen und albernen Mode nie liegen wird, die aber in dem Charakter seiner Existenz unverkennbar war. Der Reiz des Modernen umgab ihn. Er führte mich in ein Zimmer, welches von einem magischen Licht erhellt war. Die Glasscheiben der gewölbten Fenster waren bemahlt, das Ganze stellte eine Halbrunde vor, fünf oder sechs Nischen waren mit den herrlichsten Antiken geschmückt. Eine schlafende Nymphe aus Alabaster, der Phantasie eines außerordentlichen Künstlers entsprungen, ruhte neben ihm an einer Ottomane. Was er über diese Einrichtung sagte, war: Sie werden mich für abergläubisch halten, wenn ich diesen Heiligthümern, welche Sie hier sehen, eine Einwirkung auf mein Gemüth zugestehe. Ich nehme in der Religion wenig Dogmen für gewiß an, und selbst an die, welche mir wahrscheinlich vorkommen könnten, fühl’ ich mich nicht sehr verpflichtet zu glauben; allein eines gewissen Schauers werd’ ich immer bedürfen, einer heiligen Erregung, die mich in den mystischen Zusammenhang der Jahrhunderte versetzt, die mir das Bedeutungsvolle der absoluten Stille vergegenwärtigt und mich unterstützt, an mich selbst zu denken.

Sir Anacharsis scheint somit die Religion zu widerlegen. Er zweifelt an ihr, verwirft sie, und doch läßt sie ihn nicht, und er sie nicht. Grade, daß sie ihn so viel beschäftigt, ist ein Beweis, daß er religiös ist trotz seines Skepticismus. Das Fürchterlichste aber, fuhr er 168 fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Ideen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist.

Wie, Sir, fragt’ ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern?

Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Irrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Ich glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man 169 freilich nicht erörtern kann, ohne rüstig Hand anzulegen. Es ist gerade so wie in alten Zeiten. Das wahrhaft Antike und Romantische konnten nur die Bevorzugten fühlen, und gegenwärtig das Moderne die, welche den Vorzug haben, wenigstens die alten Zeiten vergleichen zu können.

Als ich Sir Anacharsis fragte, ob denn nun seiner Meinung nach das Moderne nicht auch bestimmt wäre, allmählich ein allgemeiner Charakter der Zeitgenossen zu werden? antwortete er: Nimmermehr! das ist das Exclusive. So sehr man es mit der Mode in Verbindung bringen darf, so ist ja eben die Mode auch nur das Streben, immer wieder aus der Mode zu kommen. Modern zu seyn ist eine Eigenheit. Sind die Menschen so weit, daß sie alle so denken und empfinden wie ich, dann werden die Philosophen des Jahrhunderts schon wieder in einem andern Stadium stehen und einen andern Namen haben.

Es war mir im Grunde komisch, wie ich, der ich doch mit ganzer Seele der Zeit hingegeben bin, mir einen so gelehrten Unterricht geben ließ über etwas, das ich durch Schrift befördert und in meinen eigenen Glauben aufgenommen habe. Auch Sir Anacharsis fühlte dieß und sagte lachend: Kommen Sie, was haben Sie nöthig, sich von mir über die Zeitgenossen belehren zu lassen. Repräsentiren Sie nicht in der Literatur vollkommen das Gepräge des Modernen, welches jetzt auf Gefühle und Gedanken von den Autoren gedrückt wird? 170 Denn selbst Byron, an den man immer versucht ist zu denken, wenn von der Poesie des Augenblicks gesprochen wird, selbst Byron kann nicht als deutlicher Typus unsres Begriffes dienen. Er hat soviel Launen und Spezialitäten gehabt, daß er mehr einem Auswuchse gleicht. Denn es soll ja nimmermehr gesagt werden, in der modernen Richtung der Literatur müsse all die Ausschweifung und Caprice liegen, der sich Byron nur zu bereitwillig hingegeben hat.

Ich muß gestehen, entgegnete ich, daß ich meine Schreibart schwerlich anders als mit dem Namen des Modernen zu bezeichnen wüßte; wie ich aber zu dieser besondern Haltung, wie ich zu meinem eigenthümlichen Tone komme, ist mir selbst ein Räthsel. Bald scheint es mir, als treibe mich der Geist der Unruhe, welcher überhaupt unsre Zeit quält, und ermuthigte mich, mit Hand anzulegen und eine neue Welt bauen zu helfen; bald aber schmieg’ ich mich wieder mit so viel liebendem Interesse an die selbst veralteten Sitten, an die bestehenden Gesetze und Einrichtungen an, daß ich mich fast schäme, mich auf einen bloßen Maler und Copisten dieser Zustände reduzirt zu sehen. Allein möglich auch und vielleicht ganz gewiß, es liegt in der Pflicht, welche der Literat zu befolgen hat, eben so reformistisch wie conservativ gesinnt zu seyn, wenn wir nämlich von der politischen Alltagsbedeutung dieser beiden Begriffe abstrahiren und sie in Rücksicht auf die menschliche Existenz im Ganzen und Großen gebrauchen wollen. Moderne 171 Literatur heißt theils Abspiegelng der Zeitgenossen in den Lagen, wo sie sich befinden, Einmischung in ihre Debatten, Frage und Antwort in Sachen des allgemeinen Nachdenkens und der praktischen Philosophie. Der Literatur gegenüber ist das moderne Genre leicht in der Form, zufällig im Inhalte, subjektiv in Manier und Haltung, witzig und melancholisch, launig in jeder Beziehung, sehr begabt mit kritischem Talente und für die eigne Produktion entweder etwas impotent oder wenig ehrgeizig, es den großen Klassikern der Vergangenheit nachzuthun. Roman, Novelle, die kleine Abhandlung, Briefe, empfindsame Reisen, das sind die einfachsten Formen, mit welchen der moderne Autor seine Er­findungen, Träume und Charaktere einfäßt. Das moderne Genre entsteht schnell, verbreitet sich schnell, wird schnell verstanden und stirbt schneller noch, als es oft eine Kritik erlebt hat. Lob und Tadel der Kritik nützen oder schaden nichts mehr: der Roman ist ein Jahr alt, wer liest ihn noch!

Sir Anacharsis entgegnete: Der Hauptcharakter des Modernen, der auf alle Aeußerungen desselben, literarische, künstlerische, sittliche, religiöse, seine Anwendung hat, ist der, sich nicht genirt zu fühlen. Das Moderne geht von allem in jetziger Zeit fraglich und streitig Gewordenen aus, läßt sich aber in einem gewissen Comfort der Betrachtung darüber nicht stören. Man muß selbst bei der Unruhe der Zeit seine Ruhe als Individuum behaupten können und keinem Verhältnisse soviel 172 Aufopferung widmen müssen, daß man sich dadurch genirt fühlen würde. Sie haben ein wahres Wort gesprochen, wenn Sie irgendwo sagen: Was heute Meinung ist, war vor zehen Jahren Philosophie! Und sehen Sie, in der Mitte dieses Abstandes, fünf Jahre nach der Philosophie und fünf Jahre vor der Meinung steckt gerade das Moderne mitten inne. Es ist nicht tief und nicht praktisch genug, um sich für das Ganze zu entscheiden und hält sich demnach an die Hälfte.

So und ähnlich sprech’ ich oft mit Sir Anacharsis. Denn auch dieß ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, durchaus noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet. Das eigentliche Moderne scheint mir eine Mischung von angebornem Verstande und raffinirtem Gemüth zu seyn. Daraus ergeben sich die Leiden, die Vorzüge und die Widersprüche dieses Genres im Leben wie in der Literatur. Es beweisen aber auch namentlich diese Widersprüche, daß das Moderne durchaus dem Antiken und Romantischen nicht sollte als drittes Congruum an die Seite gesetzt werden, sondern daß diese Anschauung der Dinge und der Menschen ein Uebergang zu einer weitern Entwicklungsstufe ist, welche unsre Zeit erklimmen muß. Das Moderne ist, schon durch die große Schwierigkeit der sichern Definition, kein bleibendes, wenn auch sonst charakteristisches 173 Merkmal unsres Zeitalters. Größere Ereignisse werden diese vorübergehende Mischung von Ernst und Leichtsinn ablösen. In den Widersprüchen des Moments eine schwebende Lösung, in den feindseligen Elementen des Parteigeistes eine wohlmeinende Tröstung: das kann füglich die moderne Art genannt werden. Vielleicht ist es ein Begriff unsres Jahrhunderts, vielleicht dauert er nur noch ein Dezennium, jedenfalls ist er kein dauernder Typus des gegenwärtigen Zeitalters.

Wenn wir im Folgenden die Interessen unsrer Mitwelt zu sichten und zu klassificiren suchen, so schwebt uns dabei nicht mehr die eigenthümliche Koketterie des Sir Anacharsis vor, sondern das Wohl der Menschheit, von welchem mir ein zwar nicht in Worten faßbares, aber dennoch untrügliches Ideal vorschwebt. Ich weiß nicht, was Alles dazu gehört, die Völker zu beglücken; aber ob Dieß dazu gehört und Jenes nicht, das schwebt klar genug vor meinem geistigen Auge.

174 Die Existenz.#

Nach der gewöhnlichen Lehre besteht der Mensch aus drei Theilen, aus Leib, Seele und Geist; allein Menschen gibt es genug, wel­che nur einen einzigen dieser Bestandtheile zu besitzen scheinen. Wen kann ich wohl unter Master Caliban meinen? Nennt ihn auch Master Rostbeaf, nennt ihn Master Pudding; er ist und bleibt dieselbe unbewegliche Masse, die weder von dem Herzen noch von einem etwas höheren Gedanken je etwas gehört hat. Caliban ist unter den Menschen, was die unausgebildete breiartige Molluske unter den Thieren. Er gehört noch weit mehr der Vegetation des Pflanzengeschlechts an, ist weit mehr Vegetabil, mit dem Unterschied freilich, daß er Fleisch-, Mehl- und Fischkost dem Ge­müse vorzieht. Master Caliban wuchs in seiner Jugend wie eine nur zufällig zum Menschenbilde zusammen­geronnene Fleisch­mas­­­se auf; schon als Knabe waren seine Bewegungen vor Fett unbeholfen. Er ist der Sohn eines reichen Brauherren und der Erbe sei­nes väterlichen Geschäftes; denn wie sollte er den Verstand gehabt haben, sich selbst eine Existenz zu begründen? Sein Leben 175 ist Fraß, ist thierisches Brüten und Liegen auf den Rindsvierteln, die sein Riesenmagen aufnehmen kann. Sein Herz ist so sehr von Fett umwickelt, daß er ein Narr geworden wäre, wenn nicht zufällig sein behagliches Daseyn ihn von eitler Casuistik der Umstände, von jeder Nothwendigkeit, hier oder da einen Entschluß zu fassen, befreit hätte. Und dieser Mann geht in die Kirche! Wie kann er dieß, da sein Herz keiner einzigen Regung fähig ist? Nur aus Gewohnheit, weil er sonntäglich seine reinen Handschuhe und seinen Stock mit einem silbernen Knopfe auf den Tisch seines Wohnzimmers hingelegt bekömmt und aus Instinkt und durch jahrelange Gewohnheit bemerkt, daß dieß das Zeichen zum Kirchgehen ist. Er ist verheirathet (der Lebenswandel seiner Frau ist bekannt), er hat Kinder (glücklicherweise ähneln sie ihm nicht), ja er liest sogar die Times, aber nur aus Dumm­heit, ähnlich jenem Hogarth’schen Zeitungsleser, der sich an dem Lichte seinen Hut verbrennt. Ueber die Annoncen, über die Kutschen, die zu kaufen, über die Ammen, die zu miethen, kurz über diese Alltagsallwissenheit der Times, die größer ist, als ihre übrige politische Weisheit, kömmt er nicht hinaus. Alles zusammen­genommen, stellt Master Caliban doch immer nichts Anders in der Welt vor, als den rohsten Urstoff, aus welchem das erste Gestell der übrigen Menschen gebildet wurde. Er ist die abolute Materie.

Sir Ariel und Lord Abstrakt würden es ihrerseits sehr übel nehmen, wenn sie wüßten – und sie werden 176 es wissen! – daß ich sie mit Master Caliban in Verbindung bringe. Und doch sind beide in ihrer Art eben so einseitig, wie Jener. Sir Ariel scheint nur Seele zu seyn, so körperlos, aber so geistlos ist er auch. Sein Herz schlägt immer so laut, daß man glauben möchte, er hätte unter seiner Brusttasche ein Vögelchen oder ein Kaninchen versteckt. Eine solche Zärtlichkeit würde seiner weichlichen Gemüthsart auch gar nicht zuwider seyn: Sir Ariel ist immer krank und immer fade, aber der Abgott der Frauen. Sie würden ihn heilig sprechen, wenn in England die Sitte noch üblich wäre. Er seufzt, er stöhnt, er weint; er kömmt oft mit thränenden Augen in die Gesellschaft und steckt erst die ganze Versammlung durch seinen Schmerz an und erzählt dann eine Geschichte, die oft eher komisch als rührend ist. So feucht dieser Mann ist, so trocken ist Lord Abstrakt, dessen Untersuchungen über die Trigonometrie bekannt genug sind. Dieser Gelehrte ist der größte Mathematiker, der nach Newton kommen konnte. Newton rühmte sich, nie ein Weib berührt zu haben, aber er hatte vielleicht ein Herz, er kannte Mitleiden und Gefühl; allein Lord Abstrakt ist ohne Leib und Seele, ist nur Gedanke, nur Reflexion, ein Mensch, der sich in steter Abwesenheit befindet. Frägt man ihn nach der Uhr, so antwortet er: 37, weil er nämlich etwas ganz Anderes verstanden hat. Man darf ihn in keine Gesellschaft führen, weil er im Stande ist, durch seine Zerstreuung die beste Einigkeit zu stören. Er wird so 177 entschieden grob bei vorkommenden Fällen, daß man erstaunt, wie sich dieser Mann über alle Rücksichten hinwegsetzt. Er hat sich sogar ein eigenes philosophisches System erfunden. Allein, wenn alle Weisheit, selbst die Afterweisheit, die Scholastik bisher noch immer einen gewissen Inhalt in ihren Formeln gehabt hat, wenn selbst an den kahlsten Begriffen der Philosophie von ihren Aposteln noch immer einiges concrete Fleisch, eine gewisse Natürlichkeit gelassen wurde, so hat Lord Abstrakt in seine Theorie nur Schattenbilder, nur Dreiecke und Quadrate aufge­nommen. Wo andere Menschen von dem höchsten Gut und von dem vorzüglichsten Prinzip der Moral sprechen, da sieht er nur Katheten und Hypotenusen. Ich frug ihn einmal: Mylord, glauben Sie denn an die Unsterblichkeit der Seele? Trocken, kalt und ernst sah er mich an und antwortete nach einigen Sekunden mit hohem Pathos: Die grade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punk­ten! Was er sich hiebei gedacht hat, weiß ich nicht. Ich habe nie wieder mit ihm gesprochen.

Trotz dieser Ausnahmen beweist die Geschichte, daß zwar Leib, Seele und Geist selten in gleicher Harmonie gefunden werden, daß aber aus ihrem mehr oder weniger entschiedenen Zusammenhange das Leben des Einzelnen und der Völker gebildet wird. Bald blühten Epochen, wo der Leib die Oberhand hatte, wie im Alterthum, in jener Zeit der schönen, plastischgerundeten For­men, in jener Zeit der Vermenschlichung und der 178 Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dicht­kunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. In Völkern und Individuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigen­thümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde – Forschern sey das ge­sagt – das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und 179 Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Ge­müths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen.

Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Interessen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen.

180 Wir haben zuerst von der Bevölkerung zu sprechen. Wie harmlos und dem jetzigen Bestande der Dinge widersprechend beginnt die Geschichte dieser Frage! Wie einfach ist sie bis auf den Augenblick, wo Malthus die fürchterliche Gestalt des immer mehr anwachsenden Riesen in allen ihren Conturen zum ersten Male wahrnahm und durch die Entdeckung seines berühmten Satzes, daß die Bevölkerung geometrisch und die Nahrungsmittel arithmetisch zunehmen, Alles, was in Europa nicht nur lebte, sondern auch Leben schaffen wollte, mit Schrecken erfüllte!

Von jeher haben die Gesetzgeber sich damit beschäftigt, die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zu regeln; doch war ihr Gesichtspunkt immer der, daß ihnen entweder die Zahl zu gering, oder zu hoch nur in dem Falle war, daß aristokratische kleine Gemeinwesen von einer allzujäh zunehmenden Bevölkerung in ihren Privilegien verkürzt zu werden fürchteten. China, an Uebervölkerung leidend, gestattet den Verkauf und die Aussetzung der Kinder, einen Gebrauch, von dem man nicht weiß, ob er weniger grausam ist, als der von Montesquieu angeführte auf der Insel Formosa, wo die Weiber vorm fünfunddreißigsten Jahre nicht gebären dürfen und sich mit einer Priesterin abzufinden haben, wenn sie vor diesem Alter ihrer Leibesfrüchte los werden wollen. Plato und Aristoteles, die großen Weltweisen haben wenig Rücksicht auf das noch nicht zum Bewußtseyn gekommene Menschenleben genommen. Aristoteles rathet, 181 wenn für eine Stadt Uebervölkerung drohe, ihren Bürgerinnen an, es so zu machen, wie die Frauen auf Formosa, wenn sie noch nicht fünfunddreißig Jahre alt sind. Bald aber änderten sich diese Rath­schläge und gingen auf das Gegentheil über. Die kleinen Staaten wurden von den großen verschlungen, diese wieder von dem Welt­reich der Römer. Die Bevölkerung war überall, der Kriege und der Noth wegen, nur dünn und sparsam: wie auch Plutarch so schön sagt, die Orakel hätten in Griechenland zu reden aufgehört, weil es ja keine Menschen mehr im Lande gäbe. Rom mit der Ahnung, daß es die Welt erobern und dazu Menschen brauchen würde, munterte von seiner ersten Stiftung an seine Bürger auf, sich zu vermehren und zu heirathen. Hagestolze wurden von den Censoren be­straft. Die Ansicht der Römer drückt Metellus Numidicus beim Aulus Gellius folgendermaßen aus: „Wenn es möglich wäre, sich kein Weibsbild auf den Hals zu laden, so würden wir Römer uns bald von diesem Uebel befreien. Aber da einmal die Natur festgesetzt hat, daß man mit ihnen nicht glücklich leben, aber ohne sie auch nicht fortdauern kann, so müssen wir freilich mehr auf unsre Erhaltung als auf unsre Zufriedenheit sehen.“ Trotz dieser Lehre, die allerdings wenig zur Heirath Aufmunterndes hat, vermehrte sich die Zahl der Hagestolzen, und verminderte sich die Nachkommenschaft. Die Bürger- und Eroberungskriege rafften die blühenden Geschlechter des Adels und die unteren Volksklassen, die sich dem Ehrgeiz derselben opferten, 182 fort. Da fing Cäsar, der viel Menschen haben wollte, um unter ihnen der Erste zu seyn, an, auf die eheliche Fruchtbarkeit Prämien auszustellen. Frauen, die im vierundfünfzigsten Lebensjahre noch keinen Mann oder wenigstens ein Kind hatten, durften weder Edelgesteine noch sonstige Befriedigungen weiblicher Eitelkeit tragen. Augustus gab noch dringendere Gesetze. Er erhöhte die Strafen und die Belohnungen in Betreff der Nachkommenschaft. Er übertrieb aber seinen Widerstand gegen Umstände, die beinahe schon in der Natur zu liegen anfingen. Die Adeligen murrten. Augustus berief sie, stell­te hierher die Verheiratheten, dorthin die bei weitem größere Anzahl der Hagestolzen und sprach Folgendes: „Während uns Krieg und Pest eine so große Anzahl von Bürgern raubt, was soll aus dem Staate werden, wenn man sich nicht mehr verheirathet? Unser Staat besteht nicht aus Häusern, Säulengängen und öffentlichen Plätzen, sondern die Men­schen machen die Stadt. Ihr werdet es nicht mehr erleben, daß wie in alten Zeiten die Leute aus der Erde kommen und eure Geschäfte übernehmen. Der Einsamkeit wegen seyd ihr nicht ehelos. Jeder von euch hat seine Bett- und Tischgenossin, und ihr sucht die Ordnung eben in eurer Unordnung. Ihr wollt euch wohl auf das Beispiel der vom Staate geduldeten vestalischen Jungfrauen berufen?“ Nach ähnlichen spottenden und erzürnten Bemerkungen kam das berühmte Gesetz Papia Poppäa zu Stande, welches nicht nur die ganze Strenge der früheren 183 Bekämpfung des Cölibats wiederholte, sondern noch eine viel härtere hinzufügte. Aus allen diesen historischen und juristischen Elementen setzte sich die römische Gesetz­gebung über das Hagestolziat zusammen, wie wir sie in den Quellen derselben noch antreffen. Diejenigen, welche sich nicht verheiratheten, konnten von Fremden nichts erben, und die, welche zwar beweibt waren, aber keine Kinder hatten, konnten nur auf die Hälfte der Erbschaft Anspruch machen. Plutarch sagte sehr witzig: Die Römer heirathen, um Erben zu seyn, nicht, um selbst welche zu haben. Wenn sich ein Mann von seiner Frau ent­fernte, und die Veranlassung dazu nicht in Staatsgeschäften lag, so konnte sie ihn enterben. Wer seinen Kindern keine Mitgift zur Heirath gab, durfte durch die Behörden dazu gezwungen werden. Heirathen im höchsten Mannesalter kamen vor, aber die Männer mußten alle dem Marino Falieri gleichen und sich Angiolinen heirathen. Ein sechszigjähriger Mann durfte der Nachkommenschaft wegen keine sechzigjährige Frau heira­then. Andere kehrten es um und verboten gerade den Alten junge Frauen, weil sie unfruchtbar blieben. Es kam hier freilich immer auf die Umstände an.

Das Christenthum stürzte durch sein Prinzip, daß es gut wäre, zu heirathen, aber besser, nicht, diese Gesetzgebung zum größten Theile um. Der Monachismus machte vollends aus dem unbeweibten Stande ein Sakrament. Wie aber die Vorsehung alle Gegensätze der Natur ausgleicht (die Gegensätze des Geistes sind auf 184 sich selbst angewiesen), so schien diese Casteiung in gutem Einklang mit den ungeheuern Völkermassen zu stehen, welche Asien über Europa ausgoß. Zwar wütheten Krieg und Pest un­ter diesen Horden, aber trotz derselben, trotz der spätern Kreuzzüge behaupten französische Gelehrte, daß Frankreich unter Karl IX. doch beinahe eben soviel Bewohner gehabt hat, als gegenwärtig. All­mählich aber verminderte sich dieß günstige Verhältniß. Der Grund des plötzlichen Zusammenschmelzens der europäischen Be­völ­kerung mag zum größ­ten Theile wohl im Untergange des Feu­dalismus und des Lokalgeistes zu Gunsten der Centralisation und der Staatsmaschine gelegen haben. Früher hatten die kleinen Reichs­städte und Baronien in sich selbst einen stolzen unab­hängigen Mittelpunkt; sie dehnten sich in warmer, behaglicher Existenz und brüteten demnach mehr Menschen aus, als später, wo das System der Controlirung und die Rekrutenaushebung es den Eltern zum Schmerze machte, Kinder zu haben. Was nahm nicht der neu entdeckte Welttheil im Westen an Menschen fort! Wie große Menschen­­opfer mußten die Holländer ihren ungesunden Colonien machen! So kam der absolute Monarchismus, der Menschen brauchte, um Kriege zu führen, und Geld dazu, das jene verdienen mußten, fast überall wieder auf die Gesetzgebung des Augustus zurück, so zwar, daß weniger die Hagestolzen, als die Ehemänner selbst ermuntert, und aufs Neue Prä­mien für eine gewisse Anzahl Kinder ausgesetzt wurden. Wer zehn Kinder 185 hatte, bekam unter Ludwig XIV. eine Pension. Allein daß die Bevölkerung Europa’s trotz der Kriege des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts reißende Fortschritte gemacht hat, ist weit weniger die Folge dieser in manchen Militärstaaten, z. B. Preußen, noch bestehenden Prämien, als die der steigenden individuellen und industriellen Freiheit. Seitdem die Macht des Clerus und der Aristokratie beschränkt ist, seitdem die nutzlos gelegenen und selbst bei ehrlichem Anbau nicht hinreichend ausgebeuteten Domänen der Fürsten an den meisten Orten der Nation überlassen sind, seitdem die Monopole und Privilegien erstarben, hat sich überall eine kecke, fröhliche Lust an der, wie Göthe*) sagt, „süßen Gewohnheit des Daseyns“ gezeigt und Menschen die Hülle und Fülle ins Leben gerufen. Die Bevölkerung nahm mit so gewaltiger Schnelligkeit zu, daß sich der Phantasie das Schreckbild der Uebervölkerung bemächtigte und in Malthus einen finstern, unglücksschwangern Propheten fand. Ich habe einen Bekannten, der über die Lektüre des Malthus’schen Buches in Trübsinn verfallen ist. Ueberall, wo er hinsieht, erblickt er die Plage der Uebervölkerung. Ueberall sind ihm die Menschen zu zahlreich. Die Gier, welche diese Millionen beseelen muß, um sich zu ernähren, hat ihn feige gemacht, die Conkurrenz auszuhalten und mit im Athem zu bleiben bei dem allgemeinen Wettlaufe. Sein Geschäft blieb 186 unter diesen Umständen zurück. Das Daseyn, das er sich fristet, ist kümmerlich genug.

Die Malthus’sche Theorie und die Debatten, welche sie veranlaßte, ist hier nicht der Ort, weitläufig wiederzugeben. Malthus hat gesagt: Die Menschen ver­mehren sich in dem Verhältnisse von 1, 2, 4, 8, 16, die Nahrungsmittel aber nur wie 1, 2, 3, 4, 5 u. s. w. Seine Gegner haben den ersten und den zweiten Satz angegriffen. Jener ist beschränkt, dieser erweitert worden. Dort hat man die außerordentlichen Fälle mit in Anschlag gebracht, hier auf die Meinung sich gestemmt, man kön­ne die Natur potenziren. Eine dritte Meinung war die, daß die Vorsehung schon der Natur selbst den Trieb eingepflanzt hätte, sich wechselseitig auszugleichen und Mögliches nur an Mögliches zu reihen. Diese letztere Ansicht, so richtig sie mir scheint, hat aber auch übersehen, daß die Mittel, welche die Natur braucht, ein solches Gleichgewicht des Bodens und der Menschen herzustellen, natürliche, d. h. keine moralischen, sondern grausame genug sind. Eben diese grausame Reaktion der Natur zu vermeiden, darum handelt es sich in dieser wichtigen Menschheitsfrage.

Das Maß der Bevölkerung ist die Möglichkeit, sich zu ernähren. Das Maß der Ernährung ist wieder die Natur in dem, was ihre Mittel vermögen. Die ungeheure Complication der neuern Existenzmittel, die künstlichen Nothwendigkeiten, welche durch Luxus, Industrie, Handel, Wissenschaft und den weitverzweigtesten Forma-187lismus in Staat, Kirche und sofort geschaffen sind, machen den Calcul über die Bevölkerung ungemein schwierig. Wovon existiren die Menschen nicht! Und was läßt sich nicht noch ersinnen, um eine Beschäftigung zu haben, die ihren Mann nährt! Wir werden auf dieß Thema, weil es die Zeitgenossen sprechend charakterisirt, wieder zurückkommen. Hier gilt es, den Satz fest zu halten, daß zuletzt auch bei den künstlichen Beschäftigungen ein Maßstab vorhanden seyn muß, der ihren Werth und die Grenze ihrer Ausdehnung ausdrückt. Dieß ist der Ertrag des Bodens und der Natur überhaupt. Es muß ein Ultimatum von Bevölkerung geben, wie wir es partiell hie und da schon gesehen haben, daß das Gefäß überläuft und die Auswanderung dem ängstlichen Zustande zu Hülfe kommen muß. Freilich wird die Natur verhindert, ihre Meinung über die Menge, die sie ernähren kann, auszusprechen; durch die Lasten nämlich, welche auf dem Boden und seinen Erzeugnissen liegen. Europa, in der Annahme eines Weltreichs, das ohne Gesetze und Gesetzvollstrecker friedlich beharren könnte, Europa ohne Staaten und Aristokratie in ihnen, Europa als ein freiherrliches Land, das keiner Kriege und Fürsten bedürfte, würde noch einmal soviel Menschen tragen dürfen, als jetzt: eine Wahrheit, die etwas Schreckhaftes hat. Denn entweder muß das Interesse unsrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung die Keime der sich ins Leben drängenden Menschheit gewaltsam ersticken, oder kann man dieß nicht, und glaubt man 188 es nicht zu dürfen, glaubt man, die künstliche Existenz, welche jetzt Millionen ernährt, werde noch einmal soviel vor Hunger decken können, so wird die Folge nur die seyn, daß die Menschheit vom Boden das wegnimmt, was seinen Reichthum hindert. In der Uebervölkerung liegt auch zu gleicher Zeit der Untergang der Verhältnisse, welche jetzt dem europäischen Körper seine Gestalt geben. Sind die Menschen erst da, bricht, wie früher oder später geschehen muß, die künstliche Maschine eingebildeter Bedürfnisse und darauf gebauter Nahrungszweige zusammen, so wird die hungernde Menschheit nichts hindern, den Priester- und Königszehnten der Ernte für sich in Beschlag zu nehmen und aus der poten­zirten Natur all die arithmetischen Wurzeln zu ziehen, die nur in ihr drin stecken.

Die Staatsmänner, welche bedacht sind, Europa in seiner gegenwärtigen Form zu lassen oder doch nichts Wesentliches an ihr zu ändern, Staatsmänner sogar, die Philanthropen sind und zuviel Mitleid mit der Menschheit haben, als daß sie wünschten, je die Nachkommen in Verlegenheit über ihre Existenz zu wissen, haben Vorschläge aller Art gethan, um der reißend um sich greifenden Zunahme der europäischen Bevölkerung Einhalt zu thun. Die Auswanderung nach unbebauten Regionen, deren viele ebenso noch in Europa, wie in den übrigen Welttheilen liegen, war das natürliche Palliativ. Allein wie inkonsequent! die Auswanderung wird nicht gern gesehen. Denn natürlich, diese Leute nehmen mit 189 übers Meer, was ihnen gehört, besonders aber sich selbst, ausgewachsene, kräftige Arbeiter, die einmal da sind, da im Gegentheil das Schreckbild der Uebervölkerung nur noch einstweilen in der Möglichkeit derer liegt, die nachkommen könnten. Der Vater wandert mit vier rüstigen Söhnen aus. So war es nicht gemeint, guter Freund, bleib im Lande, nur vermehre dich nicht über die Zahl! du konntest wohl mit drei Söhnen zufrieden seyn, jetzt, wo du den vierten hast, halte wenigstens für die Zukunft ein. Daß nun eben der gute Mann dieß nicht thut, sondern zufrieden auf sein Weib blickend ausruft: Es ist Gottesgabe! diese Rücksichtslosigkeit auf die Grundsätze der Finanz, die der Mann hat, könnte es dann freilich zum Schluß allein wünschenswerth machen, daß er getrost auswandert.

Es sind mancherlei Vorschläge gemacht worden, der allzugroßen Vermehrung, besonders der niedern Volksklassen, Einhalt zu thun. Man hat von dem Plombiren der männlichen Zeugungskraft gesprochen, ja sogar in Betreff der unverheiratheten Mädchen von ähnlichen Vorrichtungen gesprochen, wie sie ein Doge, der gegen die Türken auszog, bei seinem Weibe veranstaltete, und wie sie noch zu dieser Stunde im Arsenal von Venedig zu sehen sind. Allein das Uebel des Ehestandes ist weit größer. Ein Taglöhner heirathet und hat ein Nest von Kindern, die er nicht zu ernähren weiß. Ein Uebelstand in unserem heiligen Lande, wo wir durch die Moral die größte Immoral zu befördern pflegen, ist die Armentaxe, 190 eine fortwährende Aufmunterung für den Bettler, es dem Reichen nachzuthun, zu heirathen, Kinder zu zeugen und ihnen eine Erbschaft zu hinterlassen, die wahrlich nicht schlecht ist, wenn man bedenkt, daß auf sie die Unterstützung des Vaters nicht nur vererbt, sondern durch Zuschüsse sogar vermehrt wird. Die Masse der gesellschaftlichen Drohnen steigt; die Einen arbeiten, die Andern zeugen Kinder. Dieß wäre eine vortreffliche Einrichtung, wenn das letzte Geschäft von den Ersten nicht ebenfalls betrieben würde oder mit einem gewissen Risiko verbunden wäre.

Eine Abhandlung über diesen Gegenstand liegt vor mir. Sie will ein Mittel gegen die Uebervölkerung, nachdem sie mehrere andere verworfen, ihrerseits angeben und sagt: „Es ist nur die Ergreifung zweier Maßregeln möglich. Einmal das Verbot der Eingehung einer Ehe vor zurückgelegtem dreißigstem Lebensjahre beim Manne, damit hiedurch die Generationen weiter auseinander gerückt werden und also weniger Menschen zu glei­cher Zeit leben, zweitens aber das Verbot jeder Ehe bei Personen, welche einen sichern Nahrungsstand nachzuweisen nicht vermögen, wobei ein allzukleiner Antheil an Grundeigenthum und Fähigkeit zu Taglöhnerarbeit und einem Handwerk, wenn das örtliche Bedürfniß nach der Ansicht der Gemeinden schon völlig befriedigt ist, nicht als hinreichend sichernd zu betrachten wären.“ Dieß Mittel liegt allerdings auf der Hand und wäre auch einfach genug. Allein der Verfasser dieser aus dem deutschen 191 übertragenen Abhandlung fühlt selbst, daß die unehelichen Geburten dann ausnehmend um sich greifen würden, von denen er jedoch hofft, daß sie bald sterben, da die Sterblichkeit unter unehelichen Kindern größer ist, als unter gesetzmäßig Erzeugten. Sollte man aber selbst diese etwas grausame Hoffnung nicht aus dem Spiele lassen? Sollte man nicht beiderlei Geburten, den ehelichen und den unehelichen, gleiches Gedeihen wünschen können und dabei noch eine Verminderung des Zeugungstriebes erzielen? Ich gestehe, daß selbst in obigen Bestimmungen über Heirathen in dem und dem Alter, unter den und den Umständen etwas Chimärisches liegt, und daß ihre Durchführung unübersteigliche Hindernisse darbietet. Ich halte überhaupt das Erschweren der Heirath für etwas so Unnatürliches, daß ich über die Künstlichkeit unsrer gegenwärtigen Einrichtungen erschrecken würde, wenn jenes nothwendig werden sollte. Im Gegentheile find’ ich, daß die Menschen viel zu sehr gezwungen werden, sich zu verhei­rathen, durch die großen Schwierigkeiten nämlich, welche sich der unehelichen Geburt entgegenstellen. Ein Findelhaus, das jährlich dreihundert Kinder aufnimmt, erspart der Zukunft des Volkes eine Generation, die leicht das Dreifache beträgt. Denn sind die meisten Heirathen in unsern Ständen nicht Folge eines Verhältnisses, das sich mit einem einzigen Kinde befriedigt haben würde, und das sich enger zusammenknüpft und fünf Kinder erzeugt, weil mit der unehelichen Geburt Unbequemlichkeit, Prozesse und letztlich 192 Schande verknüpft ist? Gewiß, es muß hier möglich seyn, erleichternd einzuschreiten. Wenn wir das ruchlose Gesetz haben, daß eine jede Dirne von der Straße, die schwangern Leibes ist, ihr Kind einem beliebigen Vater zuschwören darf, wer möchte, wenn es z. B. ein Hagestolz ist, der sein kleines Geschäft im Städtchen führt und sich verging mit einer Magd, nicht lieber, um dem Prozesse zuvorzukommen, sich mit dem Stück verheirathen, sie als angetraute Haushälterin ansehen und sich selbst zwingen, nun noch, was sie sogar verlangen könnte, ein halb Dutzend Kinder mit ihr in die Welt zu setzen? Mit einem Worte: Es herrscht viel zuviel moralischer und juristischer Zwang zur Ehe. Unser Autor von vorhin fürchtet sich gerade vor unehelichen Verhältnissen nicht; allein er hätte noch weiter gehen sollen. Ein Arbeiter heirathet. Er schlägt sich jeden Tag mit seiner Frau und zeugt doch, wie dieß gewöhnlich ist, eine wimmelnde Kinderbrut mit ihr. Nur die Ehe, zu der ihn das erste uneheliche Kind vielleicht gezwungen, moralisch und juristisch gezwungen, nur die Ehe zwingt die­ses Paar förmlich, sich ohne Liebe zu vermehren. Wären sie, wie man im Volke sagt, nur zusammen gelaufen, so hätten sie sich leicht wieder trennen können. Die gerichtliche Scheidung verursacht soviel Weitläufigkeit, daß die Leute lieber zusammen bleiben, sich schlagen und des Nachts, vielleicht in der Trunkenheit, die Befürchtungen, welche Malthus hegte, begründen helfen.

So lange die Menschheit noch dem sophistischen 193 Gorgias nachlebte, der es für die höchste Aufgabe der Weisheit hielt, sich Alles selbst zu verfertigen und keiner fremden Hülfe zu bedürfen, war die Theorie der Erwerbsmittel die einfachste von der Welt. Man erwarb, was die Natur bot. Man lebte von den Bäumen, die Niemanden gehörten, von den Thieren des Waldes, kurz, Nahrungsmittel waren das Unmittelbare, das man antraf, man war noch nicht genöthigt, Güter gegen einander zu tauschen. Erst mit dieser Nothwendigkeit, daß der Eine nur Vieh und der Andere nur Frucht besaß, begann das Erwerben der Nahrungsmittel ein statio­näres Geschäft zu werden. Die Einseitigkeit des Besitzes trieb die Verhältnisse der Existenz auf eine Höhe, die immer künstlicher wur­de. Der Eine erzeugte die Rohstoffe, der Andere verarbeitete sie, der Dritte vertrieb sie im Handel. Das Geld, eine Werthbestimmung, wurde einziges Ziel des Erwerbes, weil man bald durch dasselbe im Stande war, Alles zu erlangen. Der Tausch war durch das Hülfsmittel des Geldes vereinfacht. Mit zunehmender Bevölkerung und steigender Cultur verlor sich auch die Leichtigkeit des Erwerbs. Die Conkurrenz nahm dem Einzelnen sein natürliches kleines Monopol. Verdienst wurde bald nur noch die Frucht einer Anstrengung, die selbst bei dem redlichsten Willen, nie eine von Schweiß trockne Stirn zu haben, doch vergebens arbeitete, weil die gleiche Thätigkeit überhäuft und allgemein besetzt war. So mußten die Erwerbszweige immer verschlungener und schwieriger zu erreichen werden. Man 194 benutzte die Natur, man benutzte sich selbst. Die Arbeit selbst wurde ein Produkt. Um deren das größtmögliche Quantum zu erzeugen, beschleunigte und vereinfachte man sie. Man erfand Maschi­nen, die die Menschenhand entbehrlich machten. Je mehr man erzeugen konnte, desto größer das Bedürfniß darnach, eine in der Geschichte der Industrie sehr merkwürdige Erfahrung. Weil der Bedarf stieg, so konnte man auch jene Arbeiter beschäftigen, die durch die Einführung der Ma­schinen brodlos geworden wären. Aber nicht alle Fortschritte, die in diesem Bereich der menschliche Geist machte, ließen eine so an­genehme und die Menschheit nicht gefährdende Ausgleichung zu. Der schöne Grundsatz von der Theilung der Arbeit hat den Industrialismus nur noch mehr potenzirt, wo, wenn Einer fällt, Alle fallen müssen. Früher machte Einer ein Ganzes, jetzt machen Hun­derte ein Ganzes, wenn auch fünfhundertmal schneller, als jener Eine; allein Jeder, nur mit einem Theile der Arbeit beschäftigt, kennt ihr Ganzes nicht. Eine ungünstige Conjunktur tritt ein, und die Folge ist, daß Tausende darben, wo sonst nur Zehn gedarbt hätten.

Die Existenz sichern unsre Zeitgenossen auf die verschiedensten Weisen. Hier sind bleiche Gesichter, die ein Aussehen wie vergiftet haben. Sie begraben sich schon in ihrer Jugend in die Ge­birge, wo sie die verheerendste Arbeit verrichten in den Quecksilbergruben. Ihr Auge ist matt, ihr Gang taumelnd. Sie kennen nur eine Lust, die Befriedigung ihres thierischen Triebes nach 195 Nahrung und Geschlechtssinnlichkeit. Das Gewinnen des Quecksilbers übt auf die Gesundheit den nach­theiligsten Einfluß. Man kennt Almaden, die berühmten Merkurialgruben Spaniens, man kennt es aus dem jetzigen spanischen Succes­sions­kriege und den kühnen Märschen des Carlistenchefs Gomez. Dort ist der Sitz des größten physischen Elends, das sich denken läßt. Selten, daß ein Mann sein natürliches Alter erreicht. Er stirbt immer frühzeitig. Peru hat berühmte Quecksilberwerke in Huanca-Velika. Die Arbeiter haben dort meist die fallende Sucht oder leiden an Zuckungen und Convulsionen. Und dennoch sind Menschen da, die dem unvermeidlichen Tode so in die Arme gehen, die ihr Geschäft mit derselben Resignation verrichten, wie Lord Stanley, wenn er im Unterhaus die Beine auf den Tisch legt und den Engländern Gesetze macht. Es fällt jenen Menschen nicht einmal ein, etwas Anderes zu seyn, weil sie etwas Anderes nicht ahnen können, und ihnen die Gewöhnung an die tägliche Fristung ihrer Existenz gar keinen Gedanken übrig läßt, als könnt’ es ihnen besser ergehen. Denn das ist der Fluch dieser unglücklichen Sphäre: man muß etwas können, wenn man leben will; Jeder hat sogar einen Stolz auf dieß traurige Können, wie sich z. B. Gürtler und ähnliche Arbeiter, die früh ihre Augen verlieren und pestartige Ausdünstungen einathmen müssen, gar nicht von ihrem Geschäft ab­brin­gen lassen, von einem Geschäft, das sie nicht haben, sondern das sie hat.

196 Andere Stände ernähren sich von den Proportionen zwischen der rohen Arbeit, die im Handel vorkommen, und vom Bank­wesen wieder, welches die Proportionen des Handels ausdrückt. Beamte schreiben den sauern Schweiß des Einen auf den sauern Schweiß des Andern über. Sie fassen die Menschen in run­den Summen zusammen, controliren ihr Gehen und Stehen, ihr Alter, ihre Kinder, ihr Vermögen, ihre Pflichten, ihre Tugenden und Verbrechen, ihr Sterben sogar und schreiben es Alles in kurzen Nennwerthen in rothliniirten Büchern an, und machen Latus und Transport für das nächste Folioblatt.

Andere endlich, die Chevaliers d’Industrie, leben von ganz idea­lischen Bedürfnissen, die sie erst in dem Augenblicke schaffen, wo sie sie schon, natürlich für Geld, zu befriedigen sich eilen. Der Savoyarde stürzt in Paris auf dich ein: Mein Herr, Ihre Stiefeln! Man hat kaum hingesehen, ob die Stiefeln, die man vor einer Minute, wo man eben aus seinem Hause trat, glänzend anzog, wirklich schon verunreinigt seyn sollten, und kann auch nun nicht mehr vergleichen; denn der Bursche verdeckt die Aussicht und putzt etwas, das spiegelblank war. Der echte Chevalier d’Industrie schafft sich selbst sein Gewerbe. Er geht in ein Spielhaus und wartet auf junge Neulinge. Sie kommen. Er sieht es an der Haltung und der ganzen naiven Neugierde und dem klopfenden Herzen. Er sieht es, daß sie das Spiel­haus für eine Satanshöhle halten und doch ihr Glück darin 197 versuchen wollen, wie sie die Mienen auf dem Antlitz der Crou­piers prüfen und, nach ihrem romantisch-dämonischen Ausdruck, wie sie an den grünen Tischen junge Verzweifelte erblicken wollen, die, wie in Romanen beschrieben wird, eben hin­ausgehen und sich eine Kugel vor den Kopf schießen werden; er sieht, wie sie selbst die Börse ziehen, und tritt heran: Mein Herr, jene Nummer! flüstert er ihm zu. Das Glück will ihm wohl. Sie gewinnt. Der junge Mann hat weise Lehren im Kopf. Er weiß, daß, wenn man 100 Guinéen gewonnen hat und man weiter spielt, man noch 100 dazu verlieren kann. Er will gehen. Der Chevalier unterstützt ihn darin, begleitet ihn an die Thür, sinkt plötzlich von seinem cordialen Ton in einen sehr demüthigen und seufzt: Monsieur, ayez la bonté..... un des braves des colonnes invincibles..... Er reißt den Brustlatz auf: er hat das Kreuz der Ehrenlegion. Das junge Glückskind gibt ihm von 100 Guinéen den Zehnten des Mitleids. Balzac hat diese Scene meisterhaft beschrieben.

So haben die Londoner Börse und der Journalismus einen Erwerbszweig veranlaßt, der an Unglaublichkeit grenzt. Mehrere fallirte Börsenspieler ernähren sich davon, den Journalen, die fortwährend im Druck sind, Mittheilungen über den Stand der Papiere zu machen. Nämlich ein Makler pflegt gewöhnlich drei, vier Abendzeitungen mit dem Coursberichte zu versehen. Um überall die Richtigkeit desselben zu vergleichen, muß er sich vervielfältigen. Kurz ein solcher Mann braucht 198 Helfershelfer, um in einem und demselben Momente an vier Orten zu seyn. Jetzt läuft er von der Börse spornstreichs in die entfernteste Druckerei, findet aber an drei Straßenecken schon seine Untercommis, denen er in Eile den Cours diktirt im Stehen vor aller Welt. Diese laufen dann in die drei andern Druckereien, geben die Zettel ab und machen die Revision des Druckes. Von solchen Geschäften existiren einige Menschen in London. Den Tag über gehen sie spazieren am Strand, im Regentpark, nur einige Stunden Nachmittags werfen ihnen einen kleinen Gewinnst ab.

Die ganze Legion der Commissionäre in Paris und London gehört in diese Kategorie eingebildeter Bedürfnisse. Besonders die in Paris, welche recht eigentlich ein Verderben für die Mensch­heit sind, da sie den luftigsten unbedeutendsten Planen Gehör geben und ihnen zur Ausführung mit allerdings bewundernswürdiger Volubilität behülflich sind. In Paris würde nicht alle Augen­blicke eine neue Luftschifffahrtsgesellschaft, eine neue literarische Unternehmung in Heften, Panthéon littéraire mit Riesenlettern!!, ein neues Journal etablirt seyn und freilich eben so schnell verschwinden, wenn es auf jenem unruhigen Pflaster nicht Menschen gäbe, die mit der Eilfertigkeit eines Sollizitanten durch die Straßen rennen, alle Portiers kennen, überall eingelassen werden, 100, 500, 1000 Abonnenten im Nu und verhältnißmäßig Aktionäre zusammentrommeln. Ich komme nach Paris, ich nehme mir vor, ein Journal herauszugeben: 199 Wischiwaschi, Journal quo­tidien, littéraire, politique, industriel. Ich spreche mit einem Freunde: er schickt mir einen Commissionär. Mein Herr, heißt es hier, erst einen glänzenden Prospektus! Mr. J. Janin muß ihn schreiben.

Ich habe kein Geld!

Das ist schlimm. Sie wollen erst Geld verdienen. Nun denn, versuchen wir’s selbst!

Er nimmt Feder, Dinte und Papier: erst der Titel. Der Titel ist gut! Lapidarschrift! Jetzt Fond de la Société: 600,000 Frks. Nun Artikel I. Emission des Actions: Jede Aktie zu 500 Frken: 1200 Aktienbetrag zahlbar in fünf Terminen: erste Einzahlung acht Tage nach der Subscription 100 Frks. Dazu ein Banquier genommen, der Namen hat: Mr. Rougemont, Mr. Fould. Advokat der Gesellschaft: Mr. de Haber. Jetzt, mein Herr, die Grundsätze: 1) Liberté civile, religieuse et commerciale pour tout le Monde. 2) Impartialité générale. In ähnlicher Weise entwickelt der gewandte Commissionär die Versprechungen des Wischiwaschi immer weiter. Ich, ganz erstarrt, frag’ ihn: Ja, mein Herr, wie dieß Alles nun realisiren! Er springt auf, sagt: haben Sie keine Sorge und eilt davon. Der Prospekt wird mitgenommen.

Ich höre acht Tage von dem Manne nichts mehr und gebe die Probe, den Pariser Leichtsinn zu erforschen, schon auf, da erhalt’ ich eines Abends ein Billet: Morgen früh, mein Herr, in der und der Straße das Nähere. Ich gehe hin und bin erstaunt über das, was 200 ich finde: 1) meinen Commissionär mit einer langen Liste von Kapitalisten, die auf das Journal Wischiwaschi bereits Aktien genommen haben; 2) einen zweiten Commissionär, der mir die Unterschriften von fünfzig Buchhändlern, Marchands de Mode, Aerzten, Sprachlehrern u. s. w. bringt, die sich entschließen werden, ihre Werke, ihre Modesachen, ihre Méthodes dépuratifs et végétales gegen Dartres und Maladies secrètes, endlich ihre Hamilton’schen Sprachkourse in meinem fertig etablirten Wischiwaschi anzeigen und sich die Kosten dafür berechnen zu lassen, 3) endlich ein ganzes Stück der lebenden französischen Literatur: einen Exoffizier der Munizipalgarde als Gérant responsable, der sich für das Journal in vorkommenden Fällen einstecken läßt oder duellirt, einen ehemaligen St. Simonisten, spätern Präsidenten einer Sektion der Menschenrechte und unter polizeilicher Aufsicht stehenden Aprilgefangenen, guten Stylisten sonst und Fechthahn mit der Feder, als Hauptredakteur, drei andre als Hülfsarbeiter, junge Studenten der Rechtsschule, die kein Geld haben, um zehen Jahre Advokat ohne Prozesse zu seyn, einen deutschen Flüchtling, der die Allgemeine Zeitung excerpirt, einen ditto polnischen, der mit einer gewissen Gewandtheit mörderische Lügen von sibirischem Kindermord und litthauischen Rekrutenaushebungen zu erfinden weiß, endlich einen Feuilletonisten, einen eiteln affektirten Geck, in welchem ich die Ehre habe Herrn Alphonse Karr kennen zu lernen. Das Journal ist fertig; 100,000 Franks sind baar 201 vorhanden, davon sind 100,000 Cautionnement, 10,000 für den Anfang, für ein großes Gründungsdiner, Annoncen, Ermunterung eines Druckers und Douceur des Commissionärs bestimmt. Die übrig gebliebenen Aktien gehören mir. Ich bin der überwiegende Eigenthümer des Wischiwaschi. Ein solches Glück, wenn es anders so zu nennen ist und man nicht zuletzt einen schmählichen Bankerutt machen muß, kann man in Paris täglich haben.

Wie ich hier ein Beispiel in Betreff der Literatur gegeben habe, so würde ein anderes aus dem Bereich der Industrie noch schlagender seyn. Denn in der Literatur hat sich der Schwin­delgeist schon erschöpft, allein auf die Industrie ist jetzt Alles gerichtet. Es ist lächerlich genug, daß sich die Schwindler hier einbilden, sie wären reell geworden, sie hätten sich auf Nützliches und Menschheitbeförderndes geworfen. Alle Welt glaubt das bis jetzt noch mit und träumt, wenn sie etwas Kapital hat, von Aktien und Dividenden. Allein bald wird man einsehen, daß hier dieselbe Windbeutelei herrscht, die die Journalistik vernichtet hat. Gesetzt, jener Commissionär, der mir den Wischwaschi geschaffen hat, hätte allmählich gefühlt, daß mit der Literatur nichts mehr zu verdienen ist, und hätte sich auf den Materialismus der Industrie geworfen, so würd’ es seine Pflicht seyn, statt der frühern lustigen und frivolen, jetzt eine sehr ernste und bürgerliche Miene anzunehmen. Es gilt jetzt den Interessen der Nationalwohlfahrt, dem Progrès social sans phrase, den Morastausschlemmungen an der 202 Loire, den Bergwerken im Jura, der Reinigung der Seine und der möglichst wohlriechenden Verbreitung der Gasbeleuchtung für das Universum. Er darf nur bei den Kapitalisten vorfahren. Die Zimmerthüren fliegen auf, er tritt herein zu dem podagristischen Rentenbesitzer, der die Reduktion der Dreiprozents fürchtet und nach einem höhern Zinsfuß schmachtet, er wirft nur eine einzige donnernde Phrase hin: Encouragement industriel, und der Kapitalist nimmt hundert Aktien für zehn, wenn nur Eisen, wenn nur Dampf bei der Sache vorkommt. Von dieser einzigen Phrase, angebracht zur rechten Zeit und an den rechten Mann, kann in Paris ein sonst gewandter Schlaukopf sein ganzes Leben fristen, denn er läuft niemals Risiko, er hat seine Prozente immer nur vom Wagniß, vor dem Scheitern. Eh’ das Schiff ausläuft, versichert er sich: Encouragement industriel! Société générale pour favoriser les enquêtes utiles! Association anonyme pour le mercantilisme! O Zeitgeist!

Dennoch müssen wir bei dem Associationsgeiste, der sich unsrer Zeit bemächtigt hat, Halt machen, weil er einen neuen Abschnitt unsres Gegenstandes bildet. Er ist nämlich, zurückgeführt auf einfache und solide Grundsätze, ein vorzügliches Hülfs­mittel geworden, um die Schwierigkeiten der modernen Existenz zu erleichtern. Es haben sich, um nur das Einfachste zu nehmen, in England namentlich Familien und Personen zusammen gethan und mit ihren verschiedenen, sonst sehr einfachen 203 Einkünften einen Gesammtfonds gebildet, der auf jeden Theil eine weit anständigere Existenz kommen läßt, als hätten sie Alles für sich allein bestritten, was sie brauchten. Vier Familien miethen ein Haus auf gemeinschaftliche Rechnung: einzeln hätte jede 100 Pfund zahlen müssen, alle vier brauchen sie nur 300 zu zahlen. Ebenso ist das Verhältniß in allen übrigen Bedürfnissen. Sie essen gemeinschaftlich aus einer Küche, die sie von einer Haushälterin verwalten lassen, ihre Vergnügungen sind gemeinschaftlich: kurz sie stellen, wenn jeder einzeln früher 500 Pfund zu ver­zehren hatte jährlich, jetzt eine allerdings sehr starke und um­fangreiche Familie vor, die aber doch auf eine Existenz von 2000 Pfund angewiesen ist. Gewonnen hat jeder der Theilhaber mehrere 100 Pfund; denn jeder kann leben, als hätte er 750 Pfund im Vermögen. Warum verbreiten sich diese Common-Houses nicht weiter? Warum ahmt sie der Continent nicht nach? Der Bettelstolz ist der am schwierigsten ausrottbare; denn bekömmt er, so steigt er ohnehin und wird sogar begründet, verliert er, so ist es seine Natur, desto pretentiöser zu werden, je weniger er hat. Niemand läßt sich, seitdem man das Geheimniß des Credites erfunden hat, gern in seine Karten sehen. Auch mangelt es zur Zeit noch an Frieden und Freundschaft genug unter den Menschen. Es würden immer nur er­probte Freunde oder Verwandte seyn können, die eine Verbindung dieser Art einzugehen sich entschließen und dazu passen könnten.

204 Die Verbindungen der Handwerker, um die Arbeitspreise auf der Höhe eines von ihnen selbst angesetzten Tarifs zu erhalten, haben mehr Verbreitung gefunden. Sie sind meist immer veranlaßt worden durch einige philanthropische oder auch demagogische Theoretiker, in England durch die Owensche Nützlichkeitsphilosophie, in Frankreich durch die Clubbs, die, von poli­tischen Ideen ausgehend, sich Material schaffen mußten im Volke, um sie durchzuführen. Vor zwei Jahren haben aber beide einen har­ten Stoß erlitten, der sie so ziemlich mit Vergessenheit bedeckte. Die Associationen der französischen Handwerker verbluteten sich in Lyon. Die Culmination der eng­lischen war die große Prozession in demselben Jahre, die vom Coppenhagenfeld zu Lord Melbourne wallfahrtete, um ihm eine Adresse an den König zur Abstellung oder Milderung einer allzuschweren Strafe einiger ihrer Brüder vorzulegen. Vielleicht löste die Scham diese Verbindung auf: denn beschämend war es, eine Anzahl von nahe an 100,000 zu bilden, und sich so gebückt, artig und hungrig durch die Straßen zu schleichen, wie es jene Arbeiter thaten. Die Vorstellung eines großen Handwerksbundes war drohender, als der Anblick. Statt Furcht fing man an Mitleiden mit diesen Armen zu empfinden. Als mehrere Sektionen von ihnen, die immer eine ganze Zunft vorstellten, sich weigerten, zu einem von den Meistern bestimmten Preise zu arbeiten, engagirten diese Frauenzimmer. Das Risiko war hier für die Gesellen so groß, wie die Schande. 205 Sie mußten eilen, um jeden Preis zu ihren Arbeiten zurückzukehren, weil sie sie sonst entweder besetzt gefunden oder die Anzüglichkeit hätten ertragen müssen, das zu leisten, was Frauenzimmer auch vermögen.

In Frankreich und Belgien sind jetzt die Associationen von den Gesellen auf die Meister und von diesen auf Kapitalisten übergegangen, welche sich vor dem schwankenden Cours der Staatspapiere fürchten. Soll man sagen, die Begünstigung der Gewerbe wäre nur ein Vorwand für den Spekulationsgeist, oder liegt eine rein populäre Idee den Vorschlägen zum Grunde, die man in dieser Rücksicht kürzlich gemacht und theils schon durchgeführt hat? Die Franzosen, immer erhitzt von Centralisations­ideen, haben die letzte Geldkrise benutzt, auch für die Industrie eine Einheit vorzuschlagen, von der man im Augenblicke nur so viel wahrnimmt, daß dabei Aktien emittirt und Dividenden ver­theilt werden sollen. Ein Herr von Girardin, derselbe, welcher, um ein eigenes Journal zu heben, den Redakteur eines andern todtschoß, hat sich in Paris zum Mittelpunkte dieser Ideen gemacht und Verbindungen entworfen, welche man gegenwärtig in Belgien bereits zu schließen anfängt. Herr von Girardin sagt ungefähr Folgendes, indem er dabei von der neuesten Finanzkrise, von diesen bleichen Gesichtern ausgeht, welche die fünfprozentigen Piasterschwindler zeigen, von den zerstreuten und stieräugigen Antworten, die man in diesem Augenblicke von den Kapita­listen nur noch herausbekommen kann. Herr von 206 Girardin will in seinem Vierzigfrankenblatte: Die Presse das Uebel hei­len. Eine gute Absicht. Möge sie sich im Zusammenhange aussprechen! Da sey Gott für, Jemanden zu hindern, der sich ein­bildet, Gutes wirken zu können.

Finanzielle Zerrüttungen, sagt Herr von Girardin, ziehen so viele Uebel nach sich, daß man sie nicht nahe genug betrachten kann. Der Unglücksstern, welcher bei diesem Phänomen zu wal­ten pflegt, drückt von Tag zu Tag mehr auf die Industrie und den Handel von Europa. Wir glauben zwar nicht, daß uns schon wieder eine neue Krisis bevorsteht. Wenn auch einzelne Erwerbs­zweige sehr in die Enge getrieben sind, und auch mehre Fallis­sements aufs Neue sich ankündigen sollten, so gibt es doch nichts Allgemeines, was den Handel in Unruhe versetzen könnte. Wenn wir deßhalb doch auf die Frage zurückkommen, so geschieht es, um die Mittel zu entdecken, für die Zukunft sich sicher zu stellen, und besonders deßhalb, weil die öffentlichen Blätter, welche die gegenwärtige Frage behandelten, doch nur die Auswüchse des Stammes betrachteten, welcher kürzlich so bittre Früchte getragen hat. Sie hätten, um wahr zu seyn und auf den Grund des Uebels zu kommen, vor der Gesellschaft selbst ihre Sitten, ihre Vorurtheile und ihre materielle Existenz anklagen sollen. Die Verallgemeinerung des laisser faire, die Erleichterung der allgemeinen Conkurrenz, der wenig vorwärts gerückte Zustand unserer Binnenbeziehungen, die zufällige und auf 207 den Versuch gewagte Produktion, das allgemeine Verlangen nach Wohlhabenheit, und im Gefolge desselben der Beginn unsinniger Entreprisen und die verschwenderische Emission von eingebildeten Werthbestimmungen, die nichts repräsentiren – braucht man mehr, um Krisen hervorzubringen und sie dauernd zu machen? –

Und wenn man ferner noch hinzunimmt die revolutionären Regungen der Völker, welche fast immer unvorsichtig und vor der Reife der Freiheit sich bemächtigen wollen, die unzeitigen Wünsche der Einen und den hartnäckigen Widerstand der Andern – braucht man mehr, um die allgemeinen Krisen zu unterstützen?

Wenn Alles in Frage gestellt ist, fährt Herr von Girardin fort, wenn man auf der einen Seite das Volk mit Radikalismus und Epikuräismus äzt, und man es antreibt, Alles unter dem Vorwande eines bessern Aufbaues niederzureißen; wenn man auf der andern Seite nur Gefühle für sich und seine Kinder hat und sich systematisch abstumpft; wenn endlich überall Jeder nur darauf ausgeht, sich mit Beobachtung des Criminalcodex Vermögen zu erwerben: kann man erstaunen, daß das Meer fortwährend bewegt, und der geringste Sturm die Ursache einer Menge industrieller Schiffbrüche ist?

Man hat, um die letzte Londoner Krise zu erklären, theils darauf hingewiesen, wie Amerika aus jener Welthauptstadt neuerdings viel Gold und Silber ausgeführt, theils, wie die englischen Spekulanten die Bankgesellschaften 208 mißbraucht haben, theils, wie das Mißverhältniß des Papiers zum Gelde außerordentlich war; theils endlich, mit welcher Geschicklichkeit sich die Londoner Börse benommen, und mit welchem Takt sie ihren Vortheil gewahrt hat. Auf einen Punkt kam Jeder hinaus, daß man nämlich über die Krisis nur deßhalb sprach, weil sie da war, wie man eine Krankheit erwartet, ohne sich um das Heilmittel zu bekümmern. Weil z. B. in Frankreich die Krisis keine bedeutende Wirkungen hinterließ, und Handel und Industrie im Allgemeinen ihren gewöhnlichen Gang fortgingen; daraus haben die öffentlichen Organe nur blos auf die Gegenwart geschlossen und haben die Gründe dafür in äußern Ursachen ge­sucht, in der allgemeinen Politik, ja sogar einzig und allein in dem Ministerium.

Ein Theil dieses Schlusses ist richtig. Eine Krisis scheint nicht nahe zu seyn, was die Industrie betrifft, allein dafür braucht es keine eigenen Gründe zu geben; die schon bekannten erklären die Sache hinlänglich, auch sind es weniger politische als industrielle. Es ist bekannt genug, daß die Schulden der europäischen Staaten furchtbar groß sind, daß Industrie und Handel sich in einer Lage befinden, die Krise unterstützen zu müssen. Es ist bekannt genug, daß nur 4 Milliarden baares Geld in Europa die Circulation eines Papierhandels aufrecht halten müssen, der in etwa 30 - 40 Milliarden Staatsschuld und mehr als 20 Bankbillets, Eisenbahn-209aktien u. s. w. besteht. Dieß ist heute so wie gestern. Aber es ist gefährlich in jedem Falle.

Was kostet heute der Industrie das magische Wort Kredit? Unter welchen Bedingungen hat man, unter welchen verliert man ihn? Hier liegt das eigentliche Uebel der commerziellen Maschine. Von hier aus kömmt das meiste Unheil.

Der Kredit für den Handwerker besteht darin, daß er die Instrumente seiner Arbeit, den Boden, die Kapitalien von denen erhält, welche sie feilbieten für einen Zins, für eine Dividende. Soll der Kredit etwas taugen, so muß er eine gewisse Dauer haben. Man kann ihn heute nicht geben und morgen wieder nehmen; ist das letztere der Fall, so ist er ein successiver Mißkredit. Er gibt der Industrie eine verderbliche Sicherheit, weil er ihre Berechnungen und Operationen auf Quellen basirt, welche der Einfall des Gläubigers sogleich kann versiegen lassen.

Ganz ebenso ist es mit dem, was die Kapitalisten den Kredit nennen. Der höchste Ausdruck des Kredits bei Handelnden und Arbeitern ist ein Wechsel auf drei Monate de Dato; es könnte scheinen, als wäre dieß das außerordentlichste Vertrauen und eine Kombination, die nichts mehr zu wünschen übrig läßt; aber in Wahrheit, diese Uebereinkunft, welche der Industrie zu Hülfe kommen soll, verursacht ihr eine Menge von Verlegenheiten und Benachtheiligungen. Die Dinge stehen heute so, daß kein Hand­werker und Fabrikant mehr auf seine Berech-210nung etwas geben kann, und dennoch muß er es thun. Auf seine Berechnungen hin stellt er Wechsel aus. Er berechnet einen Gewinn für diese Zeit, einen andern für jene; er verspricht neue Zahlungen auf drei Monate. Nun kommt aber ein Fallissement, ein Aufstand, eine Wolke, die nur blos den politischen Horizont bedeckt, ein zufälliger Nachlaß des Absatzes und Verbrauches. Wenn in diesem Falle der Handwerker oder Fabrikant temporisiren könnte, wenn sein Reservekapital oder sein gestriger Kredit ihm noch übrig bliebe, um schwierigen Vorfällen eine ent­schlossene Miene zu zeigen, wenn mit einem Wort die Kapi­talisten, welche oft gar keinen ernsten Grund haben, an der Güte seiner Berechnungen zu zweifeln, und bis dahin noch immer auf seine Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit vertraut hatten, ihm dieses Vertrauen auch nur noch einige Tage bewahren wollten, so würde er ruhig seinen Gang weiter gehen können. Aber weit davon entfernt, nehmen alle Einbildungen einen Schwung an, alle Interessen kommen außer Achtung, ein großer Theil der Kapitalisten kömmt und verlangt sein Geld wieder, ein anderer ver­schließt seine Kassen und verweigert die gewöhnlichsten Gefälligkeiten. Nun verbreitet sich in alle Werkstätten und auf alle kleine Handelsplätze eine schreckliche Verwirrung, eine traurige Verschwendung von Zeit und Kraft; denn wenn ein Kapi­talist nur einem bedrängten Fabrikanten seinen Kredit entzieht, so verhängt er Unglück über eine Menge Andere; ja sogar über sol­che, die nicht einmal in dessen Branche arbeiten.

211 Sehr oft ist der Industrie- oder Handeltreibende in folgendem Falle: Er hat 50 oder 60,000 Franken, die ihm eigen sind, die die Grundlage seines Geschäftes bilden, er operirt aber mit Wechseln so, als wenn er 100 - 200,000 besäße! Die Fiction ist das Uebel. Ein Wechsel auf sich selbst ist heutiges Tags nur ein sehr schlechtes Hülfsmittel. Es ist ein Uebel für den, der den Wechsel ausstellt, wie für den Kapitalisten. Der Bankier operirt für jenen, er hält ihn für äußerst solid, für um so solider, je höher die zu es­comptirenden Summen steigen. Grade das Gegentheil sollte er an­nehmen.

Leider ist dieß der Fall der meisten industriellen Geschäftsleute in Frankreich. Heute haben wir Kredit im Ueberfluß. Morgen macht ein kleiner Umstand, daß ihr hin seyd! Ein Haus darf nur 50,000 Franks verlieren, der Kredit wird ihm entzogen, und 200,000 folgen dem kleinen Verlust. Es ist eine Preisaufgabe, hier einen Weg zur Reform zu entdecken.

Es handelt sich nicht allein darum, das Mißgeschick seltener zu machen, sondern es auch, wenn es unvermeidlich ist, auf eine möglichst große Anzahl von Interessen zu verbreiten. Wir gehen hier nämlich davon aus, daß man einmal den Weg der Aktien auch für die Industrie und den Handel versuchen möge. Dann würden die Gewerbe nicht sogleich ohne Hülfe durch einen Bankerutt geopfert werden; sie würden nur den Verlust als die ersten Aktionäre einer Entreprise erleiden.

Wie die Geschäftsführer einer solchen Aktienverbindung 212 in Zukunft blos allein die Richter der Gefahr seyn würden, so würde auch der große, blinde Zufluß von Individuen, die für commerzielle Spekulationen gar keinen Sinn haben, der Vorsicht einer geringen Anzahl von kenntnißreichen Männern Platz machen. Der jetzt so komplicirte und verworrene Mechanismus würde zum großen Vortheil Aller vereinfacht werden. Man würde nicht bei jeder Gelegenheit ein allgemeines „Rette sich wer kann“ unter der ganzen Schaar der Produzenten und Handeltreibenden vernehmen. Was können hier noch Aufstände und politische Verwirrungen ausrichten, wenn das Interesse des Einzelnen das Interesse der Gesammtheit ist, wenn, mit einem Worte, die kleine vereinzelte Industrie unsrer Tage durch großartige Aktienunternehmungen, welche oft einen ganzen Handelszweig an sich reißen müßten, ersetzt wird.

Es scheint dieß der einzige Weg Hrn. von G., der die Gewerbs- und Handelsthätigkeit unserer Zeit in einen neuen Schwung bringen könnte. Aktiengesellschaften haben die Bestimmung, in kurzer Zeit, wenn sie von den Kapitalisten richtig verstanden werden, die ganze Physiognomie und die Gewohnheiten der Industrie und des Handels zu verändern, weit mehr als die Discontobanken oder jedes andere von den Oekonomisten vorgeschlagene Banksystem. Sie müssen sich aber dann nicht mehr auf die Unternehmungen der höheren Industrie beschränken, auf Eisenbahnen und Kanäle; sondern die Industrie des zweiten Rangs, die jetzt so sehr zerstückelt 213 ist, soll zu den Vor­theilen derselben gleichmäßig berufen seyn. So würde man erst industrielle Mittelpunkte besitzen, welche eine nothwendige Funk­tion in dem allgemeinen Mechanismus der Erzeugung und Ver­theilung der Reichthümer ausfüllen. So würde es erst eine Gele­genheit geben, neue Verfahrungsweisen auf die Industrie im Gro­ßen anzuwenden. Ja sogar der Ackerbau kann durch dieses System einen neuen Anstoß erhalten, wie wir denn schon mehrere glückliche Beispiele haben, daß ausgedehnte Besitzungen in Frankreich durch Aktionäre verwaltet werden. Man erschrecke nicht, wenn wir hier den Buchhandel als Beweis anführen, einen Erwerbszweig, dem der übrige Handelsstand nicht das größte Vertrauen zu schenken pflegt; und doch haben schon die ersten Buchdrucker von Paris das Aktiensystem sich angeeignet; mehrere Buchdruckereien haben sich in eine einzelne verwandelt, verringern dadurch die Conkurrenz und erhöhen ihren eigenen Ertrag. Wie geht es jetzt in der industriellen und Handelswelt zu? Die Conkurrenz macht, daß sich alle Interessen entgegengesetzt sind; sie stellt die Industrie unter verachtete Bedingungen und überhäuft sie mit schlechten Projekten. Finanzkrisen werden aufhören, wenn die Interessen näher zusammentreten und sich wech­selweise unterstützen.

Wir wissen wohl, daß sich, um eine solche Umänderung mit Regelmäßigkeit und Nutzen zu machen, eine einige Absicht an die Spitze stellen muß; doch braucht dieß nicht die Regierung zu seyn, wenn sie sich nur 214 beschränkt, diesem Zwecke kein Hin­derniß in den Weg zu legen.

So weit die Ansicht des Herrn von Girardin. Man beurtheile seine Vorschläge, wie man will, man wird nicht verkennen, daß das Beste daran von den Prinzipien des St. Simonismus entlehnt ist, und daß das Originelle und Eigene nur die Zuthat des vaguen Schwindelgeistes aus der Schule des französisch-belgischen Industrialismus ist.

Hier verdient die Lehre St. Simons, so weit sie politisch-industriell war, eine ausführlichere Erwähnung; denn selbst auf die Gefahr, mich vom Pfarrer zu St. Andrews, zu dessen Kirchspiel ich gehöre, excommunizirt zu sehen, wag’ ich es, dieser Lehre trotz ihrer großen Unvollkommenheit eine große Wichtigkeit, was die neuere Geschichte betrifft, beizulegen. Das Lächerliche und Unverschämte des St. Simonismus kommt zum großen Theile auf die Rechnung Enfantins, dieses verschmitzten Cagliostros, der nur durch Zufall nicht die Wahl gehabt zu haben scheint, ob er lieber als katholischer oder als ketzerischer Heiliger selig gesprochen werden wollte. Enfantin hat durch seine Thorheit und Uebereilung das ganze Gebäude der Lehre St. Simons untergraben. Dieser Narr wollte Papst seyn, ehe noch eine Kirche da war. Er allein erfand die Abgeschmacktheit der St. Simonistischen Tracht, er erfand das Dogma vom freien Weibe, von der Inter­vention des Priesterthums bei der Ehe, die Lehre von der Wie­dereinsetzung des Fleisches, 215 Behauptungen, die weder von St. Simon aufgestellt waren, noch von allen Genossen Enfantins gebilligt wurden, und die mit dazu beitrugen, die ganze neue Religion jener Sekte in einen Straßenspektakel und einen kläglichen Conkursprozeß zu verwandeln. Das Richtige und Tüch­tige am St. Simonismus hat nicht nöthig, an die Landenge von Suez zu flüchten, sondern ist in Europa geblieben und wird wirken, wenn auch unter gänzlich veränderten und den bedenklichen Ur­sprung unkenntlich machenden Gestalten. Brauchen wir hier mehr, als an die gediegenen Leistungen ehemaliger St. Simonisten, Lerminiers und besonders Michel Chevaliers, zu erinnern?

Theologen und Haarspalter von Oxford und Rom, irdische Pfründeninhaber und Wegweiser zum Himmel, wollt ihr leugnen, daß in der Feindschaft, die der St. Simonismus euch schwur, doch ein großer Theil der Freundschaft lag, die zu befördern ihr berufen zu seyn vorgebt, der Freundschaft für höhere und geistliche Dinge? Ich bezweifle nicht, was Gott wohlgefälliger ist, die Satzungen einer positiven Religion hinnehmen als tägliches Brod, als eingelernten Morgen- und Abendsegen, als Gemeinplatz, auf den man immer mit etwas herabgelassenen Augenliedern zurückkömmt, und der in so viel mit Goldschnitt gebundenen Phrasen sich ausdrücken, begreiflich machen und äußerlich erwerben lassen kann; oder jener Muth, sich verfolgen und verspotten zu lassen, das Positive umzustoßen und zu versuchen, etwas Neues, 216 aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Interessen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.

217 Ich werde mich niemals der Vermuthung aussetzen, als wär’ ich ein geweihter Anhänger der Väter von Menilmontant, einer Religion, die vielleicht in diesem Augenblick noch aus fünf oder sechs Bekennern besteht; allein ich glaube, der St. Simonismus hat eine Aufgabe, freilich nicht gelöst, aber konstatirt, die näm­­lich, den arbeitenden Klassen eine geistigere und moralischere Stellung zu geben. Der St. Simonismus hat sogar das Mittel rich­tig angegeben, welches hier einzig und allein helfen könnte: Befreiung der untern Volksklassen von der Noth um ihre Existenz. Um diese Befreiung zu bewirken, kam er auf die agrarischen Ideen des Alterthums zurück, auf die sogar apostolische Gemeinschaft der Güter, kurz auf vortreffliche Vorschläge, wenn es sich darum gehandelt hätte, ganz Europa in kleine Gemeinwesen aufzulösen und vom Grund friedlich gesicherter idyllischer Duodezterritorien aus das neue Evangelium praktisch zu verbreiten. Die Spartanische Verfassung war einst auf den reinsten St. Simonismus gebaut. Der platonischen Republik lagen ähnliche Annahmen unter. Die öffentlichen Mahlzeiten, die große allgemeine Suppenterrine der Nation, aus welcher jedes Individuum seinen Teller voll bekam, ja sogar die den antiken Völkern nicht ekelhafte Gemeinschaft der Weiber, das Alles ist von Lykurg und Plato eben so konsequent entwickelt und auf ein kleines Terrain so glücklich angewandt, wie St. Simon sein Gebäude nur immer aufstellen, und Enfantin nur immer corrumpiren konnte. 218 Warum versuchten diese Begründer einer neuen Sozietätsphilosophie nicht mit einem kleinen Schweizerkanton oder der Republik von San Marino ihre Reformation zu beginnen? Leider wa­ren sie vom Geist der Hierarchie beseelt. Sie wollten herrschen, noch ehe sie ein Volk hatten.

Das erste Prinzip dieser neuen gescheiterten industriellen Religion war die individuelle Freiheit. Der Mensch ist eine Person, keine Sache. Diese Umwandlung des Menschen in sächlichen Werth zieht sich durch die ganze Geschichte von der ersten Tyrannei des Jägers über den Ackerbauer an bis zu unsern großen Landesherren, die eben auch nur fuchsjagende Personen sind, während die Pächter und Arbeiter ihnen als Sache dienen müssen. Die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die Lohnarbeit, das sind die drei Stufen, welche die individuelle Freiheit allmählich erklettert hat und die doch nur zu einer gewissen glätteren Aussenseite der Menschennutzung, aber noch nicht zur Aufhebung des sklavischen Prinzipes derselben geführt haben. Der St. Simonismus will den Lohn nicht aufheben, noch weniger die Arbeit, die ihres Lohnes werth, sondern die Methode der Bezahlung soll nur eine andere werden. Nicht das eine Individuum bezahlt das andere, sondern die Gesammtheit ist dem Einzelnen verpflichtet. Was ich arbeite, arbeit’ ich nicht dir, Herzog von Wellington, nicht dir, Master und Meister Schurzfell, ich, der Pächter Kornwurm, ich, der Geselle Knieriem, sondern ich arbeit’ es mir selbst, 219 meinem moralischen Menschen, meiner sozialen Stellung, meinen Ansprüchen auf die große universelle Bundeskasse, auf welche ich meine Wechsel ausstelle. Diese Stiefeln bezahlen Sie nicht mir! ich mag kein Geld, das in Ihrer Tasche warm geworden ist, woran der Rost Ihrer Herrschsucht das Bild des Gepräges schon angenagt hat, zahlen Sie’s nur in die Bundeskasse, dort hab’ ich mein Soll und Haben, dort erhält ein Jeder nach seinen Fähigkeiten und jede Fähigkeit nach ihren Werken!

Dieser letzte Satz ist das Fundament des St. Simonismus und zu gleicher Zeit der revolutionäre Keim, der in der neuen Lehre lag. Denn er zerstört den Begriff des Privateigenthums. Niemand hat noch das Recht zu sagen: Ich besitze! Das Besitzthum schuf die Tyrannei, die Menschennutzung, und die Ungleichheit der Existenzmittel. Es darf künftig weder etwas erworben, noch etwas vererbt werden. Ein Jeder hat das, was er braucht, und vielleicht noch etwas mehr, wenn die ungeheueren hie und da aufgehäuften Schätze zerschlagen sind, und Jeder ein Stück davon erhält. Der Superdividend der menschlichen Gesellschaft wird dazu gebraucht, sich zu erheitern und durch Musik, Tanz und Anschauung schöner Formen die Menschen auf eine immer idealischere Höhe zu bringen. Durch die Geburt bekömmt jedes Kind nur das Recht, bis zu einem gewissen Alter von der Gesammtheit ernährt zu werden. Ererbte Güter empfängt es nicht. Die Stellung des 220 Vaters ist für das Kind verloren. Das Kind muß suchen, es so weit zu bringen, wie es der Vater gebracht hat. Erbrecht ist die Grundlage alles Nationalunglücks. Ein Jeder erhält nach seinen Fähigkeiten und jede Fähigkeit nach ihren Werken.

Bis hieher hat die Theorie der St. Simonisten eine Färbung, die allerdings fantastisch, aber durchaus nicht unreell ist. Erst mit dem Bau verschiedener Erwerbsklassen, mit der großen Bevorzugung der Priester, welche zugleich die Civilbeamten der neuern bürgerlichen Gesellschaft sind, beginnt ein Nebulismus, hinter welchen sich der Eigennutz zu verstecken wußte. Denn während die Gelehrten und Künstler grade nicht vorzugsweise bedacht sind, erhalten doch die Priester eine so große Autorität, daß schon ihr Wille für Gesetz gelten soll. Es sind dieß wirklich St. Simonistische Beichtväter, die den ganzen Tag müßig gehen, predigen und lehren und die Harmonie des Ganzen aufrecht halten sollen. Die Priester sind ebensowohl mit der Erziehung der Kinder, als mit der Gesetzgebung für die Männer beauftragt. Wollen dieß aber dieselben Personen seyn, so möchten die idyllisch-naiven Sitten eines St. Simonistischen Gemeinwesens einen so beträchtlichen Rückschritt in der Cultur der Geschichte bezeichnen, daß man Bedenken tragen müßte, sich diesen gesetzgebenden Ammen und Kinderwärtern anzuvertrauen. Denn wer die Natur der Kinder ver­steht, pflegt selten richtig zu greifen, wenn er Männer belehren will.

221 Um es von vorn herein abzumachen, der St. Simonismus bleibt durch seine bis an die Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit und durch den in ihm athmenden katholisch hierarchischen Geist immer verdächtig. Er ist mir vollends verdächtig durch seinen letztlichen Entschluß, nach dem Orient auszuwandern. Wär’ er nach Nordamerika gegangen, wohin sich Alles begibt, was tief ergriffen ist von der Liebe zu seiner Ueberzeugung, von dem Streben, mit ihr zu leben und zu sterben, wo man, um existiren zu können, Hand anlegen muß, thätig seyn, graben, dämmen, bauen, handeln, hobeln, zimmern, sägen – dann würde der St. Simonismus gezeigt haben, daß es ihm ernst ist um seine Theorie. So aber, nach dem trägen und sinnlichen Orient auswandernd, hat er gezeigt, daß nur schlaffe, blasirte Empfindungen ihm seine gesellschaftliche Theorie eingegeben haben, und daß er, gerade wie der Jesuitismus, das Produkt einer entzündlichen, fast wollüstigen, jedenfalls faulen Phantasie ist. Hierüber herrscht kein Zweifel mehr. Am wenigsten soll er von mir angeregt werden, der meines Wissens dem St. Simonismus den eben erwähnten Vorwurf zum Erstenmale macht.

Allein weit weniger beunruhigt mich etwas Anderes, was man gewöhnlich Projekten dieser Art vorwirft. Man fürchtet die Verwandlung der Menschen in Maschinen, man fürchtet den Untergang der Wissenschaft, der Kunst und des Gefühls. Die gewöhn­li­chen Einwendungen 222 gegen den St. Simonismus, gesteh’ ich, lassen mich kalt, weil sie immer darauf hinaus kommen, die Gelehrten würden nicht mehr geachtet werden, und weil es doch nur die Gelehrten selbst sind, welche diese egoistischen Besorgnisse aussprechen. Allein nicht nur ist im St. Simonismus hinlänglich für die Identifizirung der Wissenschaft mit den Gelehrten, der Humanität mit den Künstlern, der Religion mit den Priestern gesorgt; sondern es frägt sich noch, ob man z. B. die Poesie der Geschichte nicht zu theuer erkauft, wenn man darum der physischen Existenz der Menschheit nicht aufhilft, weil man freilich für das Auge weit angenehmere bunte Abwechslungen hat, wo der Stärkere mit dem Schwächeren im Kriege liegt, und Recht und Unrecht große heroische Schauspiele unter einander aufführen! Würde uns der St. Simonistische Staat so fein individualisirte und originelle Charaktere bringen, wie Chatham war, wie Fox, wie Canning? Vielleicht nicht; aber wenn man nun das Wohl von tausend Michel Meerrettigen dadurch erkaufen könnte, daß man sagen muß: Fox hat nie gelebt!? Was würden Sie vorziehen: d’Israeli, Chelmar, Chateaubriand, Lamartine, Tiek? Würden Sie nicht alle menschlich genug empfinden, zu sagen: Besser, es war nie ein Shakespeare da, als daß seinetwegen die Harmonie der behaglichen Existenz in der Welt gehindert wäre, besser, wir alle sind unbekannt und müssen hinterm Pfluge gehen, als daß unsertwegen 223 eine Aristokratie der Geister etablirt werde, die auf hundert Menschen immer neunzig Darbende brächte *).

Was thu’ ich? Diese Fragen sind die müßigsten von der Welt. Die Umstände, nicht Personen könnten sie allenfalls entscheiden. Welche Thorheit, Fragen aufzuwerfen, die nicht anders klingen, als wenn man Jemanden früge: Würden Sie wohl von einem Thurme herabspringen, wenn das Leben Ihrer Schwester davon abhinge! Und doch liegt vielleicht ein Sinn hinter der Frage – mag ihn die Zukunft auffinden. Ich fühle nur zu gut, daß aus Theorien nichts Ewiges geboren wird, und daß in der Geschichte keine Theorie wahr ist, wenn sie nicht sogleich Eile hat, daß sie von der Praxis nicht überholt werde. Auch Fourier’s Phalanstère, große Ge­meindehäuser, wo jeder zur Philosophie der Attraction passionée sich Bekennende finden solle Wohnung und Erholung, Rath, Unterhalt und Opern, auch diese Musterkolonien einer nach unsrem Owen zugeschnittenen Volksbeglückung haben sich nicht erhalten können. Doch auch in ihnen liegt die Andeutung eines Bedürfnisses, und an alle Gesetzgeber und Staatsmänner die Mah­nung, ernstlich über eine Abhülfe desselben nachzudenken.

224 Im Allgemeinen ist die Natur die große Macht, die hier allein wirken und ordnen kann. Aber die Natur ist grausam, sie baut nur nach Zerstörungen auf; wo sie Gleichgewicht schafft, thut sie es mit geringer Rücksicht auf den Ballast, den sie aus dem Schiffe wirft, um es oben zu erhalten. Wer ihren Riesenschritten im Wege steht, wird zertreten; wer ihr in die Arme fällt, den erdrückt sie oder schleudert ihn weit hinter sich zurück. So wird es auch in allen Verhältnissen gehen, welche die Schwierigkeit der menschlichen Existenz, die Uebervölkerung und Ueberfüllung aller Geschäftsbranchen vermehren. Was in der Natur liegt, was der gesunde, kalte, nüchterne Verstand dieser halb göttlichen, halb dämonischen Gewalt ist, was bei ihr so zu sagen auf der Hand liegt, das setzt sie durch, ohne Verantwortung; denn die Menschen hält sie für ihr eigenes Produkt und schaltet und waltet nach Belieben mit Seelen, zu denen sie wenigstens die fleischlichen Hüllen lieferte. Die Perruquiers würden, wenn es nach der Natur gegangen wäre, alle verhungert seyn. Alle die Handarbeiten, welche durch die neuen Erfindungen von Maschinen ersetzt werden, alle Stuhl­arbeiter, Mousselinweber und Garnspinner tritt die Natur nieder. Ja, wenn es nicht noch einige Bücher gäbe, die man sauber gedruckt zu haben wünscht, so würden auch die Drucker, abgelöst von den Schnellpressen, darben, betteln, verderben können.

Hier soll nun das menschliche Herz, die Staatskunst 225 und die gesellschaftliche Philosophie der Natur in den Weg treten und sie bekämpfen. Allein dieß muß dabei immer der erste Satz seyn: Wollet das, was die Natur will, aber wollet es nur auf andere Wei­se, als die Natur! Das Einfache und Natürliche wird immer den Sieg haben, nur muß es dabei Waffen führen, die unser Gefühl, unsre Besorgniß ihm in die Hand geben. Laßt diese oder jene Thä­tigkeitszweige aussterben, aber sorgt für die, welche darauf sitzen und durch einen euerer allzuschnellen Handgriffe unten würden zerschmettert liegen. Gebt keine Einfuhrsteuer eher frei, ehe nicht an die gedacht ist, welche durch übertriebnen Liberalismus an der Grenze im Innern die größten Sklaven werden, die es gibt, die Sklaven der Armuth! Der Staat hat die Verpflichtung, nicht blos, wie es in England geschieht, die Armuth ausschließlich zu ernähren, sondern sie zu beschäftigen und das Armwerden, wenn es nicht durch physische und moralische Umstände bedingt ist, politisch wenigstens ganz unmöglich zu machen. Oeffentliche Bau­ten und Communalzwecke, selbst wenn es nur erfundene Zwecke sind, haben immer dazu gedient, die Armuth zu hintertreiben. Ich verachte diese rauhe Philosophie, die sich seit einiger Zeit unsrer Staatsmänner und unsres ganzen Egoismus bemächtigt hat, daß Jeder selbst sehen möge, wie er fortkomme! Wer kann sagen, daß er etwas ist, ohne es durch Andere geworden zu seyn? Selbst denen, welche unter mir stehen, hab’ ich zarte und geheimnißvolle Verpflichtungen. Alle die, 226 welche nicht streben, wonach ich, dienen mir. Ich muß dankbar seyn denen, welche mir Gelegenheit geben, mich vor ihnen auszuzeichnen, die nicht meine Bildung, nicht meine Anschauungen, nicht meinen Styl besitzen, die aber meine Folie sind, der Gegenstand meiner Be­trachtungen, die freiwillig mit Bescheidenheit und Entsagung sich darbietende Aufgabe meiner Studien. Gräßlich ist diese Grau­sam­keit, welche ringt und ringt und die Vereinfachung der mensch­lichen Thätigkeit, um Hundert in sich allein zu konzentriren und auch für Einen den Gewinn von Hunderten zu haben, auf die höchste Spitze treibt, und die vollends ein Verbrechen wird, wenn sich Staatsmänner von ihr beherrschen lassen und unter dem Vorwande, die Regierungskunst im großen Style zu treiben, an dem Körper der Gesellschaft Amputationen und tödtliche chirurgische Schnitte vornehmen. Die Zünfte sollen aufgehoben, es soll aber eine Gren­ze auch der Gewerbefreiheit gezogen werden. Man soll die Maschi­nen einführen, soll aber erst daran denken, den dadurch brod­los werdenden Handwerkern andere Nahrungszweige zuzuwen­den. Denn nichts ist so betrübt und rührend, als einen rüstigen, frommen und in seiner Art gewandten Arbeiter zu sehen, der thätig seyn will und es nicht kann, der, indem man ihm seine Nahrung nimmt, auch um seinen Stolz und seinen innern moralischen Haltpunkt gebracht ist; nichts ist auf der andern Seite so thöricht, als durch die Armengesetze diejenigen Menschen müßig gehen zu lassen, welche man durch 227 Industriegesetze zu ihrem eignen und dem allgemeinen Besten beschäftigen könnte.

Jeder Staatsmann und Gesetzgeber soll sich über das Arbeitsquantum der Nation, für deren Wohl er zu sorgen hat, einen sichern Ansatz machen. Er soll berechnen: 1) Soviel sind zu ernäh­ren, 2) Soviel haben, 3) Soviel müssen verdienen. Er muß von seinen Ansätzen, wenn er sie im Durchschnitt macht, den Reichthum abziehen; denn der ist todt und würde, wenn er coulant werden sollte, doch auch nur todte Verschwendung werden müssen. Er muß ferner abziehen den Müßiggang privilegirter Aristokratien, die davon leben, daß sie so oder so heißen, daß sie dieß oder jenes vorstellen; er muß sich eine klare Vorstellung machen sowohl über das, was gebraucht wird, als über das, was vorhanden ist. Der Staatsmann muß einsehen, daß alle diese Berechnungen nicht Stich halten, wenn nicht ein Reservefond von Arbeiten, die noch nicht begonnen, von gleichsam Kapitalien, die noch nicht angegriffen sind, vorhanden ist. Diesem Reservefond, einem unbebauten und zum Theil noch unentdeckten Lande, widme er eine spezielle Aufsicht, engagire Künstler, Gelehrte und praktische Geschäftsmänner, um zu forschen, wie und wo noch neue unbekannte Gold­adern nationeller Thätigkeit zu entdecken sind. Bricht nun der Aufklärung und dem Zeitgeist zu Gefallen hier oder da eine Arbeitsbranche ab, so möge eine der reformirten Minen angelassen und den Betheiligten zur Bearbeitung angewiesen werden. Und wieviel Möglichkeiten gibt es 228 noch in dem, was die Mensch­heit sich aneignen kann, was noch unbekannt ist und solche Früchte tragen dürfte, deren einmaliger Genuß ihnen bald ein dauerndes Publikum schaffen würde! Es kömmt nur dar­auf an, hier dem Schwindelgeist und der Projektmacherei, überhaupt der individuellen Glücksritterschaft und industriellen Aben­teuerlust den Weg zu versperren, und alle die noch möglichen Sup­ple­mente für ersterbende und verdorrende Geschäftszweige unter eine sichere, ihrer Forschungen sich bewußte und unausgesetzt dem Nachdenken gewidmete Commission im Staate zu stellen. Möchte dieser Vorschlag überall geprüft werden, wo in größeren Staaten die Besorgniß gehegt werden muß, die Nahrungsquellen möchten mit steigender Bevölkerung, mit steigendem Egoismus, mit steigender, die Weitschweifigkeit der bisherigen Arbeitsmanieren vereinfachender Aufklärung sich nicht mehr auf zu erwünschende Weise ausgleichen, es möchte jeder Fortschritt in der In­dustrie zuviel Rückschritte in der Moral nach sich ziehen, wo man befürchten muß, daß die in ihrem Erwerb gestörte Masse wohl gar zu ungesetzlichen Mitteln greift und der bestehenden Ordnung der Dinge gegenüber eine drohende und an allgemeines Nivellement der Glückseligkeit, der Rechte und der Reichthümer denkende Stellung einnehmen könnte. Ich werde selbst in der nächsten Parlamentssitzung für England die Errichtung einer „na­tionalökonomischen Commission,“ (im Gegensatze zu den vielen von der Regierung verlangten Finanzcommis-229sionen!) in Antrag bringen, einen Verein tüchtiger Gelehrten und Geschäftsmänner, die sich permanent mit der Beaufsichtigung der materiellen Existenz des Volkes und der Ausgleichung des alten und neuen Zeitgeistes, unabhängig von der Regierung, aber berechtigt, ihr Vor­schläge zu machen, beschäftigen müßte. Vielleicht bleibt das Bei­spiel auf dem Continente nicht ohne Nachahmung.

230 Der Stein der Weisen.#

Alle Völker, alle Zeiten träumten von einer Erfüllung der Unmöglichkeit, von einem großen Geheimnisse, dessen Entdeckung sie zu Herrschern der Natur machen würde. Eine dunkle Scheidewand des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Bekannten und Geahnten stand, im Alterthume, im Mittelalter, und steht noch jetzt vor dem Individuum und reizt es, sie entweder mit seiner Phantasie zu erklettern oder mit mystischem Auge zu durchschauen (Mystiker sehen durch ein eichen Brett) oder mit heimlich berechnetem gut und besonnen angelegtem Verstande, wie heute, zu untergraben. Der Stein der Weisheit des Alterthums war das äußerste Thule, war die Abdachung des Homerischen Länderhorizontes, hinter welchem man sich die schwarzen Aethiopier und hinter ihnen noch die Pygmäen dachte, diese kleinen Geschöpfe, welche mit Kranichen kämpften und von den Alterthumsforschern dahin bestimmt worden sind, daß Homer hier Affen für Menschen gehalten hat. Die Philosophen, die Alchymisten jener Urzeit, die das Meer nur an den Küsten zu beschiffen wagten und auf der Höhe desselben 231 sich nur Grauenwunder vorstellen konnten, waren die Phönizier. Diese schifften über die Säulen des Hercules, d. h. über die Grenzen des natürlichen Menschenverstandes (auch eines Schlangen- und Ungeziefertödters) hinaus, entdeckten ein Land nach dem andern, die Zinninseln, die Bernsteinufer, und mögen vielleicht England für den Stein der Weisen gehalten haben, welches jedoch sich ihnen bald als ein großer Irrthum würde bewährt haben müssen, da man Englands Felsenküste wohl zu allen Zeiten eher für den Stein der Thoren halten sollte.

Wie man in der spätern Entwickelung der alten Geschichte den Erdkreis hyperbolisch das zu nennen anfing, was an Ländern Rom gehörte, verlor sich die kindliche naive Anschauung der damaligen Geographie. Nicht in Ausdehnung mehr, sondern in Mittelpunkten suchte man den Stein der Weisen. Auch das Alterthum hatte seine Mystik. Es wandte sich ab von dem todten Marmor, und wenn ihn die Kunst noch so täuschend dem Leben nachgeformt hatte, es verlor den Sinn für den blauen wolkenlosen Himmel, unter welchem Homer seine Gesänge für die Ewigkeit improvisirte, und wandte sich der Nacht und den Sternen zu, flüchtete mit unbefriedigtem Gemüth in dunkle Grotten und lauschte auf Uroffenbarungen, auf die Umkehr natürlicher Ordnungen, auf die Sprache des Steines, auf das Klingen der Memnonssäule, auf prophetische Zauberwirkungen in den gebundenen unfreien Naturmassen. Die Eleusinischen Geheimnisse suchten den Stein der 232 Weisen in ihrer Art oder waren selbst dieser letzte Grund der Dinge, den die antiken Freimaurer, wie die modernen, wenigstens zu besitzen durch ihre Geheimnißkrämerei sich den Anstrich geben.

Dennoch erst der neuern Welt konnte es vorbehalten seyn, in dem höchsten Gut den Urgrund des Geldes und zugleich den der Medizin zu träumen. Dieser Stein der Weisen mit seiner Goldhaltigkeit und absoluten den Tod sogar vertreibenden Heilkraft ist unsre Zeit in ihrer gierigen egoistischen und siechen Tendenz selbst. Das Geld heilt unsre Armuth und das Spezificum das Siechthum, welches unmittelbar der flotten Anwendung des Geldes folgen würde. Es ist dieß die Schlaraffenphantasie eines Zeitalters, wo man sich allmählich so überaß und den Magen verdarb, daß Toms von seinem Bruder wünschen konnte: Ach, hätt’ ich doch noch deinen Magen! Der Stein der Weisen ist die Vorstellung einer möglich gewordenen höchsten Potenz irdischer Glückseligkeit; er ist das Prinzip der satanischen Weisheit, der Weisheit des Steinreich- und Steinaltwerdens. Die Teufelsbrut der Zwerge und Kobolde bewahrt den wunderthätigen Schatz, der vielleicht nur so groß ist, wie eine Linse, und, bei einem Mikroskope gut angebracht, vielleicht noch die Eigenschaft hat, allsehend und allwissend zu machen.

Der Stein der Weisen, an dessen Auffindung mancher deutscher Fürst mit seinem Alchymisten (den er hängen ließ, wenn die Dukaten nicht endlich hecken 233 wollten) die Zuthat der Dukaten verschwendete, dieser Stein der Weisen, den der brave Landmann am besten kennt, wenn er seinen Acker reinigt und singend und wohlgemuth in Gott sein Tagwerk fördert, wurde allmählich ein Erfahrungsbegriff und verlor seine Wunderbarkeit. Wie Adam Smith mit der Zeit das große Geheimniß entdeckte, daß das Geld nur Tauschmittel und keine Waare ist, und daß sein Werth nur in der Circulation läge, so fing man auch an, vom Steine der Weisen den materiellen Begriff aufzugeben und ihn nicht mehr in der Mineralogie und Alchymie zu suchen, sondern in Entdeckungen, Erfindungen, in der Mechanik, in der rationellen Landwirthschaft und den zahllosen Aufklärungen, welche dem rastlosen Erfindungsgeiste der neuern Zeit so glücklich über alle Gebiete der Natur und des Menschenlebens gelungen sind. Der Stein der Weisen unsrer Zeit ist die Vereinfachung und Benutzung der Natur. Die Alchymisten der neuen Zeit sind die Watt, die Fulton, die Lavoisier, die Wollaston. Das mineralische Reagens, wodurch man sonst den Stein zu erzeugen suchte, ist in unserm Jahrhunderte der Dampf.

Der Phantasiemensch wandert aus und will neue Welttheile entdecken. Der Verstandesmensch erfindet. Das Neue, das Außerordentliche bricht sich allein Bahn in der Literatur wie in der Technologie. Sollte man nicht einen neuen Welttheil entdecken können? Sollte man nicht Steine in Brod verwandeln können und aus dem 234 Meersand Kuchen backen? Am Ural bäckt man schon Brod aus Gypserde. Sollte man aus der Kartoffel, außer Zucker und Mehl, welches schon daraus gemacht ist, nicht noch Fleisch machen können? Kurz, unsre Zeitgenossen hören nicht auf, von dem Stein der Weisen zu träumen, wenn sie ihn auch zunächst nicht für Gold halten, sondern für eine Waare, welche sie schon gegen Gold umzusetzen werden im Stande seyn.

Ich weiß nicht, kennt ihr jenen public character, den halb London unter dem Namen des neuen Columbus kennt? Dieser Columbus II. ist ein entfernter Verwandter von Kapitän Roß und war selbst einst Schiffskadett. Von Jugend auf that er Verkehrtes, in der eingebildeten Meinung, immer etwas Außerordentliches zu thun. In fortwährender Thätigkeit begriffen, schuf er nichts. In ewiger Bewegung blieb er auf seinem Platze stehen. Er verschwen­dete Geist, Witz und Verstand und richtete, weil er immer konfus war, nichts damit aus. Er kam mit seiner Genialität immer entweder zu früh oder zu spät. Man konnte ihn bei der Marine nicht mehr lassen, weil er im Stande war, ein Schiff, statt nach Asien, nach Amerika zu richten. Dennoch hängt er mit ganzer Seele an den Wagnissen des Meeres. Er möchte ein Schiff kommandiren, um damit einen neuen Welttheil aufzufinden. Ein Kaufmann in Hull, der ein Schiff auf der See hat und es regelmäßig des Jahrs zwei Fahrten nach dem persischen Meerbusen machen läßt, verlor seinen 235 alten bewährten Kapitän. Er kün­digte in der Naval Gazette an, daß er einen andern suche. Colum­bus meldet sich bei ihm und gefällt anfangs seines kühnen und entschlossenen Wesens wegen. Aber schon bei Stipulation der Bedingungen faßte der Kaufmann Mißtrauen. Columbus II. sprach immer nur von dem sechsten Welttheile und sollte von Gewürznelken sprechen. Nehmen Sie sich in Acht, warnten vorsichtige Freunde den Kaufmann; Sie sind an einen Abenteurer gekommen. Sie können mit Ihrem Buzentaurus (so hieß der Dreimaster) das Glück haben, eine kleine Insel der Südsee zu entdecken, werden aber darüber bankerutt werden, weil dieser Mann nicht darnach aussieht, als könnt’ er verständig die Linie halten bis nach Ihren Gewürzkonnexionen hin. Der Kaufmann wollte anfangs nicht glauben. Columbus schien ihm ein zu großer Seeheld zu seyn. Als aber plötzlich sich das Gerücht verbreitete, ein entlassener Schiffslieutenant wolle den sechsten Welttheil entdecken, und dem Ursprunge desselben nachspürte, erschrak er doch so sehr, daß er dem Contrakte mit Columbus die Ratification verweigerte. Es kam heraus, daß der Vetter des Kapitän Roß erst die Gewürznelken nach Hull bringen wollte, nachdem er den Punkt in der Südsee erreicht hatte, wo der Frost den Schiffern das Blut aus den Augen treibt. Er wollte ehrlich seyn, aber zu gleicher Zeit auch die günstige Gelegenheit, ein Schiff zu haben, benutzen. Er war untröstlich über das Fehlschlagen seiner Hoffnung. Er kehrte nach London 236 zurück, ist in seiner Idee über die Gestalt der Erde, über den Aequator und das wunderbare Jenseits des Südpols fix geworden und wird wahrscheinlich damit enden, daß eines Morgens am Strand der Themse ein Kahn vermißt und drei Tage später statt des Kahnes ein Leichnam an der Stelle zu treffen seyn wird.

Wichtiger, als die sechsten und siebenten Erdtheile, die unser zweiter Columbus entdecken wollte, sind die Erweiterungen und Ausdehnungen der Kenntnisse, welche man von den alten schon besitzt. Man eroberte neue Welttheile nicht über das Land hinaus, sondern in das Land hinein. Das fabelhafte Dunkel der Wälder, die Undurchdringlichkeit schroffer Gebirgszüge lichteten sich. Man verfolgte jene ungeheuren Flüsse, deren Lauf man erst da kannte, wo sie sich ins Weltmeer ergießen. Ermüdet von den gleichmäßigen Windungen dieser Ströme hatte man in alten Zeiten ihre Quelle preisgegeben; jetzt fuhr man unerschrocken in die Wildnisse hinein, aus welchen man heraus den gewaltigen Strom murmeln und rauschen hörte. Man bahnte sich an den Ufern den Weg durch mannshohe Schilfwälder, unerschrocken vor dem schuppigen Krokodil und dem schwerfälligen Tapir, die flohen, weil sie Menschen noch nicht gesehen hatten. Doch fand man auf diesen kühnen Zügen auch Striche, wo eine gewisse Kultur vereinzelter Indianerstämme sichtbar war. In älterer Zeit hatten gerade die Expeditionen, welche sich auf Entdeckung der Fluß­quellen eingeschifft hatten, die abenteuerlichsten Sagen über die 237 Vielfältigkeit und Wunderlichkeit der Menschenrasse verbreitet. Natürlich; im Flug vorüberfahrend an den zweideutigen Ufern haftete der Blick an keiner Situation, an keiner Erscheinung, die in sich wäre gerundet und abgeschlossen gewesen. Aus einer Frau, die ihrem Manne Waffen zutrug und nur allein am Ufer erblickt wurde, gestaltete sich ein ganzes Amazonenvolk. Aus einem Kranich, der mit verwundertem Auge und neugierigem Schnabel den Vorübergehenden nachsah, bildeten sich Pygmäen, Vögelkriege und die geographischen Anschauungen des Homer. Der Mensch, sich noch selbst weit räthselhafter als die Natur, erblickte in Allem, was ihn erschreckte, oder das er nicht sogleich begreifen konnte, die Wunder einer dämonischen Welt. Weil man sonst die Seefahrten nur unternahm, um das Abenteuerliche zu finden, so fand man es auch nur. Jetzt ist der der Mährchen entwöhnte nüchterne Verstand die Bussole des Entdeckers. Er reißt von dem Unbekannten das Gewand der Phantasie, Dichtung und Furcht ab; er verflacht sogar das Außerordentliche und bringt das Neue mit dem Alten nach dem Satze, daß es unter der Sonne nichts gebe, was nicht schon da gewesen, in eine Harmonie, wo manche Merkwürdigkeit, manches eigenthümliche Phänomen unberücksichtigt bleibt. Wir sind alle einer wie der an­dere, heißt es. O nein, Meilen- und Jahrtausende liegen zwischen uns und schufen sich jene bunte Mannigfaltigkeit der Völkerunterschiede vom Feuerländer bis zum Europäer, für welche der Franzose ein 238 besserer Beobachter als der Engländer ist, da dieser in seinem Egoismus nur gewohnt ist, sich selbst gegen die ganze Menschheit exklusiv zu betrachten und nur zwei Menschenklassen, das Ich und das Nicht-ich zu gestatten, abweichend von dem ehrgeizigen Franzosen, der die Menschheit gern in Völker zerstückelt, weil er wohl weiß, daß es ruhmvoller ist zu sagen: „wir haben hundert Nationen besiegt,“ als „wir haben die Menschheit überwunden.“

Dieser innere Entdeckungsgeist wurde vorzüglich von der noch immer fabelhaften Geographie Afrika’s angelockt. Das Innere von Afrika ist in der Geographie von Herodot, bis sogar in die neuesten Zeiten, in die Zeiten der Lander und Clapperton der geographische Stein der Weisen gewesen. Homer und Herodot sahen in Afrika nur eine unbestimmte, vage Ausdehnung, von schwarzen Aethiopen bewohnte Grenze des in ihrer geographischen Vorstellung lebenden Erdtellers. Die Neger waren ihnen die Söhne jener Nacht, welche rings den Erdkreis umgibt. Spätere Geographen, freilich noch aus der Kindheit der Wissenschaft, wollten wenigstens ein Ende dieser Nacht sehen und umrandeten Afrika mit einer großen Mauer, um welche Sonne und Mond ihren Kreislauf halte. Erst später ahnte man, daß Afrika die Form jenes pythagoräischen Satzes hat, daß das Quadrat der Katheten gleich sey dem Quadrat der Hypotenuse. Allmählich lernte man die Küste des Landes kennen; aber Alles, was man von dem Innern 239 des Landes spricht, ist noch unentdeckt, ist nur Ahnung und so gut wie fabelhafte Ueberlieferung. Doch soll es ungeheure Seen geben, Flüsse, in welchen sich fruchtbare Wälder spiegeln, Sprachen und Religionen der wunderbarsten Zusammensetzung. Schon arabische Schriftsteller nannten, um ihre Achtung vor dem innern Afrika auszusprechen, dasselbe die Wiese der Vergoldung, die Grube der Edelsteine *). Die Jesuiten und Portugiesen, welche späterhin das Innere Afrikas untersuchten, haben bei aller Entschlossenheit, die sie in ihren Entdeckungszügen an den Tag legten, doch immer den Eindruck hinterlassen, daß ihre Entdeckungen, bis man ihnen vollen Glauben schenken dürfte, erst von dem nüchternen Verstand der Neuern revidirt werden müßten. Alle Entdeckungen, die man in neurer Zeit in dieser Hinsicht mit so großer Aufopferung gemacht hat, lehnten sich immer noch mehr an die östliche Küste Afrika’s an. Die Bekanntwerdung Timbuktus und der Nigermündung gelang dem Franzosen Caillé und dem Märtyrer-Brüderpaar Lander. Vor ihnen hatte schon der Engländer Laing sein Leben dem afrikanischen Stein der Weisen geopfert. Caillé wurde durch einen von der Pariser geographischen Gesellschaft ausgestellten Preis zu seiner Entdeckungsreise angespornt. Er zog als Araber von Geburt, und nur von den Franzosen nach der egyptischen Expedition mit fortgenommen, in das Dunkel einer 240 unbekannten Welt hinein. Er gebrauchte die Vorsicht, sich für einen Kaufmann auszugeben. Er verkaufte in Timbuktu seine Waaren, verzehrte aber das dafür eingelöste Geld und sah sich genöthigt zu betteln. Er pflegte sich an Karawanen als ein bescheidner, armer Hilfsbedürftiger anzuschließen. Auf diese Weise durchzog er durch glühende Sandwüsten das mittlere Afrika so weit, bis er endlich in den marokkanischen Raubstaaten wieder herauskam. Caillé’s Abenteuer sind um so interessanter, da es ihm an allen Vorkenntnissen, die zu einer Entdeckungsreise gehören würden, fehlte. Ein Wollaston würde wesentlichere Resultate aus Timbuktu zurückgebracht haben, aber auch Gefahr gelaufen seyn, von den miß­trauischen Einheimischen bei dem ersten Experiment, das er gemacht hätte, für einen Zauberer angesehen und darnach behandelt worden zu seyn. Im Allgemeinen ist das Bild, welches wir durch Caillé vom innern Afrika erhalten haben, ein wüstes und ödes. Die Städte sind in den tiefen Sand nur leise und mit Vorsicht eingesenkt. Die Hitze des Aequators treibt den Keim jeder nach Leben ringenden Vegetation in die allgemeine Asche des Erdreichs zurück. Selten, daß sich eine Pflanze einige Fuß über die mütterliche Erde hinauswagt. Nirgends der Gesang eines Vogels, Todtenstille auf den Straßen, die Grabesgedanken der egyptischen Welt in förmliche Verwesungsbegriffe gesteigert. Verläßt man die Stätte, so kann man wohl kennen lernen, wodurch im Menschen das religiöse Gefühl geweckt wird. Es ist 241 die Dankbarkeit, mit welcher der Bewohner des Aequators gleich dicht an dem einzigen Palmenbaum, den er nach meilenlangem Suchen findet, einen Tempel, ein Minaret baut, so daß Hospitalität, Erquickung, Schlaf, Schatten, ein Trunk Wassers und die Religion hier ganz ein und dasselbe sind.

Die Entdeckungen im südlichen Afrika tragen einen andern Charakter; sie sind weniger moralisch, wie die erstern, und mehr physikalisch. Das Kaffernland, die Insel Madagaskar haben den Systemen der Botanik und der Zoologie viele Bereicherungen verschafft. Die Interessen der verschiedenen europäischen Niederlassungen an den südafrikanischen Küsten machten eine geographisch genaue Bestimmung derselben nothwendig. Ueberdieß ist die Sternwarte am Kap für die Betrachtung des Himmels, weil er nirgends so durchsichtig und klar ist, am günstigsten gelegen. Noch ist Herschel dort. Er wird viel Neues bringen, aber schwerlich die Mondwunder, welche man in England und auf dem Kontinente auf die Rechnung seines Fernrohrs gesetzt hat, bestätigen.

Ein dritter Gesichtspunkt der afrikanischen Entdeckungen sind die egyptischen Pyramiden. Hier gab es Sphinxräthsel zu lösen. Wenn der Stein der Weisen eine mineralische Beschaffenheit hat, so müßte sie derjenigen gleichkommen, welche das Material der Memnonssäule auszeichnete. Belzoni ist es, der von den Riesengräbern der alten Pharaone und Psammetiche das 242 Siegel des Geheimnisses nahm. Er eröffnete das Grab des Psamniuthes und ließ von der schon früher besuchten Pyramide von Dschischeh den Sand der Wüste wegfegen, der den Eingang verschüttet hatte. Freilich war der Lohn der Anstrengung kein anderer, als der, daß man sie überwunden hatte. Man hatte geglaubt, in den Pyramiden das Archiv der Urgeschichte zu entdecken und fand nur Staub, Verwesung, fand nur die vermoderten Grabschriften vermoderter Königsmumien. Welche Räthsel hatte man geglaubt, würden hinter der Keilschrift verborgen seyn? Sie enthielten nicht mehr, als die Inschriften, welche unsre Philologen aus dem klassischen Alterthum gerettet haben: Küchenzettel des athenischen Staatshaushalts, Aus- und Einnahme-Budget’s der eleusinischen Tempelverwaltung. Gerade das, was man durch seine Inschrift auf Stein für das Ewige in der klassischen Literatur hätte halten sollen, war das Vergänglichste in ihr, war die Makulatur des Alterthums.

Die Entdeckungen in Asien waren weniger geographisch als physikalisch. Asien hat zu lange im Wechselverkehre mit Europa gestanden; wir selbst sind die Enkel asiatischer Väter; die ganze Kraft Europa’s hat sich auf Asien geworfen und ihm von allen Seiten scharf zugesetzt. Wir kennen es genauer als Afrika. – Alexanders Zug nach Indien mußte aufgeklärte Geographie im Gefolge haben. Arrhian ist eben so sehr Quelle für die Geschichte wie für die Erdbeschreibung. Andrerseits trug Asien aus seinem Schooße selbst heraus die Bekanntschaft 243 seiner selbst. Die asiatische Ethnographie fluthete in wilden Horden über das zertretne und verwüstete Europa. Asien hat weit weniger materielle als moralische Geheimnisse. In Afrika kann uns das Wunderland Maravi locken. In Asien locken uns die Sitten und Einrichtungen, die Sprachen und Ideen. Gerade, weil man fühlte, daß das Christenthum eine Blüthe war, deren Stamm und Keim tief in die asiatische Religionsphilosophie seine Wurzel schlug, ruhte das Christenthum nicht, diesen Ursprung zu tilgen, zu bekehren, die Wurzel mit der Frucht zu versöhnen. Die blinden Heiden hatten für das Christenthum weit weniger Anziehungskraft, als die tauben Heiden. Die Neger, die Hottentotten genirten das Gewissen der christlichen Hierarchie weniger, als die Hindus, die Tibetaner. Man bekehrte lieber die Völker, welche das Christenthum verachteten, als die, welche gar nichts davon wußten. Der Asiate hat eine positive Religion, er konnte opponiren, er konnte Dogma durch Dogma widerlegen. Dieß reizte die christliche Kirche und veranlaßte sie zu asiatischen Missionen, welche, wenn auch sehr wenig für die Kenntniß des Himmels, doch desto mehr für die Kenntniß der Erde nützten. Erst waren es Minoriten und Dominikaner, welche aus Asien geographische Bereicherungen brachten, später Jesuiten, welche namentlich China und Japan beschrieben. Ihnen folgte später eine Reihe ausgezeichneterer Entdecker, welche theils durch Absicht, theils durch Geschäfte, welche sie aus England oder Rußland nach 244 Asien führten, Entdecker und Bereicherer der Wissenschaft wurden.

Und Amerika! Wie hat sich dieser Welttheil aus den Nebeln der Geschichte die erst blutige Morgenrothbahn, dann eine immer sonnigere hervorgebrochen! Nachdem man versucht hatte, aus der Mischung von Alkalien jene Kraft zu finden, welche alle Schmerzen des Beutels und des Körpers heilte, warf man den Tiegel fort und schiffte sich nach Amerika ein, wo die Natur selbst die Hochöfen des höchsten Metalles aufgepflanzt hat. Die Amerikaner waren keine Goldhüter im Sinne der alten Mythologie. Schüchtern und weiblich in ihrem Wesen, ließen sie sich der Goldsucht der Europäer zum Opfer bringen. So ungeheuer gestiegen war schon der Luxus und das Verderben Europa’s, daß man bei der Entdeckung Amerika’s nicht im entferntesten von jenem wissenschaftlichen Enthusiasmus, der die Entdeckungen liebt, ohne an ihren Gewinn zu denken, etwas verspürte. Nur das Interesse schürte hier Bestrebungen an, die später der Wissenschaft, der Menschenkenntniß, der Geschichte und Moral zu Gute kamen. Wie verschieden von unsrer Zeit, wo wir Reisende durch die sterilsten Gegenden haben ziehen sehen, nur getrieben von dem Wunsche, zu wissen, wie viel Seen, wie viel Flüsse, wie viel Stein- und Pflanzenarten ihnen neu begegnen würden. Sie bringen ausgestopfte Vögel, skelettirte Fische, sie bringen in Kästchen, die mit Baumwolle gefüttert sind, seltene Mineralien zurück. Was würden Ferdinand und Isabelle Columbus 245 geantwortet haben, wenn er auf diese Weise nur das naturhistorische Museum von Salamanka und nicht die Geldtruhen vom Eskurial hätte bereichern wollen?

Amerika lichtete sich vor den lüsternen Augen der goldgierigen Europäer schnell in allen seinen Theilen. Es wurde eine Anlockung für die Abenteuerlichkeit aller Nationen. Spanien, Eng­land, Portugal und Frankreich gewannen allmählich Besitzungen in dem neuen Welttheil, welche da, wo sie Gewinn versprachen, bald auch mit ordnender Hand kultivirt waren. Die Indianer, die karaibische Verwilderung ausgenommen, sind ein weicher, eindrucksfähiger Menschenschlag; sie haben ganz die Natur ihres Lieblingshausthieres, des Lama’s; tragen willig, obgleich mit schwa­chen Schultern, murren nicht und gewöhnen sich sogar mit Zärtlichkeit an den, der sie unterdrückt. Wäre dieß nicht der Fall, so würde man nicht begreifen können, wie das europäische Element so schnell über das Einheimische in Amerika das Uebergewicht hätte erlangen können. Nirgends trifft man eine Reaktion des Urgeistes gegen die spätere Einwanderung an. Selbst die India­nerstämme Nordamerika’s würden, wenn sie nicht von der entschiedenen grausamen Absicht verfolgt gewesen wären und noch wären, daß man sie ausrottet, niemals die Waffen von der Jagd auf den Krieg übertragen haben. Während wir im südlichen Asien, in Afrika immer annehmen müssen, daß sich die Eingebornen gegen die fremden Unterdrücker jede Gelegenheit der Rache herausnehmen 246 und sogar mit Entschiedenheit auf eine das europäische Element zuletzt doch überwältigende Revolution rechnen dürfen, ist in Amerika alles ursprüngliche und eingeborne Kolorit verwischt. Nirgends behauptet sich das Blut und die Farbe, als etwa in den bereits mit Europäischem versetzten Mischungen der Mulatten, Mestizen und Quarteronen. In diesen Mischungen ist es der europäische Uebermuth und klügelnde Ver­stand, welcher die thierischen, ungezügelten Leidenschaften des Negers und Indianers aufwiegelt. Der reine Indianer folgt mit nachgiebiger Entsagung dem kräftigeren Willen des Europäers, der auch Scheiterhaufen genug angezündet hat, um dem Armen das Maal seiner Tyrannei einzubrennen.

Die Entdeckungen in Südamerika treffen nur noch das Innere desselben. Jene beiden Flächen, welche sich von dem Gürtel der Andes nach Osten und Westen abplatten, sind in neuerer Zeit von naturkundigen Reisenden untersucht worden. Ein großer Theil derselben kam in derselben Absicht, wie Ferdinand Kortez und Pizarro nach Amerika, um die Bergwerke zu untersuchen. Ein Dutzend Aktiengesellschaften waren in Europa zusammengetreten, um die Goldminen von Potosi aufs neue anzustechen und aus den Flüssen den Goldsand auszuschwemmen. Ihre Delegirte über­zeugten sich aber bald, daß der Mythus von Peru und Chili größer war, als die kleine Basis von Wirklichkeit, auf welche man ihn gebaut hatte. Ja, sie mußten eingestehen, daß sie erst jetzt 247 die Grausamkeit der Spanier begreifen lernten, diese Grausamkeit, welche durch das Gefühl getäuschter Erwartungen über die Schätze der Indianer gegen die vermeintlichen Besitzer derselben gesteigert wurde. Weil man weniger fand, als man erwartet hatte, so rächte man sich an denen, von welchen man bald einsah, daß sie eines Betruges nicht fähig waren. Die neuern Reisenden brachten wenig Eldorado zurück, aber dafür desto mehr Naturgeschichte. Besonders ist Brasilien in der außerordentlichen Ueppigkeit seiner Vegetation und der bunten Mannigfaltigkeit jener Thierwelt, welche in der blühenden Botanik jenes Landes schwelgt, gründlich ausgekundschaftet worden. Welch’ eine Welt! Alles lacht der Sonne mit den schönsten Irisfarben entgegen! Auf den mit den buntesten Blüthen geschmückten Bäumen wiegen sich Affen und Papageien; unter den Palmen und Kaktus, umschwirrt von wunderbar gemalten Schmetterlingen, glaubt man fortwährend in den Gärten eines Sardanapals zu seyn. Ein Land bedarf solcher Schönheitswunder, um einigermaßen für die in diesen Wonnen schwelgende, sinnlich wuchernde, üppige und gefährliche Thierwelt entschädigt zu werden.

Bei Nordamerika ist es weniger das Innere, als die Grenze, die man sucht. Man kennt noch nicht die Konturen des Nordpols; man hat die nordwestliche Durchfahrt noch nicht mit Gewißheit auf die Karte bringen können. Eisgebirge und eine Kälte, die alle Vegetation, selbst auch die animalische Existenz des Menschen aufhören 248 macht, werfen den Unternehmungsgeist immer wieder von der nördlichen Abplattung der Erde zurück; man wird so leicht nicht eine größere Aufopferung finden, als sie Parry und Roß bewiesen haben, doch haben auch diese kaum etwas Größeres durchgesetzt, als daß sie sich in der Fähigkeit, Kälte auszuhalten, einer den andern übertrafen.

Europa liegt klar vor unserm Blicke. Hier wissen wir Alles, was wir besitzen; hier ist kein Wald, kein Fluß, kein Gebirg, dessen Inhalt nicht ausgemessen, gewogen und beschrieben ist. Ueberall hin ist die Civilisation gedrungen. An Europa kann man kein Cook mehr werden.

Die Entdeckungen, welche es bei uns nur noch geben kann, sind moralische, physikalische, mechanische. Bei uns sind an die Stelle der Entdeckungen die Erfindungen getreten. Die Schiffe, die man ausrüstet, legen Anker in der Luft. Man rüstet Expeditionen aus, um die Elemente zu befahren, und in die Stoffe zieht eine Karawane witziger und scharfsinniger Kombinationen ein. Die moralischen Entdeckungen mögen vielleicht noch den meisten geographischen Beigeschmack haben; o ja, man kann mitten in Paris, mitten in dem Gewühl, welches an der Themse wogt und braust, in dem, was Alle kennen, doch noch immer etwas Neues entdecken. Die vorzugsweise moderne Gestaltung der Literatur hat diese Seefahrten in das Innere der Menschenbrust übernommen. Die Existenz unseres Geschlechtes, selbst in der 249 Hyperkultur, mit welcher sie wider Willen gesäugt und genährt ist, hat so viele dunkle Schattenpartien, daß in den Werken eines gediegenen, gefühlvollen und mit scharfen Augen begabten Sittenmalers der Lesewelt oft ganz neue Regionen unserer Gesellschaft aufgehen. Wie schwer ist es z. B. zu entdecken, wovon Sir Thomas Kugler lebt? Man sieht ihn voll und genährt und sieht nicht, daß er arbeitet. Man weiß, daß er mit dem Bankrutt seines Vaters auf die Welt kam, und daß seine Mutter im Schuldgefängnisse gestorben wäre, wäre sie nicht zu den Methodisten übergegangen und hätte sich von den Almosen einer kleinen ekstati­schen Gemeinde zu Tode nähren lassen. Wovon lebt Sir Thomas? Er trägt die schlechteste Garderobe, die man tragen kann, ohne für einen Bettler angesehen zu werden; er hat nichts, alle Welt weiß es; er würde längst den Armengesetzen verfallen seyn, wenn ihn der Adel seines Namens nicht zurückhielte, um Unterstützung einzukommen. Aber sein rundes Aussehen, seine genährten, blühenden Wangen, diese lächelnde Physiognomie eines Mannes, der das Bewußtseyn hat, gut zu verdauen? Ja, dieß ist das Räthsel, hier ist der Hafen, hier schiffe man sich ein und entdecke auf der Erd- und Glückskugel unserer moralischen Existenz ein neues Amerika!

Obschon es nicht in meinen Gegenstand dießmal gehört, so hab ich mir doch den Vorwurf zu machen, daß ich die Neugier meiner Leser erweckte. Sir Thomas Kugler lebt, wie ich authentisch versichern kann, nur von 250 Näschereien, in dem Sinne, daß er von hundert verschiedenen Viktualien des Tages ein kleines Stück, und zwar nur zur Probe, ißt. Man gehe nur an den Strand und sehe, welche Rolle unser Industrieritter in den Docks spielt. Er ist ein Waarenmakler, er hat Aufträge zu besorgen für hundert Firmen, welche in Kaviar, Austern, Butter, Käse, Portwein, kurz in den nährendsten und kräftigendsten Gegenständen des Groß- und Kleinhandels Geschäfte machen. Sir Thomas gibt sich für einen Agenten dieser Häuser aus. Sein ärmliches Aeußere, in Verbindung mit der strotzenden Wohlgenährtheit, gibt ihm das Ansehen einer gewissen soliden Bürgerlichkeit, die aufs Aeußere nicht viel hält, aber ihre Rippen gut zu kräftigen weiß. So geht er von einem Faß zum andern und probirt. Wenn es ihm am herrlichsten schmeckt, verzieht er den Mund, als sey ein Fehler an dem Kaviar; hat er den Rücken eines Härings rein heruntergegessen, so erklärt er mit bedenklichem Kopfschütteln: „er empfinde einen thranigen Geschmack;“ niemals winkt er mit dem Auge zu und läßt sein inneres Wohlbehagen über die frischen Leckerbissen laut werden, weil er sonst in die Verlegenheit käme, einen Preis akkordiren zu müssen. Wenn eine Auktion angekündigt ist mit der Bemerkung: Proben werden gratis verabreicht, so wird man ihn immer mit affektirt mürrischem Gesicht dorthin wandeln sehen. Er kömmt so eben vom Strande, wo er sich an einer Mosaik der herrlichsten Einzelgenüsse im Ganzen sattgegessen hat; er wischt sich 251 den Schweiß von der Stirne, klagt über die Beschwerlichkeit seiner Verrichtungen und spült sich mit dem herrlichsten Weine den Nachgeschmack seiner Gratismahlzeiten hinunter. So lebt Sir Thomas, so kann er leben, ohne Furcht, entdeckt zu werden, bei der ungeheuren Menge von aufgestapelten, zum Verkauf und zur Auktion kommenden Waaren, bei der entsprechenden großen Anzahl von Maklern, unter denen er trotz seiner Beleibtheit spurlos verschwindet.

Höher aber als diese Erfindungen einer überfeinerten Industrieritterschaft stehen jene Entdeckungen, welche die Künste und Wissenschaften bereichert haben; ja man wird es lächerlich finden, wie ich Sir Thomas mit Männern wie Davy und Dollond in Verbindung bringen kann. Im Allgemeinen ist die gegenwärtige Zeit nicht so reich an Erfindungen, wie die des ganzen vorigen und beginnenden laufenden Jahrhunderts. Es ist dieß gerade wie mit der Kunst und Wissenschaft selbst, wo man gestehen muß, daß unsre Zeit nur die Früchte jener Saaten erntet, welche im achtzehnten Jahrhundert gesäet wurden. Das achtzehnte Jahrhundert war groß in der Anspannung seiner geistigen Kräfte. Das achtzehnte Jahrhundert hat alle jene Theorien erfunden, mit deren praktischer Anwendung wir uns gegenwärtig bereichern. Wir sind die kräftigen Söhne einer Mutter, deren Geist und Schönheit von Allen gerühmt wird, die sie in ihrer Jugend und höchsten Blüthe sahen. Alles, was wir haben und gegenwärtig sind, verdanken wir 252 dem Aufschwunge, welchen die Ideen zur Zeit unserer Väter genommen hatten. Das achtzehnte Jahrhundert hatte weniger Ausdehnung, Manier und Haltung als das unsrige, aber es war tiefer und gründlicher. So haben wir zwar in gegenwärtiger Zeit Alles, was sich von physikalischen, chemischen und mechanischen Entdeckungen auffinden läßt, praktischer verarbeitet und für die Benutzung im gemeinen Leben eingerichtet; allein das achtzehnte Jahrhundert hat jene Faktoren erfunden, aus denen wir erst den Schluß machen. Die Resultate sind die unsrigen, der Ruhm der Prämissen gebührt dem außerordentlichen Genie und der Denkkraft vergangener Zeiten.

Im achtzehnten Jahrhundert waren schon längst die Dampfmaschinen, Dampfschiffe, Telegraphen und Eisenbahnen erfunden; nur dachte man noch nicht daran, diese Erfindungen so in die gemeine Wirklichkeit einzuführen, wie es jetzt geschehen ist. Die Blitzableiter, Chronometer, Luftballons und Spinnmaschinen gehören dem achtzehnten Jahrhundert an, wie außerdem eine Menge von Nebenentdeckungen, welche die Industrie erleichterten und ihre Handgriffe vereinfachten. Dahin gehören neue Heizmethoden, die Cylindergebläse, die Maschinen für schnellere Zeugbereitung, der Gußstahl, das Gußeisen, Bohrmaschinen, die Rettungsboote und eine Menge von Apparaten, mit welchen man neue Gesetze in dem mehr theoretischen Bereich der Wissenschaften entdeckte und noch andre zu entdecken erleichterte. Die 253 darauf folgenden Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts haben alle einen mehr praktischen Charakter. Mit dem Sinn für die Kunst steigerte sich das Bedürfniß einer mehr wohlfeilen Vervielfältigung ihrer Leistungen; man erfand die Lithographie. Mit dem politischen Umschwung der Zeitgenossen, den großen welterschütternden Begebenheiten und dem verworrenen Antheil, welchen alle Welt an der Politik des Tages nahm, erfand man die Schnellpresse für die Buchdruckerei, man erfand zu demselben Zweck das endlose Papier, man erfand in Folge der kriegerischen Stimmung der Zeit die Dampfkanonen, die Perkussions­schlösser an den Feuergewehren; kurz, der menschliche Geist arbeitete und rang in allen Gebieten nach Ueberwältigung der wie Proteus sich sträubenden und in ihren Gesetzen ungemessenen und gestaltenreichen Natur. Man dachte nicht mehr einseitig nur an den Reichthum und die Gesundheit oder ein langes Leben, sondern wurde von einem bis zur Andacht gesteigerten Drange getrieben, von der Natur Alles möglich zu halten, jede Wirkung, jede Verbindung, die der menschliche Geist ihr nur zu geben im Stande wäre. Bei einzelnen Köpfen, die sich vorzüglich auf das Erfinden gelegt hatten, und denen einmal ein glücklicher Wurf gelungen war, steigerte sich der Scharfsinn zur Spitzfindigkeit und die Originalität zu einer an Narrheit grenzenden Monomanie. So erzählte mir jüngst ein Gentleman, welcher zerrütteter Vermögensumstände halber gezwungen war, eine Zeit lang auf 254 dem Kontinente zu leben, und das Städtchen Mannheim am Rhei­ne, angelockt von mehreren dort angesiedelten englischen Familien, zu seinem Aufenthalt gewählt hatte, von einem wunderlichen Adeligen, dem Sproß einer in dortigen Landen achtbaren Familie. Dieser Herr von D .... hatte das Glück gehabt, mit Hülfe eines ihm wirklich von der Natur gestatteten erfinderischen Geistes ein Fuhrwerk zusammenzusetzen, welches, auf zwei Rädern ruhend, fast die Gestalt einer Spinnmaschine hat. Die ganze Einrichtung ist so getroffen, daß man mit einigen geschickt angebrachten Bewegungen sich selbst auf diesen zwei Rädern fortspinnen kann. Die Maschine gibt einen schnurrenden Ton von sich und erlaubt Jedem, der sie gut zu führen im Stande ist, sich mit einer Schnelligkeit fortzubewegen, die etwa an einen kleinen Pferde- oder, besser gesagt, Hundetrab erinnert. Die ganze Maschine ist auf Lächerlichkeit angelegt, denn nur Kinder können sich derselben, der komischen Gestikulationen wegen, die man dabei machen muß, bedienen. Es sieht fast so aus, wenn man auf der Maschine sitzt, als wollte man auf dem Straßenpflaster Schlittschuh laufen. Genug, seit Erfindung dieses ganz zwecklosen Kinderspielzeugs hat Hr. von D., so zu sagen, seinen Verstand verloren. Die Zwecklosigkeit seines Fuhrwerks wohl füh­lend, strebte er nach höherer Anwendung der Gesetze, auf deren Grund es konstruirt war; aber nicht ein einziges Projekt ist ihm mehr gelungen. Bald hat er eine neue Flugmaschine fertig, bei deren Benutzung man sich unfehlbar den Hals 255 brechen würde, bald will er die Kunst entdeckt haben, beim Luftballon ein Steuerruder anzubringen. Er hat wirklich ein Projekt durch die Zeitungen bekannt machen lassen, nach welchem man künftig, um bei Fuhrwerken eine größere Schnelligkeit zu erreichen, besser thäte, die Pferde hinter den Wagen anzuspannen. Alle Erfindungen des Herrn von D. sind mechanische Hirngespinnste; von Kennt­niß der Physik hat er keine Vorstellung. Hier einen Druck, dort eine Feder, hier eine Spindel, die um sich selbst läuft, dort ein wellenförmiges Rad; aus solchen kindisch-winzigen Hülfs­mitteln will er Hülfswerkzeuge für die außerordentlichsten Naturerscheinungen herstellen. Genug, Herr von D. ist ein Narr.

Aber man käme schön an, wenn man Herrn von D. nur die bedenklichste Miene und das leiseste Kopfschütteln über seine Tollheiten verriethe. Mein Freund kam gerade nach Mannheim, wo die Stadt von einer gräßlichen Geschichte über Herrn von D. erfüllt war. Er hatte sich nämlich anheischig gemacht, Todte durch Einblasen seines Odems frisch nach ausgehauchter Seele wieder ins Leben zurückzurufen. Er hatte den Moment abgepaßt, wo einer armen Frau in der Vorstadt eben ihr krankes Kind gestorben war. Herr von D. stürzt in das Haus hinein, über die kalte Leiche her und beginnt aus Leibeskräften ihrem krampfhaft offenstehenden Munde seinen Athem einzublasen; die Mutter schreit, die Bewohner und Nachbarn des Hauses kommen zusammen; Herr von D. läßt sich nicht stören, sondern 256 schrie, während man ihn von hinten wegziehen wollte, einmal über das andere: „Es lebt schon, es lebt schon.“ Als ihn endlich die Polizeibehörde ergriff und von der Leiche fortriß, bewegte sie sich in der That; allein es war dies nur das allmähliche Einfallen des von Herrn von D. wie ein Schlauch aufgeblähten Leibes; er mußte sein blasphemisches Blasen eine Zeit lang mit dem Gefängnisse büßen.

Seither hat sich Herr von D. wieder ganz auf die Mechanik geworfen. In Folge jener mißlungenen Todtenerweckung hat er gesagt, die Physiologie gäbe keine genügenden Resultate. Das vielfache Gespräch über Eisenbahnen, der Luftballon des Herrn Green haben ihn um die letzte Dosis von Verstand gebracht. Sieht man ihn an öffentlichen Orten, in der Stadt oder auf der Straße, so kann man ihm ohne Weiteres in den Weg treten und ihn anreden: „Herr von D., ich habe gehört, daß Sie sich gegenwärtig mit der Untersuchung beschäftigen, Vögel so abzurichten, daß sich die bisherige Luftschifffahrt in Luftfuhrwerk verwandeln lasse?“ Herr von D. wird stolz, mit einem etwas mißtrauischen, übrigens boshaften Blicke antworten: „Ja, Sir“ – und sogleich anfragen: „wollen Sie eine Aktie nehmen?“ Diese Zudringlichkeit verleidet jeden Scherz, den man sich mit ihm machen möchte; man wird ihn nicht los, er verfolgt uns sogar in unsere Wohnung und setzt uns das Messer an die Kehle oder, was ihm noch lieber wäre, an unsern Geldbeutel. Er hat hundert Ideen zu gleicher Zeit und ist 257 im Stande, uns seine Vogelflugfahrluftmaschine durch die Tauben, welche vor den Wagen der Venus gespannt waren, oder durch die Greife der Tausend und Einen Nacht zu beweisen.

Dieß ein Extrem.

Die Entdeckungen, welche zuvörderst in das Gebiet der Physik und Chemie gehören, haben in neuerer Zeit beiden Wissenschaften eine ganz veränderte Gestalt gegeben. Es ist besonders die Lehre vom Elektromagnetismus, welche in der bisherigen Physik und Chemie allen früheren Gesetzen ganz neue Nuancen gab. Die elektrischen Strömungen riefen den Magnetismus hervor; jetzt hat man auch umgekehrt versucht, durch Magnete elektrische Strömungen hervorzurufen. Die von dem Franzosen Ampère darüber gemachten Andeutungen hat Faraday bis zur Evidenz erhoben. Man wird von mir eine Darstellung der hier einschlagenden Versuche mit ausgehöhlten Holzcylindern und spiralförmigen, mit Seide ausgesponnenen Metalldrähten nicht verlangen; allein das neueste Resultat des Elektromagnetismus kann ich nicht übergehen, nämlich die Aussicht, durch diese Entdeckung eine Kraft zu gewinnen, welche die des Dampfes noch bei Weitem übertrifft und in ihrer Anwendung auf die Mechanik weit wohlfeiler ist, als die Hülfsapparate von Eisenbahnen, welche man braucht, um dem Dampfe die freie Entwicklung seiner freilich ausgezeichneten Kraft zu geben. Wie man hört, soll, um die elektromagnetische Friktion auf die beschleunigte 258 Fortschaffung von Lasten anzuwenden, es nur noch an einem äußeren Gestell, an einem passenden mechanischen Träger jener Kraft fehlen. Erfindet man diesen, so werden alle unsere Eisenbahnen überflüssig, so haben unsere Aktionäre derselben keine Steigerung ihrer Dividenden mehr zu erwarten.

Die Physiker und Chemiker haben in neuerer Zeit durch Mischung von Sauerstoff und Wasserstoff sogar der Natur ins Handwerk fallen können. Sie haben Glimmer, Hyazinthen, Hornblenden durch jene Mischungen niederschlagen können und dadurch auf die Theorie der Erdbildung ein aufklärendes Licht geworfen. Freilich sind diese Resultate nur theoretischer Natur und gehören in die Vorhallen der Systeme. Doch mancher andere Fortschritt, z. B. der erst neuerdings erfundene Chlorkalk, lassen sich schon mit vielem Erfolge auf manche Fabrikationszweige anwenden. Die Laien sind mit dem Chlorkalk bekannt genug geworden, als die Cholera heranrückte, und man ihre Natur für eben so ansteckend hielt wie die asiatische Pest. – Endlich haben im Bereiche der Optik die Naturforscher dieser und der kaum vergangenen Zeit außerordentliche Fortschritte gemacht. Brew­sters und Wollastons Entdeckungen sind in die Werkstätten der Techniker übergegangen. Die Kunst, das Glas achromatisch zu schleifen, stieg in England und Deutschland bis zu einer außerordentlichen Vollkommenheit. Ja, ist die Blüthe der Naturlehre nicht die Farbe, des Regenbogens bunte Mannigfaltigkeit? Wie schön und 259 wahr, daß ein deutscher Dichter, der seine Beobachtungen und Empfindungen gern an das Maß gegebener Zustände anknüpfte, in den Tempel der praktischen und technischen Natur nur durch jene krystallinische Prismapforte trat, durch welche die Sonne ihre sieben Farben bricht? Über die Farbe und das Licht kann der am chemischen Laboratorium gebräunte Praktiker nicht urtheilen; wie es in jeder Wissenschaft einen Seitenweg gibt, z. B. in der Theologie, in der Rechtsgelehrsamkeit, ja sogar in der Medizin, wo Theorie und Experiment nicht mehr ausreichen, sondern der Laie und Dilettant oft tiefer und wahrer blickt, als der Mann vom Fach.

Noch bei Weitem großartiger entfaltete sich der Erfindungsgeist der neueren Zeit in Zusammensetzung mechanischer Hülfs­mittel für die Industrie. Die Kraft des Dampfes kam hinzu und konnte als Herr und Meister über die neuen Schöpfungen des Scharfsinnes gesetzt werden. Das Maschinenwesen hat, weil es natürlich eine Menge von Handarbeitern außer Brod setzte, viel Widerspruch gefunden. Allen diesen Gegnern stellte Lord Broug­ham in seinen Resultaten des Maschinenwesens eine lichtvolle, jedermann verständliche Vertheidigung entgegen. Es ist in dieser Schrift von der Stecknadel an bis zur komplizirtesten Produktion der höhern Industrie der Beweis geführt worden, daß durch den Satz von der Theilung der Arbeit die Arbeit selbst leichter, wohlfeiler und besser geliefert werden könne. Die roheste Widerlegung einer solchen Schrift ist die der Tumultuanten 260 von Spitalfield. Die Maschinen zertrümmern, heißt allerdings in einem gewissen Sinne ihre Unbrauchbarkeit beweisen. Uebrigens legt sich allmählich diese Feindschaft gegen das Maschinenwesen. Daß die Frage einen moralischen Gesichtspunkt hat, berührten wir schon im vorigen Kapitel, wo wir die Staatsmänner auf­­forderten, auf eine weitere Ausgleichung der Interessen des forschenden Verstandes und der zurückbleibenden, darauf abgelernten technischen Unbeholfenheit bedacht zu seyn.

Eine Erfindung in der Maschinenkunde, an der man recht sehen kann, daß, wo einmal ein Bedürfniß vorhanden ist, auch die Natur oder der menschliche Verstand die Mittel aufzufinden weiß, es zu befriedigen, ist die Schnellpresse der Buchdrucker. Welch ein Kontrast zwischen der alten Guttenbergischen Holzpresse und dem durch die politischen Begebenheiten bis in das unterste Volk geweckten Sinn für Oeffentlichkeit! Schon ein Werk, wie die Bibel, in jener alten, die Bogen Papier wie in Windeln einwickelnden Methode zu drucken, welch’ eine Weitläufigkeit! Und nun diese tägliche Volkschronik, welche durch das Bedürfniß, sich belehren zu wollen, durch die Neugier nach Staats- und Gelehrtensachen, durch die Nothwendigkeit, von seinem Geschäfte und dessen Leistungen die Bekanntschaft zu verbreiten, sich zusammensetzt; nicht nur diese Fluth von Zeitungen, sondern noch mehr die ungeheure Zahl von Abnehmern, die sich für den Werth einer Einzigen unter ihnen entscheiden; hier konnte die alte Methode nicht mehr bleiben; 261 die neue war so thatsächlich nothwendig, daß sie sich gleichsam von selbst schuf. Ehe man noch den rechten Gedanken fort hatte und ihn später auch durch die Dampfheizung vervollkommnete, war man genöthigt, eine Zeitung, die unter Napoleon zwanzig bis dreißigtausend Abonnenten hatte, zwei- dreimal zu setzen, weil man sonst den Tag und die Minute, wo der Abonnent seine Zeitung haben will, und die Konkurrenz sie auszugeben gebietet, nicht einhalten konnte. Warum hat die Gelehrsamkeit noch nie anerkannt, daß der wahre Stein der Weisen, ein Metall, und zwar das Blei, ist? Die beweglichen Lettern gaben der Wissenschaft erst die Garantie ihrer Dauer, und das Dunkel eines neuen Mittelalters könnte erst dann wieder über Europa hereinbrechen, wenn sich vielleicht die Masse des gedruckten Papiers, was zu befürchten steht, zu einer solchen Ueberfluthung steigern sollte, daß das menschliche Auge überall nichts als Bücher und Papier erblickend, sich bis zur Unempfindlichkeit abstumpfte gegen etwas, das ihm massenweise geboten wird. Ich fürchte immer, daß die Zeit, wo am meisten gedruckt, immer auch die ist, wo man das Wenigste lesen wird. Ist erst die Wissenschaft und die Aufklärung, ist erst die Literatur, selbst in ihren schönen und graziösen Bewegungen, etwas, das den Reiz der Neuheit und des Außerordentlichen verloren hat, dann sind wir auf jenem Punkte, der mir die traurigste Periode von allen zu verkündigen scheint, in der Barbarei der Ueberkultur. Ich höre demnach mit Freuden von Buchhändlern und 262 Buchdruckern, daß es noch immer Werke gibt, welche ihre Bestimmung nicht verfehlen, und doch nicht nöthig haben, mit Dampf gedruckt zu werden.

Im Alterthum war die Wirkung des Dampfes die der Begeisterung. Pythia, umnebelt von den aus einem unsichtbaren Ofen her­aufströmenden Weihrauchwolken, sprach über Griechenland hin ihre räthselhaften Distichen, wo hölzerne Mauern Schiffe bedeuteten, und die Ungewißheit des Schicksals in der ungewissen Stel­lung einer negativen Partikel lag. Im Mittelalter wüßte ich nicht, daß man vom Dampfe Nutzen oder Aufklärung gezogen hätte. Erst die neue Zeit brachte es heraus, daß Dämpfe die Aetherisirung der Flüssigkeiten und eben so viel Expansivkraft, wie diese selbst, haben. Der Gedanke, Lasten durch die konzentrirte Kraft des Dampfes fortzutreiben, gehört, wie andere großartige Gedanken, der Mitte des vorigen Jahrhunderts an. Bis zur Vollkommen­heit wurden jedoch Dampfwagen erst in neuerer Zeit gebracht. Dampfpferde sind jetzt Maschinen, die kein Heu oder Hafer fressen, sondern Steinkohlen, und denen man sogar die Kraft nahm, in ihrer Art auszuschlagen oder durchzugehen, durch die Erfindung der Sicherheitsventile. Mit den Dampfwagen verbanden sich die Eisenbahnen, welche gleichfalls, ihrer Idee nach, schon älter als ein Jahrhundert sind. Man wußte längst, daß, je ebener die Bahn, desto größer die Zugkraft der Pferde ist. Die Kunststraßen aus Quadersteinen gingen den Eisenbahnen voran. England baute zuerst gußeiserne Schienenwege, 263 und hat dadurch nicht nur der Industrie und dem Handel der Heimath einen außerordentlichen Schwung gegeben, sondern auch auf dem Kontinente Nachahmungen, Prüfungen, ja sogar Chimären über die neue Idee veranlaßt. Die Franzosen sind in der Prüfung stecken geblieben, die Deutschen in der Chimäre. Wenn man den Mit­theilungen Reisender glauben kann, so soll dort der Eisenbahnschwindel die Stelle der daselbst so vielfach von der Regierung befürchteten Revolution eingenommen haben. Die Deut­schen, von jeher gewöhnt, Alles, auch das Ungesetzliche, auf eine gesetz­mäßige Weise zu betreiben, haben die Eisenbahnen wie Emeuten betrieben, es war für sie eine Revolution, die kein Blut kostete, und die in dem Augenblick, wo wir dieß schreiben, sogar schon beschwichtigt ist und ihren achtzehnten Fructidor gefunden haben wird. Der Franzose hat in der Eisenbahnenfrage wohl gefühlt, wie außerordentlich groß deren Wichtigkeit für das Zeitalter ist. Der Franzose hat sich sogar nicht verschweigen dürfen, daß, wenn ir­gend etwas, so die Eisenbahnen sein Centralisationssystem begünstigen. Dennoch haben sich die Franzosen gegen die Einführung derselben gesträubt und dabei, meines Erachtens, einen be­sondern Zug ihres Nationalcharakters verrathen. Man kann nicht sagen, daß der Franzose sehr geschickt ist, er hat Esprit, aber kein großes technisches Talent. Er erfindet leicht, er be­greift auch leicht, aber nur in dem Fall, daß sein eigenes Verständniß und seine flackernde Kombination der Darstellung eines Experimentes, welches 264 man ihm vormacht, entgegen kömmt. Der Gedanke, eine Civilisationsfrage nur nicht blos nach­ahmend anzu­greifen, sondern sie vielleicht gänzlich zu verfehlen, hat die Franzosen zweideutig gegen die Eisenbahnen gestimmt und dadurch Veranlassung gegeben, daß man den Lichtseiten des Eisenbahnsystems auch eine Schattenseite gegenüber stellte. Frankreich gibt vor, durch Eisenbahnen aller finanziellen Kontrole beraubt zu werden. Eine Eisenbahn zwischen Brüssel und Paris würde ohne eine Handelsverbindung mit Belgien und eine Aufhebung des höchst einseitigen, auf den Vortheil einiger privilegirter Kasten berechneten Prohibitivsystems gar nicht denkbar seyn. Ein französischer Schriftsteller, der sonst nur für einen entschiedenen Anhänger aller akademischen Einseitigkeit Frankreichs bekannt ist, Herr Nisard, hat mit viel witziger Laune die Verlegenheiten dargestellt, in welche der französische Handelsegoismus durch die Brüsseler Eisenbahn gerathen würde. Kontrole auf der Grenze wäre nicht mehr möglich, da durch einen solchen Aufenthalt der Zweck der Eisenbahnen, die Schnelligkeit, ganz verfehlt wäre. Eine Kontrole kurz vor Paris würde eben so schwie­rig und unfruchtbar seyn, da es eine ganze Karavane von Wägen, einige hundert Koffer und Mantelsäcke und eben so viel Passagiere zu untersuchen geben würde.

Eine andere Besorgniß gegen Einführung der Eisenbahnen ist noch thörichter, die nämlich, daß der Zeitgeist mit allzugroßer Schnelligkeit sich würde zu verbreiten 265 anfangen können. Man hat dagegen geltend gemacht, daß ja dann auch wieder die Regierungen den Vortheil haben würden, Reaktionsmaßregeln mit desto größerem Nachdruck zu ergreifen. Vermittelst einer Eisenbahn kann leicht ein ganzes Armeekorps im Fluge von Ungarn nach Italien und von Rußland an die Grenzen der Schweiz versetzt werden. Rechnet man hinzu, daß dasjenige, was sich für die Revolution durch die Eisenbahnen beschleunigen würde, doch immer nur das Gerücht einer irgendwo ausgebrochenen Ex­plosion seyn kann, so stehen die Regierungen, über ihre materiellen Kräfte gebietend, auch hier nur im Vorsprunge.

Melancholischer sind die Besorgnisse derjenigen poetischen Gemüther, welche sich überhaupt vor der Verbreitung des Dampfes und der industriellen Aufklärung fürchten. Diese phantastischen Seelen werden bei Einführung der Eisenbahnen jenes däm­mernde Helldunkel vermissen, welches auf dem Begriffe der lokalen Entfernung liegt. Es geht ihnen durch den Gedanken, hier zu frühstücken und 20 Meilen weiter schon zu Abend essen zu können, eine Illusion verloren. Die Schönheit der Gegenden verschwindet; poetische Wanderschaften durch Gebirgsgegenden mit Hemmschuhen und allenfalls zerbrochner Axe werden undenkbarer. Diese poetischen Gemüther haben demnach die kindische Vorstellung, die ganze Welt werde sich hinfort nur auf Eisenbahnen bewegen und kaum noch einen schattenreichen Platz im nah gelegenen Wäldchen suchen oder des 266 Sonntags über Land gehen. Sträubt euch nicht, ihr romantischen Herzen! England hat der Eisenbahnen bereits so viele, daß Handel und Industrie dadurch in den blühendsten Aufschwung versetzt sind, und dennoch werdet ihr Gentlemen und Ladies sehen in Italien und der Schweiz, welche des Morgens um 2 Uhr aufstehen und mit erfrorener Nase unter dem Schutz einer Laterne die Berge besteigen, um die Sonne aufgehen zu sehen. Blickt nur umher auf dem Continente! Die Engländer sind vom Dampfe so überwältigt, daß er ihre Städte und Wohnungen mit dichten Wolken bedeckt, und doch werdet ihr selten einen Palast in Italien, einen Thurm in Deutschland, eine Kuh in der Schweiz finden, wo sich nicht in einiger Entfernung eine englische Dame mit ihrem Crayon hingepflanzt hat, um den poetischen Moment in ihrem Album zu verewigen. Wer weiß es zuletzt, ob der Zucker, der in unserm Thee schmilzt, von indischem Rohre oder von der Runkelrübe kam? So lange die moderne Aufklärung uns noch nicht Nachtigallen gebraten auf den Tisch setzt, wollen wir ihre Fortschritte nicht verdächtigen, wenn ich auch aufrichtig gestehe, daß es mir in manchen Gegenden schon unmöglich wird, durch das Feld zu streichen und mich des Gesangs der Lerche zu erfreuen, des unausstehlichen Gestankes wegen, welchen die Natur seit der leidenschaftlichen Verbreitung des landwirthschaftlichen Dungprin­zi­pes ausathmet.

Nein, nicht Alles kann Maschine werden! Aus 267 Genfer Ta­schenuhren lassen sich keine menschlichen Herzen machen; Auto­maten werden niemals, wenn wir sie auch auf den Markt schicken können, an unsern Versammlungen und Bestrebungen Theil nehmen. Man lasse dem erfindenden Menschengeiste den freisten Spielraum. Gibt es eine größre Aufgabe, als der Natur ihre geschickten Handgriffe abzulauschen und sie, die launische, gedankenlose und bald ermüdete, durch menschlichen Eifer, Rath und die Ausdauer seines Geistes, welche die Ausdauer der schwachen Hände stärkt, noch in ihren Gebilden zu übertreffen? Die Natur besitzt so außerordentliche Reichthümer, so große Gesetze und Erfahrungsthatsachen und achtet sie ihrer angebornen Trägheit und Unbeholfenheit wegen so wenig. Sie ist einer Trödlerin zu vergleichen, welche unter ihren alten Schildereien Gemälde von Tizian besitzt, ohne sie zu kennen. Die Natur verschleudert Alles; sie gibt Alles um denselben Preis her, ja das Kleine schlägt sie oft höher an, als das Große. Die Menschheit geht auf das, was größre Anstrengung kostet; sie arbeitet aus Ehrgeiz Zwecken nach, an welche die Natur viel Gefahr geknüpft hat, und die doch von weit geringerm Werthe sind, als andre, die offen auf der Hand daliegen, und bei denen man nur zugreifen sollte, um bei jedem Griffe Gold zu entdecken. Glaubt ihr denn, daß alle jene scharfsinnigen Gesetze und Combinationen, welche der moderne Erfindungsgeist der Natur zu entbeuten weiß, die Menschheit von der sinnigen Betrachtung göttlicher Fügungen 268 entfernen müsse? Freilich, wenn man sich gewöhnt hat, seine Begriffe über Gott und den Weltzweck gänzlich an die Natur anzuknüpfen, da muß wohl die Furcht vor dem Ewigen schwinden, wenn man die Natur in ihren Geheimnissen überrascht und sie zwingt, der kecken Neugier des Menschen Rede zu stehen. Aber die Natur ist nichts Ewiges, sie ist zwar das Abbild göttlicher Begriffe, aber nicht die äußere, dem Innern gänzlich entsprechende Form derselben. So sollten auch alle Fortschritte der neuen Erfindungskunst dahin benutzt werden, in den mathematischen, harmo­nischen Kräften der Natur, in ihren jetzt erst aufgelösten Entwicklungen der Materie diese Anknüpfungspunkte nachzuweisen, wo man durch die Ritzen der Natur hindurch in den göttlichen Ursitz ihrer Schöpfung blicken kann. Alles, was in der Natur Gesetz und Regel ist, ist Nachklang und stärker oder stiller hallendes Echo heimlicher in der Ferne rufender Gottestöne. Und so kann die Natur, weit entfernt, in ihrer Ausbeutung nur zur Verbreitung eines gottfeindlichen Materialismus zu dienen, weit mehr die Begründung einer innigern und darum um so stärkern Religion werden, als sie mit den Fortschritten unsres rastlos strebenden Verstandes einen und denselben Schritt hält. Jetzt triumphirt man noch über die Natur, indem man sie durch unsre großen Entdeckungen und Erfindungen zu demüthigen glaubt; allein wenn wir erst auf den Punkt gekommen sind, nach welchem sich alle philosophische Betrachter unserer Zeit sehnen, daß das Christenthum, 269 daß unsre positive Religion und Kirche sich mit den Bedürfnissen des Augenblicks und dem jetzt im Schwange gehenden Geiste der Zeiten verständigt, dann wird gerade die Natur, gerade unser Materialismus, gerade unser aufklärerischer Verstand wieder die Pforte seyn, durch welche wir in das innere Heiligthum der Gottheit dringen.

270 Das Leben im Staate.#

So wie man zugibt, daß der Mensch zur Geselligkeit geboren ist, so muß man auch zugeben, daß das Leben im Staate seine natürliche Bestimmung ist. Denn man braucht das Prinzip der Geselligkeit nur festzuhalten, auszudehnen, durch die Wiederkehr ihrer Bestimmungen zur Gewohnheit zu machen, so sind auch alle Anfänge des Staates gegeben, so vertauscht der Mensch seine allgemeine Bestimmung mit der des Bürgers. Noch weniger kann man sich dem Staate entziehen, wenn man mitten in seinen Vorschriften und Wohlthaten geboren ist, wie es denn nichts Vergeblicheres gab, als die Bemühung eines Bekannten von mir, der den Staat gleichsam umgehen wollte. „Sehen Sie,“ sagte dieser Mann, als er sich von seinen Bestrebungen den besten Erfolg versprach, „ich halt’ es für die größte Thorheit, den Staat zu bekämpfen. Wenn wir schon im gemeinen Leben unsre Verachtung und unsern Haß recht grell und empfindlich ausdrücken wollen, so pflegen wir den Gegenstand dieser Leidenschaften am besten zu ignoriren. Der Zurückgesetzte und Verachtete fühlt sich tiefer gekränkt, 271 als der, welchen man bei aller feindlichen Stellung doch immer noch der Mühe für werth hält zu bekämpfen. Sich um den Gegner gar nicht kümmern, das verbittert ihm das Leben weit mehr, als wenn man es ihm durch fortwährenden Kampf noch so sauer macht.“

Bitter oder sauer, entgegnete ich, wie kommen Sie nur darauf, eine so entschiedene Feindschaft gegen den Staat zu nähren?

„Das gehört nicht zur Sache,“ erwiederte er, „ich bin ein entschiedener Anhänger jener Tendenzen, bei deren Vertheidigung Molesworth im Unterhause leider nur über so wenig Stimmen zu gebieten hat. Allein ich halt’ es für gänzlich falsch, sich mit einem Staate, dessen Einrichtungen man verachtet, auch noch weitläufig abzuquälen; ich umgehe den Staat. Ich kümmere mich zwar um seine Verbote, damit ich seiner Jurisdiction nicht anheim falle; aber Alles, was er anempfiehlt, Alles, wozu er eine moralische Bereitwilligkeit bei seinen Gliedern voraussetzt, läßt mich kalt und kümmert mich nicht. Weil mir der Zustand der Dinge, wie er jetzt ist, mißfällt, so brauch’ ich doch nicht gleich Hand anzulegen, ihn zu verbessern. Zuletzt, mein Freund, Demokratie oder Aristokratie, es bleiben immer dieselben lästigen Zwangs­vorschriften, durch welche man uns zu den Rädern einer Maschine oder zu den willenlosen Pflanzen eines Organismus machen will, in welchem ich durchaus nichts Natürliches sehe.“

Damals hätte der Widerspruch diesen Mann nicht 272 einmal erbittert; hätte er Feuer gefangen, er würde geglaubt haben, dem Staat einen Dienst zu leisten. Er schwieg, ich schwieg und dachte, daß, wenn man freilich die Menschen zu einer Uebereinkunft in diesem entsagenden Sinne vereinigen könnte, dadurch den öffentlichen Angelegenheiten ein Nachtheil zugefügt werden könnte, den sie bald empfinden würden. Inzwischen war das, was jener Mann wollte, unmöglich. Man kann den Staat nicht vermeiden, er begegnet uns überall.

Hören wir jedoch, wie es jener selbst im Lande exilirte Patriot einige Jahre über machte. Er sah wohl ein, daß er sich gewissen Ansprüchen, z. B. den Geldsteuern nicht würde entziehen können. Deßhalb machte er mit einem seiner Pächter auf dem Lande den Vertrag, daß er ihm eine bestimmte Summe Geldes überlassen wollte, womit er stillschweigend seine ganze Existenz- und Steuerpflichtigkeit bestreiten könnte. Dieß ließ sich machen. Er entsagte einigen Lieblingsgewohnheiten, deren Ersparniß sich ge­rade so hoch belief, als die Contribution, die er jährlich an den Staat zu liefern hatte. So konnte er sich überreden, daß er dem Staate nichts leistete, als Entsagung, eine Münze, die auf ihrer andern Seite das Gepräge der Verachtung trug. Er gab auch seine politischen Rechte auf; ob Whig oder Tory in den Gemeinderath kam, kümmerte ihn nicht. Wenn seine Grafschaft den Poll für die Parlamentswahl eröffnete, so belächelte er das Gewühl 273 der sich streitenden Parteien, steckte die Hand in den Brustlatz und behielt seine Stimme bei sich, selbst wenn er damit für die Wahl eines Reformers den Ausschlag hätte geben können. Er ging in keine Kirche, weil er überzeugt war, daß die Religion nur um des Staates willen erfunden wäre. Er wies jede Beziehung zu öffentlichen Dingen zurück, las keine Zeitungen, keine Broschüren und wußte entweder wirklich nicht mehr, welcher Meinung dieser oder jener Staatsmann angehörte, oder affektirte, es nicht zu wissen. Er gestand, nicht mehr zu wissen, ob Wellington für die königliche Prärogative oder für das Volk stimme. Es machte ihm Vergnügen, von Robert Peel so zu sprechen, als hielt er ihn für einen ostindischen Missionär. Lord John Russel wird für die Appropriation auftreten, sagte man ihm einmal. Für die Aneignung? frug er; ist da schon wieder ein Advokat aufgestanden, der den Diebstahl vertheidigen will? Er erklärte in einer Gesellschaft, den Unterschied zwischen dem Ober- und Unterhause vergessen zu haben. Es sey ihm auch so wenig d’ran gelegen, daß ihm weit lieber wäre zu wissen, wie die Herzogin von New-castle ihre große Katze nenne. Kurz, in dieser Weise hatte er sich einen Wahnsinn angeeignet, in welchem eine consequente Methode, den Staat zu verachten, die Oberhand hatte.

Sey es nun aber, daß ihn die lange Weile oder die Nothwendigkeit, seine Zeit zu zerstreuen, trieb; er wurde ein großer Fußgänger, ein Sportsman, der nie Milzstechen 274 bekam. Man machte ihn allmählich darauf aufmerksam, daß ihn gerade die Natur darauf hinführen müsse, den Staat und die Gemeine anzuerkennen, wenigstens die englische Natur, die nicht Gott und der Welt, sondern diesem oder jenem Herzog, diesem oder jenem reich gewordenen Advokaten oder Baumwollenspinnerssohne ge­höre. Wie viel Gänge oder Gehäge sind nicht dem Fußgänger verboten; wie viele Inschriften an den Tafeln und Strafandrohungen müssen nicht gelesen werden, wenn man sich nicht einer Pfändung aussetzen will! „Ich lese diese Tafeln nicht,“ war die Antwort. „Dann werden sie schon einmal irre gehen.“ Er schwieg und einige Wochen darauf erfuhr man, daß ihn der Richter in einer kleinen Gemeinde hatte einstecken lassen, weil er nach vielfachen, die Ruralgesetze beleidigenden Contraventionen doch immer wieder über Wege ritt, die für Menschen schon zu eng waren, oder er sonst den Frieden und die Ordnung des Waldes und des Feldes störte. Der allgemeine Spott über diese Berührung mit dem Staate ärgerte ihn; er verließ England und reist noch gegenwärtig auf dem Continente herum, nachdem er erklärt hat: wenn ihm die Institutionen verböten, ein abstrakter Mensch, und seine Liebe zu England, ein Kosmopolit zu seyn, so glaube er doch wenigstens als Tourist der Unabhängigkeit von politischen Satzungen am nächsten zu kommen.

Der Mensch wird in den Windeln des Staates geboren und mit den Tüchern des Staates wird sein 275 Sarg wieder in die Erde gesenkt. Der Staat schlägt seine liebenden Arme um ihn, seine vorsorgenden, seine schützenden, seine tyrannischen; er gibt ihm und nimmt; er liebkost und demüthigt ihn. Er bietet dir Alles an und versagt dir Alles; der Staat beherrscht nicht blos unsre physischen Kräfte, unsern Arm und unsre Geldmittel, sondern in die feinsten Poren unseres Geistes dringt er ein und läßt uns keinen einzigen Begriff bilden, der nicht durch seine Atmosphäre erst Dauer und praktische Consistenz erhält. Wir können uns mit Gott allein fühlen; allein mit unsrer Liebe. Wollen wir aber an unsren Freuden Genossen finden, so nimmt jede unsrer Bewegungen durch diese Gemeinschaft eine eigenthümliche Beugung an. Alle unsre Vorstellungen sind durch den Staat, welcher uns gefesselt hält, relativ geworden; ja selbst in Nordamerika, wo man so wenig auf den Staat gibt und ihn immer nur als das letzte anerkennt, hat sich doch diese Gleichgültigkeit auch aller sonstiger Gemüths- und Geistesvorstellungen bemächtigt und ihnen ein Gepräge gegeben, welches, wie verschieden es auch von den öffent­lichen Thatsachen zu seyn scheint, doch mit ihnen ganz den­sel­ben Ursprung und Charakter trägt.

All unser Stolz, alle die großen Ideen, von welchen sich unsre Zeitgenossen jetzt getragen fühlen, all’ unsre Debatten sind politischer Natur. Eine merkwürdige Erscheinung! Wenn man im Alterthum vom Fortschritte der Zeiten sprach, so dachte man an die Ausbildung 276 der Philosophie; wenn das Mittelalter eine neue Zukunft predigte, so war es bei Mystikern die kommende Herrlichkeit Gottes, bei Rationalisten der Fortschritt in Bereicherung der Wissenschaften und Wiederbelebung des Alter­thums; alles Große, was die Reformation träumte, war auf die Enthüllung himmlischer Geheimnisse gerichtet, auf den Sieg der Vernunft und die Reinigung des Glaubens, kurz, alle vergangenen Zeiten knüpften ihre Bestrebungen an die Eroberung des Himmels an und drangen nach der Enthüllung Gottes und seiner Geheimnisse. Ganz anders ist das Ideal unsrer Zeit. Sie gibt die Ewigkeit preis als etwas, das von selbst kömmt oder auf sich beruhen möge, und sucht sich nur auf die Lösung jener Aufgaben, welche rein irdischer Natur sind, zu beschränken. Der Staat, das Bürgerthum, die Gemeinde, um diesen Gleichmesser der politischen Begriffe drehen sich alle Meridiane unserer Wünsche und Hoffnungen. Während die Vergangenheit alle Dinge zu erfassen suchte, haben wir uns nur eine einzige Aufgabe gestellt, eine solche freilich, zu deren Lösung wir alle Spitzfindigkeiten unsres Verstandes und alle Leidenschaften unsres Herzens aufbieten. Das sind die zwei großen Fragen, welche gegenwärtig im Streit mit einander liegen. Soll der politische Gedanke unsrer Zeit in eine allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Vollständigkeit erweitert werden; oder soll dieser Gedanke beschränkt werden auf ein einfaches Axiom der Rechtsgelehrsamkeit? Nicht Revolution, nicht Reaktion, 277 Whiggismus oder Torysmus, linke oder rechte Seite, oder was man sonst für Ausdrücke hat, um die Richtung der Gemüther und Tendenzen unserer Zeit zu bezeichnen, entscheiden die Bestimmung dieser Zeit, sondern nur die beiden Gesichtspunkte: Soll die politische Frage auf eine rein juristische reducirt oder auf eine allgemein menschliche ausgedehnt werden? Freiheit und Tyrannei, Stoß und Gegenstoß, Vor- und Rückwärts kommen hier nicht mehr in Betracht. Denn was will man sagen? Die Ideen von Wahrheit und Recht stehen zu licht am Firmament unseres Himmels, zu deutlich in jedes Menschen Brust, als daß Männer wie Ferdinand der VII., Polignac, Wellington, die ganze Reihe der Liberticiden als etwas Andres betrachtet werden können, denn als Spreu, welche der Wind verweht. Um jene beiden Fragen, welche wir so eben als den Süd- und Nordpol unsrer Zeit betrachtet haben, richtig an sich und tüchtig durch uns zu lösen, bedarf es gleich redlicher Kräfte, bedarf es gleich freier Gesinnungen, bedarf es gleich unbefleckter und bestechungsloser Hände; die Entscheidung jener beiden Fragen ist nicht auf der Wagschale eines bessern oder schlechtern Willens, sondern der richtigen Ueberzeugung auf der einen Seite des Zufalls und der göttlichen Fügung auf der andern gelegen. Sollen wir den jetzt so sehr in Frage gestellten Bürger gänzlich emancipiren, sollen wir ihm alle jene juristische und staatsrechtliche Freiheit geben, nach der er sich sehnt? Oder sollen wir die politische Debatte in dieser engen Abzirkelung für 278 unwürdig erklären, die Ideen eines ganzen Zeitalters auszufüllen, und ihnen eine Erweiterung geben über alle Interessen der Menschheit hin, eine Lösung nur in harmonischer Uebereinstimmung mit allen übrigen Pflichten und Rechten, welche uns nicht nur als Bürger dieser, sondern auch als die Erben jener Welt bezeichnen?

Fragen dieser Art kann man nicht erörtern; man kann sie nicht mit Für und Wider dialektisch hin und her werfen, sie lassen sich nur andeuten und festhalten, wie die fliegenden Momente einer räthselhaften Gemüthsstimmung. Das Unterpfand aller ewigen Ideen liegt in der Unfähigkeit, mechanisch manipulirt zu werden, so und so, mit Vorder- und Nachsatz, mit Anfang, Mittel und Ende. Wir wollen hier nur bei der ersten Wendung des von uns angeregten Gedankens stehen bleiben und das Leben im Staate größtentheils nur als eine Einzelfunktion des menschlichen Daseyns im Auge behalten. Wir betrachten den Staat zuerst in seinen innerlichen und sodann in seinen äußerlichen Beziehungen.

Ein Bürger des Alterthums zahlte Steuern, versah aber auch Kriegsdienste. Die Alten trieben kein Gewerbe und bedienten sich auch für den Ackerbau nur der Sklaven. Sie waren Grundbesitzer, Eigenthümer, Unternehmer, sie widmeten nur den geringsten Theil ihrer Muße ihrer Existenz und den bei Weitem größern den Angelegenheiten des Gemeinwesens. Bald gab es Priester, bald Präfekten, bald Feldherren zu wählen. Sie kannten den Namen des Bürgers nicht ohne ausschließliche 279 Beziehung auf den Staat. Selbst die Religion war ihnen eine politische Pflicht, so daß Sokrates, des Atheismus beschuldigt, auch für einen schlech­ten Bürger angesehen wurde.

Der Bürger unsrer Zeiten ist vielleicht eben so vom Staat in Anspruch genommen, wie der des Alterthums. Allein er kömmt dem Staat weit weniger entgegen, er fühlt sich weit weniger in seinem Zusammenhange. Er sucht dem Staate nicht selten zu entschlüpfen und hält ihn weit öfter für das Hinderniß seiner Freiheit, als für das natürliche Organ derselben. In Monarchien, welche nach unumschränkten Gesetzen regiert werden, ist der Horizont eines Bürgers kaum über die Lokalität, welche er bewohnt, ausgedehnt. Er ist Unterthan in Beziehung auf den Staat und Bürger in Beziehung auf die Gemeinde. Wenn in solchen Staaten ein dicker Viehmäster ausruft: Herr, ich bin Bürger! so soll das nur so viel heißen, als: Ich zahle meine Steuern, die Schlachtsteuer, die Tranksteuer, die Accise, das Patent, kurz, der Mann findet seinen Stolz darin, andern Leuten zu – gehorchen. Welcher absolute Staat auch so glücklich ist, eine etwas freiere Munizipalverfassung zu besitzen, der gibt mit dem Bürgerrechte, das man wohlverstanden nicht durch die Geburt, sondern nur durch ein Patent erhält, zugleich damit die Erlaubniß, für sich selbst zu sorgen, die Beleuchtung der Stadt aus eignem Beutel zu bezahlen, die schlechten Straßen pflastern zu lassen, auch wohl eine Kirche, wenn sie zu eng ist, auszubauen. 280 Kurz, dieses Munizipalbürgerthum in den absoluten Staaten soll sehr kostspielig seyn. Dafür ist es aber auch mit einem gewissen Scheine von Freiheit verbunden, von Freiheit über jene Wiesen und Gär­ten, welche rings das Weichbild der Stadt ausfüllen, Freiheit über die Meilenzeiger auf den Kreuzwegen, nach welchen sich die Reisenden in der Gegend zurecht finden können, Freiheit, die Armen des Ortes zu kleiden und zu speisen, kurz, alles das aus eigenem Antriebe und aus eigenen Mitteln zu thun, was, wenn es der Staat thun sollte, ihm eine Menge Geld und eine Unzahl Beamte kosten würde.

Das moderne Europa ist so sehr die Frucht des mittelalterlichen Feudalismus, daß dieser Begriff, welchen man mit dem Bürgerthume verbindet, dieser lokale Geruch, der an ihm haftet, eigentlich überall und selbst in jenen Ländern, deren Zukunft durch Verfassungen gesichert wurde, der herrschende ist. Der Franzose und Engländer verbindet die Vorstellung seiner politischen Rechte weit mehr mit dem Ausrufe: Ich bin Franzose, ich bin Engländer, als mit dem: Ich bin Bürger von Frankreich oder England; der Nordamerikaner dagegen sagt nie anders, als: Ich bin Bürger der Union. Beide, der Europäer und der Amerikaner, sind stolz genug, mit ihrem Ausrufe dasselbe ausdrücken zu wol­len. Nur findet der Engländer die Garantie seiner Freiheit weit mehr in dem Ruhm seiner Geschichte, in dem glorreichen Ge­dan­ken, einem Stamme und einer 281 gewissen Menschenrace an­zu­gehören, als der Nordamerikaner, welcher wohl fühlt, daß ihm das Gedächtniß an Vater und Mutter entschwunden ist und daß sich sein Ursprung weit mehr auf ein Findelhaus, als auf eine achtbare christliche Familie zurückführt. Der Nordamerikaner ist stolz auf die geschriebene Urkunde seiner Freiheit; der Engländer weniger auf den Buchstaben, als auf die freie lebendige Tradition seiner Rechte, denen zum größten Theil auch in der That keine geschriebene Quelle zu Grunde liegt. Uebrigens ist die Gewöhnung an den schwierigen Kampf, mit welchem sich der Europäer seine politischen Rechte hat erobern müssen, doch bei ihm so überwiegend, daß man wohl sagen kann: Der Eng­länder ist stolz auf das, was ihm erlaubt ist; der Amerikaner stolz auf das, was ihm nicht verboten ist; jener ist stolz auf alles, was er darf, dieser auf alles, was er kann. Jener pocht auf die vielen Rechte, die er hat, dieser auf die wenigen Pflichten, die man von ihm verlangen darf.

In allen Staaten, welche sich einer geschlossenen Natio­nalität und eines gewissen Grundstocks von Freiheit, den die Fürsten inne haben mögen, den sie aber nicht antasten werden, weil sie sonst von dem Volke, an welches sie den Grundstock ausleihen, keine Zinsen mehr ziehen, also in allen Staaten, welche sich des Fortschrittes im Lichte des Jahrhunderts bewußt sind, sind mit dem Bürgerthum einige Begriffe verbunden, welche unverjährliche Rechte ausdrücken. Wenn ein 282 Deutscher ausruft, und es mag in dem freisten seiner Bundesstaaten seyn: „ich bin ein Deutscher!“ so drückt er damit immer nur eine historische Erinnerung, ein moralisches Moment aus, keinesweges Civil-Ideen, die bei dem Ausrufe: ich bin ein Engländer, ich bin ein Franzose! sich von selbst verstehen. Hier ergibt sich nämlich immer die Nebenvorstellung: ich habe ein mit mir gebornes Anrecht auf jeden Vorzug, den die Oeffentlichkeit im Schooße unsrer Nation dem Einzelnen nur gewähren kann; ich habe das Recht, an den gemeinsamen Angelegenheiten, unter freilich mehr oder minder lästigen Bedingungen, Theil zu nehmen, ich gehöre einem Lande an, wo sich die Folgen jedes Ereignisses, welches ihm durch Gunst oder Ungunst zustößt, auch auf mich erstrecken; ich bin meinem Lande Aufopferung schuldig, kurz, ich besitze Rechte und Pflichten, welche sich wechselseitig die Wage halten. Kurz, dieser Ausruf: ich bin ein Engländer, ein Spanier, ein Norwege, ein Schweizer, ein Ungar! sind an die Stelle jenes antiken Bürger­stolzes getreten, den wir in dieser Schroffheit und Beschränkung nicht mehr verstehen können. Es müssen sich nationale Empfindungen, historische Erinnerungen und ähnliche Elemente jenem Bewußtseyn beimischen, welches jetzt die freien Glieder einer freien Staatsgemeinschaft emporhebt und schwebend trägt.

Ein Begriff, der sich dem antiken Bürger schon bei weitem nähert, ist der des modernen Wählers. Ja, ein Wähler ist ein Mann, der nicht blos, wie wir alle, 283 in dem moralischen Fluidum der Freiheit schwimmt, sondern der sie schon wieder als ein Privilegium für sich auf Flaschen zieht; ein Wähler nähert sich schon bedeutend jener antiken Beschränktheit, die an der Freiheit nicht die Rettung des Allgemein-Menschlichen, sondern die bloße Sicherheit des Bürgerlichen sieht. Ein Wähler will die Freiheit, aber nur für sein Land, für seine Provinz, für seine Stadt, für sich selbst, kaum für den, dem man seine Stimme gibt. So schrumpft der Gesichtskreis immer enger zusammen; das, was Befreiung seyn soll, wird die größte Sklaverei. Ist z. B. die Freiheit in der Hand des französischen Wahlcensus, der kaum dreimalhunderttausend Menschen zu den Constituenten des höchsten gesetzgebenden Körpers der Nation macht, nicht schon wieder ein Despotismus geworden, der, weil er der Despotismus der Leidenschaftslosigkeit, der Apathie und des geängsteten Reich­thums ist, weit unerträglicher werden kann, als die frische, vollblütige und gesunde Tyrannei meinetwegen eines Alleinherr­schers, der doch in allem, was er thut, Willen und Entschlossen­heit offenbart? Wenn man recht fühlen kann, wie die Alten, trotz ihrer grenzenlosen Freiheit, doch recht oft die Sklaven der Begriffe waren, welche sie mit ihr verbanden, so wird man auch fühlen können, wie sehr sich unsre neuen Wähler jenen atheniensischen Bürgern nähern, welche die Tugend des Aristides mit kleinen Schiefertäfelchen zur Stadt hinaus ostracisirten.

Ein Wähler in der Hauptstadt – ein Wähler in 284 der Pro­vinz – dieß ist die Aufgabe für einen Sittenmaler. Der erstere kann unmöglich so stolz werden, wie der letztere, weil doch wahrlich die Hauptstadt mancherlei Verhältnisse darbieten wird, gegen welche sich der stolze Wähler doch nur als ein unbeholfenes Organ eines fremden Willens fühlen wird. Die Aristo­kratie der Geburt, der Verwaltung, der Börse drängt jenen Bier­brauer zurück, welcher dem Staate eine außerordentliche Steuer­last contribuirt, und der auf der einen Seite abhängig ist von dem gemeinen Volk, welches seine Kundschaft bildet, und auf der andern Seite gern seine Frau, seine Kinder und besonders seine Tochter, die französisch spricht, Gedichte und sogar Gemälde macht, und sein Gesinde, seine Pferde mit dem des Staatsmannes oder Banquiers möchte wettei­fern lassen. Diese Leute haben selten einen festen politischen Willen oder erhalten ihn erst in Folge einer Zurücksetzung, wo sie sich gekränkt glauben und sich durch den Gebrauch ihrer Stimme für die erlittene Unbill rächen. Sie haben das Gute, daß sie der Bestechung schwer zugänglich sind, wenigstens jener gemeinen, welche einen Boten mit baarem Gelde in das Haus des Wählers schickt und sogar, wenn sie es verlangt, eine Quittung dafür fodern darf. Doch gibt es feinere Arten, auch die Unpartheilichkeit dieser Männer zu untergraben. Man kennt ihre Schwäche, ihren Wett­eifer mit der Aristokratie, man grüßt sie im Theater, man läßt seine Kinder mit den ihrigen schön thun. Kein entschieden ehrgeiziger Staatsmann 285 ist so auf die Dehors seiner Würde versessen, daß er nicht wenigstens seinem Ehrgeize zu Liebe zuweilen eine Ausnahme machen sollte und einen kleinen Abend geben, wo man die Familie eines bescheidenen, aber ehrlichen Gentleman zu sich einladen kann, ohne in Verruf zu kommen. Läßt es sich mit den Frauen und Kindern nicht thun, so versucht man vermittelst der Pferde zu Anknüpfungen zu kommen. Man besucht die Ställe Master Porters, man ermuntert ihn diesen oder jenen Apfelschimmel nach dem nächsten Rennen in Haymarket zu bringen; man verspricht sogar auf seinen Hassan oder seine gestreifte Stute Tulipane zu wetten, und sie dadurch in die Combinationen der pferdeliebhabenden Aristokratie einzuführen. Oder Master Porter hat sich einen neuen Wagen angeschafft, oder er hat auf seinen Land­gütern eine neue Düngermethode eingeführt; kurz, es gibt hier so viele Anknüpfungspunkte für den, welcher populär seyn will, und den, welcher schwach genug ist, sich düpiren zu lassen, daß der erstere nicht einmal zu studiren braucht, wie er dem letztern auf eine passende Weise beikommen soll.

In London sind diese Annäherungen freilich durch Gewohnheit und Vorurtheil außerordentlich selten; London selbst schickt die freisinnigsten Mitglieder in das Parlament. Dagegen sind die großen Boutiquiers in Paris, die Banquiers und Rentenbesitzer weit leichter erobert. Sie schicken nur Männer, die dem Ministerium ergeben sind, ja oft sogar Deputirte, die noch 286 ministerieller sind, als die Minister selbst. Man kauft in ihren Läden, man schmeichelt ihnen; man ladet sie bei Hofe ein und befördert sie durch Bestechungen, die etwas mehr nach unten gehen, zu hohen Graden in der Nationalgarde. In andern constitutionellen Staaten mag die Bestechung der Wähler in den Hauptstädten nicht minder glückliche Fortschritte machen; wenn dieselbe auch in den kleinen Residenzen Deutschlands schwie­riger seyn dürfte, weil daselbst jedes derartige Manövre sehr leicht verrathen würde und überdies die deutschen Souveräne zu viel Schroffheit besitzen, die sie mit der englischen Aristokratie sehr verwandt macht, deren Symbol auch ist: wir bleiben, was wir sind und mag die Welt darüber zu Grunde gehen.

Der Wähler in der Provinz ist je nach dem höhern oder ge­ringern Census des Staates entweder ein Fabrikenbesitzer, oder ein freier Eigenthümer, oder ein Gewürzkrämer, der zu gleicher Zeit auch den Apotheker des Ortes macht. In letzterm Falle besitzt der Wähler eine außerordentliche Rührigkeit. Er hält mit mehrern seines Gleichen in der Stadt zusammen eine Zeitung, welche des Morgens in der Stadt zirkulirt und des Abends im Klubb besprochen wird. Nicht selten, daß diese Gewürzkrämer die freisinnigsten Constituenten sind. Die Lebhaftigkeit ihres Geistes muß Nahrung und einen gewissen Schwung haben. Wo soll diese anders herkommen, als aus liberalen Begriffen, welche auflösen, niederreißen und überhaupt einer dialektischen Behandlung 287 fähig sind! Es bedarf schon einer ganz eignen Wendung der Dinge, wenn unser Gewürzkrämer die Sache der bestehenden Ordnung vertheidigen soll. Er muß dann ein kleines Gut haben, welches er von einem Pair des Königreichs in Pacht nahm; er muß an eine nahgelegene Gutsherrschaft Waarenlie­ferungen haben oder einen Sohn, der auf dem Colleg mit einem Seitenverwandten Peel’s Freundschaft geschlossen hat, und durch diesen dereinst eine Pfründe oder ein einträgliches Richteramt erwartet. In diesem Falle wird unser Gewürzkrämer eben so conservativ, wie im entgegengesetzten reformistisch gesinnt. In diesem Fall hat er gleichfalls seine Klubbs, die ihm blind ergeben sind, und dann noch weit mehr, wenn er mit geheimnißvoller Mie­ne sie grüßen kann und erzählen, er hätte einen Brief aus dem Colleg bekommen und sein Sohn hätte darin etwas fallen lassen, was ein geschickter Wähler wohl aufheben müsse. Kurz, hier geben persönliche Verhältnisse die Entscheidung und können die Gesin­nung so lange aufrecht erhalten, bis einige Tage vor der entschei­denden Wahl ein Wagen vor das Haus gefahren kömmt, der Händedruck, Stimmzettel und Geld bringt. Man kann es nicht verschweigen, die Allgemeinheit des Stimmrechts in England hat große Vorzüge vor dem privilegirten Wahlcensus in Frankreich; allein es bahnt der Bestechung in einem Grade den Weg, wie in Frankreich, wo nur Begüterte wählen, dieß wenigstens auf plum­pe und ganz materielle Weise nicht möglich ist. Freilich hat auch die französische 288 Regierung in der Provinz Mittel und Wege genug, sich dem Ehrgeiz und Interesse der Wähler auf eine ihren Ehrgeiz gefangennehmende Weise zu nähern. Der Präfekt schlägt diesem oder jenem eine Militärlieferung zu, weiß hier zu begünstigen, dort zurückzusetzen; eine Obergewalt, die die franzö­sische Regierung noch so lange wird ausüben können, bis einmal diesem Lande ein gediegenes Munizipalgesetz gegeben ist, welches ihm erlaubt, seine Freiheit von unten herauf, vom Geiste der Lokalität aus, aus eignen Mitteln, ungestört von aristokratischer Einmischung, nach oben hinauf zu bilden.

Wir haben die Bürger und Unterthanen nicht schildern können, ohne auch schon auf die Regierungen hie und da ein erläuterndes Licht fallen zu lassen. Das System derselben kümmert uns hier nicht, weil dieser Abschnitt dem Geist der Zeit nicht gewidmet ist. Wohl dürfen wir uns aber erlauben, hier eine Betrachtung über die Regierungsmethode, welche in Europa herrscht, anzuknüpfen, die Büreaukratie, wo sie noch herrscht, zu zerglie­dern und jenen Geist zu schildern, der gegenwärtig die hohen und niedern sogenannten Beamten beseelt.

Die Beamte sind nicht mehr die Aeltesten der Gemeinde, wo man sie bald gezeichnet hätte, wenn man die Tugenden und Fehler des Alters aufzählte. Auch sind sie kein einzelner levitischer Priesterstamm mehr, wo man vielleicht nur genöthigt wäre, von angestammten Vorurtheilen und hierarchischen klei­nen Tyranneien zu 289 sprechen. Der Beamte bildet sich jetzt aus dem Schooße der Nation herauf und eignet sich, ehe er in die praktische Laufbahn tritt, erst alle theoretischen Begründungen derselben an. Angewiesen, eine einzelne Branche ausschließ­lich zu betreiben, verliert er oft den Zusammenhang mit der Ma­schine der Verwaltung im Ganzen und Großen, und nimmt nicht selten, wo der Volksgeist oder die Volksstärke einen solchen Muth unterstützt, sogar gegen das System der höhern Chefs, welche ihn besolden, Partei. Wenn wir in diesem Augenblicke sehen, daß dieser letztere Freimuth immer mehr zu verschwinden droht, so liegt das theils in den Veranstaltungen der Regierungen selbst, theils aber auch in der allmähligen Vergessenheit jenes demokratischen Ursprunges, welchem ein großer Theil der europäischen Regierungen neuerdings seine Einsetzung zu verdanken hat.

Die Regierungen hatten in frühern Zeiten nur die Aufgabe, das, was der Staat besitzt, zusammenzuhalten; so lange noch der Staat die bloße Person des Königs war, dienten sie dazu, die königlichen Interessen zu erhalten und zu mehren; sie standen in unmittelbarer Abhängigkeit von den Rathgebern, welche zunächst den König bedienten. Je mehr sich aber in den Begriff des Staates demokratische Elemente einschlichen, je mehr in den Begriff Staat die Abstraction einer durch gegenseitige Rechte und Pflichten gebundenen Gesammtheit kam, desto populärer wurden auch die bisher nur im einseitigen Haus- und Cameralinteresse der Monarchie verfahrenden 290 Regierungen. Zur Mehrung und Erhaltung des Staates gesellte sich noch die Vorstellung hinzu, daß der Staat als ein ihnen anvertrautes Gut und ein Unterpfand angesehen wurde. Die despotische Einheit der büreaukrati­schen Methode mußte sich in dem Grade verlieren, als sich der einzelne Beamte als zunächst vom Volke selbst berufen denken konnte. Die großen Unglücksfälle, welche die Regierungen im Zeitalter Napoleons erlitten, lösten vollends alles einheitliche Be­wußtseyn derselben auf. Sie wurden die Trümmer gescheiterter Schiffe, hin und hergeworfen auf den Fluthen der mit Glück und Unglück abwechselnden politischen Ereignisse. Heute dem an­gestammten Herrscher schwörend, morgen dem fremden Usurpator – wie sollte sich da die Büreaukratie die Achtung des Volkes erhalten? Kaum hatte sich noch das vorlaute Beamtenwesen, als der Feind 20 Meilen vor der Stadt war, mit theils natürlichem, theils bezahltem Enthusiasmus für die alte Ordnung der Dinge ausgesprochen; da folgt die Entscheidung einer Schlacht, der Feind nähert sich den Thoren und wird zunächst von den Huldigungen der in Procession mit den Schlüsseln der Gewalt herankommenden Regierungscollegien, Tribunäle und Munizipalitäten empfangen. Diese in der That von den Umständen gebotenen Ver­läugnungen und Eidbrüche haben der Büreaukratie, die nur der Continent kannte, daselbst einen empfindlichen Stoß versetzt. Es war dringend nöthig, daß die Beamten, auf welchen der Makel des wortbrüchig nach 291 dem Win­de gehängten Mantels lag, allmählig aus der Verwaltung ausschieden und Namen Platz machten, welche in die jüngste Vergangenheit untadelhaft verwickelt waren. Die Beamtenernennungen wurden nun in allen Staaten des Continents und auch in England Huldigungen, die man dem nach Napoleons Sturz so exaltirten Volke schenken zu müssen glaubte. Die alten Rotüriers wurden pensionirt und muß­ten dem frischen Nachwuchs Platz machen, welchen man in Deutschland, Oestreich, im Norden, in Rußland in der Armee sah, in Frankreich und in Spanien in den Anhängern der Bourbonen, in England unter den Schutzgenossen Wellingtons und seiner politischen Freunde. Dies von den Jahren 1815 bis noch über das Jahr 1820 hinausdauernde Avancement ist eine höchst denkwürdige Erscheinung, und muß auf das genaueste in Betracht gezogen werden, wenn man die Wendung der Ereignisse und des öffentlichen Geistes seit jener Zeit beurtheilen will.

In Frankreich hat der kriegerische Geist das Uebergewicht, und plötzlich erhält es eine Verwaltung, welche in einem behag­lichen Exile erschlafft war! Im übrigen Europa sehnte man sich nach Frieden und endlicher Begünstigung bürgerlicher Freiheit, und erhielt eine Verwaltung, die durch und durch mili­tärisch war. Nur einige wenige glänzenden Ausnahmen kommen vor in der Geschichte der Restauration, wo sich friedliche Beobachter der Geschichte, Gelehrte, die mit Ludwig XVIII. in 292 Mitau und Gent gewesen waren, doch den beredten Stimm­führern eines Volkes anschlossen, welches eine so glorreiche Vergangenheit nicht deßhalb gehabt haben wollte, um unter die Kutte der Jesuiten zu kriechen. Eben so fanden sich auch im übrigen Europa nicht wenige Beispiele, wo die, welche den Regierungen ihren Glanz so eben hatten erkämpfen helfen, doch von der Ansicht beseelt waren, daß derselbe vom Volke selbst ausgehen, nicht auf das Volk blos zurückstrahlen müsse. Allein im Ganzen und Großen behauptete sich leider diese Richtung, daß in Frankreich der feige, bigotte, höfische Servilismus überall das Beamtennetz spann, welches das Volk umstrickte, und im übrigen Europa der schroffe, bramarbasirende, schnurrbärtige Militärservilismus, der geradezu in einen Fluß hineinmarschirt, wenn der General nicht Halt! sagt, mit den Regierungen sich innig verschwisterte. In Frankreich wurden Priester Staaats­männer, im übrigen Europa Generäle sogar zu Diplomaten gewählt. Dort schritt die Beamtenhierarchie mit andächtigen Blicken in Form einer Procession einher, wobei sogar Marschall Soult die Kerze trug; hier in der Form einer Parade, wo die verschiedenen Chargen immer gröber werden, je mehr sie von oben nach unten absteigen. Ja, der Sieg über Napoleon war ein denkwürdiges Ereigniß, welches mit Flam­menschrift in der Geschichte fortbrennen wird; aber der Triumph, der diesem Siege folgte, der ist es, welcher Europa all­mählig mit einer so durchgreifenden Unbehaglichkeit erfüllte, 293 daß ein solches Ereigniß, wie die Julirevolution, ich will nicht sagen ausbrechen, sondern die Folgen haben konnte, die es hatte und die es noch nährt. Glückliche Zeiten der Vergangenheit, wo es der Beamten nur halb so viele als jetzt gab, wo ihre Gehalte keine Verschwendung und keinen Uebermuth zuließen, wo sie sich für den Diener des Publikums hielten und von Sporteln, meinetwegen auch von Bestechungen lebten! Diese Mißbräuche hat man auf der einen Seite abgeschafft und auf der andern eine desto größere Anzahl erzeugt. Nun die Beamten des Publikums nicht mehr bedürfen, geizen sie auch nicht mehr nach der Gunst desselben. Was hab’ ich von einem Beamten, der eingesetzt ist, mir zu dienen und der inzwischen die Miene gewonnen hat, mich beherrschen zu wollen? Ehemals kam der Rathsschreiber zu mir auf das Zimmer, jetzt werde ich vor ihn citirt und ersticke in dem Qualm eines Saales, wo man Pässe ausstellt, Lebens- und Sterbegebühren bezahlt, Gewerbescheine lösen muß und so fort. Man glaubt Wunder, was man gethan hat, daß man allen Beamten eine vollkommene Existenz sicherte und ihnen ein vornehmes Pli gab. Man hat hierdurch aus Staatsdienern Staatsherren gemacht, und fängt an sich durch die Maschinerie der Beamten mehr als erträglich belästigt zu fühlen.

Glücklicherweise hat hier nicht allein der neuere Auf­schwung für politische Freiheit, sondern auch die Natur in so fern genützt, als es nur auf das Aussterben dieser 294 Generation ankam. Die bigotten Geistlichen hat Figaro mit der grünen Gerte, die er vom Baume der Freiheit brach, vertrieben, und die schwarzen Schnurr­bärte der Civilbeamten sind allmählich weiß geworden und wurden pensionirt. Die Beamten, welche wir jetzt in England und auf dem Continente sehen, haben doch wenigstens akademische Studien gemacht und sind etwas mehr, als bloße Registratoren. Es sind vielleicht auch comptoiristische Elemente in die Staatsverwaltung übergegangen, seitdem sich die Finanzverwaltung Europas so außerordentlich complicirte. Ich will nicht sagen (das all­gemeine Rennen nach Anstellungen würde mich widerlegen), daß die Regierungen in ihren Angestellten jetzt weniger entschiedene Freunde hätten, als ehemals in den Jesuiten und den Husa­ren; allein, wenn das zugeknöpfte, trokne puritanische Benehmen der heutigen Büreaukratie auch durchaus nicht liebenswürdig ist, so sind wir doch sicher vor Verketzerung, Intoleranz, militärischem Fanatismus und dem für Civilisten so unanständigen Sporen­klir­ren. Seit 6, 7 Jahren hat sich die Schlange des Beamtengeistes in Europa in der That ganz neu gehäutet und es gibt keinen größern Contrast, als z. B. einen Beamten zu zeichnen, welcher früher Offi­zier war und dann Titular- oder wirklicher Rath wurde, und einen Juristen, der 10 Jahre lang als Advokat fungirte, das ganze Für und Wider der politischen und civilen Dialektik durchmachte und, ermüdet vom Vertheidigen, als Generalprocurator endlich die Rolle eines Anklägers übernimmt.

295 Die Beamten sind in England zu dünn gesäet, als daß sie eine eigne sehr fest zusammenhängende Kaste bilden dürften. Sie sind genöthigt, wenn sie Unterhaltung, Umgang, Schwie­gersöhne und Töchter haben wollen, sich mit dem größern Publikum zu vermischen. Anders ist dieß Verhältniß in Frankreich und soll es auch in Deutschland seyn. Dort bilden die Beamte ihre eigenen Cirkel und geben da, wo ihnen von begüterten Privaten nicht das Gleichgewicht gehalten wird, sogar den Ton an. Ganz entgegengesetzt ist diese Stellung der Beamten in Nordamerika. Dort sind sie wirklich die Diener des Publikums, und werden selbst in den höheren Chargen doch nur gleichsam als Commis in dem großen Staatscomptoire angesehen. Wäh­rend man z. B. in Europa oft findet, daß Geschäftsmänner in die Verwaltung treten, so geschieht es in Nordamerika nur bei denen, welche schlecht spekulirt haben und sich vor dem Bankrutt retten wollen. Sonst sieht man im Gegentheil nur, daß diejenigen, welche eine Zeitlang Beamte gewesen sind, auf der Stelle ihre öffentlichen Func­tionen verlassen, so bald sie Aussicht haben, ihre Zeit in einem andern Wirkungskreise besser bezahlt zu bekommen. Ja, sogar das Militär in Amerika scheut sich nicht, nach Vollendung einer gewissen Dienstzeit sich umzusehen, ob nicht irgend ein Privatverhältniß ihm ein besseres Fortkommen gestatte. In Europa duckt sich Alles, was sich versorgt sehen will, unter die Flügel des Staates, in Amerika glaubt man grade am verlassensten 296 zu seyn, wenn man nach dem Tarif leben muß, nach welchem dort der Staat öffentliche Dienstleistungen vergütet. Auch herrscht in Nord­amerika die weise Einrichtung, daß verhältnißmäßig die Unter­behörden weit besser und die Obern weit schlechter bezahlt sind, als bei uns. Dieß ist durchaus im republikanischen Sinne gedacht und soll allem ehrgeizigen Streben nach Gewalt vorbeugen. Auch haben die untern Behörden bei einer guten Besoldung nicht nöthig, sich den oberen mit allzugroßer Hingebung anzuschließen. Deß­gleichen kann der Beamte auch seine Unabhängigkeit gegen das Publikum behaupten, weil man selten Jeman­den besticht, den man unbedürftig sieht.

Treten wir jetzt in einen andern Kreis des innern politischen Lebens ein, so fragen wir: was kann der Unterthan, der Bürger jetzt der Regierung entgegensetzen? Das Repräsentativsystem ist keine neuere Erfindung, sondern zieht sich in uralte Zeiten der germanischen Freiheit zurück, ja, es liegt auch den griechischen Staatsverfassungen und der römischen zum Grunde. In allen antiken Staaten finden wir, daß, wenn viel­leicht auch alle Behörden gewählt wurden, doch die kürzere Zeitdauer gegen die längere als Garantie dienen mußte. Die Behörden, welche 10 Jahre in der Gewalt waren, bildeten einen festen Wall gegen diejenigen, in welche einjährige Bevoll­mächtigte der großen Volksversammlung immer Bresche zu legen suchten. Das Prinzip des Alten und Neuen, das Interesse der Dauer und 297 das der Wiedergeburt hielten sich immer das Gleichgewicht. Rom führte bald ein vollständiges Repräsentativsystem in seine Gesetzgebung und Staatsverwaltung ein. Die Patrizier waren die Pairs, die Tribunen die Volksdeputirten. Es gab Behörden, besonders solche, welche von Priesterkollegien gewählt wurden, welche eine dauernde Gewalt vorstellten. Die Aristokratie erhielt sich ohnehin in ihrer festen Konsistenz und verwandelte, was die Wogen der Volksgunst an ihr Gestade schwemmten, bald in ihren eigenen Stoff. Ja, als sogar später alle Bollwerke der Volksfreiheit eingerissen schienen und auch die Aristokratie von der Alleinherrschaft der Cäsaren vernichtet wurde, blieb immer noch eine gewisse, wenn nicht Gesetzgebung, doch öffentliche Meinung übrig, durch welche der Despotismus gezügelt wurde. Die schmähliche Existenz des römi­schen Staates unter den ersten und letzten Kaisern lag weit weniger in dem Verlust der politischen Freiheit, als in dem wilden Toben der leidenschaftlichen Charaktere, von welchen jene Geschichte berichten konnte. Es war weit mehr als Uebermuth und schlechte Gesinnung, Furcht vor der Rache des Volkes, Geiz und Habsucht, lauter rein persönliche Laster, welche allmählig das Bewußtseyn des Gleichgewichts der politischen Gewalten untergruben. Man konnte bei den fürchterlichen Ausschweifungen der Kaiserherrschaft zuletzt nur noch daran denken, sein persönliches Eigenthum zu sichern, und trug demnach allen so fein gewesenen Kombinations- und Unterscheidungssinn auf die Ausbildung der Civilgesetze 298 über. Leider artete die römi­sche Jurisprudenz in eitel Haarspalten aus, und ließ, obwohl im Grunde ihres Ursprungs gegen den Despotismus sehr feindselig gestimmt, ihm dennoch zuletzt allen Schein des Rechtes, ein Zugeständniß, welches durch das gehorsame und der Fürsten höchst benöthigte Christenthum ein wahrhaft öffentliches und historisches Unglück wurde.

Dieser zur Sklaverei führende Impuls der Geschichte hielt das germanische Staatsleben auf, welches allmählig in Deutsch­land, in Skandinavien, in England und durch Deutschland und England auch in Frankreich sich bis zu klaren Vorstellungen über die Berechtigungen zu politischer Gewalt ausbil­dete. Die Könige, aus der Mitte gleichberechtigter Pairs gewählt und oft weit geringfügigern Ursprungs, als die, welche ihre Vasallen wurden, muß­ten sich durch Verträge in den Stand setzen, ihre Würde behaupten zu können, mußten die Mittel, die sie zur Herrschaft brauch­ten, durch Zugeständniß ständischer Rechte erkaufen, und hatten, um nicht von den ihnen zunächst stehenden Würdeträgern erdrückt zu werden, immer nöthig, die Macht der Einen gegen die der Andern zu stärken. Erst, als im Zeitalter der Richelieu und Mazarin die souveräne Gewalt der Fürsten den Feudalismus bändigte, erst da verwandelte sich diese Politik, die Einen gegen die Andern zu stärken, in die entgegengesetzte, die Einen gegen die Andern zu schwächen. Die Parlamenter verloren, seitdem Ludwig XIV. mit der Reitpeitsche in sie kam, ihre Wirksamkeit, und das Wesen der konstitutionellen 299 Staatsverfassung konnte überdieß bei der isolirten Stellung Englands so sehr in Vergessenheit gerathen, daß man die Grund­sätze erst wieder ganz neu aus der Theorie entnahm, welche einer uralten Praxis angehörten, und, wenn zwar verschimmelt und bemoost, in England noch immer galten. Dieser alte und neue Duft jedoch, der auf dem sogenannten Repräsentativsysteme liegt, hat es wohl für die Zukunft am dauerndsten gesichert; denn wenn die Einen alles Neue anbeten und die Andern nur das Veraltete für erprobt halten, so konnten sie sich hier in ihren beiderseitigen Sympathien begegnen. Dasjenige ist wahrlich siegreich, was zu gleicher Zeit die glänzende Form einer neuen Erfindung und den kernhaften Probegehalt einer alten Bewäh­rung in sich vereinigt.

Es ist hier nicht der Ort, den Werth der verschiedenen Wahl­theorien gegen einander zu vergleichen. Der Hauptgrundsatz ist immer der: es soll gemäßigt werden theils die angeborne Gewalt der Fürsten und der Aristokratie, theils die übertragene Gewalt der Beamten und der Regierung überhaupt. In den meisten jetzt üblichen Wahlmethoden ist weit mehr das letztere als das erstere Gegengewicht berücksichtigt. Es hat weit mehr den Anschein bei den neuen, auf dem Continent eingeführten Verfas­sungen, daß die Regierung die Verantwortlichkeit von sich abwälzen wollte, als sich ihr unterwerfen. Man ruft eine Depu­tirtenkammer zusammen, weil man weiß, daß zwei Leute sichrer gehen, als Einer, weil, wenn die Verantwortlichkeit auf Viele vertheilt wird, sich die Gefahr 300 mindert. Gesetzt, eine neue Anleihe ist zu machen; statt sich selbst als Minister oder Herrscher mit dem Risiko derselben zu beladen, wirft man es auf die Vertreter des Volkes, auf das ganze Land. Fügt man nun noch hinzu, wie vor einigen Jahren von deutschen Regie­rungen der Satz aufgestellt worden ist, daß die Stände nicht einmal das Recht hätten, die Steuern zu verweigern, dann wird das ganze Repräsentativsystem eine lächerliche Illusion und kann dem Despotismus auch nicht das kleinste Härchen krümmen. Allein, wenn man, wie in Frankreich geschieht, auch die Repräsentation des Volkes ein wenig mehr ausdehnt und ihr eine größere Wahrheit zugesteht, so ist das Prinzip derselben doch immer nur noch halb, wenn es blos das seyn soll: de tempérer le pouvoir. Hier wird immer der Gesichtspunkt der Maschine beibehalten und in der Repräsentation nichts gesehen, als das Gegengewicht gegen die Minister, gegen die Beamten und sofort. Allein, wenn man bedenkt, daß fast alle Be­nachtheiligungen der Freiheit weit mehr daher rühren, daß sich die Aristokratie der Geburt und die Gotteingesetztheit des König­thums zu viel herausnimmt, so kann man in diesen Reprä­sen­tationen noch immer kein Bollwerk gegen die Willkür anerkennen. Man nehme z. B. das gegenwärtige Frankreich! Die Pairs­kammer ist freilich nicht auf das Prinzip der Geburt gegründet; ja die Dynastie ist nicht einmal groß­gezogen in der Tradition angestammter, aus unmittelbarer Gottes­hand erhaltener Urrechte. Allein beides ist noch 301 schlim­mer, als wenn das Gegentheil der Fall wäre; denn besäße die Pairskammer Macht, wäre Louis Phi­lipp legitim, so würden sie im Bewußtseyn dessen, was sie haben, und was man ihnen, da es angeboren ist, doch in der Hauptsache nicht nehmen dürfte, eher eine Concession machen, als jetzt, wo sie wissen, daß sie nicht mehr haben, als was sie sich anzueignen den Muth besitzen. Man hat den Grundsatz der Unverletzbarkeit des Königs in Frankreich so entsetzlich oft wiederholt, daß man die Ohnmacht eines Landes beklagen muß, welches eine Verfassung hat, schattenähnliche Minister und einen Premierminister in der Person des Königs, der Alles selbst nach eigenem Gutdünken leitet und sich in jenen Nimbus der Unverletzbarkeit hüllt, welcher nicht nur die Schmeichler, sondern auch auf­richtige Theoretiker um seine Person ziehen muß. Die Deputirtenkammer dient nur dazu pour tempérer le pouvoir, c’est–à-dire le pouvoir des ministres, und doch ist der leitende und Alles nach eignem Gefallen ordnende Gedanke der französischen Politik kein andrer, als die Willkür Louis Philipps selbst. Man kann hier freilich sagen: Louis Philipp ist ein Heuchler, er hintergeht ein Volk, das ihn mit so vielem Großmuthe zum König gemacht hat; allein noch richtiger wär’ es, wenn man zugäbe, daß die ganze Grundlage der fran­zö­sischen Charte unpraktisch und keineswegs ein Unterpfand der Freiheit ist. Die Deputirtenkammer ist selbst aus aristokratischen Elementen zusammengesetzt. Wie kann sie gegen Angestammtes, gegen Privilegien oder 302 wie dieß jetzt der Fall ist, gegen die Usurpation Stich halten! Die englische Verfassung hat große Fehler; allein sie hat ein wahrhaft volksthümliches Element in sich; das Haus der Gemeinen temperirt nicht blos die Gewalt der Minister, sondern auch die Uebergewalt des Privilegiums. Kein englischer König würde glauben, ungestraft seine Finger so vorwitzig in die Maschine des Staates stecken zu dürfen, wie dieß Louis Philipp thut. Er würde immer fürchten, nicht etwa vom Volk dafür heimgesucht zu werden oder etwa eine Revolution zu veranlassen, sondern nur ganz einfach sich der Beschämung auszusetzen, keine Minister mehr zu bekommen. Welcher englische Staatsmann besäße wohl einen solchen cynischen und gewissenlosen Ehrgeiz, daß er ein Portefeuille übernähme, in wel­chem sich keine Gewalt befindet? Welcher englische Staats­mann dürfte es wagen, sich so blos zu stellen, wie es die Doktrinärs mit der Freilassung des Prinzen Louis Bonaparte und der Spionage des Conseil thaten? Wellington, Grey, wer von euch würde den Schimpf ertragen, daß er einen Brief aus der Tasche zöge, welchen der Präfekt des königlichen Palastes geschrieben, der Mignon der königlichen Abendgesellschaften, Herr von Montalivet, und öffentlich den Repräsentanten der Nation vorlesen müßte: „Ich habe die Ehre, Ihnen hiermit anzuzeigen, daß die Affaire des Conseil mit der persönlichen Sicherheit des Königs zusammenhängt.“ Sela. Die Kammer schweigt, die Minister schwei­gen und Frankreich kehrt zur Tagesordnung zurück.

303 Die Wahlsysteme und Lokalitäten sind zu verschiedenartig, als daß man wagen dürfte, einen allgemeinen Deputirtencharakter aufzustellen. Hier ist es ein Geschäftsmann, dort ein Gelehrter, der entweder ganz die Eigenschaften des Wählers besitzt oder wenn er erst die Wahl überstanden hat, diesen täuscht und seinen eigenen Weg einschlägt. Die nordamerikanischen Depu­tirten sind Kaufleute, die den Staat in jedem Augenblicke fühlen lassen, welch’ großes Opfer sie ihm bringen, indem sie ihren Comptoirtisch mit der Bank des Gesetzgebers vertauschen. Dazu gehören sie nicht einmal der vornehmen und gebildeten Klasse an, werden von der Würde des Senats an Haltung bei weitem übertroffen, besitzen weder Fähigkeit für die Rede noch die Debatte, wissen über vieles nichts zu sagen und hören über manches einem Vortrage zu, der zwei Tage dauert, ja erlauben sich sogar Thätlichkeiten gegen ihre Gegner, zu welchen es nicht kommen würde, wenn die Hamilton’sche Warnung, sich während der Sitzung keiner geistigen Getränke zu bedienen, besser befolgt würde. In England sind die Deputirten meistentheils wirklich Ken­ner des Gesetzes oder doch sonst einer Bildung theilhaftig, die auf klassischen Grundlagen gebaut ist und sich in den Zusam­menhang unsrer Staatsverfassung und Geschichte hineindenken kann. Unsere Depu­tirten beginnen damit, auf der Schule latei­nische Verse zu machen und sich besonders durch die Lektüre des Cicero alle Vortheile der öffentlichen Rhetorik anzueignen. Nach Voll­endung des juristischen Cursus und einer Praxis, 304 die wenigstens so lange gedauert hat, daß man vor einer größern Versammlung sprechen lernt, ohne sich zu versprechen, pflegen die Wege, um zuletzt in das Gleis der Staatskarriere zu kommen, verschiedener zu seyn. Man präsentirt sich bei einer Wahl und kann von außerordentlichem Glück sagen, wenn man auch nur einige Stimmen für sich hat. Man wiederholt es öfter und trifft endlich wirklich durch Gönnerschaft, Bestechung oder außerordentliches Rednertalent den Vogel von der Stange; oder man muß sich entschließen, seiner Bewerbung um die Volksgunst eine neue Unterstützung zu geben. Man wird Journalist, unterschreibt seine Namenschiffre (denn sich nennen, heißt die Auto­rität verlieren) in verschiedenen gestempelten oder ungestem­pelten Blättern, bei leitenden oder je nach Ueberzeugung oder Absicht geleiteten Artikeln. Man läßt von sich reden; man greift eine Handlung der Regierung oder eine Handlung der Opposition an. Man schreibt nicht für England, für die Welt, sondern nur für jenen kleinen Flecken auf dem Lande, wo man seine Stimmenzahl vermehren will. Man braucht Provinzialismen, die nur dort üblich sind, man nimmt die Naturbilder aus der Umgegend des kleinen Ortes her, man spricht von Volksinteressen und zählt dabei nur die Chancen jener Produkte auf, die zufällig dort in der Gegend erzeugt werden. Ein paar Freunde wird man schon haben, welche an jenen Orten den Debit von einigen hundert Freiexemplaren solcher Zeitungen übernehmen. Der junge Politiker schmeichelt sich dem Ehrgeize des 305 Ortes so ein, daß man ihn an irgend einem günstigen Kalendertage zu einem öffentlichen Diner einladet; er kömmt, er spricht, alle Zeitungen erstatten Bericht über das, was er gesprochen und die Gesundheiten, die er ausgebracht hat, seine Wahl fängt an entschieden zu werden, selbst wenn er sich einem andern Ort vorstellte, als dem, welcher bisher ihn für die Stütze aller seiner Hoffnungen hielt. Und auch dieß Manoeuvre kann mißlingen, er kann einen zu mächtigen Mitbewerber haben, er hat vielleicht Ideen, aber er weiß sie nicht populär genug auszudrücken. Dann hilft es nichts mehr, er muß ganz entschieden eine Partei wählen und die Stimmführer derselben auf sich aufmerksam werden lassen. Diese ziehen ihn in die Verwaltung, sie lassen ihn einen Bericht aufsetzen über ein Eisen­bahnprojekt, über einen verwickelten Posten des Büdgets, sie brauchen ihn zu einer auswärtigen Mission, er soll nach Berlin reisen, um den Zollverein zu studieren, er muß nach Lissabon, um die Gegner der englischen Monopole zu sondiren, er begleitet alle seine Depeschen an das Ministerium oder die Häupter der Opposition mit Correspondenzartikeln für die Journale der Partei; er ist noch Journalist und Diplomat ein’s ins andere, man kann ihm noch keine offiziellen Kreditive mitgeben. Endlich kömmt er nach England wieder zurück, bringt die wichtigsten Thatsachen mit, er ist für die Verwaltung oder die, welche sich darum bewerben, unentbehrlich, und sein Sitz im Unterhause ist beinahe schon eine Kleinigkeit geworden, denn nun bekömmt er ihn ohne 306 Weiteres durch die gemeinsamen Anstrengungen der Partei. In Frankreich hat die Vorbereitung, um in die Deputirtenkammer zu kommen, mancherlei Aehnlichkeit mit dem englischen Verfah­ren, nur ist die Oeffentlichkeit bei weitem mehr beschränkt. Die Sitte öffentlicher Reden findet nicht statt, die Provinz weiß auch nicht jene Selbstständigkeit zu behaupten, welche das platte Land in England der Hauptstadt gegenüberstellt. Der größte Theil der französischen Deputirten wußte diesen gänzlichen Mangel aller zur politischen Freiheit vorbereitenden Sitten und Institutionen zu benutzen. Es sind die Beamten und die Wähler selbst, die sich unter einander poussiren und sich in die Kammer schicken, wo sie entweder für das Ministerium stimmen, oder, sollten sie unabhängig seyn, doch nicht reden können. Die Parteien legen deßhalb überall, wo sie sich günstiges Terrain versprechen, ihre Minen an; es bilden sich Wahlcomitees, welche den Wählern Listen achtbarer Namen über­senden, aus welchen sie zum Wohle der Menschheit die belie­bige Auswahl treffen mögen. Selten, daß ein Deputirter, der in irgend einem Arrondissement gewählt wird, bei der Wahl selbst zugegen ist; ich erinnere mich bis jetzt nur eines einzigen Falles, wo der Wahlakt nach englischer Weise vorfiel. Thiers und Salverte standen sich gegenüber und entwickelten einer nach dem andern vor den versammelten Wählern ihre Grund­sätze und Bestrebungen. Doch fiel auch dieß nur in Paris selbst vor. Die Centralisation ist in Frankreich so groß, die Provinzen 307 ver­fahren der Hauptstadt gegenüber so unsicher, daß sich nicht sel­ten der Fall ereignet, man wird zu gleicher Zeit vier- oder fünf­mal an verschiedenen Orten gewählt. Man muß gestehen, es liegt hierin eine große Anhänglichkeit an das Talent, aber auch ein sehr ohnmächtiger Gebrauch seiner politischen Rechtsame.

Wenn die Hälfte der französischen Deputirten aus gewählten Wählern und Beamten besteht, so kann man nur die andere Hälfte wahrhaft des hommes politiques nennen. Diese müssen eine gewisse Berühmtheit besitzen, sie müssen sie sich auf irgend eine Weise zu erwerben suchen. Man wurde entweder ein Name durch die Unbill der Zeiten, man ist Legitimist oder Republikaner und wird verfolgt; man weiß nur auf seinen Charakter zu fußen, man hat Beharrlichkeit, Consequenz, Tugen­den genug, die von dem ehrgeizigen Instinkte der Franzosen bald ausgewittert und gepriesen sind. Oder man ist Gelehrter, man besitzt diese wunderliche Eigenschaft der französischen Gelehrten, zu gleicher Zeit Beförderer der Wissenschaften zu seyn, und Politik zu treiben, wie der jakobinische Chemiker Raspail, der republikanische Physiker Arago. Auch in diesem Falle ist man unter der Masse leicht bekannt oder kann sich durch einige bedeutungsvolle Winke für die Wahl leicht kenntlich machen. Der letzte Wink ist der, als Journalist anzufangen. Frankreich hat Beispiele, wie man in die­sem Falle als Premierminister aufhören kann. Die Laufbahn des Herrn Thiers ist eine glänzende Genugthuung, die eine Nation dem 308 Talente gegeben hat; aber leider auch ein Beispiel, von dem ich nicht glauben kann, daß es günstig auf Frankreichs Zunkunft wirken wird. Thiers war nicht einmal Advokat, er war nur das, was man in Frankreich homme de lettres nennt, ein Magister der sieben freien Künste, der Geschichte, Poesie, Beredsamkeit studirt hatte. Um sich bekannt zu machen, wählte er einen Stoff, wo es keine staubigen Archive zu untersuchen gab, wo man weder Spra­chen noch Wissenschaften brauchte, sondern mit konsequenter Gesinnung, mit scharfer Verstandeskombination und vor allen Dingen mit einem guten Style grade das Erwünschte erreichen konnte. On ne reussit que par le succès, sagt ein französischer Schriftsteller und der Erfolg war für Thiers glänzend genug. Er wurde anfangs homme d’état du journalisme, grand diplo­mate des vierten Stocks, bis ihn die Julirevolution auf das Niveau seines Ruhmes hob und ihm in kurzer Zeit das Hotel eines Mini­sters zur Behausung gab. Dieß Streben liegt allen jenen ehrgeizigen Federn zu Grunde, welche sich so viel Kenntnisse gesammelt haben, um einen hübschen Artikel redigiren zu können. Hat Gui­zot einen andern Ursprung als Thiers? Nein, sein Geizen hat nur länger gedauert, bis es von einem Erfolge gekrönt ist. Er kennt die Schwächen aller dieser an den Journalen sich hinaufran­kenden Staatsmänner in spe, er wirft ihnen Pensionen, Beam­tenstellen, akademische Sitze zu; denen, welche er zunächst brau­chen kann, Portefeuilles, Unter-Staatssekretariate und ähnliche Gunstbezeugungen, die 309 keine Lockspeisen mehr sind, sondern schon sehr reelle Sättigungen des Ehrgeizes.

Spanische Deputirte sind bis jetzt zum größten Theil noch Kaufleute und Kapitalisten, zum kleineren ehemalige Exilirte und Politiker; die portugiesischen sind sogar Monopolisten wie Pinto Bastos, der Tabaksregent des Landes. Die Schweizer Tagsatzungs­gesandten sind gewöhnlich die Beamten der kleinen Cantone und vertreten die Ereignisse, durch welche sie selbst in neuerer Zeit an das Staatsruder gekommen sind, oder die Mittel, durch welche sie sich trotz stürmischer Begebenheiten auf ihren alten Stellen behaupten konnten. Deutsche Deputirte gehören größtentheils dem Beamten- und Gelehrtenstande an, Advokaten und Professoren bilden nicht selten die Opposition. Was ist aber eine stän­dische Verfassung, wo man über die Befugnisse der Deputirten nicht einmal im Reinen und es noch immer nicht bestimmt ist, wie die einzelnen Staaten souverain seyn können und doch die Majorität in der Frankfurter Bundesversammlung anerkennen müssen! Dänemark hat in alten Zeiten seine ständischen Rechte freiwillig aufgegeben. Jetzt jammert es, daß sie ihm wieder gegeben werden möchten. Es muß sich einstweilen mit kleinen Pro­vin­zialversammlungen begnügen. Schweden und Norwegen sind in einem Gährungsprozesse begriffen, dessen erste Stadien auf den Charakter der letzten noch nicht schließen lassen.

Um nun alle diese Betrachtungen über innere Politik abzurunden, wollen wir ihnen die Krone der Souverainität 310 aufsetzen. Das Capitel von den Fürsten ist eines der am häufigsten erläuterten und doch immer wieder in Frage gestellt. Wir halten hier nur den moralischen Gesichtspunkt fest und vermeiden es, von den Rechten der Monarchie zu sprechen. Welches sind die Pflichten der Fürsten? Hören wir, was unsere Vorfahren von ihren Herrschern verlangten.

Montaigne sagt: Das härteste und schwierigste Geschäft von der Welt ist, meiner Ueberzeugung nach, die würdig durchgeführte Rolle eines Königs. Ich entschuldige an ihnen sogar weit mehr Fehler, als man gewöhnlich sich zu Schulden kommen lassen darf, in Betracht des furchtbaren Gewichtes ihrer Aufgabe, die mich erschreckt. Es ist schwer, bei einer so ungemessenen Macht Maaß zu halten. Montaigne fügt hinzu, die größte Schwie­rigkeit bei Tugenden und Lastern der Fürsten läge in der Menge, die sie beurtheilt. Montaigne meinte es vielleicht zunächst nur von der Tugend, die auf dem Throne nur kenntlich, wenn sie ganz besonders ausgezeichnet ist. Aber um so ver­derblicher ist auch das Gegentheil. Die Laster der Fürsten, flie­ßen sie aus dem Irrthume und bösen Willen (also nicht aus der Schwäche), werden immer unmäßig seyn, weil ihnen die Vorstellung angeboren ist, daß sie Millionen Menschen mit ihrem Daumen und Zeigefinger umspannen müßten.

Die Weisheit der alten und neuern Zeit ist reich an Maximen über Fürstenerziehung und Fürstenpflichten. Ja bei römischen Schriftstellern hat man oft nur nöthig, an 311 die Stelle der dem souverainen Gemeindewesen gegebenen Rathschläge eine Personification zu unterschieben. So enthält Virgils Aeneide einen für Fürsten leicht anwendbaren Spruch: Mag der ein Erzgießer, der ein Bildhauer seyn, der ein Advokat, der ein Astronom: Du, o Römer, sey nur zu herrschen, eifrig beflissen! Die Alten hiel­ten nämlich Regierungskunst für ein besonderes Studium, und ihre Weisen stritten gegen den dem natürlichen Menschen inne­wohnenden Glauben, als sey Herrschen etwas Angeborenes. Auch glaubten sie, daß einem Könige nicht zieme, zu wetteifern mit Frauen, als ob er nämlich schön seyn solle, mit Advokaten, daß er gut zu reden nöthig hätte. Als Philipp von seinem Sohne Alexander hörte, daß er bei einem Festmahle trotz der besten Musiker gesungen hätte, machte er ihm Vorwürfe und sagte: Pfui der Schande, so gut zu singen!

Wir wollen die moralischen Vorschriften, welche man Fürsten gegeben hat, hier nicht wiederholen. Sie sind langweilig, weil wir sehen, daß Priester, Beichtväter und Erzieher die Thatsachen selten gekannt haben, auf welche ihre Lehren angewendet werden sollten. Kann der Unterricht z. B. der in den Abenteuern des Telemach versteckt liegt, für ein anderes Prinzenalter passen, als das zarteste! Die wahre Königsweisheit liegt tiefer als auf der Oberfläche der moralisirenden Rhetorik. Macchiavell hat die praktische Tendenz dieser Weisheit übertrieben, aber der unumstößliche Satz seines Fürsten bleibt doch der: Ein Fürst, der nur Herzensgüte besitzt, kann einen 312 Staat sehr unglücklich ma­chen. Macchiavell hat das Gegentheil beschrieben (daß ein ver­schlagener Fürst den Staat glücklich mache), aber er hat nur an jene negative Behauptung selbst geglaubt. Die wahre politische Weisheit datirt von jenem persischen Axiom: Eine schnelle Ungerechtigkeit ist oft besser, als eine langsame Gerechtigkeit. Aber wie soll man jungen Fürsten dergleichen Prinzipien einflößen, ohne fürchten zu müssen, mißverstanden zu werden? Wie soll man ihnen Weisheit sagen, ohne der Schlauheit sich zu ver­dächtigen? Das ist eine schwierige Aufgabe und läßt annehmen, daß gute Fürsten weit leichter geschildert als gezogen sind. Man wird immer am besten thun, sie auf die Geschichte anzuweisen und ihnen in einiger Entfernung die Mittel an die Hand zu geben, sich selbst die Grundsätze, auf welche sich etwas Tüchtiges bau­en läßt, zu abstrahiren.

Wenn gegenwärtig die königliche Autorität schon wieder auf Grundsätze der Legitimität oder wenigstens der Quasilegi­timität gegründet ist, so war man im vorigen Jahrhundert allerdings weiter vorgeschritten. Die Macht der Könige war damals eine Autorität, die ihnen der Anstand überließ und die sie selbst durch persönliche Ausbildung zu verdienen sich befleißigten. Auch jetzt lernen die Prinzen, suchen sich populär zu machen und sehen es gern, wenn man einen Zug ihres Herzens oder ein Wort ihres Mundes verbreitet. Allein die Fürsten des achtzehnten Jahr­hunderts hatten die Entsagung, sich selbst unter das Volk zu mi­schen, gleichsam verkleidet wie 313 Harun al Raschid. Sie wallfahrteten nach den damaligen Mekka’s der Literatur, nach Ferney, Montmorency, Düsseldorf*) und Weimar. Sie waren nicht so sehr Beschützer der Wissenschaft, als ihrem Dienste selbst mit ganzer Seele hingegeben. Kurz daß im achtzehnten Jahrhundert der Eine Fürst, der Andere Privatmann war, schien mehr eine unschuldige Etiquette, als ein Privilegium zu seyn. Die französische Revolution hat dagegen alle Ansprüche wieder auf die Spitze gestellt; die Herrschaft, von der Revolution bestritten, wurde nur desto leidenschaftlicher festgehalten. Die Fürsten drangen selbst auf Verfassungen, selten, um die Nation zu emancipiren, sondern um ihre eigenen Rechte Schwarz auf Weiß zu haben. Ihr Benehmen wurde schroff und ausschließlich; die Tendenzen des Liberalismus, welche sie fürch­teten, machten sie unmuthig und miß­trauisch. Sie zogen sich auf den Umgang nur derjenigen zurück, welche mit ihnen zu gleicher Zeit auf der Hut seyn müssen, der Aristokratie. Die Fürsten vernachlässigten allmählig, weil sie sich doch durch die Verfassung in einen bloßen Begriff verwandelt hatten, ihre persönliche Ausbildung.

Ein König, der nicht mehr unumschränkt in seinem Kabinette verfährt, darf schon wagen, jenen großen Umfang von Kenntnissen, welche Friedrich II., Joseph II., Gustav III. auszeichneten, für einen unnützen Ballast zu halten. Der wahre Pro­bierstein der Könige unsers Jahr-314hunderts ist der: Fällt uns bei Nennung ihres Namens nur blos ihre politische Stellung ein, oder knüpft sich sonst an sie eine außerordentliche Bestrebung an? Hier wird man immer finden, daß sich die Fürsten unsrer Tage außerordentlich tief in die inneren Gemächer ihrer Paläste zurückgezogen haben.

Es ist mißlich, den Versuch zu machen und irgend einen auch nur ganz allgemeinen Fürstentypus der Gegenwart zu zeichnen. Man würde immer sagen: ich hätte selbst bei der einfachsten Schilderung eine Satire schreiben wollen. Auch ist man gegenwärtig so unempfänglich für die Persönlichkeit der Fürsten, daß ein Versuch die damit verknüpfte Mühe und Gefahr gar nicht belohnen würde. Unsre Zeit will die fürstliche Gewalt abgegrenzt sehen, dann mag sie getragen werden von Usurpatoren, Spielern oder Wollüstlingen; sie wird immer ein Auge für die Tugenden und Laster der Könige haben, aber von den erstern weit weniger begeistert und von den letzern weit weniger erzürnt werden, als ehemals. Wir in England sehen den König nicht einmal am Ruder des Staatsschiffes, er ist nur der Schutz­patron desselben. Wäre das letztere nicht der Fall, wären unsere Begriffe über die Befugnisse des Staates nicht so klar ausgebildet, welche Liebe zur Monarchie hätten uns wohl die zügellosen Ausschweifungen und die Rohheiten des Gemüthes, durch welche Georg IV. bekannt ist, einflößen sollen? Das größte Unglück an einem leichtsinnigen Fürsten ist jetzt wohl nur noch dieß, daß sein Vorbild 315 auf die ihm zunächst stehende Aristokratie und Beamtenwelt verderblich wirkt; der persön­liche Charakter des Fürsten ist heutiges Tags, wo keine Garantie für die Freiheit, wenigstens eine Garantie für die Moral des Landes.

Wir sind auf ein persönliches Gebiet gerathen, wir sind nicht mehr in der heitern und erhebenden Perspektive, jener großartigen, das ganze Leben unserer Zeitgenossen umfassenden Anschauung; enteilen wir einem Bereiche, wo der Tadel für Auf­wiegelung und das Lob für Schmeichelei angesehen wird. Kehren wir in den Schooß der Nationen zurück, verlassen wir die Einsei­tigkeit, mit welcher sie sich unter einander abschlie­ßen, und gestehen wir uns aufrichtig, ob bei den Fortschritten unserer Huma­nität, bei der Gemeinschaftlichkeit aller der Schicksale, wel­che die Völker mitsammen seit 50 Jahren erlebt haben, noch immer jene öffentliche Empfindung in den Herzen der Völker herrscht, welche man Nationalhaß nennt?

Der größte Haß, der zwischen Nationen stattgefunden haben kann, war der zwischen Spanien und England. England strebte nach jener Seemacht, welche an Spanien, wie zufällig, durch die Entdeckung von Amerika kam. England reformirte seine Kir­che, es bekam eine Herrschaft, die katholisch geblieben war, und mußte mit Schmerz sehen, wie diese sich an die spanische Macht anlehnte. Seither wurde ein Spanier in England ein Wild, das man verfolgte; konnte man es nicht treffen, so machte man es lächerlich, als Hasenfuß, Charlatan, Don Quixote. 316 Die Spanier wurden im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert auf die Bühne gebracht, John Bull, der gemeine und der vor­nehme, freuten sich, wenn zuletzt der Spanier dem Teufel anheim fiel, oder mit einer tüchtigen Tracht Prügel die poetische Gerechtigkeit befriedigen mußte.

Was ist nun aber von diesem Hasse übrig geblieben? Nichts, als die Notiz davon. Der Engländer behandelt den Spanier nicht exklusiver, als den Holländer und Franzosen, er ist ihm, weil er ihm nicht mehr gefährlich ist, auch gleichgültig geworden. Wenn Moreno, der Verräther und Henker des Torrijo’s, in London seines Lebens nicht mehr sicher war und aus Furcht, vom Pöbel zerrissen zu werden, heimlich sich davon machte, so dachte kein Mensch mehr an den Papisten und Spanier, sondern nur an den feigen Mörder und Henker, der einen Engländer hatte hin­richten lassen.

Engländer und Franzosen sind zwar gegenwärtig zu einer Allianz zusammengekoppelt, die das Merkwürdige hat, daß sie statt den Einen durch den Andern zu stärken, nur Einen durch den Andern schwächt; doch gelten sie im Uebrigen für die schlech­testen Nachbarn, die neben einander wohnen können. Als der eng­lische Nationalhaß gegen Spanien erkaltete, entzün­dete er sich gegen Frankreich. Man hätte glauben sollen, Frankreich, mit Eng­land früher weit öfter im Kriege als später, wäre längst ein Gegenstand der englischen Flüche gewesen; allein dem widerspricht auffallender Weise die Geschichte. Vielmehr war bei den Englän­dern die Anwartschaft auf das nördliche Frankreich und die 317 Verwandtschaft mit dem Blute der Normannen stets für sie in so lebhaftem Andenken, daß für sie der Pas de Calais nicht existirte, daß jene Meerenge in ihrer Idee nicht größer war, als der Bach, der England von Schottland trennt. Erst im Anfang des achtzehn­ten Jahrhunderts finden sich Spuren eines grimmigen Hasses zwi­schen England und Frankreich. Allein, wie wir oben bei Spa­nien gesehen hatten, daß die Interessen diesen Haß schürten, so wäre die Rivalität vielleicht noch zu ertragen gewesen; doch Frank­reichs unkluge Politik nahm die vertriebenen Stuarts in Schutz, unterstützte die Bestrebungen des Prätendenten, eine Herrschaft wieder einzusetzen, in deren Gefolge der Katholicismus kam. In englische Sitte und Leben kam im vorigen Jahrhundert ein gleich starker Schwung, wie in die französische Kultur. Die Revolution und Napoleon hintertrieben vollends jede Annäherung. Und was folgt hieraus? Daß es immer nur die Interessen und Umstände sind, keineswegs die angebornen Antipathien, welche die Natio­nen gegeneinander in Harnisch bringen. Die Deutschen haben zur Zeit ihrer Befreiung vom französischen Joche ihren Haß gegen Frankreich fast zur Carrikatur gemacht, dieselben Deutschen, welche 50, 30 Jahre früher bekanntlich die größten Affen der französischen Bildung und Sitte waren.

Nach den Eingebungen des Nationalhasses wird es wenigstens in unserer Zeit unmöglich seyn, noch die auswärtige Politik irgend eines Staates einzurichten. Oesterreich und Rußland haben Jahrhunderte lang mit der 318 Türkei im Kampf gelegen und jetzt nimmt Rußland die Miene des intimsten Freundes der Pforte an, und Oesterreich, obschon weniger zudringlich, hat es vielleicht wirklich ernst damit. Gelingt es wohl Preußen und Ruß­land, ihre auswärtige Politik noch länger auf den Haß gegen Frankreich zu begründen? Haben sich nicht schon in Deutschland alle Spuren des Franzosenhasses in dem Grade verwischt, als auch in Frankreich, selbst auf der äußersten Linken, sich die Ansprüche auf das linke Rheinufer milderten! Eine solche Wahrheit, daß Nationen nicht durch Flüsse getrennt, sondern nur verbunden werden, daß also auch der Rhein keine Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bilden könne, ist stärker und siegreicher, als Vorurtheile, wenn sie auch noch so tief in den Gemüthern wurzelten.

Ja, was die auswärtige Politik betrifft, so befinden wir uns sogar schon in diesem Augenblicke auf einem Uebergange, wel­chen man sich für die Prinzipien derselben vor 10 Jahren noch nicht möglich dachte. Die politischen Systeme sind in zwei Feld­lager getheilt; hier ist Fortschritt, dort Stillstand das Losungswort. Jeder geht mit seiner Partei; auch die Staaten, die ein und das­selbe System haben, sollte man glauben, müßten Hand in Hand gehen, müßten durch Bündnisse sich stark machen, um den ge­meinschaftlichen Feind zu werfen, müßten überall nach einer vorher getroffenen freundschaftlichen Verab­redung einschreiten. Finden wir diese Politik befolgt? Vor einem Decennium hatte es das Ansehen. 319 Jetzt sehen wir wieder, daß sich die Sympathien ganz anders bestimmen und die Interessen sogar da begegnen, wo man im Uebrigen nicht zum besten aufeinander zu sprechen ist. So ist zum Beispiel die heilige Allianz durchaus nicht mehr so eng verschwistert, wie damals, als sie zum erstenmal beschlossen wurde, und England, der einzige Staat, sich weigerte, ihr beizutreten. Oesterreich ist durch die Napoleonische Zeit so sehr gewöhnt, sich an die Politik unsrer Staatsmänner an­zuschließen, daß wir für gewiß annehmen können, es wird jeden einzelnen Titel seiner Interessen allen Paragraphen der heiligen Allianz vorziehen. Eben so gut, wie wir jetzt Frankreich mit Ruß­land konspiriren sehen, um die Bestimmungen des Quadrupel­vertrags zu hintergehen, eben­ so könnte Oesterreich vorziehen, sich mit konstitutionellen Staaten zu verbinden, wenn es sich darum handelte, Rußlands Macht im Osten oder im Westen durch Armeen oder durch Portfolio’s zu bekämpfen.

Einer der kostspieligsten Ansätze in den Budgets ist noch immer die würdige Repräsentation der Staaten im Auslande. Die großen Reiche finden daher auch für passend, lieber vermögende Staatsmänner für diesen Zweck zu wählen, welche aus eignen Mitteln noch das hinzuthun, was ihnen der Staat nicht geben kann. Wie könnte Oesterreich dem Fürsten Esterhazy die Mittel geben, um von Tatersall ein Pferd zu kaufen, das einen außerordentlichen Preis kostet und dann von ihm erschossen wird! England allein scheint bei seinen auswärtigen 320 Gesandschaften und den Consulaten von der Meinung auszugehen, daß ihm an einer Repräsentation der englischen Wettrenner und Fuchsjäger nichts gelegen ist. Es besoldet und verlangt nur nach dem Maße der von ihm gegebenen Summe die Einrichtung eines passenden Haushalts. England ist aber auch der einzige Staat, der seine Consuln bezahlt und dadurch die Würde unsrer Nation nicht blos in Petersburg und Wien aufrecht erhalten kann, sondern auch in Algier, Tunis, in Alexandria und Damascus. Will einmal eine Nation imponiren, so muß sie es den Reisenden als Zufluchtsort, den Handelnden als Beschützerin, allen Fremden als kosmopolitische Gastfreundin. Was kann es helfen, daß unser Gesandte in Wien eine Wette macht, welche der österreichischen Aristokratie Ehrfurcht vor ihm einflößt? Unsrer Nation kann die Billigung der ungrischen Magnaten sehr gleichgültig seyn; in die Neigung des Volkes, in die Stimmung der öffentlichen Meinung soll ein Staat sein Netz auswerfen und sich eine seinen Interessen gemäße Würdigung zu erobern suchen. Dieß geschieht aber weit besser, wenn wir einem Gesandten statt 20,000 Pfd. nur 10,000 geben und die andere Hälfte an zehn unsere Interessen in entlegenen Gegenden wahrende Consuln vertheilen.

Die gegenwärtige europäische Diplomatie ist theils aus Gentlemen, theils aus Polizeispionen zusammengesetzt. Wenn man nicht gerade ausgezeichnete Staatsmänner zu Gesandten wählt, wie Talleyrand und Pozzo di Borgo, 321 so müssen diese dazu dienen, mit der Aristokratie des Landes, wo sie ihren Sitz aufschlagen, zu wetteifern, bei den Thorheiten des Auslandes die Thorheiten des Inlandes zu vertreten, Wettrennen mitzuma­chen, glänzende Diners zu geben und wo möglich sich den Prinzipat in der fashionablen Welt anzueignen. Die Ostentation muß sich von der Toilette des bevollmächtigten Botschafters bis zur Livree seiner Dienerschaft erstrecken. Seine Pferde müssen die theuersten, seine Hunde die gewandtesten seyn. Er braucht sich weit weniger mit der Politik der fremden Staatsmänner zu be­schäftigen, als mit deren Frauen. Leichtsinn setzt seine Konstituenten nicht in Besorgnisse, oder nur, wenn sie hören, daß ihr Gesandter ein großer Spieler ist. In diesem Falle kann die edelste und fashionabelste Figur nicht mehr für sich einstehen; hat das Spiel einmal erst alle übrigen Leidenschaften in Beschlag genommen, so zieht es allmählig den ganzen Menschen in seine Sphäre herunter, lenkt alle Triebfedern seines Geistes auf die Hoffnung des Gewinnes oder wenigstens den Aerger, daß man verliert; man greift, um das Glück zu betrügen, nicht selten nach verzweifelten Mitteln und kann überhaupt für sich selbst nicht mehr gut sagen. Wenn ein Kabinet hört, daß sein Botschafter ein großer Spieler geworden ist, so sollte es ihn immer von einer Stelle abberufen, die er auf würdige Weise nicht mehr ausfüllen kann.

Nun, wenn die Diplomatie etwas anders wäre, als das Treiben eines Roués in der Gesellschaft, was würde 322 sie zu beob­achten haben? Wir wollen annehmen, daß nicht alle Gesandte blos in das Ausland gehen, um ihr Vermögen durchzubringen. Sie sollen auch eine Politik verfolgen, die über diese Dinge hinausgeht, sie sollen wenigstens Instruktionen haben. Talleyrand hat einmal von einem Diplomaten, den Napoleon nach Konstantinopel schicken wollte und der ihm mißfiel, gesagt: „Er versteht ja nicht einmal das Alphabet der Politik. Ich habe oft über diesen Ausspruch nachgedacht und mir zu sagen versucht, was Talleyrand, dieser verschlagene Ulysses der Diplomatie, unter dem Alphabet der Politik verstanden hatte. Die Grund­lage dieses Alphabetes sind jedenfalls Prinzipien Macchiavelli’s, jene Politik, die von dem Satze ausging: es ist nicht alles Tugend und auch nicht alles Verbrechen, welches man dafür zu halten geneigt ist; jene Politik, welche sagte, ein ehrlicher Mann unter hundert Schelmen muß entweder selbst ein Schelm werden oder zu Grunde gehen. Man sollte eine neue Anleitung zur Politik unsers Jahrhunderts mit specieller Anwendung auf die Verhältnisse der Gegenwart schreiben und diesem Buche den Titel Tal­leyrand geben. Es könnte sich darin die feinste Menschenbeob­achtung und die bitterste Satire aussprechen. Ein solcher Codex der geheimen Umtriebe unsrer Zeit, der aristokratischen und demokratischen, der monarchischen und republikanischen, der Priester- und Laien­schliche könnte allen denen, welche das Meer der Oeffentlichkeit beschiffen wollen, als ein warnender Pharus die­nen, so daß die Betrügenden durch 323 diese Offenbarung ihrer Kunstgriffe selber die Betrogenen würden.

Wie würde wohl ein Schüler Talleyrands in London auftreten? Gesetzt, er ist ein Franzose, er ist gewandt, fashionable, vermögend, mehr oder weniger abgenutzt, ein Diplomat, der nicht blos die Stutzer seines Vaterlandes, sondern auch die Stützen desselben repräsentiren will. Daß er Bälle gibt, daß er sich im Umgange, wie man zu sagen pflegt, als bon garçon zeigt, daß er von den Frauen bevorzugt wird und wenigstens die weibliche Seite aller Parteien für sich hat, das mögen die unerläßlichen Vorausbedingungen seyn. Fuchsjagden, Wettrennen, zerschmetterte Kabriolets, todtgeschossene Pferde, Hahnen­kämpfe, davon braucht aber bei Talleyrand nicht die Rede zu seyn. Talleyrand wird nöthig haben, zuerst das politische Leben Englands zu studiren, er muß wissen, auf wessen Seite sich die Wage der Parteien neigt, er muß auf die Majorität einen Werth legen, der etwas größer ist, als die Majorität der Deputirtenkammer. In Frankreich wechseln die Ministerien, ohne daß die Systeme verändert werden; in England wechseln nicht nur die Systeme, sondern eine ganz neue Partei mit neuen Prinzipien und Sympathien ersetzt die gestürzte alte. Muß nun Frankreich nicht Interessen haben, wel­che gegen England unter allen Parteiumständen sich gleich bleiben; oder richtiger ausgedrückt: gibt es in Frankreich ein Interesse, daß so gut den Whigs wie den Tories gegenüber aufrecht erhalten werden müßte? 324 Allerdings! Das ist die Selbstständigkeit beider Nationen, das Handelsinteresse, welches sich niemals den Engländern an­schließen wird, Beziehungen zu der Schweiz, Deutschland und Italien, Protektorat über Belgien, die Grenze Spaniens, Algier, die Türkei. Müssen nun diese Interessen schroff gegen die englische Politik hingestellt und immer von dem einseitigen französischen Lichte beschienen werden? Um’s Himmelswillen nicht! Die Kunst muß darin bestehen, alle diese Fragen so zu wenden, daß England umwillkürlich an ihnen interessirt ist. Man muß England zwingen können, gegen seinen eigenen Vortheil auf der einen Seite in eine falsche Stellung zu kommen und auf der andern Seite sich durch die Bundesgenossenschaft Frankreichs doch gefördert zu sehen. Suchen Sie alles aufzubieten, heißt die Talleyrand’sche Instruktion, daß Eng­land nie außer Athem kömmt; immer muß es im Feuer seyn, da nur der Unthätige sich zu besinnen Zeit hat und ehe er handelt, an Anfang, Mittel und Ende zu denken sich Zeit nimmt, der Thätige hingegen nur daran denkt, den Augenblick zu gewinnen und wenig­stens die nächsten Schritte um sich her klar und deutlich zu sehen. Haben Sie England erst so weit in Athem gebracht, daß es zwischen zwei Uebeln das größere oder kleinere wählen muß, so wird es sich zwar immer gegen unsere Interessen zu verwahren suchen, aber sich doch in einer Tretmühle befinden, welche nur dazu dient, jene Maschine in Bewegung zu setzen, auf welche wir unser Korn aufgeschüttet haben. Das erste und Hauptmittel, 325 die französischen Interessen in England zu wahren, ist dieß, sie mit den zunächst nicht gegen Frankreich gerichteten eng­lischen zu kombiniren. England hat der Zielpunkte seiner Bestre­bungen vielleicht weniger als Frankreich, weil es durch seine Lage so unendlich begünstigt ist; allein auf jene Passagen, die es sich schützen muß, darf es nicht blos mit dem Finger zeigen, sondern muß die ganze Faust darauf legen. Jetzt ist die französische Politik die, all’ den Stützpunkten, die England bedarf, um fest auftreten zu können, in aller Stille französische Interessen unterzu­schieben, so daß, wenn Englands stolzestes Linienschiff mit vollen Segeln auf die Höhe einer noch ziemlich entlegenen Zukunft hinausfährt, Frankreichs kleine Schaluppe von ihm in’s Schlepp­tau mitgenommen wird. England ist mit seiner französischen Allianz auf die Zukunft bedacht, Frankreich dagegen weiß davon einen Vortheil für die Gegenwart zu ziehen. So war es in der orientalischen, so in der spanischen Frage. Die Talleyrandisti­sche Politik geht immer darauf aus, den Bundesgenossen in’s Feuer zu schicken, daß er die Kastanien hervorhole und dem andern dabei das Verbrennen der Finger erspare. Frankreich mische nur recht viel Bewunderung der englischen Politik und Staatsmänner in seine eignen Umtriebe, so werden diese letztern immer thöricht und eitel genug seyn, sich von ihm düpiren zu lassen. Der Bewunderung seiner großen Institutionen, seiner fashionablen Manieren widersteht der Engländer nicht. Je mehr der Gesandte geizt, in die Klasse der 326 Exklusiven aufgenommen zu werden, desto enger zieht sich das Band der Freundschaft. Spielt er nun gar mit Lord Grey Schach oder trägt er eine Kravatte, von der man glauben könnte, daß sie Lord Palmerston eben abgelegt hat, weiß er seinen Russenhaß weniger nach dem brandigen Mos­kau, als nach englischem Moschus, der sich vor dem Geruch der Russen schützen will, riechen zu machen, so hat er das Vorurtheil der englischen Aristokratie erobert und kann jenen im Grunde lächerlichen Satz, daß England und Frankreich natürliche Verbündete wären, wie kleine Münze fortwährend aus der Tasche werfen. Die Whigs überdieß kirrt man mit der Deputirtenkammer und die Tories mit jenen Pairs, welche in Paris vornehmeres Blut besitzen wollen, ohne dasselbe vererben zu können. Um den Pöbel mit seinem radikalen Franzosenhasse nicht durch das französische Handelssystem noch mehr aufzureizen, schickt man zuweilen einen Dupin oder sonst einen französischen Dr. Bowring, läßt ihn mit offenem Munde durch unsre Fabrikstädte laufen, die Maschinen und Eisenbahnen anstaunen und mit einer lauten Lobrede der englischen Volksgröße sich in Dover wieder einschiffen. Ist ein solcher Charlatan in Calais angekommen, so lacht er John Bull aus und hebt auch nicht einen einzigen der prohibitiven Ansätze seines Tarifes auf. Man schmeichle den Engländern, man verwirre sie in ihren eigenen Interessen, so wird man dahin kommen, daß sie sich zu einer Quadrupelallianz verstehen, die von Louis Philipp längst an Rußland verrathen ist, die 327 von den französischen Ministern auf der Tribüne selbst lächerlich gemacht wird und die Engländer noch immer so zum besten hat, daß diese nicht einmal wagen, offen die Wahrheit zu sagen und sich einer Verpflichtung zu entledigen, wo die Schmach einzig und allein nur auf ihrer Seite ist.

Weit zusammengesetzter ist die Diplomatie Rußlands. Ruß­land und überhaupt die nordischen Staaten wollen eben sowohl die Integrität ihrer isolirten Interessen erhalten, als auch jene Grundsätze, über welche ihre eigenen Staatsgebäude aufgeführt sind. Wenn wir oben sagten, daß die Diplomatie nach unten hin sich mit der Polizei verbindet, so ist es hauptsächlich Rußland und sein Anhang, wo die Gesandten nicht blos gegen die Regie­rung des Landes, wo sie beglaubigt sind, sondern auch gegen die Stimmung des Volkes eine beobachtende Stellung einnehmen müssen. Die Instruktion eines russischen Gesandten in Paris muß außerordentlich verwickelt seyn. Er soll nicht nur jenes Gleichgewicht der allgemeinen europäischen Politik im Auge haben, soll nicht nur den Frieden als erwünscht und den Krieg als keines­weges gefürchtet darstellen, nicht nur über den innern Parteigeist und die Fortschritte der Demokratie seine schwarzen Register führen, sondern soll auch Rußlands moralische Stellung, den Grad seiner Kultur, die sittliche Bildung der Moskowiter, die Aufklärungsbestrebungen der Regierung gegen die Entstellung der polnischen Flüchtlinge und das Gerücht überhaupt, welches Rußland 328 außer dem Bereich der Civilisation setzt, vertreten. Kann es eine feinere Rolle geben, als die, welche Pozzo di Borgo in Paris spielte? Selbst Franzose, selbst Republikaner, opferte er seine Geburt und Ueberzeugung einem Ehrgeize, der mit der Größe Napoleons wetteifern wollte. Er tritt in russische Dienste und schwingt sich allmählig während des Krieges zum Diplomaten des Feldlagers auf. Er wird Günstling und Hauptbeförderer jener politischen Vielseitigkeit, welche sich plötzlich der Staatsmänner Rußlands bemächtigte.

Rußland hat drei Schulen der auswärtigen Politik gehabt. Die erste ist die einseitige der alten Bojarenpolitik, die Politik Pauls und seiner Gemahlin, die als Kaiserin Mutter noch unter Alexander einen großen Wirkungskreis behauptete und die russische Natio­nalität durch Absonderung, nicht durch Vermischung mit dem übrigen Europa zu heben suchte. Dieser Partei hielten die Sym­pathien des aufgeklärten und menschenfreundlichen Alexander das Gegengewicht. Alexander suchte seinen Stolz darin, Ruß­land allmählig auf das Niveau jener Bildung zu bringen, welche die übrigen europäischen Staaten auszeichnet; Alexander gehörte jener Schule der politischen Aufklärung an, welche im vorigen Jahrhundert in Schweden, Oesterreich, Rußland, Portugal, Spa­nien und Savoyen das Licht der Aufklärung gegen den Zugwind der Aristokratie und Geistlichkeit zu schützen suchte. Alexander klagte, daß die Verkettung der Umstände ihn zwang, gegen einen Helden Krieg zu führen, den er hochschätzte. 329 Die Freundschaft, mit welcher Napoleon in Erfurt von Alexander begrüßt wurde, war keine erheuchelte. Sie beruhte, wenn nicht auf dem Genie des Kaisers, doch in jenem richtigen Blicke, mit welchem Alexander den Lauf der Ereignisse von der Revolution an zu be­urtheilen wußte, auf jenem warnenden Kassandrablick, der es für ein Unglück hielt, Frankreich wieder an die Schwäche der Bour­bonen zu überliefern und der den ersten besten General, einen Bernadotte, Moreau lieber an der Spitze der Franzosen gese­hen hätte, als die verhätschelten Enkel des heiligen Ludwig. In Alexander lagen zwei Seelen, die eine wollte die Freiheit, die andere wollte niemanden bei dem Siege derselben verkürzen. Eine be­kannte religiöse Stimmung verknüpfte später beide Richtungen, so daß man sich den Widerspruch erklären kann, wie zur Ehre Gottes Rußland im Süden die Flammen der griechischen Empörung schürte und im Westen zur Ehre Gottes dieselbe Revolution bekämpfte.

Zu der alten Bojarenpolitik gesellte sich eine zweite Tendenz, die von Nesselrode repräsentirte verschlagene Unterhandlung und diplomatische Schachspielerei mit dem Westen und die an den Namen Capo d’Istria sich anschließende Politik der Befreiung des Orients und der europäischen Türkei. Als diese Richtungen sich zum erstenmale in Bewegung setzten, gab ihnen nicht blos der Egoismus den Stoß, sondern im Anfang in der That Ideen von Völkerwürde und Rechten der Geschichte, um welche sich ein Heiligenschein religiöser Empfindungen 330 zog; doch später erlosch dieß glänzende Feuer in den Augen, diese jugendliche Röthe auf den Wangen der russischen Diplomatie und es blieben nur zurück die Handgriffe einer Routine, welche ungemein vielen Esprit verräth, aber entschieden nur auf die retardiven Interessen gegründet ist. Der Graf Nesselrode, der gegenwärtige Staatskanz­ler des russischen Reiches, ist der Schöpfer jener russischen Diplomatie, welche in Erstaunen setzt, wenn man ihre Feinheit und Gewandtheit mit dem Charakter und Bildungsgrade jenes Volkes vergleicht, dessen Interessen sie zu vertreten hat. In der That geht aus dem Kabinet von St. Petersburg eine Fülle von geistreichen Wendungen, von Routine und Talleyrandistischer Originalität hervor. Nesselrode schuf diese Diplomatie, indem er die von uns oben berührten halb bojarischen, halb jakobinischen Extreme, in welche die russische Politik hätte ausarten können, überflügelte und namentlich durch seine Berührungen mit dem Fürsten Metternich jenes ruhigen und gemäßigten Gleichgewich­tes Herr zu werden suchte, welches die Diplomatie zu einer wechselseitigen Abwägung von mehr oder minder Klugheit gegen mehr oder minder Aufrichtigkeit macht. Die Schule Nesselrode’s zeichnet sich durch das Talent der Unterhandlung aus, zu welcher sich der leidenschaftliche Partikularismus der Bojarenpolitik niemals würde herbeigelassen haben. Es war nach dem Winter von 1812, wo Pozzo di Borgo in die russische Diplomatie eintrat und bis auf die neueste Zeit ein Versteckensspiel mit Frankreich 331 zu unterhalten gewußt hat. Die erste Bedingung dieser Repräsentation war die vollkommene Gleichstellung mit den Vorzügen und Virtuositäten des französischen Lebens. Pozzo di Borgo kannte das Terrain, die Menschen und die Verhältnisse, und hat mit außerordentlicher Begabung Rußlands Interessen gegen die Undankbarkeit der Restauration, gegen die Feindseligkeit der Parteien, gegen die Julirevolution und die Umtriebe der polnischen Flüchtlinge zu vertreten gewußt. Pozzo di Borgo fiel, vielleicht weil er den Begriff der russischen Diplomatie zu fein, vielleicht aber auch, weil er ihn zu formell aufgefaßt hatte. Pozzo di Borgo hatte sich so weit in die pariser Tagsdebatte eingelassen und dadurch Rußland in so nahe Berüh­rung mit dem Gewirr der Parteien gebracht, daß sich Petersburg nach Paris versetzt glauben mußte, daß man beinahe hätte annehmen sollen, in Paris existirte eine vollkommen organisirte russische Politik und Jour­nalistik. Es kam fast bis zum Scandal. Rußland war immer im Vorgrunde, Rußland war eben so erhitzt, jähzornig, eilfertig, eben so passionirt für die kleine Intrigue, wie Thiers und die Tuilerien. Rußland besticht, Rußland besoldet, Rußland schreibt sogar in pariser Blättern; man mußte dieß glauben, wenn man auch nur die Schatten des Gerüchts und die dabei handelnden Figuren nicht leibhaft sah. Was soll man glauben: wurde Herr Löwe-Weimars, der plötzlich aus den kleinen Streitigkeiten der Journalistik nach Petersburg ging, um von dort eine bessere Meinung über Rußland zu verbreiten 332 und sich zunächst eine steinreiche Gräfin als Gattin mitzubringen, von seinem eignen Ehrgeize dorthin getrieben, oder wurde er von Thiers geschickt, oder wurde er von Nesselrode verschrieben? Das ist ein Räthsel.

Seit Pozzo di Borgo’s Quiescirung haben sich in der russi­schen Politik einige Veränderungen ergeben, die deutlich zu Tage liegen. Die Politik dieser großen Macht hat sich, mit einem Worte zu sagen, vereinfacht. Pozzo di Borgo’s Vorliebe war es gewesen, zu trennen, zu vervielfachen und sich zu weit hinaus zu wagen, hinaus selbst in ein Feld, das man nicht betreten sollte, wenn man nichts zu repräsentiren hat, als einen energischen, drohenden und zugleich doch nicht offen feindseligen Willen. Pozzo di Borgo erfaßte Rußland mehr als eine Idee, denn als eine Wirklichkeit, welche er, der Paris nicht verließ, nur aus der Vorstellung kannte. Dieser große Diplomat war vollkommen geeignet, die stumme Größe Rußlands in einer Zeit zu repräsentiren, wo die Autorität, welche in Frankreich herrschen und sich befestigen sollte, so zahllosen Intriguen, einer so minutiös zersplitterten An­fechtung unterworfen war, wie wir dieß an Louis Philipp in den ersten Zeiten seiner Regierung sehen konnten. Späterhin mochten diese verschlagenen Andeutungen, daß Rußland heute dieß wolle, morgen jenes zurückweise, hier drohe, dort warne, diese eigenthümlichen kleinen Intriguen Pozzo di Borgo’s wohl mehr Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland erzeugen, als dem Kabinet von St. Petersburg erwünscht war. Es 333 ist in der Po­litik, wie im Gebrauch der physischen Kraft; je mehr Concentration, desto mehr Energie. Ein Fechter, der tänzelt und herumspringt, ermüdet, und muß dann alle seine Vortheile an den, welcher still stand, wieder abtreten. – So lange Pozzo di Borgo in Paris am Ruder war, konnte die französische Presse mit Recht die Meinung verbreiten, daß sich Rußland fortwährend damit beschäf­tige, auf jeden ihrer kleinen Umtriebe, auf ihre Verdächtigung in allen Formaten zu achten.

Wir sagten schon, daß die russische Diplomatie eine Bildung besitzt, von der man nicht glauben kann, daß sie an der Newa erlernt ist; allein seit Herr von Pahlen in Paris ist, hat auch die pariser Presse wieder das Vorrecht, auf eigene Hand ihre blauen Geister zu sehen. Seitdem die russische Politik lakonischer und ernster geworden ist und der Umstand wegfällt, daß Pozzo di Borgo durch seine Geburt, Erziehung und Bildung verführt wur­de, sich nur innerhalb französischer Manieren zu bewegen, hat sich auch das Balanciren zwischen Paris und Petersburg gelegt und dahin entschieden, daß Louis Philipp weit mehr hervortreten und von sich versprechen, daß er weit mehr seine Hin­neigung zum Norden und seine Abneigung gegen die englische Allianz versichern mußte, wenn er Concessionen erlangen wollte, die ihm Pozzo di Borgo bisweilen gestattete, aber nur in solchen Fällen, daß z. B. bei einem Balle in Fontainebleau nur die Aristokratie und kein einziger Bürgerlicher eingeladen worden war.

Es scheint, daß sich die russische Diplomatie, so außer-334ordentlich durch das Portfolio kompromittirt, auf eine imposante Trägheit jetzt beschränken will. Sie verläßt sich auf den Schwerpunkt der Größe, welche sie repräsentirt; sie scheint auch nicht einmal die Absicht zu haben, jene andere Politik zu verfolgen, welche sich an den Namen Metternichs anknüpft, und zu welcher sie auch weit weniger Veranlassung hat, da sie zwar wie Oesterreich von konservativen Principien abhängig ist, aber darum noch nicht die Ueberhandnahme der Demokratie allzusehr zu fürchten braucht. Oesterreich hat eine Diplomatie, die ent­schieden in zwei Theile getheilt ist, in höhere Politik und in Polizei. Die Umstände, die hiebei obwalten, sind sehr eigenthümlicher Natur; da sie bis jetzt zum Theil noch unbekannt blieben, so mag hier ein Versuch über den allerdings dunklen und mehr auf die Divination verwiesenen Gegenstand folgen.

Es kann Staatsmänner geben, welche weit aristokratischer denken als der Fürst Metternich, Staatsmänner, welche aus dem Systeme des Widerstandes eine Leidenschaft machen; allein unübertroffen bleibt Metternich in der Consequenz seiner Bestrebungen und namentlich in den Begriffen vom Gegentheil derselben. Man hat oft gefragt, ob wohl Metternich von seinem Syste­me überzeugt wäre und hat damit sagen wollen, ob er es vor Gott und vor seinem eignen Verstande verantworten könne. Wir glauben, daß Metternich fest davon überzeugt ist, sein System könne im Felde der innern Politik durch kein schicklicheres ersetzt werden. Das Maß von 335 Freiheit, welches die Oesterreicher genießen, ist gerade so groß wie das Maß ihrer Bildung. (?) Was nützt ihnen eine Freiheit, die größer wäre als ihr Verstand, um sie zu begreifen? Es kann mir nicht in den Sinn kommen, Metternich’s System in so fern vertheidigen zu wollen, als er es auf eine einmal unwandelbare Annahme zu begründen scheint. Ich finde, daß in Oesterreich allerdings auch die Fortschritte anerkannt sind, allein nur als das Resultat des Auslandes, nicht als die organische Blüthe von Bestrebungen, die aus dem Schooße des österreichi­schen Volkslebens selbst hervorschossen. Wenn Oesterreich zur Freiheit noch nicht reif ist, warum soll es diese Reife nicht aus sich selber erzeugen? Ich finde, daß außerordentlich gut für die Nation gesorgt ist, daß man ihr nichts entgehen läßt, was an neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und industriellen Erfindungen die Tiegelprobe der Erfahrung bestanden hat. Allein man kann den Menschen alles schenken und sie werden sich immer, da sie es sich nicht selbst verschafften, für arm halten. Ich glaube, darin wird die Besorgniß der Metternich’schen Politik liegen, daß sie fürchtet, ist einmal erst die Maschine der eignen Gedanken im Lande in Bewegung gesetzt, haben die Gemüther die süße Gewohnheit des Selbstdenkens gekostet, so würden sie vielleicht der Kraft ihrer geistigen Springfedern zu großes Vertrauen schenken und neben dem Nothwendigen und Erwünschten auch vieles Andere bedenken, was überflüssig scheint und bedenklich.

336 Dieß System, übertragen auf die Berührung mit fremden Staaten, muß allerdings von einem großen Mißtrauen gegen alles geleitet werden, was vom Volke stammt; also nicht blos gegen den Parteigeist, der die Einheit mancher Staaten zersplittert, sondern auch gegen diese Staaten selbst, wenn sie auf das Princip der Volkssouverainität gegründet sind, gegen die königliche Prärogative, wenn diese vom Volke eingesetzt ist. Dennoch schließt diese unwandelbare Theorie der österreichischen Politik die Anerkennung der Geschichte und unwiderruflicher Thatsachen nicht aus. Oesterreichs auswärtige Stellung ist negativ, allein sie negirt die Revolution nicht. Das ist der große Unterschied der österreichischen Diplomatie von derjenigen, welche wir von andern autokratischen Staaten befolgt sehen, daß Oesterreich alle Thatsachen, welche sich in Europa geltend zu machen wußten, anerkannte, daß Oesterreich zwar die Fortschritte der Revolution bekämpft, überall wo es kann, aber sich darum nicht abmüht, die Revolution selbst zu bekämpfen, ihr Princip, ihren Ursprung. Was will man machen? Die Revolution ist einmal da, sie hat Terrain in unsern Gemü­thern gewonnen, all’ unsre Begriffe sind von ihr geschwängert; sie hat durch Napoleon selbst den meisten autokratischen Staaten als Dünger zu einer neuen Umackerung gedient. Man verliert nur Zeit und Mühe, wenn man die Scherben des zertrümmerten Riesenbildes wieder aufsuchen und tief in die Erde vergraben wollte. Was einmal da gewesen ist, das bleibt, die Geschichte 337 thut nichts umsonst, sie wird sich hüten, irgend eine ihrer großen Thaten, ja selbst irgend eines ihrer großen Verbrechen preis zu geben und zu verleugnen.

Der Zufall hat mich mit jener österreichischen Diplomatie in Berührung gebracht, welche mit der höhern und der polizeilichen Bestimmung derselben in der Mitte liegt. Ich werde sagen, was ich darüber gehört habe und was ich glaubte, darauf antworten zu müssen. Wir denken um keinen Preis daran, hieß es, die Richtungen, welche das Ausland nehmen will, nach unserm Compaß zu lenken. Wir betrachten euer Parlament als die organische Noth­wendigkeit einer auf historischem Boden gewurzelten politischen Aufklärung. Wir sehen die Deputirten­kammer in Frankreich, die Journale, die Nationalgarde zum größten Theil als ein Spielzeug an, welches den Leichtsinn der Franzosen beschäftigen muß, wel­ches im Nothfall auch stark genug ist, um nicht gleich durch bloßen Uebermuth zerbrochen zu werden, als Institutionen, welche Vollkommenheit genug besitzen, um nicht der Tadelsucht gänzlich zu verfallen, und auf der andern Seite Fehler genug, um dem unruhigen Neuerungs­triebe jener Nation als ableitender Stoff entgegen zu kommen. Was läßt sich gegen Spanien thun? Es vertheidigt mit unbesiegbarer Hartnäckigkeit alles dasjenige, wofür sich der Eigensinn dieses Landes einmal erklärt hat, und Europa kann froh seyn, wenn nur auf der pyrenäischen Halbinsel wenig­stens die Ordnung und Humanität herscht, mag sie nun von Don Carlos oder der Königin gehandhabt 338 werden. Wir unterstützen den ersten, wendet man ein, wir schicken ihm über Triest bedeutende Summen; wir verweisen Don Miguel aus Italien nicht, wir nehmen die von der Volksrache gestürzten Könige in unsere Grenzen auf und lassen sie großmüthig sterben und in der Gruft unsrer Fürsten beisetzen. Das sind Dienstlei­stungen, denen wir uns nicht entziehen können, die einmal von den Anhängern der Reaction eben so bestimmt in Anspruch genommen werden, wie sich etwa politische Flüchtlinge nur an die geheimen Comi­tees zu wenden brauchen, um existiren oder irgendwo einen verzweifelten Schlag ausführen zu können. Wir retardiren, aber weder im Interesse der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern einzig dem status quo zu Liebe. Wir verstehen unter status quo nicht die gegenwärtig vor den Augen verbreitete Weltlage, sondern nur den bei der Flucht der Erscheinungen unbeweglich ruhenden Pol, die Einheit, die Sicherheit des Momentes, den man der Menschheit lassen muß, um zu athmen, der Gesellschaft, um fröhlich zu seyn, den Staaten, um ein gutes Beispiel zu nehmen und sich für das Bessere oder Schlechtere zu entscheiden, den Politikern endlich, um sich nach der Constellation der Umstände einzurichten und die Stellung einzunehmen, wel­che sie mitten in der Verwirrung glauben behaupten zu müs­sen. Wir wahren die Interessen der Conservativpartei nur deßhalb, um die Geschichte von dem überstürzenden Fortschreiten abzu­halten. Ohne Gleichgewicht des Für und Wider, ohne die Elasti­cität der Discussion 339 und des Kampfes wird es keine Wahr­heit, wird es keinen Sieg geben; wir sind gewohnt zu unterliegen, ja, selbst wenn wir siegen ist es nur, weil wir später dafür desto mehr wieder abtreten müssen. Warum hat aber von jeher unsere Politik sich an die Englands gehalten? Weil in keinem Lande dem natürlichen Fortschritte der Aufklärung so viel organische Hemmnisse gegenüberstehen, als dort, weil kein Volk seine Gedanken durch so viel Siebe bringen muß, als das englische.

Der Eingeweihte, von dem ich spreche, fuhr fort: „Oesterreich ist weit mehr dazu aufgelegt, zu unterhandeln, als zu streiten, zu vermitteln, als zu entzweien. Oesterreich will die Revolution nicht unterdrücken, sondern nur aufhalten, und ergreift zu diesem Zweck alle nur mögliche Mittel, die eigner und fremder Witz ihm an die Hand geben. Oesterreich kann, weil es das geistige Princip im Lande nicht wie einen stolzen Baum sich ausbreiten und in dem majestätischen Bewußtseyn seiner fruchtreichen Aeste sich wie­gen läßt, nur über wenig Talente gebieten. Oesterreich nimmt gern eine gewandte Feder in Sold, doch unterscheidet sich Oesterreich in der Art, wie es eine solche Feder gewinnt, z. B. von Rußland, auf entgegegesetzte Weise. Rußland läßt sich aus Paris einen Jour­na­listen kommen; dieser tritt in Petersburg mit allen Tollheiten seines romantischen Glaubensbekenntnisses auf, spricht nur französisch, verleugnet nicht eine einzige seiner pariser Gewohn­heiten, heirathet eine reiche Erbin und kehrt nach Paris zurück, um ein Buch 340 über Petersburg und Moskau zu schreiben, das drei Monate besprochen wird und dann der Vergessenheit anheim fällt. Rußland hat besoldete Schriftsteller in Paris, London, Frankfurt, in Athen. Sie waren nie in Rußland, sie bekennen sich nicht öffentlich für dasselbe, sie abstrahiren nur un­gefähr das russische Interesse bei den verschiedenen politischen Fragen, stehen ohne Controle und kassiren alle Quartale ihre Wechsel ein. Mit solchen Diensten gibt sich Oesterreich nicht zufrieden, Oe­sterreich verlangt eine entschiedene Hingebung; es will nicht blos die Feder, sondern den ganzen Menschen, es will nicht blos seine Meinungen, sondern auch sein ganzes Leben für sich gewinnen. Rußland weiß zu gut, daß jemand, der als grie­chisch-getaufter Bojar seine Interessen im civilisirten Europa vertreten will, von niemand würde angehört werden. Oesterreich aber hat es gern, daß seine literarischen Partisane auf’s ent­schiedenste zur Fahne des Habsburgischen Hauses schwören. Sie müssen nicht den Anschein haben, als wollten sie vermitteln, sondern sollen den Gegensatz mit der ganzen enthusiasti­schen Schroffheit ausdrücken, welche sogar manche ihrer Anhänger bewogen hat, das prote­stantische mit dem katholischen Glaubensbekenntniß zu wechseln. Sonst freilich ist Oesterreich eifersüchtig auf die richtige Beur­theilung seiner politischen Stel­lung. Es hat gern, wenn man es von dem gewöhnlichen Dufte absolutistischer Tendenzen befreit, und erfreut sich auch größtentheils durch ein klug angelegtes im Schach Halten vorstrebender literarischer Köpfe und 341 Parteimänner einer weit nachsich­tigeren Beurtheilung als mancher andre Staat, der, freier Verfas­sungsformen ermangelnd, doch in Kunst und Wissenschaft weit vor Oesterreich voraus ist. Glauben Sie, daß Oesterreich rachsüchtig ist, daß es die Revolution im Auslande mit einer durchaus büreaukratischen Beamtenstrenge bestraft wissen will? Ich könnte Ihnen hier Beispiele einer außerordentlichen Toleranz mittheilen, wenn sie nicht dem Horizonte der Politik, an welchen Sie gewöhnt sind, zu fern lägen und durch ihre Veranlassungen zu kleinlich wären.“

Ich erwiederte darauf: „Ihre Enthüllungen sind für mich so neu, daß Sie mich schon darum entschuldigen müssen, wenn ich dagegen nach meiner Erfahrung des Alten einige Bedenken äußere. Ich glaube, daß der Staat, welchen Sie eben so beredt vertheidigt haben, es weit mehr vorzieht, die Revolution zu verwirren, ihre Glieder sich unter einander selbst bekämpfen zu lassen und dann der öffentlichen Meinung davon eine Moral vorzuhalten, die wohl noch etwas weiter zurückgeht, als bis zum status quo. Es ist ein sehr verführerisches Wort: „Wir sind im Grunde so liberal wie ihr auch, wir wollen nicht Vernichtung, sondern nur Hinhaltung! Welches ist zuletzt der Sinn dieser Erklärung? Daß wir nach wie vor die bleiben, die wir sind. Es gibt für die Politik, welche Sie da geschildert haben, vielleicht keine größere Genugthuung, als wenn die gekirrten liberalen Parteianführer durch irgend ein öffentliches Zuge­ständniß an 342 das so schön dargestellte System sich kompromittiren, wenn sie straucheln, und nun weder bei den Einen noch bei den Andern Zuflucht finden. Die Macchiavellismen gehen immer im Schwange; jeder benutzt seinen Vortheil, wo er ihn wahrnimmt; man kann sich auf keinem Gebiete wechselseitiges Vertrauen schenken, wo nicht eine Partei der andern entschiedene Concessionen macht. Wehe denen, die sich statt auf Werke nur auf Worte verlassen!“

Genug hievon! Ich könnte nun eine Blöße aufdecken, welche beschämend ist; doch sind die vorangehenden Bemerkungen zu ernst und tief begründet, als daß ich z. B. durch die Skizze eines Legationssekretärs diese Betrachtung mit einem Scherze schlie­ßen dürfte. Doch von einem Exemplar dieser Gattung kann ich mich nicht enthalten hier einige kurze Pinselstriche hinzuwerfen.

Es war auf dem Continent, wo mich eine verwickelte Ange­legenheit zwang, die Behörden der .....schen Legation anzugehen. Es war eine kleine Residenzstadt, weitläufig gebaut, aber dünn bevölkert, breite, lichte Straßen, wo die Menschen so rar waren, wie die Straßenlaternen. Der Gesandte wohnte in einem neu angebauten Ende der Stadt, wo die Straße noch kein Pflaster hatte und man durch den tiefsten Koth waten mußte. Ich finde endlich das Haus und erfahre, daß der Gesandte verreist ist. Man weist mich an den in der Nähe wohnenden Sekretär der Legation. Der Name desselben war so schwer und stolz, wie der eines irländischen Pairs, welcher sich rühmte, „mein Geschlecht stammt in gerader Linie von 343 Adam her.“ Ich erwartete, die Bekanntschaft eines jungen, geistreichen Cavaliers zu machen, dem man noch einst bei fortgesetzter Carriere auf den höhern Staatsstellen begegnen könnte. Obschon das letztere gar nicht un­wahrscheinlich ist, so bin ich doch von der erstern Annahme auf eine horrible Weise enttäuscht worden.

Ich betrat das Haus des jungen Diplomaten; ein wandernder Krämer mit Herren-Toilettenartikeln begegnete mir schon auf der Treppe; darauf eine alte Wäscherin, die ein kleines saubergelegtes Briefchen trug. Auf dem Vorplatze balgten sich Hunde, ein Bedienter, der sich schnell erst seine Livree überzog, um ein herrschaftliches Ansehen zu erhalten, erwiederte mir, daß sein Herr unwohl sey, doch wolle er ihn fragen, ob ich vorkommen solle. Nach einer Weile erschien er und erklärte, daß es dem Herrn Grafen eine Ehre seyn würde. Diesen traf ich denn auch in einem der entlegenern Zimmer. Ein blutjunger Mann, über und über blond, mit einer leisen und fliegenden Röthe über dem zart geschnittenen Gesicht. Ein leiser Schatten auf der Oberlippe deutete an, daß sich dort eine Moustache befinden sollte. Was mir zunächst auffiel, war die possierliche Tracht des jungen Mannes; er trug einen ganz dünn und enganliegenden kurzen Rock, der kaum die Hälfte des obern Beines bedeckte; er war rings um die Taille herum in die saubersten Falten gelegt, die Beinkleider waren roth und so weitbauschig, wie bei einem Kosaken. Dazu trug er gelbe Stiefel und um den Hals einen Shawl von 344 derselben Farbe. Ich hätte glauben sollen, mit einem Kunstreiter zu sprechen. Von diplomatischen Verhältnissen hatte er vielleicht kaum so viel Kenntnisse, wie in der That vom Reiten. Er konnte mir nicht den unbedeutendsten Aufschluß über die Angelegenheiten geben, über welche ich mit ihm sprach. Er führte ein Französisch im Munde, das er von irgend einem aus dem französischen Krieg zurückgekehrten Korporal gelernt haben mußte, war aber dabei doch so zuversichtlich von seiner Stellung eingenommen, daß er immer mit einer officiellen Miene sprach, ohne auch nur in das geringste Geheimniß eingeweiht zu seyn. Mein Name kam auf das Tapet, er hatte nie von mir gehört und war, da er aus irgend einer Bemerkung schließen mußte, daß ich schon etwas geschrieben haben müsse, so unverschämt, mir zu sagen: es würden heutigen Tags so entsetzlich viel Bücher gedruckt, daß man gar nicht mehr wüßte, was man sich aus einer Leihbibliothek geben lassen solle. Großer Gott! dachte ich, als ich mich empfahl, dieser junge Mann scheint freilich nur bei der Gesandtschaft attachirt zu seyn, damit er sein Vermögen auf eine dem Staat nützliche und auswärts ehrenvolle Weise verzehrt. Allein er nistet sich doch in den Kombinationen der Staatsmänner als eine disponible Größe fest, gelang zu einer höhern Stelle, lernt gewisse Routinen und kann am Ende noch einst dazu kommen, daß er für die Interessen eines ganzen Volkes sorgen muß, derselbe junge Mann, welcher bis jetzt nur noch die Kunst versteht, Hunde zu 345 dressiren und sich ein Kostüm zu erfinden, welches an Kunstreiter erinnert.

Wenn die gegenwärtigen Staaten einzig und allein auf solche Stützen gegründet wären, dann, möchte man glauben, würden sie bald zusammensinken, allein so zäh ist die menschliche Natur, so vorhaltend ist das Gleichgewicht bei jenen alten Gebäuden, welche hier und da schon nachgeben und sich gesenkt haben, daß man den Staat immer noch durch Hülfsmomente zusammenzuhalten hofft, wenn man auch die ganze Maschinerie vom obersten Premierminister bis zum untersten Sheriff und Huissier durchschaut. Würden aufgeklärte Denker ein Gemeinwesen vertheidigen können, das in seiner Zusammensetzung, in den Trägern seiner Begriffe eine so buntscheckige und unzusammenhängende Organisation darstellt, es vertheidigen können, wenn sich nicht über den Staat der Begriff festgesetzt hätte, daß er das nothwendige Organ all’ unsres Lebens, unsrer gesellschaftlichen Beziehungen, ja sogar unsrer Wünsche und Hoffnungen ist? Diese Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer geregelten und konstituirten Geselligkeit, schützt unsre Staaten noch vor der allzu schnellen Annäherung ihres jüngsten Tages, und sichert denen, welche bei den Formalitäten des Staates betheiligt sind, die Muße, um für die nöthigen Fälle sich einzurichten und ihr Haus zu bestellen. Die Staaten werden bleiben, die Fürsten werden stets mit Pietät behandelt werden, allein die Maschine selbst könnte mancherlei Reparaturen bedürftig seyn. Vor allen Dingen muß die 346 Intelligenz wieder in die Regierungen so aufgenommen werden, wie sie es früher allein waren, welche die Intelligenz förderten und aufrecht erhielten. Die Regierungen müssen versuchen, sich von der blos juristischen und staatsrechtlichen Einseitigkeit zu befreien, nach welcher sie sich gegenwärtig in der Geschichte geltend machen; sie müssen sich von den unglücklichen Folgen jenes Satzes: daß alle Fragen der Humanität besser gedeihen, je weniger sie von den Regierungen abhängen, lossagen. Denn wohin führt dieser liberale Satz, wohin führt die Unbeholfenheit, mit welcher jeder einzelne sich selbst überlassene Zweig der Humanität sich entwickeln will? Zu nichts anderm, als dazu, daß man eingestehen muß: die Regierungen haben die Intelligenz nicht mehr für sich, sie seyen nicht mehr nothwendig für unsere Religion, Moral, Kunst und Wissenschaft.

Es ist eine ganz eitle Selbsttäuschung, wenn die Regierungen glauben, daß sie jeder freien Thätigkeit in wissenschaftlichen und künstlerischen Gebieten Sonnenschein und Schutz geben, und es würde eben diese Thätigkeit in dem Grade gefördert, als sich der Staat von ihr entferne. Dieser Satz schließt eine Wahrheit in sich, die nämlich, daß der Staat keine Systeme begünstigen und keine schwankenden Meinungen zum Gesetze machen solle; allein um dieß Ziel zu erreichen, darum dieß gänzliche Zurückziehen auf blos polizeiliche und juristische Administration; darum diese Kühle und Entfremdung gegen Alles, was in der Geschichte des Jahrhunderts weit mehr 347 wiegt, als eine diplomatische Note, als ein gutes Gesetz über den Runkelrübenzucker? Wahrlich es steht zu fürchten, daß die Lauheit der freien Geister gegen die politische Welt sich aller Derjenigen bemächtigen könnte, welche die Regierungen sich zugewandt sehen müssen, weil sie sonst wirklich in die Verlegenheit kämen, nur noch als Nebensache zu figuriren.

Unsre Zeit wird als revolutionär geschildert. Ich habe dieses Merkmal oben schon bestritten oder es wenigstens auf eine Bestimmung zurückgeführt, die nicht so gefahrdrohend ist. Ich glau­be weit mehr, die Tendenz unsrer Zeit liegt in jener Ideenver­bindung, die hier so eben angeregt wurde. Warum konspirirt man gegen den Staat? Nicht um ihn zu verändern, um die alten Eigen­namen in den Staatsämtern mit neuen zu vertauschen, sondern weil man Ideen hat, die man durch die laufende Staatsform und Verwaltung nicht mehr realisiren zu können glaubt. Es ist hier nicht die absolute Position oder die absolute Negation, sondern etwas Drittes, das beachtet werden will. Um dieses Dritte seyd besorgt, Staatsmänner, nicht um Revolution, Reaction, nicht um Toriesmus oder Whigismus, nicht um euch oder die Andern, sondern um jene von der Geschichte, dem Nachdenken über Zeit, Verhältnisse und Menschen leicht abstrahirten Thatsachen, welche endlich doch die Faktoren und Coefficienten der Geschichte seyn werden! Da sind Fragen der Moral und Religion, da sind glühende Ideale im Haupte der Dichter und 348 Künstler; da ist eine kleine philosophische Schule, die so gefährlich wirken kann, weil sie sich nicht entfaltet, weil nur einzelne ihrer Sätze mißverstanden und entstellt unter das Volk kommen; da grollt in der Stille eine wichtige Entdeckung in der Wissenschaft, die selbst wieder entdeckt werden muß; da gährt der Kampf alter Vorurtheile mit neuen Schwärmereien – ja, wenn die Staaten sich erhalten wollen, dann haben sie nöthig, allen diesen Beziehungen eine Seite zuzuwenden, sie in das innere Staatsleben hineinzusaugen, sie mit dem Blut der Administration und der Oeffentlichkeit selbst zu vermischen. Man glaubt Wunder, welche Conces­sion man dem Zeitgeiste gibt, daß nur dem Verdienste im Staate der Vorzug gebühren solle. Ach! diesen Satz hat man schon im achtzehnten Jahrhundert gepredigt; er umfaßt vielleicht so viel, als man gebraucht hätte, um die französische Revolution zu vermeiden, aber bei weitem nicht genug, um jene Auflösung aller von der Tradition überlieferten Beziehungen, die, wenn wir in begonnener Weise fortfahren, eintreten muß, zu hintertreiben. Daß nur das Verdienst bekränzt werde, genügt nicht; auch die Auszeichnungen des Verdienstes bilden eine Aristokratie. Darin liegt es, daß man Jedem Mittel an die Hand und Raum gebe, sich so verdient zu machen, als sein Ehrgeiz darnach glüht und die Kraft dafür da ist. Enthusiasmus muß geboren werden, Freude am Daseyn, jugendlicher Anflug in allem, was unternommen wird. Der Staat soll den ganzen Menschen erfüllen. Er soll nicht 349 blos einen Theil von ihm schützen und die übrigen sich selbst überlassen. Der Staat soll das organische Leben der Nationen und gleichsam die Crême aller unsrer moralischen Gährungen werden. Denkt euch ein Volk, das eine reizende Natur, alle Güter des Herzens und der Philosophie genösse; könnt ihr euch noch einen Augenblick diese Nation denken, wie sie von einer alten, unschönen, staubigen, gepuderten Büreaukratie könne regiert werden? Das scheint mir das Streben unsrer und der kommenden Jahrhunderte, daß wir das rosige Morgenlicht besserer Jahrhunderte in Sitte, Moral, Glauben schon auf unsre Stirn leuchten sehen und nun darnach schmachten, auch euch, ihr Repräsentanten des Krä­mergeistes, ihr erbgesessenen Pairs, ihr perückenumwallten Oberrichter, ihr scharlachrothen Huissiers in den froh­lockenden Fluß der großen mit uns vorgehenden Metamorphose hineinzuziehen. Wir denken nicht daran, uns euch gleich zu machen, sondern bieten euch im Gegentheil nur an, daß ihr euch gleich machet – uns.

350 Die Erziehung.#

Wir sind allmählig, was den Faden unsrer Betrachtungen betrifft, aus der materiellen Sphäre in die moralische gestiegen. Unserm früher entworfenen Plane gemäß sollen jetzt die Beziehungen, welche sich an die menschliche Seele anknüpfen, die zweite Reihe unsrer Unterhaltungen bilden. Erziehung, Sitte und Moral wer­den uns in drei hintereinander folgenden Kapiteln beschäftigen, eine Reihe von Gedankenvariationen, welche zwischen der Materie und der Reflexion die Mitte halten und alle das menschliche Gemüth zum Grundthema haben.

Allgemeinheiten über die Erziehung vorzubringen halt’ ich eines Schriftstellers, der im vollen Bewußtseyn seiner Kräfte ist, für unwürdig. Die meisten Gemeinplätze finden sich in den Erzie­hungstheorien; die unbeholfensten Geister nehmen einen Schein von praktischem Talente an, wenn sie über Erziehung sprechen. Wären wir über diesen Gegenstand nur erst in die Nähe jenes Ziels gekommen, welches das achtzehnte Jahrhundert deutlich genug vorgezeichnet hat! Der Humanitätsenthusiasmus jener Zeit war hauptsächlich auf ein verbessertes und 351 veredeltes System der Erziehung begründet; was jene glänzenden Geister, welche die Strahlenkrone des vorigen Jahrhunderts bilden und die ihm sein eigenthümliches Lüstre gaben, über Menschenerziehung gesagt haben, hat so viel guten Grund, daß wir schwerlich früher über den Gegenstand etwas Neues aufstellen dürfen, ehe wir nicht ihre Vorschriften vollständig erfüllt zu haben uns rühmen können. Wie wir überhaupt nur für die Ideen des vorigen Jahrhunderts in unsrer Zeit die Anwendung, für die alten Ideenklingen die neuen praktischen Stiele und Griffe suchen, so haben wir auch die Erziehungstheorien jener Zeit jetzt durch bessere Schul­einrichtungen zu verwirklichen gesucht; allein neue Wahrheiten über das Verhältniß des Kindes zu seinen Eltern und zu seiner eignen Zukunft wurden nicht entdeckt. Wie sollte dieß auch, da die öffentlichen Thatsachen wahrlich nicht von der Art sind, daß sie die einfache Lehre von der abstrakten Menschenwürde, welche der Philosophie des vorigen Jahrhunderts zum Grunde liegt, hätten ersetzen können. Welche historischen Resultate haben wir gewonnen, um daran die Schößlinge der Erziehung aufzuranken; wir hörten Begebenheiten über unsern Häuptern wegrauschen, wir sahen Charaktere, welche die Fahne ergriffen und, die Brust den Kugeln der Feinde zugewandt, in die Bresche stiegen. Wir folgten selbst nach, begeistert für irgend ein Symbol, für eine Farbe, ein Losungswort; allein noch ist unsre Philosophie nicht zu der Grausamkeit gesteigert, daß wir von der Jugend blos verlangten, sie 352 müsse erzogen werden, um Sklaven der Begebenheiten, Zielpunkte der feindlichen Kugeln, blose Echo’s der Parteimeinungen zu werden. Nein, was wir Würdiges und Hohes über die Menschheit glauben, das ist noch immer nicht verschieden von jenem Begriffe der Humanität, welcher das Ideal der klaren und hochherzigen Denkart des vorigen Jahrhunderts war. Menschen zu bilden, ist noch immer das Losungswort, nur daß die alte Zeit gestattete, sich menschlich zu bewähren im Frieden, die neue Zeit aber verlangt, den Menschen zu entfalten, selbst in dem Sturm unsrer, durch so mannigfache Umstände hervorgerufenen und in steter Nahrung erhaltenen Kämpfe. Möge es daher dem Misch- und Detailcharakter unsrer Zeit nicht unangemessen erscheinen, wenn ich mein Kapitel über die Erziehung statt mit Maximen, lieber mit Porträts beginne. Ich will aus meiner Bekanntschaft mehrere Individuen hervorgreifen, welche uns besser als Raisonnement die gegenwärtige Lage unsres Erziehungswesens werden vergegenwärtigen können. Ich beginne mit Master Schlehsack.

Schlehsack ist der Sohn eines Webers und lernte das Handwerk seines Vaters. Er selbst pflegte zwar zu sagen, er hätte es lernen müssen; allein sein Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, er hätte auch etwas anderes kaum lernen können. Peter Schlehsacks Vater hielt es mit einer Methodistengemeinde. Er besuchte die Abendzirkel derselben und sang dabei einen sehr unreinen, aber doch in Gott freudigen Tenor. Peter Schlehsack, der 353 Sohn, erbte die Neigung seines Vaters und bekam bald jene den Pietisten eigenthümliche fixe Idee, daß sie sich zu irgend einem großen Zwecke vom heiligen Geiste getrieben glauben. Peter hatte nächtlich seine Visionen, er sah sich auf der Kanzel predigend und lehrend, im schwarzen Leibrock mit der Perrücke; er behauptete, daß ihn der Herr triebe, sein Kreuz zu predigen. Als Weber schlug Peter nicht ein; der Einschlag mißglückte, er verwirrte die Garnfäden seiner Stuhlmaschine, er war zu nichts nütze und verdiente die Ohrfeigen seines Vaters mit Recht. Endlich offenbarte sich Peter einem Geistlichen und erklärte, daß er studiren müsse. Dieser zog einen frommen Kapitalisten zu Rathe und es ergab sich eine kleine Summe, um Peter Schlehsack studiren zu lassen. Er beginnt mit Latein, es setzt sich der alte Bursch unter die kleinen Rangen, die ihn an Klarheit der Auffassung und Gedächtnißkraft bei weitem übertreffen. Mit Mühe steigt er aus der untersten Klasse einige Stufen höher. Es ist die Bewegung eines Faulthiers, das zwar recht fleißig ist, aber die Zeit längst verpaßt hat, wo man etwas lernen kann. Ich sehe Peter Schlehsack vor mir, wie er, der alte Backenbart, wie die Eule unter den Sperlingen sitzt und verspottet und geneckt wird. Sie binden seinen Fuß heimlich an eine Bank an, so daß er, wenn er aufsteht, fallen muß. Sie nehmen ihm seine Ausarbeitungen fort, um ihn den Bestrafungen der Lehrer auszusetzen und sich zu weiden an den Betheurungen seiner Unschuld. Wenn der Lehrer 354 der Klasse eine schwierige Frage vorlegt, die niemand zu beantworten weiß, am wenigsten Peter Schlehsack, so erhebt sich plötzlich eine Stimme und sagt: „Schlehsack weiß es,“ oder es heißt, „Schlehsack will etwas sagen,“ wobei die zornige und etwas rohe Art, wie er hierüber seine Entrüstung ausspricht, es sogar noch dahin bringt, daß er für den Andern bestraft wird. Eines Tages soll Schlehsack eine Rede halten; der Lehrer schmei­chelt sich, irgend einen guten künftigen Parlamentsredner zu entdecken und gibt zur Uebung ein allgemeines Thema über den Aberglauben. Wer sollte mehr Beruf haben, sich hören zu lassen, als der alte Bruder, der, um einst Pfarrer zu werden, sich hier mit Griechisch und Latein quält? Er betritt den Katheder und beginnt mit lispelnder Stimme und gen Himmel gerichteten Augen: „Als – Gott – dem – Menschen – seinen lebendigen Odem in die Nase blies ....“ Dieser Anfang erregte allgemeines Gelächter; der Lehrer, um seine eigene Reizung der Lachmuskeln zu verbergen, verlangte das Manuscript der Rede und ersah daraus, daß Peter Schlehsack, um über den Aberglauben zu reden, die ganze Schöpfungsgeschichte des Menschen erzählt hatte. Schlehsack mußte abtreten und kam sich in diesem Augenblicke wie Luther vor, dem ein Concilium den Vortrag seiner Lehrmeinungen untersagte. Seit dieser verunglückten maidspeach machte Schlehsack auffallende Rückschritte; er konnte bei keinem Avancement mehr flott werden, blieb mehrere Jahre in jener Klasse, wo er 355 seine berühmte Rede über den Aberglauben hatte halten wollen und verlor zuletzt die Unterstützung jener frommen Herren, welche gehofft hatten, aus diesem Klotz einen Stab für Israel zu schnitzen. Er verließ die Schule, weil man seine Fähigkeiten zu gering achtete, um sie ihm unentgeltlich zu gestatten. Sein Vater machte ihm schon wieder den Sitz am Webstuhle zurecht. Doch nun erklärte er, wenn auch nicht Prediger, doch wenigstens Lehrer werden zu wollen. Nach jahrelangem Bemühen hat er es endlich dahin gebracht, daß er die Leitung einer kleinen Landschule erhielt, deren Ertrag kaum hinreicht, ihn vor dem Hunger zu schützen.

Eine andere Figur unter den Volkslehrern spielt jener junge Mann, der eines Morgens zu Fuß in das kleine Städtchen tritt, welches der Sitz eines Schulmeisterkollegiums ist. Auch er hat, wie der Sultan außer dem Schulregiment, welches er erst erlernen will, schon etwas anderes gelernt, nämlich ein Handwerk. Er ist das, was sein Vater ist, nämlich Schneider, und will das werden, was sein Vater ebenfalls ist, nämlich Schulmeister. Auf dem Lande pflegen diese beiden Handthierungen nicht selten verknüpft zu seyn. Die Löcher, welche sich die Kinder auf den Bänken der Schule in ihren Kleidern reißen, können auch in der Schule wieder zugenäht werden. Die Einkleidung des Geistes und des Körpers geht von einer und derselben Kunstfertigkeit aus. Der Sohn wird einst vom Vater die Elle, welche auch zugleich der Schulbakel ist, erben. Er verläßt auf 356 einige Jahre das väterliche Haus, um zu lernen, wie viel Reiche in der Natur es gibt, wie vielerlei Fische in dem Tweed hausen, in welchem Jahre Julius Cäsar gestorben ist und wie man ein geschickter und besorgter Bienenzüchter wird. Diese Leute müssen außerordentlich viel Eigenschaften in sich vereinigen. Ja es wird von ihnen nicht allein verlangt, daß sie im Choral singen, sondern daß sie auch die Geige dazu spielen. Seitdem das Kumuliren der Aemter so eingerissen ist, übernehmen die Schulmeister auch die Dienste der Kirche und müssen sich des Orgelspiels befleißigen. Kurz wenn diese Leute später ein gewisses närrisches und übergeschnapptes Wesen bekommen, so liegt die Schuld davon nur in der Fülle von Gegenständen, mit welchen man ihre geringe Fassungskraft überladen hat. Ich habe noch immer gefunden, daß Männer, welche mehr lernten als wozu sie die Weihe, den Beruf und fast die Kraft hatten, ein sehr abgeschmacktes Wesen annehmen. Man wird es zum Beispiel immer finden bei den sogenannten commis voyageur, bei Kellnern, welche mit der Anstren­gung, mit welcher man andern Leuten die Zähne auszieht, sich die Kenntniß einer fremden Sprache angeeignet haben. Sie sind fortwährend in einem ekstatischen Zustande, sie können den Mund nicht halten, und überhaspeln sich in ihren Reden so sehr, daß sie zuletzt auf Narrheiten hinauskommen. Sie verlernen auch ihre eigne Muttersprache und fangen an, wie gebrochen zu sprechen; sie übersetzen gleichsam, was sie in ihrer Muttersprache sagen wollen, erst aus 357 der angelernten fremden Sprache. Mir scheint es in der That ein partieller Wahnsinn zu seyn, der mir vor der krampfhaften Ueberbildung der Ungebildeten immer Furcht einflößt. Der menschliche Geist hat seine Gesetze und Stufen, er ist so organisirt, daß man seine Mittelglieder nicht überspringen darf. Schnell und krampfhaft zusammengeraffte Kenntnisse, welchen man keine Unterlage geben kann, sondern die man mit den Sporen der fürchterlichsten Anstrengung in sein Gedächtniß einhackt, werfen das ganze Gleichgewicht der Maschine um und machen, daß in dieser Art gebildete Leute oft wirklichen Narren ähnlich sind.

Die Pedanten stehen in unserer Zeit einsamer als früher, wo es noch an öffentlichen Thatsachen fehlte und die Philosophie noch mehr in alterthümlichen und scholastischen Formen befangen war. Um so mehr fällt jetzt eine Erscheinung wie die des Herrn Titus Pomponius Sylbenstecher auf. Es mögen in England noch ein hundert Exemplare vorhanden seyn, die die Presse des Zufalls ganz von demselben Satze, wie jenen, abgezogen hat. Die in Eng­land herrschende klassische Bildung verlockt allerdings mehr zum Pedantismus, als anderswo; allein die kursorische Lektüre der Alten, die bei uns eingeführt ist; der Vorzug, welchen man bei uns dem Inhalt der alten Schriftsteller gegen ihre Form schon auf der Schule einräumt, bewahrt uns, daß die ganze gelehrte Erzie­hungsmethode auf den Buchstaben so begründet ist, wie z. B. in Deutschland. In Deutschland 358 spricht man weit mehr von der alten Grammatik, als von der Philosophie, Moral und Staatsweisheit des Alterthums. Man entläßt die Zöglinge auf die Akademie mit der Phrase: wir haben in euch den Baum der Huma­nität gepflanzt .... und hat ihnen doch nichts anders in das Gedächtniß geprägt, als z. B. eine ellenlange Reihe von Zeitwörtern, die ihre zukünftige Zeit in der handelnden Form passivisch bilden oder ähnliche große Wahrheiten über die Partikelwelt, die man auf dem stürmischen Meere der allgemeinen Zeitgeschichte und seiner speciellen Existenz nun brauchen soll als Schwimmblase, Rettungsboot, oder wozu die Wissenschaften doch sonst in der Verlegenheit uns dienen müßten. Es ist wahr, einige englische Pedanten, die sogar Bischöfe geworden sind, haben diese Unfruchtbarkeit der klassischen Studien durch ihre eignen beschränkten Beschäftigungen noch höher getrieben. Wie viel geist­lose Lexikographien und Glossarien sind nicht z. B. von Männern ausgegangen, wie dem Bischofe Blomfield? Unser Titus Pomponius Sylbenstecher ist ein Seitenverwandter von ihm und der Fürsorge seines Herzens innigst betraut. Er hat ihm geholfen bei der Zusammensetzung seiner Glossarien über den Aeschylus, welche nicht eine einzige feine Bemerkung, sondern nur die äschy­leischen Tragödien selbst, in lexikographischen Schutt verwandelt, obwohl nach dem Alphabete eingerichtet, enthalten. Titus Pomponius ist der Sohn armer Eltern und fand durch Protektion die Mittel, um studiren zu können, wenigstens theilweise, 359 denn sie würden doch nicht hinreichend gewesen seyn, wenn er nicht durch Lektionen, die er schon früh gab, die, welche er selbst noch brauchte, gedeckt hätte. Es war niemals ein freier Blick, mit welchem Sir Titus in die geöffneten Pforten des Alterthums trat. Die großen mit Epheu und Lorbeer umwundenen Pforten desselben waren ihm zu vornehm und stolz, er schlich wie ein Bettler sich um die Mauer herum, kletterte über die antiken Trümmer und Schutthaufen, er stahl sich in jene große Welt, die dahin gegangen, ein und machte sich selbst an dem Göttermahle der klassischen Vorwelt zu einem ungebet’nen Gast, der unter den Tisch gehört, und welchen man bei römischen Schmäusen einen Schatten nannte. So ist bei Titus Pomponius in Haltung und Geberde nicht ein Schimmer von jenem Sternenlicht der griechischen und römischen Schriftsteller, die uns aus der Nacht der Vergangenheit zuleuchten, sichtbar; seine Gestalt ist gebückt, sein Auge matt, sein Gesicht voll Runzeln, sein Athem ist kurz und besitzt jene Eigenschaft, von welcher Caska in Shakspeares Julius Cäsar eine Ohnmacht befürchtete; er ist ein Bettler auf den Trümmern, wo man nur König seyn sollte, begibt sich auch selbst aller Ansprüche auf ältere und erwachsene Leute, nur der Jugend gegenüber verwandelt er seine Krücke in einen Zepter und bläut ihr mit jenen Knochen, die er vom Göttermahle erhaschte, nicht das, was Jupiter ist, sondern den Dialekt ein, in welchem er zu den Griechen gesprochen hat. Die liebe Jugend! Ihr gegenüber 360 wird jeder unterste Tempeldiener zum Propheten, sie begreift am wenigsten, daß dasjenige, was ihr ein Titus Pomponius mit der hektisch’sten Strenge einzuprägen sucht, sein ganzer Reichthum ist, sein erstes und zweites Glied, seine Avant- und Arrieregarde. Den eigentlichen Pedanten charakterisirt der unerschütterliche Ernst, mit dem er unter seinen Zöglingen waltet und sich gleichsam mit der Thorheit derselben identificirt hat. Wenn ich mit Titus Pomponius spreche, so duckt er die Augen, kriecht und ist verlegen; so wie er aber in seine Schule tritt, schnellen sich alle schlottrigen Glieder seines Wesens empor; jetzt trägt er den Kopf hoch, er hört nur sich selbst, er hat fünfzig lernbegierige Bewunderer um sich her; er schwelgt in der staatsgefährlichen Wollust, seine Thorheiten von allen diesen Kindern als Vernunft anerkannt zu sehen, nachgeahmt, gebilligt, angestaunt. Die Jugend ist wie nachgiebiges Wachs, das alles vorstellt, was man daraus formen kann. Die größ­ten Weisen und größten Narren haben sich an sie gewandt, weil sie weder prüft noch wider­spricht. Wenn Sokrates, wenn Rousseau dieß thaten, so ist der Eindruck rührend; man sieht, daß nur die Verdorbenheit der Erwachsenen sie von ihnen fortschreckte. Allein nun denke man sich eine ungewasch’ne und ungekämmte Natur, einen Narren mit den häßlichsten Manieren, die man sich in Betreff des Nasenputzens und Ausspeiens nur angewöhnt haben kann; man denke sich Titus Pomponius Sylbenstecher mit seiner Vorliebe für schweinslederne Einbände, mit den Fettflecken 361 auf seiner Weste und der Zettelweisheit seines Gedächtnisses. Um diese obsolete Natur reiht sich die Jugend als ein Muster, als einen Tyrannen, ja sogar, da das kindliche Herz gar rein und edel ist, als einen Gegenstand liebevoller Verehrung! Die Knaben erhalten von der Wissenschaft dürre und blutlose Begriffe; wenn sie Fortschritte machen sollen, müssen sie in eine ganz neue Welt versetzt werden.

Daß man das Alterthum als Bildungsmittel so vielfach angegriffen hat, rührt hauptsächlich nur von dem Pedantismus derjenigen her, welche die Kenner und Lehrer desselben sind. Es ist verzeihlich, aber durchaus nicht zu billigen, daß man das Alterthum als Inhalt mit der allerdings unerträglichen Form verwechselte, in welcher uns dasselbe geboten wird. Ich habe auf der Schule Plato, Demosthenes und Tacitus gelesen; allein nur den letztern verstand ich völlig, den ersteren zum Theil, den mittleren gar nicht. An wem lag die Schuld? Nicht an der Auswahl des Schriftstellers, nicht an meiner Fassungskraft, sondern an dem Unterricht jenes Lehrers, der sie so schlecht zu erklären wußte. Alle Lehrer, durch deren Hand ich ging (und jedermann sollte ohne Rücksicht solche Selbstgeständnisse machen, damit die Verständigung über klassische Erziehungsmethode beschleunigt wird), waren eingefleischte Philologen. Nur der erste von ihnen, der Rektor des Collegs, besaß eine gewisse universelle Bildung, kannte die Dichter der Nation und schrieb in seiner Muttersprache selbst einen Styl, der, wenn auch 362 nicht schön und melodisch, doch nach guten Mustern gebildet war. Dieser las die Rede gegen den Verres mit uns und zwar ziemlich kursorisch. Er hatte dabei nicht die Antiquitäten als Hauptgesichtspunkt, allerdings auch nicht blos die formelle Grammatik, sondern nur den Styl im Auge. Wäre Cicero in seinen langen Perioden weniger klar, als er es ist, so würden uns, was auch diesen Lehrer anbetrifft, die Verrinischen Reden ihrem wahren Inhalte nach ein verschlossenes Buch geblieben seyn. Ein Anderer laß den Horaz und in einer andern Stunde den Sophokles. Dieser glaubte, die alten Dichter hätten nur gelebt und gesungen, ihrer Metra wegen. Eine Horazische Ode uns in ihrem Verfolg zu analysiren oder den Chor einer Tragödie auf einfache, vor den Augen sich schematisirende Grundgedanken zurückzuführen, verstand er nicht; den Rest von Muße, den uns die Metrik ließ, verbrauchte die Grammatik und die Mythologie. Es war immer ein wüstes Chaos, was uns vor Augen schwebte und das uns dunkel blieb, selbst wenn wir es ganz leidlich übersetzen konnten. Rekapitulationen des Inhalts und Zusammenhangs kamen nie vor; bei’m sechsten und siebenten Verse hatten wir schon wieder vergessen, was im zweiten und dritten gesagt war. Den Plato erklärte uns ein junger Mann, der kränklich war, aber, was unter Philologen so selten ist, gern den Fashionable gespielt hätte. Er ritt seiner schwachen Brust wegen und kam fast immer mit Sporen in die Klasse. Oft war sein Hals so angegriffen, daß er nicht sprechen 363 konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: „Sämmtliche Fenster zu!“ Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Infinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Imperativ nie anders als durch den Infinitiv aus: „ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!“ waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. 364 Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Irrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Ich beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute 365 Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch ver­breiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötz­lich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olynthischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel we­niger die Absicht derselben.

366 Es war meine Absicht, eh’ ich mir in diesem Kapitel die Feststellung einiger Grundsätze erlauben wollte, den größten Theil des pädagogischen Details zu erschöpfen, in so fern es auf Personen und Historie in unsern Unterhaltungen immer zunächst ankommen soll. Ich kann Sie hier nicht übergehen, Miß Sylvia! Sie müssen sich schon gefallen lassen, daß ich Sie im Schooße der kleinen Frauenzimmer aufsuche, welchen Sie wohl noch ein wenig mehr, als nur Rechnen und Schreiben zu lehren verstehen! Ja Miß Sylvia würde, wenn ihre Kenntnisse, wie sie jetzt aus Realien bestehen, aus Humanioren bestanden hätten, im Alterthum, ich meine im Mittelalter, gewiß so gut haben unterweisen können, als jene italienische Dame, deren Standbild im Hofe der Universität von Padua rechter Hand aufgestellt ist, die so vielen Zulauf in ihre Vorlesungen hatte und den Andrang, gewiß auch noch aus Rücksichten der Galanterie, durch Schranken zurückhalten mußte, so daß sie nur hinter einem Sprachgitter ihre Vorträge hielt. Wenn Sie, meine gute Miß Sylvia, nun so stehen müßten vor den Studenten der Londoner Aktienuniversität, und entweder lateinisch sprächen, wie Madame Dacier oder wie Miß Elisabeth Wright Macauley, die nun plötzlich gestorben ist, und mehr als eine Schauspielerin, eine Methodistenpredigerin war, die auch über Botanik, Volkswirthschaft und Schädellehre so häufige, nicht unbesucht gebliebene Vorträge hielt! Doch Verzeihung, daß ich Sie in die Reihe excentrischer Frauenzimmer bringe, 367 Miß Sylvia! Sie erziehen nur Frauen, Sie geben nur Unterricht in der Naturgeschichte bis zu einem gewissen Grade, Sie kämpfen für die Emancipation des Weibes auf die edelste Art; denn was emancipirt das schöne Geschlecht besser und schneller, als die Kenntniß der Wissenschaften!

Miß Sylvia hat mit vielen ihres Amtes gemein, daß sie durch körperliches Unbehagen frühzeitig daran gemahnt wurde, die große Welt, ja vielleicht ein männliches Herz werde sich ihnen nie erschließen. Miß Sylvia litt an vielen Uebeln. Ich kenne sie nicht. Ich werde auch nicht darnach fragen. Es genügt mir, daß sie meist sehr blaß aussah in ihrer Jugend, und daß sie niemals hoffen konnte, die Erbin eines reichen Vaters oder Oheims zu werden. Es ging ihr fast wie einem meiner Bekannten, der mir neulich unter heftigen Schmerzen klagte, er hätte von seinem Vater nichts als die Hämorrhoiden geerbt. Verzeihung, Miß, wenn ich den Anstand verletze! Die Dame, von der ich spreche, zeigte früh einen großen Wissenstrieb; sie wuchs weniger nach außen, als nach Innen. Sie hatte sogar das Unglück, daß bei dem rückschlagenden Wachsthum ihre Glieder das harmonische Gleichgewicht verloren und sie einer bis zum Höcker steigenden Verschiebung der Schulter wegen viele Jahre im Streckbett liegen mußte. Großer Gott! von sechzig Jahren, die man lebt, von fünfundvierzig, wo man das Bewußtseyn seines moralischen Daseyns hat, fünf Jahre in einer eisernen Maschine liegen, unbeweglich, 368 ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: A young lady, 369 hwo u. s. w. Sie will Unterricht geben, die Stunde zu einem Schilling; sie bietet sich erst den Französinnen an, welche Englisch lernen wollen. Sie ist so billig und so gründlich! Sie wartet lange. Endlich klopft es. Es war ein Stutzer, der mit verlegenem Lächeln hereintrat. Er hatte sich eingebildet, daß jene Annonce von jungen Mädchen, die Unterricht und Gesellschaft leisten wollen, nur Winke und Gelegenheitsmachereien wären. Miß Sylvia erschrickt über seine forschenden Mienen. Sie ist nicht durch die Welt, aber durch Bücher klug genug, um die Absicht des jungen Mannes zu errathen. Dennoch mochte sie nicht entfliehen. Einmal, weil sie nur ein Zimmer hatte, und zweitens, weil sie sich später mit Schaamröthe die kleine Eitelkeit gestehen mußte, die sie verhindert hätte, die Thüre zu suchen und ihre zweideutige Schulter zu zeigen. Sie ergriff das letzte Mittel, das ich Frauen für Fälle dieser Art anrathe. Sie schrie nicht, sie drohte nicht, sie spielte keine Komödie. Sie bat den jungen Mann, sich niederzulassen und führte ihn durch die Gegenwart ihres Geistes allmählig von seinem irrthümlichen Gedanken ab, verwickelte ihn in ein so feines und gedankenreiches Gespräch, daß dieser sich zusammennehmen mußte, um zu antworten. Er wurde besonnen, und besann sich auf seine Thorheit. Staunend über die Kenntnisse und Würde Miß Sylviens verließ er sie. Sie behandelte ihn artig und ließ ihn eine Demüthigung nicht entgelten. Eine Stunde darauf meldeten sich drei Damen, um bei Miß Sylvien Unterricht 370 zu nehmen; es waren Engländerinnen. Sie hatten große Lücken in ihren Kenntnissen auszufüllen. Es ergab sich später, daß sie die Schwestern jenes jungen Gentleman und von ihm veranlaßt waren, seine eigne Vergehung wieder gut zu machen. Es war dieß die einzige Attake, die Miß Sylvia in ihrem Leben von Männern zu erfahren hatte; doch war die Wendung, welche sie nahm, so zart und rührend, daß Miß Sylvia ihr ganzes Leben hindurch gut von den Männern dachte und nicht selten mit einer aus den Augen leuchtenden Zärtlichkeit von dem Bruder ihrer ersten Schülerinnen sprechen konnte.

Es ist unerläßlich nothwendig, daß weibliche Erzieher gute Männer sind, oder wenn es Frauen sind, daß sie von jenen eine gute Meinung haben. Nichts entstellt Erzieherinnen mehr und schadet den Fortschritten ihrer Zöglinge, als ein geheimer Groll gegen das männliche Geschlecht. Schon die Sprödigkeit ist eine unglücklich gewählte Emballage der Bildung, welche man Frauen mitgibt. Zwischen kalter Zurückhaltung und verliebter Neigung gibt es eine Mittelstraße, welche Erzieherinnen immer einschlagen müßten. Nichts ist dem weiblichen Charakter so gefährlich, als der Glaube, die Wissenschaften müßten den Frauen als Waffe gegen die Männer dienen. Miß Sylvia erzieht vortreffliche Gattinnen und Mütter. Sie hat mit Hülfe hoher Protektionen ein Erziehungsinstitut eröffnet, das den glücklichsten Fortgang nimmt. Ich empfehle ihre Adresse. Sie wohnt Albemarle Street Nro. 114.

371 Nicht alle Erzieherinnen erfüllen so gediegen ihre Bestimmung. Ich kenne von dem Charakter Sylviens außerordentlich viel Anomalien. Die gefährlichsten Geschöpfe dieser Art sind solche, welche das anständige Kleid einer Lehrerin nur als Deckmantel ihrer großen und kleinen Leidenschaften benutzen. Die erträglichsten Weiber dieser Art sind hier noch diejenigen, welche blos nach Herrschaft strebten und kindisch genug denken, eine Herrschaft über Kinder auch eine Herrschaft zu nennen. Die Frauen kommandiren gern. Haben sie keine Hoffnung, daß sie es über eigne Kinder können, so knechten sie fremde. Der affektirt rauhe, kurze Ton der Lehrerinnen ist dasjenige, was ihnen den meisten Genuß gewährt. Sie scheinen aus Liebe zum Despotismus Unterricht zu geben. Bedenklicher schon ist es, wenn eine Lehrerin nach gesellschaftlicher Auszeichnung strebt. Aus diesem Triebe entstehen meist in Familien untern Standes die päda­gogischen Gelüste. Meine Tochter wird eine Lehrerin! Diese stolze Proklamation einer sehr ungelehrten Mutter entzündet das junge Mädchen, das sich quält, Fortschritte in der Musik und im Französischen zu machen. Das junge Kind ist eitel und will dem Loose entgehen, ehe sie eine Gattin wird, eine Nähterin zu werden. Es kostet den Eltern viel Anstrengung, die Mittel zu der Vorbereitung einer solchen pädagogischen Vorzukunft herbeizuschaffen; allein sie haben dabei noch den Trost, daß die Partie, welche sich ihrer Tochter einst anbieten könnte, nicht aus dem Handwerks-, sondern vielleicht aus dem 372 Kaufmanns- oder Gelehrtenstande kommen möchte. Endlich ist es aber nicht selten die Sinnlichkeit, die sich in Lehrerinnen, namentlich von reiferem Alter (ich meine die auslaufenden zwanziger Jahre) offenbart. Es ist dieß eine sehr schwierige Partie; dennoch will ich mit kurzen Worten eine Charakteristik versuchen.

Miß Livia mag eine solche Dame heißen, der leichten Parallele zu Miß Sylvia wegen. Nennen darf ich sie doch nicht; denn sie würde mir einen Prozeß an den Hals hängen. Niemals hab’ ich ein Mädchen gesehen, das kerlhaftere Gesinnungen hegte, als Miß Livia. Ich geb’ ihr einen aus der Geschichte zur Genüge bekannten Namen, weil ich nicht zweifle, daß sie Gift mischen würde, wenn sie Gelegenheit dazu, und nicht zu große Furcht vor der Strafe hätte. Gerechter Himmel! die Beschuldigung ist stark, aber sie ist verdient. Miß Livia empört meine Kritik ihres Charakters, empört mein Inneres um so mehr, als sie Erzieherin ist. Gott sey Dank! nein, sie ist nur Lehrerin. Sie gibt nur Unterricht in weiblichen Schulen. Sie kommt nur wöchentlich in 8 bis 10 Stunden mit ihren Zöglingen zusammen; wenn es auch ein recht großes Unglück ist, daß sie an drei Anstalten zu gleicher Zeit Lektionen gibt. Ihr Vater ist Musikus, er ist ein halber Schauspieler, wenigstens spielt er im Orchester des Theaters. Ihre Mutter spielt auch ihr eignes Instrument, nämlich den Ehrgeiz und die Koketterie, letztere, wenn nicht mehr mit sich selbst, mit ihren Töchtern. Sie hat deren mehr und alle sind Lehrerinnen 373 geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das päda­gogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur eine neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie 374 lernte, stand in Berührung mit dem stärkeren Geschlechte. Sie bekam eine allgemeine Anschauung der Menschen und Dinge, welche auf dem Pessimismus der Männer beruhte. Sie dachte träumend und wachend nur an die Männer und kleidete ihre Liebe zu ihnen in das Gewand des Hasses; denn sie war Lehrerin, sie wurde beobachtet, sie hatte Rücksichten zu nehmen. Miß Livia richtete dadurch sehr viel Unheil an, daß es ihr wirklich gelang, durch konsequente Intrigue gegen ihre weiblichen Collegen es endlich bis zur Lehrerin in den ersten Klassen zu bringen, doch nur für einige Objekte, für die leichtesten nämlich. Selbst noch so jung, war ihr Verhältniß zu den liebenswürdigen „Backfischen,“ welche sie zu unterrichten hatte, beinahe das einer Conspiration. Die Arbeiten, welche sie leitete, ließen vertrauliche Gespräche zu. Die Zungen lösten sich, die Herzen quollen auf und es zeigte sich, daß alle diese jungen Knospen schon üppige Geheimnisse in sich verschlossen. Miß Livia war die Geburtshelferin der kecken Geständnisse, welche sich die jungen Damen in Form von Neckereien machten. Sie war aber zu gleicher Zeit die Nebenbuhlerin jeder Neigung, die hier zwischen Sticken und Stricken zum Vorschein kam. Es fehlte nicht, daß sie in alle von ihren Zöglingen und deren Angehörigen arrangirten Gesellschaften gezogen wurde, sie wurde Mitglied von mehr als fünfzig Familien, deren Interessen sie bald durchschaute und gegeneinander spielen ließ. Alle ihre Bewegungen werden heftiger, ihr Auge rollt, ihre 375 Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, ano­nyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Intriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Intriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den 376 Frauen, denn mit wem hätte sie nicht ein Verhältniß gehabt? mit wem wäre sie nicht des Abends schon im Mondschein spazieren gehend erblickt worden? Und immer mit denjenigen, welche vierzehn Tage nach dem belauschten Rendezvous die heftigsten Gegner der Dame sind und behaupten, sie in allen ihren Eigenschaften erkannt zu haben. Die Liebhaber werden bald inne, daß sie weit mehr von ihrer geistigen Unruhe als von der Liebe zu ihnen verzehrt wird. Sie sollen ihr dazu dienen, sie in Schutz zu nehmen, in ihnen Bundsgenossen zu haben; sie liebt jetzt nur noch deßhalb, um ihre Partei zu verstärken. So ist selbst die sinnliche Neigung schon von der Fieberhitze ihres intriguanten Herzens aufgezehrt. Unter allen diesen Verhältnissen hört Miß Livia jedoch nicht auf, ihre so ernste Rolle als Lehrerin durchzuführen. Sie findet immer wieder faules Holz genug, mit welchem sie sich in der unheimlichen Nacht ihres Rufes glorienartig umzaubern kann. Sie weiß Pfarrer und Schulpatrone in ihr Interesse zu verflechten und hat manche Schulvorsteherin schon gezwungen, sie in ihrer Stellung an der Anstalt zu lassen, während jene aus ihrer Machtvollkommenheit ihr schon ein dutzendmal kündigte. Jetzt hab’ ich lange nichts mehr von ihr vernommen, weil ich selbst altre und mit jenem jungen Nachwuchs der Gesellschaften nicht mehr so eng verbunden bin, daß ich mich in die kleinen Angelegenheiten ihrer Schulzeit mischen dürfte. Ich bin aber überzeugt, daß Miß Livia noch immer ihr Wesen treibt, bis sie vielleicht irgend 377 einen stämmigen Handwerker heirathet, der ihr in ihrer fortwährenden moralischen Epilepsie die Daumen aufzubrechen versteht.

Es steht nur allzufest, daß die weisesten Maximen über Erziehung nichts vermögen ohne den moralischen Einfluß der Lehrer. Unsre Zeit ist hievon auch so überzeugt, daß sie die Erziehung durchaus nicht mehr dem Zufall einer so glücklichen pädagogischen Persönlichkeit, als man deren habhaft werden könne, überläßt, sondern Zögling und Lehrer in gleiche Fesseln schmiedet durch Theorien, die nichts mehr mit der Erziehung, sondern Alles nur mit dem Unterrichte zu schaffen haben. Aber ich frage: Ist dieß nicht ein Extrem?

Im Alterthum war der Unterricht die Nebensache. Man lernte bald, was man bedurfte, die encyklischen Wissenschaften, von denen Plutarch spricht. Alles übrige Wissenswerthe erlernte der griechische und römische Jüngling durch Anschauung und frühe Uebung. Es galt bei ihm nur die Nothwendigkeit, ihn zu einem freien Manne zu erziehen; während bei uns der freie Mann auch alle Künste in sich aufnehmen muß, die früher dem Sklaven gehörten. Die Bestimmung und der Erwerb entscheiden bei uns. Bei den Alten verstand sich jene von selbst, dieser fiel den Sklaven anheim und verwandelte sich in Genuß. So hatten die Alten über Erziehung nur moralische Vorstellungen. Man wird in Plutarchs Abhandlung über die Erziehung weder die Andeutung irgend einer pädagogischen Theorie, noch sonst einen praktischen 378 Fingerzeig finden. Er beschäftigt sich nur damit, den Eltern die Einpflanzung allgemeiner Humanitätsbegriffe in die Seele ihrer Kinder zur dringenden Pflicht zu machen; Begriffe, die uns für Gemeinplätze gelten, weil wir davon überzeugt sind, daß man damit jetzt keine Hunde mehr vom Ofen lockt. Weise, nüchtern, keusch, fromm seyn, wer machte daraus heut zu Tage den Hauptvorwurf der Unterweisung? Unser Gedächtniß und unser Verstand wird in Anspruch genommen; unsre Seele bleibt uns selbst überlassen.

Weil nun diese Veranstaltung ein beklagenswerthes Unglück der neuern Zeit zu seyn scheint, so haben sich die Lehrer zu helfen gesucht. Sie behaupten, daß die Wissenschaften nicht blos den Kopf stärken, sondern auch das menschliche Herz veredeln. Dasjenige, was die Wissenschaften nicht thun werden, fügen sie hinzu, wird die Religion und die Gesittung unsers gesellschaftlichen Zusammenlebens thun. Will man die Wahrheit sagen, so denken sie, daß wir schon die sittliche Weisheit lernen werden, weil sie von der Polizei geboten wird. Unsre moralische Ausbildung ist der Furcht oder der Klugheit überlassen. Wahrlich, wenn wir nicht ganz verwildern bei dem einseitigen Erziehungssystem unsrer Zeit; wenn wir wirklich den größten Theil unsrer Sittlichkeit dem Christenthum verdanken, so besteht die welthistorische Bedeutung desselben vielleicht am meisten in der erziehenden Kraft desselben oder in einer Aushülfe, die es der überbeschäftigten und gedrängten Menschheit leistet. Hat wohl 379 Rousseau irgend einen Hauptpunkt in seiner beabsichtigten Reform der Erziehungsmethode getroffen? Seine Schriften sind im Grunde alle weit mehr politischer als moralischer Natur. Daß die Frauen ihre Kinder selbst säugen, darum brauchte kein Prophet aufzustehen. Man brauchte deßhalb nur auf die Alten zu verweisen, nicht auf die Thiere *).

Die Alten glaubten, die Tugend könne gelehrt werden. Viele Dialogen des Plato behandeln dieß Thema; beim Plutarch findet sich eine Abhandlung unter dieser Ueberschrift, die aber nicht vollendet ist. Sokrates, der jungen Atheniensern Stöcke zwischen die Beine warf, um sie davon zu überzeugen, daß sie straucheln könnten, machte sich zu weiter keinem Unterrichte anheischig, als dem in der Tugend. Bei uns hat man dieß so verstanden, wie die Medicin ihre Pharmakologie versteht. Ein Kranker leidet am Magen. Er hat zu gleicher Zeit Fieber und Verstopfung. Jetzt raisonnirt die aufgeklärte Arzneikunde unsrer Zeit so: Ich geb’ ihm ein Dekokt, worin saure Ingredienzien das Fieber stillen und salzige eine Abführung verursachen. Daß Sauer und Salzig in ihrer Mischung ferner weder sauer noch salzig 380 sind, geben die weisen Männer nicht zu und vertheidigen ihre Mixturen gegen ein neues aus Deutschland über Paris zu uns gekommenes System der einfachen Arzneimittel mit einer Hartnäckigkeit, deren guten Grund ich, weil ich ein schlechter Mediciner bin, nicht antasten will. Aber alle medicinische Fakultäten mögen mir wenigstens erlauben, ihr Princip eben so sonderbar zu nennen, wie das, wovon unsre neue Geistesheilkunde, die Pädagogik, geleitet wird. Die jetzigen Erzieher rechnen auf die moralische Kraft der Wissenschaften, die ihnen von selbst inwohne. Sie lehren die Tugend zu gleicher Zeit mit dem Schönschreiben. Ihre Vorschriften sind eben so für die Verbesserung der Handschrift als des Herzens berechnet. Man nimmt die Einleitung zu den Naturwissenschaften aus dem ersten Buch Mosis her. Das Eine soll das Fieber, das Andere die Verstopfung heilen. Ich glaube, es ist hier wie bei allen Kranken. Die schlechte Arznei macht nur, daß der noch gesunde Theil des Menschen sich in ihm empört, und die eigne innere Heilkraft wieder die Oberhand gewinnt. So werden wir nicht deßhalb gut, weil wir soviel gelernt haben, sondern wir werden es, trotz dem, daß wir so viel lernen mußten.

Ich bin davon überzeugt, daß unsre Zeit weit mehr Laster erzeugt, als das Alterthum und die Zeiten der Barbarei. Wir haben mehr Ordnung, als in der Völkerwanderung herrschte; aber unsre Tugenden sind nicht nur, was schon lasterhaft genug ist, passiver Natur; sondern an 381 wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem Mangel an moralischer Bil­dung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger moralische Haltung als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Innerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt 382 hinlegte. Er taumelt mit dem Strom der Zeiten fort. Er ist aus seinem natürlichen Boden mit allen Wurzeln des Herzens herausgerissen. Seine redlichen Begriffe werden ihm, dem gereisten und gewitzigten Manne, bald als Ammenmährchen erscheinen.

Schon oben führte ich den Satz durch, daß es gar keine andere Moral gibt, als die, welche sich an historische Thatsachen anlehnt. Wer würde leugnen, daß die Lehren der Moral zu allen Zeiten ziemlich dieselben waren, daß sie ewige sind? Allein es handelt sich darum, diese Lehren lebendig zu erhalten in den menschlichen Gemüthern. Es kömmt weit weniger auf das an, was die Moral gebietet, denn das wissen alle Menschen, die Vorstellung des Guten ist ihnen eben so angeboren, wie die Neigung zum Bösen. Aber wie wird die Vorstellung des Guten geweckt? wie wird die träge, schlummernde, indifferente Menschennatur zur Uebung desselben hingezogen? wie erlangt sie die Kraft, alle Gründe der Bosheit ihres Herzens mit weit mächtigeren Gegengründen der Tugend in sich niederzukämpfen? In dieser Rücksicht hatte das Alterthum weit bessere Veranstaltungen getroffen, als die polizeilichen unsrer Zeit sind. Großartige Impulse müssen den Menschen aus seiner brütenden Unentschiedenheit aufjagen. Impulse dieser Art sind gesellschaftliche Institutionen, namentlich politische und religiöse, und vor allen Dingen die Begebenheiten der Geschichte.

Wie ist es bei uns? Unsre Erziehung bildet sich ein, sie 383 erreiche Alles, indem sie in der Jugend die Vorstellung vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die Uebung des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue schlafen zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch’ ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehren­werth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können, 384 bleibt immer todt und dumpf, wenn die Unterthanen nicht auch Alles, was sie wollen, lesen, und Alles, was sie wollen, schrei­ben können.

Die Tugenden der Alten hatten gerade durch ihre Institutionen und ihre Geschichte alle einen öffentlichen Charakter. Die Menschen lehnten sich aneinander an, ihre Bestrebungen waren massenhaft, sie bedurften sich Einer den Andern, um ihre Bestim­mung zu erreichen. Der Feind unsrer Moral ist die Zersplitterung. Der Isolirte hält sich schwerer aufrecht, als der, welcher sich auf einen Andern lehnen kann. An wen darf man sich in jetziger Zeit lehnen? An seinen eigenen Schatten. Alles Andre weicht; Jedermann verbittet sich eine allzunahe Berührung. Es ist richtiger Takt, Niemanden anzureden, dem man nicht vorgestellt ist. Hundert Reisende können in einem Gasthofe zu gleicher Zeit am Tische sitzen, und Niemand spricht mit seinem Nachbar. Unter solchen Verhältnissen als Einzelner für sich einstehen zu können, ist schwer, und mit allen äußern Unterrichtsmethoden, mit all unsern statistischen Tabellen über den vermehrten Schulbesuch sind wir doch noch nicht reif genug, um so Jeden selbstständig sich selbst überlassen zu können. Von dieser Ueberzeugung muß die Erziehung ausgehen, und wenn sie sagt, daß sie, um in dem hier angedeuteten Betracht wirken zu können, der Hülfe des Staates und der Geschichte bedarf, so müssen wir aufhorchen und nachdenken, was zu thun ist.

Gemeinsame Bänder fehlen, sagten wir. Welche 385 können damit gemeint seyn? Zunächst ist die individuelle Freiheit die Grundlage eines Erziehungssystems, wie es die Interessen der Moral verlangen. Meine Zöglinge sollen nicht sagen: nos numerus sumus: wir sind der 3,881,221ste im Volke, sondern sie sollen sich fühlen als Integration der Masse, als ein Glied in der Kette in Beziehung auf die Idee des Allgemeinen, wenigstens in Beziehung auf die Gemeinde, wenn nur überhaupt auf etwas, das nicht durch Einzelne, sondern nur durch Mehrere erreicht werden kann. Ich kann nicht von mir sagen, daß ich ehrlich genug bin, um ein mir anvertrautes Gut getreu zu verwalten, aber gebt mir die Kasse einer Gesellschaft, ich will es versuchen, ich glaube, ich werde sie nicht bestehlen! Mein zweiter Grundsatz wäre dann allerdings das Gewissen. Ihr bildet am Gewissen nur die Ruhe aus, die es gibt; ich würde von der Ruhe niemals sprechen, sondern immer nur von dem Stolz des Gewissens. Die Ehre und der gute Name wirken auf das strebsame und unruhige Gemüth des Kindes weit mehr, als die sentimentale Schilderung eines Greises, der heiter und zufrieden auf einem mehr oder weniger schmerzlosen Krankenlager stirbt. Drittens: in dem moralischen Ehrgeiz ist noch nicht jener Dualismus enthalten, nämlich Herz und Kopf, Bildung nach zwei verschiedenen Seiten hin. Die Ehre, in Beziehung auf das Allgemeine, ist das Bestreben, nicht blos für einen braven, sondern auch gescheuten Menschen zu gelten. Unter diesem Gesichtspunkte geht Alles Hand in 386 Hand, was der Zögling an Fortschritten leistet. Kömmt hier noch die Ausbildung des Körpers hinzu, so braucht man niemals zu moralisiren und kann doch die Ueberzeugung haben, daß man Tüchtiges erzieht. Mit der Religion würde ich meinen Zögling erst spät in Berührung bringen, noch später mit dem Christenthum. Daß er vom Christenthum schon vieles weiß, hindre ich nicht. Er hat aus der Bibel lesen gelernt, aber ich reproducire noch lange nicht die Bibel mit ihm, ich trag’ ihm keine Dogmen vor; ich mach’ ihn erst für das Wesen der Religion empfänglich, eh’ ich ihm selbst Religion lehre. Das Lehren von Religion wird dann überhaupt erst in einem Stadium beginnen, wo ich nicht mehr Sorge tragen muß, daß mein Zögling erst aus den Lehren der Religion Religion lerne. Diese muß er längst haben. Was ich ihm als Dogma gebe, darf nur entweder Geschichte oder Philosophie seyn. Ich werd’ ihm das Christenthum erklären. Ich werd’ ihn in einem Momente mit der Dreieinigkeit bekannt machen, wo er darin keine sinnliche Vorstellung mehr findet, sondern ein Philosophem. Ich werde ihm die Gottheit Christi nicht einprägen, sondern nur erklären. Ich werde nicht die Tollheit begehen und ihm dadurch Religion geben wollen, daß ich ihm die Dreieinigkeit und die Gottheit Christi zu moralischen Verpflichtungen mache. Er soll Ehrfurcht ha­ben vor diesen Dogmen, aber von ihnen keine Wunder erwarten. Ich bin gewiß, daß ich unter diesen Umständen einen Christen erziehe; denn er wird Einsicht genug haben 387 und sich die historische Stellung des Christenthums erklären können. Er wird um so frommer seyn, je mehr er von seiner Urreligion in den Dogmen wieder findet.

Ich bin hier in das Gehege der Theologen gekommen. Ich höre, wie man mir Vorwürfe macht, daß ich schon so lange über die Erziehung und erst jetzt vom Christenthum spreche. Ich habe so viel Achtung vor diesen Vorwürfen, daß ich hier die schickliche Gelegenheit wahrnehme und einen Brief, den mir kürzlich ein achtbarer presbyterianischer Geistlicher auf dem Lande schickte, hier einrücke. Ich will keine Stimme überhören, wenn sie aus dem Munde eines Zeitgenossen kömmt. Die Veranlassung zu diesem Briefe nahm sich der Verfasser desselben selbst. Er lautete, wie folgt:

Mein theurer Herr!

Seit Jahren les’ ich mit Vergnügen die Werke, mit welchen Sie das Publikum beschenkt haben. Ich würde sie aber, um offen mit dem Zweck meines Schreibens hervorzutreten, mit noch weit größerem Wohlgefallen lesen, wenn ich fände, daß sie von der Kraft des Christenthums durchströmt und in einem festeren Glau­ben an die Pforten der Ewigkeit, die uns der Heiland erschlossen, geschrieben wären. Ich darf Sie nicht zu jenen Schriftstellern rechnen, welche mit einer Frivolität, die hinter Voltaire immer zu spät kömmt, das Christenthum angreifen; aber Sie, indem Sie das Christenthum igno-388riren, vergehen sich noch mehr an den ewigen Wahrheiten dieses Glaubens, als Jene, die durch ihre Leichtfertigkeit eher nützen als schaden. Mein theurer Herr, ich schreibe Ihnen diese anspruchslose Epistel aus einem Befinden, das, zurückgezogen von der Welt, die Ursachen und Folgen der Dinge mit dem Auge der größten Unparteilichkeit verfolgen kann. Ich bin nicht das, was man gewöhnlich einen Kopfhänger nennt, sondern recht im Strome meiner Gedanken, in der freudigen Anschauung einer mich umgebenden reizenden Natur bin ich zu einer Ueberzeugung gelangt, die ich Ihnen von ganzem Herzen einflößen möchte.

Ihre Schriften, namentlich das Buch über England, verrathen eine zusammenhängende Weltansicht. Sie sind auf’s Tiefste von dem hohen Werth und der Bestimmung der Menschheit ergriffen. Sie denken mit Schwermuth an die Masse von Leiden und Lastern, die in den Schicksalen und Herzen unsrer Zeitgenossen Hand in Hand gehen. Wie recht haben Sie, wenn Sie zuweilen die Menschen entschuldigen und statt ihrer die Sitten, die Vorurtheile, die Institutionen anklagen; wenn Sie die Verbrechen mildern durch die Rückblicke auf die Erziehung derjenigen, die sie begingen; wenn Sie in dem Prinzip des Egoismus die Klippe aller unsrer Wünsche und Bestrebungen wahrnehmen. Ach, Sie sprechen zuweilen auch über die Religion. Sie sind nur geneigt, das Beste von ihr zu sagen, unter der Bedingung jedoch, daß Sie Religion mit der blosen Moral verwechseln dürfen. Ihre 389 Worte werden erzürnt, bitter, ich will nicht einmal sagen, ungerecht, wenn Sie von der Kirche sprechen. Wenn irgend ein Land durch eine übergroße äußerlich zur Schau getragene Begünstigung der Religion den Wahrheiten derselben geschadet hat, so ist es unser Vaterland. Wenn sich irgend ein Land findet, das noch mehr als England gewisse äußerliche Thatsachen der Honnetetät und Respektabilität als gleißnerisches Gewand um die Religion gelegt hat, so würde es bald so sehr ohne alle Religion seyn, wie England es seyn wird, wenn nicht seine geistigen Lenker den schlaffen Zügel des allgemeinen Gewissens schärfer anziehen und im Lande eine tiefe, recht aus dem zerknirschten Zustande der Seele kommende Besinnung und Reue wirken. Sie und wer Ihnen verwandt ist, haben ein Ziel. Sie hoffen, die Menschheit aus dem Schlamme des Materialismus durch moralische Anrede, durch enthusiastische Darstellungen der Menschenwürde und durch die größtmögliche Aufklärung über die unklaren Freiheitsbegriffe erlösen zu können; allein, soviel Wärme Ihrem Busen entströmt, so leuchtend Ihre Rede in der Nacht aufflackert, Sie werden nie mehr bewirken, als daß die Edeln ihres Schmerzes nur noch gewisser werden. Verzeihen Sie diese entschiedene Erklärung, der ich noch den Vorwurf hinzufüge, daß ich an den Männern Ihres Glaubens die Hingebung und die Liebe vermisse.

Es gibt nur einen Eck- und Schrittstein für das Gebäude unsrer und jeder Zeit – Jesus Christus. Und 390 dieses Heilandes Reich war nicht von dieser Welt. Ach, was mühen Sie sich, daß Sie die Wunder dieser Welt, den Schmuck der Erde und den Stolz der Menschen malen, da Alles, was wir besitzen dürften und noch nicht besitzen, Alles, was wir sehen und nicht unser nennen, die Lohe unsres Unmuthes schürt und die Sehnsucht des Herzens in jenes verstockte Gefühl verwandelt, das Sie, mein theurer Herr, mit so glänzenden Farben als philosophischen Stolz malen können, das aber ganz derselbe Grund und Boden ist, auf welchem jener Indifferentismus der Zeitgenossen wuchert, gegen welchen selbst Sie Ihren Stolz richten. Ach, nur in des Himmels klarer Bläue, nur in dem Blick gen Oben liegt für die Menschheit jener Friede, der Schmerzen löset. Schmerzen heilet? Schmerzen heilt man nicht, Wunden nur; aber die Wunden, die uns geschlagen sind, als der Herr r uns, ein Bild der Menschheit, am Kreuze hing, diese Wunden heilen nicht mehr; nur die Schmer­zen können gestillt werden. Heilung ist erst im Anblick des Todes und der Ewigkeit. Sehen Sie, mein theurer Herr, dieses Leid, welches Sie über die Ziellosigkeit der Jetztwelt empfinden, empfindet der Christ noch weit tiefer, als Sie; aber er ist dennoch weniger unglücklich, als mir die Stimmung Ihres Herzens zu seyn scheint, wenn Sie über die Laster und Gebrechen Ihrer Zeitgenossen klagen. Ihr unseliger Irrthum ist der Glaube an eine neue, aus lauter positiven Tugenden und aus lauter Enthusiasmus geschaffenen Welt. 391 Im Hintergrunde aller Ihrer Polemik liegt ein irdisches Eldorado der Freiheit und der Philosophie. Sie täuschen sich und Andere. Es gibt eine neue Welt, aber nur im Jenseits. Der magnetische allgemeine Zug des Himmels ist die Seligkeit der Erde. Das Christenthum hat das tiefste Räthsel der Menschenbrust ausgesprochen, daß es eine neue Welt predigte, deren irdische Vorhalle die Hoffnung und das Gottvertrauen seyn sollte. Für Menschen, die sterben müssen, für Menschen, die die Ahnung einer jenseitigen Zukunft haben, wird nimmer Ruhe liegen in der Abgrenzung irdischer Gedanken, in dem noch so fein und groß gedachten Umkreis jener Tugenden, von welchen Ihr stolzes Herz träumt. So oft der Tod mit seinem kalten Lebewohl vor das Lager der Jünger Ihres Glaubens treten wird, so oft wird sich Alles, was hinieden zurückbleibt, in Verwesung vor unsern ersterbenden Augen verwandeln. Für Ihre Jünger wird der Tod immer eine Anklage des Himmels seyn; denn der Himmel raubt ihnen, was sie hier auf Erden schon in einer allgenügenden Vollkommenheit glauben besessen zu haben. Ihre Jünger werden schön leben, aber muthlos sterben.

Ach, mein theurer Herr, Sie werden mir erwiedern, daß Sie die Segnungen des Christenthums nicht verkennen; Sie werden aber hinzufügen, daß Ihnen dasselbe viel zu viel Spuren einer äußerlichen, zeitlichen Begebenheit trägt, als daß Sie darin etwas Ewiges erblicken dürften. Welch’ ein eigensinniger Vorwurf! Es treten von allen Seiten Kenner auf, historische Forscher, die 392 dem Christenthum seinen zeitlichen Ursprung zum Vorwurf machen. Großer Gott! diese Anklagen der Bibel wegen ihrer Zusammensetzung, diese kritische Anatomie der Wunder des Hei­landes, dieser Jubel, wenn in den einfachen Erzählungen schlichter Handwerker und Landleute Widersprüche entdeckt wer­­den, indem doch gerade das Vorhandenseyn derselben die unverfälschte, zufällige, unverabredete Entstehung der ersten Berichte von den großen Vorgängen beweist – ja, mein theurer Herr, dieser ganze Apparat von Gelehrsamkeit ist in seinen Schluß­folgerungen sehr ungerecht und lieblos. Der Heiland war kein Schrift­steller; ach, wahrhaftig nein! Die Apostel wollten es seyn und hatten nicht die Fähigkeiten dazu. Das Evangelium war kein Buch, sondern eine Begebenheit. Als solche mußte sie alles Risiko der Geschichte und der Tradition laufen. Ist nun darum, daß sich so Manches als unecht vor der Kritik bewiesen hat, d. h. als jünger, denn Christus, ist darum der Kern, den sie aus der Schaale genommen haben, weniger duftend und rein? O wenn es erwiesen seyn sollte, daß Menschen viel zur Feststellung dieses beseligenden Glaubens beigetragen haben, sollte er uns nicht deßhalb gerade wahrscheinlicher, faßlicher und liebenswürdiger seyn? Dürften Ihre wackern Glaubensgenossen diese Frage bestreiten, welche doch auf den Triumph der Humanität hinauszukommen scheint?

Wäre das Christenthum eine Kunst, die man lehren kann, eine Kunst, die, um nicht in blose Technik zu 393 verfallen, nicht soviel eignes Talent voraussetzte, dann würd’ ich in diesem Lobpreisen meiner Erlösung fortfahren. Wie man nicht auf dem festen Lande schwimmen lernt, so kann Christus nur in denen wirken, die Lust bezeugen, ihn in sich aufzunehmen. Aber darum nur, mein theurer Herr, wollt’ ich Sie bitten, ob Sie Ihren hohen Beruf als geistiger Vormund des Publikums nicht dahin benützen könnten, wenigstens einigen Fragen, wenn nicht der Hauptfrage, die Grundlage des Christenthums zu geben? Sie empfehlen, wo Sie können, bei der Erziehung Grundsätze, Methoden, Sie empfehlen einen Stoff des Unterrichts vor dem Andern, Sie dringen auf Sittlichkeit. Sie geben das Ideal der Menschheit, welches Ihnen vorschwebt, in lauter vereinzelten Stücken, wie die Theile jenes Panzers, mit welchem der griechische Liebesgott spielt; ach, mein theurer Herr, Sie werden doch fühlen, daß die Erziehung aus einem Stücke kommen müsse, und daß die Menschen, welche in ihrer Jugend nur die eine Hälfte ihrer Bestimmung kennen gelernt haben, ihr ganzes übriges Leben vergeblich daran setzen müssen, die andre zu finden? Vergessen Sie das Christenthum, wenn Sie mit Männern über das Ewige, Große und Herrliche der Geschichte sprechen, aber vergessen Sie es nicht, wenn Sie mit Kindern und Greisen darüber sprechen. Scheuchen Sie von der Wiege und dem Grabe nicht die Friedensboten unsres Heilands fort. Wehren Sie den Kindern nicht, die er ruft, noch ehe sie gehen können; die Greise, denen er ruft, wenn sie müde sind. Ich 394 will nicht zürnen, wenn Sie über den Staat, ja selbst über unsre verdorbene politische Kirche, wenn Sie über die Geschichte, über Zahl, Maß und Gewicht, Heer und Flotte, über Gewerbe und Handel sprechen und dabei das Christenthum vergessen; aber über die Hoffnungen der Kinder, Greise und Armen sprechen Sie nie, ohne Ihre Betrachtungen an Jesus anzuknüpfen, der den Kindern und Armen einen Trost gegeben hat, den Sie ihnen nie geben werden, den, daß ihrer das Himmelreich ist.

Ehren Sie, mein theurer Herr, in Diesem die Worte eines alten Mannes, der aller Welt so freudig zu sterben wünscht, wie Ihr ergebener .....

Was ich auf diese rührende Zuschrift erwiederte, möge hier gleichfalls mitgetheilt werden. Ich schrieb:

Ehrwürdiger Herr!

Auch nicht einen Ihrer vertrauensvollen und mich ehrenden Zusprüche würd’ ich in Betreff der christlichen Religion in Abrede stellen; denn Sie schließen in Ihren sanften Vorwürfen niemals, daß ich jenem Glauben die ehrfurchtsvollste Achtung ver­sagte. Nur um die größere und wirksamere Geltendmachung Ihrer Neigung zu Jesus handelt es sich, und wenn ich glaube, daß Sie damit nicht zum Ziel kommen werden, so klag’ ich weit mehr den Lauf der Dinge, den Zug der Weltbegebenheiten und den allgemeinen Charakter der Menschen an, als jenes Radikalmittel der göttlichen Heilsordnung, das 395 Sie selbst, dadurch von Ihren Zweifeln geheilt, aller Welt empfehlen möchten. Ehrwürdiger Herr, ich bin heilig davon überzeugt, daß das Christenthum zum zweiten Male die Menschheit erlösen würde, wenn wir nur im Stande wären, unsre Begriffe und Vorstellungen, unsre Wünsche und Verhältnisse, unsre Hoffnungen und Leiden so zu vereinfachen, als das Christenthum einfach ist. Aber wie wollen wir das möglich machen? Wie wollen wir alle jene Leidenschaften, die sich in der Welt durchkreuzen und ihre Tagesordnung machen, auf eine einzige Gemüthsstimmung, die Resignation, zurückführen; wie wollen wir ein Gewirr von Interessen, das schon widerspenstig ist, wenn wir ihm nur einige allgemeine moralische Fra­gen vorhalten, gar durch das Christenthum vereinfachen, durch eine Lehre zumal, die durch ihr äußerliches, weltliches und vor Gott unverantwortliches Auftreten selbst in den Strudel der Dis­cussionen hineingerissen ist und sich dem Zeitgeiste gegenüber am wenigsten unbefangen hat erhalten können? Ja, ehrwürdiger Herr, ich will Ihnen zugestehen, daß ich das Evangelium in meinem schriftstellerischen Apostelamte predigen möchte. Ich will rufen wie ein Vorläufer der Wiedererscheinung Christi, daß man Buße thun und sich bekehren solle! Welches wird die Wirkung meiner Mahnungen seyn? Immer nur eine vereinzelte. Ich werde immer nur Einzelne gewinnen. Das Christenthum hat seinem innersten Wesen nach wohl eine Berufung an Jeden, aber nicht an Alle auf einmal. Ehemals, 396 wo die Menschenherzen so leer waren, mochte das Christenthum überzeugte Anhänger massenhaft gewinnen können. Jetzt aber ist es längst nur noch in seiner wahren Gestalt eine Thatsache für den Einzelnen in der Einsamkeit. Man kann durch die Predigt des Evangeliums Einen nach dem Andern von dem großen Haufen, der seinen Wahnbildern und Tagesgötzen nachläuft, abziehen; aber man kann die ganze Menge nicht mehr damit blenden, wie Saulus auf dem Wege nach Damascus geblendet wurde und sich bekehrte. Fänden nur Viele durch Geistliche auf diesem Heilswege Frieden! Der Autor, der nicht für Einzelne schreiben darf, der sie Alle in ihren Neigungen und Leidenschaften zu umfassen suchen muß, muß Principien von der weitesten Ausdehnung in seinen Schriften vertheidigen. Er hat schon Alles gethan, wenn er nur die Widersprüche, welche sich in der Welt so hartnäckig bekämpfen, gegeneinander ausgleicht, die Ansprüche der Einen denen der An­dern näher führt und eine Vereinfachung der Fragen erzielt, welche die Verständigung erleichtert und das Terrain ebner macht, mag nun ein neuer Prophet oder ein Christus-Apostel oder ein Ereigniß kommen, welches Erlösung bringt.

Wenn Sie, ehrwürdiger Herr, die Lage der Dinge, wie sie jetzt in der Welt ist, übersehen, so werden Sie mir zugestehen, daß es hauptsächlich die Begriffe von Recht und Unrecht sind, welche mit sich im Streite liegen. Es handelt sich nicht einmal so sehr darum, was 397 der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey’s geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt’ ich als Selbstgenügsamkeit, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Ich sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen 398 den Stärkern keine Garantie der Billigkeit gab, zu einer Zeit, als die Juden von den Römern wie alle Völker ohne Aussicht auf Rettung geknechtet wurden. Jetzt würde die Welt diese Lehre verlachen und ihre glänzenden Seiten, deren Ewigkeit ich nimmermehr bestreiten werde, in den Koth werfen. Mit dem Christenthum mehr ausrichten wollen, als in ihm liegt, das hat sich zu allen Zeiten an dieser Lehre gerächt. Je mehr sie sich in den Vorgrund stellte, weltliche Macht und irdischen Einfluß ansprach, desto mehr wurde sie gedemüthigt und in ihrem innersten Wesen verkannt, von der Frivolität eines ganzen Jahrhunderts sogar verhöhnt. Diese Lehre, daß man bei einer empfan­genen Ohrfeige auch noch die andere Wange hinhalten solle, mag ich jetzt den Armen, die, daß man alle seine Habe verkaufen und nur Christo nachwandeln solle, vermag ich nicht einmal den Reichen unsrer Zeit zu predigen.

Die Frage der Armen und Reichen wird in der Art, wie sie von unserm Jahrhundert gestellt ist, vom Christenthum nicht gelöst werden. Wenn ich Ihnen also, ehrwürdiger Herr, die Armen nicht herausgebe, so will ich Ihnen die Kinder und die Greise gern lassen; ja Ihnen noch die Frauen geben, die Sie, worüber ich mich wundre, verschmäht haben. Kinder, Weiber und Greise saßen auf den Zinnen Trojas und sahen zu, wie Griechen und Trojaner unten ihre Streitkräfte musterten. Kinder, Weiber und Greise mögen daheim am Herde opfern und für die Väter, Gatten und Söhne bitten, die vor 399 den Thoren sich tummeln und das Jahrhundert ausfechten müssen. Warum verlangt die Religion jetzt mehr, als den Dienst der Götter? Warum wird der Ausdruck: „Weltreligion“ immer so verstanden, als müßten alle Dinge der priesterlichen Vormundschaft unterthan werden? Wahrlich, wär’ ich für das Christenthum ausschließlich so eingenommen, wie ich es für alle historischen Erscheinungen bin, wo Humanität und Vernunft über Sklaverei und Aberglauben siegten, so würd’ ich für mein Ideal die größte Genugthuung darin finden, daß die Kämpfer, ermüdet von Wunden oder vom Alter, doch zu mir kommen müßten, um sich heilen oder zur Ruhe bestatten zu lassen, daß ich mit meinem Troste unter einer grünen Linde stehe und Jeden aufnähme, der erschöpft von der Sonnenhitze Kühlung sucht. So bietet sich der einsame Waldbruder in seiner Hütte Niemanden an, weil er kein Wirthshaus hält, nimmt aber Jeden auf, der sich verspätet hat und seine Hülfe, sein Nachtlager, seine Freigebigkeit in Anspruch nimmt. Warum will das Christenthum mehr als diese Mission haben? Warum wollt Ihr stolzen Priester selbst in das Gedränge und Wirrsal der Interessen treten?

Verzeihung, ehrwürdiger Herr, daß ich Ihre von Priesterehrgeiz weit entfernten Anmahnungen von der Seite dargestellt habe, von welcher sie bei klugen und vorsichtigen Leuten genommen werden könnten. Ihr Zuspruch kam aus reinstem Herzen; aber das, was man Ihren edlen Motiven gestatten würde, könnte leicht von 400 Ihrem Nachfolger mißverstanden werden. Leicht könnte aus einem neuen Sieg des Christenthums ein neuer Sieg der Hierarchie werden. Ihrer Theilnahme dankend, verharr’ ich ........

Diese Correspondenz hab’ ich deßhalb hier eingeschaltet, weil namentlich die Erziehung ein Gegenstand ist, welchen sich die Geistlichen und Weltlichen einander streitig machen. Der Einfluß des Christenthums auf Erziehung kann herrlich seyn. Liebe Vater und Mutter, bete zu Gott, liebe deinen Nächsten, demüthige deinen Stolz, bekämpfe deinen Eigensinn, sey gehorsam, opfre dich auf, meide, was dir verboten wurde! Das ist die Grundlage, davon soll die Erziehung ausgehen. Allein sie soll mit diesen allgemeinen Vorschriften nicht enden. Der Mensch soll nicht erst den Himmel kennen lernen und dann mit einem Male in die Hölle gestoßen werden. Versteht ihr Geistliche es, diesen Uebergang von der himmlischen Moral zur weltlichen Klugheit, von gotttrunkener Anschauung zu werkthätiger Rührigkeit zu bahnen? Liebe Vater und Mutter, bete zu Gott, liebe deinen Nächsten; gut. Aber: demüthige deinen Stolz! Wenn nun dieser Stolz mein einziger Trost ist? Wenn ich nichts mehr habe auf der Welt, als das Bewußtseyn meiner moralischen Würde? Wenn dieser Stolz meine Waffe ist gegen Uebermuth? – Bekämpfe deinen Eigensinn! Gut; wenn nun aber dieser Eigensinn meine Ueberzeugung ist? Wenn man von mir einen Widerruf verlangt, der so leicht ist; und ich behaupte doch 401 mit Galiläi, daß die Erde sich um die Sonne dreht? Sey gehorsam; gut, ich gehorche. Wenn ich aber als Werkzeug einer schlechten Handlung mißbraucht werde? Wenn ich nur darum gehorchen soll, weil der, welcher mich beherrscht, der Stärkere ist? Mit einem Worte, die Sittenvorschriften des Christenthums, wie sie in den Schulen gelehrt werden, sind viel zu sehr auf eine Bücherwelt, auf eine Welt der Aesopischen Fabeln berechnet. Sie überlassen die Ausführung des Abers, welches sich bei jedem ihrer Sätze aufdrängt, erst dem Augenblick, wo wir schon mitten in den Wirren inne sind, und, von den Umständen schon gedrängt, in die Nothwendigkeit uns versetzt fühlen, unsern moralischen Herzensapparat zu vervollkommenen, zu erweitern und für das praktische Fach vielleicht gänzlich umzugestalten. Welches ist die Folge dieser Verlegenheit? Daß Viele ihr häusliches Gut, ihre mütterliche Reisemitgift, als altfränkisch und unmodisch ganz über Bord werfen, und lieber vorziehen, gar keine, als beschränkte Grundsätze zu haben. O könnt’ ich durch diese Bemerkungen die Erzieher veranlassen, sich vom Allgemeinen loszusagen und ihre Zöglinge immer auf das aufmerksam zu machen, was nicht nur wahr, sondern auch heilsam ist! Schlafft die Kinder nicht aus, verzärtelt sie nicht durch weinerliche Allgemeinheiten, sondern flößt ihnen getrost ein tüchtiges Vertrauen auf sich selbst ein! Sie werden zeitig inne werden, wie weit sie mit sich selbst kommen, und werden sich wohl schicken müssen, auf Gott zu vertrauen. 402 Wissen sie aber nur dieß, so werden sie jenes niemals lernen.

An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa’s einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Idealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre. 403 Wie so, Lady? fragt’ ich, lächelnd über den herben Ausdruck. Ach, lachen Sie nicht, entgegnete sie; mein einziges Kind ist die Ursache meiner Leiden. Ist es krank? fragt’ ich besorgt. O wär’ es das Mädchen! ant­wortete die Mutter, dann würde ich kein so hartes und grausames Wesen in dem Kinde erstarken sehen. Ich war erstaunt, weil das Kind ungemein viel Zutrauliches und Liebliches in seinem Benehmen hatte, ein Kind von kaum vier Jahren. Die Verstellung ist ihr angeboren, klagte die Mutter; der Geist, der in diesem Kinde tobt, erweckt mir für die Zukunft Besorgnisse, die mich mit Schrecken erfüllen. So jung sie ist, so hat sie doch schon einen so durchdachten, kalten Trotz, daß sie mir mit der größten Ruhe sagen kann: Jetzt will ich weinen, weil ich weiß, daß Du dich darüber ärgerst. Dann weint sie laut und schreit, ohne daß ihr eine Thräne im Auge stünde. Sie stampft mit den Füßen auf und weiß sich, noch so jung, schon einer Miene zu bedienen, die ihr, wenn sie älter wird, gräßlich, teuflisch stehen wird. Niemals offenbart sie auch nur die geringste Zärtlichkeit für ihre Umgebungen. Vater und Mutter sind ihr, trotz der liebevollsten und sanftesten Behandlung eine Qual. Fremden Leuten würde sie ohne Weiteres folgen, wenn ich mich, trotz meiner Leiden, entschließen könnte, sie von mir zu geben. Wenn ich recht schreie, sagt sie ganz kaltblütig, so bekomm’ ich doch, was ich will. Ich weiß nicht, was ich für ein Unglück neben mir aufwachsen sehe! Ich suchte 404 die unglückliche Mutter zu trösten. Das Kind hatte in der That etwas Keckes und Kaltes. Seine Stimme kam, wie fast immer bei leidenschaftlichen Menschen, tief aus der Brust und hatte einen angenehmen, tiefen Altklang. Ich frug die Mutter, ob sie nicht bei Erziehern von Fach, Geistlichen und solchen privilegirten Kennern der menschlichen Natur sich Raths erholt hätte. Genug, antwortete sie; aber die Mittel helfen nicht; der Eine räth zur Stren­ge, der Andere zur Milde. Sie vereinigen sich alle darin, daß, wenn Emilie älter sey, man ihr mit Vernunftgründen besser beikommen würde. Jetzt können Lehre und Vermahnung noch nicht viel fruchten, aber später würde sie schon lernen, was gut ist, oder wenigstens, was sich schickt. Allein dieß Warten tröstet mich nicht; denn vielleicht geht dabei die beste Zeit verloren und das Uebel wurzelt sich nur in dem verstockten Herzen desto tiefer ein! Ich entgegnete der bekümmerten Mutter: Meine Theure, ich glaube, daß unter allen Ihnen angebotenen Heilmitteln die moralischen die unwirksamsten sind. Kindern Moral predigen, kann wohl nützen, um ihnen gewisse allgemeine Wahrheiten über Gut und Böse einzuprägen, die sie später, zu Verstand gekommen, mit geistiger Freiheit durchdenken mögen und innerlich befestigen; allein verlangen, daß Kinder in ihren jungen Jahren nach diesen Predigten ihr Benehmen einrichten, heißt das Unmögliche verlangen. Ich glaube, es gibt nur zwei Mittel gegen die halsstarrige Natur Ihres Kindes. Erstens müssen Sie 405 für entschieden annehmen, daß dieß Kind von seiner angebornen Art nicht läßt. Sie müssen nur suchen, die Extreme dieser Art zu beschneiden. Einen strengen, schroffen und entschiedenen Charakter wird dieß Kind immer behalten. Es kömmt nur darauf an, ihn zu mildern und ihm eine tüchtige und moralische Grundlage zu geben. Alle Menschen empfinden nicht so weich wie Sie, und sind darum doch nicht gefühllos. Ihre Tochter wird ein energisches Wesen ihr Leben lang behaupten, was durchaus kein Unglück ist, wenn nur der Kern eines edlen menschlichen Herzens in der äußern Schaale liegt. Das zweite ist der Unterricht. Wenn bei irgend welchen Naturen nöthig ist, geistige Vorzüge zu geben, so ist es bei diesen. Lenken Sie durch frühzeitige Bildung in Sprachen und Künsten den Eigensinn von Ihrem Kinde ab. Ueber Büchern und Noten verliert sich bald die Kraft der Hinterfüße, auf welche sich die junge Dame stemmt. Die Erweckung des Ehrgeizes in einem solchen Charakter wird dazu dienen, daß er, je älter er wird, sucht, seinem Wesen einen harmonischen Eindruck zu geben, es nach dem Maße, wie man Lob und Tadel erntet, einzurichten. Ein solches Kind kann nicht durch Erziehung, sondern nur durch Unterricht geheilt werden. – Genug, Emilie ist jetzt sieben Jahre und weit sanfter geworden. Sie ist aber den ganzen Tag mit Büchern und Noten beschäftigt. Ihr starker Geist mußte diesen Ableiter haben.

Ueber Schulwesen, Elementarunterricht, Methoden 406 à la Hamilton oder Jacotot, über Humanismus und Realismus wimmelt es von Gemeinplätzen. Wir haben oben einige Lehrerbiographien entworfen; man kann sich denken, wie die Gedanken durchwässert werden müssen, ehe sie den Verdauungswerkzeugen jener unerzogenen Erzieher angemessen werden. Ja selbst was über die Universitäten gesagt ist, ist so allgemein zugestanden worden, daß man es nicht gern wiederholen mag, so nöthig es in England wäre. Meine Ansichten über diesen Gegenstand hab’ ich deutlich genug ausgesprochen. Ich mag sie hier nicht wiederholen. Frankreich betreffend, so hat ja dieß schöne aber schlecht unterrichtete Land jetzt die Schulmeister sogar am Staatsruder sitzen. Wenn da nicht endlich das Schulwesen eine bessere Gestalt gewinnt, dann dürft’ es wohl ewig brach liegen. Aber die Herren fangen immer an und kommen nie zu einem Ziele. Herr Guizot bringt alle Augenblicke den Secundärunterricht auf das Tapet, Herr Cousin bereist Holland und Deutschland und doch erfährt man nichts von ihnen, als daß sie einige glänzende Reden von der Tribüne halten, oder einige Artikel in den Revuen schreiben, die sie später als Brochüren sammeln. Herr Guizot hat eine ganze Cotterie von Unterlehrern um sich, die sich sehr gut bewähren könnten in Südfrankreich, in der Normandie, in der Vendee, überall wo der Elementarunterricht einer Reorganisation bedürfte; allein er benutzt sie lieber dazu, daß sie ihm seine Journale redigiren. Ich will nicht in Abrede stellen, daß die von den 407 Doktrinären so dringend gemachte Nothwendigkeit einer Reform des Unterrichtswesens ihnen Ehre macht; allein bis jetzt war der Primär- und Secundärunterricht nur ihr Paradepferd, das sie einen feierlichen Umzug durch die Kammer halten lassen, wenn sie andeuten wollen, daß sie nicht blos für die materiellen, sondern auch moralischen Interessen Frankreichs sorgen. Die Reform des Unterrichtswesens glänzt zur Zeit noch weit mehr in der Thronrede als in der Wirklichkeit. In dem Augenblicke, wo dieß geschrieben wird, ist die Kammer mit der Diskussion eines schon vor einem Jahre eingebrachten den Unterricht betreffenden Gesetzentwurfes beschäftigt. Die Opposition findet an den Vorschlägen Guizots zuviel Centraldespotismus, zuviel Erinnerung an jene Napoleonischen Lyceal- und Universitätseinrichtungen, aus denen die Censoren hervorgingen und später, da sie die Restauration beibehielt, die Jesuiten. Wenn es jedoch Guizot mit seinem Gesetzentwurfe dahin bringt, daß erstens die Unterlehrer mehr Ausdehnung gewinnen, um dem Volke Lesen und Schreiben zu lehren, und zweitens die Oberlehrer weniger Ehrgeiz verspüren, sich in die Staatscarriere zu werfen, dann wird kein billig Denkender gegen seine Vorschläge etwas einwenden.

In Deutschland endlich befindet sich niederer und höherer Unterricht auf einer außerordentlichen Stufe; dennoch ist diese gebildete, so vortrefflich lesende und schreibende Nation fortwäh­rend in pädagogischen Streitigkeiten verwickelt. Jährlich stehen Reformatoren der 408 Methode auf und lehren, daß man Alles, was man bisher gelernt hätte, wieder vergessen und auf eine andere Manier sich einprägen müsse. Die neuen Theorien, welche in andern Ländern entdeckt wurden, bezweckten eine größere Schnelligkeit im Erlernen; die Deutschen streben aber hauptsächlich nach Gründlichkeit und System. Ein Beweis, wie vorherrschend und allgemein in Deutschland die pädagogische Dis­kussion ist, wie sehr sie die Interessen aller Stände in Anspruch nimmt und mit den höchsten Ideen des Zeitalters in Verbindung gebracht wird, liegt darin, daß in Deutschland die po­litischen Neuerungen fast immer mit dem Schul- und Unterrichtswesen conspiriren. Die Universitäten in Deutschland sind nicht so sehr Pflanzstätten des mittelalterlichen Geistes, als sie davon das Ansehen haben. Durch den hohen Aufschwung, welchen in Deutschland seit 50 Jahren die Philosophie und die empirische Wissen­schaft genommen hat, sind diese alten Formen selbst wieder frisch und neu geworden. Sie schlugen noch einmal wieder aus, die alten Stämme, und trugen einen solchen Wald der duftigsten Blüthen, daß man in Deutschland mit dem unglücklichsten Herzen daran geht, in der Verfassung der Universitäten, diesem einzigen vollständigen Reste des Mittelalters, eine große Verän­derung zu unternehmen. Gefährlicher ist aber diesen Institutionen der Antheil geworden, den sie an der Verbreitung und sogar Ausführung politischer Ideen genommen haben. Professoren belebten den jugendlichen, nach Neuerungen trachtenden 409 Geist, die akademischen Gewohnheiten boten der Propaganda liberaler Ideen, ja wohl gar der Propaganda revolutionärer Wagnisse einen sichern Schlupfwinkel. Die kleinen Aufstände, die Deutschland gegen seine Dynastien wagte, gingen theils ausschließlich von den Universitäten aus oder wurden von ihnen unterstützt. Die meisten in den Zeitungen genannten Staatsverbrecher sind Lehrer und Studenten. Mit Erlaubniß unsres Königs, der in England sich die systematische Demagogie eines O’Connel als etwas Gesetzmäßiges gefallen läßt und in Deutschland die Lenker einer Bewegung, der Hannover die Verfassung verdankt, mit Ketten belastet, will ich hier mit einer Bemerkung schließen, die unsern bisherigen Gegenstand in das rechte Licht des Jahrhunderts stellt und zugleich die Wichtigkeit anerkennt, welche Deutschland für die Erziehung hat.

Nicht blos der Charakter der Deutschen bürgt für ihre Befähigung zum Unterrichte und ermuthigt meine Landsleute, sich für die Erziehung ihrer Kinder deutscher Pensionate zu bedienen, sondern es scheint mir höchst bemerkenswerth zu seyn, wie gerade in Deutschland Alles, was für neu, frei und volksbeglückend gehalten wird, in einem so lebhaften Verkehr mit der Erziehung steht. Wenn es eine wahrhafte Form für den Inhalt der verschiedenen Lehr- und Bildungstheorien gibt, so ist es die der Oeffentlichkeit. Die Theilnahme der Nation an ihrem Nachwuchs, an ihrem einstigen Ersatz, die Erziehung als Sache der Politik, darin lag die Größe des 410 Alterthums. Was nützt es mir, dachte der Spartaner, daß mein Sohn an Weisheit mit Bias wetteifert, wenn er die Schmach nicht rächen kann, die man meiner Leiche zufügt, wenn er seinen Herd und sein Erbtheil nicht zu schützen versteht! Montesquieu führt die Merkmale an, welche die Erziehung in despotischen Staaten hätte. Er sagt ungefähr: Tyrannen kann es nur geben, wo es auch Sklaven gibt. Die Sklaverei fußt am sichersten auf der Unwissenheit; Aristoteles sagte schon: für Sklaven gäbe es keine Tugend. Allein Montesquieu hätte noch dieß sagen dürfen: Nicht blos Unwissenheit ist der Stützpunkt der Despotien, sondern eben so sehr die Wissenschaft, wenn sie mit keinen öffentlichen Thatsachen in Verbindung gesetzt ist, die Wissenschaft, beschränkt auf ihre Bibliotheken, auf ihre Quarterly Reviews, auf ihre Experimente, ohne Zusammenhang mit der Nation und mit der Geschichte. Die Alten hatten den großen Vorsprung vor den Neuern, daß sich die Familie und die Schule dem Staate, man kann wohl sagen, dem Weltlauf, unterordnen kann. Wir werden erzogen erst für den Umgang mit unsern Brüdern und Schwestern, dann für unsere Kameraden und zuletzt erst für unsre Mitbürger. Wir müssen ein Stadium unserer Bildung vor dem andern zu verbergen suchen. So wie wir in die Schule treten, streifen wir alle Anklänge der Familie ab. Derjenige, welcher bei irgend einer Unbill ausruft: er wollt’ es seiner Mutter sagen, wird ausgelacht. Man schämt sich seiner Häuslichkeit. Tritt 411 man endlich in die Welt, so schämt man sich wieder der Schule. Man erwähnt sie nie anders, als um zu jubeln, daß man ein lästiges Joch endlich abschüttelte. Diese Feindschaft der verschiedenen Bildungsstadien unter einander kannten die Alten nicht. Epaminondas rühmte sich noch, alle Tage seines Alters der zu seyn, der er in seiner Jugend war, als er auf den Bänken der Schule saß.

Es ist ein außerordentlicher Beweis für die in den Deutschen schlummernden Kräfte, daß sie alle Resultate, welche ihnen die Zeit oder die Wissenschaft darbietet, sogleich für die Erhöhung des Unterrichts- und Erziehungswesens verwenden. Aber selbst für den Fall, daß dieser Umstand die Folge einer mangelnden öffentlichen Freiheit wäre, für den Fall, daß man hier eine Nation hätte, die für ihre geistigen Neuerungen nur in der Jugend den bildsamen Stoff finden dürfte, ist es außerordentlich, wie gerade die deutsche Erziehung alles in sich zu vereinigen scheint, was an die Größe des Alterthums erinnert, und ohne dessen Annahme die neue Zeit nicht groß werden wird. Man findet bei den Deutschen Sinn für öffentliche Leibesübungen, für die Bildung einer gesunden Seele im gesunden Körper; die deutsche Jugend zeigte im Jahre 1813 eine Wunderkraft, die sie nur auf den Schauplätzen ihrer gymnastischen Uebungen gelernt hatte. Dieser Sinn erhielt sich lange, ging auf Universitäten und in die Staatsverhältnisse über, wo sich die physisch-phantastische Ausbildung in doktrinell-moralische verwandelt hatte. An die Stelle der Gymnastik 412 trat eine Philosophie, welche, trotz aller Abenteuerlichkeit im Schematismus, sich durch eine Fülle vereinzelter, goldner Ideen auszeichnete. Alles, was geschah, geschah durch Verbrüderung und Oeffentlichkeit. Die Pädagogen waren die Priester einer neuen Religion geworden. Den beschränkten, verzärtelten Eltern wurden die Kinder aus den Betten geholt und in die Flüsse geworfen, wo sie sich bald wie Fische lustig tummelten. Es gab moralische Verpflichtungen in der Luft, in der Literatur, im Zeitgeist, überall, namentlich in der neubelebten Geschichte, welchen sich Niemand, der nicht für einen Heloten und Idioten gelten wollte, entziehen durfte. Ja diese Dinge scheinen mir so außerordentlich, sind so reich an Samen für die herrlichste Zukunft, daß ich eine Nation beklagen muß, die, sie weiß selbst nicht wie, plötzlich darum gekommen ist. Ach, wenn es irgend etwas gibt, was die Schlechtigkeit der politischen Reaktionen, die durch die Julirevolution leider nicht beseitigt worden sind, beweist, so ist es grade diese Beraubung der Menschheit an neuen und schönen Reichthümern, die sich ihr Leben hätte erwerben können. Alles, seh’ ich, wird wieder dumpf. Der grelle lachende Sonnenschein wird mit Flor gedämpft. Juristische Abwägungen von mehr oder minder Macht und Einfluß nehmen die Stelle eines welthistorischen Aufschwunges ein. Wuchergeist und Egoismus sind das Gefolge der unterdrückten freien Gemüthsstimmungen. Damit hier oder da keine Regierungsform zu Grunde gehe, damit die Verhältnisse von Fürst, Unterthan, Adel 413 in ihren alten Traditionen erhalten werden, wird die Geschichte um eine neue Epoche betrogen. Die Augen der Zeit, die kaum noch so hoff­nungs­freudig leuchtenden, haben sich mit wehmüthigen Wimpern bedeckt; wir leben vom Tage zum Tage, von der Stunde zur Stun­de. Das einzige, was uns als neu und originell übrig geblieben ist, ist die Umwandlung der Phantasie in den spottenden Witz einer entsagenden Reflexion. Wir waren am Ziele, eine neue Zeit zu schaffen, und sind jetzt so weit herunter, daß wir kaum im Stande seyn werden, das vorige Jahrhundert so geistreich und originell zu reproduziren, wie jenes war. Der Grundton des leichtsinnigen Themas, welches wir wieder aufführen, ist Kampf zwischen Tyrannei und Freiheit. Wer will das leugnen? Eines von Beiden wird siegen. Wir verschmähen die Ausgleichung, die uns die Zeit selbst geboten hat. Wir wollen uns Zustände schaffen, die aus dem Siege eines von beiden Extremen geboren sind, wir verschmähen es, über beiden Extremen die Wahrheit zu suchen. Wir taumeln so fort. Wir werden bald an dem Abgrunde stehen.

414 Sitte und Sitten.#

Aus einem ungedruckten Romane.#
Tante Rebekka an den Pfarrer.#

Ehrwürdiger Freund und lieber Vetter!

Ist dem armen Thiere denn auch nichts geschehen? Wie man in der Eile einer Reise Alles vergessen kann, sein Theuerstes und Liebstes! Ich sage noch zu Jenny, hab’ ich nichts vergessen? Ist Alles in Ordnung? Sie lacht dazu, was mir schon nicht gefallen hat, da ich ihrem Herzen in einem Augenblicke, wo man sich trennt und nichts mehr hat auf der Welt, das Einen erfreuen könnte, als das Wiedersehen, eine solche Gefühllosigkeit nicht zugetraut hätte. Ich sagt’ es ihr auch und wollt’ ihr den Dienst kündigen, da ich sie ja doch zurücklasse, und sie nichts zu thun hat und blos sehen muß, daß Alles da stehen bleibt, wo ich es hingestellt habe; aber sie sagte, ordentlich beschämt, sie müsse immer lachen, wenn sie nicht weinen wolle. Nun hätte sie aber wohl weinen können und sich durch Gelächter nicht zu helfen brauchen; überdieß mir auch noch den Kummer zu machen, daß Pipi 415 vorm Fenster hängen geblieben ist, während es anfing zu regnen. Nicht gleich, sondern ich mochte schon mit William eine Stunde gefahren seyn. Der Himmel überzog sich an allen Ecken und sah bald nur noch wie ein großer Scheuerlappen aus. Indem es schon regnete, fällt mir Pipi ein, der draußen hängen geblieben und nun der Vogel, Jenny’s gefühlloses Gelächter, Sie, mein Freund und Vetter, mit ihrem frommen Segen und das Gewitter – ach! ich hatte außer William keine Hülfe mehr, als meine Thränen. Das Thier muß den Tod davon gehabt haben; denn Jenny, da war ich verrathen genug, die ließ ihn hängen, und wird wohl an seinem Grabe auflachen, warum? weil sie nicht weinen will. Vetter, jagen Sie den Knochen aus meinem Hause! Ich wenigstens, so lange ich lebe, will ich von den neuen Moden nichts wissen. Wohl dem, dem sein Erlöser nah!

Schon zehn Meilen von Hause hab’ ich den neuen Weltlauf kennen gelernt. In dem Gasthofe, wo ich nun noch den Schmerz hatte, mich von William zu trennen und die Landkutsche zu erwarten, auch keine Seele, die mich verstanden, oder, wenn sie mich verstanden, die mich nicht durch ihr gefühlloses Benehmen empfindlich gekränkt hätte. Glauben Sie denn wohl, daß ich bei irgend Jemanden für Pipi ein freundschaftliches Bedauern hätte erwecken können? Selbst der Wirth, der doch die Verpflichtung hat, seinen Gästen Alles, was sie wünschen und vermissen, an den Augen abzusehen, 416 lachte mich aus, gleichsam als wollt’ er sagen: Hier in der Runde gibt es nur einen Gasthof, der Ruf hat, und der rothe Löwe hätte nicht nöthig, sich um Andere ein Bedenken zu machen. So sieh’ einmal Einer an, ich hätte sogar an seinen Mittagstisch nicht kommen mögen; denn er selbst saß oben an und tranchirte, was eine unsaubre Mode ist, wie Alles, das wir den Franzosen verdanken. Wie sonst die französischen Emigranten zu uns kamen und statt Suppe Rindfleisch essen lernten, brachten sie doch Manieren von Welt und Sitte mit. Sie waren Stutzer oder Affen; aber es lag doch eine Art darin. Nun die Franzosen nicht mehr reisen und nur noch die Engländer, so bringen die uns gerade aus Frankreich das schlechteste mit, was in dem Lande außer Rebellion und, nachdem Napoleon auch fort ist, noch drinnen geblieben ist. Der Wirth saß mit an der Tafel und war überhaupt in der Stadt eher der Herr als der Diener Aller. Ich wollte mit ihm über eine bequemere Einrichtung in meinem Zimmer sprechen. Er sah mich vornehm an und verwies mich an das Gesinde. Für die Empfangnahme des Geldes war ein eignes Frauenzimmer aufgeputzt, das hinter einem Tische in einer Ecke des untern Saales wie bei Wachsfigurenkabinetten saß. Ueber jeden Gast wurde statt des Kerbholzes doppelte italienische Buch­haltung geführt; ich erhielt für jede Tasse Thee, die ich forderte, ein eignes Folio in diesem Bankwesen. Statt mirs bequem zu machen, mußt’ ich mich geniren. Früher war man, so lange man zahlte; Herr im 417 Wirthshause, jetzt steht man zu dem Prellervolke im Verhältniß einer weitläufigen Gastfreundschaft. Wenn das in kleinen Städten so ist, dacht’ ich, wie wird das in London seyn! Und während dem klopft’ es an meine Thür. Ich hatte mich so eben etwas gelegt, weil die Landkutsche in einer Stunde eintreffen sollte, und ein Theil der Nacht hindurch gefahren wurde. Ohne noch mein Herein! abzuwarten, tritt ein Frauenzimmer zu mir herein, ich kann wohl sagen, von einem ausneh­mend zweideutigen Charakter. Ich frage, was ihr Begehr sey? Statt dessen fixirte sie an mir alle diejenigen Theile des Körpers, von welchen man zu gebildeten Menschen nicht spricht. Sie setzte einige Cartons auf den Tisch und fing an: Alles aus Paris; ächt und leicht, elastisch und bis zur Täuschung, für vorn und hinten, Alles aus einer Fabrik. Ich bekam in dem Augenblick das Zittern, weil ich hier Unrath merkte und ganz allein dastand. Ich fürchtete, schon von dem Namen der käuflichen Dinge beleidigt zu werden, und lief immer röther und röther an, als hätt’ ich ein Nesselfieber. Um Jesu Willen! schrie’ ich, als das Weib anfing, ihre Cartons zu öffnen, und mir Dinge zeigen wollte, für welche sie die prächtigsten Namen hatte, von denen mir aber der Gebrauch so räthselhaft und so empfindlich war, daß ich ihr rieth, mich und meinen ehrlichen Namen in Ruhe zu lassen. Sie repli­zirte, daß die vornehmsten Frauen sich nicht scheuten, ihre mangelnden oder bereits verblühten Schönheiten durch diese künst­lichen zu ersetzen, auch hätte sie ein gut 418 assortirtes Lager von Zähnen, theils einzelnen, theils ganzen Gebissen. Ich wußte aber zu gut, daß diese Zähne nicht von Elfenbein sind, sondern den Dieben und Mördern vom Galgen gestohlen werden und in­nerhalb der ruchlosen Mäuler, die sich damit garniren lassen, in den Verwesungsprozeß übergehen. Ich bat sie um Gottes Willen, mir vom Leibe zu bleiben. Ich kann Ihnen, mein ehrwürdiger Freund und Vetter, kein Bild von dieser Scene entwerfen. Da das Weib nicht hören wollte, sondern unausgesetzt an mir herumtastete und mir ihre elastischen Sündenpolster vorn und hinten anschnallen wollte, so schrie ich zuletzt laut auf und lief zur Thür hinaus, weil ich den Sprung aus dem Fenster nicht wagen wollte. Indem fällt mir ein, daß ich meinen Koffer nicht verschlossen hatte. Ich will wieder hinein, aber mein Lärmen hat die nächsten Hausbewohner in Bewegung gesetzt. Sie eilen mir zur Hülfe und treten in mein Zimmer, wo die Kupplerin des Satans eben ihre pariser Beschee­rungen einpackt. Die Frauen ziehen sich beschämt zurück, und den Männern muß ich über diesen unanständigen Vorgang Rede und Antwort geben. Das Weib geht lachend davon, und die Männer sind roh genug, mit einzustimmen. Ich befand mich, was Moral betrifft, in jeder Beziehung auf der Landstraße.

Wahrscheinlich veranstalten die Wirthe selbst dergleichen Belä­stigungen ihrer Gäste. Das nennt man in jetziger Zeit einen mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Gasthof! Manches in ihren Sünden eitle Weib ist froh, 419 in einem Gasthofe das zu finden, was ihr in ihrem Hause nie begegnen würde. Aber wer noch auf alte Zucht und Sitte etwas hält, den hält dann auch nichts mehr, einen Gasthof dieser Art schleunigst zu verlassen. Die Wirthe benutzen diese Verzweiflung eines Unglücklichen und set­­zen ihre Rechnungen mit einer Willkür im Preise an, daß man in ein Land sich verzaubert wähnt, wo Gold auf den Werth des Silbers heruntergesetzt ist. Ich mochte nicht um diese unverschämte Vertheurung der einfachsten, mir im Preise wohl bekannten Lebensbedürfnisse rechten; denn ich war froh, aus dieser Mördergrube herauszukommen.

Nun war es aber sehr kalt geworden und die Landkutsche ganz leer. Ich konnte nicht einmal darauf rechnen, mir wenigstens durch Gedräng einige Erwärmung zu verschaffen. Eine einzige Dame fuhr mit, die mir, wenn die pariser Modehändlerin gemein war, ihrerseits verrückt vorkam. Nicht darum, weil sie sagte: die Eisenbahnen verdrängen die Landkutschen; denn das war freilich richtig genug und ganz aus der Zeit gegriffen; allein den Schnak, den sie an diese Bemerkung anknüpfte, war in der That wohl kaum sie selber fähig zu verstehen. Sie hatte dabei ganz die Gewohnheit rasender Menschen, immer an den Kopf zu fassen, weil sie wohl fühlte, daß es darin nicht richtig war. Auch hatte sie ganz das kurze Lächeln der Närrischen, wenn ich auch nicht sagen will, daß sie es schon vollkommen war. Allein selbst dieser letzte Fall wäre mir nicht so 420 ängstlich gewesen, als das, was ich später erfuhr. Nachdem sie mir nämlich einige Stunden hindurch über die wunderlichsten Gegenstände ihre Ideen mitgetheilt hatte, sagte sie mir bei der Uebernachtung im zweiten Gasthofe, den ich nach vielen Jahren wieder gesehen habe und nicht besser als den ersten fand, daß sie eine Schriftstellerin wäre. Ihr Fach wären die mechanischen Wissenschaften. Die Dame war mir nach dieser Entdeckung so unheimlich geworden, daß ich ordentlich Furcht hatte, am folgenden Morgen mit ihr weiter zu fahren. Nach einer in Aengsten und schmerzlichen Erinnerungen mehr überwachten als verschlafenen Nacht traf ich sie schon in aller Frühe an der Landkutsche beschäftigt. Sie setzte den Stallknechten, die sie zum Dank für ihre Belehrung verspotteten, auseinander, daß vier Räder am Wagen Luxus wären und überdieß allen Gesetzen der Mechanik widersprächen. Sie verwickelte sich dabei in einen Streit, er mich an manche Auftritte mit Jenny erinnert, die aber doch nur die Zubereitung der Speisen und die verschiedenen Lesarten der Kochbücher betrafen. Diese Dame nahm auch nicht die entfernteste Rücksicht auf ihr Geschlecht. Sie war nicht nur mit einer Nachlässigkeit gekleidet, die ans Burleske streift, sondern nannte auch Alles, was in das Handwerk der Männer fällt, mit einer Rücksichtslosigkeit, die mich statt ihrer erröthen machte. Am Rade sprach sie von der Mutter, von der Schraube; sie war über die Zubereitung des Theers, den ich bis jetzt nur habe riechen können, wenn ich die 421 Gelbsucht hatte, und so viele andere Unreinigkeiten so im Reinen, daß ich sie mir weit eher auf dem Bocke als in der Kutsche selbst hätte denken können. Als ich ihr meine Verwunderung bezeigte, daß sie schon so früh zur Hand sey, sagte sie in ihrer kurzen Art: Schon den ganzen Morgen gearbeitet. Schreibe ein Buch über die Maschinenbaukunst für Frauenzimmer. Für Frauenzimmer? fragt’ ich. Nun, sagte sie, bis dahin, daß die Frauen selber anfangen, Maschinen zu bauen, kann die Schrift wenigstens nützen, daß sie wissen, wie Maschinen gebaut werden. Darauf gab sie mir eine lange Erörterung über ihre Schrift zum Besten. Ich erschrack vor ihrer Gelehrsamkeit, hatte aber auf der Reise wenig Freude daran, ja, wie Sie noch hören werden, sie selbst nur Unglück. In jedem Dorfe, wo sich die Kutsche ruhte, verlor sie sich. Wenn die Fahrt weiter gehen sollte, so mußte sie gesucht werden. Sie lief nämlich in Bauerhöfe hinein und forschte nach Pflügen, Eggen, Säemaschinen, und hielt da, wo sie nicht die neuesten Fortschritte in der Verfertigung dieser Instrumente antraf, Vorlesungen aus ihrem Buche. Alle Augenblicke parlamentirte sie unterwegs mit dem Kutscher, daß sie aussteigen wolle. Der Kutscher fluchte und begriff nicht, was, mit Respekt zu sagen, das Frauenzimmer so oft abzusteigen hätte; allein sie konnte keinen Bauer seine Ochsen treiben und pflügen sehen, so mußte sie hinaus und dem Mann einen neuen Kunstgriff lehren. Die guten Leute dachten, das Weibsbild thät’ es für Geld 422 oder weil sie ein Gelübde lösen müßte. Sie ließen sie ausreden und machten es wieder so, wie sie es gewohnt waren. Hie und da waren aber wirklich die Maschinen, von welchen meine Reisegesellschafterin träumte, sichtbar. Das tröstete sie für die vernagelte Fassungsgabe der Landleute, die noch am alten und erprobten Gebrauche hingen. Das größte Unglück aber konnte sie mit ihrer Rettungsmaschine haben. Diese wollte sie an dem Orte, wo wir zu Mittag rasteten, in Anwendung bringen, obgleich gar keine Gefahr vorhanden war. Sie gerieth nämlich bei Tische mit den Gästen (denn leider ißt man nie mehr allein in unsern Gasthäusern, sondern sieht sich immer genöthigt, die Speisen zu essen, die Andre verschmähen. Hab’ ich Fische für mich allein auf dem Zimmer, so ess’ ich sie in gutem Glauben; in Gesellschaft aber hat Jeder seine Grillen; die Fische sind vielleicht prächtig, allein mein Nachbar bildet sich ein, sie wären nicht frisch geschlachtet, ißt sie nicht, und nun ess’ ich sie – auch nicht); also – sie gerieth mit den Gästen in Streit wegen einer neuen Rettungsmaschine, die sie glaubte erfunden zu haben. Sie fing mit den Sturmdächern der alten Römer an, welche bei Belagerungen wären gebraucht worden. Diesen hätte man Thürme beigegeben, die auf Rädern fortgerollt wurden und gerade so groß seyn mußten, wie die Thür­me der feindlichen Mauern. Eben so wollte das tollkühne Frauenzimmer bei Feuersgefahr eine Maschine anwenden, die man an die Häuser heranrücken sollte, und von denen aus die Operationen mit 423 Spritzen und Häcksel beginnen müßten. Diese künstliche Vorrichtung bewährte sich als Rettungsmaschine besonders durch förmliche Brücken, die sie zu den Fenstern, wo Unglückliche in den Flammen rangen, hinführen wollte. Ich beschwor sie, mit ihrer grausamen Schilderung der Qualen, welche jene Hülflosen bis zur Ankunft der Maschine empfinden müßten, inne zu halten; allein sie ging sogar noch weiter und wollte uns ein praktisches Beispiel von ihren halsbrechenden Unternehmungen geben. Wir aßen unglücklicherweise nicht zu ebner Erde; sondern es war eine ansehnliche Höhe, die unter uns lag, wenn man aus dem Fenster sah. Das Weibsbild scheute die Lebensgefahr nicht, sondern war mit einem Sprunge auf das Fenstergesims hinauf und schwang sich mit einer Behendigkeit, die ich bisher nur bei meiner großen Katze gefunden hatte, in die freie, schwindelnde Höhe hinaus. Indem sie aber so frei hängt, und die ganze erschrockene Tischgesellschaft ihr an das Fenster nachgelaufen war, krachte die Fensterrahme und ein Theil der Mauer, auf welcher das Frauenzimmer stand, bröckelte sich ab. Ein junger Mann sah, indem sie alle aufschrien, daß hier ein rascher Entschluß nothwendig wäre. Indem noch die Erfinderin der Rettungsmaschine, einer Seiltänzerin gleich, um das verlorne Gleichgewicht wieder herzustellen, hin und her schwankte, ergriff sie der junge Mann und zog sie mit aller Anstrengung der Kräfte in das Zimmer wieder herein. Ihre Rettungsmaschine hätte ihr das Leben kosten können. Sie selbst 424 hatte doch so viel Angst ausgestanden, daß sie sich entschloß, noch eine Stunde auf der Station zu rasten, ehe sie weiter reisen wollte.

Für die fernere Reise erhielten wir noch einen Gefährten, dem ich durchaus keine äußern Anzeichen eines Uebelbefindens ansah, der aber nichtsdestoweniger von einem Bedienten, wie ein in Baumwollen gepackter, zerbrechlicher Postgegenstand behandelt wurde. Er hatte ein ganz heitres und vergnügtes Wesen, und nahm sich sorgfältig vor jeder Bewegung in Acht, die seine Glieder hätte in Verwirrung bringen können. Die mechanische Schriftstellerin, welche sich von ihrem verunglückten Rettungsversuche allmählig zu erholen anfing, berücksichtigte den neuen Ankömm­ling mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit. Während dieser Mann steif, wie eine Puppe aus Holz, dasaß und in jeder ihm zu­fällig noth werdenden Bewegung aussah, als würde sie von einem unsichtbaren Drahtfaden geleitet, sprach sie weit weniger mit diesem Unbekannten, als sie ihr Auge mit einer wirklich bis in’s Auffallende gehenden Neugierde auf ihm ruhen ließ. Ich stieß sie mehrmals an, um mir ihr verdächtiges und scheinbar auf eine Eroberung gerichtetes Benehmen zu verbitten. Es wurde mir aber selbst unheimlich, als ich sah, daß auch diese ziemlich deutlichen Verweise, die ich meiner Nachbarin gab, auf den Mann keinen Eindruck machten. Er rückte und rührte sich nicht. Er saß wie in die Wagenlehne eingemauert, während er doch mit vieler Freund­lichkeit unsre zufälligen 425 Fragen beantwortete und mitunter selbst welche an uns richtete. Die mechanische Schriftstellerin fing jetzt an, einen Cursus über automatische Uhren, Tür­ken und Schachspieler zu halten. Während sie mir die mechanische Zusammensetzung eines Automats erklärte, zeigte sie immer auf den Reisenden uns gegenüber, gleichsam, als wenn derselbe nur eine aus verschiedenen Mechanismen zusammengesetzte leblose Figur wäre. Sie fügte hinzu, indem sie mir in’s Ohr flüsterte, daß sie sich scheue, laut davon zu sprechen, daß dieses Kunstwerk seines täuschend nachgeahmten menschlichen Verstandes wegen von einem außerordentlichen Künstler herrühren müsse u. s. w. Ich gestehe, daß mir diese Mittheilung in alle Glieder fuhr, denn was sie mir von Beispielen künstlich zusammengesetzter Menschen erzählte, war außerordentlich. Die starre Unbeweglichkeit unseres zweideutigen Gefährten wurde mir, einer sonst, wie Sie wissen, ehrwürdiger Freund und Vetter, so unerschrocknen Frau, nachgerade selber unheimlich. Der Mann hatte ein gewisses inwendiges Röcheln, was alle Aehnlichkeit mit einem unterdrückten Husten hatte; allein so oft es sich hören ließ, stieß mich die mechanische Schriftstellerin an und sagte, daß sich nun wieder in dem Kunstwerk das inwendige Uhrwerk von selber aufzöge. Sie richtete an den unheimlichen Gast mehrere jener Fragen, die man auf Meßspaziergängen in Bereitschaft hat, wenn man in Wachsfigurenkabinette tritt, wo sich nicht selten Türkenautomate finden, welche durch einen inneren Mechanis-426mus ordentlich wahrsagen. Sie frug, wie viel die Uhr wäre, und weidete sich an meinem Er­staunen, als die Figur mit feierlichem Pathos und beständiger Vor­sicht, eines ihrer Glieder zu zerbrechen, in die Westentasche griff, die Uhr langsam gegen das Auge brachte und nach einem dumpfen Röcheln im Innern der vermeintlichen Brust mit einer gegen die feierliche Bewegung unheimlich kontrastirenden Schnel­ligkeit das Resultat aussprach. Indem hatte die mechanische Schriftstellerin schon ihre eigne Uhr gezogen und zeigte mir mit triumphirendem Lächeln, wie richtig unser Gegenüber die Zeit angegeben hätte. Bei einem unangenehmen Zufall, der uns darauf betraf, schien es mir nun bald auch gänzlich außer Zweifel gesetzt zu seyn, daß die mechanische Schriftstellerin recht gesehen. Auf der Chaussee war nämlich eine Strecke Weges in Reparatur begriffen. Das Steinpflaster war aufgerissen und lag auf eine allerdings unverzeihliche Weise so zerstreut im Wege herum, daß wir Gefahr laufen konnten, umgeworfen zu werden. Indem nun der Wagen plötzlich von einem großen Steine, über welchen die Fahrt ging, abglitt, und die mechanische Schriftstellerin mit dem ganzen Gewichte ihres Körpers auf mich fiel, setzte sich auch die un­heimliche Figur uns gegenüber in Bewegung und stürzte mitten zwischen uns hinein. Aus vollem Halse schreiend, fuhren wir beide auseinander. Das Automat rückte und rührte sich nicht, sondern blieb ganz in der Lage, in welcher es gefallen war. Der Kopf desselben lag auf 427 meinem Federkissen, so daß ein Hülferuf, den das Wesen jetzt ausstieß, in dem Kissen erstickt wurde. Ich kann Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, die Angst nicht ausmalen, welche ich gegenwärtig empfand; ich sah hier offenbar eine ganz unorganische künstliche Zusammensetzung, die das Wesen eines Menschen täuschend nachahmte, und in welcher man die Vernunft doch mit so außerordentlicher Künstlichkeit hatte hervorbringen können, daß sie bei’m Verlust ihres Gleichgewichtes ordentlich um Hülfe und einmal über das andere Henry! Henry! schrie. Wir beiden Frauenspersonen rissen auf jeder Seite den Kutschenschlag auf und wiederholten den Hülferuf der in Unordnung gerath’nen Maschine. Der Wagen hielt still. Henry öffnete den Schlag, stieg ein und richtete mit theilnehmender Miene die umgefall’ne Figur wieder auf; er verfuhr dabei so vorsichtig, als wenn er mit Glas umginge; er legte seinen Herrn oder sein Geschöpf – wie sollten wir sagen? – in die Ecke des Wagens, wobei dieser immer sich gleich und unbeweglich blieb. Als der Wagen wieder fortrollte, konnt’ ich vor Furcht kein Wort mehr sprechen, die mechanische Schriftstellerin jedoch sprach jetzt ganz laut über die Geschichte des Automatenwesens und flüsterte mir, da die Figur dazu still schwieg, leise zu: Dieser Mensch ist so künstlich zusammengesetzt, daß er alles begreift, wovon man spricht, nur seinen eignen Zustand nicht. Indem sie das sagte, war es mir doch, als stieße die Maschine einen tiefen Seufzer aus.

428 Uebrigens fiel auf der nächsten Station die Vermuthung der mechanischen Schriftstellerin in Nichts zusammen. Wir wand­ten uns nämlich an Henry und verwunderten uns, warum sein Herr in der Kutsche sitzen blieb. Die andere wollte sogar schon damit herausplatzen, daß sie Henry für den größten Mechaniker der Welt halte und nicht begreifen könne, wie er ein so kostbares Kunstwerk wie seinen vorgeblichen Herrn geradezu auf Reisen schicken könne und ihn nicht in einem Kasten verpacke. Ja, sagte Henry, so daß ich anfangs ganz todtblaß über sein Zugeständniß wurde, wer 10 Jahre in der Maschine gelegen hat, dem gönnt man doch von Herzen gern einmal ein bischen Freiheit. „Es könnte aber doch etwas daran verdorben werden,“ bemerkte meine vorwitzige Gesellschafterin. – „Ach, ich habe Sorge genug,“ erwiederte Henry; „allein der Mann hat zehn Jahre lang, vom zweiten pariser Frieden an bis beinah zur Schlacht bei Navarino, im Futterale gesteckt, und ich muß noch immer fürchten, daß er mir durch die Veränderung, die in seinem Innern vorgegangen seyn muß, doch das Gleichgewicht und den natürlichen Schwerpunkt verloren hat.“

Ich gestehe Ihnen, hochwürdiger Freund und Vetter, daß dieses fortgesetzte Zugeständniß der tollen Idee meiner mechanischen Schriftstellerin mich in die größte Verzweiflung brachte; denn mich hätten keine hundert Hände dazu gebracht, wieder in den unheimlichen Wagen einzusteigen. Indem schien sich aber die Sache jetzt aufklären 429 zu wollen, denn Henry, das von meiner Gefährtin schon öfters ausgesprochene Wort „Maschine“ festhaltend, fuhr fort: „Freilich ist der Mann eine recht unglückliche Maschine, allein ich besorge nur, es wird ihm nicht gut bekommen; von Kindheit nämlich hat er schon am Rücken den unnatürlichen Auswuchs gehabt, den man nicht gerade einen Buckel nennen dürfte, der aber auch nichts weniger als eine glatte Ebene war. Seitdem man nun die Kunst erfunden hat, alle Auswüchse und Verschiefungen des menschlichen Körpers durch zweckmäßig angebrachte Compressionsmaschinen wieder zu ebnen und auszugleichen, hat auch mein Herr der Versuchung nicht widerstehen können, trotz seines vor zehn Jahren schon in die Dreißige vorgerückten Lebens den Versuch zu wagen, sich auf orthopädische Weise heilen zu lassen. Nun hat der Mann zehn Jahre lang auf dem Streckbett gelegen und sich seinen Buckel ganz und gar in den übrigen Körper hineingedrückt. Das Röcheln, was die Stimme beim Sprechen begleitet, kann jedenfalls nichts Gutes bedeuten; das ganze unnatürliche Wachsthum nach hinten ist ihm nun in die Brust nach vorne getrieben; noch kann er seinen Schwerpunkt nicht finden, um mit seinem ganzen Körper zu balanciren, er sitzt in lauter Stahlfedern eingezwängt und muß, wo man ihn hin haben will, getragen oder gefahren werden.“

Als Henry geendet hatte und uns beiden Weibern in den Wagen hineinhalf, konnte die mechanische Schriftstellerin den Aerger über ihre gehabte Täuschung nur 430 mit Mühe unter­drüc­ken. Der unglückliche Mann war ganz still und schien Noth genug zu haben, die ihm sonst so glücklich angeschlagene Kur zu überstehen und sein ehemals krankhaftes Auswendige nun inwendig zu verdauen. Ich aber mußte im Stillen recht herzlich wei­nen über alles, was Menschen doch Unglückliches widerfahren kann. Die Wehmuth, ehrwürdiger Freund und Vetter, unsre Verwandten wiederzusehen, überschlich mich, je näher wir London kamen; ich schluchzte heimlich immer fort, statt daß ich mich über das Wiedersehen doch hätte freuen sollen, ja ich hatte schon die Ahnung, daß ich die große Welt und die kleinen Menschen darin nicht so wiederfinden würde, wie ich sie vor dreißig Jahren verlassen hatte.

Nachdem ich mich von der herzlosen, mechanischen Schriftstellerin und dem andern unglücklichen orthopädisirten Reisegefährten getrennt hatte und in der Herberge der Landkutsche aus­gestiegen war, auch meine Schachteln und Koffer all gehörig ver­glichen und mich überhaupt auf’s Pünktlichste mit Jedermann abgefunden hatte, um ja hinterher in keine Weitläufigkeiten zu kom­men oder wohl gar für etwas, was ich zu bezahlen vergessen, in Anspruch genommen zu werden, machte ich mich denn mit einem unverschämten Markthelfer auf den Weg, der sich mit so viel geistigen Getränken überladen zu haben schien, als zu meiner Zeit einer ganzen Dorfschaft für die Woche genügt hätte. Den­ken Sie sich, ehrwürdiger Freund und Vetter, hier kommen 431 Fälle vor, daß Menschen, wenn man ihnen mit dem Lichte zu nahe tritt, in der von ihnen ausgedünsteten Alkoholatmosphäre Feuer fangen oder, was noch gräßlicher ist, von innen heraus unter den schrecklichsten Schmerzen allmählig in Asche gelegt werden. Ein solcher schon heiß werdender und in Brand zu ge­rathen drohender Vulkan war der Markthelfer, der mir seine viehischen Schultern lieh, um meine Sachen mit zu meiner Schwester zu tragen. Nun wußt’ ich wieder nicht, wo Warwikstreet lag, welches ihre Adresse war. Wir haben das beide so oft auf die Briefe an sie geschrieben, daß ich in dem Gewühl mich ohne Führer zurecht zu finden glaubte; allein es war gerade, als wäre ich in die Themse gesprungen, so verlor ich bei dem Suchen und der Menschenmasse alle Besinnung und hatte schon meine Noth, daß mir der schlechte Mensch nicht irgend wo mit meinen Koffern auf der Straße liegen blieb. Dieser Landstreicher war am we­nigsten geschickt, mir über Warwikstreet Auskunft zu geben. Ich mußte mir noch einen zweiten Taugenichts auf der Straße miethen, der mir als Wegweiser dienen sollte. Ich zweifle nicht, daß mich dieser nach Art gewissenloser Fiaker fortwährend im Kreise herumführte und mich zehnmal vor dem Hause meiner Schwester vorbeiführte, ehe er gesagt hätte, das wäre es. So stellten diese beiden Menschen ein wahres Fuchsprellen mit mir an und erschöpften meine Geduld, daß ich zwischen ihnen beiden, als zwischen zwei Lootsen, wie ein dem Scheitern nahes Fahrzeug schwankte und 432 meinen Schöpfer segnete, als ich endlich in dem Hafen meiner Bestimmung anlangte.

Nun werden Sie mich, ehrwürdiger Freund und Vetter, nach meiner Schwester, ihren Töchtern und meinem Bruder fragen, und ich segne Gott, endlich in Ihnen einen Mann zu finden, wo ich meinem beklommenen Herzen Luft machen und, ohne Rücksicht zu nehmen, aus tiefster Seele aufseufzen kann. Ach, mein Heiland, worauf steuert diese Welt los! was hab’ ich mit ansehn und selbst erleben müssen, was kommen jetzt für Dinge vor, für Lebensarten, für Urtheile, was für ein Geist ist in unsere Familie eingedrungen! Meine Schwester wurde früh in den Strudel des londoner Lebens gerissen; allein so lange ihr Mann lebte, blieb sie oben auf. Er starb und hinterließ eine trauernde Wittwe mit drei Töchtern; wir alle fürchteten, der Schlag würde ihr ans Leben gehen. Sie ertrug ihn jedoch. Sie tröstete sich. Sie wurde leichtfertig, ach, und ist das nicht mehr, was sie war.

Das traurige Geschäft, Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, eine Beschreibung von dem Zustande zu geben, in welchem ich die Familie meines seligen Schwagers antraf, erleichterte mir ein unglückseliges Pasquill, welches grad’ in demselben Augenblicke erschienen war, als ich nach London kam. Der Schlag, auf eine so kenntliche Weise vor aller Welt lächerlich gemacht zu seyn, mußte natürlich auch die Freudenbezeugungen lähmen, welche ich von Schwester Bab (Barbara) nach 433 einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befe­stigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Ich hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Ist das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? „Ach Schwester“, schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, „mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen.“ Wie mein mitleidiges Herz 434 diesen klagenden Willkommen vernimmt, stürz’ ich auf sie zu und schreie ganz in der unsrer Familie angebornen leidenschaftlichen Weise: „Mein Heiland, wie siehst du aus? Kinder, Menschen, was ist vorgefallen?“ und dränge mich zu Bab hinüber, wobei ich das Unglück hatte, auf die lang herabhängende Decke des Tisches zu treten und sie hinter mir nachzuziehen. Glauben Sie, daß meine Besorgniß eines der Mädchen gerührt hätte? Im Gegentheil, die älteste, Cecily (die beiden andern heißen Felicia und Lettice), verzog nicht übel den Mund und rief mit einer matrosenartigen Baßstimme „Oho!“ als wenn ich eine Putzmacherin wäre, gekommen, bei ihnen ein Verdienst zu machen. So tief mich dieses grobe Oho kränkte, so sehr wurde es doch von meinem besorglichen Herzen übertäubt, als mir Bab die Ursache ihrer Leiden in dem Pasquille zeigte, welches gestern in dem Blatte „der Satirist“ erschienen war und ihr schon eine Menge von Stichelreden und Verspottungen in einer gestrigen Abendgesellschaft zugezogen hatte. „Bin ich auf den Wisch nicht abonnirt?“ schrie meine Schwester Bab, „oder was hab’ ich sonst gethan, daß ein solcher nichtsnutziger Federfuchser in das Heiligthum meiner Familie dringt und mich und sie dem Gelächter der Welt preis gibt!“ Dabei reichte sie mir das schändliche Blatt und zwang mich, nur einige Zeilen davon zu lesen, woraus ich, wie sie sagte, schon den Inhalt des Uebrigen würde entnehmen können. Die beiden Töchter begleiteten die mütterlichen Verwünschungen des frechen Satirikers 435 ihrerseits mit allen Ausbrüchen verletzter weiblicher Eitelkeit und spitzten dabei die Krallen ihrer kleinen Finger, um ihm, hätten sie ihn nur, die Augen auszukratzen. Mir war das Anstößigste bei der Sache im Augenblick nur die Gegen­wart des Bedienten, der diese ganze Scene nicht nur als Zuschauer betrachtete, sondern sogar eine Rolle darin mitspielte. Hilary (so hieß der Mensch) hatte den ganzen Aufsatz gelesen und schwur, dem Verfasser desselben seinen ruchlosen Hirnschädel einzuschlagen. Ich dagegen rieth zu einem Prozesse und verwies überdieß dem naseweisen jungen Manne die Einmischung in eine Angelegenheit, welche viel zu zarter Natur war, als daß man in das Geheimniß derselben hätte einen Bedienten hineinzieh’n sollen. Darüber fuhr mich Felicia sehr hart an und meinte, Hilary hätte sich von jeher besorgt genug um das Interesse der Familie bewiesen, um ihnen auch in einem solchen Unglück beizustehen. Schwester Bab war nun für den Menschen vollends ganz eingenommen und trug ihm auf, den Thee zu serviren, nicht etwa seiner Entfernung wegen, sondern weil doch noch ein Funken schwe­sterlicher Liebe in ihr übrig war, welcher sie trieb, irgend etwas zu thun, was doch einer Bewillkommnung ähnlich sah. Von einer Frage nach der Heimath, von Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, war, ach! wahrlich nicht die Rede. Ich erkundigte mich mehrmal nach Bruder Evan (Johann); allein ich bekam nur nothdürftig die Antwort, daß sie ihren leiblichen Bruder für ein den Einsturz drohendes 436 Haus hielt, unter welchem man sich scheue lange zu verweilen. Ich klagte, daß er mir nun schon seit zehn Jahren nicht geschrieben hätte, und ich in Angst und Sorge lebte, wie ich von ihm würde aufgenommen werden. Statt mir Muth einzusprechen, schwieg meine Schwester; ich glaube, das Pasquill drückte ihr das Herz ab. In dem Augenblicke wurde die Thüre geöffnet, und Hilary brachte mit der freudigsten Miene von der Welt ein Packet von 15 bis 20 Briefen. Briefe zu empfangen, ist in der Stadt so angenehm, wie auf dem Lande. Hilary sagte auch: „Nun, Fräulein Cecily, hier ist ein ganzer Briefsteller an Sie angekommen; man möchte glauben, alle Ihre Anbeter befänden sich auf dem Lande und hätten den komischen Einfall gehabt, Ihnen an einem und demselben Tage zu schreiben.“ Meine älteste Nichte schien ein leidenschaftliches Mädchen zu seyn, das hatt’ ich schon an ihrem unsanften Oho wahrgenommen. Als man jedoch sah, daß alle Briefe nur an ihre Adresse gerichtet waren, bemächtigte sich unser aller ein blasser Schreck, denn unmöglich konnte es bei einer solchen Korrespondenz mit richtigen Dingen zugehen. Meine Schwester schoß wie ein Raubvogel vom Sopha auf, erbrach einen der Briefe und ließ ihn mit der Bemerkung fallen: „Jesus, das ist eine Fortsetzung des Satiristen!“ Ich hörte diese Bemerkung allein; denn die drei übrigen Schwestern waren in einen jähzornigen Streit gerathen, weil Cecily nicht zugeben wollte, daß eines von den Geschwistern sich herausnähme, ein an sie 437 gerichtetes Siegel zu erbrechen. Meine Schwester hatte indessen mit den Zähnen so laut geknirscht, daß ich hier eine neue Verspottung ahnen mußte. Es erwies sich denn auch bald, daß alle diese Briefe von einer und derselben Feder herkamen, und nicht ein einziger derselben etwas anderes enthielt, als leeres Papier. „Bab, so beruhige dich doch“, suchte ich meine vor Wuth schäumende Schwester zu besänftigen. Cecily heulte über die schändliche Verspottung, und die beiden andern Geschwister mußten sich vor schadenfrohem Gelächter die Seiten halten. Gott, dachte ich, das ist eine schöne Wirth­schaft! ich wußte nicht, wo mir der Verstand blieb; ich sah nur zu gut ein, daß meine Schwestern und ihre Nichten durch ihren Hochmuth und ihre Albernheit sich einen Ruf mußten verschafft haben, der alle Welt herausforderte, mit ihnen Versteckens zu spielen. Meine Schwester zerknirrte die Spitzen ihrer Haube und schrie: „Das ist der Lümmel, der Macready, der irische Tölpel, der nicht gewußt hat, wie er sich rächen soll, und uns durch diese leeren Briefe an die Leerheit seines Kopfes erinnern will; der Unverschämte läßt auf jeder Poststation von hier nach Dublin in jedem Briefkasten eine inhaltslose Adresse an uns zurück, um sich den Spaß zu machen, daß er uns eine Viertelstunde geärgert hat.“ Aber, mein Gott, Bab, fiel ich ein, woher denn diese Animosität bei jungen Männern gegen dich und deine Familie? „Ach, Beck,“ antwortete meine Schwester, „das sind die Folgen einer vornehmen Lebensweise, die man sich muß 438 gefallen lassen, und die zu so manchen Freuden sich auch als ein bitterer Wermuth gesellen.“ Indem weinte aber Cecily immer fort und sagte unaufhörlich: das hätte sie ihm nicht zugetraut; so schändlich, so gemein, so infashionabel! Wer ist denn der junge Mann? frug ich schüchtern. „Ach, ein Taugenichts, ein irländischer Prahlhans,“ tobte meine Schwester; allein Hilary, der unverschämte Bediente, der eben den Thee serviren wollte, mußte wohl wissen, daß es für das Ohr meiner Schwester süß klang und ohnehin für meine Nichte, die in den fremden Menschen verliebt schien, wenn er hinzusetzte: „Es ist ein junger, stattlicher Gentleman, der über außerordentliche Reichthümer gebietet, aber von spröder und spöttischer Natur ist und sich mehr mit der Politik, mit dem Schweife O’Connels, als mit dem seinigen beschäftigt, nämlich mit demjenigen, welchen er von liebenswürdigen, fash­ionablen Damen hinter sich haben könnte.“

Als Hilary dieß gesagt hatte, stockte so ziemlich das ganze Gespräch; ich sahe, daß hier Tochter und Mutter in gleicher Zärtlichkeit für einen Menschen entbrannten, der eben ein so höllisches Spiel mit ihnen getrieben hatte. Beide mußten sich die Spottreden der jüngern Geschwister gefallen lassen, welche sie auch mit großer Langmuth ertrugen. Indem kam, ich weiß nicht durch welchen Zufall, als Hilary den Thee herumreichte, meiner Schwester wieder die Nummer des Satiristen in die Hand, welche das Pasquill auf sie enthielt. Mit einer 439 unendlich leidenden Miene sagte die Arme zu Hilary: „Gott, was soll denn das wieder? du hast ja die Schandschrift auf den Flügel dort hin legen sollen.“ Hilary erklärte betroffen: „Aber, was ist denn das? ich habe sie ja längst dahin gelegt, da ist sie ja!“ – Nun, stotterte meine Schwester, indem sie sich entfärbte: „Da ist auf wunderbare Weise noch ein zweites Exemplar in das Zimmer gekommen.“ Wir sahen uns alle betroffen an und erschracken um so mehr, als in den Händen Lettice’s sich noch ein drittes Exemplar befand, von welchem niemand begreifen konnte, wie es hereingekommen. Ein Stückchen Wachs, welches an den beiden neuen Exemplaren klebte, gab uns eine Aufklärung über das vermeintliche Wunder. Unter dem Präsentirteller nämlich waren diese Exemplare angeklebt gewesen. Wir fanden unter einem andern lakirten Brette noch eine vierte Nummer befestigt. Jetzt erst verwandelte sich meine Schwester in eine Furie; sie schrie: „In meinem eignen Hause bin ich wie verrathen und verkauft! hier muß eine große Untersuchung angestellt werden, wer mir diesen, offenbar auf meinen moralischen Ruin abgesehenen Possen gespielt hat.“ Hilary stimmte in die im Grunde gerechte Entrüstung meiner Schwe­ster ein und behauptete: es müsse sich jemand in das Haus geschli­chen haben, um diese Schandschrift dem betreffenden Gegen­stande derselben in die Hände zu spielen; wir alle begleiteten im Sturmschritt meine Schwester und fingen jeden auf, welcher uns begegnete. Hilary entwarf einen 440 vollkommnen Schlachtplan, er vertheilte uns in verschiedene Corps, die sich wechselseitig den Störenfried in die Hände treiben sollten. Alle unsere Operationen waren darauf gerichtet, die störende Ursache des häuslichen Glücks dieser Familie auf die Küche, wo die Theebrette gestanden hatten, zurückzutreiben. Wir zitterten, indem dieser Heldenmuth über uns kam, und erschracken schon im Voraus, wenn wir Siegerinnen werden sollten. In der Küche liefen endlich alle vereinzelten Manoeuvres unsrer Treibjagd zusammen, und Bab warf sich wie eine Amazone auf das männliche und weibliche Personal, welches das Hintertheil des Hauses, wie das Vordertheil bewohnte. Niemand wollte natürlicher Weise gestehen, daß er im Hause meiner Schwester das Verlagsgeschäft der auf sie gemachten Pasquille übernommen hätte. Alle, und niemand mehr, als der Portier, betheuerten, daß keine verdächtige Seele in das Haus gekommen wäre. Hilary stellte die strengsten Untersuchungen an; er spannte seine Kameraden vor unsern Augen auf eine moralische Folterbank. Allein es wurde klar, daß das Gesinde unschuldig war und die Schuld jedenfalls auf einen Gast der Herrschaft geschoben werden mußte, der den freundlichen Empfang, welchen er gefunden, wahrscheinlich auf eine so unedle Weise vergolten. Wir waren alle verstimmt; ich wurde es müde und bat, mir mein Zimmer anweisen zu wollen. Es war übrigens schändlich, daß man mir mit der größten Bereitwilligkeit dieses Zimmer sogleich anwies 441 und dann, wie ich später hörte, auf einen Ball fuhr. Die Vergnügungssucht hatte sich dieser vier Menschen so bemächtigt, daß sie einer Einladung nicht widerstehen konnten, wo sie allgemein der mit Fingern gezeigte Gegenstand der bittersten Sarkasmen waren. Schwester Beck, die alte Tante, kann zu Bette gehen, sie gehn auf den Ball. Gut, dacht’ ich, so will ich wenigstens eine Rache nehmen und ergriff, als ich schon im Bette war, die Nummer des Satiristen, die ich mechanisch in das Zimmer mit hinaufgenommen hatte. Vielleicht war es auch nur, um mich allmählig einzuschläfern. Es lautete aber das Pasquill folgendermaßen:

„Lady Windmill war vielleicht auch eine Gattin nach dem neuesten Geschmack, allein sie hat sich der Geschichte der fashionablen Welt erst in dem Augenblick eingereihet, als sie Wittwe wurde. Erst mit dem Tode ihres Gatten fing sie mit ihren drei Töchtern an, vom Winde der öffentlichen Meinung gefaßt zu werden. Seither ist sie in voller Bewegung. Diese vier Windmühlflügel verarbeiten mehr guten Ruf in der Woche, als ein ganzer Damenklubb im Westend des Jahres zu Grunde richtet. Wenn es ihnen an fremdem Materiale fehlt, so schütten sie ihre eignen Tugenden und Laster zwischen die Mühlsteine ihrer Verläumdung. Lady Windmill mit ihren Töchtern hat sich in der großen Welt so blos gestellt, daß wenn man sie in der Geschichte der fash­ion­ablen Welt unsrer Zeit übergehen wollte, daurch eine empfindliche Lücke in ihr entstehen 442 würde. Wir gebrauchen jedoch das Wort „Lücke“ hier ganz ohne Anspielung auf die Zähne der Mutter, welche theilweise besser erhalten sind, als die Gebisse ihrer Töchter. Die Dame, von der wir sprechen, hat die Größe eines Riesen, die sie zu den Zeiten Georg I., wo man noch nicht glaubte, daß kleine Menschen mehr Werth in sich verbergen, als die großen, unfehlbar in die Landarmee geführt haben würde. Nichtsdestoweniger stellt ihre Figur eine gewisse Rundung vor und hat durchaus nicht das Eckige und Luftige, welches großen Menschen Aehnlichkeit mit Vogelscheuchen oder mit Getreidetennen gibt, durch welche der Wind streicht. Es scheint öfters, als hätte sie die Hand eines Bildhauers an sich herangelassen, wenn anders die sehr fein angebrachten Erhöhungen und Versenkungen, die Berge und Thäler auf dem Strich Landes, den Lady Windmill vorstellt, von der Hand des Künstlers, eines zoologischen Thierausstopfers, und nicht von dem frischen, saftigen Organismus der fleischigen Natur selber herrühren sollten. Das Antlitz dieser Dame hat bis auf die bereits erwähnte Zahnlücke alle Reize eines zwischen Griechenland und Rom die Mitte haltenden Profils. Ihre Nase wird von Kennern sehr geschätzt, wenn man auch bedauern muß, daß sie der Schwungkraft der Flügel derselben seit einiger Zeit durch den Gebrauch des Spaniols eine all zu große Elasticität gibt. Lady Windmill hat ganz das Benehmen, welches langen und üppig gebauten Figuren unerläßlich ist. Personen dieser Art leiden an einer Schwere der Glieder, 443 die sich bei Frauen ohne Welt und Geschmack nur in der Form des Phlegma’s offenbart. Gewandtere jedoch verstehen es, diese Schwerfälligkeit ihrer Glieder, dieß leichte Ermüden derselben als Zaubermittel einer verstrickenden Coquetterie zu benutzen. Ihr Wesen erhält durch eine weise Bemäntlung ihrer Faulheit das Gepräge der hingegossensten Ueppigkeit und eines durch jedes der ermüdeten Glieder verrathenen glühenden Verlangens. Die Art, wie Lady Windmill sich mit künstlicher oder natürlicher Erschöpfung an das Hintertheil einer Ottomane wirft und dabei die ganze Länge ihres Fußes in die Höhe hebt, um ihn nach türkischer Weise wenigstens zum Theil auch auf dem Polster ruhen zu lassen, gibt dieser verwittweten Coquette einen Schmelz, welchem kaum die sprödesten Herzen widerstreben würden. Unbezweifelt ist es, daß die Mutter auf Geschmackskenner noch bei weitem mehr Eindruck macht, als die Töchter. Der gewöhnliche Weg, daß man Müttern den Hof macht, um allmählig über sie hinweg das Palladium einer ihrer Töchter zu erobern, hat sich in dieser Familie grade in das Gegentheil umgewandelt. Man knüpft mit den Töchtern an, um allmählig zur Mutter zu gelangen. Denn man muß gestehen, daß diese letzte noch immer spröder ist, als ihre Töchter. Diese drei jungen Frauenzimmer scheinen schon von ihrer Kindheit damit vertraut gewesen zu seyn, daß die Bestimmung des Weibes der Mann ist. All ihre Gefühle und angelernten Begriffe müssen bei ihnen, statt daß die Bildung 444 generis neutrius ist, ein Geschlecht haben. Man kann ihnen zeigen und erklären, was man will, man kann ihnen bei Tische die Speisen demonstriren oder bei’m Thee die verschiedenartigen Formen des Backwerks anrühmen, sie werden immer in der Gluth eines fortwährenden Erröthens wogen, weil sie nur gewohnt sind, alle Dinge in männlich und weiblich einzutheilen. Sie fühlen sich fortwährend an ihrer männlichen Bestimmung gekitzelt, sie schei­nen ihr Weibliches verbergen zu wollen, allein man ahnt aus ihren unruhigen Augen und immer relativen Aeußerungen, in welcher Gegend ihr Geheimniß verborgen ist; alles, was sie thun und sagen, ist Anerbietung an das männliche Geschlecht. Der Begriff des Allgemein-Menschlichen ist für sie nicht vorhanden, alle ihre Vorstellungen sind auf den Unterschied der Geschlechter begründet.

„Man kann sich denken, wie sich die Familie Windmill darnach sehnt, für ihre unruhigen Bewegungen Stoff zum Zermalmen zu bekommen. Wenn sich das unruhige Treiben des Staats­lebens in einer Familie wiederholen könnte, so wäre davon hier ein treues Abbild gegeben, Mutter und Töchter sind ewig außer Athem. Bald verarbeiten sie Personen, bald Gerüchte. Sie haben eben so das Transitogeschäft fremder Gerüchte wie eine eigene Leumundsmanufaktur, in welcher sie das Gerücht ausmalen, vervollständigen und nicht selten die Ehre Anderer verkleinern, wie man in den Papiermühlen in Zeit von einigen Stunden Kleider in Papier verwandeln kann, 445 worauf sie schreiben, was ihrer Bosheit und ihrem Interesse in den Sinn kömmt. Man kann gewiß seyn, in dieser Familie immer etwas Neues zu erfahren, denn was sie nicht gehört hat, erfindet sie, ja sie pflanzt noch kaum etwas fort, worauf sie nicht den Stempel ihrer eignen Bosheit gedrückt hat. Die Armee, die Marine, die Gesetzgebung und Verwaltung braucht nur zu Lady Windmill zu gehen und wird daselbst ihr Folio in dem großen Buche der Verleumdung finden. Diese Klatschsucht ist die natürliche Folge der Gerüchte, welche diese Familie selbst verfolgen; um sich gegen fremde Nachrede zu schützen, rächt sie sich, indem sie den Ruf anderer Menschen entstellt oder übertreibt.

„Man sagt, daß Lady Windmill gesonnen seyn soll, da niemand ihren Köder anbeißt und sie nur zu sehr das dringende Bedürfniß einer Verbesserung ihrer Finanzen fühlt, sich mit einem reichen Gerber, der vielleicht auf die Vortrefflichkeit ihres Felles eine Spekulation macht, verehlichen will. Die älteste Tochter wird einen der ersten Schuhmacher der vornehmen Welt heirathen, die zweite den reichen Inhaber eines zwanzigjährigen Patents auf eine in der That sehr schöne Glanzwichse; die letzte endlich einen Spekulanten, der mit weichen Hölzern handelt, aus welchen man Pantoffeln und Stiefelknechte schneidet. So wird diese ausgezeichnete Damenklique auch noch jenseits des Traualtars einen organischen Zusammenhang unter sich festhalten; alle Hände werden sich hier in einander arbeiten und es 446 steht zu befürchten, wenn die Medisance der Weiber die Oberhand behalten sollte, daß bei den nur auf die Füße gerichteten Beschäftigungen ihrer Männer, die ganze gebildete Welt Londons von unten auf unterwühlt und jeder ehrliche Name, der noch fest zu stehen glaubte, gerade von unten auf untergraben wird.“

Ich war zu sehr ermüdet von der Reise, daß ich nach Lektüre dieses schändlichen Pasquills auf meine unglückliche Schwe­ster und ihre Töchter nicht hätte einschlafen sollen. Allein so unruhig war meine Ruhe, daß mir im Traume die ganze Bosheit immer wieder vor Augen kam. Meine unglückliche Schwester tanzte im Traume in Gestalt eines Stiefels auf dem Balle, den ich nicht vergessen konnte; erst kurz gegen Morgen, als ich Mutter und Töchter zurückkommen hörte, schlief ich fester ein. Die Sonne stand bei meinem Erwachen schon hoch am Himmel, allein mein vielfaches Klingeln nach weiblicher Bedienung fruchtete nichts. Endlich trat Hilary ein und war mir mit seinem mali­ciösen Lächeln nicht die beste Vorbedeutung für den übrigen Tag. Er erzählte mir, daß seine Herrschaft auf dem gestrigen Balle wieder mit mancherlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen gehabt hätte. Man hätte sie mit spöttlichen Bemerkungen überschüttet. Bald wäre Einer gekommen und hätte mit Anspielung auf die boshafte Lüge des Satiristen gesagt: „Nicht wahr, der Ball ist sehr ledern?“ Ein anderer sprach zur ältesten Tochter von den Flügeln, die sie unten am Fuße beim Tanze zu haben schien. 447 Ein Dritter zog die Zweite über das Glänzende und Spiegelblanke ihrer Toilette auf. Ein Vierter peinigte die Dritte, indem er das Benehmen dieser oder jener Dame hölzern nannte. Wie konnte auch, fuhr Hilary fort, dieser erbärmliche Pasquillant, gerade das gemeinste aller Gewerbe nehmen, um meine Herrschaft damit in Verbindung zu bringen? Beim Tanze wußten Milady und Töchter gar nicht mehr, wo sie mit ihren Füßen hin sollten. Die Mutter wurde einmal mitten im Contretanze ohnmächtig, weil sie, wie sie sagte, sich auf ihr Fundament gar nicht mehr verlassen könne und so viel hinunterdächte, daß ihr der Kopf ganz schwindelte. Als Hilary hinausgegangen war, traten mir die Thränen in die Augen, weil ich mir kein größres Unglück denken kann, als von einem Nichtswürdigen so plötzlich an den Pranger gestellt zu werden. Konnte ihn denn meine Schwester widerlegen? Konnte sie die Lüge, daß sie ihre sanfte Hand der rauhen eines Gerbers geben würde, in den öffentlichen Blättern widerrufen? Konnte sie überhaupt mit Freundinnen über den ganzen Gegenstand ein Gespräch anspinnen? Ich bedauerte nur, daß meine Schwester zu lange schlief, um sie recht schnell an mein theilnehmendes Herz zu drücken. Hilary sagte, vor eilf Uhr wäre keine Aussicht, mit ihr sprechen zu können, und wenn sie gar erst gegen mich die Gewohnheit beobachten wollte, sich nur im vollen Costüm zu zeigen, so würd’ ich gar am Vormittag nicht zu ihr kommen. „Nun mein Gott“, entgegnete ich, „meine 448 Schwester wird vor mir keine Toilettengeheimnisse haben; sagen Sie nur hinunter, daß ich von der langen Weile geplagt würde.“ Hilary that es und ich hörte zu meiner Verwunderung, daß sie zwar alle schon wach wären, aber mir vor Mittag keine Hoffnung machen könnten, daß mein Besuch angenommen würde. Ich gestehe, mich verletzte dieser Mangel an Theilnahme tief, doch tröstete ich mich, daß das Herzlose nur in dem formellen Bericht des Bedienten gelegen hätte, und entschloß mich, die lange Mußezeit, die mir nun übrig blieb, zu benutzen, um meinen Bruder Evan zu besuchen, den einzigen, welchen ich habe.

Ein Hausknecht begleitete mich in das Hotel desselben. Ich glaubte gegen die londoner Sitte nicht zu verstoßen, wenn ich fragte: „Ist er schon aufgestanden?“ Sein einziger Bedienter, ein alter mürrischer Gesell, lachte etwas höhnisch und sagte: „Um zehn Uhr? Seit sechs Uhr ist er schon in der Themse.“ Wie, frug ich, mein Bruder badet sich in dem Schlamm? Darauf entgegnete der Mensch etwas spitz: Bis jetzt hätte man noch keinen andern Fluß nach London bringen können, auch wäre die Themse so viele Jahrhunderte gut genug gewesen und käme ja auch aus der ersten Hand des Oceans. Inzwischen sagte ich, daß ich die Schwester seines Herrn wäre und auf ihn warten wolle. Ich setzte mich in einem kleinen Vorzimmer ohne Möbel nieder und empfand mit meinem Bruder das tiefste Mitleiden, daß er seiner Reinlichkeit wegen genöthigt wäre, sich in 449 einem so fürchter­lichen Flusse, wie die Themse ist, zu baden. Sie, ehrwürdiger Freund und Vetter, kennen das klare, muntre Gewässer, welches in unsrer Pine zu Hause plätschert, und doch spürt man es gleich, wenn einmal etwas Unreinliches hineingekommen ist. Nun denken Sie sich aber den Unrath von anderthalb Millionen Menschen, den Unrath des Viehs, was in London lebt, die Abgänge der Industrie, die vielen Selbstmörder, die sich von den Brücken hinunterstürzen, und Sie werden einen Ekel bekommen, wenn Sie nur einen Blick in diesen schwarzen Sumpf, den man die Themse nennt, hineinwerfen. Von dem Schlamm im Bett des weltberühmten Flusses steigen fortwährend bunte Bläschen auf, die deutlich genug die Fäulniß am Boden des Flusses verrathen und in diese Lauge wirft sich mein Bruder hinein und wäscht seinen Körper, nicht ohne Gefahr, in eine schwimmende Insel von Unrath hineingerissen zu werden. Hier will er die Gesundheit holen, die er in hypochondrischer Verblendung verloren zu haben glaubt und die auch wirklich bei ihm untergraben seyn muß, denn er keuchte entsetzlich, als er die Treppe heraufkam. Mein Erstes war, ihm wegen der Themsebäder Vorwürfe zu machen; allein wie ich das sagte, kratzte er sich hinter den Ohren und sagte: „Schwester, wenn du deßhalb gekommen bist, um deine alten Litaneien fortzusetzen, dann sollst du nur bei Bab bleiben, denn die bedarf mehr Strafpredigten als ich. Ich finde es einmal für meinen Körper zuträglich, ihn nicht von 450 warmem Wasser, sondern von der frischen und klaren Quelle der Natur bespülen zu lassen. Ich bin durch langes Erproben meines ungesunden Körpers endlich dahin gekommen, daß ich den Gebrauch des kalten Wassers für die heilsamste Arznei halte, die man aus der Hand der Natur, eines bessern Arztes, als die Medicin, nur erhalten kann. Wie du mich hier siehst, liebe Schwester, leb’ ich nur vom Wasser. Des Morgens, so wie ich aufstehe, nehme ich eine allgemeine Waschung meines splitternackten Körpers vor. Ich lasse mich von meinem Bedienten mit einer eignen Vorrichtung bespritzen, die mir mein ingenieuser Verstand eingegeben hat. Ich habe nämlich eine Gießkanne zu diesem Zweck so aufgehängt und mit Wasser gefüllt, daß ich nackt in einem hölzernen Gefäße stehend, mich nur zu drehen und zu wenden brauche, um beständig von einem sanftkühlenden Sprudel erfrischt zu werden. Je mehr sich der Mensch dem Pflanzenleben nähert und sich wie von Gärtnershand pflegen läßt, desto besser gedeiht er. Während dieser Erquickung meines äußern Menschen, trink ich innerlich zwei Quart gut filtrirten, aber von der Quelle kommenden Wassers. Nach diesem Vorschmack und Morgenimbiß geh’ ich wiedergeborner Mensch hinaus in eine Badanstalt der Themse. Es würde bei weitem nicht der Zweck so gut erreicht werden, wenn ich mich gleich mit dem nüchternen Körper in den Fluß würfe. Die mit der ersten Morgenbegießung geöffneten Poren sind dann weit bereitwilliger, die Heilkraft eines vollständigen 451 Bades einzusaugen. Ich kann unter diesen Umständen mich sehr lang im Wasser aufhalten und bedarf nur einer mäßigen Bewegung, um vor jeder Gefahr einer Erkältung sicher zu seyn. Die Abtrock­nung muß schnell erfolgen, auch der Körper schnell wieder bekleidet seyn, weil die londoner Luft für die Hydropathie im Allgemeinen nicht günstig ist. Jetzt erst eß’ ich mit Vergnügen zwei Eier, welche man in der Schwimmanstalt immer zu billigem Preise haben kann. Wie du mich jetzt siehst, liebe Schwester, bin ich im dritten Stadium meiner Kur; ich komme so eben aus dem Bade, habe meine Eier verzehrt und beschäftige mich nun mit einem methodischen innerlichen Wassergenuß. In Zwischenräumen von Viertelstunde zu Viertelstunde trinke ich ein Viertel Quart und stelle dabei eine mäßige Bewegung in meinen Zimmern an. Freilich wär’ es besser, diese Bewegung in der freien Natur vorzunehmen, allein noch hat meine Kurmethode nicht die Anerken­nung gefunden, daß man, wie die so verderblichen Bier- und Weinschenken, auch wenigstens von Viertelstunde zu Viertelstunde eine Wasserschenke in den Straßen von London etablirt fände. Ich esse früh, weil ich nicht nur späterhin verdauen will, sondern auch nach vollendeter Verdauung meiner allgemeinen Kur obliege. Nachdem ich vor und nach dem Essen mich einfach gewaschen habe, beginn’ ich etwa vier Stunden nach der Mittagsmahlzeit ein erneuertes Wassertrinken, treibe es aber mit einer so außerordentlichen Vehemenz, daß ich in kurzer Zeit einen von Wasser 452 ganz angeschwollenen Bauch habe. Hierauf entkleid’ ich mich und lege mich für meinen Bedienten zu einer Manipulation zurecht, welche, ich muß gestehen, auf meinen Organismus Wunder gewirkt hat. Es beginnt nämlich dann ein allgemeines Kneten meines Unterleibs, gleichsam wie der Bäcker den Teig gut verarbeitet, um ihn locker und geschmeidig zu machen. Diese Verfahrungsweise, eine halbe Stunde fortgesetzt, thut mir unendlich wohl und gibt meinen Gedär­men eine solche Frische und Geschmeidigkeit, daß ich nicht nur, woran ich sonst schrecklich litt, meine tägliche Ordnung habe, sondern auch von Blähungen, Hämorrhoidalbeschwerden, Knoten und sonstigen Desorganisationen gänzlich befreit bin. Seitdem ich diese Kur treibe, bin ich ein neugeborner Mensch. Deßhalb unterlaß es, liebe Schwester, mir in diesen Dingen auch nur die leiseste Vorschrift zu machen.“ Indem mir mein Bruder diese für mich, die ich nicht ein halbes Glas Wasser trinken kann, fürchterliche Beschreibung seiner Lebensweise machte, hatte er schon eine ungeheure Flasche Wassers, die der Bediente hereinbrachte, beinahe auf den Grund geleert. Ich mußte auch weiter sehen, daß je heiler vielleicht mein Bruder von eingebildeten Uebeln wurde, je mehr er, wie ein Fisch in seinem Wasser schwamm, desto kälter und fischartiger auch sein Blut geworden war. Er sprach von seiner Familie ohne alle Theilnahme. Er überließ seine Schwester und deren Töchter ihren Thorheiten, während er doch der Vormund der letztern war und damit sogar 453 die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.

Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine 454 Schwester war überdieß noch moralisch sehr angegriffen, weil nämlich der häusliche Störenfried noch immer um sie herum sein boshaftes Wesen trieb. Als sie gestern Abend in den Wagen stieg, steckte der Satirist in allen Taschen desselben; als sie am Morgen sich in’s Bett legen wollte, war gleichfalls ein Exemplar unter dem Kopfkissen. Heut Morgen traf sie den Spuk an allen geheimen und offnen Orten an, wo sie ihren Fuß hinsetzte. Sie konnte jenen Psalm Davids singen: Und nähm’ ich die Flügel der Morgenröthe oder versenkte mich in’s tiefste Meer, überall bist du mir nah, schreckliche Verhöhnung! So sehr wir auf das Dienstpersonal Verdacht haben mußten, und eine Säu­berung desselben wünschten, so wurden doch diese Wünsche von dem, was eben erfolgen sollte, noch bei weitem übertroffen; denn es öffnete sich plötzlich die Thür und die ganze Reihefolge des Gesindes zeigte sich im Vorzimmer, Koch, Köchin, Hausmädchen, im Ganzen sieben Personen, Hilary ausgenommen. Der Portier erbat sich die Erlaubniß, ihnen allen die Thüre zu öffnen und hereintreten zu dürfen. Meine Schwester wollt’ es durchaus nicht gestatten, ich redete ihr zu, doch zu hören, was es gäbe, und so ergab sich denn Folgendes, was in meiner Zeit auch unerhört war: Der Koch, der Portier und Hausknecht wollten sich in die englische Legion anwerben lassen, die der Landstreicher Evans nach Spanien zu führen gedachte. Die vier Frauenzimmer, hatten wir sogleich angenommen, würden sie begleiten wollen, wenn nicht eine 455 überzählig gewesen wäre. Nein, sagten diese, wir sind gesonnen, nach Sidney auszuwandern, wo die Frauen so rar sind, wie weiße Raben und die Männer jedem ankommenden Schiffe durch Sprachrohre schon vom Ufer aus Heirathsanträge zurufen, ohne zu wissen, ob Frauen mitkommen, oder sie gar gesehen zu haben. Diese köstliche Entdeckung, welche wir hier machten, brachte meine Schwester plötzlich um ihr ganzes Hausgesinde. Sie tröstete sich, daß solche Unglücksfälle jetzt hier nichts seltenes seyen; sie bestimmte einen Tag, wo die ganze Sippschaft entlassen wäre und war gescheid genug, es mir zu überlassen, ihr von den jetzt zur Anerbietung kommenden Dienst­boten die passenden auszuwählen. Der Auftrag war ehrenvoll, aber auch lästig genug; doch nahm ich ihn an, weil ich zwischen uns keinen Unfrieden stiften wollte. So hatte mir meine verschlagene Schwester eine Beschäftigung übergeben, die mich den ganzen Tag in Anspruch nahm. Meine Gewissenhaftigkeit erlaubte mir doch nicht, nach dem ersten besten Individuum zuzugreifen, sondern ich mußte meine Auswahl unter einem Zulauf von mehreren hundert Personen treffen, bei welchen ich recht kennen lernte, wie weit sich die jetzige Zeit von dem, was früher Anstand und Schuldigkeit mit sich brachten, entfernt hat. Bekam meine Schwester Besuch, so mußt’ ich, wenn er kaum eingetreten war, schon wieder das Zimmer verlassen, weil sich eine neue Anwartschaft auf die erledigten Stellen gemeldet hatte. Um mich nur ja recht lange aus ihren 456 Kreisen entfernt zu halten, verwarfen wohl gar meine leichtsinnigen Anverwandten wieder die Personen, die ich aus einem großen Andrange gewählt hatte. Es war fast, als hätten sie sich verabredet, um sich auf diese Weise meiner lästigen Person und der noch lästigern Bemerkungen, die ich nicht unterdrücken konnte, zu entledigen. Doch habe ich nichtsdestoweniger mein Auge scharf gespitzt und bin wohl bedacht darauf gewesen, daß mir nichts Wesentliches in der Geschichte des Hauses entging. Meine Schwester hatte sich einem höchst verderblichen und ihr ansehnliches Vermögen den Schwankungen der Tagesereignisse preisgebenden Handel mit Staatspapieren ergeben. Sie wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages von Juden und Mäklern überlaufen, welche durch allerlei hinterlistige Vorspiegelungen sie in eine Menge von gewagten Unternehmungen verwickelten. Die Töchter lasen dabei die Erzeugnisse einer Literatur, die in Frankreich und England allmählig alle Sittlichkeit zu untergraben droht. Mit gierigen Blicken hafteten sie an den leidenschaftlichen Gemälden, welche in diesen sich jetzt täglich mehrenden Schriften aufgestellt werden. Ich habe dann und wann einige Blicke in diese verbrecherischen Anregungen ihrer Phantasie hineingeworfen und erschrack, wie in denselben die lasterhaftesten Verhältnisse sich nicht etwa erst im Verlauf der Entwicklung des Ro­mans ergaben, sondern schon auf den ersten Seiten, ohne andern Zweck, als den, verführen zu wollen, bei den Haaren herbeigezogen waren. Meine Schwester, 457 statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgeg­nete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah’ unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! In einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: „Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung 458 bewähren, man kann sich nicht mehr auf sein Wesen verlassen, sondern muß suchen, es auch durch den Schein zu unterstützen. Meinen Töchten verdenk’ ich’s nicht, wenn sie sich so viel wie möglich in den Vordergrund stellen, da es an ihrer Statt tausend andere geben wird, welche nicht faul seyn werden, die Stühle einzunehmen, welche ihnen die Bescheidenheit gebietet, leer stehen zu lassen. Und nun fängt erst die wahre Schwierigkeit an, die Männer zu fesseln. Wenn wir jetzt aller unsrer Reize warten und damit gleichsam alle Minen springen lassen, so wissen die Männer recht gut, daß das, was wir hier geben, so ziemlich alles ist, so wir an Originalität leisten können. Eine so zurückgezogene Nonne nach der Art, wie wir erzogen sind, liebe Schwester, hat allerdings das Gute an sich, daß der Mann Wunder denken kann, was hinter dem sittsamen und bescheidenen Wesen alles für fesselnde und leidenschaftliche Fähigkeiten verborgen liegen. Wer sich aber, wie wir jetzt, in der großen Welt tummeln muß, wer auf zweideutige Fragen mit mehr Witz antworten soll, als dem bloßen Witz einer Schamröthe, der kann allerdings nur durch die größte Abschweifung vom Gewöhnlichen im Stande seyn, die Männer auf etwas Originelles, das sie so unerläßlich wünschen, aufmerksam zu machen. Dazu kommt, daß seit allgemeiner Einimpfung der Kuhpocken sich in der großen Welt nur noch selten Frauenzimmerlarven zeigen, die entschieden häßlich sind. Da bleibt denen, welche sich auszeichnen wollen, nichts übrig, als so viel 459 wie möglich die Andern zu überbieten, und ich habe mich immer bereitwillig gezeigt, meine Töchter in diesen Bestrebungen zu unterstützen. So soll Cecilly jetzt Reitstunde nehmen und eine von euch andern bei der ersten Luftfahrt, die nur wieder angezeigt werden dürfte, mit in die Lüfte steigen.“ Als Bab diesen Vortrag geendigt hatte, und sie sowohl, wie die Mädchen, dabei ganz ernsthaft blieben, konnt’ ich denn doch nicht umhin, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und über dieß ruchlose Treiben in ein lautes Zetergeschrei auszubrechen: Kunstreiter und Komödianten willst du aus deinen Kindern machen? Bab, unsre Mutter muß sich ja im Grabe umdrehen. Leider wurd’ ich in dem Flusse meiner Vorwürfe von der Anmeldung einer Lektion unterbrochen, die die jüngste Tochter regelmäßig des Tages um diese Stunde nahm. Und worin bestand diese? Alle Tage kam ein französischer Schau­spieler und gab Lettice Unterricht in mimisch-plastischen Darstellungen, in dieser schändlichen Kunst, durch welche Lady Hamilton den Admiral Nelson zu fesseln wußte. Ich habe einmal durch das Schlüsselloch den Hergang einer solchen Stunde mit angesehen. Ein Sünder von Regisseur trug Lettice einen vollständigen Cursus der Leidenschaften vor; er zeigte ihr für jedes ihren Busen bewegende Gefühl eine entsprechende Attitüde; es war ein auf die kompletteste Verführung abgesehener Unterricht; sie mußte dabei immer auf einer Erhöhung stehen, weil der schändliche Mensch sagte: Eine Frau darf sich an gar nichts anlehnen. 460 Wie? wollte ich durch’s Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich 461 dabei mit Anstand ihrer Arme bedienen könne, namentlich, daß es eine sinnige Vorstellung erwecke, wenn sie bei einer unangeneh­men Nachricht den Bewegungen der Hand etwas Abwehrendes gäbe; die vorletzte Manier zu erschrecken war bei ihm die Bedeckung der Augen mit der Hand, welches seiner Meinung nach auch echt antik wäre; die letzte aber wäre der höchste Triumph der Romantik, nämlich mit Beobachtung aller plastischen Schönheitsgesetze in Ohnmacht zu fallen. Sie müßte mit Bewußtseyn in Ohnmacht fallen, sagte der Schuft, der vielleicht nicht die Ahnung hat, wie einem gefühlvollen Weibe zu Muthe ist, wenn ihm schwach wird. Lettice, in einem leichten griechischen Gewande, machte alle seine handgreiflichen Demonstrationen nach und schien für des Menschen abgefeimte Verstellungskunst ein außerordentliches Talent zu besitzen. Nun ging er mit ihr nach und nach die ganze Reihefolge der menschlichen Leidenschaften durch: Furcht, Reue, Verzweiflung; für alle diese Affekte lernte sie die entsprechenden pantomimischen Bewegungen. Endlich kam er sogar auf ein Kapitel, wo ich mich eigentlich der Sünden schämte, noch ferner zuzusehen; er suchte ihr zuerst den Ausdruck einer künstlichen Scham beizubringen, wobei ich aber in mir den heimlichen Triumph hatte, daß man das Erröthen doch durch keinen so schimpflichen Fintenmeister erlernen konnte; dann zeigte er ihr jene Bewegungen, welche eine zärtliche Neigung ausdrücken, und erhob sich allmählig zur Darstellung aller nur möglichen Künste der 462 Coquetterie und der Verführung. Ich hielt mir die Hände vor die Augen, als ich dieß Locken und Girren betrachtete, welches meiner Nichte Lettice eine Aehnlichkeit mit den schamlosesten Schauspielerinnen, die nur je außer dem Publikum auch Männer haben locken wollen, eine wahrhaft beweinenswerthe Aehnlichkeit gab; ich wartete das Ende dieser nichts­würdigen Kunststücke nicht ab, sondern ging auf mein Zimmer, um diesen Brief an Sie, ehrwürdiger Freund und Vetter, bis hieher zu vollenden. Fünf von den abgehenden Dienstboten habe ich schon ersetzt; so wie auch noch der Hausknecht und ein passendes Bettmädchen gefunden sind, werd’ ich wohl den Augenblick benutzen und aus diesem Gewühl schlechter Sitten mich wieder unter den Schutz meiner ländlichen Einfalt und Abgeschiedenheit begeben .........

Einige Tage später.

– Da bin ich nun doch noch länger geblieben, als ich wollte. Die Verwirrung im Hause meiner Schwester hat so zugenommen, daß ich Bab in ihren Nöthen unmöglich allein lassen konnte. An allen Orten fehlt Trost und Hülfe. Doch will ich, ehrwürdiger Freund und Vetter, dem Zusammenhange meiner Erzählung nicht vorgreifen und Ihnen alles in demselben Verlaufe mittheilen, wie es sich zugetragen hat.

Denken Sie sich aber nur, der häusliche Störenfried war Niemand anders als Hilary. Von ihm ging die Verbreitung der Spottschrift aus. Von ihm kam alle die Angst und Besorgniß, daß man sich nirgends mehr hingetraute, 463 am wenigsten an geheime Oerter, ohne wieder eines neuen Fundes sich zu gewärtigen. Ich hatte längst auf diesen Betrüger Verdacht geworfen und ihn innerlich für den bösen Feind gehalten, der das Unkraut der Verleumdung in den Weizen unseres häuslichen Friedens streute; allein ich wollte Gewißheit haben und verschaffte sie mir durch eine List. Neben der Schlafkammer Hilary’s befand sich eine Geräthkammer, die inwendig durch eine Thür mit dem Zimmer der Bedienten verbunden war. Ich gab nun vor, daß der Schlüssel zu diesem Behälter verloren gegangen wäre, und scheute mich nicht, in Abwesenheit Hilary’s seine Kammer durch einen Schlos­ser öffnen zu lassen, um von hier aus durch Oeffnung einer zweiten Thür in die Geräthkammer zu kommen. Nachdem diese Hindernisse und die Gegenwart des Handwerkers beseitigt waren, fing ich an, in den Habseligkeiten des elenden Menschen zu kramen, und entdeckte auch bald einen aufgestapelten Ballen bedruckten Papiers. Es waren die Abdrücke des Pasquills und betrugen der Zahl nach gewiß noch mehrere Hunderte. Sogleich rief ich nach der Unterstützung des Unerfahrensten unter unsrer Bedienung (denn was brauchten die Dienstboten die Keckheit eines ihrer Genossen zu sehen!) und ließ das Dokument der strafbaren Umtriebe Hilary’s in das Wohnzimmer meiner Schwester tragen. Leider war diese nicht sogleich bei der Hand und marterte mich durch eine Abwesenheit, die sich bis tief in die Nacht verlor. Um zwölf Uhr kam sie endlich mit ihren Töchtern angefahren, alle 464 erhitzt und ermüdet, alle in der nämlichen abgespannten Stimmung, die immer die Folge ihrer Ballvergnügungen war. Ich eröffnete meiner Schwester die gemachte Entdeckung und hoffte sie schon durch das bloße Faktum in Harnisch zu bringen. Allein das große Paquet war für sie und die Mädchen weit eher ein Stein, der vom Herzen, als aufs Herz fiel. Sie dankten Gott, daß Hilary den schlechten Streich begangen und nicht etwa der Herzog von Somerset, die Vicounteß vom Temple, der General Klingenspringer und andere Personen aus der fashionablen Welt, auf deren satirische Umtriebe sie bei Erklärung des Spuks gerathen hatten. Worüber ich in Ohnmacht gesun­ken wäre, darüber lachten sie. Sie heiterten sich ordentlich auf und brachten mich mit ihren Glückwünschungen, die sie sich unter einander abstatteten, zur Verzweiflung. Kaum daß sie mir erlaubten, Hilary am nächsten Morgen zur Rede zu stellen und nach dem Anstifter zu fragen, der ihn gedungen hätte! In der Hoffnung, daß ich mich überzeugen würde, Hilary hätte nur auf Einflüsterung seiner eignen Unart gehandelt, wünschten mir Schwe­stern und Nichten eine gute Nacht.

Am folgenden Morgen war ich eben in Begriff, nach Hilary zu klingeln und ihm sein Kapitel zu lesen, als er schon hereintrat, und zwar mit dem heitersten Antlitz von der Welt. Ich hielt ihm seine Unthat vor; doch war er frech genug, in ein lautes Gelächter auszubrechen und mich mit folgender Lüge zu bedienen. Er hätte, 465 sagte er, den ganzen Pack, den ich mir mit Nachschlüsseln und einer übrigens widerrechtlichen Visitation seiner Zimmer an­geeignet hätte, zum Theil im Hause versteckt gefunden, zum Theil bestünde er aus den vielen Exemplaren des Pasquills, die er aus Mitleid für die Herrschaft auf Flur und Treppe, hinter Oefen und Thüren, hinter spanischen Wänden und Schränken hervorgezogen hätte, da der Satirist wie Arsenik gegen die Ratten im Hause zerstreut gewesen wäre. Bei dieser wohl erfundenen Aussage beharrte er. Sie band er auch meiner Schwester auf. Ich wurde noch dazu scheel angesehen, daß ich die Treue eines so hingebenden und sich aufopfernden Bedienten verkennen wollte, und mußte sowohl meine Anklage zurücknehmen, wie auch den schon brennenden Scheiterhaufen von Verwünschungen, den ich dem überwiesenen Verräther zugedacht hatte, wieder auslöschen. In dem fortan gänzlichen Unterbleiben des Spukes wurde mir die glänzendste Genugthuung; allein meine Verwandten waren zu verblendet, als daß sie sie mir hätten widerfahren lassen.

Ein eigenthümlicher Zug meiner Schwester und ihrer Töchter, den ich sehr gebilligt hätte, wär’ er aus einem starken und schuld­losen Herzen gekommen, war ihre leichte Aussöhnung. Ich hatte sie oft den einen Tag einen Herrn oder eine Dame aus der vornehmen Welt verwünschen hören und erfuhr Tags darauf, daß sie dort einen Besuch gemacht oder mit aller Freundlichkeit empfangen hätten. Ich war nach vielen Anzeigen sicher, daß 466 der Irländer Macready nicht allein den unartigen Scherz mit den inhaltlosen Briefen sich erlaubt hatte, sondern daß auch wahrscheinlich das Pasquill von ihm ausgegangen war. Auf einem der bei Hilary ertappten Exemplare fand ich die Zahl der zur Disposition des schlechten Menschen gestellten Nummern in Zahlen mit Bleistift bemerkt, wo die Handschrift ganz dieselbe mit der Adresse auf den erwähnten Briefen war. Und obschon ich nun meiner Schwester diese Vermuthung mittheilte und sie sich aus dem leichtsinnigen Charakter des Irländers leicht solche Streiche erklären konnte, so war sie doch im Stande, als der junge Mann die Keckheit hatte, wieder ihr Haus zu besuchen, ihn in Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten zu ersticken. Macready war ein sehr reicher Gentleman, der, wie es bei Leuten zu geschehen pflegt, die eine üble Nachrede zu widerlegen suchen, in allen seinen Manieren übertrieb und das Vorurtheil, was der Engländer gegen ihn als Ire hat, durch einen ausschweifenden Dandysmus Lügen zu strafen suchte. Er kleidete sich stets nach der Geschmacklosigkeit der neuesten Mode. Er affektirte Grundsätze, die weit schlechter waren, als vielleicht sein Herz. Ja es lag sogar etwas in seinem Wesen, das mich für ihn hätte einnehmen können und mir wohl erklärte, wie meine Schwester gegen diesen jungen Mann eine Neigung hegte, die an’s Auffallende grenzte. Ich hab’ es in den Sitten der Hauptstadt öfters bemerkt, wie sehr sie denen zur Qual sind, die oft den meisten Enthusiasmus für 467 sie zur Schau stellen. Ich habe edle und gesunde Naturen bemerkt, die sich von der Tyrannei der Albernheit und des modischen Wahnsinnes knechten ließen und in dem Gewirr von krankhaften Meinungen und Manieren wie der frischste und gesundeste Wider­spruch steckten. Ein wunderlicher Narr war der junge Mann freilich. Er war reich und darbte aus Gourmandise. Er war blühend gesund und gab vor, an einem innern Fehler zu leiden. Er röchelte wie ein Sterbender, wobei man deutlich sah, wie viel Kunst es ihm kostete, eine solche Natur zu affektiren. Er gab vor, sich vor dem dreißigsten Jahre nicht verheirathen zu wollen, weil er erst die Krisis seiner wankenden Gesundheit abwarten wollte und sehen müßte, ob der in seinem Körper steckende schwindsüchtige Keim die Oberhand gewinnen würde. Einen großen Theil dieser Thorheiten benutzte Macready auch nur, um von sich die Bewerbungen meiner Schwester abzuhalten, die, ich gestehe es mit Scham­röthe, alle Vorstellung übertrafen. Ich konnte anfangs in dieser vielleicht schon Jahre lang währenden Verwicklung nicht klar sehen, bis endlich die Katastrophe hereinbricht, die beweinenswerth genug ist. Heute Morgen vermissen wir Felicia und Lettice. Auch Hilary ist nirgends zu finden. Das ganze Haus ist in Allarm. Meine Schwester will sich in die Themse stürzen. Ich will zu meinem Bruder laufen und seine Hülfe anrufen .....

Am Abend desselben Tages.

Mein Bruder ist ein Ungeheuer. Er hat mit seinem 468 Wassertrinken sich schon das Herz von allen Empfindungen klar gespült. Er bat mich, ihn nicht in der Behaglichkeit seiner Transpi­ration zu stören. Er gönnt seiner Schwester ein Bad in der Themse und sagte: „Sie wird so klug seyn und in Gegenwart von Menschen hineinspringen, die sie für eine gute Belohnung wieder herausziehen. Die kühle Fluth mildert gewiß ihr heißes Blut. Mit diesen Menschen hab’ ich nichts gemein.“ In Thränen gebadet verließ ich den hartherzigen Evan und kehrte zu meiner Schwester zurück, die in Krämpfen lag und mit dem Tode rang; auch Cecilly, ihre einzige gerettete Tochter, dauerte mich, wenn ich auch gestehen mußte, daß in der Art, wie beide ihren Schmerz äußerten, etwas Anstößiges lag. Ich merkte wohl, daß ihr Unglück mehr aus dem Neide als dem Verlust zweier Töchter und Schwestern herrührte. Sie sahen hier Macready’s Hand, von dem ich jetzt zum ersten Male hörte, daß er zu Felicia eine längst ausgesprochene Neigung hegte. Wie aber Lettice? Sollte sie sich freiwillig dieser Entführung angeschlossen haben? Ich befürchtete, daß beide Mädchen durch ihre Neigung zu Abenteuerlichkeiten, die ihnen die Mutter eingepflanzt hatte, eine entsetzliche Unbesonnenheit begangen hatten. Auffallend war es mir, daß der Professor der Mimoplastik, welcher meiner jüngsten Nichte den Unterricht in den menschlichen Leidenschaften gab, nicht kam, da heute doch der Tag war, wo die Lektion gehalten zu werden pflegte. Und Hilary! – Einstweilen suchten wir auf eine discrete Weise im Post-, Paß- und Polizeiwesen 469 Erkundigungen einzuziehen. An mehrere Freunde auf dem Lande ist geschrieben und um Gotteswillen um Stillschweigen gebeten worden, wenn ihnen die Flüchtlinge begegnen sollten. Was wissen Frauen von politischen Maßregeln? Mein Bruder ist ein Unthier. Er könnte uns retten. Allein er muß Wasser trinken.

Einen Tag darauf.

– Es sind Briefe angekommen von Lettice und Felicia. Beide sind in der Umgegend Londons, aber untröstlich. Sie sind entführt worden; von wem? verschweigen sie. Reue find’ ich keine in ihren Briefen; im Gegentheil jammern sie, daß die Sache mißlungen ist. Sie flehen uns um Hülfe an und nennen doch Niemanden, gegen den wir einschreiten dürften. Felicia klagt, daß sie den Brief heimlich schreiben müsse, und fleht um Rettung. Was sollen wir thun? Dürfen wir die Polizei um Hülfe angehen? Und nirgends ein Freund! Nirgends Beistand! Meine Schwester mu­thet mir eine Reise nach dem Dorfe zu, von wo aus Felicia geschrieben hat. Ich will sie gern unternehmen. Ich verliere die Besinnung.

Am Abend.

Mit einbrechendem Dunkel ward es endlich lichter für unsre Hoffnungen. Lettice ist ja zurück und mit Niemand anders, als Macready. Es klärt sich auf, daß bei dem tragischen Vorfall sehr komische Nebenumstände obgewaltet haben. Lettice gestand mit Scham, daß sie von ihrem Lehrer in der Situationenmalerei überredet worden wäre, sich entführen zu lassen. Macready, der nicht selbst zu 470 meiner Schwester kam, sondern über die Entführung Felicia’s untröstlich war und sich schon auf den Weg begeben hatte, sie einzuholen, Macready hatte Felicia entführen wol­len. Meine Schwester und Cecilly vernahmen dieß mit einem eig­nen Gemisch von Freude, Neid und Aerger. Der Zufall hatte gewollt, daß beide Entführungen für einen und denselben Abend bestellt waren. Die Schwestern schliefen jede für sich und konnten somit gegeneinander unbemerkt sich leicht in der Nacht aus dem Hause entfernen. Ein Wagen sollte die Flüchtigen aufnehmen. Der Portier schlief und hatte sich nur darauf eingerichtet, das Haus von außen zu schützen. Von innen war es leicht entriegelt. Lettice erschrack, als sie es offen fand; sie hatte nicht gedacht, daß eine Viertelstunde vor ihr Felicia schon hinaus­ge­gangen war und von dem Manne, für den sie sich bestimmt hatte, für die rechte angesehen worden war. In der Dunkelheit umarmte sie Macready und fuhr mit ihr davon. Die Enttäuschung erfolgte erst nach einigen Stunden, da Macready zartfühlend genug war, das Stillschweigen seiner vermeintlichen Felicia zu eh­ren und sie nicht eher anzureden, bis er voraussetzen konnte, daß sie sich über den bedenklichen Schritt, den sie thaten, würde beruhigt haben. Man kann sich sein Erschrecken vorstellen, als er Lettice im Wagen bei sich entdeckte. Er hielt ganz in der Nähe Londons mit ihr an und versprach ihr, sie gegen Abend zu uns zurückzuführen. Lettice muß sich inzwischen der Sünden schämen, den Einflüsterungen eines so gemeinen Menschen wie jenes Mimoplasten gefolgt zu seyn. Ich hütete mich aber wohl, alle meine Vorwürfe nur an sie zu richten, sondern gab die meisten meiner Schwester anzuhören, die geglaubt hatte, durch eine Erziehung für das Abenteuerliche ihren Kindern den meisten Reiz zu geben. Jetzt hatte sie die Strafe, daß Felicia von einem Schauspieler, wer weiß in welche Gegenden und Schlupfwinkel, 471 des Königsreichs geschleppt wird. Diesem Elenden scheint es gleichgültig gewesen zu seyn, ob er diese oder jene in seinen Netzen gefangen hielt. Der Abend vergeht, Felicia kömmt nicht zurück. Es ist eilf Uhr. Wir werden alle mit Betrübniß zu Bette gehen.

Drei Tage darauf.

– Noch immer keine Spur von Felicia. Verzweifelte Briefe von Macready. Mutter und Schwestern scheinen sich trösten zu wollen. Ich aber glaube, das unglückliche jedenfalls mit Gewalt zurückgehaltene Mädchen Tag und Nacht um Hülfe rufen zu hören.

Am Abend.

– Macready schreibt, daß er die Spur des Räubers gefunden hätte und für gewiß annehmen müßte, Felicia sey nach Frankreich geschleppt worden. Wie kann ich die fernere Entwicklung dieses Dramas abwarten! Ich kehre zu Ihnen zurück, mein ehrwürdiger Freund und Vetter, ich fühle, daß ich ein Hinderniß im Hause meiner Schwester bin. Meinen Bruder werd’ ich nicht besuchen, weil er sich mehremal vor mir hat verleugnen lassen und sogar die Lieblosigkeit hatte, mir zu schreiben: „Schwester, dich anzuhören und dabei Wasser zu trinken, verträgt sich nicht. Zum Wassertrinken gehört Gemüthsruhe. Jede Störung derselben erzeugt Kolik, bittern Nachgeschmack und Unverdaulichkeit.“ Was soll ich noch hier? Ich freue mich, Sie und mein Vieh wieder zu sehen. Unter meinen Hühnern und Enten, in meinem Gemüß- und Obstgarten werd’ ich wieder zu neuem Leben kommen. Somit Gott zum Gruß und bald hinten nach Ihre ergebenste Freundin und Base:

Rebekka.

_______

472 Sollten sich unsre Leser für das Schicksal Feliciens inniger interessiren als ihre Mutter und Schwestern, so müssen wir leider gestehen: daß eine Darstellung desselben dem Zweck unsres Buches nicht angemessen seyn würde. Tante Rebekka hat uns nur eine ungefähre Fernsicht in das Kapitel: Sitte und Sitten der Zeitgenossen eröffnen sollen. Der kleine Roman, der sich in ihrer Nähe entspann, sollte auch mit ihrer Rückreise auf’s Land zu Ende seyn. Dennoch will ich hinzufügen, daß Felicia sich allmählig an die Gewaltthätigkeiten ihres Entführers gewöhn­te und sogar von einigen geistigen Vorzügen desselben geblendet wurde. Dieser Abenteurer sank zuletzt aus Mangel moralisch tief und zog Felicia mit in seine Kreise hinab. Unter diesen Umständen traf sie Macready und machte auf Felicia einen so heftigen Eindruck, daß sie aus Reue über ihre Treulosigkeit und aus Scham über ihre veränderte und unwürdige Existenz sich das Leben nehmen wollte. Macready verscholl aber plötzlich, ohne daß man je wieder von ihm erfahren hätte. Hilary kehrte in Verzweiflung nach England zurück. Er hatte Macready von Kindheit an gedient und zu allen Streichen, die dieser im Hause der Lady Windmill aus Neckerei und fashionablem Zeitvertreib verrichtete, die Hand geboten. Die fernere Lösung dieser Situationen hat übrigens Aehnlichkeit mit dem vortrefflichen französischen Romane Leone Leoni, auf welchen ich meine Leser verweise, wenn sie vor Beginn des zweiten Bandes unsrer Zeitgenossen erst eine andere zerstreuende Abwechslung haben wollen.

Ende des ersten Bandes.

Apparat#

Bearbeitung: Martina Lauster, Exeter#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Gutzkows monumentale Studie Die Zeitgenossen wurde 1837 publiziert, als der Autor wegen der Bundestagsbeschlüsse gegen das Junge Deutschland ein gesellschaftskritisches Werk nicht unter eigenem Namen erscheinen lassen konnte. Die Schrift wurde daher als eine angebliche Übersetzung aus dem Englischen veröffentlicht, wobei Gutzkow sich mit dem Namen des Erfolgsautors Edward Lytton Bulwer (→ Lexikon) tarnte. Von diesem erschienen in deutscher Übersetzung gleichzeitig drei miteinander konkurrierende Werkausgaben. Vor der Publikation der Zeitgenossen als zweibändige Buchausgabe bei dem Stuttgarter „Verlag der Classiker“ erschien das Werk in zwölf Einzellieferungen, einer Zweimonatsschrift vergleichbar (Rasch 2.14). Zur Werbung für den Lieferungstext veröffentlichte der von Gutzkow insgeheim redigierte „Frankfurter Telegraph“ Auszüge daraus. Gutzkow nahm die überarbeitete Fassung der Zeitgenossen unter dem Titel Säkularbilder in den 9. und 10. Band (1846) seiner Gesammelten Werke auf und eine wiederum überarbeitete Fassung der Säkularbilder schließlich, mit dem Titelzusatz Anfänge und Ziele des Jahrhunderts, in den 8. Band (1875) der Gesammelten Werke letzter Hand. Eine Titelauflage von E, die für die Druckgeschichte irrelevant ist, erschienen 1842 bei Finck in Pforzheim.

J [Anon.:] E. L. Bulwer’s Zeitgenossen. In Deutschland früher als in England erscheinend. In: Frankfurter Telegraph. Nr. 36. [24.] März 1837, [S. 1-2] (Rasch 3.37.03.24; Auszug aus Lieferungen 1 und 2: Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts); [Anon.:] Bulwer's Zeitgenossen. (Aus 3. 4. Lief.) In: Frankfurter Telegraph. Neue Folge. Nr. 12, [21.] April 1837, S. 93-96 (Rasch 3.37.04.21; Auszug aus Lieferungen 3 und 4: Die neue Welt); [Anon.:] Die neueste Lieferung von Bulwers Zeitgenossen enthält in dem Kapitel über die Erziehung Folgendes: [...]. In: Frankfurter Telegraph. Neue Folge. Nr. 48, [23.] Juni 1837, S. 377-381 (Rasch 3.37.06.23.1; Auszug aus Lieferungen 5 und 6: Die Erziehung); [Anon.:] Anti-Doktrinäres. In: Frankfurter Telegraph. Neuste Folge. Nr. 25, [12.] August 1837, S. 194-196, und Nr. 26, [14.] August 1837, S. 206-207. (Rasch 3.37.08.12; Auszug aus Lieferungen 7 und 8: Sitte und Sitten).
E Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. 2 Bde. Stuttgart: Verlag der Classiker, 1837.
A1 Säkularbilder. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1845-1852. Bd. 9-10 (1846). (Rasch 1.2.9-10)
A2 Säkularbilder. Anfänge und Ziele des Jahrhunderts. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. 12 Bde. Jena: Costenoble, [1873-1876]. Bd. 8, [1875]. (Rasch 1.5.8)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem ersten Buchdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von der Herausgeberin berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Die Kollation anhand von drei verschiedenen Exemplaren des Erstdrucks und der Vergleich mit zwei weiteren Exemplaren lässt vermuten, dass im Laufe der Produktion Presskorrekturen vorgenommen worden sind. Kollationiert wurde mit zwei Exemplaren im Privatbesitz (EPRA, EPRB) und dem der Humboldt-Universität Berlin (EBER). Ein Vergleich erfolgte mit EPRC (nur Bd. 1 umfassend) und EPRD. Die festgestellten Abweichungen zwischen den Exemplaren sind im Anschluss an die Liste der Texteingriffe aufgeführt.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Textes: Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Hg. von Martina Lauster. Münster: Oktober Verlag, 2010. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. III: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Bd. 3.)

2.1.1. Texteingriffe#

11,16 existirt. existirt ausgefallenes Satzzeichen

34,12 über ihn über ihm

34,31-32 gefärbten gefärbter

37,26 Abonnent Abonnement berichtigt nach A1

41,18 Geld, Geld;

42,31 verbesserte ver-verbesserte Setzfehler im Zeilenumbruch

46,22 Erinna Eriena berichtigt nach A1

46,25 Schriftstellerin Schrifstellerin

58,22-23 alles Verdienst, das aller Verdienst, das

65,27 einnehmen einehmen

100,3 Modena Modena,

108,4 Yankee Yankel

109,29 der Grund den Grund

110,22 zwar; allein zwar allein berichtigt nach A1

113,12 Banquierhauses Bauquierhauses

114,10 kraus kaus

126,28 heutigsten häutigsten

136,11 Tagesfragen [...], die  Tagesfragen [...], den

140,29 daß dieß das dieß

145,29 Verheiratheten, dorthin Verheiratheten dorthin

157,11 gehört gehören

157,17 Riesenlettern!!, Riesenlettern!!

158,3 Rougemont Rotugement

168,30 St. Andrews St. Audrews

174,25 d’Israeli, Chelmar d’Israeli Chelmar

189,26 durch udrch

190,14 würden würde

201,18 zwischen wischen ausgefallene Letter

216,8 welches welchen

234,33 homme de lettres homme des lettres berichtigt nach A1

236,17; 236;23; 236,25 Montaigne Montagne

239,6 Joseph II, Gustav III. Joseph II. Gustav III.

254,28 industriellen industeriellen

261,20-21 zu [345] dressiren zu [345] zu dressiren

262,11 Reparaturen Reperaturen

262,12 [346]  [246] die Paginierung ist fehlerhaft

268,7 blies...“ blies...

268,15 Avancement Avencement

274,30 Anknüpfungen, Anknüpfungen ausgefallenes Satzzeichen am Zeilenende

276,7 Olynthischen Olythischen

278,34 verwickelte verwickelte,

280,1 Deckmantel Denkmantel berichtigt nach A1

280,12 eine Lehrerin ein Lehrerin

284,25 selbst, selbst

289,32 sagen: sagen;

291,32 Sie, Sie ausgefallenes Satzzeichen in letzter Zeile

304,29 denken, denken ausgefallenes Satzzeichen

326,28-29 hatt’ ich hat ich berichtigt nach A1

326,34 erbrach zerbrach berichtigt nach A1

333,18-19 und es [446] steht zu befürchten und [446] steht zu befürchten

346,15 war waren

350,12 nirgends nirgens

365,21 der Alten der alten

371,21 geht gehen

381,33 derselben desselben

385,15 Symptom Symptome

391,6 steigernde Keckheit ernde steigKeckheit

395,15 Mord Morde

398,20 in den der Ausgleichung in die der Ausgleichung berichtigt nach A1

406,3 vorhalten verhalten

406,33 Verbrechen Verbechen

406,34 Philanthropen Philantropen

415,25 hatten hatte unberichtigt in A1 und A2

422,10-11 unterrichten nnterrichten

432,16 gentlemenliken gentlementiken

446,7 behandeln behandlen

450,33 wie viel in E ist nicht eindeutig zu ersehen, ob es sich um ein zusammengeschriebenes Wort oder um zwei getrennte handelt. Schreibweise nach A1

453,18 außerordentlichen außerordent-chen im Zeilenumbruch vergessene Silbe

466,30 vor der von der berichtigt nach A1

471,31-33 der Versuch, für das Evangelium Johannis den bekannten Jünger nicht verantwortlich zu machen  der Versuch für das Evangelium Johannis, den bekannten Jünger nicht verantwortlich zu machen berichtigt nach A1

477,14 eminent ideellen eminentideellen berichtigt nach A1

478,33 menschlichen menschlischen

480,17 Lamennais’ Lamennais

482,18 war ward

484,7 Befreiung Befreiuung

509,22 Zunftgeist Zeitgeist berichtigt nach A1

511,2 jetzt jetz ausgefallene Letter am Zeilenende

521,6 Bildende bildende

530,12 weißem weiße ausgefallene Letter im Seitenumbruch

530,16 hätte? hätte.

536,16-17 schauderte chauderte ausgefallene Letter in letzter Zeile

536,17 wie sich der Jäger wie sich der Jäger berichtigt nach A1

549,21 So ist denn So ist es denn berichtigt nach A1

550,20 Poesie Posie

551,13-14 Gedicht, moderne Gemüthszustände anklingend  Gedicht moderner Gemüthszustände anklingend berichtigt nach A1

553,14 niedere niedern

556,11-12 aus dem Dienste der Wahrheit nur noch in den der Lüge treten  aus dem Dienste der Wahrheit nur noch in die der Lüge treten unberichtigt in A1 und A2

560,13 Nationalreichthumsmaximen Nationolreichthumsmaximen

560,16 eigentlichen eingentlichen

563,30 wen wenn

564,9 werden, werden

565,20 außer dem außerdem berichtigt nach A1

565,21 beauftragte, beauftragte ausgefallenes Satzzeichen am Zeilenende

568,6 die Presse der Presse

569,24 den Staat dem Staat

573,29 angemessene angemessenen

574,20-21 Wahrnehmungen Wahrnehmuugen

575,27-28 Spekulation Spedulation

577,32 Bildung Bilduug

581,21 Unermeßlichen Unermermeßlichen

581,25 entsprechenden ensprechenden

581,31 Leben wirken leben, wirken berichtigt nach A1

582,26 Mastodon Mastodom

589,20 einen einem

590,12 war waren

592,8 welchen welchem

592,19 Jahrhunderte Jahrunderte

594,31 Zunächstliegenden zunächstliegenden

598,6 Philosophie Phlosophie

603,11 zu lässig zulässig berichtigt nach A1

606,15-16 im Inkognito eines gewöhnlichen Ueberrockes Inkognito eines gewöhnlichen Ueberrockes berichtigt nach A1

611,30 hier, hier berichtigt nach A1

612,8-9 gewärtig gegenwärtig berichtigt nach A1

621,7 Resultate Resultatte

621,9 Julirevolution Julirevolition

624,4 Masse Massen

628,13 entschiedene enschiedene

631,11 Grundlagen Grundlage

631,23 Partei ist rein Partei rein

631,28 den Vorwürfen in den Vorwürfen

634,30 Abhängigkeit Anhängigkeit

638,28 von Canterbury vom Canterbury

639,12 wir finden ihn doch wir finden doch

640,17 Jahrhunderts Jahrunderts

642,15 Geistlicher Geistlichte

642,32 ausgehen, ausgehen;

644,2 Narvaez Rarvaez

646,28 Meeres Merres

646,33 Aegypten Aegvpten

647,3 glänzende glänzenge

648,17 wäre; wäre

648,34 bereits berelts

652,11 Verfassungs- Berfassungs-

Festgestellte Abweichungen zwischen Exemplaren des Erstdrucks#

124,28 machen! machen ausgefallenes Satzzeichen in EPRA, EPRB und EBER

179,5 England Eng and ausgefallene Letter in EPRB, EPRC und EBER

294,27 Vorwurf! Vorwurf ausgefallenes Satzzeichen in EPRB

338,17 [453] die [453] di ausgefallene Letter in erster Zeile in EPRB, EPRC und EPRD

340,4 daß ßad in EPRA, EPRC und EBER

344,9 Nachricht Nachr ich Setzfehler in EPRC

404,15-20; 405,21; 409,1 Druckverluste an Zeilenenden in EPRB

412,18 Narben Narb[x] korrumpierte Letter in EPRA und EBER

Errata#

In der Druckausgabe (GWB III, Bd. 3) hätte an folgender Stelle ein Textingriff erfolgen müssen:

276,7 Olythischen lies: Olynthischen

Im Lichte später gewonnener Erkenntnisse in der Textkriktik der Ausgabe sind in der Druckausgabe folgende Texteingriffe rückgängig zu machen, die meist Zeichensetzung und Orthographie betreffen:

42,10 Hoffnungsblase lies: Hoffnungblase

161,24 Copenhagenfeld lies: Coppenhagenfeld

237,6 herrschen eifrig lies: herrschen, eifrig

237,20 z. B., der lies: z. B. der

290,28 ihn selbst lies: ihm selbst

326,16 scheue, lies: scheue

335,34 verrathen, lies: verrathen

336,29 Menschen lies: Menschen,

337,33 Verfahrungsweise lies: Verfahrungweise

351,19 Schlupfwinkel [471] des lies: Schlupfwinkel, [471] des

399,32 heute, lies: heute;

436,20 deren gräßliche Nebenumstände lies: deren gräßlichen Nebenumstände

579,16 annähmen lies: annehmen

579,30 Einseitigkeit lies: Einseitigkeit,

588,21-22 Naturwissenschaften lies: Naturwissenschaften,

619,10 so schildern will wie wir wohl das achtzehnte lies: so schildern will, wie wir wohl das achtzehnte 

2.2. Abweichungen späterer Auflagen von E#

Die Abweichungen der Ausgaben von 1846 und 1875 von der Erstausgabe beschreibt und begründet Gutzkow jeweils in deren Vorwort (→ Säkularbilder, 1846; → Säkularbilder, 1875). ▄ Zusammenfassung der Abweichungen ▀

3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte#

3.1. Quellen#

Franz Kottenkamp: Die Engländer. Mannheim: Heinrich Hoff, 1836.

3.2. Folien#

Edward Lytton Bulwer: England and the English. 2 Bde. London: Richard Bentley, 1833.

Die gesammelten Werke Bulwers kamen zugleich in drei deutschen Ausgaben heraus: 1.) E. L. Bulwer’s sämmtliche Werke. Bd. 1-50. Aachen, Leipzig: Jacob Anton Mayer, 1833-46; 2.) Bulwer: Werke. Aus dem Englischen von Georg Nicolaus Bärmann. Bd. 1-98. Zwickau [ab ca. 1841: Leipzig]: Gebrüder Schumann, 1833-53; 3.) E. L. Bulwer’s Werke. Aus dem Englischen. Bändchen 1-150. Stuttgart: J. B. Metzler, 1833-53. „England and the English“ existierte also in den 1830er Jahren unter dem Titel „England und die Engländer“ in drei verschiedenen deutschen Fassungen: 1. in der Übersetzung von Louis Lax, 3 Bde., Aachen, Leipzig: Jacob Anton Mayer / Brüssel: J. A. Mayer und Somerhausen, 1833 (erschienen außerhalb der Werkausgabe); 2. in der Übersetzung von Georg Nicolaus Bärmann, 4 Bändchen, Zwickau: Gebrüder Schumann, 1833 (= E. L. Bulwer’s Werke, Bd. 9-12) und in der Übersetzung von Friedrich Notter, 6 Bändchen, Stuttgart: Metzler, 1836 (= E. L. Bulwer’ Werke, Bändchen 56-61). „England und die Engländer“ war Gutzkow in der frühesten Übersetzung, also in der von Louis Lax, bekannt, wie sein Hinweis auf eine bestimmte Stelle mit Seitenangabe zeigt (→ Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Erklärungen Gutzkows, Nr. 2). Er wird möglicherweise auch die in Übersetzung erschienenen Auszüge aus „England and the English“ zur Kenntnis genommen haben, die 1833 in der Zeitung „Das Ausland“ publiziert wurden. Zu den bibliographischen Angaben vgl. Gerhard Lindenstruth: Edward Bulwer Lytton. Eine Bibliographie der Veröffentlichungen im deutschen Sprachraum. Gießen: Selbstverlag, 1994, bes. S. 87. Außer Gutzkows Zeitgenossen weist Lindenstruths Bibliographie keine weitere fingierte deutsche Bulwer-Übersetzung nach.

‚Skizzen‘ und ‚Charakterzeichnungen‘ als kleine soziologische Studien, die in der zeitgenössischen europäischen Journalliteratur häufig vorkamen und vom jungdeutschen Journalismus, besonders im Umkreis Gutzkows, eifrig geübt wurden. Das in den dreißiger Jahren einflussreichste Werk dieser Gattung war: Paris, ou Le Livre des Cent-et-un (→ Lexikon). 15 Bde. Paris: Ladvocat, 1831-34.

3.3. Anspielungshorizonte#

Die politische Kultur Englands, wie sie sich im Typus des ,öffentlichen Charakters‘ präsentiert

Die diesem Typus gemäße Schreibweise, d. h. essayistische, auf Charakterporträts gründende Betrachtungen über Zeit und Leben, die auf die Moralistentradition des 17. und 18. Jahrhunderts zurückreichen, z. B. Quevedo, La Bruyère, Lesage, Steele und Addison

Britischer Empirismus und Materialismus (vor allem politische Ökonomie) als Wissenschaftstradition, die dem soziologischen Interesse der Schrift entgegenkommt

Die zoologisch-botanische und physiologische Wissenschaftstradition Frankreichs (Buffon, A.-L. de Jussieu, Cuvier, Cabanis, Bichat), die durch Übertragung ihrer klassifizierenden und medizinisch-analytischen Methode auf das Studium menschlichen Zusammenlebens zum Motor der frühen Soziologie wird (Saint-Simon, Comte und die journalistischen ‚Physiologen' der 1830er und 40er Jahre)

‚Sittengeschichte‘ der Gegenwart im Sinne der ‚Etudes de Mœurs‘, wie sie Balzac und andere französische Autoren entwickeln, bzw. im Sinne der Betrachtung von ‚Society and Manners‘, wie sie seit den englischen Mode- und Dandyromanen der Restaurationszeit geschrieben wird und besonders in Werken Bulwers einen Höhepunkt findet

Porträts der eigenen Nationalkultur aus ausländischer Perspektive, durch die z. B. Bulwer in „England and the English“ seine Gesellschaftskritik häufig pointiert

Die von Westeuropa vorgegebene zeitgemäße Publikationsform des Werkes in Fortsetzungen, einer Zwischenform von Buch und Journal

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#
4.1.1. Gutzkow an Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart, 25. Dezember 1834#

Uebermorgen denk’ ich von hier abzureisen; [...] Ich habe über Ihren literar. Vorschlag ein Mehreres nachgedacht, u. will Ihnen, wenn Sie mich gefälligst besuchen wollten, Plan und Titel sagen. Wenn Sie mir fest zusagen, so beginn’ ich in Frankf. sogleich mit der Arbeit u liefre sie Ihnen Ende Aprils.

 4.1.2. Gutzkow an Georg von Cotta, Stuttgart, 27. Dezember 1834#

Liesching hab’ ich auf eine ungewisse Zeit verwiesen u wieder in die Schwebe gebracht. Er glaubt schon ein Recht auf die „Säkularbilder“ zu haben, u ich will es ihm nicht streitig machen, obschon Zeit darüber vergehen kann, ehe ich dazu komme. Diese Conkurrenz sollte Ihnen aber nicht unbequem seyn: alle Welt kennt Ihren Eifer, die Literatur zu fördern, u. muß einsehen, dß z. B. in einem fruchtbaren Jahre ein an Sie addressirter Autor nicht mit jedem Erzeugniß auf Ihre Firma rechnen darf. Uns Autoren, die wir keine Verse machen, begegnet es wohl einmal, recht in die Masse hinein zu gerathen und dann kann man nicht Canäle genug haben. Ich weiß gewiß, daß ich mit dem nächsten Herbst einen Roman oder sonst Etwas Schöngeistiges, das mich drückt, reif werden lasse, u. dann möcht’ ich vor keines Thür lieber klopfen, als vor der Ihrigen. 

4.1.3. Gutzkow an Georg von Cotta, Frankfurt/M., 31. Dezember 1834#

Ich sahe, daß Ihnen Herrn Lieschings Industrie lästig war, daß es Ihnen unlieb wäre wenn derselbe zu seinem ersten Debit u Debüt auch einen Artikel von mir brächte; u entschloß mich daher, einen unternehmungslustigen, durch Rivalitätseifer zu glänzenden Anerbietungen getriebenen Buchhändler zu Ihrem Gefallen abzuweisen, u sogar noch den Vorwurf auf mich zu laden, einen Mann, welcher mich ausgezeichnet hat, am Narrenseil herumzuführen und durch unverständige Tergiversationen mir eine Absatzquelle meiner Arbeiten zu verstopfen, da ich mir den Mann sicherlich verfeinde. Daß ich soweit nicht gehen kann, Ihnen nun die Säkularbilder zu schreiben, sehen Sie wohl ein. [...] Die Säkularbilder bleiben also ungeschrieben, u ich spare sie mir in Zukunft für die Allg. Zeitung auf. 

4.1.4. Gutzkow an Samuel Gottlieb Liesching. Frankfurt/M., 6. Januar 1835#

Gutzkow an Liesching, Poststempel 6. Januar 1835. In: Heinrich Hubert Houben: Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien. Leipzig: Brockhaus, 1911. S. 28-29.

Ich gehe mit Zagen an diesen Brief, den ich Ihnen schreiben muß, wenn ich meine Schuld, die ich bei Ihnen zusammen ziehe [...], nicht vergrößern will. Mein Ihnen gegebnes Versprechen kann ich nicht halten: ich lasse Sie da eine Erfahrung machen, die Sie nicht hart aufnehmen wollen; denn in Ihrem Geschäfte wird Sie Ihnen noch oft aufstoßen. Freilich bleibt das Unrecht für den, der es begeht, dasselbe; aber ich mag mich wenden, wie ich will, ich komme nicht so heraus, daß ich mein Wort einlöse.

Ich selbst hab’ in dieser Sache eine Erfahrung gemacht, welche zum ersten Male mein heiliges Streben in Berührungen brachte, die ihm ganz fremd seyn sollten. Cotta hat mich noch hieher mit Briefen verfolgt, um meine Zusage zu hintertreiben, u mich dabey recht fühlen lassen, dß ich mich von ihm nicht trennen darf. [...] Die Lokaleifersucht, die schmerzlichen Erinnerungen an Franckh kommen dazu, u so bin ich freilich unter denen, welche Ihr Vertrauen ausgezeichnet hat, der jüngste u schwächste, der in Cottas Schuldbuch angeschrieben ist u dem freilich auch seine Unterstützungen reichhaltig zufließen.

Aber selbst wenn ich mich von Cotta hätte befreien wollen, zu meinem Nachtheile; so gestehe ich Ihnen, verehrtester Herr Liesching, daß der Gedanke, das besprochene Buch wirklich zu schreiben, nur ein augenblicklicher Anflug war, oder dß ich wenigstens jezt schon wieder ganz aus der Illusion desselben heraus bin. Könnt’ ich Ihnen ein Bild meines zerrissenen Innern machen! Ich liebe es ungemein, von der Zeit u ihren Strömungen zu sprechen; u doch kommt es mir wieder zuweilen so ungehörig, anmaßlich u frech vor; weil wir ja Kinder dieser Zeit sind u statt über sie zu philosophiren, sie leben sollten. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen klar bin. Wozu führt dieses Fixiren von Tendenzen, dies Classificiren u vornehme Abwägen? (manche Schriftsteller mögen dabey noch so geistvoll verfahren) Die kleinste That ist ja doch besser, als diese Architektur der Combination, die unsre unglücklichen Zustände als Bausteine ihrer historischen Systeme nimmt! Nämlich man kann doch nur über die Zeit sprechen, wenn man sich über sich stellt: u wir sollten nicht immer sagen, daß die armen Tirailleurs, welche nicht soviel Einsicht haben, wie wir, und in’s Feuer liefen, um sich unreif todtschießen oder arretiren zu lassen, dumme Teufel gewesen sind, u daß wir die Zeit ganz anders ansehen – dies peinigt. Nein, nicht objectiviren sollen wir unser Unglück, sondern es tragen in uns: nicht massenhaft gruppiren, sondern zerstückeln u so besiegen. Mir erscheinen alle die schönen Worte, welche man jezt über Weltgeschichte etc. verliert, Verrath an der guten Sache, u ich würde glauben, mein Talent zur Hetäre zu machen, wenn ich meine gl[at]ten Worte, meine Combinationen, u was an mir ist, an jene Dinge hingäbe, die theils noch recht armselig sind, theils aber so beweinenswerth, daß es schlecht ist, sie vornehin zu steriotypiren. Kurz, ich glaube, dß die Schriftsteller die Zeit nicht zusammenfassen u über sie räsonniren sollen, sondern sie vereinzeln u ihre Eindrücke, als unvergänglich in die Kunst übertragen. Die Literatur zum politischen u histor. Räsonnement machen ist die Consequenz einer Ansicht derselben, welche ich nur halb theile. Kann die Literatur nicht handeln; dann soll [sie], um doch etwas Positives zu schaffen, die Fragen der Kunst aufnehmen u sie mit der Zeit versöhnen. Ich hätte nicht Ruhe wenn ich jenes Buch schriebe u neben mir läge der Plan eines Romans, in welchem ich mich als ächter Jünger der Zeit bewähren könnte. Wüßte dies Menzel! Dies ist der Pkt., wo ich ihm untreu geworden bin.

Wenn Sie mich lieb haben, lieber Herr Liesching, so nehmen Sie diesen Brief günstig auf; leisten Sie Verzicht auf mein Versprechen, u sein Sie versichert, dß ich trotz Cottas Eifersucht an Ihren Unternehmungen lebhaften Antheil nehme, u einer journalistischen Unternehmung oder was Sie sonst, wo Societät seyn muß, auf dem Herzen haben, mich gern anschließen würde. 

4.1.5. Gutzkow an Georg von Cotta, Mannheim, 12. Mai 1835#

Im Spätsommer beginnen die Säkularbilder trotz der Debatte, die ich desfalls mit H Liesching haben werde. 

4.1.6. Gutzkow an Georg von Cotta, Frankfurt/M., 16. Juli 1835#

Ich habe mich durch einige Reisen erholt, habe in einer fieberhaften Aufregung von drei Wochen einen ganzen Roman geschrieben; jezt bin ich wieder ruhig, objektiv, besonnen u. denke in solchen Stimmungen immer an die A. Zeitung. Gestern sandt’ ich 2 Artikel „Rhapso[dien über] England“ nach Augsburg, denen alsbald unter gleichem Titel weitre Fortsetzungen folgen werden. Im Winter bring’ ich Säkularbilder, wie ich versprochen habe. 

4.1.7. Gutzkow an Georg von Cotta, Stuttgart, 26. August 1835#

Erinnern Sie sich gütigst der Verhandlung vor 3/4 Jahren! Wie unzuverlässig erschien ich damals Herrn Liesching, dem ich etwas zugesagt hatte, was ich nachher zurücknahm [...], nicht um Ihnen einen Gefallen zu thun, (so eitel bin ich nicht) sondern weil mir Bereitwilligkeiten von Ihrer Seite durch andre gar nicht können aufgewogen werden. Ich habe zwei auswärtige Handlungen, die mir meine Idee ganz bestimmt realisiren, u drei hiesige, mit denen ich bei gewissen Accomodationen (u sollten es die des Honorars sein!) jedenfalls zu einem Ziele komme. Wenn ich nun entschiedene Schritte thue, nahe an einem Contraktabschluß bin, u. würde dann durch Ihre etwaige plötzliche Bereitwilligkeit so umgestimmt, daß ich die in Frage stehende andre Firma preisgäbe – so müßt’ ich vor mir selbst erröthen u würde sicher in so widerliche Debatten gerathen, wie ich sie einst mit Hrn Liesching hatte u in die ich jedenfalls noch einmal komme, wenn ich der A. Z. Säkularbilder schreibe. 

4.1.8. Gutzkow, Vorwort zu Säkularbilder (1846)#

Karl Gutzkow: Säkularbilder. In: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1845-1852. Bd. 9-10 (1846). Vorwort, Bd. 9, S. V-VIII, Auszug S. VI-VII. (Rasch 1.2.9-10)

Der Verfasser trug sich mehre Jahre mit der Idee eines Werkes, das den Versuch machen sollte, ein Gesammtbild unseres Jahrhunderts nach seinen vorzüglichsten Lebensäußerungen und Gedankenrichtungen zu geben. Anfangs 1837 hielt er sich für befähigt, endlich an diese schwere Aufgabe zu gehen. Mit seinem Namen begleitet würde jedoch eine solche, grade mit der Zeit und ihren Tendenzen sich beschäftigende Schrift, ohnehin bei seiner ihm zur andern Natur gewordenen liberalen Auffassung der Verhältnisse, in ganz Preußen verboten worden sein und diejenigen deutschen Regierungen, welche gewohnt sind, alles Preußische nachzuahmen, würden dies Verbot auch für die Kreise ihrer Botmäßig-[VII]keit ausgedehnt haben. Unter diesen Umständen entschloß sich der Verfasser, dem es um die Grundsätze seines Buches mehr zu thun war, als um seine Person, auf den Titel desselben den Namen Bulwers zu setzen. Es erschien unter der Firma: Bulwers Zeitgenossen.

Die schützende Devise eines ausländischen Schriftstellers durfte freilich kein bloßes Aushängeschild sein. Die Verfolger würden ein Titelblatt leicht durchschaut haben. Ich mußte bedacht sein, dem Buche, das in zwölf Heften ausgegeben wurde, auch wirklich eine englische Färbung zu leihen, wobei ich mir Bulwers „England und die Engländer“ zum Muster nahm. Von dem Vorwurfe, daß ich das Publikum hätte täuschen wollen, glaub’ ich mich durch diese wahrheitgemäße Erzählung gerechtfertigt zu haben. 

4.1.9. Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben (1875)#

Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Hg. von Peter Hasubek. Münster: Oktober Verlag, 2006. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII, Bd. 2.)

Wie ein junger Name, der [...] auf der Unterlage seiner Studien, seines gewissenhaften Postenstehens im geistigen Feldzuge der Zeit, seinen Weg in der Literatur verfolgt, schon frühe eine Stellung gewinnen kann, zeigte sich bei einem Besuche, den mir eben jener Liesching machte, der sich jetzt plötzlich in schon vorgerückten Jahren als Verlagsbuchhändler bewähren wollte. In runder Summe bot er mir 100 Carolins für ein Gemälde unserer Zeit, etwa Bilder des Jahrhunderts, wie ich diese Idee drei Jahre später als „Säkularbilder“ ausgeführt habe. (S. 140)

Damals hatte es die Lesewelt mit Eduard Lytton Bulwer. Seine Weise war mir nicht sympathisch. Aber die genrebildliche Zeichnung, der Versuch, moderne La Bruyère’sche Charaktere zu zeichnen, gehörte damals beiden Literaturen, der englischen und französischen an. Auch in der deutschen versuchte sich manche Feder mit Artikeln im Charakter der Beitäge zum Livre des Cent et un, kurzen abgerissenen Skizzen über Dinge und Personen, Berufsstände, Sitten und Gebräuche. Eine Verbindung solcher Charaktertypen mit dem Vorsatz, die Eigenthümlichkeiten und Richtungen des Jahrhunderts in bestimmte Gruppen zu bringen, brachten die von mir unter Bulwers Namen (Stuttgart, Verlag der Classiker) herausgegebenen „Zeitgenossen“ (jetzt „Säkularbilder“ genannt). Die Täuschung war eine unschuldige, da sie sogleich erkannt und ohne Schwindel durchgeführt wurde. Es war dieselbe Arbeit, zu welcher mich schon Liesching, als ich nur 23 Jahre zählte, aufgefordert hatte. (S. 182-183)

Ich erzähle nur zur Probe: „Es war im Jahre 1837 und im wunderschönen Monat Mai. Grade wollte ich meinen Erstgebornen taufen lassen. Doch so hatten damals die vom Bundestage und von Preußen ausgegangenen Verbote meiner Schriften, sowol der erschienenen als der noch erscheinenden, die Verwerthung meiner Feder gehemmt, daß ich im Augenblick – nicht einmal die Mittel besaß, nach dem feierlichen Acte der Haustaufe die Gäste eine Stunde im traulichen Kreise festzuhalten. Der „Glänzendleber“ [...] stand 1837 in Frankfurt am Main des Morgens um 5 Uhr auf und dictirte bis 7 Uhr ein Buch, das sich bei so systematischer, vom Bundestagsgesandten Nagler in Frankfurt a. M. (siehe den Briefwechsel desselben mit seinem Secretär Kelchner) geleiteter Verfolgung als Uebersetzung aus dem Englischen des Bulwer ankündigen mußte. (S. 9-10)

Meine physische Kraft drohte sich zu erschöpfen. Die Voraussetzung, eine Frau mit Vermögen zu heirathen, traf nicht zu. Unablässig mußte ich arbeiten. In jenen Bulwer’schen „Zeitgenossen“ [...] hatte ich fast meinen ganzen Vorrath von Anschauungen, besondern Meinungen, Charakterzeichnungen, Studien niedergelegt. (S. 191)

 4.2. Entstehungsgeschichte#

Als der dreiundzwanzigjährige Gutzkow sich Ende 1834 anschickte, als Redakteur des „Literatur-Blatts“ der neuen Zeitschrift „Phönix“ nach Frankfurt am Main überzusiedeln, machte ihm der Stuttgarter Verlagsbuchhändler Samuel Gottlob Liesching (1786-1864) ein Angebot. Gutzkow hatte Liesching durch seinen Mentor Wolfgang Menzel kennengelernt. Liesching war ein etablierter Kunsthändler und wollte sich in schon vorgerückten Jahren auch als Buchverleger profilieren (4.1.9.). Stuttgart war neben Leipzig die führende deutsche Verlagsstadt, und in den dreißiger Jahren schossen dort ,industrielle‘, mit neuen Produktions- und Absatzmethoden operierende Verlage aus dem Boden. Seit der erfolgreichen Strategie der Gebrüder Franckh in den zwanziger Jahren, europäische Klassiker in Billigausgaben zu vermarkten (→ Lexikon: Spekulativer Verleger), machten die auf Gewinn zielenden neuen Stuttgarter Verlage dem altehrwürdigen Klassiker-Unternehmen J. G. Cotta zunehmend Konkurrenz. Liesching hatte offenbar Interesse, auf der Innovationswelle mitzuschwimmen und bot Gutzkow in runder Summe das Honorar von 100 Carolins (4.1.9.) für ein großes, diskursiv-zeitkritisches Werk. Mit dem Jungautor, der seit 1832 zu Cottas „Morgenblatt“, „Literatur-Blatt“ und „Allgemeiner Zeitung“ (AZ) beitrug, bei Cotta sogar auch schon als Romancier untergekommen war und ab Herbst 1834 in der AZ die erfolgreiche Serie Oeffentliche Charaktere publizierte, konnte Liesching wohl ein bemerkenswertes verlegerisches Debut gelingen. Georg von Cotta (1796-1863) wurde durch die Abwerbung seines Protégés, von dem er große Stücke hielt, empfindlich getroffen, zumal der neue Verlagskonkurrent bereits Ansprüche auf Gutzkows Säkularbilder zu machen schien und Cotta durch die schmerzlichen Erinnerungen an die forsche Strategie des Hauses Franckh geplagt wurde (4.1.4.). Aus Loyalität zu Cotta sagte Gutzkow Liesching im Januar 1835 schweren Herzens ab, erwähnte dabei aber auch ein fundamentales Unbehagen gegenüber dem Projekt, [d]ie Literatur zum politischen u histor. Räsonnement [zu] machen und von der zeitgenössischen Realität zusammenfassend zu abstrahieren (4.1.4.). Gutzkow wollte sich mit seinem nächsten größeren Werk wieder als Romanautor betätigen; diese Absicht schlug sich in Wally, die Zweiflerin nieder, geschrieben im Sommer 1835 in einer fieberhaften Aufregung von drei Wochen (4.1.6.). Dennoch blieben die Säkularbilder – ein Titel, den Gutzkow dann erst ab der Zweitauflage verwendete – für Ende 1835 geplant (4.1.5. und 4.1.6.), und zwar als Fortsetzungspublikation in der AZ (4.1.7.). Die Einstimmung auf das Sujet einer umfassenden politisch-sozialen Kritik vom Standpunkt des westeuropäischen ,öffentlichen Geistes‘ stellte offenbar die Reihe Rhapsodien über England dar, die Gutzkow im August 1835 in der AZ publizierte (4.1.6.). Bei Liesching, den er durch die Veröffentlichung der Säkularbilder in Cottas Blatt nochmals zu vergraulen drohte (4.1.7.), behielt Gutzkow ein Eisen im Feuer, indem er in Aussicht stellte, an dessen attraktiven neuen Unternehmungen auf dem Gebiet der Periodika mitwirken zu wollen (4.1.4.). Dies löste er als Beiträger zu Lieschings schmuckem, neue Illustrationstechniken ausnutzenden „Bad-Almanach“ ein. Die Entstehungsgeschichte der Zeitgenossen / Säkularbilder war also in ihren Anfängen durch ein Lavieren des jungen, auf größtmöglichen Verdienst angewiesenen Berufsautors zwischen den ihn umwerbenden Verlegern gekennzeichnet. Nach dem Wally-Skandal (in dem Menzels Freund Liesching gegen die Jungdeutschen Partei nahm; vgl. 5.3.2.), nach dem Bundestagsbeschluss gegen das Junge Deutschland und der Gefängnishaft musste sich Gutzkow einen Verleger suchen, bei dem er als kritischer Autor sowohl unerkannt bleiben als auch erfolgreich werden konnte.

Die Veröffentlichung der Zeitgenossen als eine Übersetzung aus dem Englischen des Erfolgsautors Edward Lytton Bulwer wurde als Verlagssensation angekündigt, übertraf in dieser Hinsicht den von Liesching erhofften Paukenschlag mit den Säkularbildern bei weitem und bestätigte, zu welchen spekulativen Praktiken die Stuttgarter Verlagswelt imstande war. Gutzkow kam mit den Zeitgenossen bei dem soeben gegründeten „Verlag der Classiker“ unter, der am 1. März 1837 seine Eröffnung bekannt gab (5.1.1.). Ironischerweise wurde dieses Unternehmen von einem politischen Häftling initiiert: keinem anderen als dem von Cotta gefürchteten Friedrich Gottlob Franckh (1802-1845), der wegen seiner Beteiligung an der Organisation des Frankfurter Wachensturms auf der Festung Hohenasperg saß (5.1.5.). Sein neuer, vom Geschäftsführer Adolph Krabbe geleiteter Verlag trat mit einem glänzenden Eröffnungsprogramm vor das Publikum: Zugleich mit den angeblich von Bulwer verfassten Zeitgenossen wurden illustrierte Prachtausgaben des „Don Quixote“ und der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht angekündigt; erstere mit einem Vorwort von Heinrich Heine, letztere in erster vollständiger deutscher Übertragung aus dem arabischen Urtext durch Gustav Weil und mit einem Vorwort von August Lewald (5.1.2.). ,Klassische‘ Literatur wurde also mit zugkräftigen zeitgenössischen Namen verbunden und mit Illustrationen aus der technisch und künstlerisch neuesten (französischen) Schule versehen. Gutzkows „Frankfurter Telegraph“ sekundierte dieses verlegerische Debut Ende Februar 1837 durch eine Ankündigung, ohne jedoch den Verlag zu nennen (→ Neue Prachtausgabe des „Don Quixote“ und von „Tausend und Einer Nacht“). Auch das baldige Erscheinen der Zeitgenossen bei dem ungenannten Verlag wurde aus gutem Grund verschwiegen. Hingewiesen wurde aber bereits auf die Erscheinungsweise der Prachtausgaben in Lieferungen zu unerhört billigem Preise; ein springender Punkt ebenfalls in der Verlagswerbung (5.1.2.). Durch portionsweise Auslieferung über einen längeren Zeitraum wurden solche verlegerischen Luxusartikel auch für minder bemittelte Leserkreise erschwinglich (→ Lexikon: Illustrierte Periodika). Gutzkow besprach den „Don Quixote“ des „Verlags der Classiker“ als illustriertes Pionierwerk sehr lobend Anfang Juni 1837 (→ Der neue Don-Quixote mit Holzschnitten): Es führe die artistischen Illustrationen in Deutschland ein und sei die erste Ausgabe eines classischen Werkes, das wir in dieser Art in deutscher Sprache erhalten. Der „Verlag der Classiker“ brachte später in Lieferungen außerdem z. B. „Shakespear’s dramatische Werke. Englisch und deutsch“ (mit Illustrationen) sowie eine „Compendiöse Geschichte der Medicin“ (ohne Illustrationen) heraus.

In die letztere, wissensvermittelnde Kategorie fielen also die Zeitgenossen, die als Fortsetzungswerk in zwölf Heften, jeweils in zweimonatigen Doppellieferungen, ausgegeben wurden, bevor sie als zweibändige Buchedition erschienen. Wegen seines diskursiv-kritischen Inhalts nennt Gutzkow das Werk ein Auskunftsmittel (5.3.2.). Dem kommerziellen Interesse des Verlegers dürfte bei dieser intellektuell anspruchsvollen Schrift vor allem der Deckname des englischen Schriftstellers Bulwer entgegengekommen sein, den Gutzkow zur Tarnung vor der Zensur annahm. Die Bulwer-Mystifikation versprach finanziellen Erfolg, weil die Übersetzungsindustrie florierte. Nach Gutzkows eigener Schätzung hatten die Werke Bulwers in Deutschland etwa 12000 Abnehmer (5.3.1.). Ein Schriftsteller, der vor ihm auf die Attraktivtät eines großen britischen Namens setzte, war Willibald Alexis, der seine ersten beiden Romane „Walladmor“ (1824) und „Schloß Avalon“ (1827) als freie Übersetzungen von Werken Walter Scotts ausgab (5.4.3.). Bulwers 1833 erschienene zweibändige gesellschaftskritische Schrift „England and the English“, Gutzkows Modell der Zeitgenossen, war in der Übersetzung von Louis Lax noch im selben Jahr bei dem Aachener Verlag Mayer erschienen, aber außerhalb von dessen laufender Bulwer-Ausgabe, also als eine Art Ergänzungswerk. Der „Verlag der Classiker“ bemühte sich nach Kräften, bei den Zeitgenossen den Schein eines „Supplements“ zu den drei gängigen deutschen Bulwer-Ausgaben zu erzeugen: Er wies in seiner Werbung auf sein ausschließliches und „theuer erkaufte[s]“ Verlagsrecht an diesem Titel hin, vertrieb es pro „elegant brochirt[er] Lieferung“ zu keinem Billigpreis und forderte die Subskribenten der drei Bulwer-Ausgaben unverblümt auf, sich die Zeitgenossen als Supplementband zu ihren Editionen zu beschaffen (5.1.3.). Dieselbe Werbung fand sich in der Verlags-„Notiz“ auf der Rückseite des Serientitels „E. L. Bulwer’s Werke“ der Zeitgenossen (GWB III, Bd. 3, [S. 2]). Entgegen seiner Behauptung in den Rückblicken, die Täuschung sei ohne Schwindel durchgeführt worden (4.1.9.), bestärkte Gutzkow im „Frankfurter Telegraph“ beim ersten teilweisen Vorabdruck der Zeitgenossen explizit die Unwahrheit, der Verlag habe durch eine spezielle Abmachung mit Bulwer das Manuskript noch vor seiner Veröffentlichung in England erhalten, und Abonnenten der drei deutschen Bulwer-Ausgaben sollten sich um deren Vervollständigung bemühen (5.3.1.).

Dem finanziellen Glück seines englischen Vorbilds entsprach die Lebenswirklichkeit Gutzkows jedoch keineswegs. Das jungdeutsche Programm der Lebensbejahung konnte seit dem Bundestagsbeschluss nur noch zynisch in Anschlag gebracht werden, wie Gutzkow in den Rückblicken gegen eine Behauptung des ehemaligen Mitstreiters Gustav Kühne mit Sarkasmus feststellt (4.1.9.). Seine eigene Existenz als Schriftsteller hing 1836/37 am seidenen Faden. Er hatte nach den Diffamierungen durch Wolfgang Menzel und dem Abfall großer Teile der literarischen Öffentlichkeit von dem jungdeutschen Projekt, dessen Stimmführer er gewesen war, neu Fuß zu fassen, und dies bei Quasi-Berufsverbot in Preußen, dem wichtigsten Absatzgebiet deutscher Schriftsteller. Gutzkow versprach sich von der Bulwer-Mystifikation also vor allem eine Überlistung der preußischen Zensur (→ Vorwort zu Säkularbilder). Er ging unter beträchtlichem Druck ans Werk. Der „Frankfurter Telegraph“, den er seit Anfang 1837 aus Zensurgründen ungenannt redigierte, wurde die längste Zeit im Selbstverlag betrieben und war mit nur etwa 210 Abonnenten ein Verlustgeschäft (Rasch, Bd. 1, S. 559). Seit kurzem auch Familienvater, sparte sich Gutzkow zwei Stunden am frühen Morgen für das neue kritische Panorama ab. In dessen Stoff investierte er sein gesamtes Wissen, schrieb es im täglichen Wettlauf mit der Zeit nieder und diktierte das Geschriebene sogleich (4.1.9.), denn seine Handschrift war notorisch schwer zu lesen. Es ging um die zügige Produktion eines Werkes, das wie eine Zeitschrift herauskam.

Zunächst also periodisch erscheinend, folgte Gutzkows schon seit 1834 erwogenes großes Gegenwartsbild nunmehr der 1835 unterdrückten „Deutsche Revue“: Zwar waren die Zeitgenossen ein Einmann-Unternehmen, aber verwandt mit der „Revue“ durch die enzyklopädische Anlage und die heftweise Publikation. Dass Eingeweihte die Autorschaft der Zeitgenossen erraten würden, war ihrem Verfasser vielleicht nicht unlieb, und durch die Ausbreitung seines enormen Wissens konnte er sich eine Restituierung seines schriftstellerischen Kredits erhoffen. Die sechs Doppellieferungen erschienen im Abstand von ca. zwei Monaten zwischen Frühjahr 1837 und Ende Dezember 1837/Anfang Januar 1838 (Rasch 2.14). Als Fortsetzungswerk waren die Zeitgenossen auch ein ‚work in progress‘, dessen Rezeption Einfluss auf die Entstehung hatte. So kümmerte sich Gutzkow, von Rezensenten schon früh enttarnt, immer weniger um die Aufrechterhaltung der Bulwer-Mystifikation, wie er auch in den Rückblicken angibt (4.1.9.), ohne die vorgeschützte Autorschaft im Titel der Zeitgenossen aufzugeben. Dies führte z. B. dazu, dass er im Kapitel Kunst und Literatur in der dritten Person und abwertend über sich selbst, den angeblichen englischen Verfasser schrieb, und zwar als der schon halb wieder vergessene Bulwer (GWB III, Bd. 3, S. 553). Zunächst jedoch lag Gutzkow daran, sein Werk unter dem Erfolgsnamen Bulwer zu verkaufen. Im „Frankfurter Telegraph“ ließ er als Anreiz ganz besonders pikante oder herausfordernde Auszüge aus soeben erschienenen Lieferungen von Bulwer’s Zeitgenossen drucken. Der erste Abdruck über die ökonomischen Grundlagen der modernen Ehe wurde durch eine Erklärung begleitet (5.3.1.), die unter dem Titel E. L. Bulwer’s Zeitgenossen. In Deutschland früher als in England erscheinend! offensichtlich den kommerziellen Nutzen der Mystifikation stärken sollte und sich im Einklang mit der Verlagswerbung befand.

Mit der Publikation seines ‚Jahrhundertbildes‘ in Lieferungen schloss sich Gutzkow an die periodische Erscheinung sozialer Studien in England und Frankreich an, namentlich an das „Livre des Cent-et-un“ (4.1.9.; → Lexikon). Diese Serie von Skizzen des Pariser Lebens, erschienen 1831-34 (auch in deutscher Übersetzung), sollte zur Rettung des vom Ruin bedrohten Verlegers Ladvocat dienen. In England war es Charles Dickens, der 1836-37 mit der lieferungsweisen Veröffentlichung der „Pickwick Papers“ einen unerhörten Erfolg erlebte. Begonnen wurden sie als Serie kommentierter sozialer Skizzen, jedoch entwickelten sie sich bald zum eigenständigen illustrierten Fortsetzungsoman. Der erste Band der Zeitgenossen, der die Lieferungen 1-6 (Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte von Sitte und Sitten sowie die einleitende Zueignung An Sir Ralph) umfasste, war im Juni 1837 komplett (vgl. z. B. den Hinweis auf den geplanten bzw. erfolgten Abschluss des Bandes in 5.3.1. und 5.4.3.). Für Raschs Angabe, der erste Band sei schon im März publiziert worden (Rasch 2.14), finden sich in den zeitgenössischen Rezensionen keine Hinweise. Anzunehmen ist, dass nicht der erste Band, sondern die erste Lieferung der Zeitgenossen gleich nach der Verlagseröffnung im März erschien. Es entspricht Gutzkows erklärtem Wunsch, die Buchform für ein Projekt dieser Art letztlich aufzugeben und es stattdessen als Monatsschrift, also als Periodikum vom Typ der ‚Revue‘, fortzuführen: Möglich, daß meine Zeitgenossen, nachdem sie ein Buch gewesen sind, sich zuletzt in eine Monatsschrift verwandeln (GWB III, Bd. 3, S. 14).

Die zum Vorbild genommene Schrift Bulwers, „England and the English“ (1833), kam dem empirisch-soziologischen Ansatz Gutzkows entgegen, der bei aller Abstraktion und Typisierung immer die Einzelbeobachtung voraussetzte (vgl. 4.1.4.). Der Name Bulwers war für Gutzkows Zeitgenossen in der Tat kein bloßes Aushängeschild, sondern sein Werk war um die Aufnahme englischer Charakteristik zur Darstellung gesellschaftlicher und politischer Zustände bemüht (→ Vorwort zu Säkularbilder, 1846). In diesen Zusammenhang gehört Gutzkows ,Herausarbeitung‘ aus dem geschichtsphilosophisch-systematischen Denken Hegels (→ Vorwort zu Säkularbilder, 1875).

5. Rezeption#

Die (auszugsweise) Textwiedergabe folgt zeichen- und buchstabengetreu der Vorlage; Druckfehler wurden stillschweigend berichtigt, ausgefallene Lettern in eckigen Klammern ergänzt.

5.1. Verlagsanzeigen#
5.1.1. Gründung des „Verlags der Classiker“, 1. März 1837#

[Annonce zur Gründung des „Verlags der Classiker“.] In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 23, 21. März 1837, Sp. 475-476.

Stuttgart, den 1. März 1837.

Wir haben die Ehre, Ihnen hiermit die Anzeige zu machen, daß wir unter dem heutigen Tage ein von unserm seitherigen Geschäft durchaus getrenntes Etablissement unter der Firma

Verlag der Classiker

auf hiesigen Platze gegründet haben.

[...] Die Unterschrift für dasselbe [das eigenständige neue Verlagskonto] haben wir [...]

Herrn Adolph Krabbe

übertragen. [...]

Indem wir Ihnen unsere künftigen Unternehmungen bestens empfehlen, hoffen wir, auch mit diesem neuen Institute einen lebhaften Verkehr mit Ihnen zu unterhalten.

Mit Hochachtung

Fr. Brodhag’sche Buchhandlung. 

5.1.2. Neuerscheinungen im „Verlag der Classiker“, 4. April 1837#

[Annonce zu Neuerscheinungen des „Verlags der Classiker“.] In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 27, 4. April 1837, Sp. 558.

Im Verlag der Classiker in Stuttgart wird im Augenblick versendet:

Bulwer, E. L., die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Engl. I. 1–2. Lief.

Dieses Werk, dessen hohe Vortrefflichkeit in kurzer Zeit von ganz Europa anerkannt sein wird, erscheint in monatlichen Lieferungen, jede Lief. zu 15 kr. oder 4 ggr.

Durch eine besondere Uebereinkunft des geistvollen Dichters mit der deutschen Verlagshandlung kann es keine andere Buchhandlung in Deutschland herausgeben, ohne unserm wohlerworbenen Verlagsrechte zu nahe zu treten.

Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha. Von Miguel Cervantes de Saavedra. A. d. Span. übersetzt; mit dem Leben von Cervantes nach Viardet, und mit einer Einleitung von H. Heine. 2 Bände. Mit 800 Bildern und Vignetten von T. Johannot.

Dieses Prachtwerk erscheint in ca. 200 Lieferungen in einem Zeitraume von 20 Monaten. Die Lieferung zu einem Bogen à 8 Seiten im größten Lexikonformat aufs feinste geglättete Velinpapier gedruckt, kostet nicht mehr als 4 kr. oder 1 ggr.; damit die Herren Sortimentshändler nicht zu viel Arbeit mit der Expedition haben, werden nie unter 6 Lieferungen versendet. Uebrigens verweisen wir auf den Prospectus, der in allen soliden Buchhandlungen zu finden ist.

Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen zum Erstenmale aus dem arabischen Urtext treu übersetzt von Dr. Gustav Weil. Herausgegeben und mit einer Einleitung von August Lewald. 2 Bde. Mit 2000 Bildern und Vignetten von Fr. Groß.

Dieses Prachtwerk, das Erste, welches als Originalwerk die deutsche Presse verläßt, übertrifft Alles, was man bisher in englischen u. französischen Werken dieses Genres bewunderte. Es erscheint in einem Zeitraume von zwei Jahren vollständig und nach dem Originalmanuscript des arabischen Textes; es besteht aus 250 Lieferungen; die Lieferung von je einem Bogen von 8 Seiten mit 6-8 Bildern und Vignetten, breites Lexiconformat, feinstes Velinpapier und geglättet. Der Preis und die Versendung ist ganz gleich, wie bei der Ausgabe von Don Quixote, auch verweisen wir im Allgemeinen auf den „Prospectus“ des Werks, der in allen soliden Buchhandlungen zu finden ist.

Es läßt sich erwarten, daß in kurzer Zeit die Auflage von obigen drei Werken sich vergreift, wir haben hier nur noch beizufügen, daß eine zweite Auflage von den Prachtwerken ihres außerordentlichen Kostenaufwands wegen beinahe unmöglich wird, es daher im Interesse der Sortimentshandlungen liegt, sich bei Zeiten mit dem nöthigen Bedarf zu versehen. 

5.1.3. Werbung für „Die Zeitgenossen“, 8. April 1837#

Bulwer’s Zeitgenossen. In: Intelligenz-Blatt. Nr. 11. Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. 8. April 1837, S. 44, Nr. 140.

So eben hat die Presse bei uns verlassen:

Die Zeitgenossen.

Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere.

Aus dem Englischen

des

E. L. Bulwer.

1 – 2te Lieferung.

Die Lieferung elegant brochirt 4 gr. oder 15 kr.

Nicht bloß die Gunst des Zufalls, sondern auch außerordentliche Anstrengungen haben uns in den Besiz eines Manuscripts gesezt, welches den Weg nach dem Continent eher gefunden hat, als noch eine Ausgabe in England davon erschienen ist.

Wir sagen nichts von dem tiefen Scharfblick, womit der Charakter unserer Zeit aufgefaßt, noch von der Höhe des Standpunktes, auf dem wir hier wieder den geistreichen Verfasser dieses Werkes erblicken, da für Alle, welche sich für wahrhaft preiswürdige Erscheinungen der Literatur interessiren, der Beginn des Buches bereits vor Augen liegt, um die Trefflichkeit desselben zu prüfen. Wir erlauben uns nur, den zahlreichen Subscribenten der „Bulwer’schen Werke“ die Versicherung zu geben, daß weder die Metzler’sche, die Schumann’sche, noch die Meyer’sche Buchhandlung je im Stande seyn werde, die „Zeitgenossen“ in die von diesen drei Buchhandlungen veranstalteten Gesammtausgaben aufzunehmen, ohne unserm theuer erkauften Verlagsrechte auf dieses Werk zu nahe zu treten; und laden die Besitzer dieser verschiedenen Ausgaben ein, sich das angekündigte Werk durch diejenige Buchhandlung zu verschaffen, bei welcher sie auf die eine oder die andere Ausgabe dieses bekannten Dichters subscribirt haben.

Stuttgart, im März 1837.

Verlag der Classiker. 

5.1.4. Erklärung der Metzler’schen Buchhandlung, 28. April 1837#

[Das Verlagsrecht an Bulwers Werken.] In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 34, 28. April 1837, Sp. 756.

Unverzüglich nach der Ausgabe in London wird der erwartete neue Roman:

Die Eroberung von Granada von E. L. Bulwer, übers. von Gustav Pfitzer,

als Fortsetzung unserer Sammlung der Bulwer’schen Werke bei uns ausgegeben werden, was wir [...] wiederholt anzukündigen die Ehre haben, und zugleich beifügen, daß durchaus kein Anstand vorhanden ist, auch künftig alle Schriften, welche E. L. Bulwer herausgeben dürfte, in diese Sammlung aufzunehmen und daß namentlich von allen künftigen Romanen und Novellen dieses Verfassers jedesmal gleich nach der Publication des Originals eine Uebertragung für unsere Sammlung besorgt werden wird. Dagegen wird die von dem „Verlag der Classiker“ in Stuttgart ausgegebene Schrift:

Zeitgenossen, angeblich aus dem Englischen des E. L. Bulwer,

in unsere Sammlung nicht aufgenommen werden, da Bulwer, obschon ihn jener Titel als Verfasser nennt, an dieser, nicht aus dem Englischen übersetzten, sondern von einem deutschen Schriftsteller herrührenden Schrift keinen Antheil hat.

J. B. Metzler’sche Buchhandlung

in Stuttgart. 

5.1.5. Börsenblatt-Miszellen, 30. Mai 1837#

Miscellen. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 43, 30. Mai 1837, Sp. 940.

Bulwer und Gutzkow. Herr K. Buchner nennt in den lit. Blättern der Börsenhalle Gutzkow als Verfasser der unter Bulwer’s Namen erschienenen „Zeitgenossen.“ [5.2., ]

__________

Verlag der Classiker in Stuttgart. Eben daselbst wird gesagt, daß die unter vorstehender Firma errichtete Buchhandlung Eigenthum des Herrn Franck d. J. sei, des ehemaligen Verlegers der Taschenausg. v. W. Scott, der Briefe eines Verstorbenen etc., der sich nun schon 4 Jahre auf der würtembergischen Feste Hohenasperg in Untersuchungshaft wegen angeschuldigter politischer Vergehen befindet. Er soll sich mit Herrn Hallberger, dem er bei Verkauf seiner frühern Handlung zugesagt habe, kein neues Etablissement in Stuttgart zu gründen, der Art abgefunden haben, daß er demselben 5000 fl. baar gezahlt, und ihm weitere 4000 fl. für den Fall des Erfolgs seiner angekündigten Unternehmungen zugesichert.“ 

5.1.6. Anzeigen im Verlagsstreit, 30. Mai 1837#

[Streit der Metzler’schen Buchhandlung mit dem „Verlag der Classiker.] In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 43, 30. Mai 1837, Sp. 945.

Uebersetzungs-Anzeige.

Von der so eben in London ausgegebenen neuen Schrift

E. L. Bulwer, Athen, seine Erhebung u. sein Fall;

ist eine deutsche Uebersetzung von Gustav Pfitzer bei uns unter der Presse, von welcher das 1. Bändchen unverzüglich versendet wird und die weiteren rasch folgen sollen. Auch zeigen wir wiederholt an, daß von dem demnächst zu erwartenden neuen Romane:

Die Eroberung von Granada, von E. L. Bulwer

gleich nach der Ausgabe in London eine Uebertragung durch Gustav Pfitzer bei uns erscheinen wird.

Stuttgart, den 16. Mai 1837.

J. B. Metzler’sche Buchhandlg.

_____________

 

R  ü  g  e .

Bis die sehr löbliche J. B. Metzler’sche Buchhandlung in Stuttgart die in Nr. 34 u. 35 dieser Blätter ausgesprochene Behauptung, daß die

Zeitgenossen von E. L. Bulwer

von einem deutschen Schriftsteller verfaßt seien, nicht durch authentische Beweise belegen kann, wird sie uns erlauben, sie so lange für eine sehr vorlaute öffentlich zu erklären.

Stuttgart, 10. Mai 1837.

Verlag der Classiker. 

5.1.7. Nochmalige Anzeige im Verlagsstreit, 2. Juni 1837#

[Wiederholte „Rüge“ der Metzler’schen Buchhandlung durch den „Verlag der Classiker“]. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 44, 2. Juni 1837, Sp. 973.

R  ü  g  e .

Bis die sehr löbliche J. B. Metzler’sche Buchhandlung in Stuttgart die in Nr. 34 u. 35 dieser Blätter ausgesprochene Behauptung, daß die

Zeitgenossen von E. L. Bulwer

von einem deutschen Schriftsteller verfaßt seien, nicht durch authentische Beweise belegen kann, wird sie uns erlauben, sie so lange für eine sehr vorlaute öffentlich zu erklären.

Stuttgart, 10. Mai 1837.

Verlag der Classiker. 

5.1.8. Erwiderung, 27. Juni 1837#

[Entgegnung der Metzler’sche Buchhandlung auf die „Rüge“]. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige. Leipzig. Nr. 51, 27. Juni 1837, Sp. 1130-1131.

Erwiederung.

Auf unsere in diesen Blättern ausgesprochene Behauptung:

daß die unter E. L. Bulwer’s Namen ins Publikum gebrachte Schrift „Zeitgenossen“ nicht von Bulwer, sondern von einem deutschen Schrif[t]steller verfaßt sei,

giebt der löbliche „Verlag der Classiker in Stuttgart“ in Nr. 43 u. 44 des Börsenblattes nicht etwa die Gegenerklärung, daß unsere Behauptung unrichtig oder unwahr sei, sondern derselbe begnügt sich, unsere Behauptung eine „sehr vorlaute“ zu nennen. [...] so scheint somit die Richtigkeit unserer Behauptung vom Verlag der Classiker nun selbst zugestanden zu sein. [...]

Nachdem übrigens eine Reihe öffentlicher Blätter inzwischen Bulwer’s Autorschaft von dieser Schrift in Abrede gezogen und ihre Bedenken vielfach begründet haben, nachdem in Nr. 46 und 47 des „Spiegels“ [5.2., und 5.4., ] nachgewiesen ist, daß in den Zeitgenossen gebrauchte englische Wörter nicht englisch sind, sogar der Name des Wohnortes von Bulwer am Schlusse des Vorwortes unrichtig ist, ein aus Bulwer’s Leben dort erzählter Vorfall gar nie Statt gefunden hat, u. s. w. u. s. w., wird uns um so weniger zuzumuthen sein, unsere Behauptung durch ausführliche Beweisführung zu begründen, als, wäre in der That Bulwer der Verfasser, dem Verlag der Classiker sehr leicht sein müßte, uns und alle Läugner durch Mittheilung eines oder mehrerer Originalbriefe Bulwer’s zu widerlegen und zu beschämen. – Wir fordern daher den „Verlag der Classiker“ hiermit auf, durch eine solche Mittheilung an drei Stuttgarter Buchhandlungs-Chefs [...] die bestrittene Autorschaft Bulwer’s zu erweisen. Sollte etwa der Verlag der Classiker auf diesen leicht ausführbaren Vorschlag nicht eingehen, sondern abermals durch eine vage, Nichts wiederlegende Erklärung zu antworten vorziehen, so wird dadurch Jeder in Stand gesetzt sein, über diese Frage sich sein eigenes Urtheil zu bilden.

J. B. Metzler’sche Buchhandlung

in Stuttgart.

5.2. Reaktionen auf die Mystifikation und die Lieferungen #
5.2.1. Magazin für die Literatur des Auslandes, 29. März 1837#

[Anon.:] Bulwer’s „Zeitgenossen“. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. Berlin. Bd. 11, Nr. 38, 29. März 1837, S. 152. (Rasch 14/14.37.03.29)

Von einer Süd-Deutschen Buchhandlung wird ein neues Werk von E. L. Bulwer unter dem Titel die „Zeitgenossen“ angekündigt, das, nach den Proben zu urtheilen, eine Sammlung von Charakteristiken in der Weise von La Bruyère ist. Die Deutsche Uebersetzung wird, in Folge eines Abkommens, welches die Buchhandlung mit dem Verfasser oder vielleicht auch nur mit dem Englischen Verleger getroffen hat, gleichzeitig mit dem Originale erscheinen, und das wird dieser Uebersetzung unstreitig vor jeder anderen einen großen Vortheil verschaffen, obwohl die Erfahrung gelehrt hat, daß die ersten eilig erschienenen Uebersetzungen in der Regel auch die schlechtesten sind. Wenn jedoch, Süd-Deutschen Blättern zufolge, dieselbe Buchhandlung, auf jenes Abkommen sich berufend, jede andere Uebersetzung ausschließen, d. h. für unrechtmäßig erklären will, so scheint uns hier ein großer Irrthum in Bezug auf dasjenige Prinzip obzuwalten, welches, nach den bisher allgemein geltenden Annahmen, das geistige Eigenthum begründet. Der Englische Autor kann einer Deutschen Buchhandlung wohl sein Englisches Original, nicht aber auch das Recht verkaufen, dieses Original ausschließlich zu übersetzen. Nur die mechanische Vervielfältigung desselben Werkes, wie sie eben durch den bloßen Nachdruck geschieht, nicht aber die geistige Verarbeitung desselben wird durch das Verlagsrecht ausgeschlossen. [...]

5.2.2. Magazin für die Literatur des Auslandes, 31. März 1837#

[Anon.:] Bulwer und der Verlag der Klassiker. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. Berlin. Bd. 11, Nr. 39, 31. März 1837, S. 156. (Rasch 14/14.37.03.31)

In Bezug auf die in unserem letzten Blatte gegebene Nachricht über Bulwers „Zeitgenossen“ wird uns die Berichtigung, daß die unter der Firma „Verlag der Klassiker“ seit kurzem etablirte Stuttgarter Buchhandlung das genannte Bulwersche Werk in einer Deutschen Uebersetzung, und zwar mit dem Hinzufügen angekündigt habe, daß der Verfasser sich gegen sie anheischig gemacht, das Englische Original erst in vier Jahren zu publiziren, so daß die Deutsche Buchhandlung allerdings bis dahin gegen jede konkurrirende Uebersetzung geschützt wäre. Nach dem indessen, was wir von Englischen und namentlich von Bulwerschen Honoraren wissen, ist es kaum glaublich, daß ein Deutscher Verleger, der nur auf sein eigenes und nicht auch auf das Englische Publikum angewiesen ist, bei einer solchen Speculation seine Rechnung finden würde. Bulwer müßte in einem solchen Falle um so mehr auf das höchste Honorar bestehen, als er ja riskirte, daß einer seiner Landsleute die Deutsche Ausgabe seines Buches zurück ins Englische übersetzte, bevor er noch das Original selbst publizirt hätte. Ja, eine solche Speculation, besonders von Seiten Englischer Journale, ist um so wahrscheinlicher, wenn die „Zeitgenossen“ nach den uns vorliegenden Proben, aus kurzen Charakteristiken à Labruyère bestehen und daher auch zur Mittheilung von Fragmenten oder einer pikanten Auswahl vollkommen geeignet sind. Nach allem diesen möchte man daher das angekündigte Werk viel eher für einen neuen „Waladmor“ halten, den Wilibald Alexis bekanntlich dem Walter Scott mit solchem Glücke nachgebildet hat, daß er wenigstens in Deutschland eine Zeit lang für das Werk des Schottischen Unbekannten wirklich angesehen wurde.

▄5.2.3. Didaskalia, 31. März 1837: Correspondenz aus Stuttgart▀#
5.2.4. Deutscher Courier, 31. März 1837#

Ein deutscher Emil mit einer englischen Stahlfeder gezeichnet. In: Deutscher Courier. Stuttgart. Nr. 75, 31. März 1837, S. 297-300; Nr. 76, 1. April 1837, S. 301-304; Nr. 77, 2. April 1837, S. 305-307.

[Der „Deutsche Courier“ bringt in seinem Feuilleton unter der Überschrift „Ein deutscher Emil mit einer englischen Stahlfeder gezeichnet“ einen Auszug aus dem Kapitel Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts (GWB III, Bd. 3, S. 33-41). Der Auszug ist in Nr. 75 mit folgender Fußnote versehen:]

Bruchstück des Werkes: „die Zeitgenossen.“ Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. (Stuttgart, Verlag der Klassiker, 1837). Voltaire hat durch seine englischen Briefe den Grundstock seines Ruhmes sich geschaffen, Montesquieu’s persische und d’Argens jüdische Briefe folgten ihnen. Hier ist nun ein deutscher Schriftsteller, der zwar mit Recht das Streben aufgegeben hat, ein deutscher Voltaire zu werden, in englischer Maske aufgetreten; Karl Gutzkow wird als der Doppelgänger E. L. Bulwers genannt.

5.2.5. Deutscher Courier, 4. April 1837#

[Politische Nachricht:] Württemberg. In: Deutscher Courier. Stuttgart. Nr. 78, 4. April 1837, S. 312.

Stuttgart, 2. April. Von der hiesigen Buchhandlung Verlag der Klassiker werden wir ersucht, zu bemerken, daß die von uns in Nr. 75 des deutschen Couriers bei Gelegenheit des Auszugs aus dem Werke „die Zeitgenossen“ gemachte Bemerkung, daß „Karl Gutzkow der Doppelgänger Bulwers“ sey, auf einem blosen Gerüchte beruhe, und sie nach wie vor die begründetste Ermächtigung habe, auf der Authentizität der in Rede stehenden literarischen Erscheinung zu beharren.

5.2.6. Anon., 17. April 1837#

[Anon.:] Notizen. Baron Vaerst. In: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig. Nr. 74, 17. April 1837, S. 296. (Rasch 14/14.37.04.17N)

Derselbe [d. i. ein „berliner Correspondent in der hannöverschen Zeitung“] will auch wissen, daß das Bulwer’sche Werk, „die Zeitgenossen“, welches der „Verlag der Classiker“ in Stuttgart an sich gekauft haben sollte, von Gutzkow wäre. Gutzkow ist aber vielleicht nur der Uebersetzer des Bulwer’schen Manuscriptes.

5.2.7. Anon., 21. April 1837#

▄[Anon.:] Zeitung. In: Mitternachtzeitung für gebildete Stände. Braunschweig. Nr. 64, 21. April 1837, S. 253.▀ (Rasch 14/14.37.04.21)

 

5.2.8. Korrespondent -d-, 22. April 1837#

▄-d-: Bulwers neuestes Werk als Kuriosität. In: Der Gesellschafter. Berlin. 64. Blatt, 22. April 1837, S. 320.▀ (Rasch 14/14.37.04.22)

  

5.2.9. Karl Buchner, 8. Mai 1837#

Karl Buchner: Wer da? Bulwer oder Gutzkow? In: Literarische und Kritische Blätter der Börsen-Halle. Hamburg. Nr. 1353, 8. Mai 1837, S. 439-440; Nr. 1354, 10. Mai 1837, S. 447-448. (Rasch 14/14.37.05.08)

Die „Didaskalia“ sind „Blätter für Geist, Gemüth und Publicität“, welche in Frankfurt am Main erscheinen und von Herrn Wilhelm Wagner, dem Gevattermanne des Herrn Gutzkow, redigirt werden. Am 31. März las man in jenen Didaskalien nachstehende Correspondenz aus Stuttgart: [...]  [= 5.2.3.]

So der Stuttgarter Correspondenz-Artikel in der „Didaskalia“, den „Blättern für Geist, Gemüth und Publicität.“ Wer ihn las und gerade nur so viel dabei dachte, als nöthig ist, einen Didaskalien-Artikel zu lesen, erstaunte über den Speculationsgeist des „Verlags der Classiker“, der, wenn auch gegen „allerdings enormen Preis“, so treffliche Früchte von englischem Grund und Boden bereits eingeheimst hatte. Unwillkührlich warm und vaterländisch gerührt wurde dabei ein solcher Leser und er wünschte dem Unternehmen allen Erfolg, welchen es verdiene.

Schon mehr Scrupel stiegen dem aufmerksameren Leser des Stuttgarter Correspondenz-Artikels auf. Wie, Eduard Lytton Bulwer, der stolze Parlaments-Repräsentant von St. Yves, der Schöpfer so vieler romantischen Geschichten, für welche auch Alt-England ihm „allerdings enormen Preis“ nicht schuldig blieb, der Volksmann, der seinen ihm allzu demokratisch erscheinenden Wählern grob war, und der Dandy, welcher in öffentlicher gehaltener Rede die Regierung drohend an das Fenster erinnerte, durch welches der erste Karl von England zum Schaffotte ging, – derselbe Bulwer sollte nun zu einem Contracte sich verstanden haben, der sein neustes Werk als Weide erst dem Auslande Preis gab und seinen englischen Mitbürgern eine vierjährige Carenz auflegte, bis sie, die ersten Unterstützer und Bewunderer seines aufkeimenden Talents, am neusten, gereifteren Producte desselben sich ebenfalls laben durften? Wirklich, die Sache hatte viel Unwahrscheinliches!

Aber Bulwer ist ein industriöser Schriftsteller. Er lebt von seinen Romanen und er braucht viel zum Leben. Er hat sich gerühmt, vom Volk so wenig Besoldung zu haben, als vom Throne, und sein ganzes Einkommen mit der Feder zu verdienen. Milton wäre Milton geblieben, wenn er auch, statt für 5 Pfund Sterling, für 500 Pfund sein verlornes Paradies an den Buchhändler verkauft hätte. Unsere heutige Poesie laborirt ja ohnedies an der Speculation, warum sollte sie es nicht zugleich an der Speculation in reellerem Sinne thun dürfen? Bulwer hat zwar eben erst einen Roman „die Belagerung von Granada“ vollendet [vgl. 5.1.4. und 5.1.6.] und 12,000 Pfund Sterling dafür eingesackt, aber Bulwer schreibt wohl zu gleicher Zeit zwei Werke, weil er Bulwer, und streicht zu gleicher Zeit gerne zweimal 12,000 Pfund ein, weil er wie jeder Andere ist. Dabei: die zuversichtliche, unumwundene Abfassung der Stuttgarter Correspondenznachricht! Kein „dürfte“, „möchte“, „heißt“, „soll“ u. dgl. stellt dem guten Glauben ein Bein; „sie hat sich gewendet“, „er hat ihr versprechen müssen“, „sie hat ihm abgekauft“, – kann man bestimmtere Töne auf der Claviatur unserer sonst so lahm und unbestimmt gewordenen deutschen Correspondenznachrichten auflesen? Ist es auch nur denkbar, daß ein Correspondent so unverschämt sey, einem ganzen Publicum einen Bären aufzubinden, einen Bären, oder

„ein Ungeheuer, doch drollig!

Für einen Bären zu mild,

Für einen Pudel zu wild,

So zottig, täpsig, knollig!“

Nein gewiß nicht! – Der Correspondenznachricht lag zwar noch eine andere Absicht unter, als die, einen „Beweis“ zu liefern, „wie großartig [440] hier (d. h. in Stuttgart) buchhändlerische Unternehmungen gedacht und ausgeführt werden.“ Sie wollte zugleich zum Kaufen des Buches, der „Zeitgenossen Bulwer’s“ locken. Sie hatte sogar wohl einzig zu diesem Zwecke der ganzen Begebenheit erwähnt. Aber – demungeachtet – was konnte daraus gegen die Wahrhaftigkeit der Unternehmung selbst, gegen die Autorschaft Bulwer’s, abgeleitet werden? Nicht das Mindeste. Wer ein Buch herausgiebt, sorgt für ein hübsches Titelkupfer, für einen artigen Umschlag. Die Belgische Buchhandlung in Leipzig debutirte neulich mit dem General-Lexicon, der Verlag der Classiker in Stuttgart thut es jetzt mit den Zeitgenossen Bulwer’s. Alles kommt in der Welt darauf an, die Meinung gefangen zu nehmen. Da und dort geschieht es durch wirkliche Gefängnisse, während es hier einmal durch etwas Englisches geschähe, nämlich durch ein englisches Buch, was als Manuscript den Canal überschritt. Aber – ein neues Bedenken! – wenn nun, statt daß sonst in Aachen, Stuttgart und Zwickau Uebersetzungen der englischen Bulwer’schen Originalien erschienen, nun Londoner, Edinburger und Dubliner Buchhändler dem deutschen Bulwer’schen Originale zu analogem Zwecke sich zuwendeten? Wenn sie zu Nutz und Frommen der Besitzer von Bulwer’s übrigen früheren Werken, zu Nutz und Frommen ihrer Kunden, die nun den langen Hals vergeblich nach dem Continent ausstrecken sollen, schleunige Uebersetzungen der deutschen Zeitgenossen ins Englische veranstalteten, und so zugleich den Beweis lieferten, ein unpatriotischer Schriftsteller ersticke am Gewissesten an seiner eignen Dummheit?

Und Bulwer sollte das nicht auch erwogen, sollte die englische Taube fliegen gelassen und den Stuttgarter Spatz erwischt haben? Bulwer, der Staatsmann, wenn auch Bulwer, der Romanschreiber, zu einer solchen Kurzsichtigkeit qualificirt genug wäre?

Und warum nicht? Ist es nicht einmal Zeit, daß die Deutschen gescheidter werden, als die Engländer, nachdem die Engländer schon so manches Jahrhundert gescheidter als die Deutschen gewesen sind? Vielleicht ist diese ganze Unternehmung nicht bloß der Wendepunct eines Jahrhunderts oder zweier, dreier Jahrhunderte, sondern auch der Wendepunct eines Jahrtausends, von der Zeit datirend, wo Hengist und Horsa deutsche Freiheiten nach England exportirt haben, die unterdessen kaum als englische Zeuge wieder von dort zurückgekehrt sind? Es bedarf oft nur eines dünnen, schwachen Fadens, um den Vorhang von neuen Welttheatern aufzuziehen, und wenn nun diese Stuttgart-Bulwer’sche Unternehmung der Faden wäre, wodurch die Besiegung englischer Combinationsgabe durch deutschen Geist, der Metropole an der Themse durch die Metropole am Nesenbache siegreich eingeleitet würde? –  

Da – einen Tag nachher – nimmt derselbe Leser, der sich unterdessen auf dem Dornenbette so vieler Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten herumgewälzt hatte, den deutschen Courier vom 31. März 1837 zur Hand [vgl. 5.2.4.]. Er wirft einen Blick ins Feuilleton und – was findet er? Ein Bruchstück des Werkes „die Zeitgenossen“. Ha, endlich auch die bestimmte Bezeichung: „Aus dem Englischen des E. L. Bulwer“. Der Leser blickt triumphirend umher. „Welch deutlicher Beweis,“ flüstert er seinem Nachbar im Casino zu, „daß das Werk echt ist, daß wirklich der treffliche Bulwer, der Verfasser des Pelham, des Devereux, ach! und so vieler andern Romane, die ich alle gelesen habe, deren Titel mir aber in diesem Augenblicke nicht beifallen, sich nunmehr seine Verleger in unserm Deutschland sucht!“ Der Nachbar lächelte beifällig und steckte seine Nase ins Zeitungsblatt, das ihm der Andere selig hingereicht hatte. „ „Ja wahrhaftig!“ “ bemerkte er, da – hielt er inne. Er las:  .... „aus dem Englischen des E. L. Bulwer. (Stuttgart, Verlag der Classiker, 1837.) [Es folgt ein Zitat der Fußnote aus 5.2.4., endend mit: „Karl Gutzkow wird als der Doppelgänger E. L. Bulwer’s genannt.“]

„Nicht möglich!“ rief der Selige, und zwar lauter, als es die Gesetze des Casino erlauben, welches, ein Mikrokosmus unsers europäischen Continents, nur leise Aeußerungen zugiebt. „Sie lesen ja: Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. Aus! Aus!

„ „Nun ja! Aus! Aus!“ “ erwiederte phlegmatisch der Nachbar; „ „aber Sie wissen, daß den Poeten und den Malern Alles erlaubt ist. Und dann – hat nicht auch Pustkuchen etwas Aehnliches mit Goethe getrieben, und Wilhelm Hauff mit dem trefflichen Clauren, und .. und .... noch ein Beispiel wußte ich, aber es ist mir entfallen. “ “

Der Selige war wie ein Blitz am Bücherschranke des Casino. Wie ein Blitz an der vergoldeten Eisenstange hinfährt, fuhr sein Auge an den vergoldeten Rücken der Bücher hin.

„Ich werde Sie überzeugen!“ rief er dabei aus, „daß Ihre Beispiele gar nicht passen, und auch das dritte nicht, das vom Walladmor.“

Ein Dutzend Bücher war schnell aus dem Schranke herausgeholt und dem Nachbar vorgelegt. Ich werde späterhin auf diese Beweismittel zurückkommen. Einstweilen nur so viel, daß der Selige dabei blieb, „die Zeitgenossen“ seyen ein Werk Bulwer’s, und daß der Nachbar ihm zum Wenigsten nicht mehr widersprach.

Unterdessen kam der 4. April und mit ihm abermals ein Blatt des deutschen Courier. Ob ihn auch der Selige las, weiß ich nicht, aber ich las ihn. Da stand unter den politischen Nachrichten: [es folgt ein Zitat der Notiz 5.2.5.].

Wirklich, das nahm sich aus wie ein Widerruf ohne Widerruf, wie ein Heruntersteigen vom Pferd, indessen man bloß den Fuß im Steigbügel rückt. „Ersucht, zu bemerken“, – man sah im Geiste die Buchhandlung Verlag der Classiker vor dem Redacteur des deutschen Couriers stehen, und ihm demüthigst zu Gemüthe führen, daß seine unzeitige Notiz vom Doppelgänger ihrer ganzen Unternehmung höchst schädlich sey, und daß die Autorschaft Gutzkow’s noch nicht so gewiß sey, als wenn sie zugleich im officiellen Theil des Moniteur stünde, oder in eines Ehecontractes erstem Capitel, das von ewiger Liebe und Zärtlichkeit handelt, oder in einem Druckfehlerverzeichnisse, was immer das wahrste am Buche wäre. Höchstens als Gerücht könne die Autorschaft Gutzkow’s loco Bulwer’s im neusten Fremdenblatte der Literatur aufgeführt werden, und etwas mehr, denn Gerücht brauche sie auch dem Redacteur des deutschen Couriers nicht zu seyn. Genug, unter solchen Auspicien, – so schien es – war der Artikel unter den politischen Nachrichten des deutschen Courier abgefaßt worden, und das angehängte Schwänzchen von begründetster Ermächtigung u. s. w. hatte dann auf keine andere Qualität Anspruch zu machen, als auf das dem Drachenschwänzchen eingeknüpfte Schneuztuch, damit der Drache mit um so größerem Erfolge seine luftigen Cavalcaden mache.

[447] Aber nun kommt erst die Hauptsache: die Buchhändler-Annonce mit Stiefel und Sporn und mit weit flatterndem Federbusche. Nehmt, verehrte Leser, die allgemeine Zeitung, das Frankfurter Journal, das Intelligenzblatt zum Morgenblatt, nehmt noch ein halb Dutzend andere Blätter zur Hand, und überall findet ihr sie! Der Titel heißt darnach nicht bloß „Zeitgenossen“, sondern auch noch: „ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere“, und ihr habt nicht bloß den leibhaftigen Bulwer, sondern auch noch das deliciöse moderne Vergnügen, Bulwer zerstückt gleich Orpheus in euren literarischen Magen stecken zu können, die Lieferung zu 15 Kreuzern. Dann aber kommt erst der rechte Buchhändlersegen [...]:

[Es folgt ein Zitat der Verlagswerbung , 5.1.3., von „Nicht bloß die Gunst des Zufalls“ bis „subscribirt haben.“]

Ehe ich zur Charakteristik dieser Anzeige übergehe, bedarf es einer Bemerkung, einer Versicherung. Sie heißt: Gutzkow ist wirklich der Verfasser der Zeitgenossen, die als Bulwer’s Werk angekündigt worden. Ich hoffe zugleich, daß man von mir annehme, ich würde eine solche Versicherung nicht ohne Grund und nicht ohne das feste Ueberzeugtseyn von ihrer Wahrheit ertheilen.

Aber nun scheint mir zugleich fast eine Charakteristik jener Anzeige überflüssig. Sie ist unwahr, das wäre genug. Sie ist unwahr, wenn sie auch bereits sich vorsieht mit einer gewissen Zweideutigkeit der Ausdrücke. Die Gunst des Zufalls und außerordentliche Anstrengungen können eben so gut zu Gutzkow’schen als zu Bulwer’schen Verlagsartikeln führen. Ein Manuscript, welches den Weg nach dem Continent eher gefunden hat u. s. w., braucht nicht von London nach Stuttgart, sondern kann auch von Frankfurt nach Stuttgart gewandert seyn. „Wieder den geistreichen Verfasser“ gilt vielleicht noch mehr von Gutzkow, als von Bulwer, denn (ich gehe eine Wette ein) man schreibe: „der geistreiche – “ und alle Welt wird sagen (oder hätte doch vor anderthalb Jahren gesagt), der Gedankenstrich sey Niemand anders als Gutzkow, daß Gutzkow geistreich sey, wäre ja in allen Zeitungen zu lesen gewesen. – Die Anzeige geht dann in der Art aus, wie Lichtenberg die Zueignungen vor Büchern nannte, nämlich wie ein Klingelbeutel, oder wie eine Zudringlichkeit, oder wie ein: „Kauft! Kauft!“ der englischen Wasserhändler. –

Es bedarf, scheint mir, keiner Ausführung, wie unmoralisch und wie unrechtlich die in dieser Unternehmung, zum Zwecke der Förderung derselben, wissentlich gebrauchten Mittel seyen. Juristisch fallen sie unter den Begriff des Betrugs im engeren Sinne, des Stellionats, und moralisch unter den des gröblich getäuschten Zutrauens. „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ von Pustkuchen (1821) prätendirten nirgends auf irgend eine positive Weise, als Fortsetzung der Meister’schen Lehrjahre von Goethe selbst geschrieben worden zu seyn. Der Titel lautete einfach: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und der Name des Verlegers (Basse in Quedlinburg) erregte Bedenken. Wenn auch eine [448] Nachahmung sich Kund that in Bezug auf Stil, Art und Darstellung, von „unserm Freund“ viel geredet wurde ganz à la Goethe, u. dgl., so fanden sich doch zugleich häufig Stellen, wo [...] durch Aeußerungen über Goethe, jenes Bestreben rückwärts aufgelöst erschien. Dabei waren die „Meisters Lehrjahre“, seit 1795 vollständig, nun volle 25 Jahre ohne Fortsetzung geblieben, und wenn ein Anderer seinen Faden an das liegen gelassene Gewebe anspann, so konnte Das nicht gerade als besonders auffallend gelten.

Mit gröbern Mitteln verfuhr allerdings Herr Willibald Alexis (Wilhelm Häring), der Verfasser des „Walladmor. Frei nach dem Englischen des Walter Scott. Von W....s. 3 Bände. Berlin 1824.“ Denn im „Vorwort“ ist gesagt: „Es hieße ein Sandfaß in die lybische Wüste sauber ausstreuen, noch etwas zum Lobe des Dichters sagen zu wollen, dessen neuster Roman hier erscheint.“ Dann: „Es würde ermüden und unserm Autor vorgreifen.“ Endlich am Schluß des Vorworts: „Frei nenne ich die Uebersetzung, um den Anforderungen der Uebersetzerschule zu entgehen.“ Aber die unmittelbar vorausgegangene Bemerkung hat doch zugleich etwas Schalkhaftes und den Schleier der angeblichen Autorschaft Lüpfendes: „Wie es möglich wurde, vermuthlich noch ehe der Roman Walladmor die Edinburger Presse verlassen hat, vielleicht auch ehe er in Paris erschienen ist, ihn im deutschen Gewande auftreten zu lassen, wird das Publicum erst nach Vollendung des Werkes erfahren.“ Dabei ist immer der Titel und was er enthält bei solchen Unternehmungen die Hauptsache, wie der Blick des Auges beim Gesicht und das Gesicht beim Körper. „Frei nach dem Englischen des Walter Scott“ stand bei Walladmor auf dem Titel, kein: „Aus dem Englischen“, und ich lege darauf größeres Gewicht, als wenn die späteren Columnen der Zeitgenossen, wie Häring in seinem Gespräche Bertram’s und Malburne’s [...] gethan hat, das Pseudo des Werkes aussprechen.

Was endlich das Buch „Der Mann im Mond, oder der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme. Von H. Clauren, Stuttgart, 1827,“ betrifft, so nannte hier Wilhelm Hauff, der witzige Verspotter der Manier des Mimili-Verfassers, einen gemachten, keinen wirklichen Namen, und wenn demungeachtet der Würtembergische Gerichtshof, auf erhobene Klage des Geheimen Hofraths Karl Heun, der die Buchstaben dieses seines Namens zu jener Autorbezeichnung versetzt hatte, den Verleger des Mannes im Mond wegen Täuschung des Publicums in Strafe nahm, so lag hierin noch kein gleichzeitiges moralisches Verdammen, ja, es könnte dabei, ob die Rechtsfrage richtig beurtheilt worden, einem mächtigen Zweifel unterliegen. Aber Das lag darin, daß bei solchen Licenzen die Schranken enge gesteckt seyen und daß selbst nur mit einigem Leichtsinne drüber hinauszuschweifen, leicht die Nemesis hervorrufe.

Es thäte mir leid, wenn sie auch in diesem neusten, hier besprochenen Falle als – Themis sich geltend machte. Auch sehe ich keine Wahrscheinlichkeit dafür, denn Bulwer wird keinen Lärm schlagen, wie der Herr Geheime Hofrath Heun, und die Gerichtsbehörde wird in solcher Sache, gewiß löblich, nicht von Amtswegen procediren. Aber noch leider thäte es mir, wenn die moralische Sünde jener Unternehmung dem deutschen Volke oder der deutschen Schriftsteller- und Buchhändlerschaft von jenseits des Canals her in Aufrechnung käme. Wenn sie nicht drüben erführen, daß die deutsche Journalistik durchaus gegen solche Unternehmung sey. Wenn sie nicht diese Sache als eine durchaus isolirte Erscheinung betrachteten. Wenn sie glaubten, wir billigten (um auch diese Seite einen Augenblick zu beleuchten), daß ein deutscher Schriftsteller, der Schöpfungskraft genug hat, auf eigenen Bahnen zu wandeln, und dem schon längere Zeit nicht mehr verwehrt ist, mit seinem vollen Namen vor das Publicum hinzutreten, so unpatriotisch sey, die Maske des englischen Schriftstellers weniger zu leihen, als sich vom Nagel herabzuhängen, und den englischen Schriftsteller vor dem deutschen Publicum zu agiren. Oder – wäre es ihm noch verwehrt – warum nicht pseudonym schreiben, oder anonym, wie jener spanische Lustspieldichter – es war Lope de Vega – nicht aus Zwang, sondern aus heiterer Willkühr that, um zu prüfen, ob das Publicum auch als neu auftretendem Autor ihm Beifall klatsche?

Wahrhaftig, ich hasse und verachte jedes unbegründete und unbelegte Hepphepp mit seinen Varianten, also auch den „Gottesläugner“, den neulich die Hessische Zeitung (am 3. April) in einer selbstgeschaffenen und eingeschobenen Parenthese Gutzkow nachächzte; eben so bin ich bereit, in dem vorliegenden Falle mehr dem Verleger, als dem Verfasser die Schuld aufzubürden, aber doch bleibt dem Letzteren noch genug davon übrig. Ein Volk, welches wenig öffentlich lebt, muß um so mehr Bedacht auf Wahrung seiner Privattugenden nehmen. Die Schriftsteller aber vergleichen sich hierbei zunächst den Vestalinnen, welchen die Wahrung des heiligen Feuers der Schönheit und des Anständigen anvertraut ist. Wehe diesem Feuer, wenn es in Stalllaternen placirt wird, oder in Talgnäpfchen zu Illuminationen, oder zu Orgien, oder in Buden, worauf geschrieben steht: „Hier ist Bulwer zu verkaufen, ächter, theueracquirirter Bulwer, Stück für Stück zwar nicht 6, aber doch auch nur 15 Xr.!“ –

Einen Punct hätte ich vielleicht noch zu vervollständigen; den des „Verlags der Classiker.“

Der „Verlag der Classiker“ ist Herr Buchhändler Franck der Jüngere, der ehemalige Verleger des Walter Scott, der Briefe eines Verstorbenen, Spindler’s u. s. w. Herr Franck befindet sich zwar auf der würtembergischen Feste Hohenasperg – nun schon vier Jahre etwa! – in Untersuchungshaft wegen angeschuldigter politischer Vergehen, aber Dieses hindert ihn nicht, von Neuem literarische „Riesenspeculationen“ zu machen, wie die Herausgabe des Don Quixote mit den herrlichen Holzschnitten von Johannot, der 1001 Nacht u. s. w. Als Herr Franck vor etwa 6 oder 7 Jahren von Stuttgart nach München zog, hatte er seine Verlagshandlung an Herrn Hallberger verkauft, mit der Verpflichtung, nie wieder in Stuttgart ein Verlagsgeschäft zu errichten. Im Uebertretungsfalle (der nun eingetreten ist) sollte er eine Conventionalstrafe von 20,000 Fl. zahlen. Herr Franck hat sich aber – immer vom Asperg aus – mit Herrn Hallberger abgefunden, indem er demselben 5000 Fl.baar berichtigte und ihm weitere 4000 Fl. für den Fall des Erfolgs seiner angekündigten Unternehmungen zusicherte. Das ist also der „Verlag der Classiker.“

Nach der oben ertheilten Versicherung, Herr Gutzkow sey der Verfasser der „Zeitgenossen“, ist überflüssig geworden, aus Stil, Art und Tendenz derselben nachzuzeigen: erstens, daß Bulwer nicht, wohl aber, zweitens, daß Gutzkow ihr Verfasser sey. Bloß in Bezug auf die Frage: Ob Herr Gutzkow glücklich als Nachahmer gewesen sey? hätte jene Erörterung noch Interesse. Diese Frage gehört aber mehr in eine Kritik der „Zeitgenossen“, welche Kritik außerhalb dem Plane dieses Aufsatzes liegt.

5.2.10. Anon., 27. Mai 1837#

▄ [Anon.:] Bulwer und Pseudobulwer. In: Phönix. Frankfurt/M. Nr. 123, 27. Mai 1837, S. 490-491.▀ (Rasch 14/14.37.05.27)

 

5.2.11. Wilhelm Wagner, 2. Juni 1837#

▄ [Wilhelm] W[agner]: Literatur. In: Didaskalia. Frankfurt/M. Nr. 150, 2. Juni 1837, [S. 4].▀ (Rasch 14/14.37.06.02)

5.2.12. Der Spiegel, 10. Juni 1837#

7.: Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. Erste bis vierte Lieferung. Stuttgart, Verlag der Klassiker, 1837. (Preis jeder Lieferung [recte: jeder Doppellieferung] 30 Kr.). In: Der Spiegel. Zeitschrift für literarische Unterhaltung und Kritik. Stuttgart. Nr. 46, 10. Juni 1837, S. 181-184; Nr. 47, 14. Juni 1837, S. 185-187. (Rasch 14/14.37.06.10N)

Eine dem Titel an die Seite gesetzte Notiz der Verlagsbuchhandlung versichert, daß „die hohe Vortrefflichkeit dieses Werkes in kurzer Zeit von ganz Europa anerkannt seyn“ werde (Posaunenstoß), und daß, vermöge einer besondern Uebereinkunft des geistvollen Dichters mit der deutschen Verlagshandlung, keine andere Buchhandlung in Deutschland dieses europäische Werk ebenfalls herausgeben könne, „ohne dem wohlerworbenen Verlagsrechte der Ersteren zu nahe zu treten.“ Es scheint, die „deutsche Verlagshandlung“ wollte durch diese Notiz eine Art von Andeutung geben, daß der Titel eine blose Mystifikation und die angebliche Uebersetzung eine Originalschrift sey: sie hätte es nicht nöthig gehabt. Das erste, flüchtige Durchblättern dieser „vier Lieferungen“, welche eigentlich aus zwei Heftchen bestehen, ist hinreichend, um auch den minder Kundigen zu überzeugen, daß die „Zeitgenossen“ weder aus E. L.Bulwers Feder geflossen, noch überhaupt englischen Ursprungs sind. Ein untrügliches Kennzeichen des deutschen Michels ist bekanntlich, daß er es für zierlich hält, seine „gemeine“ Muttersprache mit vornehmen ausländischen Lappen zu verbrämen: die „Zeitgenossen“ haben sich ein solches Ursprungszeugniß ausgestellt. Der nonsens, das exterieur, die „amoureuse“ Liebe, die „reverbère der Melancholie“, und ähnliche Dinge, welchen man in dem Schriftchen begegnet, könnten ganz wohl aus dem Französischen, aber sie können nicht aus dem Englischen übersetzt seyn, da selbst unsere schlechtesten Uebersetzer nicht eine dritte Sprache dabei einzumischen pflegen, sondern ganz einfach Das, was sie nicht wiederzugeben verstehn, in der Ursprache stehn lassen. Mit Masters, Gentlemen, Lords etc. ist zwar der Verf. nicht sparsam gewesen, allein damit gibt man einem Buche noch keine englische Färbung, und das wohlfeile Auskunftsmittel, von Zeit zu Zeit eine „Anmerkung des Uebersetzers“ beizugeben, oder, wo von speziellen deutschen Zuständen die Rede ist, einen „deutschen Freund“, einen „Gentleman“ vom Kontinente, redend einzuführen, vermag den Hauptmangel einer Mystifikation, durch welche Niemand mystifizirt wird, nicht zu übertünchen. Was den Styl betrifft, so hat der Verf., wie es scheint, die Schreibart Bulwers in „England und die Engländer“ vor Augen gehabt, nämlich so, wie sich dieselbe in deutschen Uebersetzungen auszunehmen pflegt; aber mit der Nachahmung hat es nicht glücken wollen. Der Pseudo-Bulwer schreibt ungleich, einmal affektirt schwerfällig, und dann wieder mit jener schwatzenden, hin und her gaukelnden Leichtfertigkeit, welche der sich als „modern“ bezeichnenden Schule angehört: der ächte Bulwer leidet an ersterem Fehler wohl öfter, an letzterem aber niemals. Ueberhaupt tritt einem aus diesen „Zeitgenossen“ eine von E. Bulwer durchaus verschiedene Individualität entgegen. Die Liebhaberei für „kryptogamische“ Anspielungen z. B., welche der Verf. an den Tag legt – man vergleiche S. 6, 44, 95, 175, 185, 191, 192 etc. [sämtlich Bezüge auf Geschlechtliches] – ist dem ächten Bulwer fremde. Die Aeußerung, daß ein Freund ihn des Jahres zwölfmal „bei sich essen lasse“ (S. 121), würde ein englischer „Gentleman“ von Bulwers Charakter und gesellschaftlicher Stellung niemals in den Mund genommen haben. S. 236 schwadronirt der Pseudo-Bulwer über Naturwissenschaften, S. 24 über die „Kontinentalerziehung“, S. 288 beleuchtet er die „Büreaukratie“: das Alles hätte der ächte Bulwer wohl bleiben lassen, 1) weil er sich nicht auf das Gebiet der Naturwissenschaft wagen würde, ohne eine gewisse Berechtigung dazu durch gründliche Kenntnisse aufweisen zu können; 2) weil er von dem „Kontinente“ blos Frankreich, Italien, und einen Theil der Schweiz gesehen, das zuerst in Betracht kommende Erziehungs- und Schulbildungs-Land des Kontinentes aber, Deutschland, mit Ausnahme seiner kurzen Rheinreise nicht besucht hat; 3) weil die „Büreaukratie“ ihm zu ferne liegt, als daß er sich zu Betrachtungen darüber „gedrungen“ fühlen könnte. Wenn man eine Mystifikation auch nur halb-[182]wegs durchzuführen gedenkt, so sollte man derselben wenigstens einen Anstrich zu geben wissen: unser Pseudo-Bulwer aber fällt aus einem Mißgriff in den andern. S. 17 läßt er den ächten Bulwer erzählen, wie es ihm bei dem ersten Besuche der „Gemeindeschule“ ergangen, während Derselbe niemals eine solche besucht hat; S. 160 ist von einem sinking-found die Rede (das englische Wort ist sinking-fond); die Vorrede endlich, mit E. L. B. unterzeichnet, ist aus „Herfortstreat“, vom Oktober 1836, datirt: E. L. Bulwer aber wohnt in Hertfordstreet (Maifair-Quartier, 36). [→ Erl. zu 15,26] Ja, es scheint fast, daß der Pseudo-Bulwer selbst über die Person seines Vorbildes nicht ganz mit sich im Reinen war, indem wiederholte Beziehungen auf französische Zustände, als etwas dem „Uebersetzten“ Geläufiges, vermuthen lassen, er habe Edward L. Bulwer, der sich niemals im engern Sinne mit jenen Zuständen beschäftigte, mit seinem Bruder Henry L. Bulwer verwechselt, auf welchen die bezeichnete Voraussetzung passen würde.

[Der Rest dieses Beitrags besteht aus einer umfassenden Besprechung der ersten vier Lieferungen der Zeitgenossen und ist unter 5.4.2. zu finden.]

 5.2.13. Neue Speyerer Zeitung, 6. August 1837#

[Anon.:] Literarische Notizen. In: Neue Speyerer Zeitung. Nr. 156, 6. August 1837, [S. 3]. (Rasch 14/14.37.08.06N)

Viel Spectakel macht ein Stuttgarter Buchhändler in einer Anzahl öffentlicher Anzeigen mit einer Schrift unter dem Titel: „Die Zeitgenossen, von Bulwer,“ (angeblich aus dem Englischen übersetzt.) Der Inhalt des Buches gibt die moralische Ueberzeugung, daß Bulwer nicht Verfasser desselben ist, ja, daß dasselbe gar nicht aus dem Englischen übersetzt wurde, indem die fremden Wörter, mit welchen man die Schrift hie und da ausgestattet findet, nicht englischen Ursprungs, sondern solche halb französische Phrasen sind, wie sie bei vornehm thun wollenden deutschen Scribenten vorkommen. Von einer „reverbère der Melancholie,“ von einer „amoureusen Liebe“ spricht kein Brite; das ist deutsches Fabrikat! – Man hat davon geredet, Gutzkow sei Verfasser des Buches. Wir wollen vorerst auch dies nicht glauben, weil wir dabei voraussetzen müßten, daß sich dessen Geschmack über alle Maßen verschlechtert habe. So findet sich ein Karrikaturbild des bekannten Hrn. von Drais (des Erfinders des nach seinem Namen – Draisine – benannten Laufbocks) darin, das doch viel zu sehr in’s Gemeine, sogar ins Pasquillartige verfällt, als daß man es als einen Ausfluß der Gutzkow’schen Feder betrachten dürfte.

5.2.14. Frankfurter Konversationsblatt, 10. August 1837#

▄[Anon.:] Tabletten. In: Frankfurter Konversationsblatt. Nr. 220, 10. August 1837, [S. 2].▀ (Rasch 14/14.37.08.10)

5.2.15. Mitternachtzeitung für gebildete Stände, 28. August 1837#

[Anon.:] Die Zeitgenossen. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. Stuttgart, Verlag der Klassiker. 5. u. 6. Lieferung. 1837. In: Mitternachtzeitung für gebildete Stände. Braunschweig. Nr. 137, 28. August 1837, S. 674-675. (Rasch 14/14.37.08.28)

Mit dieser Doppellieferung ist der erste Band eines Werkes geschlossen, das sein Dasein einer buchhändlerischen Spekulation verdankt. Gutzkow’s ausgebreitetes Wissen, sein scharfer kritischer Geist und seine, überall durch-[675]klingende Ahnung jener Metamorphosen, denen unsere gesammten sociellen Verhältnisse sich doch mit immer größern Zugeständnissen fügen werden – machen die „Zeitgenossen“ zu einer so beachtenswerthen Erscheinung, daß Niemand, dem an der Kunde des Geistes unserer Tage liegt, sie übergehen darf. – Der Artikel über die Erziehung macht den Schluß dieses Bandes.

5.2.16. Frankfurter Konversationsblatt, 14. September 1837#

[Anon.:] Tabletten. In: Frankfurter Konversationsblatt. Nr. 254, 14. September 1837, [S. 4]. (Rasch 14/14.37.09.14N)

In dem neuen Hefte der Pseudo-Bulwer’schen Zeitgenossen S. 135 und 136 werden mehrere angeblich Oxfordsche Professoren charakterisiert; da dieses Oxford aber Berlin, und die Professoren Schleiermacher, Marheinecke, Hengstenberg und Neander sind, so wird die Vermuthung, daß ein Deutscher, und zwar Gutzkow, der Verfasser dieser Schrift sey, zur Gewißheit. Auf Berlin scheint er vorzüglich sein Augenmerk zu richten, namentlich wird und indirekt das politische Wochenblatt und dessen Politik mit vielem Geiste angegriffen.

[Gutzkows Replik: 5.3.5.]

5.2.17. Zeitung für die elegante Welt, 28. Oktober 1837#

[Anon.:] Notizen. [Bulwer’s Zeitgenossen.] In: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig. Nr. 211, 28. Oktober 1837, S. 844. (Rasch 14/14.37.10.28N)

Während Gutzkow’s Zeitgenossen, die er mit Eduard Lytton Bulwer’s Erlaubniß unter dessen Namen in Deutschland circuliren ließ, sich einer großen Theilnahme erfreuen, arbeitet der Bruder des gedachten Romandichters, der durch sein „Frankreich und die Franzosen“ bekannte Henry Lytton Bulwer an einem Werke, das unter dem Titel: Bildnisse der Zeitgenossen, Portraits of his Contemporaries, diesen Winter erscheinen wird.

 5.2.18. Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung, 28. Oktober 1837#

[Anon.:] Berlin, 23. Oct. In: Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung. Nr. 297, 28. Oktober 1837, Beilage. Anm.: Aus der „Hannöverschen Zeitung“. (Rasch 9/2.37.10.28)

Carl Gutzkow befindet sich seit einigen Tagen hier in seiner Vaterstadt. Wie es heißt, will er seinen Wohnsitz von Frankfurt a. M. nach Hamburg verlegen und dort auch den „Telegraphen“ fortsetzen, den er bisher gemeinschaftlich mit Dr. Beurmann in Frankfurt herausgegeben hat. Hier bekennt er sich übrigens auch ganz unverholen als den Verfasser der „Zeitgenossen,“ von denen er eine zweite gesichtete Auflage vorbereitet. (Hannöv. Ztg.)

 5.2.19. Der Bayerische Eilbote, 7. November 1837#

[Anon.:] Telegraph aus dem Deutsch- und Auslande. In: Der Bayerische Eilbote. München. Nr. 133, 7. November 1837, S. 543. (Rasch 14/14.37.11.07N)

C. Gutzkow, der wirklich in Berlin ist, bekennt sich dort ganz offen als den Verfasser der Zeitgenossen, die eine gewisse Buchhandlung als ein Machwerk des bekannten Bulwer ausschrie, um sie so wahrscheinlich besser an den Mann zu bringen. Ob wohl Bulwer das für eine Injurie ansehen würde oder nicht, wenn er in Deutschland wohnte!

 5.3. Erklärungen Gutzkows#
5.3.1. Karl Gutzkow, 24. März 1837#

[Karl Gutzkow:] E. L. Bulwer’s Zeitgenossen. In Deutschland früher als in England erscheinend! In: Frankfurter Telegraph. Nr. 36, [24.] März 1837, [S. 1-2]. (Rasch 3.37.03.24)

[1] Von Bulwers Werken existiren drei Ausgaben in deutscher Sprache, die Aachner, die Stuttgarter, die Zwickauer. Man kann wohl für gewiß annehmen, daß die Zahl der Interessenten an diesen Ausgaben sich auf 12000 beläuft. Man denke sich ein neu erscheinendes Buch des beliebten Englischen Novellisten. Im Nu sind eine Menge Federn in Bewegung, um es zu übersetzen. Der Eine will früher auf dem Markte sein als der Andere. Der, welcher am schnellsten einzutreffen hofft, kommt nicht selten am verspätetsten. Unter diesen Umständen war es von einem süddeutschen Buchhändler in der That ein glücklicher Gedanke, sich an Bulwer selbst wegen eines neuen Werkes aus seiner Feder zu wenden. Bulwer sagt zu, die gewiß außerordentlichen Bedingungen werden abgeschlossen und nun erscheinen Bulwer’s Zeitgenossen nur bei einem rechtmäßigen Verleger in Deutschland. Alle übrigen Taschenausgaben der Bulwer’schen Werke dürfen dies neue nicht aufnehmen. Wer seine Sammlung nicht incomplett haben will, muß sich das neue Werk von jener Buchhandlung nehmen, die allein im Stande ist, über das englische Manuscript des Werkes fünf Jahre lang zu gebieten.

Wir wollen ein Urtheil über die neue Schrift Sir Eduards solange zurückhalten, bis wenigstens der erste Band derselben vollständig erschienen. Aus den soeben uns zugekommenen beiden ersten Lieferungen entnehmen wir folgende Probe:

[Es folgt unter der Überschrift Das moderne Hagestolziat und Lord Bubbleton ein Abdruck aus dem Kapitel Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts von Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe bis Er wird so lange wählen, bis sich ihm keine Auswahl mehr darbieten wird (GWB III, Bd. 3, S. 40-44).]

5.3.2. Karl Gutzkow, 30. April 1837#

Karl Gutzkow an Heinrich Brockhaus, Frankfurt/M., 30. April 1837

[...] Inzwischen steht in der neuesten No. der Bl. f. l. U. ein Artikel [5.1.2., Nr. 1], der mich so im Kot herumzerrt, als gehört’ ich in die Kategorie der miserabelsten Büchermacher, ich, der ich kaum von einem Ihrer Mitarbeiter ein Talent auf der Stufe zum Genie genannt war. Alle Welt will mir die Bulwerschen Zeitgenossen zuschreiben. Ich mag noch nicht öffentlich dagegen auftreten, da mir die ewigen persönlichen Verwahrungen, Erklärungen usw. verhaßt geworden sind. Ich will einstweilen dieser Konjektur des Publikums Stillschweigen entgegenstellen u. es dem Buchhändler überlassen, wem er eine Schrift, die ohne Zweifel Mystifikation ist, zuletzt vindizieren möge. Ich sage nur dies: Könnte mir wohl ein Billigdenkender einen Vorwurf daraus machen, wenn ich hinfort nur noch pseudonym aufträte? Ist meine Autorschaft nicht an so unübersteigliche Hindernisse geknüpft, daß ich auf Mittel sinnen müßte, um ihnen zu entgehen u. mir die Möglichkeit, auf die Mitwelt zu wirken, auf irgendeine den Bulwerschen Zeitgenossen ähnliche Weise zu erhalten? Soll ich mich der preußischen Zensur unterwerfen oder mich eines Auskunftsmittels bedienen, das so nahe zur Hand liegt u. welches niemand im Publikum, der billig denkt, mir verargen dürfte? Allein, ich spreche nur von dem Fall, daß ich jene Schrift herausgäbe, von einem Falle, den einer Ihrer Mitarbeiter für so entschieden angenommen hat, daß er die Schrift ganz darnach beurteilt hat. Ich spreche nicht von seinem Irrtum oder will suchen, ihn zu widerlegen. Das, was mich treibt, Ihnen zu schreiben, ist nur die bodenlos schlechte Grundansicht, die jener Rezensent von mir a priori zu haben scheint. Es ist eine Kritik, wie sie etwa nur ein Herr Liesching in Stuttgart oder einer aus dessen Kreise könnte geschrieben haben. Ich bin ein Mann ohne allen Kredit, ich habe mir nicht erst durch das Auskunftsmittel, sondern längst die Achtung der Edlen entzogen. Der Vf. des Aufsatzes sucht geflissentlich aus dem Broschürchen, dessen erste Partien matt geschrieben sind, gleichsam als wenn sich der Autor erst hätte in die Sache hineindenken müssen, Stellen auf, die mir jenen von Menzel gegebenen Ruf der Unsittlichkeit erhalten sollen; kurz nicht das Urteil über das Buch (was geht es mich an!) schmerzt mich, sondern die Art, wie es mir untergeschoben wird, der erbärmliche Maßstab, der hier wieder an meine Bestrebungen gelegt wird, die Grundansicht des Rezensenten, der mich grade auf eine solche Weise anläßt, wie Sie mir gesagt haben, daß ich mich dadurch nicht sollte irr machen lassen. Verurteilen Sie den Gegenstand der fraglichen Kritik; aber wenn der mutmaßliche Urheber desselben ich wäre, wie soll ich nicht irr werden, wenn Sie mich vor einem halben Jahre von einem Rezensenten, der vieles an mir zu tadeln hatte, zum Genie, wenn nicht erklären, doch designieren lassen u. es jetzt von mir heißt: Ein Mensch, der sich bereits um allen Kredit gebracht hat!

Ich überlasse Ihnen, das zu tun, was ich für das Beste in diesem Widerspruche halte, nämlich die betreffende Schrift jemandem zu übergeben, der sie an u. für sich, ohne Rücksicht auf mich beurteilen möge! Was ich selbst nicht lassen konnte, war eine freie Erklärung und Appellation an Ihre Billigkeit u. Ihr Gedächtnis. Sind Ihre Blätter ein republikanisches Institut, wo sich jeder geltend machen darf, oder herrscht darin eine weise u. mäßige Konsequenz, die wenigstens heute nicht liebkost u. morgen mit Füßen von sich stößt?

5.3.3. Notiz im Frankfurter Telegraph, 22. Mai 1837#

[Anon.:] Kleine Chronik. In: Frankfurter Telegraph. Nr. 30, [22.] Mai 1837, S. 239. (Rasch 14/14.37.05.22; hier irrtümlich im „Telegraph für Deutschland. Hamburg“ verzeichnet)

Aus Berlin schreibt man uns: Die Angelegenheit wegen Bulwers Zeitgenossen ist mit Ausnahme des hiesigen unpartheiischen und gerechten Magazins für die Literatur des Auslandes [5.1., Nr. 1 und Nr. 2] gehässig behandelt worden. Alle ...... alten Gegner haben jetzt wieder ein freies Feld für ihre ohnmächtigen Redensarten. Billigdenkende werden sich die wahren Ursachen ........... bald ohne weitere Citate erklären können und nur nach dem objektiven Werthe des Buches fragen. Hîc Rhodus, hîc salta!

5.3.4. Karl Gutzkow, 12. August 1837#

[Karl Gutzkow:] Anti-Doktrinäres. In: Beurmann’s Telegraph. Neuste Folge. Nr. 25, [12.] August 1837, S. 193-196. (Rasch 3.37.08.12)

[193] So eben ist die 7. und 8. Lieferung der Bulwer’schen Zeitgenossen ausgegeben worden. Es gibt Leute, die sich bei jedem neuen Hefte dieses Buches über seinen vermeintlichen Verfasser ärgern, und über das Titelblatt und den Umschlag gar nicht hinaus kommen können. [...] Das Buch mag geschrieben haben wer es will; der Mann muß seine Gründe dafür gehabt haben.

Die 7. und 8. Lieferung setzt das Capitel über die Sitten der Zeitgenossen fort, spricht über die Sitten der Alten, um die der Neuen desto lebhafter contrastiren zu machen, sucht ein höchstes modernes Sittengesetz auf, vergleicht die Sitten im Gegensatz zu den Gesetzen und schildert in kurzen Zügen unsre gesellschaftlichen Gewohnheiten. Ueber die Ehe werden viele Feinde des Verfassers Bemerkungen finden, die ihnen unwillkommen, weil vernünftig, sind [...]. Ueber Sitten sprechend, durfte der Verfasser auch die Sittenlosigkeit und die Verbrechen der Zeit nicht vergessen. [...] eine Uebergehung dieser Partie [würde] sein Buch [...] unvollständig gemacht haben. Man hat dem Verfasser den boshaften Vorwurf gemacht, als gefiel’ er sich in Discussionen dieser Art! Bettinadruckser und Anempfindler kommen nicht in die Lage, über Fragen dieser Art, heilige und ernste Fragen, verhandeln zu müssen. Perfid war auch die Entgegnung, als [194] würde „der zarte, feine Bulwer!“ niemals solche verfängliche Objekte besprochen haben [→ 5.4., ], wie öfters sein Doppelgänger. Man lese England und die Engländer Bd. II. S. 156 [d. i. die Aachener Ausgabe von „England and the English“ in der Übersetzung von Louis Lax, → 3.2. ] und folg. und sei gerecht, um einzugestehen, ob man in einem Capitel über die Sitten die Prostitution umgehen könne. Bulwer am angeführten Orte hat es nicht gekonnt.

Die vorliegenden Lieferungen der Zeitgenossen geben ferner Untersuchungen über die Verbesserung der Verbrecher und die Abschaffung der Todesstrafe. Mit criminalstatistischen Bemerkungen schließt das wichtige Capitel. Ueber den neuen Abschnitt: Religion und Christenthum erst dann, wenn die Fortsetzung desselben erschienen sein wird!

Um unsern Auszug verständlich zu machen, so bemerken wir dies: Der Verfasser polemisirt gegen einen Doktrinär, der die Verbesserung der Gefängnisse eine lächerliche Grille der Philanthropie nennt und fährt dann mit einer Invektive gegen den Geist einer Schule, zu der in Deutschland Steffens und Aehnliche gehören und die er die eigentlich frivole nennt, fort:

[Es folgt, fortgesetzt in Nr. 26 vom 26. August, S. 206-207, ein Auszug aus dem Kapitel Sitte und Sitten, von Bis hieher der Sophist bis Traurig genug, daß die Gesellschaft erst dann den Reformen zugänglich ist, wenn ihre Mitglieder bereits den Gesetzen verfallen sind (GWB III, Bd. 3, S. 407-410).]

5.3.5. Karl Gutzkow, 15. September 1837#

Dr. Gutzkow, Frankfurt a. M., den 14 September 1837: Erklärung. In: Frankfurter Konversationsblatt. Nr. 255, 15. September 1837, [S. 4]. (Rasch 3.37.09.15)

Nro 254 des Konversationsblattes enthält einen Artikel [= 5.2.16.], der mir die Autorschaft der Bulwerschen Zeitgenossen zuschreibt. Was ich auf diese Annahme zu erwidern hätte, würde mich zu weit führen: nur die Bemerkung, das erwähnte Buch wäre ausschließlich gegen Berlin gerichtet, muß ich auf’s Entschiedenste zurückweisen. Eine böswillige anonyme Korrespondentenlarve in der Hannöverschen Zeitung hat geglaubt, durch jene thatsächliche Lüge meiner öffentlichen Stellung vielleicht neue Verlegenheiten zuziehen zu können. Obschon das Konversationsblatt harmlos jene Notiz wieder gibt, so würde sie doch, wenn ich sie ungerügt ließe, für das Zugeständniß einer Tendenz gehalten werden können, die nicht nur im höchsten Grade unbesonnen wäre, sondern mir auch in jeder Beziehung fremd ist.

5.3.6. Karl Gutzkow, Mai 1875#

Karl Gutzkow: Vorwort zu: Säkularbilder. Anfänge und Ziele des Jahrhunderts. In: Gesammelte Werke. Erste Vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Jena: Costenoble, [1873-1876]. Bd. 8 [1875], S. VIII. (Rasch 1.5.8)

Ich habe das ganze Werk eines Sechsundzwanzigjährigen noch einmal durchgearbeitet und muß mit aller Offenheit gestehen, daß nur die politischen Verfolgungen und – die gleichzeitigen überwiegend abgeschmackten lyrischen Tendenzen unserer damaligen Literatur Schuld daran waren, daß ein so vielseitiges, theils in heitrer Laune, theils, wo die Sache es mit sich brachte, mit schwungvollem Ernst geschriebenes Buch nicht mehr beachtet wurde. Als sich späterhin der Sinn für philosophische und weniger flüchtige Literatur wieder einfand, mußte man leider, um gefördert zu werden, wieder der philosophischen Schule des Tages huldigen. Ich arbeitete mich aber gerade aus Hegel heraus, als man uns die Zumuthung machte, uns erst recht wieder in ihn hineinzuarbeiten.

5.3.7. Rückblicke auf mein Leben, 1875#

Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Hg. von Peter Hasubek. Münster: Oktober Verlag, 2006 (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII, Bd. 2). S. 191-192.

Noch jetzt, ich bekenne es offen, lese ich diese Schrift in den meisten Parthieen mit Befriedigung. Wäre sie in englischer Sprache erschienen und wirklich eine Uebersetzung gewesen, man hätte ihr eine Stellung gegeben. Was fehlte ihr? Die kurze, schneidende, apodiktische Sprache, die immer mehr im Styl bei uns Mode wurde. Die Hallischen Jahrbücher brachten zuerst diese Sicherheit der Behauptung auf. Ihnen folgte die soziale Publizistik von Düsseldorf und Köln.

5.4. Rezensionen und Abhandlungen #
5.4.1. Gustav Pfizer, 30. April 1837#

[Gustav Pfizer:] Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. Erste und zweite Lieferung. Stuttgart, Verlag der Classiker. 1837. 16. 8 Gr., in: Blätter für literarische Unterhaltung 120, 30. April 1837, S. 485-486. (Rasch 14/14.37.04.30)

[485] Wer zuversichtlich in einen schönaussehenden Apfel beißt und ihn bitter und wurmstichig findet, kann nicht häßlicher getäuscht sein, als wer mit der Hoffnung eines schönen Genusses und mannichfacher Anregung und Belehrung an die Lecture der obgenannten Schrift geht, die er bald mit Ekel und Verdruß wegwerfen wird. Der Zweck und Inhalt derselben ist in der Vorrede, nach einigen vagen und nichtssagenden Aphorismen über Poesie und Politik, dahin ausgesprochen:

Ich sann über eine Schrift, die zwar den Zweck, für den sie geschrieben ist, niemals selbst wird erfüllen können, die aber doch Viele, die für ihn arbeiten könnten, darauf aufmerksam machen wollte. (?) Ich kann nicht auf die Leute wirken, die ich liebe, das Volk aber auf die, die mit ihm umgehen. Meine Schrift sollte Alles umfassen, was den Geist unsers Jahrhunderts begreift, aber sie sollte vom Individuum, nicht von den Tendenzen anfangen. Ich hätte gern zuerst ein Kind unserer Zeit geschildert*), wie es geboren und erzogen wird .... Jetzt folgen Religion und Staat, Kunst und Literatur in ihrer schwebenden, vom Moment tyrannisirten Lage ... Auch auf große Charaktere machte ich Jagd; allein die Sechzehnender sind auf undern ausgeschossenen Revieren selten .... Diese Erfahrung bestimmte mich, meinem Buche eine gewisse Ausdehnung in die Zukunft zu geben, es als geschlossenen Versuch in drei Bänden zu beginnen und es beinah als Journal enden zu lassen.

Wer hat nicht nach diesen lichtvollen Bezeichnungen des Plans von diesem Buche eine vollkommen klare Anschauung des darin zu Erwartenden?

Die Capitel des ersten Heftchens sind: „Der Mensch des 19. Jahrhunderts“; „Das Jahrhundert“; „Die neue Welt“. Was läßt sich nicht unter diese Rubriken hineinschieben! In der That ist auch Alles durcheinander wie Kraut und Rüben; politisch- philosophisch- ästhetisch- nationalökonomisch-philanthropisch seinsollende Sätze wimmeln wie ein Ameisenhaufen durcheinander, und wir möchten uns nicht die Mühe nehmen, dem sich vielleicht hindurchziehenden Faden nachzuspüren. Wir geben lieber ein paar Pröbchen:

Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Principien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unserer Zeit über ihre angeborenen Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft für immer ihnen in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam als activer Freiheit bestand.

Eine Prämie dürfte man Dem aussetzen, der hierin Sinn und Zusammenhang entdeckt!

Welches Europa triumphirte bei Leipzig, bei Waterloo? Das Europa vor oder nach der französischen Revolution? War Napoleon nur eine Person, d. h. der Ehrgeiz? War er eine Nation, d. h. der Übermuth? War er ein Begriff, d. h. war er die Revolution?

Also Person = Ehrgeiz; Nation = Übermuth; Begriff = Revolution! eine tiefsinnige Logik. Weiter:

Eine vage Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtsein aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat ...

Die Ehen unsers Jahrhunderts sind weit mehr compromittirt als die der vergangenen.

Die Leichtigkeit, mit welcher der Amerikaner die subtilsten Begriffe auf (?) Geld anschlagen kann, ist unglaublich. Selbst die Imponderabilien, als da sind: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, selbst die Metaphysik hat für ihn ein Gewicht.

Der Idealismus der Börse beruht auf andern Grundlagen als der des Handels u. s. w.

Die Kartoffel hat sich zu diesem Verderben (in den Fabrikstädten) hinzugesellt. Denn indem sie das Einzige ist, was diese Menschen erhält, ist sie auch Dasjenige, was sie tödtet. Man weiß, wie viel Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthussche Schreckbild vermehrend einwirken (!!). Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel werden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Skropheln winseln sie sich heraus, in hundert Übel, die die Folge derselben sind, hinein.

Sed ohe -

Wie? E. L. Bulwer, der geschmackvolle, feingebildete, klare Bulwer, bei dem man gewohnt ist, einen Schatz von Belehrungen und anregenden Ansichten zu finden, wäre plötzlich so heruntergekommen, daß er mit Wohlbehagen in Ekelhaftigkeiten herumwühlte? Er hätte seinen schönen und geglätteten Styl mit einem solchen Unstyl, einem solchen zwischen Trivialität und Abstraction auf- und abtaumelnden Jargon vertauscht? Er wäre einer so herzlosen Witzelei, als sie in dieser Scharteke uns anwidert, an-[486]heimgefallen? Er ließe sich solche Ignoranzen zu Schulden kommen, daß er von „hündisch-cynischer Anstrengung“ redete? Er sollte solchen bombastisch-sentimentalen Unsinn niederschreiben wie: „Herr von Malesherbes ahnte unter seinen Rosen nicht, daß einst aus seinem Blute die Rosen der Freiheit sprießen würden“? Bulwer sollte sich so elende Frivolitäten erlauben wie in der Phrase von den Imponderabilien? Er sollte seines wohlverdienten Ruhmes so überdrüßig sein, um ihn in diese Pfütze zu werfen? Nimmermehr!

Ich kann nicht blos an England denken, sondern muß die Gefälligkeit des Continents, meine Schriften zu übersetzen, dadurch ehren, daß ich sie auch für ihn einrichte. (S. x der Vorrede.)

Sollte Bulwer diese geschrieben haben? Sollte er so sehr vergessen und vergessen machen können, daß er ein Engländer ist? Was ist an der ganzen Scharteke Englisches als der Name „Lord Bubbleton“, ein paar eingestreute Sir und einige aus den Zeitungen zur Noth zu erhaschende Notizen und Anspielungen? E. L. Bulwer ist nicht der Verfasser der Zeitgenossen“, und der „Verlag der Classiker“ ist in seinem Rechte, wenn er das ausschließliche Verlagsrecht auf dieses Opus anspricht. Wenn wir aber behaupten, die Schrift sei nicht englisch, so wollen wir ebenso wenig sagen: sie sei deutsch. Das sei ferne!

Wir sind begierig, wie viele dupes die Scharteke machen wird. [...] Wenn wir uns nicht sehr irren, so erkennen wir in der Manier des Buchs die Art eines Autors, dessen Namen wenig Credit mehr hat, und der, wenn unsere Muthmaßung Grund hat, einen neuen Beweis seiner Delicatesse und Gewissenhaftigkeit gibt, indem er den Namen eines ehrenhaften Schriftstellers misbraucht, zugleich aber auch seinen Muth bewährt, indem er sich dem Risico einer wahrscheinlich nicht sehr schmeichelhaften Desavouirung aussetzt.

5.4.2. Der Spiegel, 10. Juni 1837#

7.: Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. Erste bis vierte Lieferung. Stuttgart, Verlag der Klassiker, 1837. (Preis jeder Lieferung [recte: jeder Doppellieferung] 30 Kr.). In: Der Spiegel. Zeitschrift für literarische Unterhaltung und Kritik. Stuttgart. Nr. 46, 10. Juni 1837, S. 181-184; Nr. 47, 14. Juni 1837, S. 185-187. (Rasch 14/14.37.06.10N)

[Der Anfang dieses Beitrags befasst sich mit der Mystifikation und ist unter 5.2.12. zu finden.] 

[182] [...] Was der Verf. der „Zeitgenossen“ mit einer Mystifikation, an deren Erfolg er doch selbst kaum glauben konnte, eigentlich gewollt habe, ist nicht abzusehen. Eben so wenig geht aus den vorliegenden 2 Heftchen hervor, was er so eigentlich mit der Schrift überhaupt will. Obwohl durch Untertitel in Fachwerke getheilt – der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts; das Jahrhundert; die neue Welt; das Moderne; die Existenz; der Stein der Weisen; das Leben im Staate – wickelt sich, ohne weitern Zusammenhang, als daß es eben hintereinander weg geschrieben ist, die Gedankenfolge des Ganzen ab, wie jene endlosen Bänder, welche die Taschenspieler aus dem Munde haspeln. Einige Charakterschilderungen, welche satyrisch seyn sollen, Betrachtungen über die Fortschritte der Menschheit und dann wieder die Industrie eines Macklers, der vom Kosten der Handelsartikel in Kaviar oder Austern und der Weinproben bei Versteigerungen lebt, hie und da ein Stück Politik, dann und wann eine Zweideutigkeit, kleine Exkurse über die geographischen Entdeckungen, über Gewerbe und Maschinenwesen, und dazwischen hinein wieder irgend eine lang ausgesponnene Konversation de omnibus et quibusdam aliis [d. h. von allen und einigen anderen Dingen] – in dieser Weise drängt sich ein kunterbuntes Konglomerat, ohne Anspruch auf organische Gliederung, vor dem gelangweilten Leser vorüber. Es ist eine Art von Völkerwanderung halbfertiger Feuilletonsartikel, von denen [...] keiner den andern recht zum Wort kommen läßt; es ist eine Art von Guckkasten, wobei ein Zug, ein Ruck, urplötzlich ein anderes Bild auf den Schauplatz bringt [...].

Der Verf. selbst sagt über die Tendenz seines „Werkes“ in der Vorrede:

[Ich sann über eine Schrift bis in eine Monatsschrift verwandeln (GWB III, Bd. 3, S. 13, Zl. 34 – S. 14, Zl. 34).]

Desgleichen sagt er über seine Richtung im Ganzen und über seine „Schreibart“, welche er mit dem Namen des „Modernen“ bezeichnet, in einem spätern Abschnitte Folgendes:

[Das Moderne steht über dem Parteigeiste bis kein dauernder Typus des gegenwärtigen Zeitalters (GWB III, Bd. 3, S. 136, Zl. 10 – S. 139, Zl. 15).]

[183] [...] Ref. muß gestehen, daß ihm in diesen Entwicklungen, einige wenige Lichtpunkte abgerechnet, eine mit sich selbst kokettirende Konfusion zu liegen scheint, welche den Repräsentanten derselben nicht eben ein „Dezennium“ von Geltung verspricht. Daß der Verf. selbst „jedenfalls“ keinen „dauernden Typus des gegenwärtigen Zeitalters“ darin zu sehen geneigt ist, zeugt von einem richtigern Blick in die Verhältnisse, als man nach dem Vorhergegangenen hätte vermuthen sollen. Allein der Pseudo-Bulwer gefällt sich einmal in dem Fratzenhaften, Karrikirten. „Es liegt in der Luft unseres Jahrhunderts“ – sagt er – „daß die jungen Leute insgesammt in einem gewissen Alter den Verstand verlieren und sich wie Wahnsinnige gebehrden.“ Das mag hin und wieder zutreffen, aber man muß keinen „Typus des Jahrhunderts“ daraus machen wollen. So schildert er z. B. in dem Abschnitte: „Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts“ den jungen Deutschen als Kandidaten des „Fashionablen“, wie folgt:

[Wien und Berlin geben den Ton an bis beide Wangen bepinselte! (GWB III, Bd. 3, S. 33, Zl. 30 – S. 35, Z. 18).]

[184] Und in dieser Weise geht die Salbaderei weiter. Man glaubt das Echo der stereotypen Bart-Konversationen zu hören, womit etwa das „bemooste Haupt“ auf der Universität den „Fuchs“, oder der Veteran im Regimente den flaumbärtigen Rekruten aufzieht. Aber was sollen dergleichen Trivialitäten in einer Schrift über die Richtung des Zeitalters, in einer Schrift, welche über den Mangel an großen Charakteren und „Sechzehnendern“ klagt?

[185] Das Kapitel vom „Stein der Weisen“ handelt von Erfindungen, von moralischen, physikalischen, mechanischen Entdeckungen etc. Was die „moralischen“ Entdeckungen betrifft, so hat besonders die „moderne“ Gestaltung der Literatur sich darin ausgezeichnet: sie ist es, welche „diese Seefahrten in das Innere der Menschenbrust übernommen“ hat. Die Existenz unseres Geschlechtes hat nämlich, wie der Verf. sagt, „selbst in der Hyperkultur, mit welcher sie wider Willen gesäugt und genährt ist, so viele dunkle Schattenpartien, daß in den Werken eines gediegenen, gefühlvollen und mit scharfen Augen begabten Sittenmahlers der Lesewelt oft ganz neue Regionen unserer Gesellschaft aufgehen.“ Und auf diese anspruchlose Ankündigung folgt sodann die Geschichte von dem Waarenmackler, welcher die ankommenden Schiffe besucht, um als angeblicher Agent von „hundert Firmen“ den Kaviar, die Austern, den Portwein, in Gratisproben zu verkosten, und eine weitere „Seefahrt in das Innere der Menschenbrust“, des Inhalts:

[Bei einzelnen Köpfen bis Die Greife der Tausend und Einen Nacht zu beweisen (GWB III, Bd. 3, S. 196, Zl. 25 – S. 199, Zl. 3); dieser Auszug enthält die satirische Darstellung des Zweiraderfinders von Drais, Herr von D ...).]

[186] [...] man muß wissen, daß dieses Charakterbild ein Porträt seyn soll, dessen Original wirklich in Mannheim lebt und mit dem unveränderten Anfangsbuchstaben seines Namens bezeichnet ist. Allein ob diese Art von Satyre eine moralisch zulässige, ob sie überhaupt noch in das Gebiet der Satyre oder nicht vielmehr in das Gebiet das Pasquills zu rechnen sey, das ist eine andere Frage. E. L. Bulwer wenigstens würde einen solchen Steckbrief nicht geschrieben haben.

Eine ganz eigenthümliche Figur spielt der Pseudo-Bulwer, wo er den Boden der Politik betritt, auf dem er sich absonderlich zu gefallen scheint. „Ich möchte kein Staatsmann seyn“ – sagt er in der Vorrede – „aber immer auf die Politik zurückkommen.“ Und Das thut er denn auch, so oft ihm die vielen andern Dinge, welche sich in diesen „Zeitgenossen“ nebeneinander herumtummeln, Zeit dazu lassen. Er „kommt darauf zurück“, er fällt hinein, wenn auch gerade von einer seiner „kryptogamischen“ Andeutungen hinweg, und wägt die Geschicke und Interessen der Völker mit der hüpfenden Leichtigkeit eines Feuilletonisten. „Man wird mir zugestehn, daß seit dem Sturze Napoleons wenig Glänzendes das Auge geblendet hat; – auf mein Wort, wenig Glänzendes“ etc. Es ist eine wahre Freude, zu sehen, wie spielend sich alle Gegensätze lösen.

[Die beiden Hauptspaltungen, in welche unsere öffentlichen Begriffe gegenwärtig getheilt sind, bis Sie waren zu gutmüthig, es zu thun, und die Bedingung wurde nicht gehalten (GWB III, Bd. 3, S. 78, Zl. 1-25).]

Es liegt eine kindliche Weltanschauung in den ersten Zeilen, welche den Verf. nur etwas zu mädchenhaft läßt für einen Politiker. Wenn man sich auf dem Wiener Kongreß auch nur etwas Weniges verständigt hätte! Daß auch gar Niemand da war, welcher der Versammlung zuvörderst auf die eigentliche Frage hinhalf, nämlich ob Napoleon eine Person, eine Nation, oder ein Begriff gewesen, und als was er so zu sagen besiegt worden! Es ist jammerschade darum, denn in den beiden Hauptspaltungen, welche dorther rühren, haben wir jetzt die Bescherung. [...] Was die damaligen Mißverständnisse betrifft, so waren es bekanntlich keine Irrungen zwischen Ideologen, und um sich zu überzeugen, daß die Mächte recht gut wußten, was sie wollten, braucht man nur nachzusehen, in welcher Weise die Erbschaft Napoleons angetreten und ausgebeutet wurde. Die deutsche Nation ihrerseits – denn diese war es, welche den Sieg entschied und ohne deren heldenmüthigen Aufschwung Rußland nicht über die Elbe gekommen wäre – hatte mit dem Sturze Napoleons erlangt, was sie gewollt hatte, nämlich die Vernichtung der Fremdherrschaft. Allerdings machte sich nach dem Siege eine Spaltung in politische Parteien bemerklich, aber nur nach und nach und in einer Vereinzelung, welche nicht zu imponiren vermochte. Es war die natürliche Folge eines Kampfes, dessen Ziel ein negatives war, dessen [187] Theilnehmer sich in dem gemeinschaftlichen Hasse gegen ausländische Unterdrücker zusammengefunden hatten, und in gesonderte Lager zerfielen, sobald es die positiven Fragen der Zukunft galt. In den Augen des Volkes, des wirklichen Volkes, war der Kampf gegen Napoleon ein Kampf um die Unabhängigkeit, ein Kampf des Deutschen gegen die Oberherrschaft des Franzosen, ein Kampf um nationale Existenz, nicht um dieses oder jenes Prinzip: wie hätte es da „Bedingungen aufsetzen“ oder um seinen Lohn markten sollen? Die Nation zog zu Felde, weil es ihre eigene Sache war, nicht um einer Bedingung willen; ein innerer Drang trieb sie dazu, nicht ein äußerer: sie mußte ihm folgen, und wenn sie zehnmal vorausgewußt hätte, daß man jene sogenannte „Bedingung“ nicht halten würde, und wird in alle Zukunft unter denselben Umständen wieder Dasselbe thun müssen, so lange sie das Selbstgefühl einer Nation in der Brust trägt. [...] Was eine Nation unter solchen Umständen nicht erlangt hat, Das hat sie auch nicht gewollt: man mag ihr Mangel an politischen Bedürfnissen, aber man darf ihr nicht Schwäche oder „Gutmüthigkeit“ vorwerfen.

Man vergleiche Spanien, das der Verf. selbst daneben stellt. Es führte den Kampf gegen Napoleon weder für noch gegen die Revolution, sondern einfach gegen die Fremdherrschaft; die Konstitution, welche ihm seine Führer gaben, war ihm nicht ein Zweck, sondern ein Mittel [...] [Nach dem reaktionären Rückschlag] fanden sich Politiker, welche [...] die früher so hoch gefeierten Spanier sofort kurzweg für Memmen und Schlafmützen [...] erklärten. Mit Unrecht: die Spanier waren Dessen unbeschadet Männer geblieben, nur hatten jene Politiker Bedürfnisse bei ihnen vorausgesetzt, welche das Volk nun einmal nicht hatte. Was hätte da das „Aufsetzen der Bedingungen“ helfen sollen?

Wie der Verf. in dem deutschen und dem spanischen Unabhängigkeitskrieg eine Tendenz sehen kann, „die Revolution an Napoleon rächen“ zu wollen, [...] ist den Thatsachen gegenüber unbegreiflich. Aber welchen politischen Ernst soll man von einem Schriftsteller erwarten, der einem Ausspruche, daß seit dem Sturze Napoleons wenig Glänzendes das Auge geblendet habe, weder auf dem Schlachtfelde, noch in der Kunst und Literatur, den Nachsatz anzuhängen im Stande ist: „es sey denn, daß Lord Crack auf seine Stiefeln blickte und lächelnd auf einen Firniß zeigte“ etc.

Als Probe von der Nachlässigkeit, mit welcher das Ganze hingeworfen ist, wäre schließlich noch zu bemerken, daß der Verf. zum Oeftern und auf störende Weise den Dativ mit dem Akkusativ verwechselt. S. 243 schlägt Etwas Wurzel „in die Philosophie“, S. 45 theilt man sich „im Besitz“, S. 26 flucht Jemand „über ihm“ [im Text der Zeitgenossen nicht nachzuweisen, ML], S. 136 besteht man auf „die“ Schadloshaltung etc. „Geh’ ich im Theater herein und sehe auf die Bühne einen Künstler.“ In der Literatur, welche nicht mit den Eckenstehern zu schaffen hat, sollte so Etwas nicht vorkommen. Mag man es Mikrologie nennen, ein Augenmerk darauf zu haben: allein das Uebel hat in neuerer Zeit so weit um sich gegriffen, daß es Zeit ist, unsere Schriftsteller ein bischen an die Grammatik, an den tyrannischen Formenzwang des Deklinirens und Konjugirens zu erinnern.

5.4.3. A. Rebenstein, 23. Juni 1837#

A. Rebenstein: Das universelle und individuelle Leben verschiedener Zeiten. Betrachtungen über den Inhalt der Bulwerschen „Zeitgenossen“. In: Der Gesellschafter. Berlin. 99. Blatt, 23. Juni 1837, S. 493-494; 100. Blatt, 24. Juni 1837, S. 498-499; 101. Blatt, 26. Juni 1837, S. 501-502; 102. Blatt, 28. Juni 1837, S. 506-507; 103. Blatt, 30. Juni 1837, S. 513-515. (Rasch 14/14.37.06.23)

Endlich wird man doch des Gejohles und des Gejauchzes über die Autorschaft eines angeblich von E. L. Bulwer verfaßten Werkes „die Zeitgenossen“ (Stuttgart, Verlag der Classiker, 1837.) genug haben, in welches so viele Blätter und Blättchen ausbrechen, um einmal auf den Inhalt kommen zu müssen. Was in aller Welt liegt jetzt, wo man der Autorität der Namen so Vieles mit Macht entgegenstellt, daran, ob Hinz oder Kunz der Verf. irgend eines Werkes ist, wenn nur Vernünftiges und Wahres darin liegt? Wahrlich, es ist unbegreiflich, wie es nur den mittelmäßigsten Köpfen möglich ist, so viel Geschrei davon zu machen, daß Bulwer nicht der Verf. des genannten Werkes ist, wenn man, um dieser großen Wahrheit inne zu werden, nur ein einziges Blättchen zu lesen braucht; unbegreiflicher aber bleibt es noch, wie man so stolz auf diese Entdeckung thun kann, wo augenscheinlich gar keine Verhüllung von Seiten des Verf. gebraucht worden ist? Was soll das Jauchzen, wo man dem Verf. in jeder Zeile ansieht, daß er gar nicht Bulwer seyn will? Genug, und – gleichviel wer der Verf. ist – zum Inhalt.

Man wird mir’s nicht als Egoismus anrechnen, wenn ich bei Erläuterung des Inhalts, statt mich streng an das Buch zu halten, lieber einen bereits im September des verwichenen Jahres in diesen Blättern erschienenen Aufsatz aus meiner Feder variire, indem das Buch hier, so weit es erschienen, mit den Ideen jenes Aufsatzes so fest zusammen fällt, daß es mir schwer würde, meine damaligen Worte zu umgehen. Bekennen aber muß ich, daß mir eine Freude eigenthümlicher Art wurde, als ich Ideen, wie ich sie seit längerer Zeit abgerissen hegte, in tieferem Zusammenhang und vollständigerer Ausführung bearbeitet fand, indem ich darin die Nothwendigkeit zeitgemäßer Gedanken erblicke, die sich gleichzeitig in entfernten Individuen nach Maaß ihres Talents und Geistes ergiebt.

Sind wir charakterloser als unsere Vorfahren?“ so waren die Worte, die ich meinen Ansichten voranstellte und wie ich bereits damals sagte, so ist es noch. „Es hat mich diese Frage oft befallen, wenn ich gebildete ältere Männer unsres Jahrhunderts hörte, deren Erinnerungen bis fast gegen die Mitte des vorigen hinreichen, oder wenn ich mir jene Zeit selber aus der Lektüre damals Lebender, oder aus deren Biographien construirte, und ich muß gestehen, daß mich in der Andacht, die bei solchem Genuß über mich kam, die verschiedenartigsten Gefühle und Gedanken durchkreuzten in Bezug auf Beantwortung jener Frage.“

Den Verfasser der „Zeitgenossen“ hat derselbe Gedanke in weiterblickender Form erfaßt; was ich unter Charakter und dem Unterschied desselben in diesem und im verwichenen Jahrhundert gesucht, stellt er besser im Riß des ganzen Lebens dar, der zwischen den zwei Jahrhunderten liegt. Aus diesem Anknüpfungspunkt ging der Geist dieses Werkes hervor, und eine beneidenswerth glückliche Combinationsgabe gab es dem Verf. ein: Zeitgenossen zu schildern: nicht etwa bekannte Charaktere, sondern, da wir doch jetzt eben so unter Männern des vorigen wie des jetzigen Jahrhunderts leben, zum Hervorheben jenes bedeutenden Unterschieds unter den Zeitgenossen Normalcharaktere der verwichenen und der gegenwärtigen Zeit aufzustellen. Dies die Haupttendenz des Buches, durch die hindurch der Grund der Verschiedenheiten schimmernd durchblitzt, ohne sich im ganzen Maaße völlig hervorzuwagen; entweder weil dieser Grund ungern berührt wird, oder weil er vielleicht in den folgenden Theilen als Lösung hervorgehoben werden soll, was wohl zu wünschen wäre. – Der Charakter dieses Buches ist indessen absorbirend und fällt spaltend, zersetzend in seinen Gegenstand, sucht die Kanten des Lebens fleißig, nicht selten tief erfinderisch auf und zwar so, daß ich nicht ganz bestimmen kann, eben so wenig erwarten darf, daß der Verf. dem beistimmen wird, was ich in jenem Aufsatze sagte und noch behaupte. Meiner damaligen Frage fügte ich hinzu:

„Ich habe mir das gesagt, was hierüber (über die Frage der Verschiedenheit) sich jeder junge Mann gern sagt: Ein Menschenleben, wenn es gerade durchlebt, ist so [494] reich an einzelnen Momenten, so durchwirkt von tausend Ursachen und Folgen, daß sich die nicht charakteristischen Augenblicke leicht dem Gedächtniß entrücken. Die Erinnerung concentrirt immer, und an einen Menschen denken, oder ihn charakterisiren, heißt: aus dem Leben die charakteristischen Momente, die sich von selber an einander reihen, zusammenstellen. Unser Leben ist noch werdend, es hat noch zu viele sich auflösende Stunden; erst wenn es geschlossen, wird sich die Concentrirung ergeben und unsere Nachkommen werden dann von der Charakterfestigkeit ihrer Väter sprechen, wie wir von der unserer Väter. Aber dennoch ist und bleibt diese Behauptung nur insofern wahr, als unser Charakter nicht ganz so abstechend gegen den des vorigen Jahrhunderts seyn mag, wie es nach unserer Erinnerung und den Klagen der Aeltern seyn soll. Ein Unterschied ist nicht zu verkennen und ziemt es uns auch nicht, unser eigner Ankläger zu werden, so dürfen wir doch nicht blind in’s Leben hinein stürmen und in der Freude unseres Daseyns weder die Vorzüge unserer Voreltern, noch deren Grund und Folgen mißachten.“

Stimmt der Verf. der „Zeitgenossen“ auch nicht in diese gemäßigte Ansicht ein, so liegt sie ihm doch gewiß eben so wenig fern, wie wir seinen Ansichten entgegentreten möchten; aber eben so wenig wie wir jüngern Literaten die absorbirende Periode, welche noch aus dem Buche hervorleuchtet, verwerfen dürfen, eben so wenig darf man uns Feigheit zum Vorwurf machen. – Wir dünken uns nicht klüger; sind aber doch durch Irrungen der Vorgänger klüger geworden. Nicht die Macht des äußerlich erhaltenden Staatsprinzips wirkt in uns; sondern eine wirklich innerliche, die uns vor dem Widerrufe sicher macht. Nicht die von außen her bedingte Unhaltbarkeit der extravaganten Ansicht, sondern ihre innere Geschichte, die immer zu einer Geschichte der Inconsequenz wird, macht uns besonnener und wenn auch nicht besser, doch umsichtsvoller. – Der Verf. stellt sich den Unterschied zwischen Werdendem und Gewordenem nicht, seine Aufgabe ist, mit sehr feinem Spürgeist Gegensätze aufzusuchen, wodurch er sich, seine Individualität, der Ansicht opfert, anstatt sie zu beherrschen und die Experimentirkunst des Geistes, die er glücklich handhabt, macht ihn der erregenden Ansicht objektiver als der erhaltenden. – Sein Blick auf die „Zeitgenossen“ geht daher ins Weite, möglichst Umfassende. Er stellt im ersten Abschnitt: „der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts“, zwei Normalcharaktere auf: „Master Wilson“ ist der eine, der andere ist „Emil.“ Wilson, innerhalb der Jahre 1770 bis 1780 geboren, ist ihm der Mensch des vorigen Jahrhunderts, der ganze, individuelle, lebensvolle und in sich selbst gesunde Mann, den er noch Jünglingsmann nennt, weil er eben das Haar eines Sechzigers und die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Sein Leben ist hier in kurzen andeutenden Rissen gegeben, die wohl faktische Wahrheit enthalten, trotzdem es nicht zur plastischen Rundung kommt. Die Zeitgeschichte kümmerte Wilson nicht, und obgleich nur Sohn eines Handwerkers, lebte er doch ein so individuelles Leben, wie man es wirklich in damaliger Zeit findet. Seine Jugend ist schwärmerisch, leidenschaftlich, unglücklich und leidenvoll; aber die Klippen sind immer Erlebnisse von außen, die ihn innerlich gesunder und fester machen. – Emil hingegen ist ein Kind unseres Jahrhunderts und der Verf. verfolgt ihn von der Wiege durch die Schule, bis in das Leben selbst hinein, mit wahrhaft witziger glänzender Beobachtungsgabe. – Man erlaube mir hier wieder ein Citat aus meinem Aufsatze, indem in einem bedeutenden Punkte meine Aeußerungen mit den Meinungen des Verf. zusammenfallen, nur mag ich auch bei dieser Stelle eine kleine Vertheidigung meiner einseitigen Lösung, die ich damals schrieb, nicht unerwähnt lassen. Ich gab damals folgende Bemerkung:

„Es gehört eine größere Einseitigkeit dazu, als die, der wir uns hingeben dürfen, um einen Grund dieser Verschiedenheit (unseres und unserer Väter Charakter) aufzuführen, und auf ihn die Folgen alle zu basiren. Die Ursachen sind gewiß sehr verzweigt, und ich will und kann dieses Thema nicht erschöpfend behandeln; genug, wenn ich dem humanen Mann, der hierüber auch gedacht, einen Beitrag zu den Ursachen liefere, die er sich zusammenstellt. Dennoch glaube ich, daß der größte Grund in der Jugend, ja in der Kindheit liege und meine den Grundton getroffen zu haben, wenn ich die Schule als Haupt-Ursache dieser Verschiedenheit ansehe.“

[498] „Unsere Väter haben ein individuelles Leben gehabt; wir aber leben ein generelles. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts erst begann das Schulwesen in Deutschland seine bedeutende Ausdehnung, und immer mehr und mehr ist die Schule Ursache und Grundton unseres ganzen Lebens geworden, bis auf die Gegenwart, wo die Schule bis in den Amtsrock ihre Ausdehnung nimmt. Unsere Väter wurden, so zu sagen, auf eigne Faust erzogen; diese Erziehung war individuell, Jeder lebte dem Interesse, das ihm zusagte, hier überweg diese Neigung, dort jene. Jedes Haus bildete seinen eigenen Charakter, jeder Hausvater erzog nach seinem Plane, der, wenn er auch schlecht gewesen seyn mag, doch ein eigenthümliches Gepräge in sich hatte. Schon das A. B. C. lernte das Kind nach seiner Art und Weise der Auffassung. Dem Einen wurde gesagt: dieser Buchstabe sey eine Zimmtprätzel, dem Andern er sey ein Thorweg, dem Dritten konnte man den Buchstaben an und für sich verständlich machen, dem Vierten durch irgend ein anderes Bild. Ehe die Kinder lesen konnten, waren sie in Eigenheiten, in individueller Kraft belebt. Sie waren kräftig, in sich selbstständig, Keiner gab seine Auffassung der des Andern preis. Diese Festigkeit wurde auch dem Leben eingeimpft, denn der Knabe lebte schon sein eignes Leben, und im geringsten Ereigniß prägte sich ein Charakter aus. Dieser wurde eigensinnig, jener nachgiebig, ein Anderer charakterfest, wieder ein Anderer muthig, erfinderisch, schlau, witzig, spitzfindig, fleißig; genug im Buchstabiren legte sich eine individuelle Grundlage für die Menschen. Will man sich wundern, daß sie die Grundlagen von Eigenschaften in deren Folgen in’s Leben hinüber mitnahmen? Wie viele Verschiedenheiten mußten sich beim fernern Unterricht entwickeln? Der Knabe hatte schon seine Lieblings-Beschäftigung, man sah seine Neigung für irgend einen Zweig von früh auf, die Lektüre wurde eine eigne Wahl und merkwürdig genug ist es, daß sich die Spuren ihrer Neigungen mit den frühesten Jahren in den größten Köpfen des verwichenen Jahrhunderts zeigten. Hier war die Neigung zum frommen, dort zum weltlichen Mann; hier blickte der Philosoph, dort der einstige Naturforscher hervor; da impfte sich die Neigung zum Geschäftsmann ein, dort zum redlichen gradsinnigen Bürger. Wahrlich wir brauchen nicht weit zu gehn, so bemerken wir sogar bei der ungelehrten Klasse unserer Voreltern den festesten und reinsten Charakter. Jener edle Sinn, jene Wohlthätigkeit, jener redliche Stolz der Bürger des verwichenen Jahrhunderts ist ein wahrhaft erhebender Gedanke. Die wenigen Ueberreste, die uns geblieben, sind Männer mit weißen Köpfen, die weit eher das Herz auf dem rechten Flecke haben, als wir Kinder dieses Jahrhunderts; aber man wundere sich nicht, denn wir haben ein vermischtes Leben, das unsere Eigenheit ganz verwischt, und uns selber nicht zu Charakter kommen läßt.“

„Mit hundert Kindern zugleich lernten wir das A. B. C. Man sagt es so lange gedankenlos hin, bis man’s weiß, ohne zu wissen, wie man dazu gekommen ist. Man träumt das A. B. C. Ob man einen guten oder steinigen Kopf hat, wen kümmert das? Man summt Alles durcheinander und endlich buchstabirt und lies’t man in völliger Geschichtslosigkeit. Aber eben so geschichtlos wie bei diesen kleinen Gegenständen geht es bis in’s Mannesalter hinauf. Wir befinden uns ewig im Normalzustand. Alles ist für die Mittelmäßigkeit berechnet, der Ausgezeichnetste muß bestimmte Jahre in dieser und jener Klasse bleiben, er mag sich langweilen oder nicht, gleichviel; die mittelmäßigsten Köpfe kommen am besten davon, denn sie plagt der Dämon der Langeweile nicht so sehr. Dadurch wird die Jugend generell; Alle ziehen an einem Gespann, Alle denken einen Gedanken und nicht einmal den ihren, sondern den des Lehrers. – So wird man fast ein Mann und geht zur Universität über. Unsere Voreltern hatten auch hier ihre Wahl. Da lehrte dieser, dort jener Professor, die beide himmelweit verschieden von einander waren. Jeder hatte daher Lieblingslehrer, dieser seine Lieblingsschüler. Die Freiheit auf Universitäten, so gemißbraucht sie wurde, hat die verschiedenartigsten Charaktere aufkommen lassen. Man ging mit Neigung und Leidenschaft aus dem elterlichen Hause und das Leben wurde daher auch, nach der Neigung, bei Jedem ein anderes. – [499] Jetzt lehrt man auf einer Universität das, was auf der andern gelehrt wird, der junge Mann hat, wenn er ein guter Kopf ist, die Schule durchträumt; ein mittelmäßiger sie durchlernt und ein schlechter sich durch die Schule gestoßen. Auf der Universität gehts nicht besser, die Mittelmäßigkeit ist der einzige Punkt, wo sich die Geister begegnen. Wie will man Charakter haben? Man lebt generell; Einer geht in dem Andern auf!“

Der Verfasser der „Zeitgenossen“ spricht Vieles, dieser Stelle analog, in plastischerer Ausführung; nur sieht er die Sachen etwas zu fein an und selbst sein edelster Ernst bildet daher leicht Karrikatur statt Wirklichkeit. Was aber hier nur von der Schule gesagt worden, das dehnt sich über das ganze Leben mit sehr treffenden Beobachtungen aus. Kleidung der Kinder, Spiele, bald darauf Jugendleben, sodann die Backen- und Schnurbart-Manie, endlich bis auf den vollen Heirathskandidaten und die Frauenliebe: Alles wird hier, wenn auch von etwas verschobenem Standpunkt aus, doch mit der fließendsten, geschlossensten Art und Weise und durchblitzt von den glänzendsten Bemerkungen geschildert, bis sich aus dieser ganzen Definirung das Resultat entwickelt, auf das der Verfasser hinauskommen will, nämlich: auf eine nothwendige Umgestaltung unserer geistigen Verhältnisse und der Begriffe alles dessen, was wir bisher in indifferenter Consequenz festgehalten haben. Der Verfasser hoffte mit Recht auf eine Zukunft, wo sich die Identität unseres ganzen Lebens mit unserm Wissen herausstellen wird, und der unterdrückte Seufzer, aus dem Einzelnes dieses Abschnittes geschrieben, klingt wie Goethe’s Worte:

„Ja was man so erkennen heißt!

Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen!“ u. s. w.

oder:

„Was man nicht weiß, das eben brauchte man,

Und was man weiß, darf man nicht brauchen!“

In der That weiß ich jetzt nicht, ob etwas von „indifferenter Consequenz“ im Buche steht, und ob dieser Ausdruck meiner oder des Autors ist; aber sehr bezeichnend ist er, und wir können eine ganze geistige Thätigkeit, die sogar Lanzen für geistige Interessen bricht, mit diesen Worten umfassen. Die Gleichgültigkeit für die Erhaltung vieler Interessen sucht jedes neue Prinzip, das sie fester zu begründen im Stande wäre, von ihnen abzuhalten, und unter dem Vorwand, Alles wie es ist zu lassen, giebt man es dem Verfall preis. Dies gilt weniger von Moral und Sitte, als von der Religion.

Dieser Abschnitt: „der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts“, ist der schönste und gediegenste der bisher erschienenen, und wir dürfen davon nicht scheiden, ohne über sein Thema uns näher auszusprechen; indem wir dem Verf. aber Manches entgegenstellen, müssen wir zugleich den zweiten Abschnitt berühren. Er heißt: „das Jahrhundert“ und sollte uns eigentlich, so scheint es, die Anfangspunkte unserer Zustände bezeichnen. Dieser Abschnitt ist mehr in experimentirender und extemporirender geistreicher Dialektik, als in runder vollständiger Anschauung geschrieben. Der Geist würfelt hier mehr anstatt zu treffen, und ob es gleich fast lauter gute Würfe sind, fehlt ihnen allen doch das Band der Zusammenstellung und endlich der Schluß. – Die Dialektik verführt den Verfasser sogar, Begriffe mit Worten zu verwechseln und sein Hauptthema: das Jahrhundert, wird bei ihm in so wörtlichem Sinne genommen, daß er vom achtzehnten Jahrhundert sagt: „Man muß sich nicht täuschen lassen von dem gräßlichen Contraste, wie die Geschichte Europa’s im achtzehnten Jahrhundert begann und wie sie endete. Sie begann mit dem Pedantismus und der Steifheit, mit der Naivetät und dem Lächerlichen und endete mit dem höchsten Pathos der Leidenschaft und dem blutigen Schrecken der Guillotine“ u. s. w. Der Verfasser behandelt hier die Jahre 1700 und 1799 als ob sie, weil sie gerade ein Jahrhundert in sich schließen, in näherem Verhältniß zu einander stehen, als etwa irgend andere hundert Jahre, als hätte die Geschichte im Jahre 1799 größere Verpflichtung, sich mit der des Jahres 1700 zu identificiren als z. B. das Jahr 1711 mit dem Jahre 1611. Es fehlt diesem Abschnitt, da er nicht ein Leben in sich trägt, an dem Mittelpunkt, wo man ihm durch eine beigebrachte Wunde an das Leben kann. Es läßt sich daher eben so wenig gegen diesen Abschnitt polemisiren, als man einen Polyp tödten kann, der in jedem Gliede besonders lebt.

[501] Da aber die Frage: „wo beginnt unser Jahrhundert?“ nur auf Deutschland gemeint ist, obgleich der Verfasser hier mehr als anderswo Europa im Munde hat, und Deutschland scheinbar beiläufig erläutert, so erlaube ich mir, meine Ansicht über dieses Thema zum Theil neben, zum Theil gegen den Verfasser zu stellen, um sodann zum ersten Thema, zur gegenwärtigen Periode leichter zurückzukehren.

Es läßt sich nicht leugnen, daß der Staat das individuelle Leben der Personen beschränkt; aber dies ist weniger aus jener gehässig diplomatischen Berechnung als aus dem natürlichen Lebensinstinkt des Staates hervorgegangen.

Frankreich hat im Zeitalter Friedrichs die antireligiösen Elemente in großen Massen nach Deutschland geschickt. Deutschland aber, in seiner streng legitimen Verfassung, ahnte eben so wenig wie Frankreich selbst, daß das Leben des Staates durch solche Begriffe gefährdet werden könne, und diese wurden sogar von oben herab protegirt. Der gesunde Körper Deutschlands selbst hatte an der häuslich moralischen Philosophie Kant’s ein gutes Mittel, den krankhaften Stoff des Materialismus von sich auszuscheiden; in Frankreich aber brach, durch Umstände begünstigt, die Revolution, die in jedem Zeitalter rein politisch geblieben wäre, auch moralisch-religiös aus, und in Deutschland sah sich das Staatsleben gefährdet. Man mußte die Nationalkraft an den größten Bindemitteln der Menschheit, an Moral und Religion aufzurichten suchen, und als der Sturm vorüber, Frankreich durch Napoleon gebändigt war, suchte der Staat zu seiner Erhaltung jene Bindemittel zu organisiren. So lange der Schrecken der Revolution herrschte, war dieser zugleich ein Abschreckungsmittel für Deutschland, jetzt aber, wo Frankreich moralisch in Ruhe und Frieden war, richtete man auf Deutschlands Universitäten den Gottesdienst ein, um politische Bewegungen zu dämmen. – Napoleon wurde aus einem Besieger ein Eroberer. Deutschland ward unterjocht und zu gleicher Zeit politisch aufgeregt; der Staat konnte jedoch nichts entgegensetzen, bis endlich zum Befreiungskriege die Jugend emancipirt ward und der Tyrann war bezwungen.

War so der Feind von außen gebändigt, so war aber ebenfalls die Macht im Innern in die Hände junger Brauseköpfe gelegt. Es begannen die innern Unruhen, der Staat ergriff die momentanen Maaßregeln zu seiner Erhaltung. Die Jugend wurde gebändigt und der Lebensinstinkt des Staates erfand, um die Zukunft sicher zu stellen, jene Allianz der Religion, der Moral, und der Wissenschaft mit der Politik. – Jetzt brach die Organisation der Schulen in’s Weiteste aus, die Universität wurde mehr oder minder zur Schule, Seminare wurden eingerichtet, wo gelehrt ward, wie gelehrt werden soll. Der Staat erfand ein Mittel, das nicht nur seinen Zweck erreichte, sondern auch ungefährdet Wissenschaft und Licht verbreitete, die Nation bildete und gerechte Veranlassung zum wahrhaften Stolze gab.

Aber wie jedes Heilmittel ein ungesundes, und aufhören muß, wenn alle Gefahr vorüber ist, so ward auch dieses Mittel, statt wirksam zu seyn, hinderlich, und das trat dort hervor, wo das generelle Leben des Staates dem Individuum seine Rechte einräumen sollte: bei der Juli-Revolution. Vor derselben ging es sehr wohl hin, daß der Staat Menschen für den Staat erziehen ließ. Schule, Leben und Kirche bildeten, zogen und lehrten Bürger des Staates zu seyn. Die Hingabe des Individuums zum Generellen, ein nothwendiges Faktum in jeder Staatengeschichte, stellte sich endlich fest; da kam eben aus Frankreich wieder die Idee der Rückkehr, der Reaction der zugeströmten Kraft und bildete die Constitution, oder die derselben sich nähernde Verfassung, und hier deckte sich zuerst der Mangel einer gänzlichen Auflösung des Individuums für den Staat auf. Die Energie, die Extravaganz, mit welcher jetzt das Individuum seine Rechte verlangte, mußte daher um so mehr in Egoismus ausbrechen, als dieser eben unterdrückt war, und so zeigte sich eine wirklich mißliche Erscheinung in einer extravaganten egoistischen Jugend, die aber keineswegs in ihren Grundprinzipien im Unrecht war.

[502] So glaube ich die Geschichte gegenwärtiger Irrungen und Verwirrungen aus den frühern Zuständen erläutern zu können, und bin gewiß, daß man mich auf keiner Seite mißverstehen wird. So erklärt sich’s leicht, wie plötzlich politische Revolutions-Ideen nach der Juli-Revolution zu religiös-moralischen wurden, so erklärt sich’s, weshalb man religiös-moralische Vergehungen als politische behandelte, und gegenwärtig strafte, was man im Zeitalter Friedrichs belobte. – Der Staat selbst aber fühlt wohl, daß jetzt, bei politisch hergestellter Ruhe, Religion, Moral und Wissenschaft nur Stützen des Staates seyn sollen, ohne das Individuum zu beschränken, und daher sieht man eben sowohl über Universität, wie Schule, wie über Religion, die humansten Ansichten tolerirt. Wir brauchen hier nur an Strauß und Leo zu erinnern.

Kehren wir zum Verfasser der „Zeitgenossen“ zurück, der freilich Vieles dunkler sieht als es wirklich ist und oft nur, weil er selber Staub gewaltsam aufwühlt.

War der erste Abschnitt der vollkommen überdachteste, so ist der folgende: „die neue Welt“, der dialektisch glücklichste. Der Verfasser stellt hier in feingeschliffenen Bemerkungen den Charakter Nordamerika’s zum Gegensatz Europa’s sehr glänzend auf. Obgleich hier auch der Charakter nicht selten karrikirt wird, so ist er doch nicht parteiisch gehalten, und die Behauptungen dieses Kapitels sind, daß die materiellen Zustände in Nordamerika von denen Europa’s so weit entfernt sind, daß wir niemals auf Verschmelzung der Regierungsformen, oder nur auf deren Gleichheit in beiden Ländern rechnen dürfen. Am vorzüglichsten hebt der Verfasser die Institutionen Europa’s als Trennung hervor, und nennt sie untilgbar, weil sie mehr als in Personen, in der Idee bestehen: „Die Idee des Königsthums hat in Frankreich mit dem Tode Ludwigs XVI. nicht sterben können, sondern selbst, wenn es an fürstlichem Blute gefehlt hätte, würden neue Repräsentanten jener Idee gekommen seyn, wie denn auch Napoleon kam. Gesinnung, Sitte, Dagegen-Kämpfen ist erlaubt, sie aber nivelliren auf eine solche Einfachheit, wie in Amerika, dazu müßte die jetzige europäische Generation aussterben und durch Einwanderer aus einem fremden Welttheile ersetzt werden“, sagt der Verfasser. Der geistigste Grund, den er hierbei aufführt, weshalb Europa niemals mit Nordamerika wetteifern möchte, ist ein sehr wahrer. Er nennt unsere und Amerika’s Zukunft eine himmelweit verschiedene. Unsere Hoffnungen auf dieselbe sind groß und geistig. Zweifel durchkreuzen unsere Seele, große Gedanken, von Dichtern und Philosophen angeregt, nehmen unsere Denkkraft in Anspruch,. Wir tragen die Sehnsucht nach Lösung metaphysischer Fragen in uns, die Nordamerika’s Comptoire nicht acceptiren. Wir hegen die ungeheuerste und wahrhafteste Liebe zu Kunst und Wissenschaft in uns, die das Zahlenland nicht versteht. Die Räder der Maschinen und der Dampf der Bahnen würden eher uns selbst zermalmen und ersticken, bevor unser Geist befriedigt wäre.

Man sollte nach diesem glauben, der Verfasser habe vom deutschen Standpunkt aus hier gesprochen, und in der That ist es so; aber er holt auch die übrigen Nationen ein und schließt mit einer Schilderung der Verschiedenheit England’s und Nordamerika’s, welche Beide sich am meisten ähneln sollten, indem er sie unter Jonathan und John Bull aufführt. Diese Partie ist in der That ergötzlich und charakteristisch und würde einen herrlichen witzigen Schluß für dieses Kapitel abgegeben haben, hätte es dem Verfasser nicht beliebt, in einem trüben Punkte problematisch zu schließen, indem er den Blick auf die Sklaverei wirft, und hier einen Anknüpfungspunkt für Europa findet, das in Bösem oder Gutem Nordamerika zur Auflösung seiner schalen nüchternen Begriffe von Freiheit zu ändern habe.

[506] Wir übergehen ein mittelpunktloses Kapitel, „das Moderne“ betitelt. Der Verfasser versucht sich hier mehr in Definitionen wie in Zuständen; aber selbst aus diesen Definitionen läßt sich kein Schluß ziehn, und sein Geist giebt hier in einem Raketenfeuer alle bessern Funken und Fünkchen von sich, die aber willkührlich herumschwärmen und keinen vereinzelten Ausgangspunkt ergreifen lassen. Was sich aus diesem Sprühen und Knallen entnehmen läßt, ist etwa die Definition, die aber der Verfasser nicht so ausspricht: das Moderne ist die Uebergangsstufe des individuell Genialen zur generell historischen Feststellung. – Ihrem Urschöpfer entspringt eine Idee, soll diese nach zehn Jahren zur allgemeinen historischen Wahrheit geworden seyn, so muß sie den Weg durch die Modernität nehmen. Etwas der Art habe ich aus dem Kapitel gelesen, ob mich’s gleich nicht überraschen sollte, erklärte der Verfasser, dieses nicht gesagt oder gemeint zu haben. – Gehen wir daher zum folgenden Abschnitt, „die Existenz“ betitelt, in welchem eine Lösung der Mißverhältnisse zwischen der geometrischen Progression der Menschenmasse und der arithmetischen der Nahrungsmittel gesucht wird.

Das Thema ist nicht nur wichtig, sondern auch vom allgemeinsten Interesse, daher ist jede falsche Ansicht des Verfassers – und hier finden sich deren mehr, als irgendwo – wohl zu berichtigen. Zugleich aber möchte ich den nächstfolgenden Abschnitt, „der Stein der Weisen“, hinzunehmen, der in näherer Verbindung mit unserer Existenzfrage steht, als der Verfasser anzunehmen scheint. Unter dem Stein der Weisen meint der Verfasser den Drang der Menschheit, von Anbeginn ihrer Geschichte bis jetzt, nach einem Universalmittel. Die Alten und das Mittelalter nannten diesen Stein beim angeführten Namen, bei uns heißt der Trieb nach ihm Entdeckungs-, Erfindungssucht, welche so viel hervorgebracht und immer noch nicht ruhen mag und kann. – Die Aeußerungen dieses Triebes zeichnet der Verfasser glücklich und treffend; doch übersieht er augenscheinlich die Grundursache derselben, und bringt Verwirrung in ein ziemlich klares Thema. Versuchen wir die Lösung!

Alles Erschaffene ist aus dem Daseynsdrang hervorgegangen. Sey es, daß wir uns den Schöpfer über der Natur, der diesen Daseynsdrang in sie gelegt, denken, sey es, daß wir diesen Daseynsdrang selber in seinem Urbegriff Schöpfer nennen, gleichviel: es will die ganze Natur leben, und eben so trägt der Mensch diesen Willen in erhöhtem Grade in sich, denn zu dem Instinkt der ganzen Natur ist dem Menschen noch durch Vernunft eine Lebenslust eingeflößt: dies ist der Trieb, der, wie Shakespeare sagt: „Elend läßt zu hohen Jahren kommen!“ Die ganze Natur, dieses Triebes sich unbewußt, lebt ein Leben der Zufriedenheit: nur der Mensch sieht in diesem Triebe den Hemmschuh seiner Freiheit, er wird sich dessen bewußt, daß er leben muß. Die Verschiedenheit der Charaktere, ruft Verschiedenheit der Stimmungen hervor. Dem Genügsamen wird, vermöge seiner Zufriedenheit und seines innern Glücks, der Lebenszwang zur Lebensliebe; dem Ungenügsamen wird der Trieb, je nachdem der Charakter materiell oder spirituell ist, im ersten Fall zur Lebenshoffnung, im letztern zum Glauben. – Jene drei Genien, die sich in Deutschland schon auf allen Schnupftabacksdosen herumtreiben, entspringen aus der unerklärten Daseynslust im Herzen des Menschen, die ihn wie ein Räthsel drückt und ihm zuflüstert: da du doch einmal leben sollst, so muß wohl noch im Leben Etwas auf dich warten, das dich befriedigt! oder: da du die Nothwendigkeit des Lebens einsiehst und kein Ziel hier erblickst, das des Daseyns werth ist, so findest du es gewiß jenseits!

Dem grauen Alterthum der patriarchalischen Welt brachte dieser Trieb die Lebensliebe. Der Beginn der menschlichen Geschichte zeigt uns allenthalben eine geistig-stille, zufriedene, genügsame Welt: friedlich wie die Natur selber, der diese Liebe [507] am nächsten liegt, indem sie nur ein erhöhter Grad von Instinkt ist. Der materiellen Welt des Alterthums selber brachte daher dieser Trieb des Lebens die Hoffnung, und man nannte jenes Unnennbare, das gewiß kommen muß, wenn die Stimme des Herzens nicht lügen soll: den Stein der Weisen! Man hoffte das ungereimteste Zeug zusammen: ewiges Leben, unerschöpflichen Reichthum und Wunderthatkraft in’s Unendliche hinein. Der halb sinnliche, halb mystische Charakter des Mittelalters brachte zu diesem Stein der Weisen und der patriarchalischen Liebe noch den Glauben, den Blick auf das Jenseits. Alles hat sich auf die Gegenwart verpflanzt; aber wie die neuere Zeit zur Einsicht kam, daß Alles aus dem Daseynsdrang entsteht, als jene Philosophie verbreitet wurde, welche uns lehrte, daß das Hauptsächlichste am Menschen sein edler Egoismus sey, da begannen zu gleicher Zeit jene beiden Triebe der Hoffnung und des Glaubens zu stürzen, und der Stein der Weisen des Alterthums und des Mittelalters wurde ein Existenztrieb, der aber nicht früher hervorbrechen konnte, als eben in neuerer Zeit, wo die Existenz der großen Bevölkerung der künstlichen Nachhülfe immer mehr und mehr bedarf.

Eben so wie sich das Gemeingut der patriarchalischen Lebensliebe im Alterthum nur vereinzelte, wie etwa in Diogenes und Plato, so fand sich auch jenes Hoffnungsleben des Alterthums vereinzelt in den habsüchtigen Alchymisten des glaubensreichen Mittelalters, und eben so geht das gemeingütliche Glaubensleben des Mittelalters nur vereinzelt auf die Gegenwart über, wo sich jener Urtrieb, die Daseynslust der ganzen Natur, im Menschen als Existenztrieb äußert, d. h. als jenen Trieb seine Existenz sich selber zu schaffen.

Der Verfasser der „Zeitgenossen“ hat beide Thema’s getrennt, und wundert sich über die Sucht nach dem Stein der Weisen in der Gegenwart ebenso, wie er seine Besorgnisse über die Existenz im vorhergehenden Abschnitt ausspricht. In der That aber ist eben eine Frage der andern Frage Antwort. Kehren wir demnach zurück zum Abschnitt über „die Existenz.“

Das bekannte Malthus’sche Werk: über die Verhältnisse der Bevölkerung zu den Lebensmitteln, bringt den Verfasser auf Ideen, die berichtigt werden müssen. Man weiß, zu welchen thörichten Vorschlägen jene Untersuchungen geführt, und es ist auch bekannt, was Malthus Gegner für Gründe darlegten. Den größten und wahrsten dieser Gründe, daß die Vorsehung nämlich schon der Natur selbst den Trieb eingepflanzt hätte, sich wechselseitig auszugleichen und Mögliches nur an Mögliches zu reihen, greift der Verfasser zuvörderst dadurch an, daß die Mittel, welche die Natur anwendet, natürliche, keine moralische, sondern grausame seyen, wie Sterblichkeit durch Pest und Krieg u. s. w. und er stellt sichs zur Aufgabe, diese grausamen Reactionen der Natur unnötig zu machen. – Der Verfasser meint zuvörderst: „Europa in der Annahme eines Weltreichs, das ohne Gesetze und Gesetzvollstrecker friedlich beharren könnte, Europa ohne Staaten und Aristokratie in ihnen, Europa als ein freiherrliches Land, das keiner Kriege und Fürsten bedürfe, würde noch einmal so viel Menschen tragen können wie jetzt.“ Er nennt diese Wahrheit – die er, wie wir zeigen werden, mißversteht – eine schreckhafte, indem man entweder für die Zukunft der Menschen oder der Institutionen zu zittern haben muß. – Hierauf fragt er, weshalb man dem Auswanderer Schranken anlege in Staaten, die für die Zukunft in Allem so besorgt sind? – Sodann aber rügt er ein Uebel in den Verhältnissen des Ehestandes, und findet, daß die Menschen zuviel gezwungen werden sich zu verheirathen, durch die großen Schwierigkeiten nämlich, die sich der unehelichen Geburt entgegenstellen. „Ein Findelhaus“, meint der Verfasser, „das jährlich dreighundert Kinder aufnimmt, erspart der Zukunft des Volkes eine Generation, die leicht das Dreifache beträgt. Denn sind die meisten Heirathen in unsern Ständen nicht Folge eines Verhältnisses, das sich mit einem einzigen Kinde befriedigt haben würde, und das sich enger zusammenknüpft und fünf Kinder erzeugt, weil mit der unehelichen Geburt Unbequemlichkeit, Prozesse und letztlich Schande verknüpft ist?“ Er fährt weiter fort:

„Ein Arbeiter heirathet. Er schlägt sich jeden Tag mit seiner Frau und zeugt doch, wie dies gewöhnlich ist, eine wimmelnde Kinderbrut mit ihr. Nur die Ehe, zu der ihn das erste Kind vielleicht gezwungen, moralisch und juristisch gezwungen, nur die Ehe zwingt dieses Paar förmlich, sich ohne Liebe zu vermehren. Wären sie, wie man im Volke sagt, nur zusammengelaufen, so hätten sie sich leicht wieder getrennt. Die gerichtliche Scheidung verursacht zu viel Weitläufigkeit, daß die Leute lieber zusammenbleiben, sich schlagen und des Nachts, vielleicht in der Trunkenheit, die Befürchtung, welche Malthus hegt, begründen helfen!“

So der Verfasser. Versuchen wir zuvörderst die einfachen Irrthümer zu widerlegen, um sodann zu den complicirtern zu kommen. Zuerst ist es ein Irrthum, daß man durch anderweitige Beschränkung der Bevölkerung den grausamen Mitteln der Natur etwas entgegen setze. Der Krieg zwischen Polen und Rußland minderte schon die Menschenmenge, und er brachte uns dennoch die Cholera. Kann der Verf. glauben, die Cholera, dieses freilich grausame Mittel der Natur, hätte verhältnißmäßig nicht ihre Opfer in Polen gesucht, wenn zwei Drittel der Bevölkerung im Kriege gefallen wären? oder kann der Verf. glauben, der Krieg – ebenfalls ein grausames Mittel – wäre nicht ausgebrochen, wenn Rußland und Polen um zwei Drittel kleiner wären?

[513] Es ist ein Irrthum, wenn man Krankheit und Krieg nur aus Uebervölkerung herschreibt. Beides herrschte vor viertausend Jahren, als an Uebervölkerung nicht zu denken war. – Es ist ferner ein Irrthum, glaubt der Verfasser, die Staaten rechnen auf Kriege und Krankheit. Man sieht ja in Europa von Beidem das Gegentheil, der Frieden wird eben so sehr erhalten, wie jeder Staat mit bewundernswerthen Vorrichtungen der Sterblichkeit durch Krankheit Einhalt zu thun sucht. Die Geschichte der Cholera, ist ein schlagendes Beispiel. Wenn man von jener Selbsthülfe der Natur spricht, so liegt sie nur in den unabwendbaren Mitteln, die freilich grausam sind, die aber nicht direkt aus Uebervölkerung entspringen, und dieser steuern wollen. Es müßte ja komisch klingen, wollte man behaupten, der dreißigjährige Krieg entvölkerte Deutschland, um es nicht übervölkern zu lassen. Mit den Naturmitteln ist es überhaupt auch anders gemeint, als der Verfasser glaubt. Die Natur entäußert sich keinen Augenblick ihrer Nachhülfe, ihre Mittel sind nicht partiell für die Zeit der Noth, wie die menschlichen, sondern sie schützt sich selbst noch vor der Noth. Sie läßt die Uebervölkerung gar nicht zu: ihre Reaktion ist jeden Augenblick gegenwärtig. Ein hungriges Land wird eben so wenig Zeugungslust haben, wie ein hungriger Mensch; die Zeugungslust ist immer im Maaße der Sättigung, und da es in jeder Sekunde so ist, so wird die Natur von selber die Zeugungslust verhältnißmäßig schwächen oder stärken. Der Aermere zeugt freilich mehr Kinder als der Reiche; aber nur weil er gesünder ist. – Krieg und Krankheit sind nur die unwesentlichsten Mittel der Natur, die momentanen, ihre fortwährend wirkenden sind bedeutender und sicherer.

Ferner ist es irrthümliche Behauptung, was den Verfasser um die Institutionen zittern läßt, selbst wenn die Naturmittel ganz falsch wären. Was er von der doppelt möglichen Bevölkerung Europa’s meint, wenn es ohne Aristokratie und Gerichtsbarkeiten bestehen könnte, ist nur dann wahr, wenn sämmtliche Aristokraten und Staatsbeamten gar nicht existirten, d. h. nicht einmal als Menschen existirten. Mindestens müßten sie gar keine Nahrung zu sich nehmen, sodann müßten alle Wälder, Städte und Berge von den Menschen zu urbarem Boden umgewandelt werden. Welch ein Unterschied läge denn sonst in Bezug auf die nöthigen Nahrungsmittel darin, daß man eine Excellenz mit Du anredete oder nicht. Der Titel ist ja nichts, und gesetzt alle Aristokraten und Staatsbeamten würden friedliche Bodenbearbeiter, sie würden nicht weniger, ja unstreitig mehr essen als jetzt. Wie könnte also jemals eine Zeit kommen, die den Institutionen gefährlich wäre?

Sind aber die Befürchtungen irrthümlich, so sind es die Mittel des Verfassers nicht minder. Das erste heißt: Auswanderung. Er setzt dies voraus, daß die Befürchtung der Uebervölkerung nur partiell für Europa gemeint ist, während in andern Welttheilen der Boden fruchtbar genug seyn muß, um Einwohner und Eingewanderte zu ernähren. Die Vortheile des Staates, oder der Gesammtgesellschaft, durch Vermehrung ihrer Mitglieder, die darf man wohl voraussetzen; daß obenein das Auswandern ein Uebel sey, das giebt der Verfasser selbst zu, nur soll ein Hülfsmittel da seyn. Aber gesetzt auch, es stände Uebervölkerung zu befürchten, so ist es doch jedenfalls vorläufig nicht der Fall, und bevor die Zeit herankäme, wo dergleichen zu befürchten wäre, ist unstreitig bereits Nord-Amerika so kultivirt, daß wir im Nothfall alle Vorräthe von dort her auf die leichteste Weise beziehen können. Die Ergiebigkeit des Bodens begründet den Reichthum des Landes keineswegs, wie der Verfasser meint. England bezieht alles Getreide aus Amerika, und hat es immer von Polen und Rußland bezogen, und hat daran niemals verloren, sondern der Umtausch englischer Produkte hat es eher reich gemacht. Ein Gleiches und in jedem Fall durch die große Schifffahrt erleichtertes Verhältniß kann zur Zeit zwischen Europa und Amerika recht gut stattfinden. Die Industrie ermittelt leicht Ersatz für irgend ein Produkt des Auslandes. Gesetzt, Europa hätte große Menschenmassen, die [514] für Amerika Produkte bearbeiteten, so ist es ein Leichtes, von dort her ebenfalls Getreide zu beziehen. Eine Auswanderung würde nur Europa ärmer machen, und im Fall der Noth wirklich menschenarm genug, um das wechselseitige Verhältniß zwischen diesem und Amerika zu erschweren. Gerade aber die Masse muß an Produktionskraft überwiegen, und sollte der Tauschhandel nothwendig werden, so kann Europa nur gewinnen. Amerika ist so spekulirend und gewinnsüchtig, daß man wohl behaupten kann, im Fall man wüßte, es müsse um zehn Jahre schon Getreidemangel in Europa stattfinden, Amerika würde so reich an Concurrenten seyn, daß amerikanisches Getreide in Europa wohlfeiler seyn wird, als jetzt europäisches. Weshalb sollte sich der Staat vorläufiger und fernerer Vortheile entäußern, wo gar nichts zu gewinnen steht? Ja, es ist klar, daß, bei eintretendem Wechsel der Produkte, die Masse der Produzirenden immer ein Vortheil ist, warum diesen nach Amerika verlegen?

Endlich aber die Beschränkung der Bevölkerung, durch Gleichstellen der unehelichen und ehelichen Verhältnisse, ist in der That ein Einfall der beschränktesten Umsicht. In keinem Falle kann der Verfasser glauben, daß der Staat denjenigen Geschlechtsumgang befördern soll, der kinderlos bleibt. Dieser würde – und das giebt der Verfasser gewiß zu – doch nur Demoralisation zu Wege bringen, in welcher die kleinste Bevölkerung unfehlbar dem Mangel preis gegeben wird. Wer will auf diesem Wege der bekannten Seuche ein Ziel setzen, an deren Folgen jetzt schon Tausende Opfer der Lüste werden? – Gewiß, das meint der Verfasser schon deshalb nicht, weil Demoralisation das Eigenthum unsicher macht, gewiß also den Wohlstand nicht befördern kann. – Es soll aber nur von Gleichstellung natürlicher und ehelicher Verbindungen die Rede seyn, insofern bei den erstern die Geburten nicht unmöglich oder gar unterdrückt werden. Wie aber soll dieses der Uebervölkerung Einhalt thun, wenn wir juristische Vergeltung und moralischen Zwang aufheben? Werden dann die Staaten nicht mit dem vollzähligsten Segen bescheert sein, wenn hoffnungsvolle Tertianer und sechszehnjährige Mädchen, wie zu erwarten steht, Malthusens Befürchtungen realisiren? Nehmt den moralischen Zwang von Seiten der jungen Mädchen, den juristischen von Seiten unreifer Jünglinge, und Gottes Erdboden wird bald von junger Brut wimmeln. Freilich, der Arbeitsmann, den der Verfasser anführt, der wird nicht heirathen, aber schwerlich allem Umgang entsagen; ob aber, wenn das Paar zusammengelaufen ist und sie sich auch leicht trennen, das Weib nicht fünf bis sechs Kinder gebären wird, läßt sich gar nicht voraussehen. – Wir haben kinderlose Ehen; so aber werden gewiß kinderlose Weiber eine Rarität seyn. – Von wem endlich will der Verfasser die Schande nehmen? von allen Frauen! Von wem wieder den juristischen Zwang? von allen Männern; hierauf stellt sich folgende Verkehrtheit heraus: Moralisch bessere Menschen dürfen sich mit Dirnen abgeben, sie werden zur Heirath ja nicht gezwungen, dabei aber sinkt die Schande vom Antlitz der Dirnen, und sie finden ihre Versorgung bei andern Männern; unschuldige Mädchen aber, die in ihrer Schwachheit sich einem Manne hingeben, und nicht den Pfad des Lasters wählen mögen, diese sind dem Unglück preis gegeben. Durch dieses Verhältniß ist der Umgang mit lüderlichen Dirnen moralischer, als mit sittigen. Wir wollen aber auch nicht unerwähnt lassen, daß manche Gefallene, wenn sie eine ehelich verbundene Frau, wirklich moralisch gut wird, und manche wirklich unschuldige Verführte dem Verderben preis gegeben würde, wenn sie juristisch nicht Ansprüche auf den Mann ihrer Neigung machen dürfte. In jedem Falle endlich, wenn auch die Ansicht des Verfassers keineswegs aus unmoralischem Grunde entspringt, so würde sie doch zu jener Demoralisation führen, die im Staate weit schrecklichere Folgen hat, als jenem Phantom von Uebervölkerung angedichtet wird.

Die bisher erschienenen Hefte schließen mit der ersten Hälfte eines neuen Kapitels über „das Leben im Staate.“ Indem wir über dieses halbe Kapitel uns jeder Erörterung enthalten, und darauf hinweisen, was wir zu sagen noch für nöthig finden sollten, gäbe die Fortsetzung des Buches uns so viele Anknüpfungspunkte für die gegenwärtigen Verhältnisse wie bisher, wollen wir nun noch einen Blick auf den Verfasser selbst thun.

Es gehört mehr Geistlosigkeit als nöthig ist, einen Quasikritiker zu blamiren, dazu, dieses Buch für ein englisches zu halten, und wäre davon nur ein Bogen erschienen. Ja, es gehört schon Lächerlichkeit dazu, großes Gerede zu machen über diese Entdeckung, daß der Verfasser ein Deutscher sey, die doch jeder nur halb Einsichtsvolle auf den ersten Blick machen muß; wenden wir daher diese Schlußzeilen zur Charakterisirung des Verfassers an, indem wir einen Blick auf unser eigentliches Hauptthema werfen, das wir auf kurze Zeit verlassen haben: auf generelle und universelle Bildung.

Man hat die deutsche Jugend vielfach verleumdet, ihr Interesse für jede Idee gegen die herrschende Meinung als revolutionaires Prinzip betrachtet, in jeder Bewegung des Uebermuths den durchdachtesten Verrath gerochen. Man darf hoffen, daß diese Periode nicht nur vorüber ist, sondern ich selbst weiß es, daß angesehene Staatsmänner, die das Treiben der Jugend für verderblich hielten, dennoch den gerechtesten Widerwillen gegen jene denuncirenden Kritiker geäußert, die in der Literatur wie weiland die Kaffeeriecher herumschnüffelten, und über jede Uebertreibung Zeter und Mord heulten. – In der That aber war jene Uebertreibung, die sich wirklich der jugendlichen Talente bemächtigte, nichts als eine Reaction der unterdrückten Subjektivität. Die generelle Bildung umfaßte so sehr alle Jugend, daß sie sich selbst losreißen zu müssen glaubte, und in dem Streben nach Eigenthümlichkeit, nach Originalität, in Leidenschaft gegen das Herrschende gerieth. Eine Periode der projektirten Originalität, der gewaltsamen Befreiung, ist jetzt vorüber, und immer mehr und mehr sieht man den Geist der Jugend rückkehrend zur Welt der Ordnung, und selbst wo diese Versöhnung nicht ganz stattfinden kann, tritt der Zwiespalt nicht mehr im Ton des Uebermuths, des siegsgewissen Bekämpfens, sondern im Gewand der Forschung und Betrachtung auf.

Aus diesem Geiste ging das Werk, das wir besprochen, hervor, und der Verfasser, indem man noch die Unruhe der Jugend und deren Flüchtigkeit bei sehr lebendigem, regem Geiste pulsen sieht, gewinnt durch seine Anonymität sowohl an Achtung wie an eignem Charakter. Die Verleugnung der Autorschaft bürgt sowohl für einen Ernst der Ansichten, wie für die Abwesenheit einer arroganten Subjektivität, und sieht man dennoch, wo der persönliche Zwang, wie hier, den Verfasser nicht genirte, eine edle Rückkehr zur Welt der Ordnung in so vielen Punkten, die sonst den Erisapfel bildeten, so kann man um so weniger an der Wahrheit dieser Rückkehr zweifeln. – Aber selbst wo der Verfasser gegen das Bestehende spricht, ist jeder Ton des positiven Absprechens gemieden und nur der der Forschung beibehalten worden; eine Eigenheit, welche diesem Werke nicht nur Werth verleiht, indem es, ohne Ideen aufzuzwingen, Selbstthätigkeit des [515] Geistes im Leser aufruft, sondern gewiß auch den Schutz der weisen Regierung auf diesem Wege in Anspruch nimmt. Preußen hat es bei Strauß bewiesen, daß es die freiesten Gedanken, wenn sie Forschung und nicht ein bloßes Absprechen bezwecken, immer schützt, und die Folge wird es lehren, daß die irrthümlichen Ansichten in diesem Werke mehr dazu dienen werden, die strebende Jugend zum Gegentheil zu führen, als sonst irgend ein aus positivem Geist und mit der Autorität des Bestehenden auftretendes Werk. Autorität erdrückt den regen Geist und bringt höchstens Nachbetung hervor; Forschung ruft Selbstthätigkeit, Ueberzeugung und endlich Wahrheit an’s Licht.

Läßt uns die Ansicht einen derjenigen jungen Autoren erkennen, die Rückkehr und Versöhnung aus extravaganten Maximen suchen, so läßt uns ein kurzer Blick auf Geist und Talent des Verfassers einen bestimmtern Blick auf ihn werfen. Der Geist desselben ist ein parteiischer, der Objektivität ermangelnder. Anstatt daß er die Freiheit des Geistes darin fände, daß dieser sich jeder Ansicht anschließen kann, anstatt seinen Geist auf die Höhe der Historie zu setzen und nur das Walten einer Culturgeschichte in der Verschiedenheit der Ansichten zu sehen, hat der Verfasser seinen Geist immer nur zur Anschauung der einen, der ihm subjektiv zusagenden Seite gerichtet. Deshalb ergiebt sich eine Eigenheit, wie sie selten anderswo zu finden ist, nämlich: der Verfasser blickt dort, wohin er den Blick richtet, tief, scharf, bis zur Verwunderung feinsinnig, während ihm auf der andern Seite das Gewöhnlichste entgeht. Der Blick seines Geistes ist ein bohrender und als solcher wirklich bewundernswerth; aber ihm fehlt alles Umfassen, durch welches man alle Seiten des Gegenstandes kennen lernt. Was er sich zu sagen gedrungen fühlt, sagt er sehr fein, wo er Kanten aufsucht, weiß er sie sehr scharf zu finden; aber er geht dann in jeder Richtung so grade aus, daß er eher die Gegenstände durchbohrt als durchschneidet. Wie ein scharfer Pfeil, der, wenn er richtig gezielt ist, mit der kleinsten Wunde unfehlbat tödtet; aber um eine Linie falsch abgeschnellt in jedem Moment sein Ziel meidet, so geht der Geist des Verfassers auf richtigem Wege oft durch das Herz der Wahrheit mit der leichtesten Bewegung, oft aber auch falsch und mit jedem Moment von der Wahrheit sich immer mehr und mehr entfernend.

Man wird sich demnach nicht wundern, finde ich in diesem Buche bei so viel Verfehltem viel Vorzügliches; aber um so weniger will ich an ein Befremden glauben, wenn ich schließlich die Behauptung aufstelle, daß sowohl das Wahre wie das Irrthümliche voller Interesse wird. Der Verfasser hat eine durchgängig allgemeine Tugend: er berührt nichts als worüber zu denken sich verlohnt. Dies und nicht nur, wie man gerne sagt: „das Zeitgemäße“ ist es, das selbst den Mängeln Reiz giebt.

5.4.4. Louis Lax, 3. Juli 1837#

L[ouis] L[ax]: Deutsche Literatur. In: Westliche Blätter für Unterhaltung, Kunst, Literatur und Leben. Aachen. Nr. 2, 3. Juli 1837, S. 6-7. (Rasch 14/14.37.07.03)

[...] Gutzkow theilt in seinem Telegraphen Gedichte mit, Gedankenspiele, die sich um Pointen drehen und eben darum die Poesie bei Seite lassen. Wir haben es hier aber mit einem andern Werke Gutzkow’s zu thun, nämlich den

1. Zeitgenossen von Bulwer.

(Stuttgart, im Verlag der Klassiker.)

wovon uns bereits zwei Hefte vorliegen. Wenn wir sagen, von Gutzkow, so sprechen wir allerdings nur unsere Ueberzeugung aus, denn materielle Beweise dafür haben wir nicht, außer etwa denn, daß Gutzkow nicht für gut befunden hat, ähnliche von andern Seiten deshalb gegen ihn erhobene Vermuthungen Lügen zu strafen. Daß das Buch vor Allem nicht von Bulwer, nicht aus dem Englischen, sondern Original-Deutsch ist, liegt am Tage. Die ganze Persönlichkeit Bulwer’s ist verfehlt, die äußere wie die innere. Bulwer wohnt seit Jahr und Tag nicht in Hertfordstreet [→ Erl. zu 15,26]. Bulwer schreibt die Englischen Worte nicht so falsch, als sie hier gedruckt sind, und Bulwer kann kein Wort Deutsch, kümmert sich auch weniger um unser Vaterland, als wir uns um seines. Die Fabel, wie er hinter das Deutsche Wesen gekommen, indem ihm ein, ich weiß nicht mehr vom Rhein oder von der Elbe zurückgekehrter Freund Aufschlüsse über unser ganzes Treiben, selbst bis in Einzelheiten, die jedem Fremden entschlüpfen, gegeben habe, ist zu grob. Aber auch Styl und Denkweise entsprechen nicht der Bulwer’schen und der Erstere gewinnt nur dabei. In den Zeitgenossen ist er fließend und doch prägnant, kurz abgeschlossen und doch klar, lauter Vorzüge, von denen sich das Gegentheil in Bulwer nachweisen läßt, dem selbst in England Gespreitztheit, schwülstige Konstruktion und gesuchte Wortbildung vorgeworfen wird. Trotzdem aber hätte er auf Englisch keine Wortspiele machen können, die so eigenthümlich sind, wie „Steinreich“ und „Steinalt“. Der Styl eben ist ganz Gutzkow. Was die Ideen betrifft, so weichen sie, obwohl sich der Verfasser, wenn er sich besann, geschickt in Englands Denkweise hineinzuarbeiten weiß, doch an vielen Stellen wieder zu sehr davon ab. Wenn er von Napoleon spricht, von der Theilnahme, die er im Anfange seiner Laufbahn und am Schlusse derselben nach seinem Falle erregte, so kann hier nur Deutschland gemeint seyn, da John Bull erst nach 1830 in etwas angefangen hat, den Kaiser mit Schmähungen und gemeinen Reden zu verschonen. Das Kapitel von der Ehe würde Bulwer nicht geschrieben haben, selbst wenn er die darin enthaltenen Ansichten theilte, nicht seinet-, sondern seines Volkes wegen. Und doch ist Deutschland mindestens eben so moralisch, in den höhern Ständen gewiß noch moralischer, und doch ist Gutzkow ein solider Mann und Gatte und Bulwer hat sich nach kurzer Ehe und nicht geringem Skandale von seiner Frau getrennt, oder sie vielmehr von ihm. Bulwer nicht wohl, aber Gutzkow konnte klagen, „man lese wohl gern ein sinnliches Buch, billige es aber, wenn der Verfasser desselben dafür bestraft werde.“ Obgleich wir deshalb seine Wally nicht zu den Büchern zählen, welche die Sinnlichkeit aufregen sollen. Wenn aber die Einzelnheiten durchaus den Deutschen Schriftsteller verrathen, so ähnelt doch die Hauptform, in welche das Ganze gegossen ist, allerdings der, die Bulwer benutzt haben würde. Man findet in dem Buche dieselbe Geistesschärfe, dieselbe Abstraktion und dieselbe Lebendigkeit der Schilderung. Daß Bulwer als Dichter in der neuesten Zeit so hoch gestellt werden konnte, beweist nicht für ihn, sondern für die Armuth seiner Umgebung. Er leidet an demselben Fehler, der die jüngere Schule der Deutschen verfolgt, aber er weiß den Mangel an Poesie besser zu verdecken, weil ihm das Leben seines Volkes, die Oeffentlichkeit seiner Charaktere und ihres Treibens den Ueberwurf dazu leiht. Die Deutschen müssen schaffen und wenn ihnen die Kraft dazu ausgeht, mit dem Verstande Lappen herbeitragen, um ihre Bilder zusammenzuflicken, die am Ende doch nur Puppen abgeben. Die Engländer brauchen nur aus der Stube zu treten, so erleben sie etwas und brauchen nur die Hand auszustrecken, um Figuren mit warmem Athem und frischem Geiste zu erfassen. Wie wenig aber Bulwer trotzdem zu fesseln weiß, wenn er nicht seine Gestalten mit den glänzenden und feinen Fäden seiner Reflexion künstlich zu umspinnen vermag, beweisen seine kürzeren Erzählungen, seine Gedichte, seine Dramen. Zum Dichter fehlt ihm die momentane Hingebung an ein einziges Gefühl, das rein empfängliche Gemüth, die Ueberzeugung. Er schafft nicht des Schaffens wegen, sondern für den Privatzweck, den er damit zu erreichen wünscht. Aus demselben Grunde vermag er auch keine Rolle im Parlamente zu spielen. Seine Lebenssucht, sein Dandysm, seine Erziehung treibt ihn zur Aristokratie, sein Ehrgeiz zu den Radikalen, weil er glaubt, daß diese einst zur Herrschaft gelangen werden und er bei ihnen den sichersten Lohn erwartet: in diesem Schwanken aber kommt er nicht dazu, sich eine Bedeutung im Hause zu verschaffen. Gutzkow würde es früher nicht besser gegangen seyn, aber nur so lange, bis die bessere Einsicht ihm den guten Glauben an die Möglichkeit und Gefahrlosigkeit eines Radikalismus genommen hätte, ein Zeitpunkt, den er jetzt längst hinter sich hat. Nicht weniger möchte ich ihn als Dialektiker vorziehen, während er im Studium der menschlichen Natur, in der Anatomie des Herzens, der Leidenschaften bei weitem übertroffen wird. Und das ebenfalls, weil es den Deutschen nicht so vergönnt ist, in dem Menschen zu lesen und nur das Genie das Verborgene zu errathen weiß. Hier liegt der Hauptunterschied, der jedoch nicht so groß ist, daß Bulwer es brauchte übel zu nehmen, wenn man ihm die untergeschobenen Zeitgenossen zuschriebe. Das Buch ist mit großer Sachkenntniß und mit einem Aufwand von Geist geschrieben. Wenn daher ein Rezensent des literarischen Blattes [= 5.4.1.] das Buch gleich bei seinem Erscheinen mit der gehäßigsten Wegwerfung behandelte, so spricht daraus nur der Widerwillen gegen den vermuthlichen Verfasser. Personalbeziehungen sollten aber doch endlich einmal aufhören den Maßstab für die Würdigung eines Werks abzugeben. Den Vorwurf, den man dem Verfasser macht, daß er das Publikum durch Unterschiebung einer fremden Autorschaft habe hintergehen wollen, ist man Wilibald Alexis und Andern, die sich Aehnliches erlaubt, schuldig geblieben. Wenn der Arme sich in eine Löwenhaut verkriecht, desto schlimmer für ihn, er wird dem Hohne und der Verachtung nicht entgehen, daß er, um etwas Löwenfutter zu erhalten, sich selbst annulliren mußte. Wenn aber jemand, dessen eigener Namen Kredit genug bei allen Firmen verschafft, dergleichen thut, so ist das freilich eine Mystifikation, die aber nur Lachen erregt und höchstens den ärgert, der erst von Andern über die Täuschung belehrt wird. Die Täuschung konnte für niemand seyn, als den Allerweltsleser. Jeder andere wußte, daß kein Deutscher Buch-[7]händler im Stande sey, Bulwer’sches Honorar für ein Bulwer’sches Werk zu zahlen; dem gewöhnlichen Bücherverschlinger, der nur bei dem schwört, was das Ausland bringt, konnte es eine Lehre seyn, daß die fremden Halbgötter eben auch mit Deutschem Thone nachzubilden seyen. Lustig ist daher auch der Seitenhieb für das Gens Translatorum, indem hier im Buche der supponirte Uebersetzer, den supponirten Verfasser, wenn er „die süße Gewohnheit des Daseyns“ Göthe zuschreibt, in einer Note verbessernd, bemerkt: „von Schiller.“ Die Zeitgenossen, so weit sie bis jetzt erschienen sind, enthalten die Bücher: der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts; das Jahrhundert; die neue Welt; das Moderne; die Existenz; der Stein des [sic] Weisen; das Leben im Staate. Die Abtheilungen haben keineswegs alle gleichen Werth; einiges hätte der Verfasser besser gethan ganz wegzulassen, manches ist, hingestellt wie es ist, schief und einseitig, aber es sollte hier nur von dem Totaleindrucke die Rede seyn, davon, das Ganze gegen eine vornehme und erkünstelte Geringschätzung in Schutz zu nehmen. Um sich zu überzeugen, wie wenig eine solche entschuldigt werden kann, braucht man nur Stellen aufzuschlagen, wie die über die Unmöglichkeit einer eigentlichen Revolution in unserm Jahrhundert (S. 67). „Ist,“ heißt es dabei, „selbst die Julirevolution etwas anders gewesen, als der letzte Schlag eines Gewitters, eine in der Natur oft vorkommende Erscheinung, wo sich ein zurückgebliebener Rest von elektrischer Materie erst in dem Augenblicke entladet, wo der Himmel schon wieder zu bläuen beginnt? Unsere Revolution besteht darin, die Unordnung zu zerstören und Ebenmaß in die gesellschaftliche Relation zu bringen etc.“ Ferner, was über den Wettlauf gesagt wird, den die Nationen gegen einander anstellen, und hundert andere Stellen über Regierung, Literatur, Armenwesen, Industrie[.] Aus manchem Andern spricht zwar nur scharfsinnige Sophistik, der zu begegnen wäre, anderes wankt, weil der Englische Grundstein, auf den es gestützt werden mußte, selbst morsch ist und nicht anders seyn konnte, aber das Ganze gibt reichen Stoff zum Nachdenken und verdient schon, daß man darüber denke, wenn man auch die Meinungen des Verfassers nicht theilen mag, der, er sey nun Gutzkow oder ein Anderer, bei Erscheinung der letzten Bändchen, die wir noch zu gute haben, dreist sein Incognito ablegen sollte, da er sich des Gesichtes unter der Maske, trotz seiner Sommersprossen und Leberflecken, nicht zu schämen braucht.

5.4.5. Heinrich Albert Oppermann, 1838#

[Heinrich] Albert Oppermann: Ueber die sogenannten Bulwer’schen Zeitgenossen. In: Jahrbuch der Literatur 1, 1839 [erschienen bereits im November 1838]. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1839. Reprint Frankfurt/M.: Athenäum, 1971. S. 259-310. (Rasch 14/1438.11.1)

Ist denn in Wahrheit die deutsche Kritik so gesunken, daß allein die Brockhausischen Blätter [= 5.4.1.], von einem Werke, worin der Verfasser [...] sein bestes Wissen und Können, sein schönstes Hoffen und Wünschen niederlegte, an dessen Verbreitung er, von den schwierigsten Umständen gedrängt, den zweideutigen Versuch der Täuschung wagte, die Erscheinung berührten, um nur einige Stellen aus dem Zusammenhang zu reißen und den Verfasser zu verunglimpfen?

Es nimmt mich kein Wunder, daß das Publikum, welches in der Lectüre nur Erholung und Unterhaltung sucht, das sich höchstens zu „Reisenovellen“ versteigt, sich zu diesen Zeitgenossen nicht drängte. Wenn aber das Publikum, das den Faust in der Tasche trägt und noch mehr aus ihm heraus oder vielmehr hineinlieset als die Commentatoren desselben, das [260] Publikum, das vor zehn Jahren die Seherin von Prevorst verschlang, das die Rahel lobt und Strauß Leben Jesu bewundert, lau ist gegen eine Erscheinung wie diese, so muß es wohl sein, weil es die Kritik noch nicht gezwungen hat, dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist.

[...] ihr möget in den kurzen sinnigen Sprüchen Göthe’s und den langen philosophischen Deductionen der Commentare das Räthsel gelöset glauben, das euch und das Leben eurer Mitwelt umdunkelt; leset die Zeitgenossen! Auch sie sind ein Commentar des Faust. Aber des Faust, der das 19te Jahrhundert ist und von dem ihr selbst ein Theil seid.

Ihr seid ja sonst so eitel auf eure Klugheit und eure Tugenden, auf eure Wissenschaft und eure Kunst, auf eure Industrie und euren Handel, eitel selbst auf eure [261] Laster. Geht, spiegelt euch! Aber erschreckt nicht, es ist ein Hohlspiegel, in dem ihr euch erblickt, mit vieler Kunst und mühsamer Arbeit in Metall geschliffen. Ihr seht nicht nur den glatten äußern Schein, ihr seht die kleinste Narbe, die verborgenste Runzel und viel getrockneten Schweißes. Erschreckt nicht, wenn ihr seht, daß die Larve von eurem Treiben gerissen ist, daß die Illusionen zerstört sind, die tausend Kerzen des Ballsaals, die bunten Gruppen, die schönen Decorationen vor dem Glanze des Tagslichts erbleichen und zerstäuben. Denkt, daß das Fastnachtsspiel nicht ewig währen kann, daß der Tag kommen muß, wo jede Täuschung aufhört und daß dies ein Tag des Schreckens und der Verwirrung sein wird, wenn Niemand erkennt und begreift, was an der Zeit ist und worum es sich handelt! Strengt die Nerven eurer Augen an, damit ihr den Nebel durchseht, der den Hintergrund birgt. Hört ihr nicht das ferne Geräusch des Kampfes, den Donnerruf der Niedergedrückten? Hört ihr nicht den Ruf der Unwissenden, die dieselbe Wahrheit, denselben Glauben haben wollen, auf die ihr so stolz seid; hört ihr nicht das Jubelgeschrei der Proletäre, die kommen mit euch zu theilen und ihr seid noch immer bekleidet mit dem Maskenanzuge, mit Flittergold und [262] Tand? Doch nein! Ihr seid bei Zeiten erschreckt durch euer eigenes Bild, noch ehe der Morgen hereinbricht, habt ihr die bunten Fetzen von euch geworfen und euch die Hände gereicht zur gemeinsamen Arbeit an dem großen Werke der Menschwerdung des Menschen. Seht, der Nebel ringt sich in schweren Kämpfen langsam empor, das Getös des Kampfes verwandelt sich in Lobgesänge des Unendlichen, die wild durcheinander wogenden Massen haben sich schön gruppirt, jeder trägt das Seine und trägt es mit Lust.

Ja es ist ein mächtiges Buch, von dem ich rede. Mit feiner ärztlicher Hand fühlt Gutzkow (denn er ist doch der Verfasser des Buches?) nach dem Pulsschlag der Zeitgenossen, er preis’t die Hitze und Kälte ihrer Empfindungen, er sucht nach ihren Thorheiten und Lastern, aber auch nach ihren Vorzügen und Tugenden und verkennt diese nicht um jener willen. Das Buch ist so gedankenreich, daß eine neuere deutsche Vierteljahrschrift auf 10 Jahre an dem Stoff genug hätte, der hier aufgespeichert liegt. Ja es ist selbst mehr Zeitschrift als Buch d. h. als architektonisches Ganzes oder organisches Kunstwerk. So bunt als das Leben selbst, so bunt ist die Gedankenwelt, die hier vor uns ausgebreitet wird. Ein Gedanke spinnt sich [263] aus dem andern und an den andern. Aber es sind unendlich viele Anknüpfungspunkte und man suchte oft vergebens nach dem eigentlichen logischen Faden, an den sich alle diese Reflexionsnetze, springenden Bemerkungen, Blitzlichter und Arabesken zeitgemäßer Beziehungen aufziehen. Ich weiß aber nicht, ob man Recht hat, nach künstlerischer Einheit zu suchen. Denn der Verfasser will uns offenbar kein Kunstwerk, keinen Roman, kein nothwendiges Ganze geben. „Wenn wir die Interessen unserer Mitwelt zu sichten und zu klassifiziren suchen,“ sagt Gutzkow selbst von seinem Werke, „so schwebt uns dabei allein das Wohl der Menschheit vor, von welchem mir ein zwar nicht in Worte faßbares, aber doch untrügliches Ideal vorschwebt. Ich weiß nicht, was Alles dazu gehört, die Völker zu beglücken; wohl aber, ob Dies dazu gehört und Jenes nicht.“ Oder kann Gutzkow deutlicher die Hoffnungen verrathen, mit denen er an diesem Buche schrieb, als wenn er an einem andern Orte sagt: „Ich will nicht den Sittenprediger spielen, ich würde mir sonst die Möglichkeit nehmen, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern ist mehr als sie belehren wollen, denn das erste läßt ihr Urtheil frei, während es das zweite gefangen nimmt. Ich will keine Anklage [264] stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich selbst.“

Armer Autor, du hast deine besten Gedanken vergebens vergeudet. Mit diesen Gedanken, sauber vertheilt und weiter ausgesponnen, hättest du für dein ganzes Leben als Journalist ausreichen können! [...] Du hast Alles auf einmal gegeben, wo sparsame Arzenei nöthig war. Unser Publikum liebt in der Literatur die Homöopathie. Es ist zufrieden, unter tausend Wassertheilchen einen Gedanken zu finden, wenn nur das Wasser hübsch mit Zucker und Frivolität versüßt ist. Du giebst Gedanken auf Gedanken. Und was wird dein Lohn sein? Die, welche dich am meisten schmähen, werden dich am meisten ausbeuten.

Ich muß auch auf die Mängel der Zeitgenossen kommen. Gutzkow hat den kleinen Heften zu viel anvertraut. Seine Hoffnung, bei dem deutschen Publikum durch den Inhalt derselben solche Theilnahme zu finden, daß die Zeitgenossen zu einem Journal würden, die er zu Anfang und am Ende seiner Vorrede deutlich ausspricht, beruht auf einer so großen [265] Mißkennung des Publikums, wie ich sie Gutzkow am wenigsten zugetraut hätte. [...] Gutzkow sagt zwar selbst, daß er nicht auf die Leute wirken könne, die er liebe, auf das Volk, er hoffe aber auf die zu wirken, die mit dem Volke umgehen. Daß dies geschehe, ist mein größter Wunsch. Möge kein Staatsmann, kein vornehm und zufrieden auf seine Hochwissenschaft herabblickender Gelehrter sich zu gut dünken, aus diesen Zeitgenossen zu lernen; möge keiner, der über sociale Fragen zu reden wagt, die Zeitgenossen nicht studirt haben!

Ich will nicht behaupten, daß alle jene Lebensfragen, welche die Neuzeit durchkreuzen, hier richtig gelöset sind, daß der Verfasser das Gesetz, wonach die Echtheit des Wirklichen beurtheilt werden soll, immer in Herz und Auge gehabt hat, daß in dem Buche der Stein der Weisen gefunden sei, welchen die Menschheit sucht. Ich hätte vielmehr an hundert Stellen Einwürfe zu machen, könnte hier eine halbe Wahrheit, dort eine Täuschung nachweisen, manche Behauptungen einander gegenüber stellen, die sich zu widersprechen oder gar aufzuheben scheinen. Man sieht, das Buch ist nicht in einem Gusse geschrieben und der [266] Verfasser hat während des Schreibens oft erst seine Meinung gebildet. Aber selbst wenn das Buch mehr Irrthümer enthielte als Wahrheiten, was gewiß nicht der Fall ist, es würde ein unendlicher Schatz sein, weil es zum Nach- und Selbstdenken nöthiget und die Wege zur Wahrheit ebnet.

Das erste Capitel dieses merkwürdigen Buches ist überschrieben: Der Mensch des 19ten Jahrhunderts. Gleich jenen künstlichen Karten, die uns die Schweiz mit ihren Bergen und Thälern, Städten und Sennhütten, Flüssen und Seen gleichsam aus der Vogelperspective zeigen, wird hier das Leben unseres Jahrhunderts vor uns ausgebreitet. Wir sehen nicht nur die Haupthöhenzüge, wir erblicken zugleich die verborgensten Beziehungen und Triebfedern. Mit anatomischer Feinheit sind die Muskeln von dem Zeitgetriebe abgelöset und unverwirrt, unzerrissen liegen die feinsten Nervenfädchen und die blutdurchströmten Arterien vor uns. Es gleicht dieses Capitel der Ouvertüre zu einer guten Oper, alle Töne und Melodien, die uns später entzücken sollen, sind schon hier angeschlagen. Es sind aber der Töne und Melodien so viele, daß sie sich nicht nach einander aufreihen und abzählen lassen. Selbst das Grundthema läßt sich nicht [267] mit wenig Worten charakterisiren. Ich will daher in den reichen Schatz von Betrachtungen und Gedanken hineingreifen und an verwandte Töne meine Bemerkungen knüpfen.

[Es folgt eine gründliche Auseinandersetzung mit Gutzkows Text, Kapitel für Kapitel. Besonders hervorzuheben ist die positive Einschätzung, die Oppermann dem Blick Gutzkows auf die ‚soziale Frage‘ des Jahrhunderts zuteil werden lässt:]

[272] Man hat in den Brockhausischen Blättern für liter. Unterhaltung [= 5.4.1.] die Gutzkow’sche Schilderung des aus der heutigen Armuth entwickelten Siechthums für ekelhaft ausgegeben. Das ist sie nicht; wohl aber schreckhaft. Zum Glück ist wenigstens das nicht ganz wahr, was von dem Verderben gesagt wird, das durch die Kartoffeln der Gesellschaft käme. Unsere neuern Chemiker wollen weder von dem Blausäuren-Gehalt der Kartoffeln etwas wissen, noch weniger aber unsere Aerzte von der stimulirenden Kraft derselben. – Aber das Siechthum, die Skrophulen der Armuth sind da, und sie sind Folgen der materiellen Unzulänglichkeiten. Fassen wir diese bildlich unter dem Namen der Kar-[273]toffeln zusammen, so ist dieses schreckhafte Gemälde doch wahr, wahr auch, daß Pietismus und die Revolution die extremen Folgen dieser im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten sind. –

Und die Mittel, diese Uebel zu lindern? Manche lernen wir im Verlaufe dieses Buches noch kennen, hier heißt es: ‚Man solle auf die Zeit selbst zu wirken und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsere Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzugroße Hoffnungen zu hegen.

Verstehe ich recht, so ist es der Enthusiasmus für Menschenwohl, und die unbedingte Liebe zur Menschheit, die kräftigen nur und helfen kann. Gutzkow sagt: „Es ist der Enthusiasmus der Ueberzeugungen eine Kraft geworden, die unserer Zeit mit den Anfängen des Christenthums und der Reformation eine Aehnlichkeit giebt.“ Dieser Enthusiasmus der Ueberzeugung ist es allein, von dem Heil zu erwarten ist in Verbindung mit der Steigerung der materiellen Künste. Aber es darf derselbe nicht auf eine einseitige Idee gerichtet sein, er muß das ganze Leben, die ganze Menschheit umfassen. Nicht ein einseitiger Enthusiasmus [274] für Republik, oder für Eisenbahnen, oder für Katholicismus, oder für Deutschthum, kann unser Jahrhundert fördern, sondern nur ein Enthusiasmus, der, auf wissenschaftlicher Ueberzeugung fußend, alle diese Interessen organisch in sich faßt, und nach ihrem verschiedenen Werthe an und für sich und zu dem Bedürfnisse der Zeit zu steigern, zu befestigen und zu verbinden weiß. [...]

„Die Revolution war die Blüthe des 18ten Jahrhunderts, die Erfüllung alles dessen, worauf das 18te Jahrhundert verwies. Unsere Zeit emanzipirt nicht zur Revolution, sondern aus der Revolution. Wir [275] denken nicht mehr nur an Zerstören, sondern selbst unsere zerstörerischen Gedanken sind nur dazu da, um aufzubauen.“ – Mit diesem Satze beginnt das zweite Kapitel und er wird weiter ausgeführt. Es wird gezeigt, wie der sociale Gedanke des Jahrhunderts aus dem Gedränge der wissenschaftlichen, religiösen und gesellschaftlichen Theorien, Träume und Neigungen gerettet werden könne! Ich möchte hier alles abdrucken lassen; denn Wahrheiten, wie sie hier gesagt sind, können nicht oft genug gesagt werden.

Das sind in der That die Probleme unserer Zeit, die hier gelöst werden; da ist der unselige Zwiespalt aufgedeckt, den Rousseau ahnete, als er seinen Emil schrieb, aber zu lösen nicht verstand. Tausende der ausgezeichnetesten Menschen haben auf ähnliche Weise die Uebelstände unseres Lebens geahnet, viele haben durch Versuche aller Art sogar die Lösung derselben sogleich in’s Leben einzuführen gestrebt – aus diesem Gesichtspunkte allein lassen sich allein die Bestrebungen des St. Simonismus, Fouriers, Owens richtig würdigen – aber mit solcher Klarheit und Bestimmtheit wie hier habe ich noch nie einen Ausspruch über diese Lebensfragen gefunden. [...]

[279] [...] Die Existenz. – Die hohen Ideale, welche Philosophen und Dichter aller Zeiten von Menschenwohl und Menschenglück gehabt haben, zerschellten sämmtlich an der Noth um die Existenz. [...] Wie viele Millionen Menschen [280] haben gelebt und leben, als sei ihre einzige Bestimmung, ihre Existenz von einem Tage zum andern kümmerlich zu fristen! [...] Und ist es das Ziel, was wir erreicht haben, indem wir uns aus der Leibeigenschaft des Mittelalters zur traurigen Lohnarbeit unserer Zeit emporschwangen? Ist kein Bestehen der Menschheit denkbar ohne äußerste Erniedrig[u]ng eines Theils oder werden nicht vielmehr mit Erhebung der Niedrigsten Alle gehoben??

Gutzkow erörtert auch hier zunächst die Thatbestände, und führt uns die Pläne und Projecte vor, die von St. Simon und Andern erdacht wurden, die niedern Volksklassen von der Noth der Existenz zu befreien. – Es liegt leider zu viel Wahrheit in der St. Simonistischen Behauptung, daß Besitzthum, Tyrannei, Menschennutzung, die Ungleichheit der Existenzmittel ge-[281]schaffen habe, daß Privateigenthum und Erbrecht (unter andern oft) die Grundlage des Nationalunglückes ist. Auch das Prinzip, daß jeder nach seinen Fähigkeiten und jede Fähigkeit nach ihren Werken belohnt werden soll, daß jeder Mensch ein Urrecht an den Boden dieser Erde habe, läßt sich philosophisch nicht widerlegen. Aber wie dies Prinzip verwirklichen?

Der St. Simonismus mußte scheitern, er hat wohl die Aufgabe klarer gestellt und Einzelnes zu ihrer Lösung beigetragen, allein seine Priesterherrschaft und die Thorheit Vater Enfantins, mußten ihn stürzen.

Gutzkow hat sehr recht, wenn er den Associationsgeist, auf solide Grundsätze zurückgeführt, für das vorzüglichste Hilfsmittel hält, die Schwierigkeiten der modernen Existenz zu erleichtern. Es bildet sich dies auch mehr und mehr zur gemeinsamen Ueberzeugung aller gebildeten Völker aus durch die gewaltigen Erfolge einzelner Versuche. Wie viel Mißgeschick ist dadurch allein nicht schon seltener gemacht und es steht die Aufgabe, dieses wenn nicht ganz zu vernichten, doch auf die größte Anzahl von Interessenten zu verbreiten. – Welch zufriedenes Leben könnten so manche nicht führen, wenn sie sich zu gemeinschaftlichen Haushaltungen (den Common Houses Englands) bequemten. Und wird [282] die Noth nicht endlich zwingen, den falschen Mantel des Bettelstolzes abzuwerfen und Frieden und Freundschaft zu halten?

An Associationen für das ganze Leben, an Associationen für vernünftiges Vereinleben der Menschheit fehlt es noch.

Dies Capitel, das zu den ausgezeichnetsten des Buches gehört, schließt mit dem Gedanken, „eine nationalökonomische Commission zu einer permanenten Beaufsichtigung der materiellen Existenz des Volkes“ in der nächsten Parlamentssitzung in Vorschlag zu bringen, ein Gedanke der würdig wäre, daß er von Bulwer, in dessen Namen er ausgesprochen wird, aufgenommen würde.

[Die Kapitel Das Moderne und Der Stein der Weisen befriedigen den Rezensenten weniger; zunächst über Das Moderne:]

[278] [...] Es spielen eine Menge Gedanken hin und her, ohne daß es zu einer rechten Sicherheit der Begriffsbestimmungen kommt. Einzelne Merkmale erhalten ein zu großes Gewicht, wenn sie auch nicht ohne Wahrheit sind. [...] Am bestimmtesten ist noch das „Moderne“ in Beziehung auf Literatur aufgefaßt: „Moderne Literatur heißt theils Abspiegelung der Zeitgenossen in der Lage, worin sie sich befinden, Einmischung in ihre Debatten, Frage und Antwort in Sachen des allgemeinen Nachden-[279]kens und der praktischen Philosophie. Der Literatur gegenüber ist das moderne Genre leicht in der Form, zufällig im Inhalte, subjectiv in Manier und Haltung, witzig und melancholisch, launig in jeder Beziehung, sehr begabt mit kritischem Talente und für die eigene Production etwas impotent oder wenig ehrgeizig, es den großen Klassikern der Vergangenheit nachzuthun.“ Diese Begriffsbestimmung enthält, was die Form der Darstellung angeht, zugleich die beste Selbstrezension der Zeitgenossen. Denn diese müssen wir für eine der schönsten Blüthen der modernen socialen Literatur anerkennen, aber wir müssen doch bezweifeln, daß diese moderne Literatur die Blüthe unseres Jahrhunderts sein werde. [...]

[282] [...] Der Stein der Weisen. Schon diese Capitelüberschrift zeigt eine Gedankencoquetterie und nirgends im ganzen Buche findet man auch ein größeres Spiel mit Deutungen und Gedankenverbindungen als hier. Erscheinungen aus dem Gebiete der alten und neuen Geschichte, werden gleichsam so lange gewendet bis sie zu einem Paradoxon oder einem gekünstelten Gedanken Gelegenheit geben. Reisen und Entdeckungen und nicht nur geographische sondern auch moralische, physikalische, mechanische Erfindungen werden mit einer geist-[283]reichen aber oft leichten Art besprochen – Eisenbahnen und Electromagnetismus, die vielfachen Bezüge des Dampfes hervorgehoben. Mancher einzelne schöne Gedanken wird von dem unlogischen Ungethüme, das in diesem Capitel hauset, verschlungen. [...]

[287] [...] Erziehung. Gutzkow steigt aus der materiellen Sphäre in die moralische. Erziehung, Sitte und Moral, eine Reihe von Gedankenvariationen, die nach einer schillernden Ausdrucksweise, zwischen Materie und der Reflexion die Mitte halten sollen, werden angekündiget. Aber Gutzkow bringt keine Gemeinplätze vor über Erziehung [...] [288] [...] Er giebt uns Portraits statt Maximen. [...] Doch ich kann hier keine Umrisse geben; all’ die festgezeichneten Linien, die feinen Pinselstriche, welche dem Portrait Leben und Bewegung geben, würden verschwinden. [...]

[290] [...] Der Zögling sollte früher mit der Religion als mit dem Christenthum bekannt gemacht werden. Hier schiebt Gutzkow den Brief eines rechtgläubigen aber tief gemüthlichen englischen Pfarrers ein, der an den Verfasser schreibt um ihn zu andern Ansichten über Religion zu bringen. Es kann nicht eindringlicher gesagt werden, was sich für den christlichen Glauben sagen läßt. Dieser Brief und die Antwort ist ein Meisterstück. Man höre, wie Gutzkow sich hier und später im zweiten Bande über Christenthum ausspricht, und man wird einsehen, daß man sich versündiget, wenn man ihm von der Wally her [...] leichtsinnige Verspottung des Christenthums noch immer vorwerfen wollte. Aber Gutzkow erkennt an, daß das Christenthum die Fragen, [291] welche unsere Zeit bewegen, z. B. die Frage von den Armen und den Reichen nicht lösen könne. [...] Auf die Erziehung zurückkommend giebt uns der Verfasser mancherlei gute Lehren. In Deutschland stehe alles, was für neu, frei und Volksbeglückend gehalten wird, im lebhaftesten Verkehr mit Erziehung. Leider sei die deutsche Nation um die schönsten Hoffnungen, um so reichen Samen einer herrlichen Zukunft, wie er sich in Folge der Freiheitskämpfe offenbart hatte, betrogen [...] Damit hie oder da keine Regierungsform zu Grunde gehe, damit die Verhältnisse von Fürst, Unterthan, Adel in ihren alten Traditionen erhalten werden, [292] wird die Geschichte um eine neue Epoche betrogen [...]

Der erste Band des Werkes schließt unter der Ueberschrift Sitte und Sitten mit der Episode aus einem Romane, die das Verderbniß des Familienlebens unserer Zeit sehr grell und eindringlich schildert, und die auch solchen zu empfehlen ist, welche das Selbst-[293]denken, zu de[m] uns die Gedankenvariationen der übrigen Capitel nöthigen, ermüden sollte.

Der zweite Band der Zeitgenossen setzt das Capitel Sitte und Sitten fort und sucht die schwierige Aufgabe zu lösen über die Gewohnheiten, Institutionen und Gebräuche unserer heutigen Gesellschaft und das Moralprincip, welches ihnen zu Grunde liegt, einen gründlichen Aufschluß zu geben. Der Verfasser gesteht von vorne herein, daß es mit diesen Untersuchungen ein ähnliches Bewandtniß habe, als mit den Untersuchungen über das Moderne, wo er rein auf einem dunklen Meere hin und hergeworfen sei, auch müßte man an Auffindung eines allgemeinen Prinzipes verzweifeln, und sich über die vereinzelten Pulsschläge eines allgemeinen Lebens aufzuklären suchen, welches bei den Zeitgenossen sich Durchbruch zu verschaffen scheine.

Wie haben sich die Begriffe in den letzten 50 Jahren verändert und wieviel Gewohnheiten sind danach umgemodelt worden? Die Gesetze des Anstandes, welche früher gegeben wurden, werden jetzt als altfränkischer Pedantismus verlacht, die Bewegung ist in dem Maße freier geworden als es das Urtheil wurde. Welche große Bahn, die zu durchschreiten ist! Nach diesen Präludien eröffnet Gutzkow die Fernsicht auf seinen [294] Gegenstand dadurch daß er einige Gegensätze aus der alten und ältesten Zeit gegen die Unsrige hervorhebt. Dann werden Sitten der Römer und Griechen, unter andern auch Peter der Große und seine Einwirkung auf russische Sitten, die Wirkungen, welche die moralischen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts auf die Sitten übten, indem sie den abstrakten Menschen schilderten, Tracht, feines Benehmen, Ton, Musik, Spiel, Tanz, Liebe, Ehe in ihren mannigfaltigen Beziehungen in bunten, leichten Raisonnements besprochen.

Wir steigen dann zu den gesellschaftlichen Abnormitäten herab, und soviel es gehet, ohne uns zu beschmutzen, auch zu den Kloaken, die Parent-Düchatelet durchforscht hat. Von dieser Sittenlosigkeit ohne Verbrechen, führt man uns zu Verbrechen, zu Recht und Gerechtigkeit, Strafe und ihrem Maaße. Wenn irgendwo, fände ich hier Gelegenheit mit dem Verfasser zu streiten, obgleich ich ihm in den Grundgedanken Recht gebe. Er hat sich nur zuviel von dem alltäglichen Raisonnement bestechen lassen, das eine schwache Seite des Liberalismus ist. Ich gestehe gern zu, daß es unserer Zeit am juristischen Verstande, an der reinen Logik und Mathematik der gesellschaftlichen Verhältnisse mangle. Ich will das neue Prinzip der [295] Straftheorie, welches auf Sicherheit beruht, nicht in Schutz nehmen, ich erkenne mit Gutzkow an, daß es voll von Widersprüchen und inhuman ist, ich erkenne an, daß der juristische Gesichtspunkt der Strafe von dem moralischen Gesichtspunkte, dem der Besserung, nicht getrennt, am wenigsten über ihn gestellt werden soll. Ich möchte mich am wenigsten zum Vertheidiger der Todesstrafe aufwerfen. Aber in all’ den mannigfachen Raisonnements, selbst in der schön gelungenen Zurückweisung der Trugschlüsse des Granier von Lassagnac habe ich kein Mittel zur Abhülfe aller dieser Uebelstände gefunden. [...] Eine Erörterung habe ich in diesem Capitel ungern vermißt, – über den Einfluß der Polizei auf Sitten, Charakter, Institutionen und Freiheit. [Es folgen eigene Ausführungen Oppermanns zum Missbrauch polizeilicher Gewalt gegenüber dem „Volk“.] [297] [...] Jedoch man sieht, der Verfasser hat meistens in großen Städten gelebt und das Glück gehabt unter so manchen Erfahrungen nicht noch die von Polizeiwillkühr zu machen, außer vielleicht einmal beim Paßwesen oder der Censur, die man ja auch in die Polizei hineingezogen.

[298] Wir kommen zu Religion und Christenthum. Als Präludien erhalten wir einige scharfgezeichnete Charakteristiken über englische Sinekuren-Priester, wie über nicht unbekannte deutsche Universitätslehrer, Skizzen die uns immer bedauern lassen, daß Gutzkow die längst angekündigte Gallerie von Portraits der Zeitgenossen nicht eröffnet oder fortgesetzt hat, wenn wir seine „Götter, Helden und Don Quixote“ als eine solche Eröffnung zu betrachten haben.

Gutzkow kommt von den Priestern jedoch bälder zur Religion, als man erwarten, vielleicht wünschen könnte. Es wird das Christenthum charakterisirt, welches uns das eilfte Jahrhundert als Erbschaft zurückließ. Es war dies keine glänzende Erbschaft; dennoch hat sich das Christenthum neue Siege erfochten, es hat sich Ruhepunkte und positive Anknüpfungen erobert und dadurch seine Kraft und Fähigkeit beurkundet, Glauben einer zukünftigen Zeit zu sein. [...] [299] [...] Es wird keine Verklärung und Wiedergeburt des Christenthums möglich sein, wenn wir uns nicht zur Ehre seines Inhalts ganz und gar von seiner Form und seinem Buchstaben befreien. – Wir werden uns immer mehr daran gewöhnen, das Christenthum als eine Blüthe der allgemeinen Religionsgeschichte zu betrachten, und sein inneres Saamenkorn zu schätzen, mögen auch die äußeren Blätter, auf welche die Mährchen von Wundern, Auferstehung und Himmelfahrt geschrieben sind, längst verwelket sein, mag auch der Stamm der Kirche, welche das Ganze zu tragen vorgiebt, längst vom Wurm angefressen sein.

Das sind etwa die Hauptgedanken und Urtheile des Verfassers über Ewiges und Vergängliches im Christenthume, die ihn nicht verlassen, wenn er die Religion im Gebiete der Kirche und als Wissenschaft, wenn er sie im Gebiete des Staates und in Beziehung auf die Gesellschaft verfolgt. Wir können jedoch hier nicht in die Einzelnheiten folgen, so oft wir ihm auch unsere volle Beistimmung zu geben hätten. Wir bemerken nur, daß die theologischen Fragen des Christenthums hier auf eine ernste wissenschaftliche Weise erörtert sind, daß die Resultate der Forschungen Strauß’s in kurzen Grundzügen vorgelegt und anerkannt sind, daß [300] aber Gutzkow einen Standpunkt über ihnen einnimmt. Von diesem Standpunkte kann er die beiden Hauptsysteme der neueren Theologie, die sich von Historie, Kanon und symbolischen Büchern unabhängig zu machen streben, das Schleiermacher’sche moralische und das metaphysische System klar überschauen. Wie es uns scheint, wird in unserer Zeit der politischen Ruhe und des Indifferentismus ein großer Kampf um religiöse Freiheit ausgefochten werden [...], aber seine Symbole sind andere geworden – es handelt sich nicht mehr um Supernaturalismus und Rationalismus, es handelt sich um gänzliche Freiheit vom Buchstabengeiste, um Freiheit von der Kirche, um Ablegung aller Heuchelei und allen Kokettirens mit philosophisch-christlichen Begriffen und Symbolen und wir hoffen, daß die Fackel der öffentlichen Denunciation [...] das Christenthum rein brennen werde von dem Mythus der Bibel, daß ein neues, die Menschheit erlösendes und heilendes Christenthum entstehen werde, ein Christenthum, das [301] sich auf nichts anderes mehr gründe, als auf die Macht der eigensten, freien Ueberzeugung. Dem Laien, der sich über den entstehenden Kampf orientiren will, empfehlen wir das Capitel über Christenthum und Religion.

Was Gutzkow über das schwankende Verhältniß zwischen Staat und Kirche sagt, hat durch die späteren Köllner Ereignisse hohe Bedeutung bekommen. [...] Von hier aus werden wir zu Missionsvereinen, zu Heiden- und Judenbekehrungen geführt, woran sich die Tagsfrage über Judenemancipation knüpft. Ein vorurtheilsfreier und geistreicher Israelit sagte mir, ehe ich Gutzkows Erörterung gelesen, es sei da vieles Hin- und Herreden, so daß Gutzkow oft selbst nicht zu wissen scheine, was er wolle, und das „emanzipirt“ nur so angehängt habe. Das habe ich jedoch nicht bestätiget gefunden. Gutzkow will Emanzipation der Juden, aber auf dem Wege der allmählichen Reform. Er ist gegen das: „emanzipirt Euch selbst!“ weil man dabei übersehe, daß gerade jene Bildung, die wir bei den Juden vermissen, jene Bildung, die sie mit uns [302] gleichmachen und den scharfen Accent des Unterschiedes aufheben soll, nicht die Wirkung, sondern die Ursache der Emanzipation sein könne. Er hebt aber die Mängel des jüdischen Charakters, welche die Freunde der Emanzipation nicht sehen zu wollen scheinen, heraus, und bekennt, daß dieselben hauptsächlich in der jüdischen Isolirung ihre Nahrung fänden.

Aus der Sphäre der gemüthlichen Beziehungen und Seelenstimmungen treten wir mit dem Capitel Kunst und Literatur in die des Geistes. [...] Es ist wahr, unser Leben leidet an einer Ueberfüllung mit Kunst. Darin und in der weit vor unsern Thoren verbannten Natur finden sich eben so viel Hindernisse einer künstlerischen Erziehung, als in den Personen. Die Gemüther der Masse sind dem Schönen nicht zugewandt. Nichts kommt der Kunst entgegen; was sie braucht, muß sie suchen. [...] [303] [...] Wir wollen nur hervorheben, was er [Gutzkow] von der Dichtkunst sagt: „die Dichtkunst ist Opposition geworden, bei sanfteren Naturen gegen gewisse hergebrachte poetische Theorien, bei stärkeren sogar gegen die Verfassung der Gesellschaft.“ Ueber den Roman, der in historischen, Charakterbild und speculativen Roman eingetheilt wird, lesen wir manches gute Wort.

Wissenschaft und Literatur, die uns im Schlußcapitel entgegentreten, haben sich im Leben fester zu stellen gewußt, als Kunst und Literatur. Der Zeitgeist versöhnte sich leichter mit ihnen, weil er ihrer bedurfte; hat sich doch die neue Zeit allein durch die Wissenschaft vom Mittelalter befreit. Diese Gedanken leiten das Capitel ein, das bald aber zu einem mit vorzüglichem juristischem Verstande durchgeführten Raisonnement über Presse und Nachdruck einbiegt. Der Kampf, welchen Empirie und Speculation in der Wissenschaft zu kämpfen hatten und zum Theil noch kämpfen, ist charakteristisch geschildert. Die Andeutungen über Naturwissenschaften, Medicin, Homöopathie, Historie und Rechtslehre sind zum Theil treffend, zum Theil einseitig. Leider zu wahr ist jedoch die Bemerkung, daß die Philosophie in unserer Zeit weniger Ach-[304]tung genießt als im vorigen Jahrhundert. Die Entwicklung der Philosophie in England, Deutschland und Frankreich ist jedoch nur mit sehr dürftigen Farben geschildert und erhebt sich nicht weit über das, was Heine im Salon darüber gesagt hat. Ich möchte nach dieser Skizze zweifeln, ob G. Kant, Schelling und Fichte selbstständig studirt hat. Wir wollen ihm daraus keinen Vorwurf machen, denn jeder kann nicht Alles und Gutzkow hat uns durch dies Werk gezeigt, daß er Vieles, sehr Vieles kann und weiß. Gutzkow steht gleich Börne im Geschichtlichen, aber die ewige Grundlage der Geschichte ahnend und erstrebend, und diese oft in dichterischer Intuition bestimmter und klarer erfassend als die Speculation bisher sie zu erfassen vermocht hat. Vielleicht ist es ein Glück, daß er sich nicht mehr in Metaphysik vertieft hat, denn ihm wäre gewiß die Unbefangenheit der geschichtlichen Auffassung, die Schärfe der Geschichtszeichnung, die ihn bei seinem dichterischen und ahnungsreichen Gemüth zur Philosophie der Geschichte so sehr befähiget, verloren gegangen. Wir hätten ein neues philosophisches System, aber keinen Selbstdenker und Beobachter Gutzkow, an dem es der Zeit Noth that. [...]

[305] [...] Gutzkow’s Metaphysik erhebt sich nicht über den pantheistischen Gedanken: „Alles ist zwar Gott, aber nicht Jedes. Jedes ist nicht Gott, aber Gottes, die Harmonie ist Gott, aber die einzelne Note als Einzelne kaum göttlich.“ [Es folgt eine Auseinandersetzung Oppermanns mit der von ihm empfohlenen philosophischen Lehre von Christian Friedrich Krause (1781-1832), die ungleich der Hegels „in die Räder der Weltgeschichte einzugreifen“ befähigt sei, und danach mit Gutzkows Bemerkungen zu Europa sieben Jahre nach der Julirevolution.]

[307] [...] Wir sind am Schlusse; und noch sei ein Wort erlaubt! [...] [308] [...] Wer [...] ein Buch noch nicht kennt, dem dient oft selbst eine Inhaltsanzeige mehr, als eine allgemeine Charakteristik, sieht er doch was er zu hoffen hat und was er nicht erwarten darf. [...] Die Treue, mit welcher ich dem Gedankengange des Verfassers gefolgt bin und den Inhalt zu analysiren versucht habe, möge nicht allein von meinem hohen Interesse an dem Werke zeugen, sondern auch von dem Wunsche, bei Andern ein gleiches Interesse zu wecken.

Von dem Werke selbst möchte ich noch das sagen, was Gutzkow von unserm ganzen geistigen Streben sagt: es ist noch viel Unvollendetes und nach Abschließung Ringendes darin vorhanden. Es fehlt vor allem an der schönen künstlerischen Form. [...] [309] [...] Für einen Fehler wollen wir es auch nicht halten, daß Gutzkow sehr oft das Ziel, die Zeitgenossen zu schildern, mit dem verwechselt, sie zu belehren, zu ermahnen und zu bestrafen; ist dies doch durchgehends ohne Schulmeister- und Professorenton geschehen. Daß uns hier nicht etwa stylistische Variationen derselben Gedanken geboten werden, wie in manchen andern Productionen unserer Zeit, brauche ich nach dem bisher Gesagten nicht noch besonders hervorzuheben. Daß aber der Styl durchweg ungeziert und ohne bauschigen Redeprunk ist, verdient in unserer Zeit der Effekthaschereien nur Lob.

Das Ganze ist einer üppigen Landschaft, mit reichem Vordergrund, vollen Fruchtschnüren, Schlingpflanzen und Blüthen, lebendigem Treiben von Menschen, und entzückenden Fernsichten, von Morgenroth der Zukunft beschienen, zu vergleichen. Nirgends kann uns Ermüdung überfallen, sondern die höchsten Gedanken und ein reines Menschheiterfülltes Gemüth weht uns über-[310]all wie frischer Morgenwind entgegen. Möge daher das Buch in dem Gewirre von Schriften, die uns zu überschwemmen drohen, nicht untergehen, möge es die Mitbrüder die Zeit und Stunde erkennen lassen, in der sie leben, und sie veranlassen, die Lösung der Fragen, welche ihnen obliegt, nicht in, sondern über den Gegensätzen zu suchen, damit die schöne Grabschrift wahr werde, welche Gutzkow am Schlusse seines Werkes unserer zu so Großem berufenen Generation gesetzt hat!

5.4.6. G. E. A. J. Zander, 20. Dezember 1839#

[Gottlieb E. August Johann] Zander: Religion und Christenthum, mit Beziehung auf Herrn Bulwer’s Zeitgenossen. In: Freimüthiges Abendblatt. Schwerin. Nr. 1094, 20. Dezember 1839, Sp. 1009-1015; Nr. 1095, 27. Dezember 1839, Sp. 1025-1033. (Rasch 14/14.39.12.20N)

Man darf wohl annehmen, daß des Herrn Bulwer’s Schriften in unsern Tagen in allen Händen des lesenden Publicums sind, und besonders desjenigen Publicums, welches bloß lieset, um unterhalten zu sein. Auch seine Zeitgenossen*) werden daher ohne Zweifel den Weg durch die Hände dieses lesenden Publicums genommen haben. Wenn nun zwar ein großer Theil des letzteren die gesuchte und begehrte Unterhaltung in den Zeitgenossen nicht gefunden haben mag, wie er solche in Herrn Bulwer’s Romanen gefunden hatte, und wenn er deshalb, des ernsteren Inhalts dieses Werkes müde, dasselbe bei Seite legend, von des Hrn. Bulwer’s „Religion und Christenthum“ in seinen „Zeitgenossen“ keine Notiz erhalten haben wird; so mag doch auch die Capitelbezeichnung: „Religion und Christenthum“ manchen Leser angezogen haben.

Weil nun aber die Exposition des Herrn Bulwer über diesen hochwichtigen Gegenstand neben manchem Beherzigungswerthen viel mehr Falsches und Unbegründetes enthält und Resultate gewinnt, die von einem frommen Christen, wie freisinning er auch sein mag, doch nicht angenommen werden können, so wenig als auch nur von einem besonnenen Mitgliede der christlichen Gemeinschaft; und weil ferner der bestechende und gewinnende Vortrag des Herrn Bulwer gleichwohl den Leser, der sich von seinen Ueberzeugungen und Grundsätzen eigene Rechenschaft zu geben nicht gewohnt ist, in sein Raisonnement und dessen Schlüsse hineinzuziehen vermögend sein könnte, wodurch denn [1010] manche in ihrem Indifferentismus gegen das positive Christenthum und die Frömmigkeit überhaupt bestärkt werden möchten; so hielt der Einsender es für nicht unangemessen, in diesem Blatte etwas gegen den Hrn. Bulwer einzubringen, welches keine höheren Ansprüche macht, als neben dem höchst Subjectiven des Herrn Bulwer als Subjectives sich hinzustellen, um so neben der einen Seite des beregten Gegenstandes auch die andere Seite hervorzukehren.

Herr Bulwer hat nun freilich ganz wohl bemerkt, daß die Zeitgenossen von jenem alles negirenden Taumel der Scepsis zurückgekommen sind, womit die jüngsten Vorfahren das letzte Jahrhundert schlossen und das gegenwärtige begannen, von jener Frivolität, welche jedes fromme Gefühl begreinte, das Christenthum verspottete, den Cultus belachte, den Geistlichen als solchen beschimpfte, und es als ihre Ehre ansah, die Kirche im Innern und Aeußern zu spoliren und zu zertrümmern; er hat bemerkt, daß diese jämmerliche, leere Windbeutelei, nachdem aller Wind ausgelassen worden, umgeschlagen sei in ein Gefühl des Verlangens, die leere Flachheit, welche Platz genommen im Gemüthsleben, wieder zu bereichern; er hat bemerkt, daß ein Bedürfniß erwacht sei, Glauben und Liebe und Hoffnung zu haben, und eine Gestalt zu besitzen, in welcher sich diese besonders manifestiren; er hat bemerkt, daß die Zeitgenossen sich umgesehen und gesucht haben, wo und wie sie das Befriedigende haben und erhalten möchten, und daß sie bei aller gerühmten Herrlichkeit und Weisheit der Gegenwart nichts Neues haben finden können, auf das Christenthum, wie es war und ist, recurriret seien, und daß sie gerne wieder christlich sein wollen – aber, und dieser Schluß ist seltsam – sie könnten nicht weiter kommen, sagt Herr Bulwer, „als bis zum Niveau des gegenwärtigen religiösen Bewußtseins“. Dies Niveau veranschaulicht uns nun Herr Bulwer, und zwar läßt sich darin nichts anders [1011] erkennen, als der blankste Rationalismus, zu welchem als seiner Fahne Hr. Bulwer geschworen hat und auf welchem er in dem Christenthum eine morsche alternde Ruine sieht, ohne Lebenskeime, oder einen Baum, „in welchem der Lebenskeim abgestorben ist, weshalb er das politische Leben nie mehr anders gestalten könne, als wie dasselbe ist“. „Das Tau“, sagt er, [„]welches früher den Anker des Glaubens und das Fahrzeug des historischen Lebens zusammenhielt, ist durchschnitten.“

Des Herrn Bulwer prophetischer Geist sieht das Ende der christlichen Kirche daher auch nicht ferne, und er weiß, „daß das große Gesetz für die Zukunft sich geltend machen werde, daß es keine Kirche mehr, sondern nur Wahlverwandtschaften geben werde. Es wird die Gemeinde nicht zusammengerufen werden, sondern sie wird aus solchen bestehen, die sich zusammenfinden“.

Auf diesem Niveau der religiösen Ueberzeugung ist denn Herrn Bulwer und seinen Zeitgenossen die Taufe nichts anderes mehr, als ein bürgerlicher, polizeilicher Act (!); ja Herr Bulwer behauptet sogar, indem er sich und solche Zeitgenossen, als er zeichnet, für die christliche Kirche zu substituiren wagt, – er behauptet sogar, horribile dictu, die Kirche sehe in der Taufe nichts weiter und „habe deshalb denn denen, welche für den neugebornen Weltbürger das Glaubensbekenntniß ablegen, nach Umständen eine mildere Formel anzubieten“.

„Das Dogma der christlichen Kirche ist Herrn Bulwer nichts anders, als Beschreibung des religiösen Moments. Alle Dogmen daher sind bloße Darstellungen einzelner verlaufener frommer Momente, die zu anderen Zeiten in anderen Individuen anders verlaufen“. „Sie haben daher nur einen Werth in der Geschichte der Psychologie“. „Man lasse ihren Duft – sagt Herr B. dichterisch – auf sich fallen, und erwarte, wie und inwiefern sie das religiöse Gemüth befruchten“.

Des Herrn Bulwer Kritik über das Wesen und die Geschichte des Christenthums und seine Urkunden ist abgeschlossen. Herr Bulwer und seine Zeitgenossen sind damit so in’s Reine und an’s Ende gekommen, daß das Resultat dieser Kritik nach ihm ein Petrefact der Zukunft sein wird, wie Herr Bulwer uns als einen Glaubensartikel seiner Zeitgenossen versichert – er sagt: „wir glauben, daß dieses die Krone der heiligen Wissenschaft sein und bleiben werde“. Diese Krone der heiligen Wissenschaft nun ist eben die pure Negation des historischen Christenthums, welche demselben allen historischen Boden wegzukritisiren sich abmüht, worin sie nach Herrn Bulwers Zeitgenossen glücklich gewesen sein soll. Herr Bulwer weiß nun ziemlich gut die Resultate dieser negirenden Kritik und behauptet mit ihr ganz gleich dreist, dies sei die Frucht der Mühen zweitausendjähriger Weisheit und Gelehrsamkeit, daß die ganze Historie des Christenthums als Mährlein erkannt worden sei. Daß irgend eine andere Kritik dagegen opponire und sogar glücklich opponire und der Negation Feld abgewinne, davon sagt Herr B. nichts oder weiß auch nichts davon. Ungemein naiv behauptet [1012] er sogar: „somit sei es nun ein Leichtes, zu zeigen, was im Leben Jesu wichtig [recte: richtig, M.L.] und einzig und allein möglich war“. Er unterläßt es aber, der Sovielwissende, als die ganze Welt nicht weiß und nimmer zu wissen hofft, diese ihm so leichte Angabe zu machen. Doch mag er sein leichtes Geheimniß immerhin mit unter die Erde nehmen, die Welt hat nichts daran verloren, denn es war entweder ein Wahn oder eine Lüge. Es steht doch einem Menschen nicht zu, von Gott selbst zu sagen, was im Leben einzig und allein möglich war.

Herr Bulwer bezeichnet die Krone der heiligen Wissenschaft seiner Zeitgenossen, die im Zustande der Versteinerung nun auch für alle Zeiten seinem Glauben nach bleiben wird, näher und zwar folgendermaßen:

[Es folgt eine im Wesentlichen wortgetreue Wiedergabe der sieben in den Zeitgenossen aufgestellten Grundsätze, die sich aus der Kritik der Evangelien ergeben, mit ihrem einleitenden Absatz: Nichts wird mehr in Abrede gestellt (GWB III, Bd. 3, S. 471, Zeile 24) bis im Zusammenhang mit den übrigen mystisch-religiösen Traditionen des Orients zu betrachten (S. 473, Zeile 12-14). Ohne sich zunächst mit diesen Punkten auseinanderzusetzen – dies geschieht in Sp. 1029-1030 – , fährt der Autor fort:]

[1013] [...] Außerdem trägt Herr Bulwer beigehends und auch noch besonders einen rechten Widerwillen gegen jede Kirche und gegen alle Geistlichen ex professo zur Schau, den er hier und da wieder etwas mit milderer Farbe anstreicht, weil er nicht als der nunmehr lächerlich gewordene Sturm des Anfangs dieses Jahrhunderts auf dieselben losgelassenen Unglaubens aussehen soll; ein Widerwille, der beinahe dennoch ungeachtet der milden Anstreichung als ein Horror erscheint; denn Herr B. versichert uns, „daß er der Kirche überall aus dem Wege gehe“ – er meint das gottesdienstliche Gebäude besonders, wiewohl er auch in der Kirche als Gemeinschaft nur einen stinkenden Leichnam zu sehen meint – und ihm ist selbst der ehrwürdigste Geistliche – ein Richard Baxter – ein Gegenstand, auf den er von seinem Schreibpult aus nur Steine zu werfen sich berechtigt achtet.

Obwohl nun jedem Christenmenschen aus dem Vortrage des Herrn B. von selbst entgegenkommt, daß derselbe und seine Zeitgenossen das echte und rechte Christenthum mit beiden Händen von sich weisen, so thut Herr B. gleichwohl ganz süßlich mit einem gewissen Christenthume und macht glauben, daß er und seine Zeitgenossen „auf dem Niveau der gegenwärtigen religiösen Ueberzeugungen“ ein Christenthum hätten comme il faut, welches auch für alle Zeiten bleiben werde. Er hütet sich aber wohl, dies unbekannte Etwas irgendwie weiter und näher zu bezeichnen, und wenn er auch davon prädicirt, daß es tief sei und in wahrhaft religiösen Momenten sein Wesen habe, so bleibt der Gegenstand doch durchaus so geheimnißvoll, als ließe sich nichts davon lautbar machen, und man kann nur aus mancherlei Wendungen der Rede heraushören, daß es ein Christenthum ist ohne wirklichen Christus, ohne eine Geschichte, ohne eine Form, ohne Sacrament, ohne Glauben und ohne bestimmten Gegenstand des Glaubens, ohne Cultus, ohne Erlöser, [1014] denn dem Herrn B. hat ein „großer Genius“ gesagt: „daß ein jeder sein eigener Erlöser und die Erlösung keine andere sei, als solche, die ein jeder mit sich selbst anfängt“.

Herr B. hat im Vorstehenden sein und seiner Zeitgenossen Christenthum – sollte wohl heißen: Nichtchristenthum – aufgestellt.

Nun könnte es vielleicht überflüssig scheinen, im Interesse des wahren Christenthums gegen solche Darstellung zu polemisiren, denn jeder, welcher nur nicht „der Kirche Christi so angelegentlich aus dem Wege geht“, als Herr B., wird sagen: was Herr B. auch als Christenthum im Petto haben mag, so ein Geheimnißvolles, das keine Manifestation hat, keine Form schafft, keine Geschichte und keinen bestimmten Stempel höherer Auctorität, darum keinen gewissen Charakter, keine Zeichen der Gemeinschaft, endlich keinen Erlöser, noch einen Grund der Hoffnung u. s. w. hat, das ist überall kein Christenthum. Dennoch möchte eine Polemik dagegen und zwar in einem populairen Blatte nicht bloß nicht überflüssig, sondern sogar nöthig sein. Es gibt viele bulwerisirte Geister in diesen Tagen, welche mit oder ohne Hülfe des Herrn B. so Etwas im Hinterhalt haben, wovon sie weder sich noch Andern etwas zu sagen wissen, welches sie aber sich und Andern für das wahre Christenthum ausgeben, und grade etwa so poetisch süß und floskelreich davon sprechen, als Herr B. thut, dagegen aber auf ihrem Sopha oder in ihrem Armsessel dem wahren Christenthume seine Würde, seine Wahrheit, seine Kraft absprechen und dasselbe, als einen Alterspatienten, dem Grabe übergeben. Einsender hält es daher nicht allein für angemessen und erlaubt, sondern er betrachtet es als seine Christenpflicht, außerhalb der Gelehrtenschranken auf demselben Felde der Oeffentlichkeit dem Hrn. B. bescheidentlich entgegenzutreten, auf welchem er dem Christenthume Niederlagen zu bereiten sucht, auf dem Felde der Unterhaltungslectüre, des Closets, der Sopha’s und der Armstühle, und zwar drängt es ihn um so mehr, entgegenzutreten, weil Herr B., oder wer er sonst sein mag, durch seinen bilderreichen, einnehmenden Styl und durch manche richtige und schöne Darstellung von Einzelheiten, wie schon durch seinen bestens introducirten Namen, viele bequeme Leser besticht, die in ihrem Armsessel oder auf ihrem Sopha und in ihrer religiösen Armseligkeit dem Selbstdenken um so lieber den Paß geben, als sie sagen können: Herr Bulwer hat das auch gesagt. – Wie aber, wenn Herr Bulwer das nun doch nicht gesagt hätte?

Es ward so eben nämlich in Parenthesi bezweifelt, ob Herr Bulwer auch der Verfasser der hier beredeten Zeitgenossen sei, und hierüber ist Einsender schuldig, sich zuvor zu rechtfertigen. Zu diesem Zwecke mag hier zunächst eingebracht werden, daß Einsender bei Lesung des besprochenen Capitels in den Zeitgenossen eine veränderte Gesinnung gegen Herrn Bulwer in sich entstehen spürte, dessen Schriften er sonst gerne gelesen hatte, wiewohl in seinen Engländern er etwas Bitterkeit gegen die Aristokratie und hohe Geistlichkeit durchzuschmecken meinte, die aber allerdings in vieler [1015] Beziehung mehr als entschuldigt werden könnte. Aus dieser Veränderung gebar sich der Zweifel an die Authentie des Autors. Doch hätte Einsender, welcher der Kritik der schönen Literatur nicht obliegt, seinen Zweifel entschlummern lassen; allein mit sehr guten Gründen weiset ein Kritiker in des Herrn Brokhaus Blättern für literar. Unterhaltung [= 5.4.1.] nach, daß Herr Bulwer, der englische Erzähler, der Verfasser der Zeitgenossen nicht sei, und macht glaublich, daß Herr Gutzkow, der Verfasser der Vorrede zur Lucinde von Schlegel, seine Zeitgenossen in dem hier besprochenen Werke besprochen habe. Ob nun Herr Gutzkow der Verfasser sei oder nach Gründen der innerlichen Kritik sein könne, darauf will sich Einsender nicht einlassen. Den ehrenwerthen wirklichen Herrn Bulwer spricht er aber gerne von der Sünde wider den heil. Geist frei, die hier nach seiner Ansicht an dem herrlichen Christenthume, dem wirklichen und historischen, begangen ist, und darum nennt er in seiner weiteren Polemik den Verfasser der Zeitgenossen nicht Bulwer, sondern Pseudobulwer oder kurzweg Pseudes.

[1025] Des Herrn Pseudes Vaticinium [d. h. Voraussage] vom nahen gänzlichen Aufhören der christlichen Kirche ist nun aber durch nichts als Ausfluß eines prophetischen Geistes beglaubigt; im Gegentheil, diese von Beobachtungen der Aeußerlichkeiten hergenommenen Gründe zu solchem Vaticinio ermangeln offenbar des Hauchs göttlichen Geistes. Herr Pseudes meint und versichert, daß der heil. Geist, welchen der Herr seiner Kirche gesendet hat, nach einem gegen ihn verunglückten Versuche zur formellen Emancipation des Fleisches, verschieden sei, und daß deshalb das historische Christenthum nimmermehr schöpferisches Leben entfalten und gestalten könne und werde. Darin täuscht sich aber Herr Pseudes gröblich selbst, wenn wir das Beste annehmen. Der heilige Keim, welchen der heilige Geist in gläubige Gemüther gepflanzt hat und noch immer pflanzt, ist sich schöpferischer Lebenskraft bewußt, wenn auch fleischliche Zeiten seine schöpferische Lebenskraft hemmen und bedrängen. Diese gegenseitige Behauptung läßt sich freilich dem Herrn Pseudes aus seinen Zeitgenossen nicht beweisen, grade eben so, als er die seinige vom Absterben des heiligen Geistes dem Einsender und seinen Zeitgenossen nimmer wird beweisen können, denn die beiderseitigen Behauptungen sind nichts als innere Erfahrungen, die sich einander ausschließen. [...] [1026] [...] Da übrigens des Herrn Pseudes Vaticinium von der äußeren Erscheinung in dieser Zeit empfangen ist, so kommt sie um so mehr als eine Mißgeburt zur Welt, als grade diejenigen Zeitgenossen, welche nicht des Herrn Pseudes Genossen sind, sich der schöpferischen Lebenskraft des alten und doch immer neuen Christenthums inniger und lebhafter als je bewußt werden. Konnte der affectirte Weltschmerz einer mit allen heiligen und schönen Gefühlen spielenden und keck trotzigen Jugend der jüngsten Vergangenheit in der Emancipation des Fleisches das Heil der Welt empfehlen; so wird die folgende Jugend, von weisen und liebenden Eltern, welche durch Gefahr gewarnt sind, geleitet, solche Emancipation in dem lebhaften Gefühle einer unbefleckten Jugend verabscheuen, und ihr Herz, von dem Hauche der Welt, wenn auch unvermeidlich angehaucht, doch nicht durchhaucht, wird dem heiligen Keime, der in der Taufe gelegt ward, Raum geben, sich zu entfalten und ein herrlicher Lebensbaum christlicher Schöpfungen werden. Eine solche Hoffnung haben wir Väter wohlbürtiger, in treuer, ehelicher Liebe erzeugter Söhne und Töchter zu Gott durch Christum. Den Gedanken von Abgestorbensein des lebenskräftigen Keims des Christenthums in den Zeitgenossen konnte nur der blankste, Alles beschnüffelnde, Alles deraisonnirende, Gott und Dinge verredende und zersetzende, in der beschränktesten Subjectivität und dem verknöchertsten Egoismus befangene, herzlose Rationalismus eines Individui erzeugen, in welchem dieser Keim schwer erkrankt, wenn nicht gänzlich abgestorben ist.

Ein solcher auch konnte nur sich selbst überreden oder gar Andern nur weiß machen wollen, daß die Kirche Christi in der Taufe nichts anderes mehr sehe, als einen bürgerlichen polizeilichen Act, und daß sie deshalb „nach Ansicht toleranter Theologen“ sogar den Pathen eine mildere Taufformel anbieten solle, [1027] wobei neben dem Herrn Pseudes und seinen Zeitgenossen etwa auch der Muhamedaner und der Jude als Zeugen adhibirt werden dürften, zum Zeugniß, „daß der Täufling nach ihrer Absicht in einer Gemeinschaft erzogen werden solle, welche sich in den bürgerlichen Verhältnissen nicht mehr umgehen lasse“. – O der strohernen Epistel! [...] Solch überverständiger Unverstand ist kaum weiter in der Welt gehört. Es ist nun eine baare Unwahrheit, daß die Kirche die Taufe ansehe, wie Herr Pseudes versichert. Nie hat sie das gethan und nie wird sie das thun. Sieht Herr Pseudes mit seinen Zeitgenossen die Taufe so an, so gibt er das unwidersprechlichste Zeugniß [...], daß sie aus der Kirche herausgetreten sind auf einen andern Grund, der weder Boden noch Namen hat. Dem Herrn Pseudes und seinen Zeitgenossen kommt gewiß die Taufe, die ein christliches Vater- und Mutterherz tief erregt [...], als ein recht spießbürgerlicher Act vor, und hat er jemals liebe Kinder taufen lassen, da hat er sicher über diese Spießbürgerlichkeit während des Taufacts reflectirt, anstatt fromm über sie im Glauben zu beten, eben so wie seine Reflection ihm, wenn sein Herz irgendwie eine fromme Erregung empfangen hat, zuflüstert: „was bist du doch für ein Narr, daß du dich fromm rühren lässest!“

[...] Wenn Herr Pseudes die christlichen Dogmen zu einem „Duft“ verflüchtiget, so zeigt er, daß er daraus nichts weiter, als eine poetische Figur zu machen weiß. Wenn sie aber wirklich nichts weiter wären, so würde sie längst der leiseste Wind der Geschichte verweht und zerstreuet haben, geschweige denn ihre Stürme. Der bilderreiche Herr Pseudes sollte aber, wenn er dazu auch eine Brille gebraucht hätte, die Dogmen auch etwas schärfer angesehen haben, so müßte er gewahr geworden sein, daß der vermeinte Duft doch noch etwas mehr sei und aus einem lebendigen Keime des Worts herrühre. Der Gehalt der Dogmen ist eben das Wesen des Worts, das von Anfang bei Gott war und in’s Fleisch kam. Im Dogma schauet der Geist an, was der Geist ist. Eine fromme Gemeinschaft kann die Dogma’s nicht entbehren und hat das höchste und heiligste Interesse, auf sie in allen religiösen Momenten zu recurriren. Wahrhaft fromme religiöse Gemüther finden den Gehalt der Dogmen – wenn auch nicht aller, die jemals in den verschiedenen [1028] Bewegungen des Geistes in der Kirche dazu gestempelt sind, – in ihrem frommen Bewußtsein wieder auf, und sind nicht so leicht resolvirt, sie als einen Duft anzusehen, der immerhin verfliegen kann, weil es „jedem gegeben und belassen ist, denselben nach Belieben zu ergänzen oder zu zersetzen“. Die Glaubenstreue wechselt nicht gerne, wie die Mode, noch weniger läßt sie es darauf ankommen, zu welcherlei Gefühlen und Gedanken das Dogma die Seele befruchten möge. Das ist ihre Sorge bei dem Einleben in das Dogma, daß diese gesinnet werde gleich dem Anfänger und Vollender des Glaubens.

Mit nicht geringer Ostentation [...] von theologischer Gelehrsamkeit begründet der Herr Pseudes [...] die Behauptung, daß die ganze Historie des Christenthums Mährlein sei, und daß diese große Lüge das Resultat aller heiligen Wissenschaft sein und bleiben werde. Wiewohl Herr Pseudes den ersten Theil dieser Behauptung hinter dem Schilde eines wohlgerüsteten Kämpen ungestraft wagen zu dürfen hat glauben mögen, so soll ihm doch solche Freude nicht zu Theil werden. Gegen seinen einen Kämpen sind bereits viele eben so gerüstete hervorgetreten, und jeder von ihnen hat seines Schützers Schild mehrfach durchbohrt. [...] Uns sind bereits 24 Namen genannt, alle achtbar, viele hochstrahlend, von denen 17 uns näher bekannt sind, welche den Herrn Pseudes ob des ersten Theils seiner Behauptung gebührend Lügen strafen und glänzend darthun, daß, was immer eine geschickte Hand auch mit Hülfe der Kritik machen könne [...], sie doch aus Geschichte nicht Mythe herauszupressen vermöge.

Der andere Theil der pseudistischen Behauptung aber klingt für einen Pseudes fast zu läppisch. Also das sich immer frisch und neu erzeugende Leben, diese ewige, organisch sich fort entwickelnde Kraft, die sollte in einem kritischen Canon, welchen Herrn Pseudes und seinen Zeitgenossen aufzustellen heute beliebt, auf immer einfrieren oder sich versteinern?! Dem Herrn Pseudes ist es hinter dem Schilde seines Kämpen gegangen, wie es die Ohnmacht unter dem Schutze der Kraft macht. Hinter dem Schilde der letzteren fordert erstere mit dreisterem Schimpfen zu unnützem Kampfe heraus. Ein Beleg davon ist jene naive Behauptung: „daß [1029] es nun ein Leichtes sei, zu zeigen, was im Leben Jesu wichtig [recte: richtig] und einzig und allein möglich sei“. Hat denn Herr Pseudes wirklich ehrlich gemeint, damit eine Wahrheit zu sagen, so hätte er doch sollen sein wichtiges Geheimniß offenbaren, wenn er es mit seinem Geschlechte gut meint. Es kann ihm doch wohl nicht verborgen sein, [...] daß dies zu zeigen oder zu wissen jeder Verlangen hatte und unvermögend war. Hätte doch Herr Pseudes die kleine leichte Mühe nicht gescheut, das unenträthselte Geheimniß zu offenbaren, so würde er seinen etwas verdächtigen Namen bestens reparirt haben. [...]

[Zu den in den Zeitgenossen aufgestellten sieben kritischen Grundsätzen gegenüber der evangelischen Geschichte (GWB III, Bd. 3, S. 471, Zeile 24: Nichts wird mehr in Abrede gestellt bis S. 473, Zeile 12-14: im Zusammenhang mit den übrigen mystisch-religiösen Traditionen des Orients zu betrachten) führt Zander aus, dass sie „schlecht und schülerhaft angelegt“, „aus längst verworfenem Material zusammengestzt“ und wissenschaftlich nicht mehr haltbar seien:]

1) rückt die evangelische Geschichte in diesen Tagen immer sicherer der kritischen Verneinung zu Leibe und geht mächtigen Schrittes auf ihr eigentliches Gebiet los, wo sie Recht hat, Geschichte zu sein, was sie ist.

2) Auch konnten die evangelischen Erzähler recht gut Geschichte schreiben, denn sie lebten nicht so ferne den Begebenheiten, wie gerne glaublich gemacht werden will, denn die wohlgeprüften geschichtlichen Zeugnisse rücken die Geschichte dem Geschehenen näher. Die historisch-kritischen Forschungen machen jetzt manche Behauptung der negirenden Kritik zu Wasser.

3) Das Gegentheil wird noch stets und zwar jetzt wieder mit Erfolg behauptet, und so ist es keineswegs ausgemacht, daß die Evangelien nicht als Geschichte geschrieben wären. Vielmehr erkennt man bestimmter, daß sie haben als Geschichte geschrieben werden sollen, wie wenigstens einer von den Evangelisten bestimmt sagt.

4) Die Verdächtigung der Simplicität der evangelischen Schriftsteller ist ein altes Taschenspielerkunststück der negirenden Kritik, worin sie vielleicht deshalb so bedeutende Geschicklichkeit entwickelt, weil sie in künstlichen und absichtlichen Imputationen sich [1030] ununterbrochen übt, um an dem Kunstwerke den eignen Ruhm zu haben, aus dem Gegebenen das Gegenstück herauszubringen. Wenn man diese Kritik ein wenig näher ansieht, so combinirt sie den löblichen Schriftstellern in ihre Seelen Gedanken und Absichten hinein, woran eine christliche Seele niemals denkt, geschweige die frommen Männer gedacht haben, welche die Evangelien geschrieben haben.

5) Dieser Canon ist schier ein aus dem Winde gegriffener. Hiernach fängt also ein Reformator sein Reformationswerk an, ohne der Zustände sich genau bewußt zu sein, in die er reformatorisch eingreifen will. Zu so einem Taps möchte die Verneinung den einen Grund machen, außer welchem kein anderer gelegt werden kann, denn dabei könnte sie wohl hoffen, sich nach Beiseitedrängung desselben selbst zum Grunde zu machen. – Hierbei packt Herr Pseudes unnützerweise den alten abgetragenen Moderock von Accommodation wieder aus. Mag er ihn doch nur wieder einpacken. [...]

6) Wenn Herr Pseudes so dreist behauptet, daß es mit der Chronologie der evangelischen Berichte nicht in Richtigkeit sei, so muß ihm zum allerwenigsten bemerkt werden, daß das Inunrichtigkeitsein derselben noch gänzlich nicht erwiesen ist. Desfallsige Bedenklichkeiten sind nicht Erweise. Auch werden täglich mehr und mehr solche Bedenklichkeiten nach und nach beseitiget, was Herr Pseudes hätte wissen können, wenn er sich besser umgesehen hätte. Uebrigens hat Johannes sich keinesweges Blößen gegeben, sondern man hat das nur zu behaupten versucht. Solche Behaupter sind aber bereits auf’s Maul geschlagen, und sollte Herr Pseudes einmal eine Ohrfeige bekommen haben, so kann er sie darauf nur immerhin beziehen, daß er wegen der Johanneischen Blößen nicht besser nachgehört hat.

7) Auch ohne den schlagend sein sollenden Johanneischen Beweis, der aber umgekehrt auf die Johanneischen Gegner statt auf den Johannes fällt, hat der Forscher Berechtigung, die evangelische Geschichte mit den Traditionen aller Völker und ihrer Religionen in Beziehung zu bringen, ohne Berechtigung zu haben, deshalb aus der Geschichte auch Mythen zu drechseln. Grade diese Beziehung der evangelischen Geschichte auf die älteren Religionstraditionen stellt die evangelische um so mehr vor einer richtigen Kritik als Geschichte heraus. Grade daß der Menschengeist einen Mittelpunct der Geistesgeschichte von jeher ahnete und so ahnete, erweiset, statt zu erweisen, daß dieser Mittelpunct nicht wirklich und so nicht wirklich sein könne, das Gegentheil, daß er irgendwie und auch so wirklich sein könne. [...]

[1031] [...] Mit dem Herrn Pseudes will Einsender über sein geheimnißvolles Etwas, was er als das rechte und echte Christenthum zu haben meinen mag, auch eine Controverse gar nicht anfangen, eben so wenig mit des Herrn Pseudes Zeitgenossen. Das Nachstehende ist nur für die Leser des Herrn Bulwer, des Engländers, und andere Zeitgenossen bestimmt, die mehr oder weniger an dem wahren historischen Christenthume zu vermissen als darin zu finden meinen, und mehr oder weniger hinneigen, auch so ein exactes Christenthum für sich ein jeder zu haben.

Ein jeder nun, welcher sich das Recht vindiciren möchte, ein apartes Christenthum nach eigenem Geschmacke zu haben, und auch jedem Anderen dasselbe Recht zugestehen damit zugeben muß, auch so ein apartes morceau davon zu haben, hüte sich nur alles Ernstes vor solchem Anspruche, wenn er doch den „[...] echten und ruhmvollen Namen eines Christenmenschen noch weiter zu haben berechtiget sein will. Was da so jemand nach eigenem Geschmacke hat, ohne daß es in dem gemeinsamen christlichen Grunde Wurzel hätte, so ein Ipsefecit von frommen Gefühlen und Gedanken, das nicht aus dem Glauben an Christum, wie er in der Gemeinde lebt, hervorquillt und zu ihm zurückströmt, das ist gar kein Christenthum. Credite experto! Die Isolirung des religiösen Gefühls, Religiosität, in die einzelne Individualität ist der Tod desselben. Das religiöse Element als lebendiges verlangt Gemeinschaft, sucht sie, zieht an und wird angezogen, es ist eine Wahlverwandtschaft höherer Art. Will es in der Isolirung verharren, zieht es sich vor dem Begriff und der That, ja aus der Lebensregion immer weiter in die geheimnißvolle Tiefe des Herzens zurück, bis dahin, wo weder das Individuum selbst noch ein Anderer es wiederfinden kann, so ist’s, ob’s gleich niemals sterben kann, doch wie todt. Da ist kein Verlangen nach religiöser Anregung, noch Verlangen nach dem Einleben des eignen Religiösen in ein anderes. Die einzelnen Subjectivitäten stoßen sich einander ab und werden durch einander weiter zurückgedrängt. Bei der wachsenden Verkümmerung des Religiösen verkümmert auch der sittliche Keim, denn Sittlichkeit und Frömmigkeit laufen in eine Wurzel zusammen. [...] [1032] [...] Das aparte Christenthum, wie Herr Pseudes es hat und haben will und seine Zeitgenossen es haben und viele Leser des Herrn Bulwer es auch mehr oder weniger schon haben, verschmäht jede Form, jedes sichtbare Sichmanifestiren in Symbolen, Cultus und geregelter gemeinsamer Ordnung des frommen Lebens, und so entbehrt es wieder der in solchen Manifestationen gegebenen Erweckung und Belebung seiner selbst.

[...] Ein Christenthum, das der christlichen Kirche, der christlichen Predigt, der christlichen Andacht, der christlichen Versammlung aus dem Wege geht, in die Subjectivität sich zurückzieht, dort sich in unabsehliche Tiefe verliert und in seiner reinsten Gestalt sogar als Egoismus hervortaucht, denn dies Christenthum hat ja sein Wesen und seinen Zweck darin, nur die einzelne Subjectivität zu beseligen, wenn es das anders sein kann. Mögen die andern armen Sünder alle zusehen, wie sie fortkommen. Ein Christenthum, das von dem lebendigen Christo abgefallen, nichts ist als ein Irrthum oder eine Lüge! Ein Christenthum, das ohne einen Grund, worauf es sich fest hinstellen könnte, nichts zu bauen und nichts zu schaffen weiß und kein Fleisch und Bein hat! Ein Christenthum ohne Christum, ohne Geschichte, ohne Verheißung, ohne Hoffnung, ohne Glauben, ohne Wort und Predigt, ohne Lehre und Lehrer, ohne Symbol, ohne Gemeinschaft, ohne Charakter, ohne Dogma und Sacrament, ohne Cultus und Anbetung – höchstens Deismus, Idealismus, Speculation, Raisonnement, Gegenstand der Unterhaltung! Ein viel geläutertes, so viel geläutertes Christenthum, daß von Allem, was ein Christenmensch dabei sich vorstellt, nichts geblieben ist, ein ausgebeuteltes Christenthum. Wer kennt es doch, dies moderne Wesen? Sie, die es haben, kennen es nicht und können eben just so wenig davon etwas sagen, als Herr Pseudes, und können nicht einmal sagen: da oder dorthin gehe, es dir zu besehen. Da ist weder Seele noch Leib.

Doch genug.

Schließlich möchte ich den Herrn Carl Gutzkow gerne von dem Frevel lossprechen, den seine Zeit-[1033]genossen am Christenthume, dem historischen, wahren und einigen, losgelassen haben, wie ich davon in meinem Herzen den Herrn Bulwer losspreche. Letzterer ist schon deswegen weniger als der Verfasser dieser Zeitgenossen zu betrachten, weil dem Verfasser sichtbar mehr deutsche Zustände und deutsche Literatur vorgeschwebt haben, als englische, was einem englischen Schriftsteller wohl nicht begegnet wäre. Eine eingeflochtene Anekdote über einen englischen Geistlichen ist eine ungenügende Verkappung. Herr Gutzkow aber wird nach seiner bekannten Bekehrung sicher auch nicht seine ehemals beabsichtigte Emancipation des Fleisches durch fortgesetzte Bekämpfung des antifleischlichen Christenthums fortsetzen wollen. Das wäre ganz wider das Wesen einer aufrichtigen Bekehrung. Der Bekehrte haßt die alten Sünden und lebt der neuen Gerechtigkeit. Daß er die Bekehrung könnte für einen Polizeiact halten, wie Herr Pseudes die Taufe ansieht, dazu ist er zu geistreich. Bei solcher Ansicht von der Bekehrung freilich würde ihm die Autorschaft imputirt werden dürfen; denn die Polizei zu umgehen und ihr einen Bart zu machen, das möchte von seinen Zeitgenossen ihm so hoch nicht angeschlagen werden, und darüber möchten ihn auch die Ducaten trösten, die seine Bulwerzeitgenossen ihm eingebracht hätten. Bei so trivialer Ansicht von Bekehrung würden seine Zeitgenossen von Bulwer von seinen Zeitgenossen als ein Chef d’oeuvre der heutigen Speculation betrachtet werden. Einsender aber möchte gerne glauben, nicht Herr Carl Gutzkow, sondern ein Anderer, homo obscuri nominis, wäre der in Frage stehende Autor, um so mehr, als Herr Gutzkow nach einer so starken Beichtrede nicht verhärtet sein kann, als ihm Herr Menzel gehalten hat.

Indem auch hinter Anonymität ich mich nicht zurückziehen will, unterzeichne ich meinen freilich wenig bekannten Namen.                                                                                                                                              

5.4.7. Karl Grün, Sendschreiben an Karl Gutzkow, 1839#

Karl Grün: Sendschreiben an Herrn Dr. Karl Gutzkow in Betreff seiner „Zeitgenossen“. (Als Vorrede zu dessen „Buch der Wanderungen“.) Cassel u. Leipzig: Theodor Fischer, 1839. (Rasch 14/14.39.06.1N)

[Grün schildert anfangs seinen Besuch bei Gutzkow in Frankfurt a. M. im Frühjahr 1837, als er selbst noch Belletristik unter dem Pseudonym „Ernst von der Haide“ schrieb, und kündigt mit dem „Sendschreiben“ eine Abkehr von seiner früheren schriftstellerischen Arbeit und eine Hinwendung zur „Theilnahme an den Fragen des Jahrhunderts“ an (S. 4), und zwar unter eigenem Namen.]

[5] [...] Keiner von den Zeitgenossen, der offnen Herzens und geweckten Kopfes in die Gährungen unsrer neuen Literaturepoche hineinblickte, hat wol ohne innerlichen und gerechten Zorn die Geringschätzung und Mißachtung mit angesehen, die man einer Ihrer wichtigsten Schriften, der über die „Zeitgenossen“ selbst, in deutschen Landen hat widerfahren lassen. Ja, es dürfte kaum begreiflich sein, wie das erste Buch der jungen Literatur, dessen Tendenz aus der subjektiven Zerfahrenheit und vagen Hin- und wiederkritikasterei sich erlösend, dahin ging, die schwierige Aufgabe eines modernen Glaubensbekenntnisses, einer umfassenden Concordanz aller Dinge in dem neuen Himmel und der neuen Erde, zu vollbringen, mit solch exklusivem Achselzucken, ja mit solcher Verhöhnung und gemeiner Impertinenz behandelt werden konnte: wüßten wir nicht aus jahrelanger Erfahung, wie unzulänglich die meisten Repräsentanten unsrer Literatur sind, wie schmal und kleinbürgerlich die Resultate einer spekulativen Revolution verbraucht worden sind; also, daß man [6] auch Propheten fast zurufen möchte: Sehet da, das Feuer, welches ihr vom Himmel geholt habt, dient nur dazu, die Kartoffeln der Philister zu rösten!

Wahrlich, ein tiefer Groll mußte damals alle Guten befallen, als die Decke polizeilicher Sicherung, die Sie um Ihr Werk weben mußten, damit Ihnen die Zunge nicht ausgerissen würde, von rohen, banausischen Händen herabgezerrt, und nach fallengelassenem Kern, wie eine Vogelscheuche an dem Büttelstabe der Kritik aufgehängt wurde. Als hätte es Ihnen darum zu thun sein können, unter dem englischen Namen E. L. Bulwer, Lorbeern auf Karl Gutzkows Haupt zu sammeln! Eine Naivetät, die nur fragen läßt, warum die hochweisen Herrn nicht vermutheten, Sie hätten Bulwers Namen verherrlichen wollen!

Ich kann Sie aus eigner Erfahrung versichern, verehrtester Herr! daß es nach Erscheinung Ihrer „Zeitgenossen“ nur wenige Menschen in Deutschland gab, die vor lauter Debatten über „Charlatanerie“, „literarischen Betrug“, „Unterschiebung des englischen Standpunkts für den deutschen“, zu dem eigentlichen Kern Ihres Werkes gelangten, zu dem „modernen Glaubensbekenntnisse“, zu der „umfassenden Concordanz [7] aller Dinge in dem neuen Himmel und der neuen Erde“, wie ich Ihr Buch vorhin nannte. Dennoch gab es deren Einige, und mögen die nachfolgenden Bemerkungen dessen Zeuge sein, daß ich zu ihnen gehört habe!

Ich werde dabei nicht nur den englischen Standpunkt, der doch, offen gesagt! auch bei Ihnen nur Staffage war, außer Augen setzen, sondern auch diejenigen Zielspitzen, die Sie von einer sichtbar drückenden Atmosphäre beengt, in das unschuldigere Gewand von bloßen Andeutungen steckten, der Maske berauben: denn es muß Tag werden! Wie sich von selbst versteht, kann ich in diesen Blättern wenig mehr als „Bemerkungen“ geben, und mich selten auf eine Diatribe und Dialektik einlassen. Wer diese Bemerkungen deßhalb schief ansehn sollte, dem sei gesagt, daß sie sich unter seinen Augen in Thesen verwandeln könnten, die wir bereit sind, an die Thurmthüre der gothischen Vergangenheit anzuschlagen und rite zu vertheidigen, wenn auch nicht in ciceronianischem Latein, so doch in ehrlichem und verständlichem Deutsch!

Zuvörderst muß ich mit Ihnen über den Titel Ihres Buches rechten. Sie schreiben: „Die Zeitgenossen, ihre Schicksale.“ – Wenn Sie unter „Schicksalen“ nicht etwa die Noth-[8]wendigkeit verstehn, mit der die Zeitgenossen einmal das sind, was sie sind, so möchte ich lieber haben: „Ihr Wesen“ oder: „Ihr Charakter.“ Dann: „ihre Tendenzen,“ gut! aber: „ihre großen Charaktere,“ nein! Sie gestehen selbst in der Widmung ein, daß wir zur Zeit noch „Sechszehnender auf unsern ausgeschossenen Revieren“ ermangeln. [...] Sie [versprechen] in Ihrer Widmung an Sir Ralph *** [...], ebensowol die Materie als die Intelligenz zu berücksichtigen, weil es sich „weniger um Revolution als um Aufklärung handle.“ Diesem Principe scheinen Sie mir nur allzutreu geblieben zu sein, und mit einer wahrhaft Niederländischen Liebhaberei am Einzelnen als dem Stoffe zum Genrestück, die Italienische Idealität des großen und Erhabenen verdrängt zu haben. Wenn Sie aber Rembrandt oder gar Breughel in der Benutzung des Weltstoffes nachahmen, so sollten Sie die Andeutung mit den [9] „großen Charakteren“ nur von vorn herein fahren lassen. [...]

[10] [...] Sie sehen, verehrter Herr! ich will Ihnen keine Komplimente machen. Einen Claqueur haben Sie an mir nicht erworben, wie Sie sich denn auch solche durch die Worte Ihrer Vorrede höflichst verbeten haben: „Für das Lob literarischer Freunde, das immer nur langweilig ist, dank’ ich.“ [...] Ueber die Anlage des Ganzen, über die Klimax, die sich in Ihrem Werke von den allgemeinen Umrissen über den neuen Menschen, sein Jahrhundert, seine Mode zu der Existenz, dem Leben im [11] Staate; von da zur Erziehung, zu Sitte und Sitten steigt, um endlich in Religion und Christenthum, Kunst, Wissenschaft und ihrer jedesmaligen Literatur den Gipfel des Menschlichen zu erklimmen, kann ich Ihnen nur meinen vollkommnen Beifall geben, indem ich den irgendwie eintretenden Mangel an striktem Organismus mit der Entstehungsart des Buches, und den dieselbe umgebenden Zeitumständen entschuldige. Ihr Buch trägt mit einem Worte trotz seiner Verfolgung der materiellen bis zu den seelischen Interessen, dann wiederum dieser bis zu den höhern geistigen, den offenbarsten Charakter des Typus, dem es gewidmet ist, des Modernen.

Sprechen wir vom Jahrhundert! – Sie behaupten, wir müßten nicht mehr zur Revolution, sondern aus der Revolution emancipiren. Sie wehren eine Revolution ab und halten die Explosion von 1789 bis in ihre letzten Nachklänge für erschöpft. Sie erklären die Julirevolution für den letzten Donnerschlag eines verziehenden Gewitters, wie auch die natürliche Atmosphäre oft noch Reste von streitenden Elektrizitäten in sich trage, wenn das Gewitter längst vorüber gezogen. Sie nennen die Revolution von 1830 eine Berichtigung. Und den-[12]noch reden Sie wunderbarer Weise von einem Gegensatz der Poesie und der Prosa, des Idealismus und Materialismus, von einem Dualismus, der sich bis in unsre tiefsten Eingeweide eingefressen habe, und nehmen für diesen schreckenerregenden Contrast eine Stunde der Entscheidung an, die großartig und erschütternd schlagen müsse. Muß ich Sie daran erinnern, daß je tiefer und geistiger der Bruch der Gegenwart ist, je sublimirter die Gegensätze sich herausgestellt haben, um so gefährlicher, um so geräuschvoller die endliche Eruption werden müsse! Wir haben es nicht mehr mit der Gleichstellung des dritten Standes zu thun, – und welch’ ein Schauspiel bot nicht schon diese Gleichstellung dar! Religionskriege waren von jeher die fürchterlichsten. Für seine Ueberzeugung, für seinen Wahn, für das Besitzthum seiner innern Welt opfert sich das Geschlecht rücksichtslos, und mordet Andre eben so rücksichtslos. Die laut ausgesprochne Reform unsrer socialen Mißverhältnisse aber wird die moderne Religion sein.

[...] [13] [...] Die Julirevolution die Frucht eines Irrthums! Wer will Frankreich hindern, die Berichtigung dieses Irrthums, wenn er ihm noch nicht gehoben und mit neuen Fehlern versetzt zu sein scheint, morgen wieder vorzunehmen? [14] Wer kann es hindern, wenn der in tausend Gestalten verkleidete Simonismus, Arm in Arm mit den Wirkungen Lamennais heraustritt und ihm ins Ohr flüstern: Gebrauche die politische Fahne nur, um mit Einem Male Berg und Thal zu nivelliren! [...] wer kann die Funken löschen, wenn sie sich noch einmal nach allen vier Winden, nach Spanien, Italien, Deutschland und Polen werfen sollten, und das Wasser der Diplomatie diesmal erfroren oder nicht hinreichend erfunden würde, sie zu löschen? Glauben Sie, daß die alten Staatsgebäude gerettet werden könnten, wenn die Naphthaflammen der sich nach totaler Freiheit sehnende[n] Herzen plötzlich aus der Erde schlagen sollten? [...]

[15] [...] Amerika ist nicht der neue Hafen, darin die Weltgeschichte einlaufen kann. Dieser Welttheil scheint mir weder geographisch, noch historisch-politisch den Beruf zu haben, mehr als eine species zu sein, wie Sie selbst eingestehen, Nordamerika habe sicher nur das weltgeschichtliche Pensum, die Kultur als Schleppkahn an das Schiff der Eroberung gebunden, nach Nor[16]-den und Süden hin zu bringen, und besser als Engländer und Spanier dabei zu reüssiren. Welche Alternative also: entweder gehen wir in einer falschen Geschichtsbetrachtung fort, und täuschen uns über innre Gegensätze, deren Lösung jedenfalls an die Erfüllung anderweitiger Aufgaben geknüpft ist, oder wir sehen uns Aug’ in Aug’ mit einer blutigen Zukunft! [...]

[19] [...] Der Wahrheit am Nächsten scheinen Sie mir da gekommen zu sein, wo Sie die Parallele zwischen Europa und seinem Feudalismus auf der einen Seite und Amerika und seinen Sclaven auf der andern gezogen haben. Hier stehen wir an der Spitze eines aut-aut, dessen erstes Lemma keinen Trost der Philosophie und des Herzens mehr annähme, und dessen zweites ihn bedürfte für die augenblicklichen Geburtswehen dessen, was mit ihm hereinbräche.

Jedenfalls werden wir schon jetzt besser daran thun, wenn wir das Auge für den Sinn des Räthsels halten und nicht den Horizont. Denn das Auge kann die Wahrheit des Horizontes einsaugen und wieder ausstrahlen, der [20] Horizont aber ohne die Pupille, ist starr, ist todt. –

Das Moderne. Sie haben vollkommen Recht, verehrter Herr und Freund! wenn Sie von der Mode anfangen, um diesen Begriff zu construiren [...]. Bei seiner Definition muß man allerdings auf alle die einzelnen Vorstellungen achten, die in ihm zusammenschießen; aber man muß eben so sehr zur Totalität gelangen und sein Wesen aus Einem Punkte heraus darstellen. Sie verzweifeln an der Bändigung des allerdings schwierigen Begriffes: modern, wie ich glaube mit Unrecht; nur Ihre schon berührte Vorliebe für die Materie konnte Sie abhalten, die vorgreifenden Principien des in lebendiger Selbstgestaltung begriffenen Begriffs, wie die Sonnenstrahlen im Fokus eines künstlichen Glases aufzufangen und bis auf den Namen zu zügeln. Später, wo Sie von der Moral sprechen, berühren Sie am Nächsten das Wesen des Modernen, indem Sie [21] es in die „eigne Verantwortlichkeit“ setzen. Das Moderne ist das Subjektive mit aller Energie und allem Leichtsinn des Wortes. Sein Ziel ist, dem Leichtsinn Zügel umzuwerfen, welche die Hand der Energie faßt und bis zum Ebenmaß der Schönheit bändigt. Ob der moderne Charakter ein Uebergang oder eine dauernde Weltform ist, wird lediglich von dem Geschick der Subjektivität abhangen, den Leichtsinn zu zügeln und die Welt in sich zu verschmelzen. Jedenfalls ist das Moderne eine größere oder kleinere Epoche, auf die abermals eine neue – die letzte? zu folgen hat. Es ist die Abrechnung, die das Menschengeschlecht mit Mittelalter und Alterthum hält, um dann erst sein eignes Conto auf persönliches Risico zu führen.

Das was wir in der Schwebe des Augenblicks das Moderne nennen, spiegelt sich z. B. in den drei Romanen: Indiana, Wally, Lelia. [Es wird ausgeführt, dass in keinem dieser Romane eine „poetische Gerechtigkeit“ gegenüber den Vergehen der Charaktere walte.]

[22] [...] Sollte aber Jemand durch diese Aussicht auf die Zukunft des Modernen bewogen, ob der poetischen Erwartungen vor derselben bange werden, und ausrufen: Ach, wenn sich das letzte poetische Vehikel, der Leichtsinn der Subjektivität erst abgestumpft haben wird, was werden wir dann noch zu lesen haben, – die Welt wird so egal werden und so verschwommen, wie der Meistergesang: so haben wir darauf zu sagen, daß unsre Enkel das noch nicht erleben werden, und daß die höchste Stufe des menschlich Vollkommnen, eine lange, lange Schmerzensgeburt erfordern wird. Das zum Trost für die Leihbibliothekleser, die noch für dieses Jahr [23] abonnirt sind, und die bei dem hereinbrechenden paradiesischen Zeitalter keine „Europamüden“ und keine „Adolars“ mehr zu erwarten haben. Dich aber frage ich, Menschheitbefreundeter Sohn Jean Pauls, junger Dichter der leidenden Gegenwart, der Du die Stoßseufzer der Literatur von Lessing bis auf die neueste Romantik herab gehört hast: was ist Dir lieber, ein poetisches Zeitalter ohne Romane, oder Romane, die mit der Gewaltpresse des Raffinements, je Ein Band aus tausend zerknitterten Herzen – gekeltert worden sind? –

In dem Capitel über die „Existenz“ kommen Sie darauf hinaus, daß der Industrie zweiten Ranges auf irgend eine Weise aufgeholfen werden müsse und Sie schlagen dazu den Weg der Gemeinschaften vor. Mit großem Rechte halten Sie dem ursprünglichen St. Simonismus einen Panegyrikus [d. h. eine Lobrede], und zum Beweise, wie zeitgemäß diese Ideen sind, ja mit welcher unabweislichen Gewalt sie sich jedem denkenden Zeitgenossen aufdrängen, verweise ich Sie auf die Vertheidigungsrede des Dr. Wirth vor den Landauer Assisen, die unter dem Titel: „Die Rechte des deutschen Volks“ zu Paris gedruckt worden ist, wo der ideelle, etwas utopistische Plan einer deutschen Nationalbank [24] gleichwol mit einer bewunderungswürdig durchgeführten Plausibilität auftritt.

[Es folgt eine Inhaltswiedergabe von Wirths Schrift.]

[27] [...] Soweit Dr. Wirth. Auf irgend eine Weise muß freilich geholfen werden; sonst sehe ich bei der zunehmenden Concurrenz, bei dem steigenden Luxus, bei dieser athemlosen Hast, die sich nur mit der herkulischsten Mühe oben hält, keinen Ausweg als immer größere Unzufriedenheit, immer steigende Laster, und trotz aller sisyphischen Anstrengung – einen Bankerott! Vertheilung des Nutzens und Schadens auf ganze Corporationen, gleichmäßiger vertheilter Besitz, gemeinschaftliches Erdulden unvermeidlicher Bußen: das müssen wir vertheidigen, selbst auf die Gefahr hin, von Herr Backel verkannt zu werden, der als ich ihm einmal mit Begeisterung vom Nutzen der Corporationen sprach, in denen der Einzelne mehr und mehr verschwinden müsse, mich für einen Hegelianer erklärte.

[Zum Kapitel Das Leben im Staate:] [...] Es kam hier vorzüglich darauf an [...], zu zeigen, welch einen Frevel der moderne Staat be-[28]geht, daß er eine von den Debatten der Gegenwart abstrahirende Existenz führt, daß er jenem Ideal, die sittliche Substanz zu sein, auch nicht im Allerentferntesten entspricht; sondern den Gegensatz so lange gehen läßt, bis er ihm plötzlich im Wege steht und ihn dann schonungslos vernichtet. [...] der Staat ist doch nicht ein a priori aufgestelltes, sich in dieser Abstraktion festzuhalten bestimmtes Idealding, sondern ein fließendes, lebendiges Ganzes, das fortwährend das Fernglas seiner Zukunft, nicht auf einen vor hundert Jahren von einem Staatsmanne oder Fürsten gemachten Lieblingsplan, sondern auf den sittlichen Thatbestand seiner Gesammtindividuen zu richten hat. Ich mit meinen politischen Reformgedanken, ich mit meiner socialen Unzufriedenheit, ich mit meinem schreienden Rufe nach Trennung der Kirche vom Staat: ich gehöre doch auch zum Staate, und Du und Du und Ihr Alle, die Ihr Euch nur von ihm [29] excludirt, wenn Er Euch kein Gehör gibt, und die Ihr Euch rühmt, nicht eben der Kericht des Staatsgebäudes, die Darmsekretion seines Körpers zu sein, sondern viel eher die Medulla, das worauf er vielleicht einst allein Ursache haben wird stolz zu sein, wenn seine wedelnden Trabanten und Speichellecker gewesen sind und die Nachkommen nach dem sittlichen Werthe, nach den objektiven Leistungen, nach dem wahrhaft Menschlichen fragen, wodurch die Vergangenheit sich ausgezeichnet habe.

[Grüns Rat an Metternich:] [30] [...] Wenn Ihr der Flamme nicht erlaubt, zu brennen, und Scheffel darüber setzt, so wird sie den Scheffel, die alten Staatsgebäude und Euch selbst anzünden. Wahrlich! wir Alle sind deutsch, ohn’ Arg und Hinterlist, voll heiliger Achtung für das, was die Vergangenheit uns überliefert hat. Aber wir könnten werden wie die Löwenmütter, die ihre Jungen vertheidigen. Unsre Jungen sind unsre Ideen. Laßt Euch warnen!

[Auf das Kapitel Die Erziehung geht Grün zunächst mit einer eigenen satirischen Charakterskizze des Elementarschullehrers „Backel“ ein. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Gutzkows in diesem Kapitel schon angelegter Kritik des Christentums, der Grün den Vorwurf macht, von den „Geboten des Urchristenthums“ auszugehen. Diese würden aber bereits innerhalb des Christentums, d. h. „von einer aufgeklärten protestantischen Moral“, als überholt angesehen (S. 35).]

[35] [...] aber werden Sie doch die Hauptsache des Christenthums nicht in der vor 1800 Jahren gegebnen Moral sehen [...]; sondern Sie werden mit mir den Satz der Orthodoxie unterschreiben: die Hauptsache im Christenthum ist der Glaube, wenn wir auch [...] unter dem Glauben die vermehrte Gotteserkenntniß, das richtigere, ja einzig richtige Verhältniß des [36] Menschen zu Gott verstehen. Das Christenthum hat in seiner weltgeschichtlichen Bestimmung eine Idee sein sollen, die sich am Kürzesten in den Ausdruck fassen läßt: Selbsterkenntniß des Menschen als freie, gottdurchdrungene Persönlichkeit, Göttlichkeit der Welt, Möglichkeit der Vergöttlichung für Jeden, dem es ernstlich darum zu thun ist.

Diese Idee hatte eine zeitliche Entstehungsart, also auch zeitgeschichtliche Schlacken und Ballast an sich. Aber wer hindert uns, diese von ihr zu sondern, und in der reinen Gestalt ihrer himmlischen Bildung unsre eigne und aller Menschen Versöhnung und Beruhigung zu sehn.

Jede sich neu entwickelnde Periode der Menschheit, die an der Hand des Christenthums auf den Weltschauplatz trat, hat sich ihre eigne Moral gegründet, anknüpfend vielleicht an die Principien des Christenthums, aber sicherlich in je größerer Zeitentfernung, desto selbstständiger. Es ist noch lange nicht genug beachtet, wie mir der christliche Glaube, oder besser gesagt, die Idee des Christenthums eine weltgeschichtliche Tendenz gehabt hat, keineswegs aber die Moral des Urchristenthums. Nehmen nicht selbst christliche Moralphilosophen neben dem biblischen [37] Sinne für die Moralgesetze, einen kirchlichen, neben diesem noch einen auf das Leben und die Oeffentlichkeit gerichteten an? Das beweist hinlänglich, wie wenig das bloße Urchristenthum Norm sein soll für unser heutiges Leben, und wie sehr man eingesteht, daß dieses allein unsere Pflichten abstrakt und rigoristisch machen würde. [...]

[38][...] Alles was Sie als Stoicismus dem Christenthum entgegenhalten, liegt bereits in seiner Idee, und die Reue, die Sie immer bekämpfen, ist sicher mehr ein Produkt der gnostischen und sonstigen orientalischen Elemente, womit das Christenthum frühzeitig versetzt wurde, als eines seiner Urbestandtheile; denn es heißt: „So ist nun an denen, welche in Christo sind, keine Sünde erfunden.“ Durch den Glauben an Christum werden wir ja der Sünde baar, also auch der Reue; denn keine Reue, wo keine Sünde ist. – Verwechseln Sie nur nicht Urchristenthum mit christlicher Idee, christliche Urmoral mit dem Principe des Handelns, was sich im Gemüthe eines jetzigen Menschen bilden muß, der gleichwol in der Person oder der Idee Christi seine ewige Beruhi-[39]gung gefunden haben kann. Die christliche Idee ist dergestalt in die Poren der europäischen Welt eingedrungen und beherrscht so sehr alles Gewordene und noch Werdende, daß seine scheinbar akutesten Gegner von ihr wie mit einem heilsamen Gegengifte gegen die Fäulniß der Zeit inficirt sind. Verzeihen Sie mir, verehrter Herr, wenn ich glaube, daß Sie selbst nur den Frieden Ihrer Seele in dem Gedanken finden, daß alles Göttliche realisirt werden könne und müsse, und daß die Kunst als segnende Trösterin in einsamen Stunden diese unsere Hoffnung bethätigen müsse, damit uns die rohen Wellen des tagtäglichen Lebens nicht trostlos überfluthen. Was ist dieser Gedanke anders als die Idee des Christenthums, eine Idee die sich weltgeschichtlich in Christo manifestirt hat? [...]

[40] [Über die Bildung an deutschen Universitäten:] [...] Welch blühender, fröhlicher Geist herrschte von 1813-1819 auf den deutschen Universitäten, bis die famösen Untersuchungen gegen Lehrer und Lernende eingeleitet wurden. Welche kurze Neubelebung begann nach 1830, die aber schon 32 ihre officielle Dämpfung erfuhr und im Anfang des folgenden Jahres sich selbst den Ducks gab. Nehmen wir im gegenwärtigen Augenblicke die nicht zu verkennende Lebendigkeit der neuen Spekulation in Bezug auf Theologie und Philosophie von Fach aus, sowie die frischbelebten antiquarischen Studien [...]: so wüßte ich nicht, welches Bild von den deutschen Universitäten kläglich genug wäre! Ich vergleiche sie nicht mit den parallelen französischen und englischen Institutionen, da sind sie Gold; aber was könnte Deutschland ohne reaktionären Druck haben, und was hat es? Sollte der neue Ausschlag dieses mittelalterlichen Baumes, von dem auch Sie sprechen, den Stamm davor sichern, daß er wie Alles, [41] feudalen Ursprungs, abgehauen und ins Feuer geworfen würde [...]?

[...] [Über Sitte und Sitten:] Beides ist im Werden. Sitte und Sitten sind im Widerstreit mit dem alten Gesetze, mit der alten Moral. Sehr gut entwickeln Sie die Anschauung, wie die Sitte mächtiger ist als das Gesetz, wie das Letztere nur de facto anerkannte Sitte und jedesmal zu seiner Endschaft gekommen ist, wenn andere Sitten das Terrain allmälig okkupirt haben. [...]

Unverkennbar nämlich ist, daß seit dem vorigen Jahrhundert der kategorische Imperativ als Kronprätendent von der Moralphilosophie gekrönt worden ist und wenigstens eine geraume Zeit hindurch die Ansprüche der kirchlich-christlichen Moral zu unterdrücken gewußt hat. Der neu aufkeimende Pietismus, der [...] dem wissenschaftlichen Christenthum den erneuten [42] Sinn für Offenbarung und ihre Formen einpflanzte, flößte dem andern Prätendenten, der bereits wie Karl V. ins Kloster gegangen war, wieder frischen Muth ein, belegte die bereits geschorne Tonsur mit einer künstlichen Perrücke und rief es als: kirchlich-christliches Moralgesetz durch die Straßen aus. In der letzten Zeit der Noth sehen wir die beiden Päpste wider den gemeinsamen Erbfeind der Christenheit, wider die moderne Subjektivität zu Felde ziehen. Aber diese Allianz ist jedenfalls geflickt und wird vor den Heerschaaren des Herrn, deren Trompete Mauern einstürzt und Städte erbeben macht, nicht Stich halten. – Ja ist der Sieg nicht vielleicht schon erfochten? wo hört die Sitte auf, nicht mehr blos Sitte sondern schon Gesetz zu sein, auf welchem Punkte fängt das neue Gesetz an, sich schon mächtiger zu erweisen als das alte? Die moderne Subjektivität macht sich im Ausdrucke der Kunst, in den Romanen z. B. schon längst Luft; ja ist nicht im Leben selbst die frühere bloße Convenienz bereits stabile Voraussetzung geworden, und der Charakter einer bloßen Ueberhebung über das alte Gesetz, bricht er nicht allmälig seine polemische Spitze ab, und wird Unbekümmertheit um das Gesetz?

[In Bezug auf den „so vielfach diskutirten Punkt der Ehe“ fügt Grün eine diskursive Personenrede aus seinem unveröffentlichten Roman „Oswald“ ein. Dargestellt wird anhand von Goethes „Wahlverwandtschaften“ die Notwendigkeit zur Lösung einer Ehe, wenn sie den Bedürfnissen des „Seelenlebens“ nicht mehr entspreche (S. 45), zugleich aber wird bestanden auf der Ehe als der „von Gott eingesetzte[n] Form der Liebe“ (S. 46)]:

[46] [...] Aber man verwechsle nicht die Form mit dem willkürlichen Symbol der Kopulation. Dem Staat bin ich Rechenschaft schuldig, nicht einem religiösen Verbande, von dem ich gar nicht Mitglied zu sein brauche, eben so wenig wie ich ein Mixtum-compositum beider, des Staates und der Kirche anerkenne. Die Ehe hat Jahrhunderte lang existirt, ehe dies Symbol erfunden worden ist; müssen wir annehmen, daß sie deßhalb ungültig, unvollständig, weniger ihren hohen Zweck erfüllend, gewesen sei? Nimmer! Ja, auch zu einem Symbole wollen wir uns verstehen, wir wollen, wie Schleiermacher sagt, [„]mit gemeinschaftlichen frommen Wünschen die Verschmelzung zweier Personen heiligen, welche als Sinnbilder und Werkzeuge der schaffenden Natur, sich zugleich zu Trägern des höhern Lebens weihen,“ wenn Ihr vorher erlaubt habt, daß wir die frommen Gemeinschaften vernünftig einrichten und ein annehmbares Symbol einführen.

[Zu Gutzkows Ausführungen gegen die Todesstrafe nimmt Grün eine dezidierte Gegenposition ein:]

[48] [...] Was zuvörderst die Nothwendigkeit der Todesstrafe anlangt, so liegt dieselbe keineswegs in der Abschreckungstheorie, sondern im Begriff der Strafe selbst. Strafe ist – nicht materielle und äußerliche – sondern moralische Wiedergutmachung, Strafe ist negative Restitution eines verletzten Positiven, des Rechtes. [...] Strafe ist [...] Rache der beleidigten und gestörten Allgemeinheit, nicht mehr des Einzelnen. [...]

[54] [...] Die zwei Punkte, auf die sich Alles concentrirt, sind [...] folgende: Erstlich erfordert die objektive Beachtung des Staates selbst die Todesstrafe. Die Allgemeinheit der Vernunft, darin alle natürlichen Menschen übergegangen [55] sind, consummirt in sich den ganzen Bürger, d. h. seine ganze Person, insofern sie mit den Begriffen Recht, Unrecht und Gerechtigkeit zusammenhängt. Es ist dies sicherlich kein Absolutismus, nicht einmal ein philosophischer, der auch die höhern sittlichen und religiösen Differenzen unter den Stecken und Stab einer Staatskirche bringen möchte. – Kann nun nicht der Fall eintreten, daß sich eine bürgerliche Individualexistenz in einem solchen Grade gegen die Allgemeinheit, den Staat auflehnt, und ihn dermaßen in seinen innersten Grundfesten erschüttert, daß die unantastbare Integrität des Staates nur durch Vernichtung des Individuum, das den Frevel beging, restituirt werden kann? Allerdings, ein solcher Fall ist der Mord, der kalte, ruhig ausgedachte Mord. Denn indem ich das Beil der Vernichtung mit raffinirter Ueberlegung an einen einzigen Bürger lege, intendire ich moralisch den Mord des ganzen Verbandes, den der Begriff: „Bürger“ constituirt, morde ich die in jede Bürgerbrust tief eingeschriebenen Principien von gegenseitiger Sicherung und freiwilliger Uebertragung des Einzelrechts an die Allgemeinheit. Nur Aufhebung dieses so den Staat verletzenden Individuum kann sein Verbrechen sühnen.

[56] [...] Der zweite Punkt datirt von der Subjektivität des Verbrechers selbst. Dieser hat auch sein Recht [...]. Sie, mein Herr! gestehen selbst ein, daß jeder Mörder zugeben werde, sein Leben werde mit Recht von ihm gefordert und daß noch Niemand, der einen Andern tödtete, erklärte, seine eigne Hinrichtung wäre eine Ungerechtigkeit. Welche Qual, noch eine Existenz zu führen, von der man sich bewußt ist, daß man sie verwirkt hat, [57] total verwirkt. Wie muß sich diese Qual steigern, wenn die sogenannte Milderung in ewiges Gefängniß nur dazu dient, ihm stündlich und minütlich die Verwirkung derselben und das moralische Bewußtsein der eignen Vernichtung zu erneuern. Der Richter hat gerichtet, das „Schuldig!“ ist ausgesprochen, der Henker [sollte] blos nachrichten, nun begnadigt man den Armen zu einer täglichen und stündlichen Hinrichtung! Dies beweist aber nicht etwa, daß ewige oder langwierige Gefängnißstrafe an sich das Unmenschlichste und Entsetzlichste wäre; sie muß nur in richtiger Correspondenz mit der Stufenleiter der Criminalvergehungen angewandt werden, sie muß kein Bewußtsein mit sich führen, was über sie selbst hinausgeht. –

Vereinigen wir diesen objektiven und subjektiven Gesichtspunkt, so wüßte ich nicht, wie alle Protestation der Gefühle, wie der ganze Geist des Jahrhunderts, wie selbst Victor Hugo mit seinen Dernier jours d’un Condamné, die offenbar nur eine Abnormität aufgreifen, um gegen eine an sich gesunde Institution zu peroriren, etwas gegen die Todesstrafe einwenden könnten. Bis jetzt wenigstens seh’ ich die Sache so an, und behalte mir nur vor, bei etwaiger durch Vernunftgründe und erweiterte Erfah-[58]rung motivirter Meinungsänderung nicht für inconsequent gehalten zu werden. Man erweise mir die Unnöthigkeit und Unzuläßlichkeit der Todesstrafe tiefer und schlagender, als es bisher geschehen: so gebe ich mit Freuden eine Anicht auf, von der ich bis jetzt nicht lassen kann.

Religion und Christenthum. Mit sehr großem Rechte setzen Sie das 18. Jahrhundert in das Recht oder Unrecht ein, das Christenthum in seinen historischen Fundamenten angegriffen und wenigstens dem besten Willen nach zu Grunde gerichtet zu haben. Ich halte diesen Umstand für um so wichtiger, da gegenwärtig die kritisch-philosophische Diskussion wider die Theologie des Christenthums (nicht gegen das Christenthum selbst) so arg verlästert und verketzert wird, als habe sie zum erstenmale in der Welt in diesem Betracht debütirt, während doch sowol der Ernst im Gegensatz gegen den Spott, als auch die Wissenschaftlichkeit im Gegensatz gegen den oft oberflächlichen Encyclopädismus des vorigen Jahrhunderts wahrhaftig glänzende Anerkennung verdienten. Ich behaupte noch mehr, das vorige Jahrhundert hat nicht nur vieles von dem jetzt als mirabile auditu [d. h. erstaunlich anzuhören, unerhört] Beschrieenen bereits absolvirt; unser Jahrhun-[59]dert hat blos arrondirt und abgeschlossen. Nehmen wir die theologische Reihe von Semler bis Paulus, hat sie nicht die evangelische Kritik wenigstens dem Material nach erschöpft? Die Wolfenbüttler Fragmente und die sich daran schließende energische Kritik Lessings[,] bilden sie nicht den Fond dessen, worauf unsre allgemeine literarische Debatte wieder zurückgekommen ist, mit dem einzigen Unterschiede, daß der Deismus, den Lessing als mit dem Evangelium und dem christlichen Staat nicht widerstreitend hinstellte, einem philosophischeren Pantheismus Platz gemacht hat. David Strauß hat die unterbrochene, durch Schleiermacher im Wendepunkt des Jahrhunderts repräsentirte Debatte, abgeschlossen; aber welche Prämissen aus dem vorigen Säkulum stehen im Vordergrunde seines Werkes! – Auch die heutige religiöse Stimmung scheinen Sie mir theils aus dem vorigen Jahrhundert, theils aus den zwischen dasselbe und uns mitten inne getretenen Ereignissen richtig und genau deducirt zu haben, indem Sie zeigen, wie erstlich ein aus der letzten Zeit des 18. Jahrhunderts herüberklingender Ton [...] in das [60] 19. herübergeklungen sei, und wie demnächst die gewaltigen Thatsachen der Geschichte die Gemüther zum Höhern [...] getrieben und so endlich eine vermittelte Toleranz gegen das Christenthum hervorgebracht haben. In solchen Deduktionen sind Sie längst als Meister anerkannt, und werden auch hier von Jedem, der die Zeiten zu vergleichen im Stande ist, verstanden und gelobt werden. Sie fügen dann drei Zielpunkte in Bezug auf die Gegenwart hinzu 1) die Religion im Gebiete der Kirche und als Wissenschaft; 2) die Religion im Gebiete des Staates; 3) die Religion in Bezug auf die Gesellschaft und als Gesinnung. Ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, ich glaubte nicht, dies Ihr Kapitel mit der fast durchgängigen Zufriedenheit aus der Hand zu legen, mit der es wirklich geschehen ist; ich getraute mir nur eine mit vielem Scharfsinn und vieler Umsicht geschriebene Individualmeinung zu erwarten, von der man gewohnt ist, diese und jene bestimmten Ecken abzuschleifen, um sie goutiren zu können. Aber ich sehe Sie mit treuem historischem Sinn und über die Gränzen Ihrer bekannten Lust zu zertheilen und anzuzweifeln, sich einer großen ungetheilten Totalansicht und Versöhnung der Gegensätze bemei-[61]stern. Nur das Eine möchte ich Ihrer an freigebigen Concessionen so reichen Darstellung hinzufügen, wie sich nach allen kritischen Stürmen des 18. Jahrhunderts, nach aller Abrundung und Abschließung der Resultate in dem unsrigen, selbst nach der durch Philosophie und äußere Noth vermittelten Toleranz gegen das kirchliche Christenthum, wieder die alte Wahrheit manifestirt hat, daß das Christenthum den Keim der Ewigkeit in sich trägt und fortwährend die ewige Beruhigung Aller, der Großen und der Kleinen, der Reichen wie der Armen, der Unmündigen nicht weniger als der Weisen möglich macht. Wer da sucht ein Moralsystem, dem bietet es seine große und kräftige Lehre, die für alle Zeiten und Menschen Anknüpfungspunkte bietet, wer eine persönliche Autorität, einen Herrn und Meister sucht, einen bessern Confucius, einen größern Sokrates, dem stellt es die herrlichsten Propheten im Gewande des Orients dar; wer nach einer Alles beherrschenden und Alles umfassenden Idee sucht, dem bietet es die schönste und glorreichste, die die Weltgeschichte aufzuweisen hat: Gott wird Mensch und wir sehen seine Herrlichkeit! Selbst nach der systematischesten Auflösung ihres ganzen Fundamentes, nach dem Leben Jesu von Strauß hat diese Idee erst ihre [62] rechte Weihe erlangt; denn wenn der größte Theil der Geschichte Jesu entweder mythologisch ist oder doch so mit Mythen versetzt, daß sich kaum ein faßbarer Niederschlag von historischer Wahrheit daraus sondern läßt, wenn die meisten Bücher des Neuen und des Alten Testaments postfacta und keine historischen Zeugnisse der Zeit, von der sie erzählen, zu sein erfunden werden: dann bleibt das wenigstens stehen, daß irgendwo, irgend einmal in der Welt die Idee der Erlösung geboren und genährt worden ist, – denn daß diese Bücher gar nicht existiren, ist meines Wissens noch keinem Kritiker eingefallen, beweisen zu wollen. Hat aber die Menschheit irgendwo und irgendwann diese Idee gehabt und sie in diesen Büchern verwirklicht, so ist das Christenthum gerettet und die Menschheit selbst hat sich eben dadurch erwiesen als den eingebornen Gottessohn, dessen Zeichen und Wunder zu sehen sind in den Schriften des Neuen Bundes. Dann ruht im Evangelium Johannis, sei es geschrieben, wann und wo auch immer, die Weihnacht der Menschheit idealiter, die man realiter aus Bethlehem weggeleugnet hat. Wie wir vor den ewigen Kunstwerken der Griechen andächtig niederknieen, die ewige Geburt Gottes in die Wirklichkeit anbetend, wie [63] wir vor den Gemälden Raphaels, Titians und Rubens sprachlos die Nähe des Unendlichen fühlen, so werden uns auch die Gestalten des Neuen Bundes anmuthen als die Plastik des Wortes und die Dogmen der Jahrhunderte uns sein die Gemälde des religiösen Geistes, der sein erhabnes Andenken auf den Wänden der Zeit zurückließ. Das Wort aber und der Geist, der sich dem Unendlichen nähernd, selbst unendlich wird: das ist das Höchste.

Im zweiten Theile Ihrer Darstellung kommen Sie auf die „Trennung der Kirche vom Staat“; deuten aber sehr richtig an, wie wir uns zu hüten haben, daß eine Freiheit der Kirche keine Herrschaft derselben werde. Wunderbar! was uns jetzt als höchster Frevel und ungehorsamste Auflehnung nachgeschrieen wird, dafür schrieb schon ein Mann, der sich durch vielseitigste und gemessenste Wirksamkeit des Beifalls und der Citirungen aller Partheien zu erfreuen hat, Friedr. Schleiermacher. Schleiermacher ruft in seinen Reden über die Religion aus: „Möchte doch allen Häuptern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf immer fremd geblieben sein auch nur die entfernteste Ahnung von Religion, möchte doch nie einer ergriffen worden sein von der Gewalt jener [64] ansteckenden Begeisterung! wenn sie doch ihr eigentlichstes Innres nicht zu scheiden wüßten von ihrem Beruf und ihrem öffentlichen Charakter!“ Den Spinoza aber, den ein oberflächlicher Absolutismus sowol als ein vager Liberalismus dafür ausgegeben haben, er confundire Kirche und Staat, behalte ich mir vor, [...] bei einer andern Gelegenheit von dem Verdachte dieser Verschmelzung zu reinigen [...].

So viel noch zur Sache: Die Religion ist Sache des Individuum geworden. Seit Luther seine Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg anschlug und den inwendigen Glauben zur Christenpflicht machte, im Gegensatz zu der glänzenden Aeußerlichkeit der katholischen Opera, seit der Zeit schreitet der Protestantismus unaufhaltsam fort, ob auch unter hundert andern Gestalten, im Wesen immer derselbe, der sein Vereinzelungsrecht und seine staatliche Unabhängigkeit in Sachen der Religion verlangt. Protestanten aber sind nicht die, welche sich an Worte Luthers halten, oder die, welche die Prädestination Calvins scholastisch in das Gewebe ihres Systems einspinnen, sondern die den in den Reformatoren incarnirten Geist rauschen hören durch [65] die Hallen der Weltgeschichte, den Geist, der auf dem Punkte steht, die Pforten einer neuen Zeit aufzubrechen und die davor gestellten Schaarwächter umzustürzen.

[Es folgt eine Beschäftigung mit dem Thema der Judenemanzipation, wiederum durch Zitate eines Dialogs aus Grüns unveröffentlichtem Roman „Oswald“. Die Redner Oswald und Jonathan vertreten jeweils den christlichen und den jüdischen Standpunkt, und die verdoppelten Anführungszeichen stehen im „Sendschreiben“ für Jonathans Rede:]

[66] [...] „ „Verstehen Sie mich nicht falsch, erwiderte Jonathan [...]. Ich setze die Verschmelzung unsrer Völker wolweislich in die Idee, in die Zukunft [...]. Eins wäre möglich, um diese Idee gleich Fleisch und Blut werden zu lassen: eine Revolution, Freilassung der Religion ans Individuum. Aber auch auf dem Wege der Reform, der Allmäligkeit müßte sich dies [67] Ziel erreichen lassen. Der Staat mag auf seinem christlichen Princip so fest ruhen, als er will, – in seiner historischen Bedeutung erkenn’ ich dies Princip mit Glaubenseifer an, der Staat mag von seinen jungen Bürgern immerhin den Durchgang durchs Christenthum verlangen. Aber dazu wird er sich doch bald entschließen müssen, seine Forderungen nicht aufs Außenwerk, aufs Symbol, aufs Wort auszudehmen. Sei das Band zwischen den Herzen und dem Himmel erst Privatsache: dann wird sich in den scheinbar verschiedensten Anschauungen eine unerwartete Aehnlichkeit finden.“ “

„Gut, versetzte der Andere, Sie haben den Staat bei Seite geschoben; aber wie nun die beiden Völker selbst vereinigen? Hat nicht dennoch Alles bei dem Einen einen viel zu verschiedenen Ursprung und eine viel zu anders geartete Entwicklung bei dem Andern, als daß in die geheimste, Alles begründende Angelegenheit, in die Religion, ein harmonischer Einklang zu bringen wäre. Glauben Sie mir, so oberflächlich auch heutiges Tages die Religion auf die Bildung der Menschen einzuwirken scheint, so tief hängt sie im Grunde mit seinem Wesen zusammen, da wo die Elementarkräfte seiner [68] Substanz [...] sich im geheimnißvollen Proceß begatten. In unsern erwachten Federn von heute ist das Christenthum die Federseele, wenn auch der Teufel die Dinte gerührt hätte. Wo soll nun an diese so geartete Bildung, an dies achtzehnhundertjährige Schiff das Segelboot aus Palästina anstoßen?“

„ „Und glauben Sie denn, versetzte Jonathan mit Feuer, daß an der Bildung meines Volks die mächtige Hand der Geschichte spurlos vorübergegangen ist, glauben Sie denn, daß mein Volk sich dem Einflusse der christlichen Weltform gänzlich hat entziehen können? Und was wollen Sie denn, welchen Ursprungs ist die Lehre in ihrer historischen Gestalt, woher stammt das Kreuz, in dessen Form die Architektonik des ganzen Mittelalters ausläuft? Doch hoffentlich aus Palästina, aus Jerusalem. Sollte dieser gemeinsame Ursprungspunkt nicht seine verwandtschaftliche Kraft bewährt haben? Ich will Sie an einen Mann erinnern, der aus der Tiefe seines altjüdischen Bewußtseins den höchsten Gipfel christlicher Weisheit und Wahrheit erklommen hat: – Baruch Spinoza. Wo [...] verläßt er je den Standpunkt des propheti-[69]schen Judenthums, dem Jehovah einen Retter aus Noth und Knechtschaft verheißen hatte? Christus ist für ihn dieser Mund Gottes [...]. Ja, ich möchte sagen, Spinoza war ein treuerer einfacherer Christ als Ihr Alle. Er verschmähte das gnostische Fechterkunststück und das Surrogat einer Idee Christi, wo man mit der Person nicht auskam. [...] Fassen Sie beides zusammen, gemeinsamen Ursprungspunkt und historischen Einfluß der christlichen Weltbildung, und fragen Sie sich aufrichtig, ob mein Volk nicht mit dem Ihrigen sich verbinden, nicht mit ihm eine gemeinsame Zukunft erstreben könnte. Und endlich [...], welch’ eine christliche Influenz ist es, die Sie so hartnäckig für die Zeitgenossen in Anspruch nehmen. Ist diese Influenz nicht ein ganz ideelles Resultat, das sich noch mehr sublimiren wird, wenn der Staat erst seine ungewaschene Pfote aus den Herzensangelegenheiten herausziehen wird. Subjektiv erkenne ich, wie jeder Jude, der auf der Höhe der Zeit steht, das christliche Princip an, die Göttlichkeit des [70] Menschen; objektiv und in Bezug auf die Geschichte liegt in ihm der demokratische Staatsbegriff als die höchste Form der gesellschaftlichen Ordnung. Was wollen Sie mehr.“ “

„Nichts als die Möglichkeit der baldigen Hinwegräumung aller Hindernisse. Ereifern Sie sich nicht, um die Wahrheit der Idee noch zu demonstriren; sagen Sie mir ein einziges Wort, das Macht habe uns zusammenzuglühen. So lange ich diese orientalischen Physiognomieen rein und unverfälscht vor mir herumwandeln sehe, so lange es noch Jemandem einfallen darf, mit Achselzucken zu sagen: „Hm, ein Jude!“, so lange um eure Mundwinkel noch die rächende Süffisance spielen wird, unsern Vorurtheilen gegenüber; so lange wird nur unser Gegensatz störend sein, müßt’ ich Euch auch alle Verdienste in Kunst und Wissenschaft, alles Geld und alle Spekulation zugestehen.“

„ „Und dies Eine Wort will ich Ihnen sagen, es heißt: Verschmelzung der Nationalitäten! Fangen wir erst an, unsre Sache eine nationale und keine religiöse sein zu lassen: dann ist die Lösung der Frage und die Erlösung meines Geschlechtes nahe. Wer genirt sich, eine Französin, eine Engländerin, eine Spanierin zu heirathen, wer sogar, falls er nach [71] Ostindien ausgewandert ist, eine Mestize oder Mulatte? warum sollt’ es keine Jüdin sein können, wenn ihre sonstigen Eigenschaften, vor allem der Grad ihrer Bildung sie dazu befähigen. Und ich versichre Ihnen, mit der Verwischung und Nivellirung unsrer orientalischen Physiognomieen wird sich am Schnellsten das Vorurtheil heben lassen. In der dritten Generation würde man die pechschwarzen Haare nicht mehr finden, die „rächende Süffisance[“] nicht mehr, die spitzfindigen Spekulationen nicht mehr, Ihre Vorurtheile nicht mehr, kurz nichts mehr von jenen Fatalitäten, die unsre Vereinigung hemmen.“ “

[Grün beschließt sein „Sendschreiben“ mit Ausblicken auf die Entwicklung der Philosophie, indem er Gutzkows Feststellung unterstützt, hier finde „eine Verschmelzung des Idealismus und Realismus“ statt, und er empfiehlt seinen Freund Moriz Carriere als hervorragenden Vertreter dieser Tendenz, der außerdem nicht nur dem Verstand, sondern auch dem Herzen Gerechtigkeit tue. Gutzkow könne an Carriere seine Meinung modifizieren, dass von der Philosophie keine wesenliche Einwirkung auf die Zeit mehr zu erwarten sei. Grün nimmt dann entschieden Stellung für das Vermögen der jungen Literatur, mehr zu sein als ein Instrument im politischen Tageskampf; ihr Bemühen solle dahin gehen, sich „wie ein geschlossener Phalanx voran[zu]bewegen und sich durch sich selbst Ansehn [zu] verschaffen“. (S. 73)]

[74] [...] Entschuldigen Sie denn die Länge dieses Sendschreibens mit dem redlichen Bestreben, Gegenstände wieder zur Diskussion zu bringen, die in der Form Ihrer „Zeitgenossen“, Schande den Betreffenden! – ohne die verdiente Wirkung vorübergingen. An diesen Fragen müssen wir unsre Schwerter wetzen, um das Thor des himmlischen Jerusalems zu erstürmen; diese Gegenstände müssen auf die Fahnenstöcke unsrer Streitmächte gepflanzt werden, damit man uns kenne und fürchte.

Für Ihre „Zeitgenossen“ sag’ ich Ihnen aus aller Ferne den herzlichsten Dank. Sie [75] sind mir ein Trost gewesen in den trüben Tagen eines Leidens, das nicht vor das große Publikum gehört. Sie traten damals vor meine Seele, und gaben mich mir selbst zurück, nicht mit den Resultaten Ihrer Unterhaltungen, – wer möchte diese freudig willkommen heißen? – nein durch den Gedanken, daß so lange die Edeln nicht aufhören werden, Sorge zu tragen für dies Weben und Rauschen im Schooße der Gegenwart, wir uns nicht zu grämen haben um die Zukunft, das Kind der Gegenwart; durch den Geistesgruß, der dem auf hohem Meere Fahrenden von der Höhe des Wartthu[r]ms wie eine Engelstimme ertönt.

Ich schreibe diese letzten Zeilen auf der Plattform des Straßburger Münsters. Vor mir liegt das deutsche Land, die Schwarzwaldberge ziehen sich wie eine düstere Erinnerung am Horizonte hin. Hinter mir im Westen – Frankreich, hinter dem düstern Zukunftsgürtel der Vogesen. Ich bin andrer Ansicht über die zeitgenössische Politik, über die Zukunft Europa’s als Sie: ich glaube, der Pulsschlag der Bewegung wird und muß sich über kurz oder lang noch einmal so heftig an der Hand der Völker fühlen lassen, daß wir sie nicht nach dem Ticktack der Taschenuhr und der Diplomatie berechnen kön-[76]nen. Aber wie dem auch sei: Offenheit und Wahrheit von jeder Seite erzeugt die allseitige, allgemeine Wahrheit.

Wo wir auch seien, an der Elbe oder am Orinoko; lasset uns schaffen, daß der Traum unsrer Herzen Wahrheit werde!

Das Gute, das Wahre! in ihrer erfüllten Form das Schöne! Mit dieser Parole an Sie und alle Edeln den Gruß der Liebe!

5.4.8. Georg Herwegh, 15. Oktober 1839#

[Georg Herwegh:] Karl Grün. In: Deutsche Volkshalle. Belle-Vue bei Constanz. Nr. 26, 15. Oktober 1839, S. 104. (Rasch 14/14.39.10.15)

Ich werde fünfzig der besten Kritiken immer gern Einer guten Produktion opfern, und doch kann es Fälle geben, wo ich auch Arbeiten im kritischen Fache mit einem Enthusiasmus beurtheile und zur Kenntniß der Nation bringe, wie er nur bei den glänzendsten Schöpfungen eines dichterischen Genius über mich kommt. Eine solche Arbeit ist das eben vor mir liegende

Sendschreiben an Dr. Karl Gutzkow in Betreff seiner „Zeitgenossen“ von Karl Grün. Cassel, bei Fischer.

Dieses Sendschreiben [= 5.4.7.] soll nur die Vorrede sein zu einem Romane „Buch der Wanderungen“, der in derselben Verlagshandlung erscheint, mir aber bis jetzt noch nicht zu Handen gekommen ist. Die Halle’schen Jahrbücher [...] haben mit grenzenlosem Hochmuth über die Erscheinungen der neuesten Literatur abgesprochen, und zwar abgesprochen in einem Tone, dessen ich den gepriesenen Universalismus dieses Instituts nicht für fähig gehalten hätte. Ich habe [...] die gebührende Achtung vor besagtem Organe der Oeffentlichkeit, aber bitten möchte ich die Arbeiter am Weinberg der Hegelschen Philosophie, weniger esoterisch, weniger ausschließlich zu sein und sich nicht so sehr einer blosen Kastenweisheit hinzugeben. Habt ihr wirklich euern Herrn und Meister verstanden, habt ihr wirklich, wie ihr prätendirt, die Aufgabe des Jahrhunderts begriffen, nun so bilde ein Jeder nach seiner Eigenthümlichkeit sich auch die entsprechenden Formen für seine Gedanken und thue seinen Tiefsinn anders als in den hergebrachten Phrasen kund. [...]

Während unsere Vernunft auf ihrem hohen Throne schwelgt und praßt, ist unser Herz ein Bettler geworden. Schade, denn die Fäden, welche uns mit dem Volke verbinden, spinnen sich nicht aus unserem Kopfe, sondern aus unserer Brust. [...] Unsere Denker müssen heraustreten aus ihrer Unmittelbarkeit und ihr welsches Sanskrit dem Volke übersetzen in gutes, bürgerliches Prakrit. Oder besäßen sie wirklich so wenig Selbstvertrauen zu ihrer Unfehlbarkeit [...], daß mit dem Nimbus der Sprache die ganze Herrlichkeit ihrer Systeme in Asche fiele?

Der junge Mann, von dem das angeführte Sendschreiben ausgegangen und der uns auch sonst schon unter dem Namen Ernst von der Haide begegnet ist, hat gewiß seine Studien gemacht, so gut als Einer jener Phraseologen; er ist aber weder so altklug dünkelhaft geworden, noch hat der Kathederstaub die Flamme des Zorns und der Liebe in seinem Busen erstickt. Er gesellt sich jener kleinen Schaar bei, deren Glück und Elend in dem Worte: „Kinder der Zeit“ so ergreifend ausgedrückt ist. Noch hat er viel in sich verschlossen und ist zu bescheiden, die Welt seines Innern auf einmal blos zu legen. Er will sich der Nation auf eine Weise empfehlen, die mir immer gar lieblich und rührend vorgekommen ist. Er empfiehlt zunächst einen andern Autor und knüpft seine eigenen Bemerkungen und etwaigen Widersprüche an dessen Behauptungen an. Die Broschüre Karl Grün’s ist ein schätzenswerther Commentar zu den Zeitgenossen Gutzkow’s und kann viel zur Verständigung dieses Autors mit dem Volke beitragen. Ich kann sie in letzterem Betracht nicht dringend genug meinen Lesern an’s Herz legen.

Die junge Literatur mußte, um wenigstens ihren demokratischen Produktionen eine Zukunft zu sichern, sehr zurückhaltend mit dem ungeschminkten Bekenntniß ihres politischen Glaubens. Karl Grün hat nach langer Zeit zuerst wieder den Muth gehabt, den seinigen rücksichtslos auszusprechen und frank und frei der Nation die theuren Namen ins Gedächtniß zurückzurufen, die man kaum noch aus undankbarer Feigheit vergessen zu wollen schien. Ich weiß nicht, darf ich Karl Grün auch als Dichter so freudig bewillkommnen, wie ich ihn jetzt als Charakter bewillkommne. Ich wünsche es – denn eine schöne Form, mit solchem Geiste erfüllt, wäre eine Oase in unserer Literatursteppe.

Bleibe kalt, wer es vermag; ich bin unwissenschaftlich genug, laut aufzujauchzen, wo die Saiten meines Gemüths so harmonisch berührt werden, wie im vorliegenden Büchlein!

Der Glaube an die Gegenwart als den Keim einer schönen Zukunft lächelt mir trostvoll aus jeder Zeile entgegen.

Nur mit Einer Behauptung des Verfassers habe ich mich nicht versöhnt, und ich werde mich auch nie mit ihr versöhnen, ich meine seine Behauptung von der Rechtmäßigkeit und Nothwendigkeit der Todesstrafe. So würdig dieselbe motivirt ist, denn sie wird gleichsam als Versöhnung des Verbrechers mit dem Absoluten, als Heilung des Bruchs mit der Idee dargestellt, mir wird hier die Rede Robespierre’s für die Abschaffung der Todesstrafe mehr gelten, als die darauf bezüglichen Paragraphen der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Eine ganz andere Stimme, als der Kalkul eines Justizraths hat hier ein Votum, das ein Veto sein muß, abzugeben.

5.5. Rezeptionsgeschichte#

6. Globalkommentar#

Stellenerläuterungen#