Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Paris ou le livre des Cent-et-un (Fortsetzungswerk)#

Metadaten#

Autor
  1. Martina Lauster
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
14.09.2001

Text#

Paris, ou le livre des Cent-et-un#

Fortsetzungswerk (1831-34) in der Tradition des Pariser Stadtporträts, das die Topographie, Bevölkerung und Habitusformen der Metropole in amüsanten, oft satirisch-kritischen Einzelbeobachtungen skizziert. Der Serientitel stellt die Reihe in die Tradition der moralistischen Sittenbilder.

Allgemeines#

Die Gattung des Pariser Stadtporträts wurde geprägt durch Sébastien Merciers "Tableau de Paris" (1782-88). Obwohl eng verwandt mit der Moralistik des 17. und 18. Jahrhunderts, z. B. La Bruyères "Les Caractères" (1688), und mit den Sittenschilderungen des pikaresken Romans, z. B. Lesages "Le Diable boiteux" (1707), geht es im "Tableau de Paris" um eine tiefer reichende, nicht von moralischen Urteilen gefilterte Interpretation. Die großstädtische Wirklichkeit mit allen ihren zuvor kaum beachteten oder nicht für literaturwürdig gehaltenen Erscheinungen gerät nun in den Blick, wie Karlheinz Stierle gezeigt hat. Die Bezeichnung 'Tableau' gilt gleichermaßen für ein 'Gemälde' und für eine stillgestellte dramatische 'Szene' - beides Gattungen, die nun in scheinbar kunstlose beschreibende Prosa übertragen werden. Die Tendenz zur Visualisierung und zur szenischen Vergegenwärtigung ist also eine Eigenschaft der modernen Stadtbeschreibung, die sich als Versuch charakterisieren lässt, das Gesehene in seiner Vielfalt festzuhalten und zu interpretieren. Im Stadt-Tableau wird die populäre physiognomische Methode des 18. und 19. Jahrhunderts auf das Gesicht der Metropole angewendet, um eine "Physiognomie der Jetzt-Zeit" (Stierle, Mythos, S. 115) zu erhalten.

Das „Livre des Cent-et-un“ im Zeitkontext#

War das "Tableau de Paris" Merciers der Versuch eines Einzelnen, eine Vielzahl von Beobachtungen zu einem Gesamtporträt städtischen Lebens zusammenzusetzen, so zeichnet sich um 1830 eine neue Entwicklung ab. Die politisch und gesellschaftlich wesentlich komplexer gewordene Pariser Welt erfordert eine Multiperspektivik, die der einzelne Beobachter kaum leisten kann. Schon Mercier ließ sein 'Tableau' zu einem ständig erweiterten Riesenwerk anwachsen. Das "Livre des Cent-et-un" ist das erste Pariser Stadtporträt, das als kollektives Fortsetzungswerk erschien. Es sollte dem Verleger Ladvocat helfen, dessen Unternehmen vom Ruin bedroht war: um 1830 ein zeittypisches Phänomen, das den krisenhaften Übergang zur modernen Massenproduktion im Buchhandel anzeigt. Über hundert Beiträger (daher der kuriose Titel "Livre des Cent-et-un") taten sich zusammen, um für Ladvocat ein lukratives Publikationsprojekt zu lancieren, das die Marktlücke zwischen Buch und Journal ausfüllte.

In dem Eröffnungsbeitrag des Journalisten Jules Janin wird explizit auf Merciers "Tableau de Paris" und auf Lesages Sittenporträt im "Diable boiteux" Bezug genommen. Um der seit dem 18. Jahrhundert erfolgten Umwälzung der Sitten gerecht zu werden, könne man nicht mehr die Einheit des Großporträts anstreben wie der Einzelautor Mercier, sondern es sei jetzt eine vielfältig zusammengesetzte Malerei, eine "peinture multiple" aus Hunderten von verschieden perspektivierten Beiträgen erforderlich. Janin schreibt es ebenfalls der Umwälzung der Sitten zu, dass die Kunst, städtische Physiognomien zu entziffern, im Paris der 1830er Jahre inzwischen weit verbreitet sei. Es komme nicht mehr auf den genialen Durchblick eines Einzelnen an, um ein präzises Bild der gegenwärtigen Stadt zu zeichnen, sondern praktisch jeder Pariser und jede Pariserin sei heutzutage ein Lesage - oder genauer, ein "Diable boiteux", ein hinkender Teufel Asmodeus, der in Lesages Roman die Dächer der Stadt abhebt und so die 'mores' der Zeit aufdeckt. Das "Livre des Cent-et-un" sollte ursprünglich in Anlehnung an Lesage unter dem Titel "Le Diable boiteux" erscheinen. Janins programmatischer Essay, "Asmodée" betitelt, und der Serientitel, der ein Teufelchen mit Krücke zeigt, sind ein Hinweis darauf. (Die Zeitgenossen, Globalkommentar: 6.1.3.1. Sittengeschichte als moderne Moralistik)

Das "Livre des Cent-et-un" erschien von 1831 bis 1834 in fünfzehn Einzelbandlieferungen zu jeweils etwa 350 Seiten. Als Beispiel für die Thematik der Beiträge und die Vielfalt der Beiträger kann das Inhaltsverzeichnis von Band 5 (März 1832) dienen:

UNE MATINÉE AUX INVALIDES, par M. Émile Deschamps.

LES JEUNES PERSONNES SANS FORTUNE A PARIS, par Mlle Vne Collin.

DE LA BARBARIE DE CE TEMPS. 1832, par M. Delécluze.

MONSIEUR DE PARIS, par M. James Rousseau.

LES AMITIÉS LITTÉRAIRES EN 1831, par M. le marquis De Custine.

LES CONVOIS, par M. P.-F. Tissot.

UNE VISITE A CHARENTON, par M. Maurice Palluy, directeur de la Maison royale.

LES MIGRATIONS DU PORT SAINT-NICOLAS, par Madame Amable Tastu.

LA MANIE DES ALBUMS, par M. Henry Monnier.

UN CAFÉ DE VAUDEVILLISTES EN 1831, par M. Félix Pyat.

PARIS IL Y A MILLE ANS, par Saint-Marc Girardin.

LES NATURALISTES FRANÇAIS, par M. Goethe (dernier écrit).

LES MAISONS DE JEU, par M. le comte Armand d'Allonville.

LE COMPOSITEUR TYPOGRAPHE, par M. Bert.

LES BÉOTIENS DE PARIS (deuxième série), par M. Louis Desnoyers.

LE THÉATRE MONTANSIER, par M. J.-T. Merle.

LE CHOLÉRA-MORBUS A PARIS, par M. A. Bazin.

LES OBSÈQUES DE M. CUVIER (MM. Jouy, Geoffroy Saint-Hilaire, Villemain et Arago).

Betrachtungen über Örtlichkeiten, Demographie und Institutionen von Paris (ein Morgen im Invalidendom, die Auswanderer nach Amerika, die Frankreich vom Port Saint-Nicolas aus verlassen, ein Besuch im Irrenhaus Charenton), über Unterhaltungsstätten und Formen öffentlichen Umgangs (Vaudevillistencafé, Spielhäuser, Leichenzüge, das Théatre Montansier, literarische Freundschaften) stehen neben Porträts verschiedenster sozio-kultureller bzw. beruflicher 'Typen' (junge Leute ohne Vermögen, "Monsieur de Paris", Setzer in einer Druckerei, die 'Begriffsstutzigen' ['Böotier'] von Paris) und Reflexionen über Zeitgeschichte bzw. Modephänomene, wie sie sich besonders konzentriert in der Metropole beobachten lassen (das Barbarische der Zeit, die Cholera (Lexikon), die Album-Manie). Außerdem werden die berühmten Biologen vom Muséum d'histoire naturelle, Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier, mit Beiträgen geehrt: einer davon aus der Feder Goethes (es handelt sich um sein letztes Schriftstück, den Aufsatz zu Saint-Hilaires "Principes de philosophie zoologique", dessen zweiter Teil noch kurz vor Goethes Tod in den "Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik" erschien). Cuvier war wie Goethe 1832 gestorben; der abschließende Artikel über Cuviers Totenfeier, verfasst von Saint-Hilaire und anderen renommierten Gelehrten, bildet ein Echo auf den Hinweis, Goethes übersetzter Beitrag sei seine 'letzte Schrift'. - Die Liste der Beiträger weist die gleiche breite Streuung auf wie die Themen der Beiträge: ,Klassiker' der Literatur und der Naturwissenschaft von höchstem europäischem Ansehen stehen neben Pariser Zeitgenossen wie dem Intellektuellen und Journalisten Saint-Marc Girardin, dem Gutzkow in Berlin 1830 Deutschunterricht erteilte ("Rückblicke auf mein Leben", Journaldruck [RueVWWW], Erläuterung zu 5,32), dem Karikaturisten Henry Monnier und Prominenten wie dem Marquis de Custine oder Madame Tastu.

Die Einheit in dieser Vielfalt wird durch mehrere Faktoren gewährleistet. Die Beiträge zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Gegenwartsbewusstsein aus, wie die Erwähnung der Jahreszahlen 1831 und 1832 in einigen Titeln schon verdeutlicht. Damit im Zusammenhang steht die Funktion jedes Beitrags als Momentaufnahme oder - wie die traditionelle visuelle Orientierung solcher Stadtliteratur nahelegt - als 'Skizze', aus der im Zusammenspiel mit ,Hunderten' von anderen Skizzen ein Gesamtbild, ein 'Tableau' bzw. eine Stadt-'Physiognomie', entsteht. Zeitgleich zum "Livre des Cent-et-un", aber schon seit 1830, veröffentlichen die kleinen Journale der Julimonarchie, z. B. "La Mode" und "La Caricature", solche Skizzen oft unter dem Titel 'Physiologie'. Die Anleihen der frühsoziologischen Skizzenliteratur bei Medizin und Zoologie werden im Globalkommentar der "Zeitgenossen" behandelt (6.1.3.2. Naturwissenschaftliche Paradigmen). Die Präsenz der Naturwissenschaftler im "Livre" mag vor diesem Hintergrund weniger erstaunen.

Das publizistische Experiment des "Livre des Cent-et-un" war so erfolgreich, dass es zur Mode wurde. Serienmäßig erscheinende, oft reich illustrierte Kollektivwerke, die sich mit dem Pariser Großstadtleben und seinen 'Typen' beschäftigten und auch im Ausland großen Anklang fanden, folgten bis in die Mitte der vierziger Jahre. Das bekannteste von ihnen ist "Les Français peints par eux-mêmes", zu dem auch Balzac beitrug. Dieses Werk erschien in 422 Lieferungen zu je 0,30 fr. von April 1839 bis August 1842 und kam in insgesamt acht repräsentativ ausgestatteten Bänden heraus, die ersten fünf dem Pariser Leben, die folgenden drei dem in der Provinz gewidmet: Les Français peints par eux-mêmes. Encyclopédie morale du XIXe siècle. 8 Bde. Paris: Curmer, 1840-42. Die Erscheinungszeit dieser 'Enzyklopädie der Sitten' läuft parallel zur Hochkonjunktur der 'Physiologien'. Zwischen 1840 und 1842 kamen Hunderte von Broschüren heraus, gedruckt im Taschenformat 'in-32' (Sedezformat: 16 Blatt, also 32 Seiten pro Bogen), jede Schrift etwa 120 Seiten lang, meist illustriert und oft mit einer witzigen anonymen Autorenangabe versehen. Sie 'physiologisierten' in humoristischer Weise alles vom Blaustrumpf und vom Raucher bis zum Theater, Regenschirm oder Kalauer: "Physiologie du bas-bleu", "Physiologie du fumeur", "Physiologie du théâtre. Par un journaliste", "Physiologie du parapluie. Par deux cochers de fiacre", "Physiologie du calembourg. Par un nain connu". ("Die Zeitgenossen", Globalkommentar: 6.1.3.2. Naturwissenschaftliche Paradigmen)

Breitete sich, von Frankreich ausgehend, in den 1840er Jahren eine Physiologienmode in ganz Europa aus, so ist schon die internationale Resonanz des "Livre des Cent-et-un" zu Beginn der dreißiger Jahre beträchtlich. Es wurde vom ersten Band an von dem Brüsseler Verleger Méline nachgedruckt, aber ausnahmsweise nicht als Raubdruck ("contrefaçon"; dazu Lexikon: Brüsseler Nachdruck), sondern im Einvernehmen mit dem Pariser Verlag Ladvocat. Méline (Lexikon: Brüsseler Nachdruck) hatte sogar das Recht erworben, seine Bände am selben Tag auf den Markt zu bringen, an dem sie auch in Paris erschienen. Da ab Band 3 die Rechte an den Brüsseler Verlag Peeters in Verbindung mit der Allgemeinen Niederländischen Buchhandlung in Leipzig übergingen, ist anzunehmen, dass das "Livre" in Deutschland als brandaktuelle Pariser Publikation erhältlich war. Sicher ist, dass auch Schmerber in Frankfurt und (bis zum 10. Band) Schlesinger in Berlin das "Livre" - wohl mit einer kleinen Verzögerung - nachdruckten. Außerdem erschien es in deutscher Übersetzung. Bisher eruiert wurden folgende Bände: Paris oder das Buch der Hundert und Ein. Aus dem französischen übersetzt von Julius Karolina (Bd. 1), Theodor Hell (Bd. 2-6). Potsdam: Verlag von Ferdinand Riegel, 1832 (Bd. 1-4), 1833 (Bd. 5-6). (Zu Theodor Hell "Rückblicke auf mein Leben", Journalfassung, Erläuterung zu 9,9-11.) In Nr. 21 vom 25. Januar 1832 kündigt der "Berliner Figaro" ein deutsches Äquivalent zum "Livre" an, das sich mit dem Leben in der preußischen Hauptstadt beschäftigen wird: "Auch in Berlin soll ein Livre de [sic] Cent-et-un erscheinen. Jeder Schriftsteller, der einen Namen in der literarischen Welt hat, wird einen Beitrag liefern." Dieser Plan wurde offensichtlich nie verwirklicht; vielleicht - so Gutzkows Klage in der "Vorrede" zu den "Novellen" (1834) -, weil für die "hundert Sittenmahler des 'Livre' selbst unter den geübten publizistischen Zeitbeobachtern Deutschlands wohl keine zehn" Pendants aufzutreiben waren.

Die Bedeutung des „Livre des Cent-et-un“ für Gutzkow#

Am ausführlichsten behandelt Gutzkow das "Livre" in der soeben zitierten" Vorrede" ( NoWWW, S. 9,29-10,19). Die "Charakteristiken" des Pariser Fortsetzungswerks hätten ihn inspiriert, selbst zwei Porträts dieser Art zu versuchen, nämlich die Berliner Stadtskizzen "Die Sterbecassirer" und "Die Singekränzchen", die jeweils mit dem auf die Genremalerei verweisenden Untertitel "Bambocciade" versehen sind (dazu "Die Sterbecassirer", Quellen, Folien, Anspielungshorizonte: Gattungsfolien; sowie Erläuterung zu 73,2). Es ist denkbar, dass Gutzkow diese beiden Studien als Beiträge zu dem geplanten 'Berliner Livre des Cent-et-un' konzipiert hat. Er veröffentlichte sie 1833 im "Morgenblatt" (Rasch 3.33.01.18.1 und 3.33.04.11). Nähere Auskunft gibt der Kommentar zu "Die Sterbecassirer", 4.2 Entstehungsgeschichte. Gutzkow kommt in den "Rückblicken" noch einmal auf das Vorbild der Pariser Skizzenliteratur zurück, das ihm in den dreißiger Jahren vorschwebte. Außer bei den "Sterbecassirern" und "Singekränzchen" hatte er es - zusammen mit Bulwers "England and the English" - bei den "Zeitgenossen" (1837) im Sinn: "die genrebildliche Zeichnung, der Versuch, moderne La Bruyère'sche Charaktere zu zeichnen, gehörte damals beiden Literaturen, der englischen und französischen an. Auch in der deutschen versuchte sich manche Feder mit Artikeln im Charakter der Beiträge zum Livre des Cent et un, kurzen abgerissenen Skizzen über Dinge und Personen, Berufs-[158]stände, Sitten und Gebräuche. Eine Verbindung solcher Charaktertypen mit dem Vorsatz, die Eigenthümlichkeiten und Richtungen des Jahrhunderts in bestimmte Gruppen zu bringen, brachten die von mir unter Bulwers Namen [...] herausgegebenen 'Zeitgenossen' [...]." (Rue, S. 157-158)

Gutzkow beurteilt die Gattung der journalistischen Skizze abwertend: In der "Vorrede" der "Novellen" heißt es, die Sterbecassirer und Singekränzchen gehörten zu einem "Genre, für welches man eine Begeisterung von acht Tagen haben kann" (NoWWW, S. 9). Ähnlich gesteht Gutzkow ja auch seine Affinität zu dem von ihm wenig geschätzten 'Genremaler' Bulwer nicht ein (Lexikon: Bedeutung Bulwers für Gutzkow). Dies kann nicht über die eminente Bedeutung hinwegtäuschen, die die westeuropäische Skizzenliteratur für Gutzkow zu gerade der Zeit besitzt, in der sich sein publizistisch-literarisches Profil bildet. Zwischen 1833 und 1835 schreibt er 'physiologische' Essays, die sich direkt in ein Fortsetzungswerk von Pariser Format einreihen würden: "Studien über das Negligé" (Rasch 3.33.01.05), "Der Berliner Journalist" (Rasch 3.33.10.31), "Naturgeschichte der deutschen Kameele" (Rasch 3.35.02.26), "Ueber Pudel, Jokeys und Nachtigallen oder über die kleinen Freuden des Lebens" (Rasch 3.35.03.16). Mindestens genauso wichtig wie der soziologisch-diskursive Charakter der Skizze ist für Gutzkow die Tendenz des Genres zur enzyklopädischen Reihung bzw. zum publizistischen Kollektivwerk. Sein Versuch, mit Wienbarg zusammen eine "Deutsche Revue" zustande zu bringen, zielt explizit darauf, nicht nur "alle deutschen Dichter und Gelehrte" zu einem Gemeinschaftsunternehmen zusammenzubringen, sondern auch Wissenschaft und Literatur so zu vereinigen, wie es die großen französischen Vorbilder tun: die "Revue de Paris" und die "Revue des deux mondes". Dass die geplante deutsche Wochenschrift auch "den Charakter als Journal und Buch vereinigen" soll (vgl. DtRevE, S. 4), verweist wohl auch auf das Vorbild der Fortsetzungswerke vom Typ des "Livre des Cent-et-un" (dazu "Die Zeitgenossen", Globalkommentar: 6.1.4. Enzyklopädie und Revue als Ordnungen des Wissens). Mit Sicherheit ist diese 'Pariser Physiognomie' auch für Gutzkows prononciert (haupt-)städtische Orientierung maßgeblich. Wenn er auch Berlin als Sitz der preußischen Reaktion immer wieder kritisiert, so liegt ihm doch viel daran, das Potential dieser Stadt als Zentrum und Metropole darzustellen. Dies ist ein wichtiger Impuls für die "Ritter vom Geiste" (1850-51). Aber schon in der "Vorrede" der "Novellen" heißt es, die deutsche Öffentlichkeit sei "kalt" gegenüber Berlin, und Gutzkow impliziert, dass Skizzen wie "Die Sterbecassirer" und "Die Singekränzchen" dieser Gleichgültigkeit entgegenwirken könnten, ja vielleicht sogar geeignet wären, die großstädtische "Deschiffrirkunst" (No, Bd. 1, S. 63) des deutschen Lesepublikums zu schulen. Der Freund, der den Ich-Erzähler der "Singekränzchen" in diese Kunst einweist, heißt nach Lesages Teufel bzw. nach der Leitfigur des "Livre des Cent-et-un": Asmodi.

Quellennachweise#

Paris, ou Le Livre des Cent-et-un. 15 Bde. Paris: Ladvocat, 1831-34.

Paris, ou Le Livre des Cent-et-un. 15 Bde. Brüssel: Méline [ab Bd. 3: Brüssel: Peeters, Leipzig: Allgemeine Niederländische Buchhandlung], 1831-34.

Paris, ou Le Livre des Cent-et-un. _ Bde.¯ Frankfurt/M.: Schmerber, _Erscheinungsdaten¯

_Paris, ou Le Livre des Cent-et-un.¯ Bd. 1-10. Berlin: Schlesinger, _Erscheinungsdaten¯

Paris oder das Buch der Hundert und Ein. Aus dem französischen übersetzt von Julius Karolina (Bd. 1), Theodor Hell (Bd. 2-6). Potsdam: Riegel, 1832 (Bd. 1-4), 1833 (Bd. 5-6). _Weitere Bände¯

Les Français peints par eux-mêmes. Encyclopédie morale du XIXe siècle. 8 Bde. Paris: Curmer, 1840-42.

Edward Lytton Bulwer: Asmodeus at Large. In: New Monthly Magazine. London. Bd. 34, Januar-Juni 1832, S. 38-48; 112-120; 312-320; 423-432; Bd. 35 Juli-Dezember 1832, S. 24-32; 104-114; 409-417 ; 494-504; Bd. 36, Januar-Juni 1833, S. 61-68; 155-168.

[Théodose Burette:] Physiologie du fumeur. Illustriert von Lorentz. Paris: Bourdin, 1840.

[Couailhac:] Physiologie du théâtre. Par un journaliste. Illustriert von Emy. Paris: Aubert, 1841.

Karl Gutzkow: Die Sterbecassirer. Bambocciade. In: Ders.: Novellen. 2 Bde. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1834. Bd. 1, S. 107-128. (Rasch 2.4.1.3)

Karl Gutzkow: Die Singekränzchen. Bambocciade. In: Ders.: Novellen. 2 Bde. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1834. Bd. 2, S. 61-88. (Rasch 2.4.2.2)

[Karl Gutzkow:] Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Aus dem Englischen des E. L. Bulwer. 2 Bde. Stuttgart: Verlag der Classiker, 1837. (Rasch 2.14)

Jules Janin: Asmodée. In: Paris, ou Le Livre des Cent-et-un. Bd. 1. Paris: Ladvocat, 1831. S. 1-15.

Physiologie du calembourg. Par un nain connu. Illustriert von Emy. Paris: Bocquet, 1841.

Physiologie du parapluie. Par deux cochers de fiacre. Illustriert von Lacoste. Paris: Desloges, 1841.

[Frédéric Soulié:] Physiologie du bas-bleu. Illustriert von Jules Vernier. Paris: Aubert, 1841.

Forschungsliteratur#

Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Abschnitt I: Der Flaneur. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I/2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. Bes. S. 537-543.

Olaf Briese: "Das Auge der Polizei". Großstadtoptik um 1850. In: Gustav Frank und Detlev Kopp (Hgg.): Gutzkow lesen! Beiträge zur Internationalen Konferenz des Forums Vormärz Forschung vom 18. bis 20. September 2000 in Berlin. Bielefeld: Aisthesis, 2001. S. 263-297.

Kai Kauffmann: "Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 1994.

Martina Lauster: Sketches of the Nineteenth Century. European Journalism and its 'Physiologies', 1830-50. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2007.

Martina Lauster: Physiologien aus der unsichtbaren Hauptstadt. Gutzkows soziologische Skizzen im europäisch-deutschen Kontext. In: Roger Jones und Martina Lauster (Hgg.): Karl Gutzkow. Liberalismus - Europäertum - Modernität. Bielefeld: Aisthesis, 2000. S. 217-254.

Roman Luckscheiter: Das Parlament als geistige Lebensform. Wie die Literatur nach der Julirevolution ihre Leser auf die Massengesellschaft einstimmte. Neue Zürcher Zeitung Online, 10. Mai 2008. http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/das_parlament_als_geistige_lebensform_1.730276.html. Nathalie Preiss: Les Physiologies en France au XIXe siècle: étude historique, littéraire et stylistique. Mont-de-Marsan: Éditions InterUniversitaires, 1999. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München, Wien: Hanser, 1993. Bes. S. 105-128 (Mercier), S. 227-288 (Livre des Cent-et-un, Les Français peints par eux-mêmes, Physiologien). Karlheinz Stierle: Baudelaires "Tableaux Parisiens" und die Tradition des 'Tableau de Paris'. In: Poetica. München. Bd. 6, 1974, S. 285-322.

Weitere Literatur speziell zum Genre der Physiologien findet sich in den bibliographischen Angaben am Ende des Globalkommentars zu den Zeitgenossen.

Zitat- und Belegstellen #

Vorrede, in: Novellen: NoWWW, S. 3-11.

Die Sterbecassirer: NoWWW, Entstehungsgeschichte; Globalkommentar.

Rückblicke auf mein Leben: Rue, S. 157-158.

Die Zeitgenossen: ZgWWW, Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 3.b.; Entstehungsgeschichte; Globalkommentar: 6.1.3. Die Skizzenliteratur der 1830er Jahre; 6.1.3.2. Naturwissenschaftliche Paradigmen; 6.1.4. Enzyklopädie und Revue. [25, 57-58; 60-61; 64-65]  

(Martina Lauster, Exeter)