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Grabbe, Christian Dietrich#

Metadaten#

Autor
  1. Kurt Jauslin
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
07.2003

Text#

Grabbe, Christian Dietrich #

Cristian Dietrich Grabbe, geb. 11. Dezember 1801 (Detmold), gest. 12. September 1836 (Detmold); neben Georg Büchner bedeutendster und lebenslang erfolgloser deutscher Dramatiker der Epoche zwischen Romantik und Vormärz. Grabbe wurde als einer der Urväter der Moderne im frühen 20. Jahrhundert wieder entdeckt und von den Protagonisten sowohl des naturalistischen wie des expressionistischen und des absurden Theaters als Vorläufer reklamiert.

→ Bilder und Materialien: Bilder. Zeitgenossen Gutzkows.

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Allgemeines (Leben, Werk, Wirkung)#

Grabbes exzentrisches Leben ist zwar nach seinen Daten durch seinen Briefwechsel und Berichte seiner Zeitgenossen hinreichend belegt, was aber die Tatsachen dieses Lebens betrifft, herrscht weitgehende Unsicherheit. Zeitzeugnisse sind, wie Alfred Bergmann nachgewiesen hat, problematisch (Bergmann 1933). Das hat zu literarischen Mythisierungen geführt, die sowohl von Grabbe selbst wie von seinen Freunden und Bekannten tatkräftig gefördert wurden. Die Biographien von Eduard Duller (1838) und Karl Ziegler (1855) sind durch Parteinahme im Streit zwischen der Witwe und der Mutter Grabbes gefärbt, Duller auf Seiten der Witwe, Ziegler auf jener der Mutter. Eine ausführliche Schilderung von Grabbes Kindheit und Jugend, einschließlich einer kritischen Würdigung der dazu verfügbaren Quellen, gibt Roy C. Cowen in seiner Grabbe-Monographie (Cowen 1998). Das Bild des im finsteren Detmold vereinsamten Wunderkindes, das vor allem in den zahlreichen literarischen Bearbeitungen seines Lebens entworfen wurde, ist zu korrigieren. Grabbes überragende Begabung wurde von Eltern und Lehrern erkannt und von seinem Vater sowie durch die Regierung des Fürsten seit seinem 12. Lebensjahr gefördert, wie der Briefwechsel des Vaters mit Buchhändlern, mit der Regierung und der Fürstin Paulina selbst belegt (WuB, Bd. 5, S. 3-19).

Die Stationen seines kurzen Lebenslaufs sind bekannt. Beraten von dem Detmolder Archivrat Christian Gottlieb Clostermeier, dem Vater seiner späteren Frau, der ihn förderte und seine hervorragenden Schulleistungen bezeugt hat (Bergmann 1968, S. 14), begann Grabbe im Mai 1820 sein Jurastudium an der Universität Leipzig. Er blieb zwei Jahre in Leipzig, aber über den Verlauf seines Studiums ist nichts überliefert. Die erhaltenen Briefe aus dieser Zeit befassen sich im wesentlichen mit literarischen Plänen und finanziellen Schwierigkeiten. Wie schon in Detmold war er ein eifriger Theatergänger, auffallend durch exzentrisches Wesen und alkoholische Exzesse, ohne sich aber, wie Ziegler berichtet, an dem in Burschenschaften und Verbindungen organisierten Studentenleben zu beteiligen (Ziegler 1855, S. 27-28). 1822 wechselte Grabbe an die Universität Berlin, wo er am 29. April als Student eingeschrieben wurde. Der Wechsel nach Berlin wird meist mit der Attraktivität des dortigen literarischen Lebens begründet. Tatsächlich fand Grabbe in Berlin Anschluss an einen literarischen Zirkel, dem Heinrich Heine, Friedrich Wilhelm Gubitz, Ludwig Gustorf, Karl Köchy und Friedrich von Uechtritz angehörten. Auch für das Berliner Jahr ist viel über Grabbes antibürgerliche Lebensweise und seine alkoholischen Eskapaden überliefert (Bergmann 1968, S. 18-29), aber fast nichts über sein juristisches Studium. Der Schluss, dass Grabbe dieses Studium vernachlässigt habe (Ehrlich 1986, S. 27) ist aber wohl nicht zu halten. Die Zeugnisse seiner Leipziger und Berliner Professoren bestätigen ihm ein ordnungsgemäßes Studium (abgedruckt in WuB, Bd. 5, S. 100-103). Ohne entsprechende Kenntnisse hätte sich Grabbe nicht 1824 zur juristischen Staatsprüfung bei der fürstlichen Regierung in Detmold anmelden und diese auch bestehen können. Offenbar hat er frühzeitig eine strenge Zäsur zwischen seinem 'praktischen' und einem 'fiktiven' Leben gesetzt. Anders als Dichterkollegen der Romantik, wie Eichendorff und selbst Hoffmann, hat er das "Doppelleben" (Gottfried Benn) aber nicht durchgehalten. Die praktische Seite seines Lebens hat er in seiner Korrespondenz und selbstverständlich allem, was sein Werk betraf, vollständig ausgespart. Cowen spricht in diesem Zusammenhang von einer "fast geheimgehaltenen Hingabe an sein Studium" (Cowen 1998, S. 59).

Gleichwohl festigte das Berliner Jahr seine Überzeugung, nicht für die juristische Laufbahn, sondern für das Theater geboren zu sein. Schließlich hatte er bis zu seinem 21. Lebensjahr bereits ein ansehnliches dramatisches Werk vorzuweisen. Die verlorengegangene Tragödie "Theodora" war in seiner Schulzeit entstanden und wurde von dem sechzehnjährigen Autor am 28. Juli 1817 an den Verlag Göschen geschickt. "Herzog Theodor von Gothland" wurde in Leipzig vollendet, und bis zu seiner Rückkehr nach Detmold im August 1823 hatte er "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", "Nannette und Maria" und die Fragmente zu "Marius und Sulla" abgeschlossen. Obwohl davon nichts veröffentlicht war, hatte Grabbe in den Leipziger und Berliner Literatenkreisen eine gewisse Berühmtheit erlangt, nicht zuletzt durch seine Gewohnheit, in Kneipen-Gesellschaft aus seinen Werken vorzulesen. Der Erfolg dieser Lesungen, der allerdings vorzugsweise auf seiner hochgradig exaltierten Vortragsweise beruhte, dürfte zu dem Entschluss beigetragen haben, das Studium aufzugeben und Schauspieler zu werden. Anfang März 1823 verließ er Berlin und reiste auf der Suche nach einem Bühnen-Engagement zunächst nach Leipzig und Dresden. Ohne Erfolg kehrte er im Sommer wieder nach Leipzig zurück, schlug aber dort ein Angebot aus, sich wieder der 'praktischen' Lebensweise zuzuwenden: Der "Rath" Heinrich Blümmer wollte ihm eine Stellung besorgen, falls er sich examinieren ließe (Ziegler 1855, S. 57). Statt dessen fuhr er nach Braunschweig in der Hoffnung, von August Klingemann ein Engagement zu erhalten, der ihn aber ebenfalls abwies.

Nach Detmold zurückgekehrt, besann sich Grabbe nach einer Phase äußerster Niedergeschlagenheit doch wieder auf seinen praktischen Beruf und meldete sich am 14. Februar 1824 bei der Fürstlich Lippischen Regierung zur juristischen Staatsprüfung an. Am 27. März reichte er seine Proberelation ein, bestand am 2. Juni die mündliche Prüfung und wurde damit als Advokat in Detmold zugelassen (Dokumentation: WuB, Bd. 5, S. 106-108). In der Folgezeit bewarb sich Grabbe um verschiedene Stellen. Schließlich wurde er am 19. Oktober 1826 mit der Geschäftsführung des erkrankten Auditeurs Rotberg beauftragt (WuB, Bd. 5, S. 132) und am 16. Januar 1828 nach dem Tod Rotbergs zum Militär-Auditeur im Rang eines Seconde-Lieutenants ernannt (WuB, Bd. 5, S. 208).

Alle literarischen Pläne schienen zugunsten des bürgerlichen Berufs vergessen, bis Grabbe Ende April 1827 einen Brief seines Leipziger Freundes Georg Ferdinand Kettembeil erhielt, der die Hermannsche Buchhandlung in Frankfurt übernommen hatte und ihm die Veröffentlichung seiner Theaterstücke anbot. Grabbes enthusiastische Antwort vom 1. Mai (WuB, Bd. 5, S. 146-153) markiert den Beginn einer neuen, zweiten Phase poetischer Produktion: 1827 erschienen bei Kettembeil die "Dramatischen Dichtungen", 1828 "Don Juan und Faust", 1829/30 "Die Hohenstaufen" und 1831 "Napoleon oder die hundert Tage".

Inzwischen freilich wurde Grabbes bürgerliche Existenz immer unhaltbarer. Mit andern Worten: Die Balance zwischen dem praktischen und dem fiktiven Leben wurde zusehends prekärer, zumal auch der Versuch einer bürgerlichen Ehe auf spektakuläre Weise fehlschlug. Seit 1828 hatte Grabbe die Tochter seines alten Förderers Clostermeyer, Louise Christiane, vergeblich umworben, verlobte sich 1831 mit der Bürgertochter Henriette Meyer, löste die Verlobung wieder und heiratete schließlich doch am 6. März 1833 die dreizehn Jahre ältere Louise Christiane Clostermeyer, ein Missverständnis von beiden Seiten.

Grabbes bürgerliche Existenz als Auditeur scheiterte aber nicht an dem Dauerkonflikt mit seiner Ehefrau, sondern daran, dass es ihm immer weniger gelang, Amt und Autorschaft zu vereinbaren, kurz: Das fiktive Dasein gewann die Oberhand über das praktische, und das Projekt des Doppellebens war gescheitert. Durch den fortdauernden Alkoholabusus war seine Gesundheit angegriffen, und das blieb nicht ohne negative Folgen für die Führung seiner Amtsgeschäfte. Am 12. März 1834 bewilligte ihm der Fürst, auf seinen Antrag hin, eine sechsmonatige Beurlaubung unter Beibehaltung seiner Bezüge mit der Maßgabe, seinem Vertreter Pustkuchen die Amtsgeschäfte in geordneter Form zu übergeben (WuB, Bd. 6, S. 71), ein Prozess, der sich als langwierig und schwierig erwies, weil immer neue Unregelmäßigkeiten auftauchten. Bis zu seinem Gesuch vom 7. September 1834 um vorläufige Entlassung aus dem Dienst, das er mit der Arbeit am "Hannibal" und einer dringenden Reise nach Frankfurt begründete (WuB, Bd. 6, S. 83-84), sind neben dem Schriftwechsel mit der Regierung und militärischen Dienststellen keine persönlichen Briefe überliefert. Bereits mit Schreiben vom 10. September erfuhr er von der Regierung, dass man sein Gesuch dahingehend verstanden habe, sein Amt niederzulegen. Die Entlassung wurde bewilligt, ebenso der Bezug seiner Gage bis zum Jahresende und die Beibehaltung seines Titels als Auditeur. Zusagen für eine Wiederanstellung gab es nicht (WuB, Bd. 6, S. 85).

Der Aufenthalt in Frankfurt von Mitte Oktober bis Ende November 1834 verlief chaotisch und brachte, bis auf die Bekanntschaft mit Eduard Duller, keine neuen Verbindungen. Die Arbeit an "Hannibal" war "fast vollendet", wie er Karl Immermann in seinem Hilferuf vom 18. November mitteilte (WuB, Bd. 6, S. 99-100). Grabbe zog auf Einladung Immermanns nach Düsseldorf, wo er von Dezember 1834 bis Mai 1836 blieb, eine neue Prosafassung des "Hannibal" zu Ende schrieb und an der "Hermannsschlacht" arbeitete. Die zweiten Fassungen von "Aschenbrödel" und "Hannibal" erschienen 1835 bei Schreiner, dessen Bekanntschaft ihm Immermann vermittelt hatte. In Immermanns Auftrag verfasste er Kritiken über dessen Düsseldorfer Reformtheater für die Sammlung "Das Theater zu Düsseldorf", veröffentlichte aber, zu Immermanns Verdruss, dazu auch eigenständige Theaterkritiken. Wenn man bedenkt, dass zugleich sein Gesundheitszustand sich dramatisch verschlechterte, sein Alkoholismus außer Kontrolle geriet und sein soziales Verhalten immer unzuträglicher wurde, ist diese Arbeitsleistung erstaunlich, zumal auch der Briefwechsel außerordentlichen Umfang annahm (WuB, Bd. 6, S. 103-339).

Schließlich aber wurde auch das Verhältnis zu Immermann zunehmend angespannt, und der Aufenthalt in Düsseldorf war nicht länger fortzusetzen, da sich alle Versuche, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Einnahmen zu fristen, zerschlagen hatten. Die Rückkehr nach Detmold im Mai 1836 gestaltete sich schwierig, weil er die Reise krankheitshalber unterbrechen musste. Nach der Ankunft in Detmold eskalierte der Streit mit seiner Frau zum öffentlichen Skandal. Grabbe führte sein gewohntes Leben fort, so gut oder schlecht es in seinem Zustand eben ging, aber auch eine radikale Änderung seiner Gewohnheiten würde sein Leben kaum noch verlängert haben. Trotzdem gelang es ihm, die "Hermannsschlacht" zu beenden. Am 12. September 1836 starb er im Haus seiner Frau.

Grabbes dramatisches Gesamtwerk, im wesentlichen in der Epoche der Restauration entstanden, stellt gleichwohl die konsequenteste Attacke gegen die klassisch-romantische Tradition dar. Die Tragödie "Herzog Theodor von Gothland", die noch in der Detmolder Schulzeit begonnen und 1820/21 in Leipzig abgeschlossen wurde, nennt Roy C. Cowen "den wohl heftigsten Angriff auf den 'guten Geschmack' der Zeit" (Cowen 1998, S. 47). Der literarische Auftritt Grabbes ist nur vergleichbar mit der Revolte gegen die literarische Tradition in Schillers "Räubern" und Goethes "Götz", und wie für jene wird auch für ihn Shakespeare die Referenzinstanz für einen Neuanfang. Mit dem Unterschied allerdings, dass ihm die unmittelbare Wirkung versagt blieb. Anders als die Autoren des "Sturm und Drang", für die Shakespeare die Wiederentdeckung der 'natürlichen' Quellen der Poesie gegen die formale Erstarrung des Rokoko bedeutete, entdeckte Grabbe in dessen Werk die emblematische und rhetorische Tradition der Barockliteratur neu. Grabbes Geschichtsdramen - und auch "Gothland" ist doch eine, wenn auch erfundene, Historie - verweigern den geschichtlichen Abläufen jegliche Sinngebung, eine Aufgabe, die das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung wie des historischen Dramas oder Romans bestimmte, im Sinne der klassischen Tradition ebenso wie der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Der Versuch der historischen Helden, diese Ideenlosigkeit des kontingenten Geschehens durch die Heroisierung der eigenen Rolle aufzuheben, endet in den historisch überlieferten Orgien von Blut und Gewalt, die am Ende zu nichts führen. Die historischen Helden werden zu emblematischen Gewandfiguren, die den historischen Ablauf in ein tödliches heraldisches Maskenspiel verwandeln, das schließlich als Groteske entlarvt wird (vgl. dazu: Jauslin 1990).

Mit den Vorstellungen der jungdeutschen Autoren waren diese Dramen ebenso inkommensurabel wie mit der an klassischen Modellen orientierten Dramatik Grillparzers oder Hebbels Konzeption des Tragischen und dem Programm des bürgerlichen Realismus. Aus seinem eigenen Werk heraus rezipiert wurde Grabbe erst durch die Expressionisten und durch das so genannte "absurde Theater", und dort vor allem über Alfred Jarry, der "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" 1898 ins Französische übersetzte und Grabbe zum Ahnherrn der "Pataphysik" machte (vgl. Jauslin 2001, S. 183-191). Im wesentlichen aber erfolgte die Wiederentdeckung Grabbes auf dem Theater, und dies erst im 20. Jahrhundert. Zu seinen Lebzeiten hat Grabbe nur eine einzige Aufführung erlebt: die von "Don Juan und Faust", die 1828 am Detmolder Theater unter der Direktion Pichlers mit Lortzing in der Rolle des Don Juan gegeben wurde. Ein Unikum stellt die Aufführung von "Don Juan und Faust" vom 27. Januar 1838 am Theater an der Wien mit Nestroy in der Rolle des Leporello dar, die in der Tradition der Wiener Maschinenkomödie durch exzessiven Einsatz der barocken Theatermaschinerie, einschließlich des Feuerregens, geprägt war. Nach den Versuchen des späten 19. Jahrhunderts im historisierenden Stil des Meininger Reformtheaters entwickelte Leopold Jessner mit der Inszenierung des "Napoleon" (1922) und des "Hannibal" (1925) in Berlin einen Grabbes Dramen entsprechenden, am expressionistischen Theater orientierten Aufführungsstil (im Detail beschrieben bei Porrmann 1982, S. 138-174). In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts knüpften neue Inszenierungen an Jessners groß angelegte Versuche wieder an.

Zu den merkwürdigsten Episoden der Theatergeschichte gehört schließlich der von dem Reichsdramaturgen Rainer Schlösser angestoßene Versuch, Grabbe für die Ideologie des Nationalsozialismus zu vereinnahmen. Zwischen 1936 und 1944 entstanden an mehreren Theatern aufwändige Inszenierungen, die jeweils mit "Grabbe-Wochen" oder "Grabbe-Tagen" und dem gehörigen propagandistischen Aufwand verbunden waren (vgl. Porrmann 1982, S. 185-287). Ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte der Germanistik ist der Beitrag, den die "Deutsche Literaturwissenschaft" dazu leistete, nicht zuletzt, weil daran Autoren beteiligt waren, die auch nach 1945 wieder zur Crème der Zunft gezählt wurden. (Einen Überblick über diese Phase der Grabbe-Literatur enthält: Jauslin 1968, S. 17-25. Vgl. auch Porrmann 1982, S. 185).

Gutzkow und Grabbe#

Gutzkows Verhältnis zu Grabbe war geprägt durch ein merkwürdiges Gemisch aus Abscheu und Faszination, beides bezogen sowohl auf die Person wie das Werk. Noch in den 1875 erschienenen "Rückblicken auf mein Leben" wird dieser Zwiespalt erkennbar. Das "titanische Schauspiel", den "ringsumsprühenden, die Esse erleuchtenden Funken", den der "poetische junge Genius" in den dramatischen Erstlingswerken Schillers und Goethes "sprüht", vermisst er bei den Nachfolgern Kleist, Immermann und Grabbe durchaus. Kleist habe seinen Stoffen nur die "Zuspitzung zum Epigramm" abgewinnen können. Immermann fehlte es an Genialität, "weil er kalt und ironisch von Hause aus war". Grabbe verfehlte das Ziel, "weil er der Welt aus dem Urgrund seines Innern nichts besonders Edles, Tiefes oder Hochgemuthes zu sagen wußte. Grabbe hat nur die Grimasse der Genialität zu zeigen verstanden" (RueWWW, S. 34-35). Das selbst für Gutzkows Gewohnheiten übermäßig harsche, zudem nur in verschwommenen Begriffen belegte Urteil wird einige Seiten weiter näher erläutert, zugleich aber auch relativiert. Dort heißt es: "Von Grabbe kaufte ich schon als Primaner jedes neuerschienene Werk", freilich fügt er hinzu, "ohne davon die volle Befriedigung zu haben". Der Verdacht ist wohl begründet, dass der späte Gutzkow mit der nachgetragenen Erklärung die Faszination des Primaners aus seiner Biographie ausmerzen wollte, denn die mangelhafte Befriedigung des jungen Lesers wird ausführlich mit der Lektüre des "Napoleon" begründet: "Im 'Napoleon' empörte mich der französische Standpunkt. Vergötterung diesem Tyrannen! Gleichstellung mit Männern wie Cromwell, Karl dem Großen, Hannibal! Monologe mit ständiger Armverschränkung wie Wallenstein! Eine Titanenmaske -!" (RueWWW, S. 52). Was hier beschrieben wird, ist offensichtlich eine viel spätere Leseerfahrung. "Napoleon oder die hundert Tage" ist erst 1831 erschienen, und der Primaner kann es unmöglich gekannt haben. Mit Sicherheit zugänglich waren ihm nur die "Dramatischen Dichtungen" von 1827 und die Tragödie "Don Juan und Faust" von 1828, vielleicht noch der "Barbarossa" von 1829.

An der darauf folgenden Beschreibung des "Napoleon" fällt auf, dass Gutzkow Grabbes Drama offensichtlich absichtsvoll missversteht, um nicht zu sagen verfälscht. Gegen Grabbes angebliche Heroisierung wendet er sich mit dem Satz: "Ich hielt Napoleon und halte ihn noch für das Produkt der Umstände." Eben diese historische Einsicht hat Grabbe in einer lockeren Folge von Szenen aus dem Volk präzisiert, bevor der Kaiser überhaupt die Bühne betritt. Grabbes Drama betreibt die Entheroisierung des historischen Helden: Nicht der napoleonische Mythos überlebt am Ende, sondern die Revolution, und Napoleon ist ihm, wie Grabbe 1830 an Kettembeil schreibt, "nur das Fähnlein an ihrem Maste". Der Heros selbst aber wird zur Bestie: Napoleons Größe ist die "der Riesenschlange, wenn sie die Tiger packt". (WuB, Bd. 5, S. 306; vgl. dazu Jauslin 2001, S. 166-167)

Wesentlich differenzierter als in den späten Rückblicken äußert sich Gutzkow über Grabbes Werk in seiner Kritik "Zwei neue Dramen von Grabbe", die 1835 in "Phönix" erschien, und er erinnert sich dabei an ältere, durchaus positive Grabbe-Lektüren: "Im 'Hannibal'", heißt es dort, "sehen wir den alten Grabbe wieder. Die Situationen sind malerisch schön, die Charakteristik ist rapid und bis auf's Äußerste pointirt, der Dialog ist ein Muster von Kürze und schlagender Gedrängtheit. Hier stürmt die Sprache und Phantasie die Alpen, und erfriert oben, (wie dies Grabben immer charakterisirt hat) zu einer eisigen Krystallisation" (Schriften zur Literatur und zum Theater: Literaturkritik, Rezensionen und literaturkritische Essays). Im zweiten Teil der Kritik allerdings unterscheidet Gutzkow auf merkwürdige Weise zwischen der Wirkung des Dichters und jener seines Werkes: "Woher kömmt es nur, daß Grabbe's Dramen in Rücksicht auf seine Persönlichkeit uns so wohlthun, objektiv aber niemals die Billigung des Kunstrichters erhalten haben?" Die Antwort lautet dahin, daß sie ihr "Verdienst als bloße Skizze" hätten. Was fehlt, sei "das Fleisch, die schöne Bekleidung der Haut, die blühende Farbe der Natur, des Lebens und der Wahrheit". Und so sei auch "Hannibal" "nichts, als eine Veranschaulichmachung und Dramatisirung der Historie" (Rezensionen und literaturkritische Essays). Der Widerspruch ist offenkundig: Gutzkow rühmt die antiklassischen Steigerungen der sprachlichen Form, kritisiert aber zugleich, dass Grabbe das klassische Form-Inhalt-Kontinuum zerstört habe.

Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass Gutzkow den positiven Aspekt auf die Persönlichkeit des Dichters gründet. Grabbe und Gutzkow sind sich nie begegnet, aber 1835 war das Jahr der größten Annäherung. 1834 hatte sich Grabbe in Frankfurt mit Eduard Duller angefreundet und ihm für den geplanten "Phönix" die Szene "Vor Rom" aus der ersten Fassung des "Hannibal" überlassen (Duller 1838, S. 61). Sie erschien in der 3. Ausgabe des "Phönix" vom 16. Januar 1835. Gutzkow, der das Literaturblatt des "Phönix" redigierte, war auf der Suche nach Mitarbeitern und berichtet, dass er von Grabbe Briefe erhalten habe, die er als "Zeugnisse seines wirren Geistes" und "ihrer übertriebenen verrückten Persönlichkeiten wegen nicht abdrucken" könne. ("Götter, Helden, Don Quixote", S. 55). Die Zurückhaltung ist zu bedauern, denn in Grabbes Briefwechsel hat sich davon nichts erhalten. Gutzkows Versuch, Grabbe vor dessen Abreise aus Frankfurt Anfang Januar 1835 zu treffen, schlug fehl. In einem Brief an Gustav Schlesier schreibt er am 16. Januar 1835: "Grabbe war hier - wahnsinnig u betrunken: ganz ruiniert. Er irrt wie ein Vagabond umher: ich beklage, ihn nicht mehr getroffen zu haben. Vielleicht ist er zu retten." (Bergmann 1968, S. 134). Die Formulierung weist auf eine tiefere Ergriffenheit vom persönlichen Schicksal Grabbes hin: Gutzkow reiht sich in die lange Liste der allesamt erfolglosen Retter ein, von Tieck über Duller bis zu Immermann und Grabbes Jugendfreunden Moritz Petri und Karl Ziegler.

Wie immer die verlorene Korrespondenz verlaufen sein mag, zu einer weiteren Veröffentlichung Grabbes im "Phönix" kam es nicht mehr. In einem Brief an Wolfgang Menzel vom 25. November 1835 teilt Grabbe mit: "Ich will das Zeugs von Bettina dem Gutzkow überlassen" (WuB, Bd. 6, S. 294), offenbar, weil er ihm einen Beitrag versprochen hatte, allerdings für die in Zusammenarbeit mit Wienbarg geplante "Deutsche Revue", die nicht verwirklicht wurde. Grabbe entschuldigt sich dafür in einem Brief an seinen Düsseldorfer Verleger Schreiner vom 31. Oktober 1835, mit Rücksicht auf die zwischen den beiden genannten Herausgebern und Wolfgang Menzel ausgebrochene Literaturfehde: "Wienbarg und Gutzkow haben, wie mir Runkel schreibt, bereits meine versprochene Theilnahme an ihrem künftigen Journal in der allg. Zeitung gemeldet. Was soll ich machen? Runkel verwundert sich, aber ich kenne nicht die literarischen Cotterieen, und gab mein Wort." (WuB, Bd. 6, S. 289) Es handelt sich um die Kritik von "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde". Wie Theodor Creizenach, allerdings erst 1856 in einem Aufsatz über "Grabbe in Frankfurt", berichtet, überließ er die Kritik dann dem "Phönix"; sie sei aber von der Redaktion nicht angenommen worden, weil sie, so Creizenach, "in ihren Ausdrücken zu derb" war und die "stärksten Ausfälle gegen den Fürsten Pückler wie gegen Bettina selbst" enthielt (Bergmann 1968, S. 116).

Die wenigen Briefstellen, in denen sich Grabbe über Gutzkow äußert, lassen auf eine distanzierte Haltung schließen. In einem undatierten Brief an Schreiner vom Juli 1835 kommentiert er mehrere Ausgaben des "Phönix" eher unvergnügt aus der Perspektive des unbeteiligten Zuschauers, so Gutzkows Rezension zu Dullers Roman "Kronen und Ketten" in der Nr. 120 vom 21. Mai 1835. "Gutzkow [...] will den Kollegen loben, versteht's aber nicht. Erst Lob, dann Tadel, dann 'nen Katzenschwanz. Zu dumm." (WuB, Bd. 6, S. 269, dazu Bergmanns Kommentar, S. 646-647). Die Beschreibung erinnert fatal an Gutzkows widersprüchliche Rezensionen über Grabbe selbst. Zu der Besprechung von Gutzkows "Vorrede zu Schleiermachers vertrauten Briefen über die Lucinde", die Duller in der Nr. 123-124 vom 25. und 26. Mai 1835 veröffentlichte, merkt er an: "Da entschuldigen Duller u. G. ihr wechselseitiges Lobhudeln" (vgl. Bergmanns Kommentar, WuB, Bd. 6, S. 649). Duller hat in seiner biographischen Skizze behauptet, Gutzkows "Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur" seien "das letzte größere Werk" gewesen, "das er [Grabbe] auf dem Sterbebette gelesen. Es interessierte ihn sehr und er freute sich, als er sah, daß auch seiner und seines Freundes Ferdinand Freiligrath darin Erwähnung geschehen sei" (Duller 1838, S. 85). An der Authentizität dieser Darstellung darf man mit Fug zweifeln. Tatsächlich gelesen hat Grabbe, nach eigenen Angaben, Gutzkows "Vertheidigung gegen Menzel und Berichtigung einiger Urtheile im Publikum", die im Oktober 1835 erschienen war (Rasch 2.8). Er schreibt darüber an Moritz Petri im Juli 1836: "Den Gutzkow anbei zurück. Es ist diese Broschüre aus Haß gegen Menzel entstanden, und das wirblichste, dummste Zeug, was ich je las. [...] Mein Urtheil ist so unparteiischer als Gutzkow im Phönix sich brillant über mich erklärt hat." (WuB, Bd. 6, S. 348). Gelesen hatte Grabbe demnach die Rezension "Zwei neue Dramen Grabbes" aus dem "Phönix", die Gutzkow 1836 in die "Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur" übernommen hat, wobei er zumindest in seinen Briefen an Gutzkows widersprüchlichem Urteil über den "Hannibal" keinen Anstoß nahm; den Verriss seines "Aschenbrödel" in derselben Rezension hat er wohl akzeptiert, da er, im Unterschied zu Gutzkow, für Kritik durchaus zugänglich war.

In dem ausufernden Literaturstreit um Gutzkows "Wally, die Zweiflerin", den Wolfgang Menzel mit seiner Kritik im "Literatur-Blatt" vom 11. und 14. September 1835 losgetreten hatte, schlug er sich in brieflichen Äußerungen auf die Seite Menzels, ohne öffentlich Stellung zu nehmen. Mit Menzel, dessen "Literatur-Blatt" ihn mehrfach wohlwollend rezensiert hatte, verstand er sich recht gut, während ihm das "Junge Deutschland" grundsätzlich suspekt blieb. Von Moritz Leopold Petri erhielt er zum "Wally"-Streit die eben erschienene Schrift "Des Großherzogl. Badischen Hofgerichts Mannheim vollständig motiviertes Urtheil über die in dem Roman: Wally, die Zweiflerin, angeklagten Preßvergehen nebst zwei rechtfertigenden Beilagen und dem Epilog des Herausgebers" von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus. Dazu schreibt er nach der Lektüre am 21. Juni an Petri: "Gutzkow und das junge Deutschland sind in Verachtung gerathen, werden sich auch nicht herausretten, weil sie kein Talent haben. Sie wollten mich auch fangen. Ich hütete mich, doch diese Wally ist ganz ohne Bedeutung, und wird nur durch diese Broschüre einige erhalten, woran vielleicht Geldspekulanten, Professoren darunter, arbeiten. Gutzkow sitzt sicherlich selbst dazwischen." (WuB, Bd. 6, S. 340-341) Grabbe war Gutzkows hektische Betriebsamkeit ebenso zuwider, wie diesem Grabbes plan- und zielloses Leben und notorische Unzuverlässigkeit - das ganze Geniewesen - ein Greuel war.

Gutzkow hat sein Schlusswort über Grabbe in der Sammlung "Götter, Helden, Don-Quixote", die 1838 bei Hoffmann & Campe in Hamburg erschien, vermutlich für eine moderate Würdigung des verstorbenen Kollegen gehalten. Und er hebt darin nach der Machart eines Epitaphs an: "Deutschland gewöhnte sich nur mit Schmerz an diesen Verlust und rief dem Abgeschiedenen die empfundenste Theilnahme nach." Schon im nächsten Satz aber verwandelt sich der hohe Ton des Nachrufs in den Misston der üblen Nachrede: "Dasjenige, was noch weit schmerzlicher ist, als der Verlust des Mannes, ist dieß, daß mit ihm nichts verloren ging." (S. 53) In diesem Ton fährt er fort, beklagt das Schicksal des "unglücklichen Mannes", der sich durch die "Unfähigkeit, seinen Dichtergeist mit dem bürgerlichen Leben auszugleichen", nicht nur um die bürgerliche Existenz, sondern auch "um die produktive Fähigkeit gebracht hatte". (S. 54) Folgerichtig lässt er an den poetischen Werken des "unglücklichen Mannes" kein gutes Haar, selbst "Hannibal" wird "einige Gedanken [...] abgerechnet" ohne weiteres disqualifiziert, "Aschenbrödel" als eine "beklagenswerthe Hudelei" identifiziert, und "wehmüthig ist es zu sagen", dass er seine literarische Arbeitskraft "für eine geringe tägliche Unterstützung" anzubieten genötigt war (S. 54). Dass er angeblich seinen "Napoleon" Gutzkow gegenüber für "verfehlt" erklärt habe, rechnet ihm dieser wenigstens hoch an, aber in der "Hermannsschlacht", der "Poesie seines Herzens", vermutet Gutzkow einen Stoff, "den er gewiß in handausreckender, keulenmäßiger Weise zu bewältigen suchte." Schließlich wirft Gutzkow, der gewiss keinem Streit aus dem Weg ging, dem "unglückliche[n] Dichter" seine "Ausfälle gegen Autoren, die en vogue waren" vor und bezichtigt ihn der "Polemik" (S. 55-56). Zwar habe er in der "Restaurationsepoche die Erinnerung an Shakespeare und Göthe wach erhalten", indem er "sein Herzblut spritzen ließ", was aber dabei herauskam, sei "doch wieder mehr Lymphe als Blut" gewesen (S. 57). Merkwürdigerweise ist dieser durchaus heimtückische Aufsatz häufig als positive Würdigung verstanden worden, aus dem einfachen Grund, weil Gutzkow Grabbe zusammen mit Shelley und Büchner unter die Götter versetzt habe, worauf auch Theodor von Kobbe (Bergmann 1968, S. 154) hinwies. Gutzkow, der Kobbes Erinnerungen an "Elberfeld und Düsseldorf" im November 1841 im "Telegraph für Deutschland", Nr. 181-185 abdruckte, stellt mit einer Anmerkung klar, warum er Grabbe unter die "Götter" versetzt hatte, nämlich: "Als einen Gestorbenen im Gegensatz zu den noch lebenden Helden und Don Quixotes" (Zitat nach Bergmann 1968, S. 364).

In einem ebenfalls 1838 im "Telegraph für Deutschland" erschienenen Artikel vermeidet Gutzkow doppeldeutige Äußerungen und lässt seiner Abneigung freien Lauf. Die von Duller zusammen mit der "Hermannsschlacht" veröffentlichte Biographie Grabbes (Duller 1838) hatte in Detmold zum Skandal geführt, weil Duller Grabbes Mutter als verkommene Säuferin dargestellt hatte, die ihren Sohn schon als Säugling mit Schnaps beruhigt, während ihn seine Ehefrau hingebungsvoll gepflegt habe. Duller verschwieg, was in Detmold stadtbekannt war, dass Grabbe gezwungen war, zwei Monate im Gasthaus zu logieren und sein Haus schließlich nur gewaltsam in polizeilicher Begleitung betreten konnte. Zu den zahlreichen Artikeln, die gegen Duller veröffentlicht wurden, gehört auch ein Beitrag im "Lippe'schen Magazin", den Gutzkow ausführlich zitiert. Interessiert hat ihn aber nicht der literarische Skandal um die falsche Darstellung Dullers, sondern die dort enthaltene Kritik an Grabbes Person, die er durch den Hinweis ergänzte, daß "Grabbe mißtrauisch im höchsten Grade und bis in's Kindische feig war". Das Werk betreffend fährt er fort: "Alle seine Dichtungen tragen auch diesen verzerrten, unausstehlichen, katzenjämmerlichen Charakter; nie die sanfte Ahnung eines Höheren, nie ein Blick in die Tiefe des menschlichen Herzens, immer nur unschöne Tollheiten, höchstens die Genialität jener Menschen, die sich dem Säuferwahnsinn nähern." (Kleine Chronik, TfD, Nr. 156, [28.] September 1838, S. 1248 [Rasch 3.38.09.28]).

Solche Äußerungen über Grabbes Charakter blieben nicht unwidersprochen, besonders von Seiten jener, die ihn näher gekannt hatten, so von Karl Ziegler, der mit der Materialsammlung zu seiner Biographie begonnen hatte (Bergmann 1968, S. 304-305). Sie waren auch Gegenstand einer Auseinandersetzung mit Immermann, der Gutzkow im November 1838 in Hamburg besucht hatte. Immermann, der selbst Angriffen von Parteinehmern Grabbes ausgesetzt war, weil er ihn in Düsseldorf ausgenutzt haben sollte, verteidigte sich mit guten Gründen, so dass Gutzkow darüber in seinem Artikel "K. Immermann in Hamburg" im "Telegraph für Deutschland" berichtet: "Ich kann heilig bestätigen, daß Immermann mit wärmster Theilnahme von dem unglücklichen Manne sprach." Was Immermann "nicht gelten lassen" wollte, waren Gutzkows Anschuldigungen über "die radikale Herzlosigkeit, die sich in Grabbe's genialisirenden Produkten, meiner Meinung nach, unverkennbar ausspricht, die feigste Hinterlist und die Tücke eines eitlen Herzens, die Grabbe's Detmolder Bekannten nicht läugnen können" (TfD, Nr. 154, [25.] September 1840, S. 613). Immermann referiert die Diskussion eher moderat: "Dies konnte ich nicht ganz zugeben, indem ich aus meiner eigenen Geschichte mit ihm anführte, Grabbe's Zuneigung sogar im höchsten Grade eine Zeit lang besessen zu haben." Die Atmosphäre des Gesprächs mit Gutzkow schildert er distanziert und nicht ohne Ironie: "Seine Äußerungen waren glasscharf und schneidend, wenn man will, ohne Liebe und Gemüth, zeugten aber von Wahrhaftigkeit, Verstand und Penetration. [...] Ich durfte mir in dem Gespräch mit ihm nichts vergeben. So that auch er. Unsere ganze Unterredung hatte die vornehme Haltung einer Tractatschließung kriegführender Mächte, bei welcher aber Aufrichtigkeit von beiden Seiten obzuwalten schien." (Bergmann 1968, S. 303)

Das aber ist eine Obsession, die ihren Grund nicht in der Person des Angegriffenen, sondern in jener des Aggressors hat, eine Vermutung, die auch dadurch belegt ist, dass Gutzkow im Grunde Grabbe völlig gleichgültig war. Grabbes Äußerungen über ihn zeugen von einer, wenn man will, leidenschaftslosen Missachtung, die in keinem Verhältnis zu den Hassausbrüchen des Kontrahenten steht. Die Beschreibungen, die Gutzkow zu Grabbes Charakter abgibt, die Kritik an dessen Unfähigkeit zu einem moderaten Umgang mit seinesgleichen, zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen, trifft durchaus auf Wesenszüge zu, die ihm selbst eigen waren. Er entwirft in dem Gescholtenen so zu sagen ein Negativbild der eigenen Person, und darin der Gefährdungen, denen die mühsam errungene und hoch geschätzte bürgerliche Existenz, die Fähigkeit, "seinen Dichtergeist mit dem bürgerlichen Leben auszugleichen", die er Grabbe abspricht, ausgesetzt war. Die "Rückblicke auf mein Leben" deuten an, dass ihm die unbürgerliche Lösung des Problems nicht von vorn herein fremd war. "Ich war ein halber Schauspieler", heißt es dort, und die Alternative, ein ganzer zu werden, wurde ernsthaft in Betracht gezogen: "Die wilden Drohungen Shylocks, die Renommagen Percys, die Bravaden Faulconbridge’s brachte ich in einer Weise zu Gehör, die mir in solchem Grade mustergültig erschien, daß ich zuweilen über die Möglichkeit angefangen hatte nachzudenken, ob ich nicht Schauspieler werden sollte." (RueWWW, S. 52).

Grabbe laborierte an derselben Überzeugung und versuchte vergeblich, sie zu verwirklichen. Die Paraderollen, die Gutzkow für sich reklamiert, weisen allesamt darauf hin, dass beide an einer Fehleinschätzung ihrer Fähigkeiten zum Beruf des Schauspielers litten. So entschloss sich Gutzkow, sein schriftstellerisches Talent zum bürgerlichen Beruf zu entwickeln. Grabbe versuchte dagegen einen bürgerlichen Beruf neben der Poesie zu führen und scheiterte nicht daran, dass so etwas grundsätzlich nicht möglich wäre, sondern an der von Kleist formulierten Last des Genies, dass ihm "auf Erden nicht zu helfen" war.

Bibliographie#

Alfred Bergmann: Grabbe-Bibliographie. Amsterdam: Rodopi, 1973. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Bd. 3)

Werke / Ausgaben#

Dramatische Dichtungen von Grabbe. Nebst einer Abhandlung über die Shakspearo-Manie. 2 Bde. Frankfurt/M.: Joh. Christ. Hermannsche Buchhandlung, G. F. Kettembeil, 1827. [Enthält in Bd. 1: Herzog Theodor von Gothland. In Bd. 2: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Nanette und Maria. Marius und Sulla].

Don Juan und Faust. Eine Tragödie von Grabbe. Frankfurt/M.: Joh. Christ. Hermannsche Buchhandlung, G. F. Kettembeil, 1828.

Die Hohenstaufen. Ein Cyclus von Tragödien von Grabbe. 2 Bde. Frankfurt/M.: Joh. Christ. Hermannsche Buchhandlung, G. F. Kettembeil, 1829. [Enthält in Bd. 1: Kaiser Friedrich Barbarossa. In Bd. 2: Kaiser Heinrich VI.].

Napoleon oder die hundert Tage. Ein Drama in 5 Aufzügen von Grabbe. Frankfurt/M.: Joh. Christ. Hermannsche Buchhandlung, G. F. Kettembeil, 1831.

Aschenbrödel. Dramatisches Mährchen von Grabbe. Düsseldorf: Schreiner, 1835.

Hannibal. Tragödie von Grabbe. Düsseldorf: Schreiner, 1835.

Das Theater zu Düsseldorf mit Rückblicken auf die übrige deutsche Schaubühne. Düsseldorf: Schreiner, 1835.

Die Hermannschlacht. Drama von Grabbe. Grabbe's Leben von Eduard Duller. Düsseldorf: Schreiner, 1838 [posthum].

Der Cid. Große Oper in zwei bis fünf Akten. Musik von Burgmüller. Text von Grabbe. In: Moderne Reliquien. Hg. von Arthur Mueller. Bd. 1. Berlin: Gumprecht, 1845.

Sämmtliche Werke. Erste Gesammtausgabe. 2 Bde. Hg. und eingeleitet von Rudolf Gottschall. Leipzig: Reclam, 1870.

Christ. Dietr. Grabbe’s sämmtliche Werke u. handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammtausgabe. Hg. und erläutert von Oskar Blumenthal. Detmold: Meyer, 1874.

Christian Dietrich Grabbes sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. u. mit Einleitungen u. Anmerkungen versehen von Otto Nieten. 6 Bde. Leipzig: Hesse, 1908.

Grabbes Werke in sechs Teilen. Hg. mit Einleitungen und Anmerkungen von Spiridion Wukadinovic. Berlin: Bong, 1912.

Dramatische Dichtungen. Hg. von Hermann Stresau. Berlin: Rabenpresse, 1944. [Wichtig wegen des 130 Seiten umfassenden Nachwortes des Herausgebers].

Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, bearb. von Alfred Bergmann. Emsdetten: Lechte, 1960-1973. (Zitiert als WuB)

Briefe#

Briefe [von und an Grabbe]: WuB, Bd. 5 und Bd. 6.

Biographien#

Jörg Aufenanger: Das Lachen der Verzweiflung. Grabbe. Ein Leben. Frankfurt/M: Fischer, 2001.

Alfred Bergmann: Grabbe. Begegnungen mit Zeitgenossen. Weimar: Böhlau, 1930.

Alfred Bergmann: Die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse für den Lebensgang und den Charakter Grabbes. Berlin: Ebering, 1933. (Germanische Studien, Bd. 137)

Alfred Bergmann: Christian Dietrich Grabbe. Chronik seines Lebens 1801-1836. Detmold: [Tölle], 1954.

Alfred Bergmann (Hg.): Grabbe in Berichten seiner Zeitgenossen. Stuttgart: Metzler, 1968.

Eduard Duller: Grabbes Leben. In: Die Hermannschlacht. Drama von Grabbe. Hg. Von Eduard Duller. Düsseldorf: Schreiner, 1838. S. 5-87. Faksimiledruck, Detmold: Grabbe-Gesellschaft, 1978.

Karl Ziegler: Grabbes Leben und Charakter. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1855. Faksimiledruck, Detmold: Grabbe-Gesellschaft, 1990.

Nachlass#

Grabbe-Archiv Alfred Bergmann. Lippische Landesbibliothek, Detmold.

Forschungsliteratur (Auswahl)#

Werner Broer, Detlev Kopp (Hgg.): Christian Dietrich Grabbe. Ein Symposion. Tübingen: Niemeyer, 1987.

Roy C. Cowen: Christian Dietrich Grabbe - Dramatiker ungelöster Widersprüche. Bielefeld: Aisthesis, 1998.

Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe. Leben und Werk. Leipzig: Reclam, 1986.

Walter Höllerer: Grabbe. In: Ders.: Zwischen Klassik und Moderne. Stuttgart: Klett, 1958. S. 17-57.

Kurt Jauslin: Verhüllen und Enträtseln. Studien zur Struktur der poetologischen Begriffe Christian Dietrich Grabbes und ihrer Bedeutung im Begriffsfeld des Geschichtsdramas. Diss. Erlangen 1968.

Kurt Jauslin: Nackt in der Kälte des Raumes. Emblem und Emblematik in Grabbes historischer Maschine. In: "Sie wünschen mich populärer. Mit Recht." Grabbe Jahrbuch 1990. Hg. von Werner Broer, Detlev Kopp und Michael Voigt. Bielefeld: Aisthesis, 1990. S. 46-70.

Kurt Jauslin: Das ausgelesene Buch der Welt. Grabbes groteske "Vieh=(loso=)Vieh" der Geschichte. In: Detlev Kopp, Michael Voigt (Hgg.): Grabbbes Welttheater. Christian Dietrich Grabbe zum 200. Geburtstag. Bielefeld: Aisthesis, 2001. S. 163-192.

Detlev Kopp: Geschichte und Gesellschaft in den Dramen Christian Dietrich Grabbes. Frankfurt/M., Bern: Peter Lang, 1982.

Detlev Kopp, Michael Voigt (Hgg.): Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit. Beiträge zum II. Internationalen Grabbe-Symposion 1989. Tübingen: Niemeyer, 1990.

Maria Porrmann: Grabbe - Dichter für das Vaterland. Die Geschichtsdramen auf deutschen Bühnen im 19. und 20. Jahrhundert. Lemgo: Wagener, 1982. (Lippische Studien, Bd. 10)

Michael Voigt: Literaturrezeption und historische Krisenerfahrung: Die Rezeption der Dramen Christian Dietrich Grabbes. Frankfurt/M., Bern: Peter Lang, 1983.

Zitat- und Belegstellen

Zwei neue Dramen von Grabbe. In: Phönix. Frankfurt/M. Nr. 194, 18. August 1835, S. 773-774. (Rasch 3.35.08.18)

(Kurt Jauslin, Altdorf)