Stehely (Café in Berlin)#
Metadaten#
- Autor
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.0
- Letzte Bearbeitung
- 06.03.2001
Text#
Stehely#
Konditorei und Lesekabinett in der Berliner Charlottenstraße, im Vormärz der bekannteste Treffpunkt Intellektueller, Schriftsteller und Journalisten Berlins.
Allgemeines #
Neben dem Theater und der Universität gehörten Konditoreien, in denen Zeitungen auslagen, zu den wenigen öffentlichen Stätten im Vormärz, wo sich öffentliche Meinung' konstituieren und artikulieren konnte. Der Verzehr von Backwerk, Eis, Likör oder Kaffee war gemessen am Konsum politischer Zeitungen, neuer Nachrichten, Ideen und Meinungen zweitrangig. Die Befriedigung von Informationsbedürfnissen, die Vermittlung aktueller Nachrichten, die Möglichkeit der Meinungsbildung und des Gedankenaustausches und damit verbunden die fortschreitende Politisierung der Bürger ist im Berliner Vormärz von Konditoreien bzw. Lesecafés nicht zu trennen. Es kann also nicht verwundern, dass einige dieser Lesecafés von Polizeispitzeln überwacht wurden.
Die Verbindung von Kaffeehaus, Journal und öffentlicher Meinung stammt ursprünglich aus England. Dort eröffnete "um die Mitte des 17. Jahrhunderts, nachdem nicht nur der zuerst verbreitete Tee, sondern auch Schokolade und Kaffee zum üblichen Getränk wenigstens der wohlhabenden Schichten der Bevölkerung geworden waren, [...] der Kutscher eines Levantekaufmanns das erste Kaffeehaus" (Habermas, S. 43). In London gab es im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts schon 3.000 Kaffeehäuser, "jedes mit einem inneren Kreis von Stammgästen" (Habermas, S. 43). Zu den Gästen zählten u.a. auch Joseph Addison und Richard Steele, die zusammen 1711/12 die moralische Wochenschrift "The Spectator" herausgaben, die 1713 von "The Guardian" abgelöst wurde. Die Kaffeehäuser waren Orte des "Räsonnements" (Habermas, S. 44), in denen sich die vom Bürgertum getragene Literatur gegen die der Aristokratie behauptete.
In Berlin gab es zahlreiche Konditoreien, die für ihre Gäste Tageszeitungen und Zeitschriften hielten und mit einem separaten Lesezimmer ausgestattet waren. Die bekannteren waren Josty (am Schlossplatz, Unter der Stechbahn 1), Giovanoly (Ecke Behren- / Charlottenstraße), Spargnapani (Unter den Linden 50), Schauß (Jägerstraße), die Konditorei von d'Heureuse in der Breiten Straße, die Courtinsche Konditorei neben der Post. Zu den elegantesten Konditoreien gehörten Kranzler an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße und Fuchs Unter den Linden. Hier verkehrten vornehmlich Aristokraten, reiche Dandys, adlige Snobs und Offiziere, deren hochnäsigblasiertes Auftreten in und vor Kranzler oft karikiert worden ist. Courtin war bevorzugter Treffpunkt von Geldleihern, Spekulanten und Kaufleuten, die hier die Börsennachrichten verfolgten, Josty Sammelplatz von höher gestellten Beamten und Militärs. Damen besuchten "nur ausnahmsweise und in Herrenbegleitung die Conditoreien, ohne Begleitung nur die Schauß'sche, wo sie sich ziemlich ungeniert bewegen." (Springer, S. 32) Darüber hinaus gab es zahlreiche kleinere Konditoreien in Berlin, und "selbst in der kleinsten Winkelkuchenbäckerei findet man einzelne Tagesblätter oder die belletristischen Journale aus Fernbachs Leihbibliothek." (Springer, S. 31)
Die meisten Berliner Konditoreien wurden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Gab es 1789 überhaupt nur dreizehn in Berlin, so stieg ihre Zahl auf etwa hundert im Jahr 1834. Beliebt waren besonders die von zugewanderten Schweizern und Italienern begründeten Konditoreien. Mit dem Wandel Berlins zur großstädtischen Metropole veränderten sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und "unter Einbuße ihres familiären Charakteres" erhielten sie "eine großstädtische Ausbildung. Aus kleinen behaglichen Zimmern, in denen eine geschlossene Gemeinde Nachmittags die paar Zeitungen des Locals aussog, sind große, elegante Salons geworden", stellt Schmidt-Weißenfels 1865 fest (Schmidt-Weißenfels, S. 204). Nach der Reichsgründung büßten die Konditoreien alten Schlages bis auf wenige Ausnahmen ihre Anziehungskraft auf das Publikum ein und wurden nach und nach durch so genannte Wiener Cafés wie das Café Bauer Unter den Linden ersetzt.
Lesecafés hatten bis zur Märzrevolution für das kulturelle Leben der Stadt eine größere Bedeutung als Vereine, Clubs, Salons oder privat organisierte Lesezirkel. Eine herausragende Stellung nahm dabei Stehely ein. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn Saß 1846 anmerkt, "daß eine Geschichte der Stehelyschen Konditorei schreiben hieße nichts anderes, als die Geschichte der Berliner Literaturzustände geben" (Saß, S. 51). Das betrifft besonders die literarische Entwicklung der dreißiger Jahre und vor allem die des "Jungen Deutschland"; denn "hier war es", so schreibt Saß, "wo die Julirevolution und die Hegelsche Philosophie vom Jungen Deutschland entbunden wurde und das ganze Koteriewesen seinen Mittelpunkt fand. Hier war es, von wo aus die eine Partei im Jungen Deutschland die andere zu bekämpfen suchte, hier war es, von wo aus der Standpunkt des Jungen Deutschland zuerst überwunden wurde', hier war es, von wo aus die Hallischen Jahrbücher' und die Rheinische Zeitung' ihr Geschütz bezogen [...]. Man kann es ohne Anmaßung sagen, das junge Volk, die neue Zeit hat gesiegt bei Stehely." (Saß, S. 51)
Stehely #
Johann Stehely (Konditor schweizer Herkunft, geb. 1781 (?), gest. 1836) begründete 1820, also ein Jahr nach den Karlsbader Beschlüssen, die nach ihm benannte Konditorei. "Signor Stehely war eine gravitätische, imposante Figur mit vornehmen Kopfe und noblen, charakteristischen Zügen, eine durchaus interessante Erscheinung, die eher in die Cirkel der Diplomatie, als hinter den Ladentisch und die Liqueurflaschen gehörte" (Schmidt-Weißenfels, S. 207). Das Lokal befand sich zuerst an der Ecke Charlotten-/Jägerstraße, zog dann in die Charlottenstraße 36. Die günstige Stadtlage - schräg gegenüber war das Königliche Theater, in der Nähe waren die Universität und das Regierungsviertel Wilhelmstraße - und der von Zeitgenossen mehrfach gerühmte gute Kaffee sowie die Vielzahl der abonnierten Tageszeitungen und Zeitschriften trugen schnell zur Beliebtheit der Konditorei bei. Ein paar Häuser weiter existierte die durch E. T. A. Hoffmann und Ludwig Devrient legendär gewordene Weinhandlung Lutter & Wegener. Es dürfte zwischen 1820 und 1848 kaum einen Schriftsteller, Dichter, Journalisten in Berlin gegeben haben, der nicht bei Stehely zu Gast war. "Stehely's Conditorei-Lesekabinet mit seinen hundert Journalen und Blättern ist das Eldorado der Pflastertreter Berlins, das Paradies der Novitätenkrämer der Residenz, die hohe Schule der Gardeofficiers und Beamten, die größte besuchteste Bildungsanstalt der Hauptstadt Preussens, welche von Jung und Alt, Arm und Reich, Gelehrten und Dummköpfen frequentirt wird [...]", schreibt Friedrich Steinmann 1832 in seinen "Briefen aus Berlin" (Steinmann, T. 1, S. 133). Heine und Börne während ihrer Berlin-Besuche, Alexis, Rellstab, Glaßbrenner, Mundt, der junge Fontane, zahllose andere Journalisten, Dichter, Schauspieler, Studenten, Professoren bevölkerten das Lesecafé.
Bei Stehely verkehrten Vertreter verschiedener philosophischer Glaubenssätze, literarischer Meinungen oder politischer Gesinnungen. Mittags, "wenn die Wachparade beendigt, war der preussische Militairstaat bei Stehely vertreten; vor der Börse, gegen ein Uhr, in der Juste-milieu-Zeit, kamen die Kaufleute, die fetten Bourgeois, die Liberalen, die es gut mit sich und aller Welt meinen. Nachmittags erschienen Professoren, Doctoren aller Facultäten - Literaten, wie die Polizeisprache sagt, Schriftsteller, wie es deutscher lautet - Künstler und Lehrer. Das hintere Zimmer - es war finster und man stieg damals ein paar Stufen hinauf, ehe man in dasselbe gelangte [...] - ward von den Politikern in Beschlag genommen" (Schmidt-Weißenfels S. 208). Spiegel der verschiedenen politischen Tendenzen war der auch in Gutzkows "Rückblicken" erwähnte Kompagnon Stehelys, Stopani: "Stopani war Morgens, wenn die Gardeoffiziere bei ihm Chokolade und Pasteten mit einem Glas Madeira genossen, starrer Absolutist; Abends, wenn seine verdorbenen Geister da waren, Republikaner; Mittags, wenn einige französische Legitimisten zu ihm kamen, die mit den Bourbonen Frankreich verlassen hatten, Legitimist; und fand sich ein Verehrer des großen Napoleon bei ihm ein, so erzählte er ihm mit Begeisterung von der alten Garde, von Cambronne, von den Marschällen von Frankreich und weshalb die französische Armee bei Waterloo besiegt worden sei" (Schmidt-Weißenfels, S. 207).
Die pluralistische Breite bei Stehely scheint in den vierziger Jahren gelitten zu haben. Stehely war nicht mehr unbedingt "Asyl aller Partheien" (Der Berliner Journalist. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 261, 31. Oktober 1833, S. 1042), sondern vor allem Treffpunkt der hegelianischen Linken. Die bei Stehely verkehrenden und von Friedrich Saß 1846 aufgeführten Stammgäste Adolf Rutenberg, Eduard Meyen, Theodor Mügge, Ludwig Buhl, Julius Leopold Klein gehörten samt und sonders zu den entschiedenen Gegnern Gutzkows in Berlin. Berühmt und berüchtigt wurde das Hinterzimmer bei Stehely, der "Rote Salon". Er war in den vierziger Jahren Tagungsort des radikalen Doktorenclubs von Max Stirner, zu dem auch Marx und Engels gehörten. Belletristische Blätter wurden hier kaum noch wahrgenommen, liberale Tageszeitungen umso eifriger gelesen.
Eine Konkurrenz erwuchs Stehely möglicherweise Ende der vierziger Jahre in Leseinstituten wie der von Gutzkows Kommilitonen Gustav Julius begründeten "Berliner Zeitungshalle", die weit über hundert europäische Tageszeitungen und Zeitschriften anbot. Nach der Revolution 1848/49 nahm die Ausstrahlungskraft Stehelys immer weiter ab; schon lange vor 1870 hatte die Konditorei ihre zentrale Bedeutung als Begegnungsort des intellektuellen Berlins eingebüßt. 1876 wurde die Konditorei geschlossen. 1884/85 wurde das aus dem 18. Jahrhundert stammende Gebäude abgerissen und wich einem Neubau.
Gutzkow und Stehely #
Gutzkow besuchte seit 1829 oder 1830 als Student das Stehely. Er dürfte dort oft anzutreffen gewesen sein, denn Gutzkow war ein exzessiver Zeitungsleser: "Er las alle Zeitungen, welche in den Conditoreien erreichbar waren. Wie in Berlin bei Steheli, so war damals auch in Leipzig die Conditorei das Zeitungsdepot. [...] Dort saß Gutzkow immer einsam zur Seite und entzifferte Zeitungen, sie dicht vor die Augen haltend [...]", erinnert sich Laube (Rasch, Gutzkow-Doku., S. 32).
Für die literarische Sozialisation des jungen Gutzkow wurde Stehely eine wichtige Instanz:
1. Er knüpfte und pflegte hier Kontakte zu anderen Schriftstellern und Journalisten.
2. Die bei Stehely gesammelten Lesefrüchte aus Tageszeitungen, wissenschaftlichen und belletristischen Blättern verwertete er nicht nur 1832 in seinen "Briefen eines Narren an eine Närrin" (hier finden sich zahlreiche Anspielungen auf Tagesaktualitäten), sondern vor allem 1831 in seiner Zeitschrift "Forum der Journal-Literatur". Diese kritische Revue von Periodika wäre ohne ein Lesecafé wie Stehely nicht möglich gewesen.
3. Was er an Stadtklatsch oder sonstigen Neuigkeiten hier aufschnappen konnte, benutzte er als Korrespondent süddeutscher Blätter in den Jahren 1831-1834.
4. Die Politisierung Gutzkows durch Zeitungslektüre ist ohne Stehelys Lesestoff nicht denkbar. Als am 3. August 1830 Gutzkow in der Berliner Aula für seine Arbeit "De diis fatalibus" ausgezeichnet wurde und Nachrichten von der Julirevolution in Paris kursierten, lief Gutzkow, "hier und dort von Glückwünschenden angehalten, zu Stehely und nahm zum ersten Male eine Zeitung vor's Gesicht", wie er sich in "Vergangenheit und Gegenwart" erinnert (eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 4).
Schrieb Gutzkow im "Forum für Journal-Literatur" (1831) und in einer Skizze "Der Berliner Journalist" (1833) noch ausführlicher über das Publikum Stehelys, so wird die Konditorei 1840 im "Tagebuch aus Berlin" nur noch gestreift, in den "Berliner Eindrücken" (1844) und in dem Reisefeuilleton "Eine Woche in Berlin" (1854) überhaupt nicht mehr erwähnt. Daran scheint sich der Bedeutungswandel des Lesecafés für das literarische Leben Berlins ablesen zu lassen. In den "Rückblicken auf mein Leben" (1875) kommt Gutzkow auf seine eigenen literarischen Anfänge und damit auch auf Stehely ausführlich zurück.
Quellen #
[Friedrich Steinmann:] Briefe aus Berlin. Teil 1-2, Hanau: König, 1832.
Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam zum täglichen Gebrauch der Einheimischen und Fremden aller Stände. Hg. durch einen Verein von Freunden der Ortskunde unter dem Vorstande des L[eopold] Freiherrn von Zedlitz. Berlin: Eifersdorff, 1834 [Reprint Leipzig 1987], Artikel "Conditoreien", S. 139-140.
Friedrich Saß: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung 1846. Neu hg. u. mit e. Nachw. vers. von Detlef Heikamp. Berlin 1983, S. 39-59.
Ernst Dronke: Berlin. Hg. u. mit e. Nachw. vers. von Irina Hundt. Berlin 1987 [Neudruck der Ausgabe von 1846], S. 41-47.
Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Hg. von H. H. Houben, Bd 41, Leipzig 1909.
Robert Springer: Berlin's Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848. Berlin: Gerhard, 1850, S. 31-32.
Schmidt-Weißenfels: Die Stadt der Intelligenz. Geschichte aus Berlins Vor- und Nachmärz. Berlin: Seehagen, 1865, S. 190-212.
Theodor Fontane: Cafés von heut und Konditoreien von ehmals. In: Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd 15, München 1967, S. 407-413.
Forschungsliteratur #
Ernst Rowe: Stehely & Comp. In: Preußische Jahrbücher. Berlin. Bd. 117, Heft 1, Juli 1904, S. 83-106.
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied, Berlin 1962.
Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten. Wien, Köln, Weimar 1999.
(Wolfgang Rasch, Berlin)