Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Cholera#

Metadaten#

Autor
  1. Olaf Briese
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
07.09.2001

Text#

Cholera#

eine für Europa neue epidemische Krankheit. Sie erreichte Preußen erstmals Frühjahr 1831 und kam im 19. Jahrhundert in mehreren pandemischen Wellen immer wieder.

Allgemeines #

Bewirkt durch die zivilisatorischen Neuerungen - die Entstehung großer Städte und Ballungsräume, Beschleunigung von Transportwegen, Wachsen von sozialem Elend - erwies sich der Organismus der europäischen Länder anfällig für diese Seuche. Die Cholera, ursprünglich eingemeindet ("endemisch") in bestimmten indischen Gebieten und dort relativ harmlos, dehnte sich über ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet aus und erweiterte sich 1817 zur Epidemie. Sie forderte unter der indischen Bevölkerung und unter britischen Kolonialtruppen hohe Verluste. Jahr für Jahr erweiterte sich das Verbreitungsgebiet der Seuche und reichte von Mittelasien bis in die europäischen Gebiete Rußlands (1830). Der zaristische Krieg gegen das aufständische Polen beschleunigte 1831 die Ausbreitung nach Westen, so daß die Seuche Anfang Juni 1831 Preußen erreichte. Der Ausbruch in Berlin erfolgte am 1. September 1831 (offiziell 1426 Tote bis Februar 1832). Ganz Österreich und weite Teile Deutschlands wurden von der ersten Cholerawelle 1831/32 erfaßt, ausgenommen blieb in dieser Zeit lediglich Süddeutschland. Über See erreichte die Epidemie Ende 1831 England, 1832 schließlich von Westen her Frankreich (18.000 Tote in Paris im Verlauf weniger Wochen), im selben Jahr auch die USA. Prominente Opfer der ersten europäischen Cholerawelle waren unter anderem Diebitsch, Gneisenau, Clausewitz, Hegel, Périer. In sechs bis sieben Wellen kehrte die Seuche immer wieder. Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts kam es - nicht zuletzt durch verbesserte Abwasserversorgung - zum Schwinden in Europa. Ein letzter großer Ausbruch erfolgte 1892 in Hamburg (vgl. Dettke, Evans).

Krankheitsbild #

Symptome der Cholera sind Schwächegefühl, Erbrechen, sturzartiges Ausscheiden von Körperflüssigkeit im Stuhl, Krämpfe der Gliedmaßen, teilweise schwarz-blaue Verfärbung der Haut, hohe Letalität (bei ca. 50 Prozent der Erkrankten), Sterben in der Regel bei Bewußtsein, zumeist innerhalb weniger Stunden. Ursache ist das Eindringen von Cholerabakterien durch Wasser bzw. Nahrung. Im Dünndarm bilden sie ein Gift, das den Elektrolythaushalt des Körpers beeinträchtigt und zu rasantem Flüssigkeitsverlust führt. Fälschlicherweise wird die Entdeckung des Cholera-Bakteriums Robert Koch (1883) zugeschrieben. Tatsächlich gelang sie rund dreißig Jahre vor Koch dem Florentiner Anatom Filippo Pacini (der auch die einzig helfende Therapieart, die Infusion von Salzwasser, anwandte). Noch heute ist eine grundlegende Vorsorge nicht möglich; Schutzimpfungen wirken nur über wenige Wochen.

Schutzmaßnahmen#

Die individuellen bzw. staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Cholera waren bis zur Ära Kochs abhängig von zwei konkurrierenden medizinischen Deutungsmustern. Im alten, seit der Antike kanonischen Miasmen-Konzept waren Seuchen die Folge von natürlichen Veränderungen in der Luft, der Atmosphäre, gar im Kosmos. Eine Abwehr wurde für praktisch unmöglich gehalten, außer durch Feuer und Räucherungen in den Wohnungen oder gar durch große Feuer auf öffentlichen Plätzen, die die schädlichen Miasmen vertilgen sollten. Das relativ junge, erst seit der Renaissance entstandene Konzept des Kontagionismus verstand die Epidemie hingegen als Folge einer Übertragung stofflicher Partikel. Verhütungsmaßnahmen richteten sich demzufolge gegen soziale Verursacher, gegen menschliche Überträger, gegen Freizügigkeit in Handel und Verkehr sowie gegen uneingeschränkte soziale Mobilität. In Rußland und Preußen wurde 1830/32 staatlicherseits diesem Kontagionskonzept der Vorzug gegeben. Das hatte die Errichtung von Grenzsperren, Sperren innerhalb der Länder und Quarantänestationen für Reisende, sogenannte Kontumazen, zur Folge (anfangs in der Regel zwanzigtägige Quarantäne). Erkrankte wurden im Krankheitsfall 'abgesperrt', Speziallazarette und Spezialfriedhöfe eingerichtet usw. Einen guten Einblick in die sich überstürzenden Erlasse und Gesetze geben für Preußen bzw. Berlin die "Allgemeine Preußische Staats-Zeitung", die "Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen" bzw. die "Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen" (desgleichen das "Berlinische Intelligenz-Blatt" sowie das "Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin").

Liberale Mediziner, Politiker und die liberal gesinnten Teile der Öffentlichkeit erklärten sich entschieden gegen dieses Vorgehen, das sie als autokratisch charakterisierten. Das heißt, die Befürworter liberaler wirtschaftlicher und politischer Reformen waren in der Regel antikontagiös eingestellt und wandten sich gegen Einschränkungen von Handels- und Reisefreiheit und gegen großflächige Quarantänemaßnahmen (so hatten die liberalen Senatsgremien Freier Städte wie Hamburg und Lübeck 'ihre' Wahrheit gefunden und waren fast durchgehend antikontagiös eingestellt). Erst in der bakteriellen Ära der zweiten Jahrhunderthälfte wurde diese falsche Alternative Miasma (übertragen durch die Luft) und Kontagion (übertragen durch Personen) hinfällig. Die Rolle des Wassers bei der Verbreitung und Übertragung der Cholerabakterien wurde erkannt, damit auch die Möglichkeit der Prävention durch abgekochtes Wasser (vgl. Dettke, Evans, Stolberg, Baldwin). Die Kontroverse Miasmatiker versus Kontagionisten ist dokumentiert in den verschiedenen Cholerazeitungen, die 1831-33 verlegt wurden (für Berlin: "Tagebuch über das Verhalten der bösartigen Cholera in Berlin, herausgegeben von Dr. Albert Sachs", "Berliner Cholera-Zeitung mit Benutzung amtlicher Quellen", "Cholera-Archiv mit Benutzung amtlicher Quellen").

Zeit- und literarischer Kontext #

Die Cholera stellte die europäische Gesellschaft vor eine erhebliche soziale, politische und kulturelle Belastungsprobe. Man kann von der Leitkrankheit des 19. Jahrhunderts sprechen. Nicht nur der aufgeklärte Anspruch, Krankheiten und Epidemien als Erbe des finsteren Mittelalters verbannt zu haben, stand zur Disposition. Anfangs ging es um die Aufrechterhaltung von Zivilisation schlechthin: "Unter allen Krankheiten, die die Welt bisher heimsuchten, hat sich die Cholera den fürchterlichsten Ruf erworben und am meisten Schrecken verbreitet" (Lichtenstädt, S. 29). Es wurde erwogen, ob sie das Menschengeschlecht nicht "gar ganz von der Erde vertilgte" (Röttger, S. 10). Wenn sich diese Befürchtung nicht bewahrheitete, war aber ein anderes Problem staatlicherseits zu bewältigen: sogenannte Pöbeltumulte und -exzesse. Heine hatte in seinen "Französischen Zuständen" nur die Pariser Ereignisse von 1832 behandelt. Insgesamt waren solche Tumulte und Exzesse weit verbreitet (in Rußland und Habsburg, in abgeschwächter Weise in Preußen, etwa in Memel, Posen, Breslau, Stettin oder, in rudimentärer Weise, in Berlin). In diesem Spontanprotest gegen Ärzte bzw. Polizei entlud sich ein angestauter Volkszorn, der verschiedene Gründe hatte: Angst vor der Seuche, Verschlechterung der sozialen Lage wegen der Grenzsperren und Sperren innerhalb des Landes, zwangsweise Einweisung von Kranken in Spitäler, Verbot traditioneller Bestattungsriten, Angst vor Vergiftung durch Ärzte. Kurzum: der staatlich erzeugte Kontroll- und Disziplinierungsdruck entlud sich im Gegendruck der Straße. Er richtete sich insbesondere gegen Ärzte (Lynchjustiz u.a. in Petersburg 1831). Denn diese setzten die staatlich angeordneten Zwangsmaßnahmen durch und vollstreckten ein rigides sanitätspolizeiliches Regime an einer Bevölkerungsgruppe, die bisher weitgehend von der staatlichen Medikalisierung ausgenommen war. Richteten sich Ausbrüche von Gewalt gegen Polizei und Ärzte (in Rußland auch gegen angeblich polnische Spione), so waren antisemitische Ausschreitungen, auch antisemitische Gerüchte, verglichen mit den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pestereignissen, eher selten. Die kirchlichen Institutionen, um auch dieses Problem anzuschneiden, befanden sich in einem Dilemma: Der Staat entzog ihnen recht weitgehend Kompetenzen (Regulation des Bestattungswesens auf bürokratische Art und Weise, teilweise unter direkter Aussetzung bisherigen Brauchs), so daß sich teilweise eine Protestallianz von Unterschichten und Kirche ergab. Andererseits nutzten die Kirchen die Seuche dazu, ihr schwindendes Sozialprestige zu bessern. Es stehe in keines Menschen Macht, d. h. auch nicht in staatlicher Macht, ihr Einhalt zu gebieten. Die Seuche avancierte somit zum Vehikel religiös-kirchlicher Kompetenzbewahrung (Schleiermacher, 1831 bzw. 1833).

Die öffentlichen Reaktionen auf die Cholera lassen sich aus den Korrespondentenberichten großer Zeitungen und Unterhaltungszeitschriften rekonstruieren (Gutzkow schrieb solche Berichte z. B. für den "Hesperus"). Zu nennen wären "Zeitung für die elegante Welt", "Deutsche Allgemeine Zeitung", Augsburger "Allgemeine Zeitung", "Morgenblatt für gebildete Stände", "Blätter für literarische Unterhaltung", "Der Komet", Dresdner "Abend-Zeitung", Wiener "Allgemeine Theaterzeitung". Speziell aus Berlin wären zu berücksichtigen "Der Gesellschafter", "Der Berliner Stadt- und Landbote", "Der Freimüthige", "Berliner Eulenspiegel-Courier". Literarische Reaktionen auf die Cholera blieben nicht aus. Hervorzuheben wären im internationalen Maßstab u .a. Mary W. Shelley ("The Last Man", 1826), Eugène Sue ("Les Mystères de Paris", 1842-43, sowie "Je Juif errant", 1844-45), Wilhelm Bergsoes "Von der Piazza del Popolo" (1870) oder "Als die Cholera morbus kam" (1900) bzw. Axel Munthes "Letters from a mourning city" (1887). Für Deutschland sind literarische Reaktionen, mit Schwerpunkt auf die zweite Jahrhunderthälfte, bereits aufgearbeitet worden (vgl. Schader). Dazu ergänzend wären u. a. zu nennen: Ludwig Rellstabs Fortsetzungsroman aus der "Zeitung für die elegante Welt" (1831): "Die Cholera im Fürstenthume Scheerau" (Neudruck 1836), Ernst Ortlepps Versepos "Die Cholera" (1832), Karl Herloßsohns Prosa-Groteske "Mephistopheles" (1833), Johann von Plötz' Lustspiel "Die Choleramanen" (1835), Heinrich Laubes Polenroman "Die Krieger" (1837) oder John Retcliffs [d.h. Hermann Goedsches] belletristisches Kriegspanorama "Sebastopol" (1856). Des weiteren ist zu Schader zu ergänzen, daß es eine große Zahl von Cholera-Gedichten gibt (u. a. von Theodor Hell, Ignaz Franz Castelli, Heinrich Stieglitz, Karl von Holtei, Ferdinand Raimund, Adalbert von Chamisso, Justinus Kerner, Nikolaus Lenau, Karl Grün, Friedrich Hebbel).

Gutzkow und die Cholera #

Gutzkow war 1831 unmittelbarer Zeuge des Ausbruchs der Cholera in Berlin, auch später ist sie ihm - das bleibt weiterer biographischer Detailforschung vorbehalten - immer wieder begegnet. In seinem literarischen und publizistischen Werk hat sie nachhaltige Spuren hinterlassen. Dabei lassen sich in einem allgemeinen Zugang insgesamt drei Etappen der literarischen Reaktion unterscheiden: Korrespondenzen als Zeitzeuge, Zitat im kulturell-tagespolitischen Diskurs, autobiographischer Rückblick.

a) Korrespondenzen: Wolfgang Raschs bibliographischer Archivarbeit ist es zu verdanken, daß die bisher nicht näher aufschlüsselbaren Beiträge, die Gutzkow für den "Hesperus" lieferte, nun kenntlich gemacht sind. Im Forum der Journal-Literatur spielte die Cholera noch eine eher unwesentliche Rolle (z. B. Nr. 5, 1. August 1831). Gutzkow wußte, dem Programm seiner kurzlebigen Gründung folgend, nicht mehr zu berichten, als das, was sich auf literarische oder journalistische Pläne Anderer bezog. Ganz anders verhält es sich mit dem Artikel, der auf den 4. September 1831 datiert ist und im "Hesperus", Nr. 226, 21. September 1831, erschien (Menzel hatte den Kontakt zum "Hesperus" hergestellt). Unmittelbar nach Ausbruch der Cholera in Berlin zeichnet Gutzkow ein journalistisches Panorama. Er gibt Informationen über den Weg der Cholera nach Berlin, über die fehlgeschlagene Abwehr, spottet über die hysterischen Schutzmaßnahmen (Wachskleidung für Krankenwärter), erwähnt die Krise in Handel und Produktion und bedenkt die kommende soziale Not. Mittelpunkt ist jedoch der in Jean Paulscher Manier gehaltene humorvolle Bericht über den gescheiterten Transport eines Choleratoten per Boot: Es kenterte, das Personal ertrank, der Tote trieb in der Spree bis Spandau (Anekdote gleichfalls durch einen Anonymus überliefert in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 221 und 223, 15. und 17. September 1831, S. 884ff., möglicherweise aber nur ein Gerücht, wenn auch ein hartnäckig sich haltendes). Insgesamt läßt sich bei Gutzkow eine intellektuelle Distanz erkennen, die der staatlich geschürten Hysterie und der Hysterie des Berliner Bürgertums bzw. Bildungsbürgertums humorvoll begegnet (das liegt auf der Linie etwa auch des "Berliner Eulenspiegel-Couriers" oder des Berliner "Freimüthigen"; Gustav Theodor Fechner verfasste 1832 in diesem Geist die recht bekannt gewordene Wissenschaftsparodie "Schutzmittel für die Cholera"). Am 2. Oktober 1831 kann Gutzkow Menzel bereits brieflich mitteilen, daß sich das Unglück in Grenzen halte und zu ertragen sei (Houben, S. 11). Und der letzte "Hesperus"-Bericht, der am 3. Oktober die Cholera erwähnt, polemisiert direkt gegen das viele Aufsehen um die Seuche. Als direkte Zeitzeugnisse sind auch die Schilderungen in Gutzkows Briefen eines Narren an eine Närrin (BrN, S. 67-68) anzusehen, in denen der Autor ironisch über sein Schicksal berichtet, das ihn an der Grenze zwischen Thüringen und Hessen ereilte. Seine Reise nach Süddeutschland im November 1831 wurde dort unfreiwillig unterbrochen, weil er, nach bisher zwei vollbrachten Quarantänetagen, acht weitere abzuleisten hatte (die Rückblicke berichten später genauer darüber).

b) Zitat im kulturell-tagespolitischen Diskurs: Zugleich verdeutlichen die Briefe eines Narren an eine Närrin auch einen Umschlag in Gutzkows Behandlung der Cholera: weg von dokumentarischer Zeitzeugenschaft und hin zum Zitat der Cholera in kulturell-tagespolitischen Diskursen. 1843 wird z. B. die moralische Cholera und die sittliche Brechruhr der Zeit angesprochen (Diese Kritik gehört Bettinen, RAB, S. 166). Das dürfte auch das Ergebnis intensiver Börne- und Heine-Lektüre gewesen sein; beide hatten auf ihre Art die Cholera publizistisch-literarisch instrumentalisiert ("Briefe aus Paris", "Französische Zustände", vgl. dazu Briese). Vorerst, in den 'Narrenbriefen', gibt es eine ironische Cholera-Reprise mit distanzierendem Blick auf Goethe (BrN, S. 20-21). In seinem Schleiermacher-Porträt von 1834 baut Gutzkow dieses Verfahren aus. Dort wird die Cholera zum großen Wendepunkt stilisiert, die die Zeitkrisis konterkariere. So unverständlich den alten deutschen idealistischen Geistesheroen die Ankunft der Seuche erschienen war, so unverständlich blieb ihnen auch der Einbruch der neuen materiellen Zeittendenz: nämlich der Revolution. Gutzkow hingegen scheint sich mit der Seuche arrangieren zu können. Sie ist ihm Ausdruck neuer Zeiten und neuer Unruhe, aber einer Welt, die im Grunde beständig ins Vorwärts drängt. Gelegentlich kann die Seuche sogar - wie er 1835 in seiner Vertheidigung gegen Menzel betont - solchen Fortschritten tatkräftig zuarbeiten, indem sie die drohende Überbevölkerung dezimiert (VgM, in: Estermann, S. 83). Die Zeitgenossen von 1837 nehmen den Faden des Schleiermacher-Porträts von 1834 auf. Wieder gilt die Cholera als Gegenreaktion auf den idealistischen Zeitgeist. Ähnlich wie der schwarze Tod des Mittelalters das überlebte katholische Regiment erschütterte und zur Reformation führte, hätte die Cholera den alten Idealismus - d. h. immer auch das Ancien régime - erschüttert und dem neuen bürgerlichen Materialismus Bahn gebrochen: Erleichterung der bürgerlichen Existenz, Vermehrung praktischer und solider Kenntnisse, Wahrheit und Einheit der Gesellschaft, kurzum, wie es über die Cholera heißt: Durch eine materielle Abführung wird das Gleichgewicht des europäischen Körpers wieder hergestellt (Zg, Bd 1, S. 104). Das heißt nicht, daß Gutzkow dem Leid der Cholera gegenüber blind wäre. In der Erzählung Die Sterbecassirer (1833) oder im Roman Die Ritter vom Geiste (1850-51) fallen in sozial-philanthropischer Manier gelegentliche Hinweise auf ihre Folgen, insbesondere für Unterschichten. Aber es zeigt sich insgesamt die Tendenz zu einer geschichtsphilosophischen Einordnung der Cholera, die sie als Ausdruck, teilweise sogar als Motor der Moderne versteht.

c) Autobiographischer Rückblick: Als dritte Phase der Beschäftigung mit der Cholera ist die der späten autobiographischen Schriften Das Kastanienwäldchen in Berlin (1869) und Rückblicke auf mein Leben (1875) anzusehen. Auf ein weibliches Journalpublikum zugeschnitten, ist Das Kastanienwäldchen mitunter von Stifterischer Beschaulichkeit. Unter direkter Anrufung der Moderne entwirft Gutzkow hier ein oft nostalgisches Zeitbild, das nicht zuletzt den Modernisierungsdruck kompensieren soll. Politik, die Revolution von 1830 usw. bleiben betont ausgeklammert. Der Text wirkt, um diesen Anachronismus zu gebrauchen, 'biedermeierlich'. Die Cholera, mit der er endet, markiert den Anlaß, aber nur den Anlaß, aus dem der reifende Autor, gewissermaßen anthropologisch selbstverständlich, den Aufbruch von der kleinen Berliner Welt in die große wagt. Etwas anders scheint Gutzkow sich in den Rückblicken zu positionieren. Hat Hasubek jüngst für Aus der Knabenzeit betont, wie sehr der Text als überindividuelles Zeitpanorama angelegt ist (Hasubek, 305, 316) - im Grunde gilt das auch für Das Kastanienwäldchen -, so tritt, gemessen daran, in den Rückblicken die persönliche, intellektuelle Rechenschaft stärker in den Vordergrund. Die Trias: Juli-Revolution, antizaristischer Polenaufstand und Cholera wird zum Movens einer dezidiert oppositionellen Entscheidung, das politisch bedrückende Preußen zu verlassen und sich in den freieren Süden zu wenden. Über die in diesem Kontext bezeichnenden Stationen Wittenberg und Eisenach (Reformation) sowie Weimar (Klassik) geht es nach Württemberg zu Menzel, dem für Gutzkow damals bedeutendsten Vorbild. Seiner publizistisch-politischen Bedeutung wird noch in diesem späten Text durchaus Reverenz erwiesen. Beide autobiographischen Arbeiten stimmen jedoch darin überein, dass Gutzkow die Seuche in die eigene biographische Frühzeit verweist, obwohl die Cholera das ganze Jahrhundert hindurch wiederkam. Diese wohl entlastende Sichtweise ist auch der überwältigenden Mehrheit damaliger Autobiographien von Medizinern oder Literaten gemeinsam, die die Cholera memorieren: Karl Friedrich Burdach, Karl Ernst von Baer, Carl Ignatius Lorinser, Heinrich Stieglitz, Carl von Holtei, Fanny Lewald. Die kulturelle Erinnerung und Wahrnehmungsselektion hatte die Seuche auf 1831/32 eingefroren, obwohl Preußen und andere deutsche Staaten 1866 von der schlimmsten Epidemie erfasst wurden.

Quellen (Auswahl) #

Dr. Mises [d. i. Gustav Theodor Fechner]: Schutzmittel für die Cholera, nebst einem Anhange [...]. Leipzig: Voß, 1832.

Karl Gutzkow: Verteidigung gegen Menzel. In: Politische Avantgarde 1830-1840. Eine Dokumentation zum "Jungen Deutschland". Hg. v. Alfred Estermann, Bd 1, Frankfurt/M. 1972, S. 70-85.

Heinrich Hubert Houben: Gutzkow-Funde. Beiträge zur Litteratur- und Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin: Arthur & Wolff, 1901.

Dr. J. R. Lichtenstädt: Die asiatische Cholera in Russland in den Jahren 1830 und 1831. Nach russischen Aktenstücken und Berichten. Berlin: Haude & Spener, 1832.

J. C. Röttger: Kritik der Cholera nach physikalischen Gründen [...]. Ferner: Ueber die trügerischen Umtriebe der Cholera im Reiche der Luft. Halle: Kümmel, 1832.

Dr. Adolph Schnitzer: Die Cholera contagiosa beobachtet in einer in Folge höheren Auftrages in Galizien [...] gemachten Reise. Breslau: Petz, 1831.

Friedrich Schleiermacher: Am 14. Sonntage nach Trinitatis 1831 [4. September]. In: Dr. F[riedrich] Schleiermacher: Predigten. Berlin: ohne Verlag, o. J., S. 1-19.

Dr. Fr[iedrich] Schleiermacher: Predigt am Sonntage Septuagesimae [19. Februar] 1832 als am Dankfest der Befreiung von der Cholera in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen. Berlin: Reimer, 1833.

 Forschungsliteratur (Auswahl)#

Peter Baldwin: Contagion and the State in Europe, 1830 - 1930. Cambridge 1999.

Olaf Briese: "Das Jüstemilieu hat die Cholera". Metaphern und Mentalitäten im 19. Jahrhunder. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd 46, 1998, S. 120-138.

Barbara Dettke: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien. Berlin, New York 1995.

Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910. Reinbek 1991.

Peter Hasubek: 'Rückblicke' auf die "Knabenzeit". Zur Autobiographie Karl Gutzkows. In: Gustav Frank / Detlev Kopp (Hgg.): Gutzkow lesen! Bielefeld 2001, S. 299-324.

Brigitta Schader: Die Cholera in der deutschen Literatur. Gräfelfing 1985.

Michael Stolberg: Die Cholera im Großherzogtum Toskana. Ängste, Deutungen und Reaktionen im Angesicht einer tödlichen Seuche. Landsberg/L. 1995.

(Olaf Briese, Berlin)