Zeitungslügen.#
Metadaten#
- Herausgeber
- Christine Haug
- Ute Schneider
- Fassung
- 1.0
- Letzte Bearbeitung
- 08.2020
Text#
276 Zeitungslügen.#
Kein Journalismus tastet so im Ungewissen, wie der deutsche. Keiner ist so reich an Erfindungen, unbegründeten Gerüchten, unmaaßgeblichen Vermuthungen, keiner so auf die enge Gränzlinie zwischen Lüge und Wahrheit eingekeilt, wie der deutsche. Es ist dies eine Folge unserer politischen und preßgesetzlichen Zustände. Die Presse entfaltet bei uns eine außerordentlich lebhafte Thätigkeit, ohne ein rechtes Material dafür zu haben. Alles will schreiben, Alles will lesen und nichts ist gewiß, nichts kann man verbürgen. Die Zeitungen wollen gefüllt seyn, und so erfinden sie. Sie erfinden keine großen Puffs, keine muthvollen Extravaganzen, aber sie erfinden eine Unsumme kleinen Materials, das sich von Zeitung zu Zeitung schleppt, kleine Vermuthungen, kleine Gerüchte. „Man will wissen“ – „Man behauptet in großen Cirkeln“ – „Einem ziemlich verbreiteten Gerüchte zufolge“ – kurz die deutsche Zeitungspresse lebt nur zur Hälfte von Thatsachen. Die andere Hälfte ihres Stoffes liefert die Einbildungskraft.
Wie will das auch anders seyn? Die deutsche Zeitungspresse ist unsern politischen Zuständen bei weitem voran. Nicht innerlich, aber äußerlich. Sie verbraucht ein enormes Quantum von Papier. Die Bogenzahl ist im Vergleich des Inhalts ungeheuer. Wir erstaunen, daß die erste Zeitung der Welt, die Times, weniger Exemplare absetzt, als z. B. das Frankfurter Journal. Wären unsere Zeitungen theuer und läge nicht der Druck der Stempelabgabe und der Postaufschläge auf ihnen, sie müßten in einer Zeit des so erschwerten Industrialismus den reinsten Gewinn abwerfen. Unsere Zeitungen rivalisiren mit einander. Sie suchen sich den Rang abzugewinnen. Wie können sie dies, da sie doch zum größten Theile farblos und ohne Bedeutung für den Partheigeist sind? Sie können es nur durch die Masse bedruckten Papiers, durch das Aufgebot aller ihrer Kräfte, um in verschiedenen deutschen Städten sogenannte „gutunterrichtete“ Correspondenten zu haben.
Die Correspondenten bekommen brief- oder bogenweise bezahlt. Man darf täglich, wöchentlich, vierzehntäglich einen Bericht einsenden. Woher den Stoff nehmen? Die Politik macht sich in Deutschland bei verschlossenen Thüren, die Beamten dürfen den Gang der Geschäfte nicht verrathen, große Diebstähle, Unglücksfälle, Mordthaten wollen sich nicht alle Tage begeben. Daher jene eigenthümliche Conjekturalpolitik der deutschen Zeitungen, jene Muthmaaßungen, die, wenn nicht immer Lügen, doch überwiegend Unwahrheiten sind. Der materielle Höhestand der deutschen Zeitungspresse hat ein Bedürfniß nach erweitertem Mittheilungsstoffe erschaffen und dies Bedürfniß läßt sich bei der Mangelhaftigkeit unserer sonstigen Zustände kaum anders befriedigen, als durch Phantasiegebilde.
Mit einem erleichterten Preßzustande werden auch diese Unwahrheiten der Zeitungen immer seltner werden.
Apparat#
Bearbeitung: Christine Haug, München; Ute Schneider, Mainz#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Schriften zum Buchhandel und zur literarischen Praxis. Hg. von Christine Haug u. Ute Schneider. Münster: Oktober Verlag, 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 7.)
Errata#
Zur Buchausgabe (GWB IV, Bd. 7) sind folgende Textkorrekturen zu vermerken:
198,3 Gerücht lies: Gerüchte
198,19 Waffe lies: Masse
Kommentierung#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.