Tendenzpoesie#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.1
Letzte Bearbeitung
14.02.2020
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Text#

590 Tendenzpoesie.#

Mit ein Grund, warum bei uns nach einer oft gewaltigen Aufregung der Geister, wenn es sich um Ideen und Gesinnungen handelt, plötzlich eine Erschlaffung eintreten kann, als wäre wieder möglich, sich in das Alltäglichste zu schicken, liegt in der unerledigten Frage von der Tendenzpoesie.

Die Tendenzpoesie sollte recht eigentlich die Poesie des 19. Jahrhunderts genannt werden. Sie geht von der erwiesenen Abgeschlossenheit gewisser großer Literaturperioden aus; sie sucht weder die Kränze eines Homer noch die eines Shakspeare; sie anerkennt, daß im Gebiete der Aesthetik fast für jede ihrer Gattungen mustergültige und der Nachahmung unzugängliche Werke vorhanden sind; sie bedient sich poetischer Formen nur dann, wenn die Phantasie sich zur Bundesgenossin irgend eines mehr oder minder auf die Lage der Menschheit bezüglichen Gedankens macht. Und genau genommen hat die Poesie ihre wahre Bedeutung zu allen Zeiten in einer ähnlichen äußern Zweckbestimmung gefunden. Nur galten nicht immer diejenigen Ideen, die jetzt die Menschheit regieren, als die vorherrschenden. Die bewegenden Ideen, die uns jetzt in der Religion und im Staate liegen, lagen der Welt sonst in der Sitte, der Gesellschaft und der allgemeinen Bildung.

Statt daß man diese Thatsache anerkennt, findet sie man überall verdächtigt. Wer mit seinem Dichten dem Denken der Zeit zu Hülfe kommen will, heißt Tendenzdichter und seine Gebilde sind nur von Absicht und vom „Zweckzuspitzen“, vom Ausstrecken der „Fühlfäden“, „Witterunghaben“ für Das, was „in der Zeit liege“, u. s. w. bestimmte Eingebungen des Verstandes. Die Professoren haben diese Phrase in ihre Lehrbücher der Aesthetik übertragen, Vielschreiber und Compilatoren in ihre Geschichten der Literatur und der Dilettantismus sorgt täglich dafür, daß sie in der laufenden Kritik der Journale und des literarischen Gesprächs in Geltung bleibt. So tief stecken wir in den romantischen Anschauungen 591 von einer zehnten Muse, Zwecklosia genannt, daß selbst die Bewegungsmänner, wie seiner Zeit die Ruge, Kinkel u. A., in ihren ästhetischen Principien nur ihr gehuldigt haben. Abhandlungen wollten sie auf der einen Seite, Volksreden, Broschüren, Agitationen; auf der andern die poetische „Unmittelbarkeit“, den Thautropfen im Kelche der Rose. Statt daß sie die Poesie des Gedankens auf den Schild gehoben hätten, gaben auch sie das Beispiel ihrer Geringschätzung; sie bekämpften die Romantik und urtheilten nur nach romantischen Maßstäben. Zahllos bleibt deshalb auch in Deutschland die Legion der Dilettanten, sie sich Poeten nennen, selbst wenn ihr Ehrgeiz nicht höher gehen kann, als im Katalog eines Musenalmanachs zu stehen. Sie Alle sind „Dichter“, sie Alle würden, nach ihrer Einbildung, glänzende Erfolge haben, wenn sie die Muse Zwecklosia entweihen wollten und statt die Nachtigal und die Rose zu besingen, Epigramme, Satiren und Episteln dichteten.

Wo man für die Tendenzpoesie in der Aesthetik und Kritik nur herabsetzende und oft nur aus dem Dünkel des Dilettantismus fließende Beurtheilungen kennt, da ist es möglich, ja nothwendig, daß eine Nation nach ihren kühnsten Geistesaufflügen immer wieder zurücksinken muß in dreißig Auflagen von „Amaranth“, von „Was sich der Wald erzählt“, „Luana“ u. dergl. und mit ihnen in die entsprechende Ideen-Apathie. Ja Zwecklosia treibt ihren Zauberspuk mit Keinem mehr als mit der liberalen Gesinnung. Gerade diese geberdet sich in Journalen und Büchern wie der Weber Zettel und singt unterm verzauberten Eselsbart nur von Frühlingsblüte und Naturwuchs.

Es kommt in der Tendenzpoesie lediglich darauf an, ob die Menschen, die sie schildert, auch die Gedanken, die durch sie verkörpert werden sollen, in Fleisch und Blut aufgenommen oder nur als geschriebene Zettel aus dem Munde hängen haben. Ist Ersteres der Fall, so mag es Dem, den z. B. diese Menschen bekämpfen sollen, sehr anstößig sein, daß solche Gebilde erfunden werden; sie haben aber sogut ihre Berechtigung wie ceteris imparibus die alten classischen Gebilde. Wenn aber auch Der, dem diese Erfindungen zugute kommen wollen, mit blasirter Gleichgültigkeit sie abweist, so geschieht ihm schon recht, wenn, wie Shakspeare sagt, „der Feind sein Land gewinnt ohne Schwertstreich“. Die geistige Ohnmacht, die man bei sovielen ernsten schwebenden Fragen in Deutschland gegenwärtig beobachten muß, gibt Kunde genug von diesem „ohne Schwertstreich verlorenen“ Lande..

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J [Anon.:] Tendenzpoesie. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 3, Nr. 37, [9. Juni] 1855, S. 590-591. (Rasch 3.55.06.09.1)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.