Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Der Zauberer von Rom. Zweites Buch#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Kurt Jauslin
  2. Stephan Landshuter
  3. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2: TEI-Auszeichnung
Letzte Bearbeitung
18.09.2021

Text#

Zweites Buch.#

3 1.#

Den Strom zu nennen, auf dem ein in erster Morgenfrühe ausgefahrener Dampfer soeben seine schäumenden Furchen zieht, drängt es unser ganzes Herz.

Doch sei von ihm nur gesagt, daß er von den Frage- und Ausrufungszeichen seiner ersten Alpen-Jugend an bis zu den letzten versandenden Gedankenstrichen und Stirnrunzeln des Alters groß und bedeutsam ist wie das Menschenleben selbst … Wie grüßen uns die Zinnen der Thürme, die rings auf deinen Felsenufern ragen, du bei Sonnenschein und Nebel gleich Geliebter! Wie schlägt die Welle an deine Wehre und Buchten! Wie kräuselt sich über gesprengtem Felsenriff in deinem offenen Bett jetzt spielend die Woge, wo sonst die Strömung tödtliche Opfer forderte! … Und in diese grüne Gegenwart ringsum, diese blaue über uns, in dies Singen und Rufen von den Gestaden, in dies Läuten von uralten Thürmen in grauen Städten und Weilern spricht Sage und Geschichte herein so lebendig, so gegenwärtig, als wenn auf den Kanten der Felsen immer noch die verlockenden Geisterjungfrauen säßen und ihre goldenen Locken im Mondlicht strählten, auf den Söllern 4 immer noch die Ritterfräulein mit ihren Schärpen winkten, die sie dem Kämpen zum Lohne gestickt, immer noch der schwere Tritt der schellenbehangenen Rosse, der vom Felsen drüben zum Felsen hüben das Echo weckt, kommen könnte von einem Banner Geharnischter, nicht von den Fuhrleuten mit ihren zweirädrigen Karren und den an den Stirnen mit einer großen rothen wollenen Agraffe geschmückten, über den Hufen so langzottig behaarten Thieren, die in unsere Keller nur den Wein verführen! „Nur“ den Wein! „Nur“ deinen goldensten Hort! … Wir Undankbaren und so schon durch deinen Reichthum Verwöhnten!

Bunt und lustig drängen sich die Passagiere des Dampfboots … Nennt ihr den Gehalt der Gegenwart leer und flüchtig, so ist gewiß das Leben auf Eisenbahnen und Dampfschiffen dem kurzen Moussiren zu vergleichen, das die Weinperlen oben zum flüchtigen Kranze vereinigt. Närrische Blasen, die da aufgeworfen werden von Ost und West! Moden, ihr tollen, wer hat euch erfunden! Trägt man die Mützen jetzt so flach, die Burnusse, die Plaids, die Abd-el-Kaders mit dieser kühnen Schwenkung um die Schulter? Was welscht und radebrecht der Zeitgeist im Gespräch zusammen, nicht nur äußerlich barock dem Ohre nach, auch innerlich dem Geiste? Sind wir schon auf dem Hudson oder Delaware, daß uns so yankeehaft zu Muthe wird? Und müssen wir wirklich der Versuchung widerstehen, diese Kellner mit ihren carrirten Halsbinden und grotesk gestreiften Inexpressibles nicht für Affen zu halten? Großer Saturn, verspeise deine eigenen Kinder und nimm uns alle hin zu deinen urewigen Früh-5stücken, wenn diese Reisewelt der Dampfschiffe, Eisenbahnen und Hotels mehr sein wollte, sein dürfte als der kurze Schaum, den unser Zeitalter aufwirft, wenn sein hoffentlich tieferer innerer Gehalt im ersten Anschuß an die Atmosphäre tritt!

Auch auf der „Prinzessin Marianne“ – Albums, Panoramas, Plaids, blaue, grüne, rothe Schleier, Firnißstiefel, Cotteletts, Beefsteaks … Schooshündchen … hinterpommersche Welt- und Zeitansichten … Dünste und Nebel über Baumwolle, Bundestag, Whigs und Tories, Louis Philippe’s neueste bombenfeste Kutschen, Thalberg und Liszt … alles was sich nur dem Streit des Zeitalters der Revolutionen mit dem Horror vacui des immer siegreichern Systems der materiellen Interessen entbinden und entwinden kann …

Dann aber von Station zu Station scheidet sich von diesem kosmopolitischen Durcheinander doch Sonderleben um Sonderleben … Die ausgesteckte Fahne auf einem Häuschen am Ufer bringt neue Passagiere, ein Zeichen vom Schiffe kündigt den Nachenführern Abgehende an. Ja, es gibt noch einzelne in der Welt! Man schwimmt und schwatzt oder schweigt nur so eine Weile im Allgemeinen mit. Abseits sich wendend bleibt jedem wieder sein eigenes Herz, sein eigenes Schicksal, sein eigenes angstvolles Mühen, im allgemeinen Drängen sein Ziel nicht zu verlieren.

Schon seit der in den engern Umgebungen des Stromes abgehaltenen Mittagsmahlzeit hatte eine Dame zu öfterm den Steuermann nach der baldigen Nähe eines Ortes gefragt, wo sie abzusteigen gedachte.

6 Schon lange stand sie an der kleinen Thür, an welcher die Stiege aufgezogen hängt, über welche die Abgehenden in Kähne steigen müssen, die von den kleinern Stationen dem Dampfschiff entgegenkommen.

Manchem schon mochte die Dame wegen des unausgesetzten Vorbehaltens ihres blauen Schleiers aufgefallen sein. Ein einfacher gelber Strohhut schützte sie gegen die senkrecht fallenden Strahlen der Augustsonne. Den trotz der Hitze zuweilen heftig aus den Biegungen des Stromes hervorbrechenden Windstößen hielt ein schottischer Mantel Stand von grün und roth carrirtem Muster und leichtem Baumwollzeuge. Neben der schlanken Gestalt stand schon in Bereitschaft ein Koffer von ganz neuem hellbraunen Leder, ein Koffer, der so klein und handlich war, daß er nur auf die nothwendigsten Bekleidungsgegenstände schließen ließ; selbst eine Hutschachtel fehlte; man mußte annehmen, daß der gelbe Strohhut, den die Dame trug, der einzige war, den sie für ihre Reise nöthig hielt. In der Hand hielt sie noch eine kleine buntgewirkte Bügeltasche …

Frauen und Männer, denen solche indiscrete Prüfungen ebenso nahe lagen wie uns, gab es schon seit einigen Stunden genug. Die Dame aß nichts, trank nichts, sah nur starr und stumm in die Abwechselungen der Gegend, setzte sich zuweilen mit großer Sicherheit auf diejenige Seite des Schiffs, die vor der Sonne Schutz bot, und brütete unter ihrem blauen Schleier und schottischem Mantel und Sonnenschirm über Dinge, die schon mancher gern errathen gehabt hätte.

Entgehen konnte niemand, daß die Reisende jung 7 war. Durch den dichten Schleier funkelten sogar zwei brennende Augen von halb scheuer, halb klug prüfender Unruhe. Richtete man dann plötzlich auf sie selber entweder zu lange den Blick oder ein Glas, das scheinbar die alten Burgen und Städte, in der That aber nur die Züge der seltsamen Unbekannten musterte, so entzog sie sich der Neugier durch eine rasche Wendung, die zugleich verrieth, daß sie niemals gänzlich in die Abwesenheit ihrer Gedanken versank, die sie scheinbar zeigte, sondern gegenwärtig blieb allem, was sie rings umgab, vorzugsweise dem Interesse, das sie einflößte.

Die Ungeduld, die die verschleierte Dame bei alledem zu beherrschen schien, war offenbar auf den Augenblick gerichtet, wo sie das Schiff zu verlassen hatte.

Der größte Theil der Passagiere saß noch an der auf dem Verdeck aufgeschlagenen Tafel und bewunderte gerade beim Dessert – Stachelbeeren, die in dieser himmlisch üppigen Gegend so groß wie Zwetschen gereift waren, als man endlich jene Station erreicht hatte, nach der die Verschleierte schon mehreremal den Steuermann reglementswidrig angeredet und gefragt hatte.

Eine neugebaute Kirche, die auf einem Vorsprung des linken Ufers stand, war schon lange als Merkziel derselben in Sicht. Hier erweiterte sich der Strom und nahm die mildern Linien der Umgebungen eines Sees an.

Endlich hielten die Schaufelräder in ihrem gleichmäßigen Takt, das Schiff kam in eine schwebende Bewegung, der Kahn vom jenseitigen Ufer tanzte schon in den aufgeregten Wogen näher, das Seil wurde vom 8 Bord den Schiffern zugeworfen, die Brücke herabgelassen und mit sicherer Haltung, den Sonnenschirm einlegend, stieg die Dame in den Kahn. Ein kurzes Brausen der Räder, ein geschicktes Auffangen des nachgeworfenen Koffers, ein Augenblick des bedenklichen Schwankens des noch gleichgewichtlosen Kahns und der Dampfer schoß weiter, der Kahn dem Ufer zu.

Die neugebaute St.-Maximinuskapelle wurde sonst vom Dampfschiff aus stark besucht. Heute traf es sich, daß die Schiffer nur diesen einzigen Passagier ans Ufer setzten.

Wie weit ist es bis St.-Wolfgang? fragte die Reisende, den Sonnenschirm wieder ausspannend und mit einem bestimmten und sichern Tone.

Zwei Stunden!

Bekomm’ ich einen Einspänner dorthin?

Gewiß!

Wo?

Im Weißen Roß!

Wollen Sie mich ins Weiße Roß führen?

Da liegt’s am Wasser!

Die kurz angebundene Sprecherin blickte hinüber und sah das Hotel „Au Cheval Blanc“ in großen Buchstaben angekündigt.

Den Schleier hatte sie jetzt zurückgeworfen, den Mantel abgenommen, den ein Schiffer beim Aussteigen über den Arm behielt, während der andere das Kofferchen auf die Schulter lud. Die über ein ausgelegtes Bret behend das Ufer Betretende zeigte sich zu Land und Wasser von gleicher Sicherheit.

9 Der Garten des Weißen Rosses geht fast bis dicht an das Ufer des hier mit besonderer Schönheit sich erweiternden, im Sonnenlicht glänzenden Stromes. Mit wenig Schritten durch den Sand war er erreicht.

Als alle drei in den Garten getreten waren, warteten die Schiffer weiterer Befehle …

Ein dicht an der Thür auf einer geebneten Terrasse unter einem anmuthigen, schattenreichen Baume gelegener Tisch schien diese zu entscheiden.

Die Dame bezahlte, ließ den Koffer neben sich hinstellen, befahl aber wegen eines Wagens den Wirth zu rufen. Noch rief sie dem einen der Schiffer, der deshalb ins Haus ging, nach, er möchte ihr auch „eine Kleinigkeit“ zu essen bestellen. Sie hatte an der Table d’hôte des Dampfschiffs nicht theilgenommen.

Einige Augenblicke war sie allein. Vor der steinernen Balustrade über die Terrasse auf- und abgehend und jetzt auch den Hut sich freier bindend, um wie von einer langen Gefangenschaft in der himmlischen Luft aufzuathmen, musterte sie die Gegend, die sie ohne Zweifel zum ersten mal sah und vom Lande aus noch viel entzückender finden mußte als vom Dampfschiff, das immer nur Panoramen gibt, in denen man sich, weil man eben zu viel sieht, meist ohne Befriedigung verliert … Nur die Gegend ist ja schön, die Eines gibt und das Andere ahnen läßt.

Die Schiffer kamen zurück mit dem Wirth.

Es wurde ein Einspänner behandelt, der die Dame nach dem zwei Meilen tiefer ins Innere hinein gelegenen Orte St.-Wolfgang führen sollte.

10 Bis zum Anspannen wünschte die Reisende ein mäßiges Mahl zu nehmen, dann die St.-Maximinuskapelle zu besuchen und von dort mit dem Wägelchen abgeholt zu werden. Sie erkundigte sich genau nach den üblichen Preisen, bedingte sich das, was sie zahlen wollte, mit großer Bestimmtheit und erklärte, das kleine Mahl, das sie in allen Einzelheiten specificirte, unter dem „schönen fruchtbeladenen Apfelbaum da“ und „an jenem Tisch“ einnehmen zu wollen.

Der Wirth ging. Die Reisende nahm jetzt den Hut vollends ab und warf ihn auf den ehemals weiß angestrichen gewesenen Tisch. Ihr Antlitz glühte. Mantel und Hut und Schleier hatten ihr heiß gemacht. Mit der ganzen Behaglichkeit, sich allein zu wissen, warf sie sich auf die harte Bank. Einem auf schwellender Ottomane Ruhenden konnte es nicht bequemer sein.

An die Reize der Natur schien sie sich bald gewöhnt zu haben, von einem langen Erstaunen überhaupt nicht viel zu halten. Nur zur Maximinuskapelle warf sie zuweilen einen prüfenden Blick. Dazu las sie, doch ohne besondern Eifer, dasjenige aus einem Führer, den sie aus ihrer kleinen, jetzt aufgeschlossenen Handtasche nahm, was über die Oertlichkeit, auf der sie sich befand, dort gesagt sein mochte.

Das Haupt aufstützend, zuweilen umblätternd, zuweilen nach einem Gegenstande auf dem Flusse, zuweilen rückwärtsblikkend, wo ein Tellergeklapper die Anstalten zu ihrem Mahle verrieth, erkennen wir sie. Es ist Lucinde … Drei Jahre älter, als wir sie verlassen haben.

11 Sie trägt das dunkle Haar in Flechten wie sonst, aber mit einem hohen Thurm, wie eine Krone; ihr Wuchs ist hoch wie sonst, aber elastischer in der Haltung; ihre Augen sind glühdunkel, doch etwas spitz und stechend; ihr Lächeln verschönt noch immer die frühern plastischen Formen der Nase, der Lippen, des Kinns, aber zuletzt verliert es sich in eine Bitterkeit um die Mundwinkel; ihr Unternehmungsgeist scheint wiedergekehrt, wie in der Zeit, wo sie zu Pferde saß; das ganze Wesen hat die alte Unreife und Unfertigkeit verloren, womit freilich auch der Reiz des Mädchenhaften abgestreift ist. Lucinde ist eine Dame geworden, zu deren Erscheinung unzertrennbar die Glacéhandschuhe zu gehören scheinen, die sie selbst während des Essens nicht abzieht.

Mit einer an ihr uns ganz neuen Versunkenheit in sich selbst, die auf eine mächtige innere Gedankenarbeit schließen läßt, hat sie bald das bestellte und von Kellnern gebrachte Mahl mechanisch eingenommen.

Zur letzten Schüssel war der Wirth zurückgekehrt und hatte auch den verlangten Wagen in Aussicht gestellt.

Kennen Sie den Pfarrer von St.-Wolfgang? fragte sie.

Von St.-Wolfgang? Gewiß!

Es ist ein Herr von Asselyn?

Von Asselyn!

Was wissen Sie von ihm?

Man nennt ihn einen Heiligen …

Ist er’s nicht?

Einen jungen Mann kann noch keiner einen Heiligen nennen!

Warum nicht? Wer heilig genannt werden will, 12 muß sich’s in der Jugend verdienen; im Alter sind wir alle Heilige!

Ein curioses Gespräch, das den Wirth lachen machte.

Der Wirth sprach fort, nur um zu sprechen oder die Fremde ferner so spaßhaft antworten zu machen. Er erzählte, daß die Dame in St.-Wolfgang zu einem Leichenbegängnisse ankommen würde.

Kein gutes Omen! Wer ist gestorben? fragte sie.

Ein Häusler, den die Leute in der Gegend für reich hielten, ohne daß er einen Pfennig mehr hinterlassen hat, als zu seinem Begräbniß nöthig sein wird.

So werden an seinem Grabe keine lachenden Erben stehen!

Lucinde war mit ihren Speisen schon fertig und wählte sich bereits von dem schönen Obst aus, das ihr auf einigen Tellern zum Dessert gebracht worden war.

In der kurzen, ihr jetzt eigenen inquisitorischen Art fragte sie, eine Birne schälend:

Wie konnte man einen Häusler für reich halten?

Man schickte ihm, erzählte der Wirth, was er brauchte, aus Welschland oder der Schweiz. Das übertrieben dann die Leute! Er hinterließ nichts als einen Sarg, den er sich selbst gezimmert hat. Er war nur in die Sechzig gekommen.

Seinen eigenen Sarg? fragte Lucinde und biß in die Birne.

Man erzählt’s, berichtete der Wirth. Den Sarg hat der alte Mevissen, so hieß er, in St.-Wolfgang in seiner eigenen Stube gehabt, hat auch drinnen schon seit Jahren geschlafen. Der Pfarrer hat ihm feierlich versprechen 13 müssen, ihn auch in diesem Sarge zu begraben und zu weihen. Er hat ihn wirklich sich selbst gezimmert! Da nichts Unheiliges dabei sein soll, so wird er wol heute gegen Abend in die Erde kommen in diesem seinem selbstgezimmerten Sarge.

Hm! Hm! Ei! Ei! sagte Lucinde.

Der Wirth bemerkte, daß sie ein scharfes Lächeln durch ihre Mienen spielen ließ.

Warum lachen Sie? fragte er.

Wenn der Mann vermögend war und sich um keine Erben kümmern wollte, so würd’ ich die Wände des Sarges untersuchen lassen. Es gab schon manchen Geizhals, der seinen Mammon in die andere Welt auf diese Art mit hinübergenommen hat!

Damit wählte sie zum Schälen eine zweite Birne. Sie warf sie weg, weil sie darin einen Wurm fand. Als sie von Würmern murmelte, konnte es ebenso sein als sagte sie: Die andere Welt … ich meine die Würmer!

Der Wirth mußte seine Teller, die er eben wegnehmen wollte, niedersetzen vor Befremden über diese Erklärung wegen des Sarges. Der Einfall der so kurz angebundenen Dame kam ihm nicht unwahrscheinlich vor und schon hatte er eine weitere Ausführung der Vermuthung begonnen, als er durch einen langgezogenen Ruf dicht in der Nähe unterbrochen wurde.

Man hörte die Worte rufen:

Figuri kauf! Figuri kauf!

Ein italienischer Gipsverkäufer ging mit einem Knaben unten an der Balustrade vorüber und bot hinauf-14grüßend seine Waare an, die er und sein Begleiter auf den Köpfen trugen. Diese Leute setzen bekanntlich voraus, daß man in einem Postwagen selbtsechs reisen kann und doch noch Platz findet, sich die Gruppe des Laokoon mitzunehmen. In Venedig rennen die Fischer den Fremden nach und bieten ihnen Frutti di Mare an, Seespinnen, Quallen und Krebse, die man, frisch wie sie vom Lido kommen, in ein Taschentuch binden und in seinem Hotel sich kochen lassen soll.

Miracolo! rief Lucinde den ältern Italiener an, ihres Gesprächs über den Sarg und die Wirkung auf den Wirth vom Weißen Roß nicht weiter achtend, Miracolo! Si vede che venite direttamente dalle Santa Casa di Loretto!

Sie deutete auf die nur mit Gegenständen religiöser Verehrung geschmückten beiden Tragbreter der Verkäufer.

Und noch ehe der Italiener erwiderte, fuhr sie fort:

Nessuna Minerva! Ne Amore col arco! Tutti santi del Cielo!

Nach der keine Antwort schuldig bleibenden Weise seines Volks erwiderte der Figurenhändler bejahend und lächelnd:

Si! Si, Signora! Siamo in un mondo pieno di peccati!

Sein Kleiner rief dazwischen:

Figuri kauf!

Lucinde erhob sich und betrachtete die Heiligen und Muttergottesbilder, die theils von geringem künstlerischen Werth und bunt bemalt waren, theils aber auch schönere Leistungen darboten, unter anderm die heilige Agnese aus 15 der Kirche Santa-Agnese vor den Thoren Roms, den Moses Michel Angelo’s, auch den altberühmten fast schon um seine Zehen geküßten Apostel Petrus aus der Peterskirche in Rom, der indessen leicht ein alter Janus sein kann mit dem Schlüssel nicht des Himmels, sondern des Tempels zu Krieg und Frieden.

Lucinde machte ihn gar zu einem Jupiter, worauf der Italiener in seiner Sprache erwiderte:

Mag sein, Signora! Aber jetzt ist er getauft und ein so guter Christ wie wir!

Inzwischen gingen beide schon einem Trupp Engländer entgegen, der soeben von der Maximinuskapelle herunterkam.

Der Wirth hörte allen diesen kurzen, aphoristischen Aeußerungen mit erhöhtem Interesse zu. Als er Lucinden einige bessere Birnen ausgesucht hatte und anbot, fragte sie:

Gibt es heuer ein gutes Jahr?

Schon setzte sie sich den Hut auf.

Die Frucht war leidlich! hieß es. Aber der Wein misräth! Die Leute erwarteten nichts Besseres!

Wie so? fragte sie und band sich die blauen Bänder in eine Schleife.

Wir haben hier einen Aberglauben, antwortete der Wirth. Am Himmelfahrtstage wird ein Crucifix vom Grunde der Kirche mit einer eisernen Kette in die Höhe gezogen. So viel mal die Kette dabei knackt, so viel Thaler wird der Malter Weizen kosten. Heuer knackte es achtzig mal. Es wird eine theuere Zeit!

In welcher Kirche geschieht dergleichen?

16 Aufrichtig, in keiner! Aber immer in jeder benachbarten! Ueberall nennt man eine andere Kirche und geschehen ist’s in keiner!

Brav! sagte Lucinde lachend. Das ist ja das ganze Wesen der Offenbarung und des Wunders auch!

Ohne aber diesen Satz weiter auszuführen, fragte sie nach ihrer Zeche, ihrem Fuhrwerk und dem Wege auf St.-Wolfgang.

Der Wirth wäre gern auf alle diese ihre sprungweisen Andeutungen, vorzugsweise aber auf das Begräbniß in einem mit Tresorscheinen und Staatspapieren gefüllten Sarge zurückgekommen …

Jetzt gab es aber wieder eine neue Störung.

Es schlich ein Knabe die Stufen des Gartens herauf und veranlaßte nun ihn selbst zu dem Anruf:

Scher’ er sich weg mit seiner Fuchserei!

Der barfüßige Knabe zog sich eine Stufe zurück.

Dabei hielt er einen kleinen, nicht sogleich erkennbaren Gegenstand hin und suchte die Fremde dafür zu interessiren.

Was hat er denn? fragte Lucinde. Fuchserei? Armer Junge! Was kann er für seine rothen Haare!

Da sitzt ihm der Fuchs nicht! fiel der Wirth ein, dem selbst die Röthe seines Antlitzes und der gute Wein, wie in jener Gegend vielen, bis in den Bart und in die Spitzen seines nur noch dünnen Haupthaars gedrungen zu sein schien.

Die Dame ist keine Engländerin! Mach’ er nur fort! fügte er hinzu.

Was hat er denn? fragte Lucinde.

17 Der Wirth wollte verhindern, daß Lucinde von dem Knaben in einem projectirten Handel betrogen wurde.

Der Spitzbube, sagte er, während der Knabe noch immer stand, verkauft alte römische Münzen, wie sie die Leute hier finden wollen. Sie sind aber nicht echt!

Lucinde, sogleich voll Heiterkeit der Nikolaus Carstens’schen Liebhaberei in Hamburg gedenkend, rief den Knaben zurück. Schon hatte sie einige wie uralt erscheinende mit grünem Rost beschlagene Kupfermünzen in der Hand und fand sie von einem so unbezweifelbaren Schein der Echtheit, daß sie für den Knaben Partei nahm und dem Wirth die Münzen entgegenhielt mit den Worten:

Die wären nicht echt? …

Woher sind die Münzen? wandte sie sich an den Knaben zurück.

Der Knabe zeigte in die Berge, die sich mit dem grünen Schmuck des Rebstocks bekleideten …

Da hast du sie gefunden?

Mein Vater! hieß es leise und unsicher.

Der Wirth drohte und meinte:

Wenn Sie’s glauben wollen, mir recht! Für zehn Groschen läßt er ihnen das ganze Münzcabinet seines Alten!

Der Knabe hatte fünf Münzen. Lucinde betrachtete sie und fand sie sämmtlich täuschend antik. Sie hatte ja eben gelesen, wie in diesen Gegenden sich auf Tritt und Schritt noch die Spuren der alten Römerzeit verrathen. Kirchen sind ja hier aus den Trümmern alter Castelle gebaut; Thürme, aus denen jetzt der Krahnen der Zollwage und das Wappenschild des städtischen Octrois 18 hervorragt, waren einst die Brustwehren der Besatzungen, die die Legionen des Drusus in den neubegründeten Niederlassungen zurückließen; Aschenkrüge zertrümmert täglich der Spaten des Weingärtners, der seinen Berieselungen in den Bergen ein neues Bett graben will; Münzen, die Augustus und Constantinus schlagen ließen, werden das Spielzeug der Kinder, denen es ganz gleich ist, ob sie „Fasseln“ mit Kieseln spielen oder mit Erinnerungen, die den Geschichtsforscher in Entzücken versetzen.

Der Wirth berichtete jedoch, daß es hier jetzt ganz schon wie in Italien wäre. Die Arbeiter im Felde entdeckten mehr Münzen, als zu den Zeiten der Legionen im Umsatz gewesen wären. Eiserne Töpfe voll könnte man in einer großen Stadt, auf deren Lage er hinunterzeigte, bei einem Juden finden, dem sie die Verschmitztheit der Bettler wieder abkaufte und, als eben aufgefunden und vom Pflug, dem Spaten, der Egge entdeckt, bei den Reisenden in Umlauf brächte.

Lucinde hielt die zerbröckelten, halb erdfahlen, halb grünen Münzen gegen das Licht, buchstabirte D R U S . . und A U G U S . . und D I V. und verglich die fast allein nur noch hervortretenden gewaltigen Nasen der Brustbilder mit den Vorstellungen, die man über Römerköpfe hat. Sie fand alles so ähnlich, so zutreffend, daß sie erstaunt erklärte, nicht an Verfälschung glauben zu können.

Und doch! setzte der Wirth hinzu. Die Münzen da können gestern noch ganz neu gewesen sein!

Gestern noch? rief Lucinde erstaunt.

19 Gestern! bestätigte der Wirth. Man drückt eine solche von dem Juden geschlagene Münze in einen Teig und nudelt damit die Gänse!

Was? Wie? Die Gänse?

Ich sage Ihnen, die Gänse! Und heute früh können die Dinger da den Gänsen erst abgegangen sein! So, wie sie jetzt da sind, kommen sie dann zum Vorschein! Grün und rostig und halb zerschmolzen!

Der Wirth schilderte ohne weitern Anstand den chemischen Proceß, nach welchem diese Münzen durch einen Gänsedarm hindurch binnen vierundzwanzig Stunden achtzehnhundert Jahre alt wurden.

Lucinde war aber schon in ein solches Gelächter ausgebrochen, daß er eine ausführlichere Erklärung nicht nöthig hatte.

Sie gab dem auf dem Sprunge stehenden Knaben ein Geschenk, nahm seine Münzen und rief:

Das muß ja der Ahasverus selber sein, der in der Stadt da drüben so die Jahrhunderte machen kann! Sie kennen doch die Sage von dem bösen Schuster, der einst dem Heiland die Erquickung des Ausruhens abschlug, als er sein Kreuz auf Golgatha tragen mußte? War das ein Herren- oder Damenschuster, ich kann es nicht sagen; aber in der Stadt da unten wohnt er jetzt und macht Münzen, die von gestern auf heute tausend Jahre alt sind! Und mit Hülfe des Vogels der Dummheit! Sehen Sie, wieder, wie schon einmal auf dem Capitol! Die Gänse sollen leben! Die Gänse! Es ist nicht ohne, daß der Doctor Martin Luther an dem Tage geboren wurde, wo man die erste Gans auf den Tisch bringt!

20 Dem Wirthe mochte der Ausbruch dieses Humors unverständlich, ja an einer Dame, der sich auf der Brust, wie sich eben beim Lachen gezeigt hatte, ein großes goldenes Kreuz an einem Bande aus der Chemisette losnestelte, fast unheimlich erscheinen. Dennoch machte er keine auffallend betroffene oder etwa den Vermittlerinnen des chemischen Processes, wodurch Neuestes zu Aeltestem werden kann, verwandte Miene, sondern bemerkte, daß er selbst ein Freund alter Münzen wäre, eine schöne Sammlung echter hätte und sie der jungen Dame, wenn sie es wünschte, vorlegen könnte.

Nein, nein, nein! rief sie in ihrem alten, wie wir wissen, die Grenze überschreitenden Humor. Wer bürgt mir für die Unschuld Ihrer Gänse? Sie nudeln sie auch mit Jahrhunderten! Sie sind unecht! Gewiß, gewiß!

Bitte! bemerkte der Wirth … Ich fand den größten Theil selbst.

Man hat sie Ihnen hingelegt, frisch aus dem Gänsestall!

Ich fand sie an ganz unzugänglichen Orten!

Sie irren sich! Was entscheidet denn an diesen fünf alten römischen Kupferdreiern, die ich hier der Hand halte und mir zum Andenken in meine Tasche schließe, daß sie nicht echt sind! Ihre Münzen, Herr Wirth, haben alle denselben Weg gemacht! Ob der Rost von der Magensäure einer Gans kommt oder von den allerdings längern Gedärmen wirklicher Jahrhunderte, ist all eins! Lassen Sie’s nur so und – glauben wir’s!

Jetzt setzte sie ihren Hut auf und band den Schleier darüber.

21 Beim Bezahlen ihrer Zeche erscholl plötzlich aus der Ferne ein lieblicher Gesang. Sanfte Accorde wallten durch die sonnige Luft. Es war ein Kirchengesang von jener getragenen Einfachheit, die etwas Kindliches und in den kurzen, zwischen den Strophen liegenden Pausen etwas Ländliches hat, nach Art der Schifferlieder auf den italienischen Seen.

Woher kommt denn das? fragte Lucinde.

Es sind die jungen Mädchen aus dem Englischen Fräuleinstift auf der Insel Lindenwerth drüben! sagte der Wirth und zeigte auf einen weit über den Spiegel des Stroms hinweg aufragenden Kirchthurm. Die Englischen Fräulein, setzte er erklärend hinzu, halten das Stift seit ein paar Jahren. Sie kommen oft mit den Kindern herüber in die neue Kapelle oben!

Lucinde blickte auf den schönen Bau, erinnerte an ihren Einspänner und wollte gehen.

Das Erbieten des, wie sie sah, nicht ungebildeten Wirthes, sie zu führen, lehnte sie mit der ihr wiederkehrenden Bestimmtheit ab. Der freundliche, von seinem Gaste, wie selten von einem solchen flüchtigen Ankömmling unterhaltene Mann hätte sie gern zurückgehalten, hätte gern, wie er selbst sagte, noch vom Sarg des alten Mevissen mit ihr gesprochen; aber sie hatte gezahlt, übergab zur Verladung vorn auf das Gefährt ihren Koffer, sah sich noch um, ob sie nichts vergessen hatte, und verließ, ohne weitere gemüthliche Anknüpfung mit der neuen Bekanntschaft, den Garten. Sie begab sich zwischen einer Reihe kleiner Sträucher und dem mit ruhigem Sonnenglanz überwobenen, von berg- und thal-22wärts gehenden Schiffen belebten Strom auf den am Ende des Ortes liegenden Hügel zur Kapelle des heiligen Maximinus. Fast war’s, als hätte der fromme Gesang sie gemahnt, ihrem bizarren und skeptischen Humor endlich Einhalt zu thun.

Vor einem am Aufgang zur Kapelle am Kreuz hängenden Erlöser wollte sie sich auch in Andacht verneigen, sah aber auf der unter ihm befindlichen Bank den Gipsfigurenhändler und seinen Sohn sich ausruhen.

Jener rief ihr freundlich winkend und die Stirn trocknend zu:

Fa caldo!

Kommt Ihr nicht ins Land hinein? fragte sie und zeigte über die Berge.

Si, Signora!

Nach Kocher am Fall?

Si! Si!

Kennt Ihr dort die Dechanei? An der Kathedrale St.-Zeno?

Der Italiener schien aufs angenehmste an einen seiner besten Kunden erinnert, den Dechanten von Asselyn.

Un compratore dei Santi? fragte sie scherzend.

Der Italiener schüttelte den Kopf und machte eine schlaue Miene, als wenn der Dechant einen völlig andern Geschmack hätte.

Lucinde horchte der Charakteristik des Dechanten von Kocher am Fall, sagte aber jetzt fast wie eine Fromme:

23 Kommt zu Lucinde Schwarz in Kocher am Fall! Ich wohne in der Dechanei des heiligen Zeno! Ich will Euch den Moses da des Michel Angelo abkaufen!

Der Italiener nickte befriedigt.

Lucinde stieg zur Kapelle empor.

24 2.#

Wie sie den wiederbeginnenden Klängen des Marianischen Lobgesangs folgend an noch einigen Leidensstationen vorüberging, mußte sie den schönen und malerisch gelegenen neuen Bau bewundern.

Alles, was nur die gothische Architektur zugleich an bedeutungsvollen wie lieblichen Elementen besitzt, war hier in einer reizenden Gesammtwirkung vereinigt. Wie hingehaucht stand das halb röthliche, halb hellgrüne Sandsteingebilde und verlor sich mit vier schlanken Thürmen, als wäre es befiedert, in die blaue Luft. Spitzbogenfenster, Spitzgiebel, Spitzdächer, alles war verziert mit steinernen Blumen und Blättern. Große durchbrochene Steinrosen schmückten die Thüren und Seitenwände. Ein terrassenförmiger kleiner Garten umgab die obere Spitze des Kreuzes, in dessen Form auch der ganze Bau sich erhob. Dieser Garten lud den müden Wanderer ein in den Schatten breitästiger Linden. Bienen summten, Käfer schwirrten. Einem Schmetterlinge nur brauchte Lucinde nachzugehen, der sie mit seinem Flatterfluge an die Pforte des festgegründeten schönen Gottes-25tempels, des Asyls des Unsterblichkeitsglaubens, fast ausdrücklich zu geleiten schien.

Die kleinen Sängerinnen waren verstummt. Sie befanden sich in der Kirche, die auch Lucinde betrat. Der Raum war drinnen eng. Zusammengedrückt schien das Ganze noch mehr zu werden durch eine fast zu reiche Verschwendung von Gold und Farbe. Lucinde fühlte sogleich, daß alles hier fast zu sinnlich, zu laut, zu unmittelbar auf den Eintretenden eindrängte; sie schlug indeß die Augen nieder, besprengte sich mit dem geweihten Wasser und kniete, fast geräuschvoll, an den Marmorstufen des Altars nieder.

Nachdem sie, wie andachtversunken, ihr Gebet verrichtet, erhob sie sich und musterte die Malereien. Auch zu einer Krypte stieg sie nieder, die ihr nicht minder beengend, fast furchterregend vorkam. Eine besondere Aufforderung zur Gottesandacht lag nicht in dem Eindruck dieses Innern eines so gefälligen Aeußern. Doch senkte sie die Wimpern und verrieth keine Kritik.

Die kleinen Mädchen der Pension von Lindenwerth, wol ihrer zwölf bis sechzehn an der Zahl, ließen den engen Raum des Gotteshauses von ihrer Neugier und Zerstreutheit nicht wenig widerhallen. Eine dem Orden der Englischen Fräulein angehörende Nonne und eine weltliche Lehrerin waren ihre Führer. Zuletzt verloren sich alle in eine Seitennische, in der sich noch das Gerüst eines Malers befand, dessen Pensum in der Ausschmückung der Wände hinter dem der andern Künstler zurückgeblieben war. Auch er malte um die Heiligen große goldene Teller in jenem Geschmack, der sich in sei-26ner Absicht allzu sehr verräth. Will man durch die Vorgänge der heiligen Geschichte das Gefühl der Andacht wecken, so müssen sie uns nicht als Wunder, sondern mit dem Zauber der Natürlichkeit und noch heute täglich möglichen Wirklichkeit entgegentreten.

Bei näherm Hinblick auf das Pensionat, das sich neugierig an den arbeitenden Maler verlor, schrak Lucinde zusammen. So nahe schon hatte sie sich ihren nächsten Zielen nicht geglaubt! Diese führten sie, wie sie ausdrücklich gewollt hatte, mitten in alles wieder zurück, was sie in ihren ersten Jugendtagen, vor dem Sinken ihres Sternes und dem neuen Aufgang in der orthopädischen Anstalt halb bewußtlos erlebt hatte. Nun erkannte sie schon in der weltlichen Lehrerin jene Angelika Müller, mit der sie einst vor sechs bis sieben Jahren ihre Reise nach Hamburg gemacht hatte. War also der Prophet von Eschede, Dr. Laurenz Püttmeyer, noch immer ohne Hegel’s Lehrstuhl für seine mathematische Philosophie? Beim Anblick dieser damals schon nicht mehr jungen, jetzt vollends verblühten, armen geistigen Tagelöhnerin trat ihr der todte Jérôme vor die Augen, wie er sitzen konnte und Würfel und Dreiecke schnitzelte und über jenes bekannte Pentagramm, das wir als Bierzeichen adoptirt haben, sich in die alten Wälder verlor, in denen einst dem Wodan Menschenopfer gebracht wurden … Die Lehrerin schien auch auf Veranlassung der obenerwähnten goldenen Teller eben mit dem Erläutern der Symbolik des Kreises beschäftigt und sah Lucinden nicht.

Diese fühlte sich vielleicht noch nicht stark genug, das volle Antlitz ihrer Vergangenheit wieder zu ertragen … 27 sie verließ die Kapelle und flüchtete sich fast in die warme und erquickende Luft zurück.

Ihr Wagen war noch nicht zu erblicken. So wandte sie sich der Altane der Kirche zu und nahm Platz auf einer der steinernen Bänke, die die schönste Aussicht boten. Sinnend über den Muth, den sie haben wollte, dicht so wieder an alles anzustreifen, was schon einmal für sie verhängnißvoll geworden war, sah sie kaum, wie nah unter ihr der belebte Strom mit seinen malerischen Ortschaften sich schlängelte, wie in der Ferne die Berge in ansehnliche Höhen stiegen und links und rechts zwei schroff emporgethürmte Felsen mit den Trümmerresten zweier alten Burgen wunderherrlich aufragten.

Nach einer Weile und während die Schülerinnen des Pensionats in der Kirche wieder einen neuen Gesang angestimmt hatten, bemerkte sie, daß sie auf der Altane nicht allein war.

Dicht an der von Epheu beschatteten Mauer der Kapelle standen in eifrigem Gespräch ein Soldat und ein ohne Zweifel zu dem lindenwerther Pensionat gehöriges junges Mädchen. In einiger Entfernung hielt sich ein Aelterer, nicht gerade ein Diener, auch kein Erzieher, aber jemand, der gleichsam zu wachen schien, daß das Zwiegespräch der beiden andern weder gestört noch vielleicht zu vertraulich wurde.

Das junge Mädchen trug die Kleidung des Pensionats, einen dunkelblauen leichten Sommerstoff, einen runden italienischen Strohhut und eine Tasche zur Aufbewahrung wahrscheinlich der Dinge, die das Englische Fräulein unterwegs nicht zum Unterhalt kaufen mochte; 28 überm Arm hing noch ein leichter Sommershawl. Sie war eine von den ältern der kleinen Karavane, deren Mitglieder, sah man sie einzeln, gereifter erschienen als in der Gesammtheit. Das Gute haben ja richtig geleitete weibliche Pensionate, daß die jungen Mädchen durch ihr Beisammensein sich länger kindlich erhalten und jene gefährliche Krisis der ersten erwachenden Temperamentsvorgänge glücklicher überwinden als in der die Frühreife zeitigenden, wenn auch traulichern Wärme des älterlichen Hauses.

Auch das junge Mädchen, das vielleicht sechzehn Jahre schon zählte, machte Lucinden einen Eindruck, als müßte sie es schon gesehen haben. Es war eine Erscheinung von eigenthümlichem Reiz; nicht zu groß, aber wohlgebaut und von einer Lebhaftigkeit im Auseinandersetzen, einer Innigkeit im Genuß dieser vertraulichen Zwiesprache mit dem jungen Krieger, die Lucinden sogleich so bitter lächeln machte, als hätte sie sagen mögen: Du kleiner Fratz, dergleichen erlebten wir einst ja auch! … Sie mochte jedoch die Glücklichen, die sich vielleicht vor dem Englischen Fräulein und Angelika Müller sicher glaubten, nicht stören … auch kamen ihr die Züge des Mädchens bekannt vor. Auf dem Streckbett konnte sie sie nicht gesehen haben und doch fiel ihr sogleich Paula von Dorste-Camphausen ein.

Der Soldat war kein Offizier, sondern ein gewöhnlicher Gemeiner; aber Lucinde wußte schon, daß es hier zu Lande sogenannte Freiwillige gab, die nur eine kurze Zeit der allgemeinen Militärpflicht genügten. Ihnen schien der junge Mann mit seinem schwarzen Bärtchen auf der 29 Oberlippe und dem kurzgeschnittenen, aber vollen Haarwuchs anzugehören. Er war groß, hatte etwas Festes und Bestimmtes und erinnerte Lucinden an den seither verschollenen Klingsohr, nur hatte er nicht das Wüste und Unschöne desselben. Etwas Studentisches schien ihr noch das grüngelbweiße Band, das er trotz der Montur, die offen stand, über seiner weißen Piquéweste hinweg trug; doch konnte er wol kaum noch der Universität angehören, falls überhaupt die Voraussetzung der sogenannten Freiwilligkeit die richtige war.

Der Wächter in der Ferne schien jedenfalls ein Stück vom echten Soldaten, aber auch zugleich ein Stück vom Jäger, ein Stück vom Landwirth, vom Bauer, selbst vom Bedienten, von allem etwas. Mit einem zusammengerollten Militärmantel, an dem ein Säbel befestigt war, ohne Zweifel Requisiten des jungen Kriegers, stand er an dem Eingange zum kleinen Garten, rechts und links lugend auf die Landstraße und nur im geheimen auf das plaudernde Paar. Im Regen und Sturm scheint er noch besser an seinem Platze zu sein; sein geröthetes Antlitz hat das Viereckige der Kopfform eines mit Ohrringen geschmückten Steuermannes auf hoher See. Wer weiß, ob diese Unruhe, die sich bald auf das eine, bald auf das andere Bein stellen muß, nicht von der Gewöhnung an die Schwankungen eines Schiffs kommt! Der Blick, den der Wächter, so eigenthümlich prüfend und den Mund in Falten ziehend, über den Strom auf einen neuen Dampfer wirft, der gerade anhält, um mehr Besucher der Maximinuskapelle auszusetzen, als heute die „Prinzessin Marianne“ gebracht hatte, ist gerade wie der 30 eines Mannes, der die vollkommene Berechtigung gehabt hätte, ebenso gut wie der geschniegelte Kapitän drüben, der Salzwasser vielleicht nie gekostet hat, „Stop“ zu rufen.

Lucinde suchte auch diese Gestalt irgendwo in ihrem Jugendwahntraume, wie sie ihr vergangenes Leben nannte, unterzubringen. Wie mußte sie erstaunen, als sie bemerkte, daß sie selbst es werden sollte, durch die plötzlich das stille harmonische Concert dieser drei Menschen unterbrochen wurde! Sie erblickte eben in der Ferne ihren Einspänner, erhob sich von der Bank, auf der sie ausgeruht hatte, und streifte an dem durch die kleinen Gartenanlagen daherkommenden Paare vorüber. Noch fielen einige der Worte des Gesprächs, das sich von seiten des Mädchens in einer kindlich harmlosen Welt zu bewegen schien, in ihr Ohr, als sie nicht wenig überrascht wurde von dem plötzlich innehaltenden Fluß der kleinen Sprecherin, die, die schönen dunkelbraunen Augen aufgerissen, auf sie zutrat und sie mit einem nur durch Verlegenheit abgebrochenen lauten und erschreckten: Ach! fast anredete.

Der Muth weiter zu sprechen fehlte zwar, die Verlegenheit etwas Ungehöriges gethan zu haben überwog, aber die Kleine wandte sich im Weitergehen dem Soldaten so vertraulich und schnell zu, daß Lucinde wohl sah, wie sie entweder mit jemand anderm eine auffallende Aehnlichkeit hatte oder auch dieser Kleinen wirklich bekannt sein mußte.

Indem kamen die übrigen Pensionsmitglieder zurück. Lucinde mochte zunächst dem an sich für sie selbst interesselosen Fräulein Müller nicht begegnen. Sie zog vor, sich 31 zu entfernen. Das junge Mädchen aber, das sich denn also doch, wie man nun sah, in keiner verbotenen Zwiesprache befunden hatte, sprang in die Reihen ihrer Gefährtinnen zurück und steckte so den Kopf mit den Köpfen der andern zusammen, daß sie nun sämmtlich neugierig auf Lucinden hinblickten; alle thaten, als müßten sie in ihr eine ihnen längst bekannte Erscheinung wiederfinden.

Das war Lucinden jetzt zu viel. Während die Führerinnen mit dem eleganten Soldaten sprachen, der mit Zuvorkommenheit und Lebhaftigkeit Auskunft über die Kapelle und die Gegend gab, suchte sie, von Fräulein Müller unbemerkt, den Ausgang.

Dem draußen harrenden Wächter sagte sie:

Geschwister waren das doch wol nicht?

Nein! war die einfache, kurze Antwort.

Der Kleinen scheint an mir etwas aufzufallen. Wer ist sie?

Ein Fräulein von Hülleshoven …

Hülleshoven? Armgart von Hülleshoven?

Armgart von Hülleshoven! bestätigte der Gefragte.

Dann ist der junge Mann Benno von Asselyn?

Zu Befehl!

Ich denke, Herr von Asselyn ist Advocat?

Allerdings.

Wie kommt er zur Uniform?

Herbstübung …

Damit brach der Mann ab. Man hatte ihn entweder gerufen oder er glaubte vielleicht nur, daß man dies gethan. Von dem jungen Paar schien er kein Auge zu verlieren.

32 Lucinde war wie in einer Betäubung. Ihr Entschluß war allerdings: Du wagst dich noch einmal in dein altes Leben zurück, siehst heller, was dir früher dunkel erschien, erschrickst vor keiner Begegnung mehr und wär’ es vor der der alten Hauptmännin von Buschbeck, ja vor der Oskar Binder’s nicht – in ihrem neuen religiösen Bekenntniß lag die außerordentlichste Kraft dieses Sichsicherfühlens – und dennoch wälzte sich ihr schon centnerschwer aufs Herz, sich zu sagen: Armgart von Hülleshoven gehörte den Kreisen von Schloß Neuhof an! Sie war eine der innigsten Beziehungen der Comtesse Paula! Sie kann noch den Kindeseindruck bewahrt haben von jener Pagode im Schloßteich, in die ich damals zu dem Federvieh aufgestiegen bin! … Benno von Asselyn war ein Cousin des Pfarrers zu St.-Wolfgang, jenes Bonaventura, bei dessen verhängnißvoller Priesterweihe sie vor einigen Jahren mit einer Entscheidung für ihr ganzes Leben zugegen gewesen war.

Am Fuße des Hügels fand sie ihr Wägelchen. Es war leichtester Art, nur für zwei Personen, die sich im Fall eines Regens vorn durch ein aufgeschlagenes Halbverdeck schützen konnten. Indeß behielt das Wetter seine gleiche Anmuth. Nur die Sonne senkte sich allmählich. Schon mochte es inzwischen über fünf Uhr geworden sein.

Ein Knecht aus dem Weißen Roß führte das leichte Gespann. Erst ging es um den Ort herum und die Anfänge der landeinwärts gehenden Straße rasch hinaus. Den vollen Genuß der üppigen, wie ein Garten ausgebreiteten Gegend konnte nur der Staub hindern. Die 33 Bäume am Wege trugen schwer an ihrer Aepfellast. In den Gärten prangten jene Blumen, die im Spätsommer durch Glut der Farbe ersetzen, was ihnen schon an Duft fehlt. Bienenstöcke standen unter Bedachungen mit jener geheimnißvollen Bienenkorbstille, die nicht ahnen läßt, was alles, und vollends nach Klingsohr’s Theorie, in ihnen vorgeht. Wonnig war der Rückblick auf das verlassene Oertchen, den im Luftäther blauglänzenden Strom, der sich in immer anmuthigern Windungen dem Auge darbot, je mehr sich die Straße emporzog.

Jetzt wurde die Straße steiler. Die Berge, die zwischen dem Strom und St.-Wolfgang lagen, waren höher, als sie das Ansehen gehabt hatten. Der Knecht stieg aus und zuletzt auch Lucinde, so sehr der Knecht versicherte, daß es nicht nöthig wäre. Doch war im Gehen und Stillstehen der Rückblick auf den immer noch sichtbaren Strom besser zu genießen.

Inzwischen bemerkte Lucinde, daß zwei der Bekanntschaften, die sie an der Maximinuskapelle gemacht hatte, ihr folgten. Auf kürzerm, die Sandstraße durchschneidenden Fußwege waren ihr Benno von Asselyn und sein Begleiter schon ziemlich nahe gekommen.

Sie unterhielten sich mit einer Reisegesellschaft, in der Lucinde den Gipsfigurenhändler, seinen Sohn und ein junges, schlank aufgeschossenes Mädchen erkannte, das Armgart von Hülleshoven nicht sein konnte. Ihre Vorräthe hatten die Verkäufer nicht mehr bei sich und fast schien es, als wenn ein langsam vor ihrem eigenen Wagen hinziehender Einspänner den Italienern gehörte. Dieser Wagen war so weiß gepudert wie die kurze graue 34 Jacke und die Manchesterhose, die der Alte und sein Knabe trugen. Das junge Mädchen aber war geschützt von einem großen breitrandigen Strohhute und schien die Frau oder die Tochter des Italieners zu sein, der seine lebhafte Rede mit Gesticulationen unterstützte.

Ueber das kahle Gestein hinweg, das mit dünnem Heidekraut und spärlichem, von weidenden Ziegen ausgerupften Grase bedeckt war, gab es für die fünf Fußwanderer leicht zu erklimmende Nebenwege, auf denen in kurzer Zeit wenigstens Lucindens Gefährt erreicht sein konnte; ja, wenn die Wanderer die in die Felsen rundum gehauene Landstraße jetzt ganz vermeiden wollten, konnten sie bei der Unabsehbarkeit des immer bergan gehenden Weges quer über eine große, hier von kleinen Wasserrinnen, dort von Felsblöcken bedeckte Wiese Lucinden ganz den Weg abschneiden und ihr zuvorkommen.

Sie schlugen auch diesen Weg ein, scheinbar unbekümmert um die bald überholte Wandererin auf der staubigen Landstraße. Lucinde pflückte vor Aufregung am Wege Kreuzkräuter und Rispengräser zu ihrem gewohnten Zerzupfen, das ihre Natur immer als Ableiter zu bedürfen schien, um die in ihr arbeitende Unruhe zu dämpfen. Sie zog die Gräser und ihre Samenkolben durch die Finger, biß sogar ihre Spitzen ab, warf sie weg und pflückte dann wieder neue. Der Sonnenschirm, der ihr zur Stütze diente, schleuderte manchen Stein aus dem Wege; manchen andern, wenn er ein hübsches Geäder zeigte, hob sie auf, betrachtete ihn eine Weile und ließ ihn gedankenlos wieder fallen.

Mit dem Knecht war sie schon lange in einem Ge-35spräch. Menschen neben sich zu haben, ohne zu wissen, was sie sind, treiben, wollen, denken, war nie ihre Art gewesen. Allem Stummen mußte sie irgendwie eine Sprache abgewinnen. Und der Knecht nahm an ihr ein gleiches Interesse. Auch ihm schien diese junge energische Dame eine Merkwürdigkeit. Wie Lucinde zerstörte, aus Kraftgefühl und ungeduldiger Spannung auf ihr nächstes Schicksal, jetzt auf die schon hoch über ihr hinwegschreitenden Wanderer, so auch dieser. Blatt um Blatt zerzupfte er einen Zweig, den er in der Hand hatte, machte erst eine Ruthe daraus und warf sie zuletzt weg, auch sich, wie es schien, aus grübelnden Gedanken aufraffend und wieder dann zur Peitsche greifend …

Die Umgebungen wurden waldig. Die Höhen endeten nicht; sie umkränzten mit dunklern und hellern grünen Schattirungen den des Stromes jetzt plötzlich beraubten Blick. Die Tannen waren vorherrschend und einzelne Ausläufer der Waldungen gingen quer über den Weg und durchschnitten ihn.

Das ist der St.-Wolfgangberg! sagte der Kutscher, klatschte mit der Peitsche und grüßte ein Marienbild, das am Wege stand. Dann lud er das Fräulein zum Sitzen ein. Sie würde ermüden und es ginge so wie eben noch viel zu lange fort.

Lucinde entdeckte aber gerade jetzt in ziemlicher Nähe die Wanderer, deren Mittelpunkt das junge, schlank aufgeschossene Mädchen geworden war. Schon wußte sie vom Kutscher, daß der Italiener mit zwei Söhnen und einer Tochter reiste; der zweite Sohn führte den Wagen, in dessen Kisten und Kasten die „Figuren“ verpackt waren. 36 Ihre kürzern Wege hatten sich an den Waldecken verfangen; sie mußten Schwenkungen machen, die sie aufhielten, und bald zwang sie die Landstraße, mit ihr auf gleicher Linie zu bleiben. Endlich stießen sie mit Lucinden zusammen und grüßten.

Sie haben gar keinen Vortheil von Ihrem Wagen, Signora! sagte der Italiener in gebrochenem Deutsch und hielt eine Zeit lang, die Wanderlustige grüßend, die Mütze in die Höhe.

Aber da seht, mein Gepäck hat Vortheil! erwiderte Lucinde zurückzeigend. Ist das Ihre Tochter?

Meine Tochter, Porzia Biancchi!

Porzia Biancchi? Ein stolzer Name! Freilich, sie wird in Rom geboren sein!

Nein, Signora! und sich an die Tochter wendend, fragte er italienisch:

War das schon in Castellungo?

Castellungo! erwiderte das junge Mädchen und erröthete unter dem braunen Incarnat ihres nicht schönen, aber gefälligen Antlitzes.

Wie? nahm, Lucinden grüßend, der junge Soldat, Benno von Asselyn, das Wort. Ihr wißt nicht einmal, Meister Biancchi, wo Eure Tochter geboren wurde?

Nein, Signore! sagte der Italiener in gebrochenem Deutsch. Als sie zur Welt kam, waren die Zeiten schlecht für mich! Ich lebte nicht in Italien!

Aha! Ihr wart auf der Flucht! sagte der Fragende, der etwas Festes, Sicheres und bei aller Lebendigkeit des Auges wieder Gelassenes hatte. Ich merke schon, daß Signor Biancchi ein alter Carbonaro ist! Trotzdem, 37 daß er auf deutsch Weiß heißt und so weiße Pierrotkleider trägt, daß mein Königsrock ganz an ihnen abfärbt, gehörte er doch ohne Zweifel zu der schwärzesten Carbonarosorte, zu der Loge der sogenannten Kesselschmiede! Nicht wahr?

Der zwischen Freund und Diener noch gänzlich unbestimmt schwankende Träger des mit dem Säbel, wie ein Portefeuille mit dem Bleistift, zusammengehaltenen Mantels putzte die Gipsflecken ab, die der Sprecher allerdings schon auf seiner Uniform trug.

Biancchi aber sah diesen über seinen ihm imputirten Carbonarismus groß an, schien davon betroffen und half sich mit dem dem Italiener eigenen klugen und pfiffigen Ausdruck der Mienen und einem Gestus, der nicht mehr und nicht weniger sagen wollte als: Das ist einer! Der hat eine scharfe Nase!

In der That verdiente Benno von Asselyn eine Würdigung, die, sozusagen, über seine Uniform hinausging. Es ist ein Nachtheil des Soldaten, daß auf ihn zu sehr das Horazische Nos numerus sumus („Wir zählen nur“) angewandt wird. Das Auge haftet an dem bunten Rock; der Mensch, das Individuum, das in ihm steckt, der Charakter, wird übersehen. Die Entwickelung des letztern, das ist wahr, ist beim Krieger gehemmt, aber darum fehlt sie nicht. Dieser Freiwillige und Gemeine saß vielleicht erst heute unter der Schere des Friseurs, der ihm die Haare so kurz aus dem Nacken schnitt; sein Barbier rasirte ihm einen Kinnbart fort, den er ebenso wenig nach Kocher am Fall zum „Stabe“ mitbringen durfte wie seine weiße Weste; aber einer im 38 Dutzend ist dieser junge Mann nicht. Die Ironie, die in der Betonung seiner Worte liegt, ist das Zeichen eines geistigen Ueberschusses. Er spricht aus der Fülle, nicht aus der Armuth. Sein dunkelblaues Auge spricht statt seiner, auch wenn er schweigt. Es spiegelt die ruhige Herrschaft über einen schon angesammelten Erfahrungsschatz. Fein, vornehm und doch natürlich ist sein Benehmen. Die Art, wie er jetzt seine Cigarrentasche zieht und um die Erlaubniß zum Rauchen bittet, hat einen so weltmännischen Schliff, daß sein Begleiter unversehens zu seinem Bedienten wird, obgleich er ihn wie einen intimsten Freund behandelt.

Da auch Benno von Asselyn bei der Erörterung über die Gegend, wo Castellungo läge, sich italienisch auszudrücken anfing, so wurde Biancchi sicherer und gestand allmählich, daß es ganz so im Ernst wäre, wie der Herr es im Scherze vermuthet hätte. Er selbst wäre ein Römer, seines Zeichens ein Bildhauer und der älteste von drei Brüdern, die allerdings alle mit ihm in die Gefahren gerathen gewesen wären, die plötzlich den Carbonaris gedroht hätten. Er hatte sich anfangs nach Piemont geflüchtet, in die Thäler, die sich vom Col de Tende nordwärts bis nach Turin und Aosta an den Fuß der Alpen ziehen.

Die Waldenserthäler! warf zu Lucindens Erstaunen der Begleiter Benno’s von Asselyn mit halber Stimme hinein.

Si! Si! sagte Biancchi mit schnellem Ton und erstaunend, dies Wort hier und aus solchem Munde zu vernehmen. In Castellungo bei Coni! Ganz recht, in einem 39 Dorfe, wo nur Ketzer wohnen! Bis 1821 ging’s soso … (er hielt die Hand vor die Augen und blinzelte durch die Finger, wie wenn er das Zeichen der Toleranz machte), aber Madre de Dio! Da Donner und Blitz in unsere „Baracca“! Die „Vendita“ geschlossen – Napoleone Biancchi reißaus! …

Ihr heißt Napoleone? fragte Benno von Asselyn und trat in Rücksicht auf seine der Heiligen Allianz angehörende Uniform zurück, als wollt’ er ihm den Kampf anbieten.

Und mit derselben schlagenden Geberde, gleichsam die Kriegserklärung aufnehmend, wiederholte der alte Biancchi mit Nachdruck:

Napoleone Biancchi!

Als der Friede zwischen dem Kaiserreich und den hohen Verbündeten durch das Lachen der Frauen wiederhergestellt war, erzählte der Alte, daß er seine Frau und Kinder hätte in Italien zurücklassen müssen. Er wäre erst nach der Schweiz geflüchtet, hätte sich dort zu ernähren gesucht, so gut es gegangen; seiner Frau hätte er nach Castellungo geschickt, was er erübrigte; dann, nach der Julirevolution, hätte er nach Italien zurückzukehren gewagt; er hätte sich zwar nicht aufs neue compromittirt, hätte aber doch, „da es auch in Italien nur Ein Rom gäbe“, vorgezogen, wieder sein Wanderleben anzutreten. Nach Rom hätte er nicht gedurft: so wäre er nach Deutschland gekommen, wohne bei Frankfurt am Main und verdiene sich so viel, daß er sich ein solches Pferd halten könne wie das, das da eben seine Vorräthe bergan ins rechtgläubige Land zöge.

Euere Frau kam Euch nicht nach? fragte Lucinde.

40 Signora, nein! antwortete Biancchi. Sie ist in Castellungo, hat einen Garten mit Oliven- und Maulbeerbäumen und einen Weinberg. Das Haus ist nicht groß genug für alle ihre Seidenwürmer. Sie verdient und spart für die Kinder. Frankfurt am Main hat ein schönes Klima, aber keine Seidenwürmer. Giuseppina schickt mir alle zwei Jahre einen Sohn herüber, erst den Camillo, der in Frankfurt das Geschäft führt, dann den Hortensio, der da die Peitsche in der Hand hält, jetzt den Catone, der hier mit mir geht und sich die Schuhe so schief tritt – Ecco, padrone, fa attentione! – und jetzt vor einigen Tagen erst die Porzia, die noch wenig Deutsch kann, ob sie’s gleich von einem Einsiedler in Castellungo hätte lernen können. Wie heißt der Heilige unter den alten Eichen von Castellungo? wandte er sich an seine Tochter.

Signore Federigo! antwortete diese. Sie hatte die den Italienern eigene tiefe, fast rauhe Stimme.

Benno von Asselyn bemerkte lächelnd und halblaut, aber für Lucinden hinlänglich vernehmbar:

Ja, Freund Biancchi, zähltet Ihr denn auch die Kinder richtig, daß Euch die Giuseppina nicht einmal mehr aus Italien herausschickt, als Ihr bei ihr zurückgelassen habt?

Biancchi versicherte, daß er ein vortreffliches Weib hätte, aber ihrer Seidenwürmer wegen müßten sie getrennt leben.

Nein, nein, Napoleone! fuhr Benno von Asselyn in seinem Scherze fort. Ich bewundere Euere Ruhe! Könnt Ihr zufriedene Nächte haben? Dieser Federigo! 41 Wer ist das? Ein Deutscher, der unter den heiligen Eichen von Castellungo wohnt?

Sein Auge suchte dabei Porzia. Diese verständigte sich in dem wenigen Deutsch, das sie von jenem Einsiedler gelernt hatte, gerade mit dem Manne, der ein Diener schien und doch etwas von den piemontesischen Waldensern gewußt hatte.

Der seine Stiefel schief laufende Catone schien dem Alten für etwaige väterliche Besorgnisse nicht ausreichender Wächter genug. Er suchte seiner Tochter näher zu kommen. So hörten diese kleinen scherzhaften Reibungen auf.

Benno von Asselyn wandte sich jetzt verbindlicher zu Lucinden. Er begann von der Maximinuskapelle und bald war Armgart von Hülleshoven erwähnt.

Ein liebliches Kind! Wie alt mag sie sein?

Ich denke, vierzehn … funfzehn Jahre …

Von einem Mädchen, das man liebt, weiß man die Minute, wann sie geboren ist!

Das man liebt? Zu meiner Heimat drüben gibt es gar keine Liebe, Fräulein! Man hat sich gern und bleibt hübsch vernünftig!

Sie sind also auch aus dem Land des Plattdeutschen?

Kennen Sie das?

Lucinde schwieg. Sie merkte, daß man sie an der Maximinuskapelle entweder für eine andere gehalten haben mußte oder wenigstens an Benno von Asselyn nicht mitgetheilt hatte, was allenfalls Angelika Müller von ihr wußte. Hatte doch Paula von Dorste-Camphausen ein Jahr lang, wo sie auf dem Streckbett lag, 42 nie in ihr die ehemalige Bewohnerin von Schloß Neuhof erkannt. Wie hätte dies Armgart thun können, die um fünf bis sechs Jahre jünger war?

Wenn Sie, sagte Benno, Armgart’s Heimat kennen, so werden Sie überall, wo der Himmel graublau, die Luft von einem ewigen brandigen Nebel erfüllt ist, einem Nebel …

Ha! Was ist das? unterbrach er sich plötzlich und rief:

Hedemann! Hedemann! Man möchte ja glauben, wir wären hier auf der rothen Erde?

Er deutete auf die Landschaft hinaus.

Linker Hand drang den Wanderern aus einer Abdachung des Berges ein brandiger Geruch entgegen. Hinter den Bäumen sah man den Himmel weither von einem grauen Nebel überzogen.

Hedemann! wiederholte Benno, sich seinem wandernden Begleiter zuwendend. Wo kommt hier Haarrauch her?

Der angerufene Hedemann erläuterte, daß die Leute hier das verkrüppelte Knieholz der Eichen abbrechen, abrinden, die Rinde den Gerbern als Lohmaterial verkaufen; die Wurzeln der Stämme, diese selbst, die Abfälle, das Gras und das rings wachsende Kraut würden dann verbrannt und die Asche als Dünger ausgestreut, sodaß wenigstens für Gerste und Hafer ein künftiger Anbau auf solchen mit doppeltem Nutzen ausgerodeten Walddistricten sich ermöglichen ließ. Also kein Haarrauch! sagte auf diese Erläuterung hin Benno fast elegisch.

43 Man sah die Feuerstellen, von denen aus sich der Rauch verbreitete.

Mein Fräulein! nahm er darauf seine Rede wieder auf; Sie wissen vielleicht nicht, daß bei uns drüben die Sümpfe nicht austrocknen können, ohne nicht oft in Brand zu gerathen. Die Flammen sieht man nicht, aber die Erde dampft und brennt immer fort von diesem unterirdisch glühenden Torf. Ihnen würde es drüben sein, als wenn Sie verurtheilt wären, Ihr Leben lang in einer Stube mit einem rauchenden Ofen zu leben. Uns aber ist dieser Rauch ein Arom wie Patschouli. Wir ziehen ihn schon mit der Geburt ein und wenn wir in der Ferne stürben, würden wir glauben Paradiesesluft zu athmen, wenn plötzlich neben uns ein Kohlenbecken hingestellt würde und man darauf etwa ein Stück alten Pappendeckels langsam und feierlich anzündete. Wenn unsere Landsmannschaft auf der Universität jährlich ihren großen Commers abhielt, bestand das Bouquet des Abends, nachdem der Landesvater gesungen, darin, daß wir die Fenster aufrissen und den Qualm eines draußen angezündeten Haufens Torf einathmeten. Dann fielen wir uns in die Arme und stießen zwischen Thränen und Schluchzen Ausrufungen und Freudengeschreie aus, als wenn die Römer sich dem Teutoburger Walde nahten und wir unsere Aexte und Streitkolben um die langen blonden Locken schwängen, weil es zum Kampfe ging für Freiheit, Vaterland und Buchweizengrütze! Das ist nämlich unser Nationalessen, Fräulein! Schon Thusnelde soll es gekocht haben, wenn sie wünschte, daß Arminius guter Laune war.

44 Lucinde glaubte Klingsohrn zu hören; selbst Jérôme stand vor ihr … Dennoch war Benno von Asselyn ein völlig anderer. Auch die Erwähnung der blonden Locken paßte gar nicht auf ihn, da sein Haar schwarz war und sein ganzes Wesen eher südländisch als nordisch schien.

Sie wollte dies auch aussprechen, aber der Rauch, der von dem verwüsteten Felde herüberdrang, erstickte ihr fast die Stimme. Auch setzten sich eben die Italiener sämmtlich in ihren Wagen und auch Lucindens Kutscher hielt, weil der Weg nun bergab ging, sein Roß an und öffnete den Schlag. Ihre Einladung an Benno und Hedemann, sich mit einzusetzen – soweit es neben ihr und auf dem Bocke Platz gab – wurde von diesen artig abgelehnt.

So rollte sie von dannen.

All ihr Denken schien jetzt tief innenwärts gewandt. Sie schlug den Schleier über ihren Hut, weniger um sich gegen den vom raschen Herabrollen des Wagens aufwirbelnden Staub zu schützen, als um ungestörter denken und träumen zu können.

Ja, es war ihr doch, als begann sie jetzt zum zweiten mal zu leben, aufzuwachen im Grabe, eine Auferstehung von den Todten!

Drei Jahre einer nicht etwa erfahrungsarmen, aber doch sehr in sich selbst bedingten Zeit lagen hinter ihr. Sie hatte sie an den Streckbetten der Jugend zugebracht. Eine Dulderin war sie nicht; sich beugen, sich gefangen geben hätte sie nur da gekonnt, wo ein stärkerer Arm sie faßte, wenn auch nur ein Serlo, der sie regiert hatte, obgleich er ein Sterbender gewesen … Eine Zeit lang 45 reichte aus den Wolken ein solcher Arm; sie suchte ihn zu fassen, sich an ihm zu halten; es war das erste leidenschaftlich bewegte Jahr ihres Wirkens im „Correctionshause der Natur“ gewesen. Diese Hoffnung schlug fehl und die Getäuschte brauchte zwei Jahre, sich zu sammeln und ins Leben zurückzufinden. Man hatte sie unter den Kindern gewähren lassen, nachdem sie über die Krisis, um Paula’s von Dorste-Camphausen willen entfernt zu werden, durch den plötzlichen Tod des Vaters derselben, des Grafen Joseph auf Westerhof, glücklich hinweggekommen war. Denn Paula, die die Menschen in zwei Klassen schied, in solche, die ihre Nerven gleichsam mit der Hand von oben nach unten strichen und sanft auf sie wirkten, und solche, die sie von unten nach oben strichen und sie aufregten und beunruhigten, Paula erkannte in Lucinden zuletzt ein Wesen, das sie, wenn sie länger vereint blieben, zum Steine hätte umwandeln, ja tödten müssen … Sie sagte dies selbst niemals, nur die Beobachtenden fühlten dies, und vor allem entschied Bonaventura von Asselyn, der junge Priester, die Trennung, entschied sie in demselben Augenblicke, wo sie sich durch die Rückkehr Paula’s zu den Ihrigen und unter die Vormundschaft des Kronsyndikus von Wittekind, ihres Oheims, von selbst vollzog … Zwei Jahre brauchte Lucinde, um diese Kämpfe zu verwinden, und es war vielleicht ihre beste Zeit, die Zeit wenigstens, wo man ihr Wesen ertragen konnte; sie war die eifrigste Kirchengängerin, wurde von den Geistlichen in Schutz genommen und hatte sogar Gönnerinnen, was ihr von Frauen bisher im Leben noch nicht geschehen 46 war. Da schlug eines Tages der Name einer Frau von Gülpen an ihr Ohr. Fräulein! rief sie berichtigend in ihrer Erstarrung auf. Aber: Frau von Gülpen! hieß es. Sie war die langjährige Freundin eines Dechanten von Asselyn zu Kocher am Fall, einem Städtchen ältesten Ursprungs und zwanzig Meilen weit von dem Ort ihres gegenwärtigen Wirkens … Asselyn! war der zweite elektrische Schlag. Der Onkel jenes erstandenen Serlo? … Frau von Gülpen suchte für Kocher am Fall eine Gesellschafterin … Die Gesellschafterin der Gesellschafterin eines Geistlichen … Er hieß Asselyn! Sie Gülpen! … So entschied sie sich und alle ihre Pulse schlugen und tausend wilde Stimmen riefen in ihr: Ja, rauschet noch einmal auf, ihr Pforten der Vergangenheit! Jetzt will ich unter euch hintreten wie eine Königin! Will Trotz bieten jedem Auge, das verwundert mich anstarrt! Dies Kreuz hier auf der Brust entsühnt jede Schuld! Das geweihte Wasser an jeder Kirchenthür reinigt meinen Ruf von jedem Flecken! Wiedergeboren bin ich und gefeyt durch das Blut des Erlösers und der Martyrer! Wer mich anschuldigt, der sehe, ich breche zuerst den Stab über mich! Nichts berührt mich vom Vergangenen auch nur bis zum Saum meines Kleides! Wo ist eine Anklage wider mich? Ich will sie hören! Dann aber habe ich Anklagen wider euch! Entlarven kann ich Mörder, aufstöbern aus Schlupfwinkeln Heuchler … Eine Siegerin komm’ ich, nachdem ich so tiefe Niederlagen erlitten … Und die letzte Niederlage, an die sie dabei dachte, war nicht etwa jener Tag, wo sie die Jungfrau von Orleans gespielt.

47 So gestimmt trat sie noch heute vom Dampfboot.

Klopfte ihr aber schon das Herz, als sie hörte, St.-Wolfgang läge zwei Meilen ins Land hinein, erschreckte sie der bloße Anruf eines Kindes, das sie wiederzuerkennen schien, wogte und stürmte es in ihr bei der Begegnung mit Benno, beugte sie alles, was ihr fremd, neu war und doch mit dem, was sie wiedersehen wollte, im Zusammenhange stand, so kam sie sich jetzt schon wieder als eine Magd, nicht als Königin vor, jetzt, wo sie sich dem Orte näherte, von dem man ihr aus Kocher am Fall geschrieben hatte:

Sie werden, meine Liebe, nur nöthig haben, vom Dampfboot aus einen Einspänner bis St.-Wolfgang zu nehmen. Dort ist schon unser Neveu, Herr Pfarrer von Asselyn, unterrichtet und hält einen Wagen in Bereitschaft, Sie in unsern Kreis zu führen! Gewisse Bedingungen gleich anfangs mündlich! In der Hauptfrage sind wir einverstanden.
Petronella von Gülpen.

Die Gülpen, die sie kannte, hatte Brigitte geheißen …

Jetzt blickte sie auf. Die Gegend hatte sich verändert. Vor ihr lag, von den Abendsonnenstrahlen nur noch in seinen obern Rändern erhellt, ein schönes tiefes Thal, das wie eine Muschel mit grünen Streifen in die rings sich verlierenden Berge auslief. Aus dem tiefsten grünen Kern des freundlichen Anblicks ragte die Spitze eines Kirchthurms, von dem ein Läuten ertönte. Je mehr, vom Hemmschuh aufgehalten, der Wagen niederwärts rollte, desto reicher wurde wieder die Vege-48tation, desto voller und edler der Baumschlag, desto weiter die Fläche, von der schon längst das in gleichmäßigem Anbau gewonnene Getreide geerntet war. Die Landschaft trug nicht den fast italienischen Charakter derjenigen, die sich um den großen poetischen Strom ausgebreitet; aber auch der betrübende Anblick eines rings von Bergen umschlossenen Gebirgsdorfes, den man fast auf der Herfahrt hätte erwarten dürfen, bestätigte sich nicht. Gärten kamen wieder und Bienenstöcke, mit ihnen Blumen und selbst die Rebe schmiegte sich nicht nur an einem Spalier den Häusern an, sondern wuchs an sonnigen Abdachungen selbst noch in mancher gefälligen Einzelpflanzung.

Das Läuten bedeutete ohne Zweifel, daß jenes schon im Weißen Roß besprochene Begräbniß in vollem Gange war. Auch Stimmen singender Kinder drangen aus dem Thal empor, zuweilen unterbrochen von einem Klingeln, das den Moment der wol gerade vor dem Altar bei geöffneten Kirchthüren stattfindenden Einsegnung der Leiche bezeichnete.

Indem riefen ihr die nachrollenden Italiener hinterwärts ein Lebewohl zu. Sie deuteten auf ein Wirthshaus am Wege, wo sie ihren schwerer ziehenden Gaul füttern wollten.

Vergessen Sie nicht – Il Michelangelo! rief Napoleone als guter Kaufmann ihr nach.

Beim Dechanten! antwortete sie, aber schon unvernehmbar.

Catone zog seine kalkige Mütze, Porzia verneigte sich und machte eine Handbewegung. Sie jedoch sah nichts mehr. Ihr schwindelten die Sinne …

49 An dem Wirthshause standen Handwerksbursche, Bauern in Kitteln und Blousen, manche mit Militärmützen, die sich wie Benno von Asselyn zu den Uebungen einstellten; ein Gensdarm revidirte von seinem Gaule aus Wanderbücher und Passirscheine. Die Italiener zogen schon ihre Papiere in der Ferne …

Beim Anblick der Fuhrleute, die wol hier, um über den Wolfgangsberg zu kommen, Vorspann nahmen, kam ihr eine Erinnerung an die Bäche von Langen-Nauenheim …

Sie nahm ihre Handtasche, öffnete und zog ein schwarzes Buch mit Goldschnitt hervor, schlug es auf und schickte sich an zu lesen.

Die Worte des heiligen Bernhard las sie:

„Unsere Gedanken an selig Entschlafene sind Funken, durch welche unsere eigenen Seelen gehoben und entzündet werden“ … Worte, die den Anfang einer Betrachtung über die Todten bildeten.

Sie ganz zu lesen war sie zu erregt.

Die Litaneien wurden in dem Ausdruck ihrer Sätze immer deutlicher.

Schon war der Leichenzug aus der Kirche auf dem Gottesacker angekommen, schon war eine zahlreiche Bevölkerung um den aufgeworfenen Grabeshügel versammelt …

Lucinde befahl mit stockender Stimme, daß während der heiligen Handlung sie still hielten …

Jetzt trennte sie nur noch eine niedrige Mauer von dem Friedhofe …

50 Der Wagen hielt unter dem bergenden Schatten eines breitastigen Nußbaums …

Vor ihr stand im weißen Meßgewande, unter Knaben im Chorrock, die brennende Kerzen trugen und das dampfende Weihrauchfaß schwangen, Bonaventura von Asselyn.

Seit drei Jahren sah sie, an ihn gedenkend, nicht mehr Serlo.

Längst war er – Er selbst!

51 3.#

Nach den Segnungen, die dem Sarge schon in der Wohnung des Verstorbenen zu Theil geworden, nach den Weihen vor dem Altar spricht soeben eine sanfte wohllautende Stimme noch vor der Einsenkung in die Grube Worte, die zu dem Ceremoniel der Kirche die eigenen Empfindungen des Redners bringen.

Man konnte die Rede, die der am Fußende des Sarges stehende, von dem letzten Abendsonnenglanz beleuchtete Priester sprach – der Entschlafene selbst mußte dem Brauche der Kirche gemäß gen Osten blicken –, deutlich vernehmen.

Sein Aeußeres hatte sich wenig verändert. Es waren dieselben, nur gefestigtern Züge, die Lucinden vor drei Jahren an eine Geistererscheinung, an Serlo’s Tod als Traum oder an dessen Auferstehung, glauben ließen.

Es war dieser mildeste aller Priester, den sie selbst hatte weihen sehen mit Joseph Niggl und Beda Hunnius – sie hatte diese Namen so fest behalten wie die Unterscheidungslehren der Confessionen, in denen sie sechs Wochen später geprüft wurde zu ihrem Uebertritt.

52 Heute standen keine jungen Kleriker, sondern weißgekleidete Kinder, Knaben und Mädchen, um Bonaventura. Er war es wieder, Er, ein Jahr lang die Liebe und das Entzücken der ganzen Stadt, aus der sie nun erst kam, kommen durfte!

Selten lag auch wol auf dem Antlitz eines Jünglings so viel Adel, so viel Glanz und Glorienschein schon in jungen Jahren …

Bonaventura von Asselyn, der einst angesehenen, weitverbreiteten und aus dem Friesischen stammenden Familie dieses Namens angehörend, hatte aus einer durch Familienverhältnisse, vorzugsweise ein unglückliches Ende seines Vaters und die Neuvermählung seiner Mutter, deren einziger Sohn er war (mit dem Oberregierungsrath Friedrich von Wittekind-Neuhof), genährten Schwärmerei den Offizierstand, in den er, bisher Zögling der nahe gelegenen Universität, eben eintreten sollte, mit dem geistlichen Seminar vertauscht und war nach dem südlichen Deutschland gegangen, um in Kreisen strengerer und ungehinderterer Katholicität seine Bildung zu vollenden. In der Stadt, wo ihm der Bischof die Weihe gab, hatte er am Altar und im Beichtstuhl die größten Erfolge gewinnen können, aber er zog erst die Kaplanei bei seinem edeln Wohlthäter, dem Dechanten von St.-Zeno im nahen Kocher am Fall, dem Bruder seines Vaters, dann eine kleine bescheidene idyllisch gelegene Landpfarre vor.

Lucinde fand dieselbe Erscheinung wie sonst, nur männlicher, fester, ernster. Sein Wuchs war schlank wie die Tanne, das Haupt leise übergebeugt, doch edel und 53 freiblickend und auch jetzt in die mit rosigen Wolken sich säumende Ferne wie in das Jenseits schauend. Wie weich und weiß mußten diese Hände sein, die in maßvoller Bewegung die bedeutendern Gedanken seiner Rede unterstützten! Wie schön stand dem leise gerötheten Antlitz der milde Schwärmerblick, der aus dem tiefsten Innern der Seele zu kommen schien! Wie schien er in gläubiger Zuversicht das Ewige leibhaftig vor sich zu sehen!

Ein sinnend Haupt! Ein edel Angesicht!
Ein Auge, das sogleich zum Herzen spricht!
Das Haar wie Rabenfedern! Unbeschnitten
So weit es strenge Priesterregeln litten!
Ein Leiden in der Miene, still entsagend!
Ein Bitteblick wie des Erlösers Flehn,
Da er zum Vater sprach im Garten klagend:
Lass’ diesen Kelch an mir vorübergehn!
Die Stirne rund, die Wange ein Oval!
Bald blaß, bald von der Seele Glutenstrahl
Mild überhaucht mit frischen Rosenlichtern!
So leuchtend nur bei Denkern und bei Dichtern!

So stand Bonaventura einst vor des Erzählers Auge, als er sein Leben in Versen schildern wollte und, übermannt vom Stoffe, die Feder niederlegte …

Bonaventura von Asselyn sprach von dem Verstorbenen wie von einem heimgegangenen Freunde. Er nannte den alten Joseph Mevissen, dem zu Liebe, weil gerade der hier wohnte, er diese Pfarrei besonders gern gewählt, einen Führer seiner Jugend, nannte ihn den Diener seines verstorbenen und, wie alle Welt um ihn her 54 wußte, auf einer Alpenreise so furchtbar unglücklich verkommenen Vaters. Jene Thatsächlichkeit, die in den Reden katholischer Geistlichen oft maßlos die Grenzen des Schicklichen überschreitet, die aber auch, richtig angewandt, ebenso das oft nur allzu Allgemeine der protestantischen Predigtweise vermeidet, war hier begründet durch den allgemeinen Antheil und die eigene dankverpflichtete Stellung des Redners zu dem Abgeschiedenen.

Mevissen war ein armer Häusler gewesen, lebte von kleinen Arbeiten der Tischlerei, die er in jungen Jahren gelernt hatte, ehe er dem Vater Bonaventura’s auf jener Reise folgte, von der Friedrich von Asselyn nicht wieder zurückkehrte. In leiser Andeutung und nicht etwa sein eigenes Leid zu sehr hervorstellend, kam der junge Redner auf diese allen ihn Umstehenden bekannten Vorgänge. Er pries den Antheil, die Hingebung, die Treue des Verstorbenen, die er dem Vater und dann ihm selbst bewiesen. Er sprach, angeregt von der Erinnerung an jene Zeit, wo ihm als Knaben zum ersten mal das Bild seines in einem Schneeabgrunde des großen St.-Bernhard todtgefundenen Vaters entgegentrat und seine Neigung für den geistlichen Beruf entschied, über die dunkeln Kerkerwände des Todes, über die stille Gemeinsamkeit, in der die Leiber ruhen und einst schon so in alter römischer Zeit, in den Katakomben, die Gebeine der heimlich begrabenen Märtyrer ruhten … über den Sarg, den sich der alte Freund seiner Jugend und des ganzen Dorfes selbst gezimmert und in dem er wie in einem Bett nächtlich schon gleich manchem Heiligen geschlafen hätte; – er verglich den Tod mit dem Schlummer, 55 seiner Erquickung, seinen Träumen, seinem Erwachen. All diese Gedankenreihen folgten sich natürlich, ohne Prunk, mit einfachen Bildern, in jener sich auf Sprüche der Bibel und der Kirchenväter stützenden Redeweise, die den Zusammenhang des eigenen Ichs, das sich nicht vordrängen soll, mit der Lehre und den Beispielen des kirchlich Gebotenen nicht vergißt und allem Abschweifen persönlicher Einfälle durch bestimmt vorgezeichnete Formeln und Gebete ein Ende macht.

Dreimal besprengte dann der Priester den Sarg mit Weihwasser, schwang über ihm das Rauchfaß, warf drei Hände voll Erde auf ihn und endete mit den Worten:

Aus der Erde hast du mich gebildet; mit Fleisch hast du mich umkleidet; erwecke mich wieder, mein Erlöser!

Nach dem „Amen!“ war die Handlung vorüber; die Menge zerstreute sich; der von Bonaventura unter den niederhängenden, weitschattenden Wallnußästen kaum bemerkte Wagen rollte weiter; Lucinde wußte nicht, wie sie unter den Eindrücken, die ihr Inneres bestürmten, in dem Wirthshause des Ortes ankam.

Aus Blech geschnitten, hing über der Thür desselben neben der großen Einfahrt des bescheidenen Hauses ein Stern …

Das Verlangen nach einem Zimmer war bald befriedigt, der Kutscher wurde bezahlt und Lucinde war mit ihren Reiseeffecten, aber auch mit der schweren Aufgabe allein, dem Priester, der sie kannte, aber auch ganz kannte, wie sie war, wie sie sich selber vielleicht nicht kannte, nach zwei Jahren wieder entgegenzutreten.

56 In dem kleinen Raume, hinter dem Fenster mit den zerkritzelten grünblauen Scheiben, in der Umgebung an den Wänden hängender Schildereien, die in Lithographieen und mit Wasserfarben jene überschwenglichen mystischen Anschauungen eines durch alle Himmel ausgebreiteten Rosenkranzes als einer Weltherrschaft der über der Erdkugel und dem Monde thronenden Mutter Gottes, mit der Sonne selbst als Strahlenkrone, darstellten, lange zu verweilen, wäre ihrem unruhigen Charakter nicht möglich gewesen.

St.-Wolfgang war ein freundliches, angenehmes, jetzt sogar durch die sich zerstreuende Menge belebtes Dorf.

Das war in allen Winkeln und den vor dem Wirthshause zum Stern ausmündenden Gäßchen des Ortes eine Rückkehr zur Freude am Dasein! Doch verwunderte sie diese nicht. Auch diese Eigenschaft ihres neuen Glaubens kannte die Convertitin schon, daß in ihm nach dem Tribut, den man den himmlischen Pflichten gezollt, eine muntere Rückkehr zur Freude am Irdischen gestattet sein sollte.

In einem an das Wirthshaus sich lehnenden Obstgarten mit Bänken und Tischen bemerkte sie schon manche Gruppe, die sich gebildet hatte, um an dem trefflichen Wein der Gegend sich zu erquicken. Auch der Knecht, der erst am andern Morgen zurückkehren zu wollen erklärt hatte, da er behauptete, sein Gaul hätte sich unterwegs einen Stein eingetreten und bedürfte der Ruhe, stand schon mit angezündeter Pfeife unter den Gästen, zu denen sich, in leichter gelüfteter Kleidung, wie wenn er entweder hier wohnte oder doch übernach-57tete, und gleichfalls mit brennender kurzer Pfeife, der Gensdarm gesellte, der oben am Berge die Passirscheine revidirt hatte.

Die Sonne vergoldete nur noch die Zifferblätter des Kirchthurms und zeigte die Abendstunde, die bald auch von der Glocke zur Abhaltung der Vespergebete gemeldet wurde. Lucinde hatte gelernt, daß in diesem Augenblick des Angelusgebets ringsum die ganze Erde, so weit katholische Christen wohnen, gleichsam ein Gürtel von Gebeten walle, dem sich kein Gläubiger entziehen dürfte. Sie kannte das Angelus sogar in lateinischer Sprache. Doch folgte sie, da sie sich allein wußte, dem Beispiel des zuweilen zu ihr hinaufschielenden Gensdarmen unten, der seinerseits, der Landeskirche angehörend, mit seiner Pfeife ruhig an die Salatbeete schritt, die den Obstgarten begrenzten, während die Männer an den Tischen die Häupter neigten. Auch sie betete nicht, sondern ordnete vor dem in jedenfalls unabsichtlicher Satire wie vor Jahren in Eibendorf mit einer kleinen Pfauenfeder geschmückten matten Spiegel ihre Toilette, band die Flechten ihres Haares fester, glättete einen großen, weithängenden Spitzenkragen, unter dessen Fall die zierlichste Taille sich verbarg, legte ihr goldenes Kreuz in passende Ordnung, wählte ein weniger zerknittertes Taschentuch aus dem geöffneten Koffer, entnahm ihm einige gesiegelte Briefe, steckte diese zu sich, setzte den Hut auf und schickte sich zu einem unendlich seligen und doch ebenso wieder schweren, vielleicht tief demüthigenden Gange an.

Beim Pfarrer konnte inzwischen vielleicht auch schon 58 durch Bonaventura’s Vetter und seinen Begleiter Hedemann ihr Kommen angezeigt worden sein; denn die Ceremonie, ihre Toilette, ihr Kampf mit sich selbst hatten lange gedauert.

Das Pfarrhaus lag dicht an der Kirche und dem Gottesacker.

Von letzterm trennte es nur ein bescheidener Gemüse- und Obstgarten.

Die Grenze, eine Mauer von grünen Hecken, war unverschlossen.

Nicht gering war die Neugier, mit der Lucinden Jung und Alt betrachtete.

Nur eine alte Frau, die im Pfarrgarten Kerbel und Salat zum Nachtessen sammelte, erhob sich von ihrem Bücken nicht. Ihr schienen vielleicht die Besuche elegant gekleideter Frauen bei ihrem Herrn weniger auffallend.

Und doch konnte Lucinde vor Bangen nicht zur Hausthür hinein.

Der Eingang zum Garten stand offen.

Ungesehen betrat sie einen Theil desselben, einen gewähltern, wo abgeblühter Jasmin und wilde Geisblattbüsche sich fast zu einem Laubengange einten …

Hier war ein Sitz, auf dem noch Bücher lagen …

In Bienenstöcken, an denen sie vorüber mußte, schien es still, wenn auch ihrem scharfen Ohr nichts von dem Summen entging, von dem sie drinnen belebt waren …

Im fast verstohlenen Vorüberhuschen wagte sie die Bücher, die Bonaventura vergessen zu haben schien, anzusehen …

Sie schlug sie auf, neugierig auf die jetzige Geistes-59fährte des innern Lebens diese ihres – Feindes? War das Asselyn? Er liebte, wenn er liebte, Paula! Er haßte, wenn er haßte, Lucinden!

Sie fand einen Band von Goethe’s Gedichten. Dann eine ältere Liedersammlung: „Trutz-Nachtigall“, von dem alten edeln Dichter Friedrich von Spee, einem Jesuiten.

Sie kannte einige der Weisen dieses letztern Sängers, der sich durch seinen geistlichen Stand nicht hatte beirren lassen, die Sprache der Blumen, der Farben, der Töne und des eigenen Herzens als die gemeinsame Muttersprache aller geschaffenen Creatur mit den Weltlichen mitzureden und unter den Huldigungen, die seine inbrünstige Phantasie der überirdischen Liebe brachte, auch ein gut Theil der Wonnen mitzufühlen, die die irdische gewährt.

Ertappt! lag in dem fast listigen Blick ausgesprochen, mit welchem Lucinde beide Bücher an sich nahm und, um sich Muth zu fassen, beschloß, sie dem Pfarrer beim ersten Gruß einzuhändigen.

Im Hause vorn, das nur aus einem, aber hochgelegenen Stockwerk und vielen bewohnbaren Dachkammern bestand, kündigte sich in der Küche schon die größte Regsamkeit an.

Die eigentliche Führerin des Haushalts war wohl die über dem Salatbeete gebückte Matrone. Aber hier in der Küche stand, vom prasselnden Feuer beschienen, ein jüngeres dienendes Wesen und gab, angeredet um den Herrn Pfarrer, aus der Ferne kaum verständliche Antwort; Eierspeisen, um die es sich allein bei einem improvisirten Abendimbiß handeln konnte, gebieten Auf-60merksamkeit auf Pfanne und Löffel; das wußte Lucinde wohl von ihren frühern misglückten Versuchen in diesem Fache.

Nun folgte sie der eigenen Führung und verließ sich auf ihr Ohr, das durch die Thür zur Rechten auch schon Männerstimmen hörte. Lauschen konnte sie nicht, wenn sie auch wollte, denn im gleichen Augenblick öffnete sich die Thür und Hedemann trat ihr entgegen, mit Schüsseln in der Hand und mit Gedecken. Er half an den Zurüstungen zum Nachtimbiß.

Wie staunte er, als ihm Lucinde alles ohne weiteres aus der Hand nahm und damit in die Küche ging!

Hedemann blieb stehen, hielt die Thür auf und sagte, zugleich bestätigend, daß man eben von ihr gesprochen:

Da ist ja jetzt das Fräulein!

Bonaventura hatte Lucinden nach der Mittheilung der Frau von Gülpen zu Kocher am Fall schon in der Frühe erwarten dürfen.

Und wie ein Priester, der nach der Beichte einer noch so großen Sünde dem Sünder begegnen kann als hätte er nicht ein Wort von ihm vernommen, schritt er jetzt hinaus, begrüßte freundlich lächelnd Lucinden in der Küche, beschwichtigte das Erstaunen der alten, aus dem Garten zurückgekehrten Frau und führte sie dann wie eine unverfängliche, ihm willkommene alte Bekanntschaft mit Wohlwollen an der Hand in das Wohnzimmer zurück.

Ihre Hand zitterte in der ruhigen seinen.

Sie wollen zu meinem Onkel! begann er mit dem milden und weichen Tone, den Lucinde eben auf dem Friedhof gehört, dem Tone, den sie aus frühern Zeiten kannte, ja 61 aus Zeiten schon, wo sie ihn selbst noch gar nicht gesehen; denn so konnte Serlo sprechen, wenn er auf dem Sopha lag, unbehelligt von seiner Frau und wehmüthig auf die Vergangenheit und Zukunft blickend. Aber diese sanfte Stimme kam hier vom Leben, von der Gesundheit, von einer Zukunft, die eine sichere und verbürgte war.

So wissen Sie –? erwiderte sie und schlug die Augen nieder, als wäre sie sich der Glut derselben bewußt …

Sie reichte die Bücher dar und erzählte ihren Einfall in den Garten.

Dann gab sie Briefe ab, die sie von Priestern und Freunden Bonaventura’s mitbrachte.

Dieser erbrach die Briefe, las sie und überließ Lucinden den weitern Erkennungen und Ueberraschungen und Verständigungen zwischen ihr und Benno.

Ob Bonaventura mit ganzer Theilnahme las? … Ob er dies mit dem Gefühl that: Da ist sie die Abgesandtin des Himmels oder – der Hölle?

Man rüstete das Mahl. Benno plauderte über Armgart, über das Erstaunen derselben, daß sie Lucinden blos aus den Schilderungen ihrer Freundin Paula erkannt und dann von Angelika Müller, der Lehrerin, die Richtigkeit ihrer Vermuthungen bestätigt erhalten hatte, über diese Lehrerin, die wenig mehr über Lucinden gewußt zu haben schien, als daß sie einst auf einer Reise sie begleitet hätte – wußte sie mehr, so paßte es schwerlich für die jungen Mädchen – über den Doctor Laurenz Püttmeyer, über Hegel’s Lehrstuhl, über die metaphysische Drechselbank …

Bonaventura behielt Zeit, beim Lesen auch sich zu 62 sammeln und vielleicht jenes Bildes in seinem Gedächtniß zu gedenken …

Er war seit acht Wochen Priester und saß zum ersten mal im Beichtstuhl …

Es war ein uralter, von Eichenholz kunstvoll gearbeiteter. Ein alter Holzschnitzer hatte die Zierathen dieses Stuhles aus der Geschichte des Sündenfalls entnommen. Der Stuhl drückte die Versuchung aus und die Erlösung. Adam und Eva standen links und rechts an den beiden Eingängen; der Priester saß wie im Baume der Erkenntniß; ringsum ihn windet sich die Schlange. Ueber ihm erhebt sich die Erlösung, der siegende Christus mit dem Kreuz und jene Maria, von der Friedrich von Spee, der Sänger der „Trutz-Nachtigall“, erzählt hat, daß sie einst zu ihrem Sohne gesagt haben soll: „Mußt du so leiden, so bitte den Vater, daß er mich früher hingehen läßt“; aber der Heiland erwiderte: „Zwei haben im Paradiese gesündigt, Adam und Eva! Zwei müssen auch die Marter leiden, ich und du!“ …

Und in diesem Beichtstuhl war es gewesen, daß beim ersten Beichthören die erste Stimme, die zu Bonaventura gesprochen, ohne daß er die Beichtende sah, nach dem ersten Anmelden ihn anredete: Ehrwürdiger Priester! Ist es wahr, daß alles in Erfüllung geht, was wir, während ein Priester geweiht wird, von Gott erbitten? … Bonaventura, ohne der Stimme zu achten, die er hörte, versenkt in die ihm so heilige Bedeutung des Amtes, Mitwisser fremder Fehle und Mitträger fremder Schuld, Mitträger fremder Reue und Buße zu sein, hatte erwidert: So Sie um ein ewiges Gut gebeten haben, gewiß; doch würde es Ihnen Gott 63 auch erfüllen in jeder andern Lage, wo Sie in Andacht zu ihm beten! Darauf hatte die Stimme erwidert: Ich bat um ein Unmögliches, die Wiedererweckung eines Todten, oder darf man annehmen, daß der Geist sich auch auf Erden schon unsterblich erneuert und in wechselnden äußern Gestalten doch derselbe bleibt, dieselben Wunder wirkt, dieselbe Liebe entzündet? … Bonaventura hatte erwidert: Der Geist, der heilig ist, ist ausgesandt in alle Welt und ist nur einer! … Wodurch heiligen wir eine Liebe? hatte die Stimme noch scheuer gefragt; aber deutlicher kannte er die Sprecherin schon, als er das Wort gesprochen: Durch Entsagung! … Er hatte diese Stimme schon oft gehört, wenn er die ihm so dringend empfohlene Gräfin Paula besuchte. Er hatte ihr Interesse beobachtet, ihr Erglühen, wenn er nahte, ihre Eifersucht auf Paula. Er hatte sich in den Beichtstuhl gesetzt, ausgerüstet auf die schwierigsten Fälle, die die Moraltheologie für das wichtigste und schwerste Amt des Priesters vorhergesehen, ausgerüstet auf alle Vorkommnisse der Herzenserleichterung, auf Ausreden und Ausweichungen aller Art, auch auf jene Zudringlichkeit der Mittheilung, die eine der lästigsten Erfahrungen gesuchter Seelsorger ist, auf die Plaudersucht, auf die Geheimnißkrämerei, auf ein sich mit der Wollust des Schmerzes selbst Preisgeben und die sich selbst geiselnde Vertraulichkeitssucht, ja auf die Eitelkeit auf die Sünde – er kannte alles, was sich schaudervoll Menschliches im Beichtstuhl zu enthüllen pflegt; – aber daß ein zitternder, ihm bekannter und mit fühlbarem Athem sprechender weiblicher Mund so jetzt ihm in unverkennbarer Andeutung von einer 64 ihn doch nur selbst betreffenden Liebe und mit einem fast herausfordernden Spott wieder, der ihn erbeben machte, davon in dieser Lage reden konnte, das war sogleich die stärkste Prüfung gewesen, die ihn traf … Lehren Sie mich entsagen! war die Aufforderung Lucindens gewesen. Er hatte sie ermahnt zum innern Gebet. Kennen Sie das innere Gebet? … Nein! hatte die ermattende Antwort gelautet … Es ist die Sammlung aller Ihrer Gedanken auf Einen Punkt, die Ausmalung Ihrer Betrachtungen, als wären Sie bei dem, was Sie lesen, gegenwärtig! Wählen Sie dazu das Gebet des Herrn im Garten von Gethsemane und nehmen Sie Veranlassung zur steten Wiederkehr Ihrer Betrachtungen bei dieser Stelle selbst bis zur Vergleichung der Darstellung, wie sie sich bei den verschiedenen vier Evangelisten findet! Setzen Sie diese innern Betrachtungen über diese eine Stelle der Leidensgeschichte so lange fort, bis eine kleine Altarkerze niedergebrannt ist, die Sie an der Kirchenthür draußen kaufen mögen! … Dann sprach er sein Absolvo und die Gestalt, die er nicht gesehen, war verschwunden. Zur Mehrung aber seiner harten Prüfungen, und doch ihn unendlich beglückend, kniete auf der andern Seite dann als zweite seiner ersten Beichteroberungen Paula Camphausen … Sie hatte einen ihrer freien Tage nutzend, sein erstes Beichtkind sein wollen! … Lucinde war ihr zuvorgekommen … Paula klagte sich des Stolzes an auf die Bilder, die ihr zuweilen im Traum erschienen. Ich habe verboten, liebe Comtesse, erwiderte er, daß man Ihnen wiedererzählt, was Sie infolge einer krankhaften Verstimmung Ihrer Nerven im Schlafe sprechen! … Es 65 geschieht doch! erwiderte sie, und ich hör’ es zu gern und es ängstigt mich! … Auch hier verließen Bonaventura gleich im Beginn dieser Wirksamkeit alle Vorgänger in der Kunst der Ertheilung geistlicher Rathschläge … und seltsam genug nimmt sich die Kirche auch aus in den Lücken, die ihre reiche Vergangenheit für die reichere Gegenwart offen lassen muß! Was soll sie sagen, wenn nicht die großen Männer der alten Kirchengeschichte, ein Gregor, ein Bernhard von Clairvaux in Dingen, die diese begreifen konnten, zu ihr sprechen, sondern solche neueste Erlasse der päpstlichen Curie, bei denen man immer fürchten muß, Galileo Galilei und die Bibel fallen sich wiederum an und ringen im Kampfe! Der Magnetismus als Heilmittel war damals vor der heiligen Pönitentiarie noch Streitfrage; jetzt hat ihn ein Erlaß derselben verworfen. Bonaventura half sich damals in seiner Erwiderung an Paula mit der Erinnerung an das Hochgefühl der Märtyrer und sagte, wie einst der arme verbitterte Schauspieler Serlo gesagt hatte, daß man Freude empfinden dürfe an sich selbst, setzte aber hinzu, nur müsse man über jedes Verdienst die Ehre Gott geben. Um die ihm unendlich werthe junge Freundin von der gefährlichen Sehergabe, deren Ruf schon die ganze Stadt erfüllte, ja die ihn selbst zum Spott der Neider und Feinde, die er schon hatte, sogar mit dem Bischofshut geschmückt hatte, zu heilen, rieth er ihr an, kein einziges geistliches Werk mehr zu lesen, auch kein einziges Werk der nur den religiösen Sinn exaltirenden barmherzigen Liebe zu üben, sondern weltliche Schriften und weltliche Beschäftigungen – – So hatte er in wahrhafter Versuchung 66 und wie zwischen „Himmel und Hölle“ damals in der Mitte das wichtigste Werk seines Berufs begonnen, sich selbst darauf eine schwere innere geistliche Strafe für etwa dabei obwaltende eigene Schuld auferlegt … und in diesem Augenblick fuhr diese Erinnerung und die an das ganze Jahr überhaupt, das er noch in jener Stadt verleben mußte, wie mit einem einzigen schrillen Septimenaccord durch seine Seele.

Und zwischen alledem klapperten im Nebenzimmer Teller, kam die alte Renate, die Wirthschafterin, und ließ ihre Gebäcke duften – sie hatte für beiderlei Geschmack gesorgt: Eierkuchen mit und ohne Schnittlauch – wurden die Stühle herangerückt und die Plätze vertheilt und auch schon der Kork einer Weinflasche wurde von Hedemann gezogen … Das Leben faßt oft das Unscheinbarste in Gold und Silber und wie oft die wahren Glanzgeschmeide unsers Innern in Kupfer und Blei!

Beim ersten Zuspruch zum bescheidenen Mahle ergab sich, daß Lucinde einen Wagen finden würde, der sie morgen früh nach Kocher am Fall bringen sollte.

Benno und Hedemann erklärten sie begleiten zu wollen.

Benno hatte sich nur bei dem Stabe des Truppentheils, zu dem er gehörte, einige Tage zu stellen; lange Uebungen fanden in diesem Jahre der Theuerung und einer in der ganzen Provinz herrschenden Aufregung wegen nicht statt. Er erklärte sich davon um so befriedigter, als er bei einem der ersten Advocaten der Gegend, in der Residenz des Kirchenfürsten der Provinz, arbeitete und seine juristische Laufbahn mit Eifer zu verfolgen schien.

67 Bonaventura kam auf die ihm von Lucinden mitgebrachten Schreiben zurück und auf deren Verfasser. Entweder nahmen sie seine Aufmerksamkeit wirklich in Anspruch oder sie gaben ihm nur willkommene Gelegenheit, sich über die Wiederbegegnung mit Lucinden zu sammeln. Lucinde hatte, noch ehe sie sich zu Tisch gesetzt, schon mit Renaten einen Strauß angebunden über einen Spiegel, von dem sie einige Fliegenflecke mit dem Taschentuch abwischte. Frau Renate bemerkte diese Einmischung in ihre eigene Lebensaufgabe ohne besonderes Wohlgefallen … Morgen wäre Putztag und das Fräulein brauchte sich nicht zu incommodiren, sagte sie spitz … Lucinde replicirte, sie möchte sich beruhigen, ein Spiegel könne ja in einer Pastorei nur ein wenig beachteter Gegenstand sein … Worauf wiederum Renate: Ei sie möchte doch nicht glauben, daß sie die einzige Dame wäre, die hier schon vorgesprochen! …

Benno, dessen scharfes Auge das Interesse Lucindens für seinen Cousin bald übersah, flüsterte Renaten das schwerlich von der Matrone verstandene Wort Mephisto’s zu: „Du ahnungsvoller Engel du!“

Man hatte auf den Tisch noch eine kleine Studirlampe gesetzt. Ihr Deckel warf einen dunkeln Schattenring über die Mienen der dem bescheidenen Mahle Zusprechenden.

Renate saß nicht darunter, wohl aber Hedemann. Dieser war, wie der Knecht beim Bauer, wie der Edelknappe beim Ritter, Diener und Freund zugleich, ganz im Charakter jenes Landes, das nach Benno’s Erzählung im Höhenrauch seinen ewig blauen ionischen Himmel 68 findet. Hedemann durfte ebenso das Wort führen, wie er auch das Brot vorschnitt. Von den Italienern, die durch den Ort durchgefahren waren, sagte er:

Sie sind aus Frankfurt eigens mit ihren Waaren verschrieben worden!

Hedemann! rief Benno. Mit ihren Waaren! Gegenstände heiliger Verehrung Waaren! Man sieht, wie lange Sie sich im ketzerischen Amerika umgetrieben haben! Hoffentlich kehren Sie an Porzia’s Hand zur Rechtgläubigkeit zurück! Bona, hast du nicht noch eine alte italienische Grammatik übrig? Ich glaube, Hedemann verlegt sich auf Lingua Toscana in Bocca Romana! Porzia Biancchi scheint es ihm angethan zu haben!

Lucinde schürte den Scherz und erbot sich, da Hedemann in Kocher am Fall wohnte, wenn er wollte, zum förmlichen Unterricht.

Hedemann erwiderte seufzend:

Ein Schüler von fünfundvierzig Jahren!

Wer mit fünfundvierzig Jahren noch lieben kann, ist zu allen Dingen gelehrig! erwiderte Lucinde, die ein sittsames Verschleiern und nur leises Berühren zarter Gegenstände nicht in ihrer Art hatte.

Hedemann verweilte in der That mit Antheil bei den Lebensverhältnissen dieser Italiener, bei ihrer leichten Art, das Leben aufzufassen, ihrer Kunst, wo und wie nur irgendmöglich, dem Leben Gewinn zu entlehnen, und wieder kam er bei der Thatsache an, daß sie eigens wären aufgefordert worden, gerade jetzt ins Land zu wandern und überall die Erzeugnisse ihrer Industrie zu den wohlfeilsten Preisen anzubieten.

69 Nun ja, sagte Bonaventura, gerade jetzt, wo man wieder beweisen muß, daß es in unserer Kirche eine unsterbliche Ehre ist, die Märtyrerkrone gewonnen zu haben!

Durch eine Ideenverbindung, die nicht ausgesprochen zu werden brauchte, weil jeder sie für sich selbst ergänzte, kam man auf Vorkommnisse des kirchlichen Lebens überhaupt. Hedemann fragte, ob nicht Bonaventura der morgenden, zu Kocher am Fall stattfindenden Besprechung einer großen Anzahl von Geistlichen beiwohnen würde?

Bonaventura erwiderte zögernd mit der einfachen Frage:

Bei Beda Hunnius?

Sein Vetter verstand, was er sagen wollte, und unterbrach die Angabe der Gründe, warum sich der Pfarrer solchen Verschwörungen gegen die Regierung entzöge, mit den parodirten Worten des Tell:

Doch, was ihr thut, laßt ihn aus eurem Rath!
Er kann nicht lange prüfen oder wählen;
Bedürft ihr seiner zur bestimmten That,
Dann ruft den Tell, es soll an ihm nicht fehlen!

Diese Worte erheiterten die etwas gedrückte Stimmung.

Auch Bonaventura sagte mit einem Lächeln, das seinen Zügen einen unwiderstehlichen Ausdruck vertrauenerweckender Güte gab:

Hätt’ ich gedacht, daß ich heute noch bei Erwähnung der Schweiz lachen würde! Den ganzen Tag über war ich in die Erinnerungen verloren, die sich an unsern alten braven Mevissen knüpfen!

Das bereits gleich nach erster Begrüßung von Benno 70 und Hedemann berührte Thema wurde aufs neue aufgenommen. Man sah, daß es sich um den Tod eines Mannes handelte, der einer ganzen, weitverzweigten Familie werth gewesen war. Da er aber auch an den Tod Friedrich’s von Asselyn, des Vaters Bonaventura’s, Gemahls der jetzigen Frau von Wittekind-Neuhof, erinnerte, so konnte sich niemand gedrungen fühlen, bei dem Gegenstande allzu lange zu verweilen. Nur Lucinde … diese hatte schon seit lange das System, keine Wunde zu schonen, keinen Schmerz zu umgehen, alles gerade so zu nehmen, wie es ist. So sprach sie auch hier, ohne die geringste Besorgniß, ihre Umgebungen zu verwunden oder aufzuregen.

Ich höre ja auch, daß dieser Mann in einem Sarge begraben ist, den er sich selbst gezimmert hat?

Ja, sagte Bonaventura, er fing diese Arbeit an nach einer Predigt, die ich am letzten Allerseelentage hielt! „Wir leben den Tod!“ – diesen Spruch eines Weisen behandelte ich und ich mag es wol in zu lebhaften Bildern gethan haben! Unser ganzes Dasein verwandelte meine leider oft noch gar schulmäßige Rhetorik in ein großes Leichentuch. Die Sterne waren die silbernen Verzierungen desselben, der Mond die Krone auf dem Grabe, ja alle Blumen, selbst die Rosen und Lilien, verwandelten sich in Palmenzweige und Todtenkränze. Von da an traf ich ihn in seinem Höfchen beim Hobeln von Bretern und wie ich ihn einmal über den Zaun fragte, was es geben sollte, war’s erst ein Bett; am Tage darauf sah ich, daß es ein Sarg wurde. Nun mußte man ihn in seiner Grille gehen lassen. Das Alter läßt sich nicht 71 viel mehr von seinen Vorsätzen ausreden, am wenigsten den Ausdruck seines Kummers.

Unwillkürlich mußte Lucinde bei diesen Worten ihres Pavillons in Schloß Neuhof gedenken und der alten Stammers, bei denen sie gewohnt hatte.

Auch Hedemann nickte Beifall …

Benno wandte sich, nach dessen Aeltern zu fragen … den Aeltern eines Fünfundvierzigjährigen …

Um die aus ihr unbekannten Ursachen nach wenig ausweichenden Worten entstehende drückende Stimmung freier zu machen, erwähnte Lucinde das im Weißen Roß vernommene Gerücht von Schätzen, die wol gar der alte Mevissen könnte mit sich genommen haben.

Dafür erntete sie aber eine strafende Erwiderung der gerade im Abräumen begriffenen Renate.

Ei was, sagte diese, wer spricht denn solche Lästerungen nach! Schätze mit ins Grab nehmen! Wer nur das gottlose Gerücht aufgebracht hat! Sein ganzer Schatz ist sein gutes Herz gewesen! Mit dem ruht er in Gottes Schoos und Schutz … und wenn man in den Wirthshäusern anders spricht, sollt’ es wenigstens hier bei einem geweihten Priester nicht wiederholt werden und über einen solchen Schimpf so still bleiben wie drüben – im Grabe!

Mit der peinlichen Stille, die auf diese entrüsteten Worte Renatens, die gleichfalls eine alte Dienerin des Hauses Asselyn gewesen war wie der Verstorbene, folgte und von Bonaventura eben unterbrochen werden sollte, um der so abgetrumpften Lucinde eine Genugthuung wenigstens des Anstandes zu geben, stand in fast gespen-72stischem Widerspruch ein Klopfen, das plötzlich vernommen wurde.

Frau Renate, die am ehesten gegen die Voraussetzung einer unheimlichen Thatsache hätte gerüstet sein sollen, ließ vor Schreck fast einen ihrer Teller fallen.

Hedemann und Benno waren schon aufgestanden.

Sie gingen ans Fenster, wo sich das Pochen erneuert hatte.

73 4.#

Der am Fenster Pochende war aus dem Stern der Gensdarm gewesen.

Der Wachtmeister! hieß es schon beruhigter. Der ganze kleine Kreis kannte ihn.

Was bringen Sie uns, Herr Grützmacher? fragte Bonaventura, während man schon die Hausthür öffnete.

Der eintretende Gensdarmenwachtmeister Grützmacher bildete in seiner wohlgenährten breitschulterigen Gestalt, seinem blondgrauen Knebelbart, glänzend gebräuntem Antlitz, seinem klirrenden Sarras und seinem Helm zu dem stillen Abendimbiß eines katholischen Priesters einen schroffen Gegensatz.

Daß Herr Grützmacher sich auf einem Standpunkte wußte, der selbst bei gering nachhaltender Kraft seiner Katechismuserinnerungen, bei etwas gründlich vergessener Geometrie aus seiner, als er noch bei der Artillerie stand, weiland besuchten Compagnieschule, bei einem dunkeln Gefühl verklungener Sagen über die Lehre von den Brüchen benannter und unbenannter Zahlen, dennoch unendlich erhaben war über die Sphäre, in welche er 74 Schlag neun Uhr Abends in irgendeiner wichtigen Function hier eintrat, lag auf der Hand.

War doch allen denen, die z. B. auch zu Kocher am Fall auf dem Amthause wie einst die ghibellinischen Landsknechte in Italien unter den conspirirenden Welfen saßen, ein gewisser Zug des Antlitzes gemeinsam, den man den einer stereotyp gewordenen Ironie nennen darf.

Dieser Zug, der dem Gefühl der Toleranz gegen ein absolut sich Ueberlebthabendes entsprach, milderte sich hier und dort, schattirte sich, ja mischte sich z. B. bei dem Chef des Herrn Grützmacher, bei dem Gensdarmeriemajor Schulzendorf, der die Tafel des Dechanten zu St.-Zeno mit einer außerordentlich feinen Zunge zu würdigen verstand, sogar mit einer Ergebenheit, die bis zu einer offenbaren Unterwürfigkeit gegen Römisches ging … Denn wiederum ist es eine ganz eigenthümlich bestätigte Thatsache, daß jener aufgeklärte blonde, urewig beamtische Menschenschlag zwischen Elbe und Oder auf fremdem Boden seine Kraft nicht immer mit besonderm Geschick zu behaupten versteht. Im Glück leicht übermüthig, in Schwierigkeiten vor Uebermaß entweder des Muthes oder der Einsicht nicht selten unentschlossen bis zum Zaghaften oder klug bis zum Ueberklugen, läßt sich diese angeborene, alles wissende und alles könnende Art oft von dem Fremdartigen imponiren, ja hat bei aller Hitze des Anlaufs und aller Sicherheit des steten Gutsagens für sich selbst oft schon in ältern und neuern Geschichten vollständig den Kopf verloren. Aber Grützmacher gehörte nicht zu diesem überläuferischen Geschlecht. Ihm war es nicht so ergangen 75 wie hier manchem schon, der aus dem Lande des absolut Blonden kam, in größerm oder kleinerm Umfange diese Länder, die mit Rom noch etwas enger verwachsen sind als durch die Gipsfiguren Napoleone Biancchi’s, regieren sollte und die Festigkeit des Willens allmählich verlor, indem er seine rauhe Art an dem schönsten aller Ströme, an den sanftesten Thälern, fröhlichsten Menschen, an Burgen und Rebengeländen, und vor allem an dem „Chrisam“, zu dem alle Menschen geschworen haben, selbst die Türken und Heiden, der Blume des köstlichsten Weines, abmilderte. Aus vielen Gründen sollte ja gerade jetzt dem unverbesserlichen Geiste dieser Provinzen nicht geschmeichelt werden, sollte keine Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen der Behörden ungerügt bleiben. Der Wachtmeister von Kocher am Fall, ohnehin ein geborener Jüterbogker, aus dem Lande, wo Tezel einst seinen Ablaßhandel so empfindlich abgebrochen bekam, hielt unter allen römischen Verführungen einen festen protestantischen Widerstand, obgleich er nur auskommen mußte mit monatlich 20 Thalern Löhnung, etwas Montirungsgeld und einem jährlich durch 80 Thaler „gutgethanen“, d. h. selbst zu stellenden Pferde.

Sich umsehend und die für einen ehelos lebenden Geistlichen immerhin anmuthig gemischte Gesellschaft mit jüterbogker Anti-Ablaßironie würdigend, sagte er, es fiele ihm doch sehr auf, daß im Wirthshause die Leute beisammen säßen und von dem Begräbniß des alten Mevissen in einer Weise munkelten …

Ob er denn hier laut sprechen dürfte? unterbrach er sich selbst.

76 Herr Wachtmeister! sagte der Geistliche, Sie brauchen hier auf niemand Rücksicht zu nehmen!

Herr Grützmacher wiederholte nun die Vermuthung, die bereits am Fuße der Maximinuskapelle Lucinde ausgesprochen. Dieselbe Vermuthung war entweder durch den Knecht aus dem Weißen Roß hierher verpflanzt worden oder war aus den Köpfen der Bewohner von St.-Wolfgang selbst entstanden.

Ist es mit dem Sarge, schloß Grützmacher, nicht richtig, Herr Pfarrer, na, so erleben wir die Nacht Unrath!

Wie so? Was erleben wir? fragte Bonaventura.

Na! Na! lautete des Wachtmeisters vieldeutige Antwort.

Sie glauben, daß der Sarg erbrochen wird? hieß es allgemein.

Na natürlich! war die Antwort jüterbogker Logik.

Und es würde doch schade „sind“, fuhr Grützmacher, sich den Knebelbart streichelnd, fort, wenn man „det olle Männiken“ da unten in der ewigen Ruhe stören wollte!

Gewiß! sagte Bonaventura ernst, bestritt aber sowol die Annahme, daß der alte Diener seines Vaters mehr besessen hätte, als was ihm von den Seinigen zufloß, wie die Möglichkeit einer Entweihung des Friedhofes von irgendwem in seiner Gemeinde.

Hören Sie mal, Herr Pfarrer, bestritt Grützmacher mit größerer Entschiedenheit, det alte Männiken soll oft was aus Italien ’rausgekriegt haben! Der Wirth vom Stern als Posthalter thut auch so und druckst als wenn er manchmal gar von Papstens – bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer – eine Anweisung auf hundert Zecchinen, heißt es ja wol in Rinaldo Rinaldini, herausgekriegt hat …

77 Und was wünschen Sie denn nun, Herr Wachtmeister! fragte der Pfarrer, wider Willen lächelnd.

Eine förmliche Räubergeschichte! flüsterte Lucinde und Benno fiel ironisch ein:

Was kann er wünschen als Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“!

Der Wachtmeister betrachtete beide Sprecher von oben bis unten.

Lucinde, die jetzt in dem Wachtmeister fast einen alten Bekannten von Schloß Neuhof zu erkennen glaubte, beugte sich ins Dunkel nieder.

Aber Benno betrachtend, musterte der Wachtmeister das militärische Kleid desselben und sagte nicht ohne Schärfe:

Herr Musketier! Wie meinen Sie das?

Herr Wachtmeister! erwiderte Benno einlenkend und sich besinnend, daß er, wenn er zehnmal auch den Justinian studirt haben mochte, hier als Gemeiner einem Manne gegenübersaß, der ein silbernes Porteépée trug.

Er griff wie zum Salutiren an die Stirn …

Ich meine, sagte er, Sie wünschen sowol den klaren Beweis, daß die Leute sich geirrt haben, wie die Vorbeugung eines polizeilichen Frevels! Sie beantragen ganz einfach die Ausgrabung der Leiche!

Nimmermehr! rief Bonaventura mit gerötheter Wange. Der Greis ist in allen Formen der Kirche und mit Ehren in die Grube gefahren! Er hatte den Sarg sich selbst gezimmert, hat darin aus einer Grille, die in seiner Frömmigkeit ihren Grund hatte, geschlafen … Als er verblichen war, nahmen freundliche Hände – Da! Ich brauche nur auf Frau Renate zu verweisen! – ihn von 78 seinem gewohnten Lager, ordneten die rohe Polsterung … alle senkten wir ihn in die Grube mit dem Segen und den Weihen der Kirche … wie kann ich jetzt um eines thörichten Wirthshausgeredes willen einen heiligen Vorgang gleichsam wieder rückgängig machen wollen!

Na! Na! Na! Na! beschwichtigte Grützmacher gutmüthig den Eifer des Geistlichen und die allzu düstere Auffassung.

Warten Sie es doch ab! vermittelte Hedemann.

Abwarten, Hedemann? Die Polizei soll vorbeugen! sagte Grützmacher zu Hedemann fast vertraulich.

Dann aber, um den Pfarrer nicht zu erzürnen und sich selbst beherrschend, fuhr er fort:

Herr Pfarrer, überlegen Sie sich, was da am Ende das Beste sein wird! Entweder Sie buddeln den „ollen Jungen“ selber heraus oder es thun’s hernach andere … Und geschieht dieses, na dann, dann sehen Sie, krieg’ ich wieder ’ne Nase – so lang, wie neulich von wegen Mittwoch nach Jubilate!

Sie sind ein vortrefflicher Staatsdiener, Herr Wachtmeister! sagte Benno.

Ja, Herr Musketier, erwiderte der Wachtmeister, der Ironie nicht achtend, sagen Sie lieber, ich habe blos Nachsicht mit dem Herrn Pfarrer, weil er früher selber doppeltes Tuch getragen hat als Lieutenant!

Fähnrich! Fähnrich! verbesserte Bonaventura. Weiter bracht’ ich es nicht, Wachtmeister! Jetzt bin ich noch immer Fähnrich! Ich trage die Fahne meiner Kirche!

Den scherzhaften Ton der Erwiderungen festhaltend, 79 trat Grützmacher dem Pfarrer näher, klopfte ihm auf die Schulter und sagte wie in intimster Vertraulichkeit:

Lassen Sie ihn ausbuddeln! Was?

Nein, lieber Wachtmeister!

Ich bekomme eine Nase wie wegen Jubilate –

Ich theile sie dann …

Sie haben gut theilen! Ihnen gibt der Heilige Vater in Rom Zulage! Je mehr Sie von uns Nasen kriegen, desto schöner stehen Sie auf dem seiner Conduitenliste! Aber unsereins! Fünf lebendige Kinder! Eine kränkliche Frau! Zwei hintereinander gefallene Pferde! Das bringt einen Gensdarmen Matthäus am letzten! … Buddeln Sie ihn aus!

Wachtmeister! Sie hätten ruhig den Vorfall von Mittwoch nach Jubilate melden sollen! sagte Bonaventura.

Ne, Herr Pfarrer! Warum ewig die Stänkereien machen!

Man hätte dann oben gesehen, wie die Leute es aufnehmen, wenn wir Feiertage bekommen, die gar nicht in unserm Kalender stehen!

Also danken Sie mir’s nicht einmal? Machen Rebellion und ich zeige Sie nicht an, Herr von Asselyn? Sie wissen, wie gut wir in Kocher standen, als Sie bei uns Kaplan waren! Neulich sagte noch Frau Ley – lieber Gott, das arme Twall*) wird nicht mehr lange machen! – als die Rede davon war, daß sie schon ein Dutzend mal gethan hat als wenn sie sterben wollte: Ich wache auch nur darum immer wieder „uf“, weil 80 mir’s ist als müßt’ ich die letzte Zehrung (so heißt’s ja wol?) vom Herrn von Asselyn, d. h. junior … bekommen! Senior – dem wünsch’ ich’s nicht, daß Mutter Ley sich in der Nacht empfiehlt oder gar Morgens, wo die Federn am wärmsten sind!

Ihre freundliche Gesinnung thut mir und uns allen sehr wohl, lieber Herr Wachtmeister! sagte der Pfarrer und gab Grützmachern die Hand. Aber melden Sie nur ruhig meine Fehler! Es ist trostlos genug, daß alle Schwächen, alle Gebrechen, die, da wir alle Menschen sind, bei den Geistlichen von sieben Millionen Katholiken nicht ausbleiben können, an den Centralsitz eines andersgläubigen Regiments gemeldet und dort in den Archiven aufbewahrt werden zum Amusement Ihrer Consistorialräthe! Können wir etwas dafür, daß die Leute jeden Mittwoch nach Jubilate an den Kirchthüren stehen und lärmen und sich weigern dem Rufe der Glocken zu folgen, und Drohungen ausstoßen, die ich diesmal erst beschwichtigte, als ich im Ornat unter sie trat und ihnen sagte: Ein Hochamt ist zu jeder Zeit dem Herrn genehm und wir werden unsere Knie dann gewiß beugen, wenn wir Gott um eine gute Ernte und um die Abwendung von Unwetter und Hagel bitten wollen!

Da kam aber, fuhr Grützmacher fort, mein Kamerad Müller von Stockhofen drüben und hörte, wie geschrieen und gelärmt wurde und wie sie riefen, daß die richtige Hagelschadenmesse erst in ein paar Wochen stattfände und wie sie sich von Ketzern keine Feiertage vorschreiben ließen! Ich ritt gerade auf Inspection durch, bekomm’s von Müllern brühwarm, soll’s „pläng carrière“ Landrathn anzeigen und 81 hab’ das nun nicht gethan! Wie gesagt, die Nase war so lang! Und deshalb … buddeln Sie den Alten heute lieber noch als morgen ’raus! Thun Sie mir’s zu Liebe!

Bonaventura bot Grützmachern wiederholt die Hand, dann auch ein Glas Wein, blieb aber bei seiner Weigerung.

Grützmacher hatte schon lange Lucinden fixirt.

Und noch mehr, als diese mit einer fast herausfordernden Miene sagte:

Was ist denn aber das? Ein neuer Feiertag?

Benno erklärte:

Es ist merkwürdig mit unserm allergnädigsten König und Herrn! Es ist gewiß ein ganz vortrefflicher Monarch und man muß ihm nachsagen, daß er für sein tragisches Schicksal von 1806 bis 1813 die gegenwärtige Heilige Allianz-Ruhe verdient hat! Aber wenn er sie doch nur mit seinem herrlichen Kriegsheer, seinen schönen Bauten und seinem vortrefflichen Theater allein genießen wollte! Metternich sorgt ja für Schlummer in der ganzen Welt! Was muß denn nun ewig unsern König so der Geist Gottes drängen, wie ein byzantinischer Kaiser, den Theologen zu machen! Daß er in seinem ehrenwerthen Glauben die Gegensätze, die dreihundert Jahre alt sind, beim Läuten der Reformationsglocken 1817 versöhnt zu haben meinte und auch einige versöhnte, ist an sich ganz brav von ihm; nun aber glaubt er, wenn man nur schön gebunden die neue Agende auf die Altäre legt, so wäre sie auch deshalb ins Leben getreten und überall eine Wahrheit geworden! Meinetwegen drüben! Aber hüben? Ausgleichungen auch mit uns? Sein Gemüth gefällt sich in dem 82 Gedanken, neue Festtage zu erfinden, die in seinen sämmtlichen Staaten mit derselben Gesinnung zu gleicher Zeit gefeiert werden, z. B. einen Buß- und Bettag! In seiner ganzen Monarchie soll zu einer einzigen gewissen Stunde, wie bei uns das Angelus gebetet wird bei Sonnenuntergang, so in allen seinen Staaten Kirche sein, sowol in den Garnisonskirchen, bei den Feld- und Divisionspredigern wie in unsern alten Domen und neuen Kapellen. Schmuggeln sie uns durch einfachen Gubernialerlaß einen Hagelschadenfeiertag in unser Kirchenjahr, nur damit der liebe sentimentale Herr in seinem Schloßgarten spazieren gehen und sagen kann: Heute zieht die ganze Natur und alle Menschheit in meinen Landen ihren alten Winterrock aus und legt sich äußerlich und innerlich neue Sommerbeinkleider an! … Und nach zehn Jahren werden wir wieder weiter kommen, glaubt er, und nach wieder zehn Jahren noch weiter … und wenn alles gut geht, geben die Consistorialräthe ein bischen heraus und der Papst gibt ein bischen heraus und die schönen Unionstage, die einst Leibniz in Charlottenburg geträumt hat, gehen in Erfüllung!

Hören Sie mal, Herr Freiwilliger! Herr Freiwilliger! drohte Grützmacher mit künstlicher Entrüstung, indem er von seinem Portefeuille aufblickte, wo er in Papieren blätterte und mit scharfem Blick wiederholt auf Lucinden, diese musternd, gesehen hatte. Das ist ja gerade als wenn man einen langhaarigen Demagogen reden hörte von Anno Köpenick, Herr von Asselyn!

Das Gemüth regiert die Welt nicht! warf Lucinde ein.

83 Drei Monarchen stiften eine Heilige Allianz! fuhr Benno fort. Schon ihre Minister standen damals hinter ihnen und putzten sich nur die Nase, während jene Thränen vergossen!

Grützmacher opponirte nicht länger. Er war die gutmüthigste Seele von der Welt und ohnehin zerstreut durch einige Notizen seines Portefeuilles.

Endlich erschreckte er Lucinden nicht wenig, als er sie anredete:

Na, Fräulein Schwarz! Jetzt haben Sie doch wol endlich Ruhe vor uns von wegen dem Paß, den ich Ihnen, ich glaube schon vor sieben Jahren, immer bei Witoborn vergebens abverlangte! Wissen Sie denn noch, auf Schloß Neuhof! Na, was macht denn Excellenz der Kronsyndikus? Und mein „oller“ Landrath, der „schöne Enckefuß“! Gerade vor der dustern Geschichte dazumal mit dem Deichgrafen bin ich hierher versetzt geworden! Meine Nachfolger sollen keine Seide dabei gesponnen haben, daß sie nichts merken wollten, wer den dicken Mann, den Theilungscommissarius, dazumal, freilich auf Nachbargebiet, todt geschlagen hat! Einer von meinen Collegen, der ritt so lange um den Düsternbrook und Schloß Neuhof herum, bis er sich einmal den Hals dabei gebrochen hatte – wirklich den Hals … das kommt so, wenn der Gensdarm immer blos geradeaus sieht, während sein vernünftigerer Gaul links und rechts in die Büsche will. Der andere war noch zu grün und fand sich erst ins Geschäft, als es mit der rechten Spur nach dem rechten Hirschfänger zu spät war. Jetzt ist ja wol der Freiherr von Wittekind auch ganz verdreht 84 und dummelig geworden wie dazumal sein Herr Sohn, der – ja so, bitte um Entschuldigung, Herr Pfarrer von Asselyn!

Grützmacher besann sich erst jetzt auf die Verwandtschaft des Pfarrers mit dem Freiherrn von Wittekind-Neuhof. Er war ja dessen Stiefenkel.

Das Wiedersehen der jungen schönen Dame, fuhr der Wachtmeister mit ironischem Nachdruck fort, hätte ihm diese Erinnerungen zurückgerufen. Er hoffe sie aber bald in Kocher am Fall zu sehen, wohin sie ja, wie er gehört, als Nichte der Frau von Gülpen reise und um ihren Paß woll’ er sie diesmal gar nicht quälen! Er wäre vollkommen über sie „ins Klare“ …

Bonaventura, Benno und Hedemann richteten während aller dieser Reden überrascht ihre Augen fast zu gleicher Zeit auf Lucinden. Sich auf diese unerwartete Art im Zusammenhang mit Vorgängen genannt zu hören, die sie um vieler Gründe willen hier von sich fern zu halten wünschen mußte, durfte sie nicht wenig erschrecken. Selbst Bonaventura erfuhr zum ersten mal diese Beziehungen und fragte erstaunt:

Schon vor sieben Jahren kannten Sie Schloß Neuhof und waren somit schon damals in der Nähe der Gräfin Paula?

Sich sammelnd erwiderte sie:

Die Erinnerungen des Herrn Wachtmeisters treffen theilweise zu! Nur die Ehre, mich eine Nichte der Frau von Gülpen nennen zu dürfen …

Werden Sie doch wahrhaftig nicht ablehnen? unterbrach sie Benno mit Entschiedenheit. Ihre Tante sollte das hören!

85 Diese Worte wurden so fest, so bestimmt gesprochen, von Benno mit einem so ausdrucksvollen Blick begleitet, daß Lucinde verstummte und ihn nur fragend und groß ansah.

Grützmacher schloß sein Portefeuille und nahm wieder die lächelnde Miene jener aufgeklärten Ueberlegenheit an, die gewissermaßen hier als landesüblicher Regierungsausdruck gelten konnte und geradezu so viel sagte als: Wir dulden euch und die wunderlichen Schwächen eurer Kirche und thun dies, weil ihr ja eben nichts dafür könnt!

Da auch Hedemann, der erst den lebhaftesten Antheil verrathen hatte, jetzt an die dunkeln Fenster getreten war und an die Scheiben trommelte, stand Grützmacher gewissermaßen als Sieger über allen.

Meine Meldung, sagte er denn auch vollkommen befriedigt, meine Meldung ist Ihnen zu rasch gekommen, Herr Pfarrer! Beschlafen Sie’s noch! Morgen reden wir weiter davon! Ich wünsche ja selbst, daß die Leute Vernunft annehmen! Ich will noch ’mal ins Wirthshaus hinüber und sagen, was Sie über den Sarg des alten Mannes denken! Vielleicht nehmen die Menschen auf Ihr Wort Raison an, Herr Pfarrer! Also, gute Nacht denn allerseits! … Gute Nacht, Hedemann! warf er noch hintennach hinein wie zum Zeichen besonderer Vertraulichkeit mit einem ihm gewissermaßen Gleichgestellten.

Renate leuchtete und fragte ihn wahrscheinlich draußen um Näheres über „die Nichte der Frau von Gülpen“.

Als sein Säbel- und Sporenschritt verklungen waren, hörte man nur, daß Renate von außen die Fensterladen anlegte. Hedemann schloß sie von innen.

86 Die drückende Schwüle, die in dem kleinen Zimmer in der Luft wie geistig herrschte, veranlaßte Benno zu dem Ausruf:

Ich stecke mir eine Cigarre an und wache die Nacht draußen auf dem Grabe!

Daß wir so thöricht wären! sagte Bonaventura. Daß wir durch unser Beispiel einen solchen Glauben bestärkten!

Dennoch traten sie alle hinaus in den Hof und dann in den Garten, von wo aus man zum Friedhof gelangen konnte.

Die Spätsommernacht war mild und geheimnißvoll. Ringsum war es still geworden; nur irgendein schlafgestörtes Kind machte ein Nachbarhaus lebendig oder von den Bergen her ächzte der Hemmschuh eines verspäteten Fuhrwerks. Im Bienenhause schlief alles wie in den Gebüschen ringsum; nur die kleine Welt der auf Raub gehenden Insekten huschte vor den Fußtritten der Vorübergehenden scheu am Boden hin.

Auf dem Friedhofe lagen die Gräber mit ihren überdachten weißen und schwarzen, von welk gewordenen Blumen geschmückten Kreuzen und vergoldeten Glorienstrahlen schweigsam und feierlich. Seitab lag der im ersten Aufwurf begriffene neue Hügel, bewacht nur vom flimmernden Sternenheer, dem wir die Todten so nahe gerückt glauben.

Bonaventura, Benno, Hedemann, Lucinde fanden alles, wie sich erwarten ließ, ungestört.

Die Eingangspforte war geschlossen.

Ihre Empfindungen mußten die verschiedenartigsten 87 sein; nur darin einigten sich alle, daß diese stille Welt um sie her sicher für immer mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Unter diesen Schläfern sollte noch einer etwas vergessen oder mitgenommen haben, was zu den Sorgen und Mühen dieser Erde gehörte?

Bonaventura sagte:

Im ersten Augenblick der sich nahenden Todesgewalt mag die Verzweiflung, daß man noch mit dem Leben so tausendfach sich verwickelt weiß, mit äußerster Anstrengung gegen den kalten Engel ringen, der uns dem Dasein entreißen will; hat er aber einmal die gewaltige Rechte um uns geschlungen und fühlen wir, daß wir keinen Widerstand mehr leisten können, so erscheint uns gewiß jeder Besitz und jedes Entbehren gering! Der alte Mevissen erwartete schon seit sechs Wochen mit Bestimmtheit seinen Heimgang!

Die feierliche Stimmung gab Lucinden Zeit, sich in Benno’s Worte zu finden, daß sie eine Nichte der Frau von Gülpen wäre. Sie war erfahren genug, bald einzusehen, daß damit nur ein Deckmantel gemeint sein konnte, unter dem sie unter dem Dache eines Geistlichen wohnen durfte. Sie hielt jetzt diese Angelegenheit keiner Frage mehr werth.

Hätten wir die Gräfin Paula bei uns! sagte sie, als sie sich von dem Grabe entfernten und Bonaventura Benno’s Vorhaben, die Nacht über wirklich das Grab zu hüten, entschieden ablehnte.

Warum? hieß es.

Dann säße der alte Mevissen vielleicht leibhaftig auf 88 dem Hügel dort und man könnte ihn fragen, ob er denn wirklich in seinem Stroh soviel Geld versteckt hätte!

Die ekstatischen Zustände der Gräfin Paula waren allen bekannt genug und auch Bonaventura bestätigte die Fähigkeit derselben, über Gräbern Schatten zu sehen, die andere Augen nicht sähen.

Dabei überraschte den Pfarrer keineswegs die Möglichkeit, daß Lucinde nach allem Vorangegangenen so kurzweg den verhängnißvollen Namen aussprechen und, wie wenn nichts mit ihm wäre, ihn ins Gespräch ziehen konnte. Er wußte, wie weit Lucindens Verstellungskunst ging. Er war auch nach Empfang der überraschenden Anzeige aus der Dechanei zu Kocher am Fall in der That von ihr wieder auf alles gerüstet.

Wissen Sie nicht, wie es der Gräfin geht? fragte er Lucinden, als man sich nach einigem Staunen über eine so weit gehende Sehergabe der Gräfin in der Annahme einer Täuschung und der Unmöglichkeit, überhaupt Geister in sichtbarer Gestalt anzunehmen, bald geeinigt hatte.

Stehen denn Sie in keiner Verbindung mit ihr? fragte Lucinde erstaunt und mit schneidender Schärfe.

Wie sollte ich? erwiderte Bonaventura gelassen.

Seit zwei Jahren erfuhr ich nichts mehr von ihr! fuhr er fort. Sie wird auf Westerhof wohnen und sich vorbereiten, die Gattin des Grafen Hugo von Salem-Camphausen zu werden!

Alle schwiegen wie zur Bestätigung.

Lucinde entgegnete:

Also eine Altarkerze im Dome der Heiligen, eine Rose von Jericho will dem Glauben ihrer Väter ver-89loren gehen! Wie? Der kalte Luftzug des Verstandes, der Frost des Zweifels soll sie tödten! Ich hörte, daß man alles aufbietet, diese Verbindung mit einem Lutheraner unmöglich zu machen!

Bonaventura verharrte im Schweigen und blickte fragend auf Hedemann, der soeben von jener östlichen gemeinsamen Heimat herübergekommen war.

Auch Benno verstand diesen Blick und antwortete statt des achselzuckenden Hedemann:

Aus dem bringt niemand etwas heraus! Die Mühle, die er sich in Witoborn gekauft hat, muß ihn taub gemacht haben für alles, was uns sonst von dort hätte interessiren müssen! Er war nicht auf Schloß Neuhof, womit er jetzt vielleicht dem Fräulein gedient haben würde, er war vielleicht nicht einmal in Westerhof, nicht im Kloster Himmelpfort, nicht im Stift Heiligenkreuz – nirgends! So verschlossen ist er wie die Offenbarung Johannis, in die er sich, glaub’ ich, in Amerika ganz verlesen hat!

Hedemann legte hie und da einen herabgefallenen welken Kranz auf eines der Kreuze, lächelte und sagte mit gelassener Ruhe:

Wie hätt’ ich nicht Westerhof besuchen sollen nach den Erfahrungen und Aufträgen des Obersten!

Je schlagender diese Antwort schien und je genügender sie die beiden Asselyns aufklärte, desto unsicherer und dunkler tastete Lucindens aufgeregte Combination. Wer war der Oberst? Welche Erfahrungen desselben hätten Hedemann, der nun wieder plötzlich ein Müller wurde, von dem Schlosse Westerhof entfernt halten können?

90 Sie kennen Schloß Neuhof, Fräulein, fragte Benno, und wissen von dem Interesse, das das ganze Land an den Vorgängen in der Camphausen’schen Familie nimmt?

Lucinde kannte auf Schloß Neuhof jeden Winkel im Schlosse, im Park jeden Baum, auf dem Plateau, das zum Düsternbrook führte, die Stelle, wo Klingsohr einst zwei Blütenzweige in die Erde senkte, die freilich der nächste Sturm schon verweht hatte, sie war auch eines Tages zum Fronleichnamsfest in Witoborn gewesen und hatte dort eine Mühle gesehen, die die reißende Witobach mit einer Gewalt trieb, daß man allerdings an ihr taub werden konnte; aber von den Dingen, die um sie her lebten, hatte sie nichts als das durchschaut, was mit dem Cultus ihrer eigenen Person zusammenhing.

Was ich von den Verhältnissen Paula’s weiß, sagte sie, kenne ich nur aus den Tagen her, wo sie meiner Pflege anvertraut war. Die Zeit, wo ich auf Schloß Neuhof war und die Wißbegierde der Gensdarmen durch meinen Paß nicht befriedigen konnte, war kurz und gehört meiner frühesten Kindheit an!

Ein Eingehen auf den Tod des Deichgrafen und die dunkle Gestalt des Kronsyndikus schien in diesem Kreise vermieden zu werden. Man verblieb bei den nachbarlichen Beziehungen.

Benno schilderte als nicht gering die Gefahr, die sich der engern Heimat aus dem Uebergange der reichen Besitzthümer der Linie Dorste-Camphausen in die Linie Salem-Camphausen ergeben würde.

91 Der Kirchenfürst unserer Provinz selbst, sagte er, nimmt den lebhaftesten Antheil an einer Entscheidung, für welche sogar mein gewiegter Principal, der Procurator Dominicus Nück, keine andere Hülfe hat als die des Aufschubs. Die Gräfin ist neunzehn Jahre. Sie hat noch zwei Jahre Zeit, sich zu erklären, ob sie vielleicht den geistlichen Stand wählt oder mit Entsagung ihrer großen Besitzthümer irgendeine andere Wahl trifft. Auf alle Fälle gehen mit dem Aussterben der männlichen Erben die Güter dieser ältern Linie an jene jüngere über, die in den Zeiten der Wiedertäufer den alten Glauben abschwur, dann nach Ungarn auswanderte und seither nicht wie die andere Linie, die ihrem Beispiele gefolgt gewesen war, wieder zur Kirche zurückgekehrt ist.

Bonaventura, der alle diese Erinnerungen und Beziehungen seit einigen Jahren nicht mehr genährt und gepflegt hatte, durfte Benno nach Paula’s jetziger Leitung und Führung fragen.

Dieser fuhr fort:

Der Kronsyndikus von Wittekind, den Sie nach seinem schlimmen Rufe kennen werden, Fräulein, hat die Vormundschaft vor zwei Jahren nur formell antreten können; sie war einmal vom Grafen Joseph, dem letzten der Dorste-Camphausen, so, ehrenhalber, für seinen Schwager bestimmt und konnte, ohne diesen vor aller Welt zu compromittiren, nicht zurückgenommen werden. Alt und schwach an Geist und Körper, hat er sie jedoch factisch seinem Sohne überlassen müssen, dem Präsidenten – deinem Stiefvater! Ein so loyaler Unterthan wie dieser bietet natürlich alles auf, sowol etwaige Ideen vom Kloster zu 92 unterdrücken, wie den der ganzen Anzweiflung an dem Rechtsbestande dieser Familienanordnungen gewidmeten Scharfsinn meines Principals zu Schanden zu machen. Einstweilen wohnt Paula auf ihrem Sitze Westerhof und wird von dem Onkel und der Tante Armgart’s so gehegt und gepflegt und geliebt, wie man bei uns zu lieben pflegt, Fräulein! Alles nur durch ein unendlich seelenvolles Schweigen und das gemüthvollste Bloserrathenlassen! Wenn die Leute bei uns achtzig Jahre alt geworden sind und bald in die Grube gesenkt werden, rufen sie sich noch erst vom Todtenbett aus die vergessene Liebeserklärung nach. Gelebt haben sie nach der Liebe, gesprochen davon nie. Nicht wahr, Hedemann? Als Sie noch für meinen seligen Vater Borkenhagen bewirthschafteten, ich glaube nicht, daß er Ihnen je ein: Ich danke! gesagt hat.

Er hatte nicht Ursache dazu! erwiderte Hedemann. Unsere Abschlüsse waren schlecht genug!

Ein kühler Lufthauch fuhr durch die Bäume, die den Friedhof begrenzten, und mahnte, dem Rufe des Wächters zu folgen, der die zehnte Stunde rief.

Bonaventura stellte der so in alte und neue Verhältnisse mit der größten Spannung einblickenden Lucinde zur morgenden zeitigen Abfahrt das bereits im „Stern“ bestellte Gefährt nochmals in Aussicht und bat sie den Onkel zu grüßen; in einigen Tagen würden Geschäfte auch ihn vielleicht nach Kocher hinaufführen.

Benno begleitete Lucinden bis zum Stern. Er versprach, sich mit Hedemann derselben Fahrgelegenheit zu bedienen und in der Frühe sich bei ihr einzufinden.

93 Dann kehrte er ins Pfarrhaus zurück, wo er übernachtete.

Während Lucinde auf ihrem Zimmer allein war und wieder die Pfauenfeder am Spiegel sah und die kleinen Heiligenbilder, die über dem Bette hingen, in das sie, wie sie war, sich legte; während sie fast übermüthig die Wonne genoß, wieder in der Nähe von Menschen zu sein, auf welche der Stempel des Ungewöhnlichen gedrückt war; während in ihr die einzige Aufgabe, der zu Liebe sie noch überhaupt leben mochte, mit tausend Stimmen rief: Bonaventura, sammle dich in deiner Kraft! Werde mehr als nur der Pflegling dieser alten Renate! Gedenke eines Zieles, das dir höher hinaus liegen sollte als der Kirchthurm dieses armseligen Dorfes! Wie find’ ich dich wieder! Im Beginn der Grämlichkeiten alle, an denen ihr armen Entsagenden allmählich zu Grunde geht! Noch wallst du auf wie Petrus, der dem Malchus ein Ohr abhieb! Wie lange wird diese Tapferkeit dauern! Frau Renate wird dich vor jeder Abendluft schützen! Ihre Mädchen werden so viel braten und kochen und backen, bis du ihre köstlichen Speisen nicht mehr verdauen kannst! Welche Thorheit, hier nur unter den Bauern, Fuhrleuten, Steinklopfern ein Heiliger zu sein, hier nur vor einem Gensdarmen den Bonifacius und Ambrosius zu spielen! … Und während sie sich dann vorkam, als müßte sie einem neuen Gregor dem Siebenten seine Gräfin Mathilde von Toscana werden, seine Feuerseele, sein Cherubswächter mit dem flammenden Schwerte … währenddem rief Benno, vom Stern zurückkehrend, Hedemann und seinem Vetter, die zum Abschiednehmen vor dem 94 Schlafengehen noch auf ihn gewartet hatten, die kurze Charakteristik entgegen:

Ja, das ist ja wahrhaftig der lebendige Satan! Die wird in der Dechanei und in Kocher am Fall eine schöne Revolution anstiften!

Frau Renate schlief schon, sonst hätte sie für das Wegputzen der Fliegenflecke und das Bedienenwollen in der Küche sicher eine Revanche genommen, die kräftiglich mit eingestimmt hätte.

Und doch, sagte Bonaventura, indem er Hedemann ein Licht reichte, das beim aufgegangenen Mondschein kaum noch nöthig war, um ihnen beiden in den obern Stock den Weg zum Fremdenstübchen zu leuchten; doch glaub’ ich, daß sie für den, den sie liebt, ins Feuer geht!

Kein Wunder! rief Benno. Ihr Element ist die Hölle!

Armer Vetter! setzte er leiser hinzu. Welchen Versuchungen seid ihr Pfaffen doch ausgesetzt! Das seh’ ich ja schon – hier kommt ein alter Roman zu Tage!

Bonaventura gab nur zur Antwort:

Ich bin begierig, wie sie mit dem Onkel fertig wird!

Mit dem gewiß! erwiderte Benno. Ich glaube, dem gefällt sie! Aber Tante Gülpen! Die gewöhnliche Probezeit besteht sie nicht vierundzwanzig Stunden!

Alle drei Männer mußten lachen …

Man trennte sich in behaglicher Uebereinstimmung.

Benno und Hedemann sollten zusammenschlafen oben in dem Fremdenstübchen, dessen saubere Betten schon aufgedeckt waren …

Während sie hinaufstiegen, sagte Benno, aber so, daß 95 Bonaventura, der ihr Verschwinden abwartete, es theilweise unten noch hören konnte:

Nun glaub’ ich an die sieben Schwerter, die Armgart beim bloßen Begegnen an der Kapelle oben sogleich aus ihr herausgehend gefühlt haben wollte, ganz wie Paula gesagt haben soll, als die Arme auf dem Streckbett liegen und den fürchterlichen vollen Feuerstrahl fühlen mußte, der von der Person über sie ausging! Und das alles muß man nun ruhig hinnehmen, blos weil sie, hör’ ich, eine Convertitin ist, ein goldenes Kreuz auf der Brust trägt und wahrscheinlich zu irgendeiner Erzschwesterschaft gehört! Wozu sich unsere Kirche nicht alles hergeben muß! Wenn sie nicht in der Lage wäre, schlaffe Gemüthlichkeit, die alles geduldig hinnimmt und geschehen läßt, aufrühren zu müssen durch solche Weckhähne … Hedemann, daß wir morgen früh nur die Zeit nicht verschlafen!

Hedemann nahm, da sie inzwischen oben angekommen waren, die Uniform, die Benno ausgezogen hatte, legte Brieftasche und Geld heraus und versicherte dem sich Entkleidenden, mit dem Aufwachen zur rechten Zeit wäre keine Gefahr; ihm rauschten die Räder seiner neuen Mühle und die Sorgen, die er sich aufbürdete, genug im Kopfe …

Und dabei verwechseln Sie wirklich schon unsere Stiefel und stellen zwei Paare zusammen, wie wenn jeder von uns immer halb mit den Beinen des andern liefe!

Hedemann, der in der Nebenkammer schlief, hatte die Stiefel und Kleider vor die Thür gestellt, damit die Magd in der Frühe alles fand und reinigte.

96 Benno, schon auf den Strümpfen, stellte die Paare in Ordnung, nahm noch einen von Hedemann vergessenen Brief aus der Tasche seiner Uniform, schloß die Thür, legte den Brief auf den Nachttisch neben sich zu Uhr, Geld und Portefeuille und sagte mit herzlichem Tone:

Freilich, so ist’s ja auch immer gewesen! Was wär’ ich ohne Ihre Arme und Beine, Hedemann! Ich glaube, ich hätte alle schon gebrochen und auf mein kühles Grab setzten Sie ein Denkmal, das ich mir in Gestalt eines Fragezeichens ausbitte, Hedemann, wenn Sie mich überleben sollten, hören Sie? Der Friedhof hat mich ganz melancholisch gemacht!

Warum ein Fragezeichen? fragte Hedemann, löschte das Licht und wollte die Thür anlehnen.

Lassen Sie doch auf, Hedemann! Es ist so dumpf und stickig in der kleinen Stube! Warum ein Fragezeichen? Bin ich nicht ein verkörpertes Fragezeichen? Was sagt das Kirchenbuch von Borkenhagen über mich? Haben Sie denn nachgeschlagen, wie ich Sie gebeten?

Ich sagte gleich, daß da nichts zu finden ist! Sie waren schon fast ein Jahr alt, als Sie Ihr Vater aus Spanien mitbrachte!

Aus Sevilla! Aus Sevilla! Wo die letzten Häuser stehen … sang Benno mit elegischem Humor.

Dann fuhr er fort:

Ich wundere mich nur, wie ein Zigeunerkind sich so acclimatisiren konnte! Sprach ich heute nicht von Buchweizen, Haarrauch und dem Landesvater, wie wenn ich wirklich ein Asselyn wäre, kein Pseudo-Asselyn, kein 97 unberufener Eindringling in die Wallhecken und Moore und Kampe eurer Ahnen!

Sie sind der rechtmäßige Sohn des weiland Erb- und Gerichtsherrn zu Borkenhagen!

Und sein Erbe! Hedemann, daß ich doch nur den kleinen Tümpel geerbt hätte, der um unsere Hundehütte ging, Burg genannt, jene majestätische See, wo Sie mir die kleinen bewimpelten Schiffchen schnitzten, die ich durch die grünen Wasserlinsen fahren ließ!

Ich ahnte damals meine Reise nach Amerika!

Und den Finkenfang, Hedemann, im Schlehdornbusch, wo Sie die prächtigen Schlagnetze legten! Ach, ich habe als Student später nie mehr aus einem Weichselrohr rauchen können, ohne nicht daran zu reiben und zu reiben und aus dem köstlichen Geruch des Rohrs mir unsern Finkenfang wieder zu vergegenwärtigen!

Graf Münnich hat ihn niederhauen lassen …

Und hätten uns die Gläubiger nur den einen großen Ebereschenbaum gelassen, auf der Wolfshöhe! Wenn wir sonst dahin wallfahrteten, war’s mir immer nur um die rothen Beeren zu thun und die Bank darunter war mir nur eine bloße Hülfe, um die schönsten Büschel herunterzukriegen und an die Mütze zu stecken! Später, als Student, kam ich einmal wieder in die Gegend und wollte Freunde und sogenannte Verwandte begrüßen. Da merkt’ ich fast, daß die Wolfshöhe mir nur eigentlich deshalb gefallen haben mußte, weil der künftige Herr von Asselyn-Borkenhagen sein ganzes kleines Königreich dort am schönsten hätte übersehen können. Die herrliche Aussicht! In weiter Ferne die Wälder! Aus ihnen herausblickend 98 Schloß Neuhof, golden wie die Landeskrone, Kloster Himmelpfort, Witoborn mit seinem ewigen Armensündergeläut … Werden Sie das denn aushalten, Hedemann?

Meine Mühle überrauscht es …

Und rechts hinüber Westerhof mit Paula und Armgart, die damals Kinder waren und mich Vetter nannten, den armen, abgeblitzten Herrn von Borkenhagen … Es war gerade Kirchweih im Ort … Eine Spielbande zog von den Bergen herunter; ein buckeliger Geiger voran …

Stammer! Der lebt noch!

Bänder und Fahnen flatterten … alles war lustig … im Wittekind’schen hatt’ es ein großes Erntebier gegeben … es war damals kaum ein paar Wochen über die grauenvolle Geschichte mit dem erschlagenen Theilungscommissar hinaus …

Der Alte vom Berge, der Kronsyndikus, läßt noch jetzt draufgehen, hör’ ich … früher war er geizig genug …

Gerade des Weges ritt der Landrath! Ich fragt’ ihn nach dem Vorfall. Der wies mich schön zurecht! Wie ich den Herrn auf dem hellen Schloß da oben zu nennen wagen könnte …

Das wollt’ ich meinen, der „schöne Enckefuß“! …

Nun aber ging ich in den vielgrünen Wald, an meinen Vogelherd – damals, Hedemann, standen noch all die lieben hellen Buchen – am Ende der Wildschonung lag der kleine Hof Ihrer Aeltern … Sie erzählten mir ja noch nichts von denen … Sie leben doch noch?

Hedemann antwortete nicht.

99 Benno sprach vor sich hin:

Er schläft wol schon!

Nach einer Weile des Schweigens hörte Benno seinen Nachbar laut aufseufzen …

Was seufzen Sie denn, Hedemann? fragte Benno, den inzwischen selbst der Schlaf überkam.

Als Hedemann nicht antwortete, sagte er gähnend:

Sie waren – damals in England –

Amerika! verbesserte Hedemann.

Amerika! antwortete Benno und legte sich, um nun wirklich fest einzuschlafen.

Doch sprach er noch vor sich hin, aber in einzelnen, unterbrochenen Worten:

Sie sind im Stande – und heirathen … als Müller Hedemann … die weiße Gipsitalienerin … natürliche Ideenassociation … Müllerin Biancchi … Hedemann … nicht wahr? …

Ja, gute Nacht! erwiderte Hedemann, der ihn nicht mehr verstanden …

Benno’s Empfindungen mußten noch eine lange Zeit gegen den Schlummer kämpfen. Seine Phantasie verweilte auf den lachenden Bildern seiner Jugend, auf dem grünen Wolfshügel, unter dem Ebereschenbaum und bei dem Rundblick in der Ebene von Witoborn. Sie hielt dann Stand bei Paula und bei Armgart. Armgart von Hülleshoven hatte er damals vor sieben Jahren zum ersten mal gesehen. Sie war die Tochter des kürzlich aus England als pensionirter englischer Oberst zurückgekehrten Herrn Ulrich von Hülleshoven. Ihre Mutter war jene Monika von Ubbelohde, die die erste gewesen, die einst dem Kammerherrn Jérôme 100 von Wittekind-Neuhof einen Korb gegeben. Die hatte keines Hundes, des Calfacters Türck, bedurft, der ihr erst ein seidenes Kleid verderben mußte, wie Portiuncula von Tüngel-Appelhülsen, um von den Wünschen der Familie sich zu befreien. Aber da man es ihr, einer armen und völlig güterlosen Adeligen, mit den Anträgen und Vorschlägen und Zwangsmaßregeln zu bunt und zu gefährlich gemacht hatte, nahm sie gleichsam „aus Desperation“, wie damals die Leute sagten, die die Rache des Kronsyndikus und seinen Einfluß auf zehn Meilen in der Runde und, wenn er wollte, noch etwas weiter hinaus, kannten, den jungen Offizier Ulrich von Hülleshoven, der gerade in der Stadt, wo Bonaventura’s Aeltern lebten, in Garnison stand und ihr den Hof machte, wie ihre Schönheit und ihr Geist verdienten. Diese Naturen erkannten sich aber erst nach geschlossener Ehe. Sie stießen sich unheilvoll ab und als Monika eines Kindes, jener Armgart, genesen und Ulrich gerade versetzt worden war, erklärte die Gattin, ihm nicht folgen zu wollen. Sie selbst hatte eine Schwester, ihr Gatte einen Bruder. Jene hieß Benigna, dieser Levinus. Auch diese gaben ein Paar, eines vielleicht mit klügerm Instincte. Sie liebten sich schon lange, schon zehn Jahre vor dem Zeitpunkt, wo sie Schwäger wurden durch die Verheirathung Monika’s mit Ulrich, heiratheten sich aber nicht. Levinus, ohne Vermögen, verwaltete die großen Güter des Grafen Joseph, des letzten der Dorste-Camphausen, während Benigna, die Schwester Monika’s, die intimste Freundin der verstorbenen Gräfin und Mutter Paula’s, der Schwester des Kronsyndikus, und die zehn-101jährige Verlobte des Onkel Levinus in dem Stift Heiligenkreuz, dicht bei Westerhof und Witoborn, lebte. Beide Schwäger, empört über das Benehmen des jungen Ehepaars, rissen wie nach einem Spruch des Femgerichts der rothen Erde das Kind desselben, ihre Nichte, an sich und straften mit der Vorenthaltung desselben den „unwürdigen“ Vater wie die „unwürdige“ Mutter. Sie versteckten die kleine Armgart in Wälder und Schluchten, in Keller und auf Heuböden und vorenthielten sie den beiden Ehegatten, denen sie es nur zurückzugeben erklärten, wenn sie beide kämen Arm in Arm, in Liebe und Treue und Einigkeit, frei von der Schmach einer ganzen Familie, frei von der Verletzung der Sitte des ehrbarsten Landes und tugendhaftesten Volksstammes. Diese standesmäßige, gleichsam altsächsische Bedingung erfüllten die Ehegatten nicht. Beseelt von gleichem Trotze, suchten sie einer dem andern Armgart abzugewinnen, offen zu erobern, geheim zu stehlen sogar … vergebens, Onkel Levinus und Tante Benigna hatten das ganze Furioso, den ganzen Sturm, der über diese sonst so stillen, ruhigen, maßvollen Menschen kommen kann, wenn eine Ueberzeugung sie ergreift. Ihre Maßregeln waren so sicher, daß sie in der Jagd auf Armgart Sieger blieben und der Mutter, die nicht zu ihrem Manne wollte, dem Vater, der sich der Gattin verschloß, ein Kind vorenthielten, mit dem sie „nicht in die weite Welt gehen sollten“. Levinus und Benigna gedachten sich jetzt noch weniger zu verheirathen. In der Liebe zu dem Geschwisterkinde, das sie erzogen, waren sie bereits wie ehelich verbunden. Ulrich und Monika gingen verdüstert und verbittert ohne das ihnen vorenthaltene Kind wirklich in die weite Welt. Zwölf 102 Jahre war Ulrich von Hülleshoven theils in England, theils in Britisch-Canada Soldat gewesen, ihm zur Seite Remigius Hedemann, einst in dem Regiment, in dem Ulrich exerciren gelernt, sein Unteroffizier, dann ein tüchtiger Landwirth, der einen Versuch machte, die letzten Besitzthümer der verarmten Familie derer von Asselyn, die sich vor mehr als hundert Jahren aus dem Friesischen ins Land geheirathet, zu heben und dem dritten von drei Brüdern (die ältern waren Franz von Asselyn, der Dechant, Friedrich von Asselyn, der Vater Bonaventura’s), Max von Asselyn, Benno’s Adoptivvater, in der Bewirthschaftung derselben beizustehen. Letzter Versuch war nicht geglückt. Max von Asselyn starb bald nach dem unglücklichen Ende, das Friedrich von Asselyn auf einer Schweizerreise in den Alpen fand. Hedemann, geschätzt in allen diesen so eng verbündeten Familien, folgte seinem militärischen Zögling, Ulrich von Hülleshoven, der als Premierlieutenant seinen Abschied nahm, trug zwar nicht selbst die englische Uniform in Quebec und am Lorenzostrom, war aber dem bis zum Obersten Emporsteigenden immer zur Seite und kehrte, mehr als sein Freund, denn als sein Diener, mit ihm nach Europa zurück. Zu Kocher am Fall, in der Nähe des gutmüthigen, alle schroffen Gegensätze dieser Familie mit unendlicher Güte und Milde ausgleichenden Dechanten zu St.-Zeno, einem alten, reich dotirten Stifte, einem der wenigen, die in ihrem alten Glanze durch die neuen Zeitläufe deshalb unberührt geblieben waren, weil der Kaiser von Oesterreich einen Theil der Patronatsrechte besaß, siedelte sich der Oberst Ulrich von Hülleshoven zunächst 103 an und man versuchte nun von dort aus, soweit es der schroffe, düstere und der Aussöhnung wenig geneigte Sinn desselben gestattete, die so gewaltsam zerrissenen Familienbande wieder anzuknüpfen. Hedemann war nach Westerhof und dem Institut der Englischen Fräulein entsendet gewesen, um den Onkel Levinus und die Tante Benigna zur Aussöhnung, Armgart aber zu einem Besuch des Vaters, den sie nie gesehen und der seinerseits aufgesucht sein wollte, zu bewegen. Statt der Aussöhnung und statt Armgart’s brachte Hedemann, der mit Benno von Asselyn, dem von ihm fast erzogenen Adoptivsohn des verstorbenen Max von Asselyn, in der Residenz des Kirchenfürsten zusammengetroffen und von diesem nach Kocher am Fall auf dem Dampfboot und zu Fuß begleitet worden war, einen Brief der Lehrerin Angelika Müller an den Dechanten. Was er enthielt, wußten Hedemann und Benno nicht, der ihn für die Dechanei an sich nahm. Als jener dem jungen Kinde gesagt hatte, der Vater nähme Anstand, sie in Lindenwerth selbst zu besuchen, so sehnsüchtig er nach ihr verlangte, er wünsche und hoffe aber, daß sie, wenn nicht ihn, doch den Onkel Dechanten, wie Franz von Asselyn in allen diesen Familien hieß, besuche; da hatte Armgart nichts erwidert als daß sie zwar von namenlosester Sehnsucht zu ihrem nie gesehenen Vater erfüllt wäre, jedoch erst mit dem Pfarrer zu Drusenheim in dem der Insel Lindenwerth gegenüberliegenden Enneper Thale, dann mit den beiden Englischen Fräulein, dann mit Angelika Müller, dann vor allem mit ihren wahren Aeltern, Tante Benigna und Onkel Levinus, über einen so wichtigen Schritt Rücksprache nehmen müßte. Mit 104 schwärmerisch andachtsvollem Emporblick hatte Armgart hinzugefügt: Auch meine arme Mutter hat Rechte auf meine Liebe und ich glaube nicht, daß meine Bitte für sie zur seligsten Jungfrau unerhört an der Gnadenreichen vorübergeht! … Ihre Mutter, Monika von Hülleshoven, lebte zu Wien noch vor kurzem in einem Kloster, in das sie sich, aus Unmuth, ermüdet vom Kampf mit ihrer Familie, entsagend selbst auf das eigene, aus Strafe ihr geraubte Kind, vor zwölf Jahren zu einer Freundin geflüchtet hatte … Armgart begleitete bis an die Maximinuskapelle mit dem ganzen Institute den guten Hedemann (der Wunderdinge von den Wilden und den Wäldern und Wasserfällen Canadas, auch bei der Hinreise nicht oft genug eine große Rettungsthat des Vaters, die einem jungen, im Institut durch Verwandte bekannt genug gewordenen Kaufmann aus der nahe gelegenen handelsreichen Residenz des Kirchenfürsten gegolten, wiederholen konnte – auf der Rückreise war er schweigsamer geworden –); dort aber war sie freilich von ihrer löblichen Absicht, ganz und allein nur den Fragen nach Vater und Mutter zu leben, abgekommen; denn am Ufer und schon am vielbesungenen Hüneneck sah sie Benno und den noch dazu zum ersten mal in Uniform! Benno war erst als Student dem Kinde bekannt geworden. Sieben Jahre später wurde er von Westerhof aus gebeten, sich um die nach Lindenwerth zu den Englischen Fräulein gegebene Armgart in sorgsamer Obhut zu bekümmern; er wohnte dafür nahe genug in der Stadt, wo er bei Dominicus Nück, dem großen Rechtsgelehrten, arbeitete. Seit sechs Monaten sah er sie fast jeden Sonntag; 105 heute aber zum ersten mal im bunten Rock, der alle Mitpensionärinnen an ihre Brüder und Vettern erinnerte. Da gab es Vergleiche, Erkundigungen, Erinnerungen für diese glückliche junge Welt und so viel wurde nach dem 40., 36., 22. Linieninfanterieregiment, nach den Jägern, Husaren, Premier-, Secondelieutenants und Fähnrichen und der Dauer der diesmaligen Uebungen und den in einfachen Gemeinenuniformen steckenden Assessoren, Referendaren, Doctoren und Kaufleuten gefragt, daß das eine der beiden Englischen Fräulein, die das Institut dirigirten, den Verlust der Sammlung zur Andacht in der Kapelle befürchtete und dann nur noch Armgart gestattete, über ihre Familienangelegenheiten, dans ses affaires, wie sie sagte – sie war eine Strasburgerin –, mit dem so ehrbaren oder doch seinen Humor unter Ernst versteckenden Freiwilligen sich zu necken und auszuscherzen. Diese Freiheit war dann auch vollständig von Armgart benutzt worden bis zum Abschiede, den Lucinde gestört hatte. Benno brauchte sich nicht zu stolz zu dünken auf Armgart’s Vertraulichkeit. Sie liebte im Grunde nur ein Wesen, ihre für sie ganz seraphische, immer nur wie in Marienkränzen, die durch weiße und rothe Wolken gingen, eingerahmte Paula. Benno sah das aufs neue an der augenblicklichen Erkennung eines Wesens, von dem ihr Paula nur erzählt hatte! Von ihrer eigenen Anwesenheit auf Schloß Neuhof wußte sie nichts mehr – Hühner und Tauben und Schwäne und türkische Enten konnten in Armgart’s Seele nicht haften bleiben, das mochte geringere Naturen fesseln. Armgart hatte im Stift Heiligenkreuz eine fast klösterliche Erziehung genos-106sen. Frühzeitig hatte diese auch sie zur Traumwandlerin gemacht; nicht so, wie man bei Gräfin Paula in Wirklichkeit gefürchtet, daß sie’s bis zum Wandeln im Schlafe bringen könnte – seitdem sie das Streckbett verlassen, waren der Hochschlaf und die Sehergabe entschwunden – nein, nur figürlich; Armgart sah auf jeder Wolke einen Heiligen ruhen, sah in jeder Blume einen Elfen schlummern, sprach mit dem Monde, mit der Welle, mit dem Steine, womit nicht alles, ohne doch darum dem Lachen und Necken abgeschworen zu haben! Es war ein Duft um Armgart her, soviel Unwiderstehlichkeit, daß Benno sie auch bis zum Erobernmüssen geliebt und angebetet haben würde, wenn ihn nicht zwei Mächte zurückgehalten hätten. Einmal die Freundschaft für den jungen reichen Kaufmann Thiebold de Jonge, dem in Canada Armgart’s Vater und Hedemann das Leben gerettet hatten und der, jetzt in seine Vaterstadt, die Residenz des Kirchenfürsten, zurückgekehrt, zu Armgart von einer wahrhaft leidenschaftlichen Liebe verzehrt wurde. Dann aber zweitens die tiefste Verstimmung über sein eigenes Lebensschicksal selbst, die dunkeln Anfänge seines Daseins, mancherlei Erfahrungen von frühester Jugend her, das bittere Gefühl, immer nur durch Andere und Fremde erhalten worden zu sein und eine darauf sich gründende Welt- und Lebensauffassung, die eine völlig negative und alles, was bestand, in Nichts auflösende war. Auch die Religion war ihm Menschenwerk. Wenn Benno gegen Grützmachern opponirt zu haben schien und von den Vorkommnissen innerhalb seiner Kirche mit warmer Theilnahme sprach, so war es nur aus politischen Gründen und um der Ab-107neigung gegen das ganze damals herrschende Regierungssystem willen.

Während Benno schon von der lieblichen Armgart träumte, noch ehe er entschlief, glaubte Hedemann nach ihm rufen zu hören.

Er richtete sich auf und sagte:

Hedemann! Wünschen Sie noch etwas?

Hedemann murmelte nur …

Wieder drückte Benno seinen militärisch kurzgeschorenen, „ihm selbst wie nicht angehörenden“ Kopf in die Kissen. Waren aber auch seine Augen bald geschlossen, so gaukelte doch Armgart vor ihnen, wie wenn sie wachten. Armgart hatte die Elasticität des Rehes und schelmisch standen ihr vorzugsweise drei Dinge. Am Kinn ein Grübchen; zwei wunderlich ein wenig hervorstehende Zähne, die man nur dann nicht sah, wenn der Mund ganz fest geschlossen war, die aber sonst immer ein klein wenig mit ihrem blendenden Email hervorblitzten; drittens die weder römische noch griechische, sondern weit eher stumpfe, aber höchst schelmisch geschwungene Nase. Ihre Augenbrauen waren so dunkel wie das Haar, auch die Augensterne dunkelbraun mit schwarzen Punkten … Und nun tönten immerfort die dummen Worte, wie: „Hören Sie doch, Benno!“ oder „Was meinen Sie, Asselyn?“ oder „Sie Vaterlandsvertheidiger, was glauben Sie, gibt es Krieg?“ oder „Warum wollen Sie denn nicht General werden?“ oder „Was? In unserer Armee gibt es keinen einzigen katholischen Obersten?“ oder „Wie sieht mein Vater aus?“ oder „Ich sticke ihm einen Cigarrenbecher, aber sagen Sie ihm nichts, Benno!“ geradezu wie Musik in sein Ohr, bis er jetzt 108 wirklich eingeschlafen wäre, wenn er nicht den wunderlichen Hedemann nun allerdings noch ganz laut hätte reden hören.

Hedemann hielt sein Nachtgebet. Doch wußte er dabei schwerlich, daß es Benno hören konnte.

Hedemann sprach:

O du mein Herr und Heiland! Erleuchte meinen Sinn und laß mich wandeln, wie dir wohlgefällig ist! Thu abe von mir die Werke der Finsterniß und laß mich kämpfen den guten Kampf des Glaubens!

Benno sagte sich:

Den haben die Engländer schön in der Mache gehabt!

Nun entschlief auch er …

Die Sonne schien schon hell auf sein Lager, als er erwachte.

Er sprang auf und fand das Lager seines Mitschläfers in der Kammer bereits leer.

Seine Kleider hingen schon gereinigt vor ihm über einem Stuhl …

Rasch schlüpfte er in sie hinein und staunte beim Waschen und Haarbürsten über die Unruhe im Orte …

Er kannte doch die tägliche Lebensordnung in St.-Wolfgang und erkundigte sich durch ein Hinabrufen im Hause nach der Ursache der Bewegung.

Von Hedemann, der schon fertig angezogen eintrat, von Renaten, die hinter diesem her ihn schon lange mit dem Frühstück zu erwarten erklärte, erfuhr er, daß wirklich in der Nacht der Friedhof entweiht worden war.

Grützmacher hatte Recht gehabt! Man hatte das Grab aufgegraben, den Sarg heraufgezogen, ihn er-109brochen, die Leiche geradezu hinausgeworfen und gierig das Stroh durchwühlt, auf dem sie gebettet gewesen.

Von einer ganzen Bande sprach man und von gefundenen Schätzen und Grützmacher war dem Knechte nachgeritten, der Lucinden gestern geführt hatte, und andere waren den Italienern nach, die die Nacht in einem Orte eine halbe Stunde weiter campirt hatten, und der Ortsgensdarm Müller war von Stockhofen drüben bereits requirirt worden und alles, hieß es, forsche und jage und suche und renne …

St.-Wolfgang war in wildester Bewegung und wie im Aufruhr.

110 5.#

Wo ist mein Vetter? rief Benno von Asselyn, eilends die Stiege hinunterspringend, und vergegenwärtigte sich den Schmerz, den Bonaventura über ein solches Ereigniß auf dem Friedhofe seiner Kirche empfinden mußte.

Er erfuhr sogleich, daß Bonaventura auf dem Friedhofe die Ordnung schon wieder äußerlich hergestellt hatte und mit dem Schulzen des Ortes eine genaue Darstellung der Vorgänge, wie sie auf dem Friedhofe gefunden worden waren, eben schriftlich aufsetzte.

Gern hätte ihm Benno beigestanden, aber Hedemann, ein alter Soldat, erinnerte ihn, daß er heute Nachmittag Schlag fünf Uhr in Kocher am Fall zum Appell auf dem Marktplatze stehen müßte.

Der bestellte Wagen fuhr auch schon aus dem Stern vor.

Von Lucinden hieß es, sie würde sogleich zur Hand sein; sie hätte gesagt, man sollte nur erst die Herren abholen.

Benno entsann sich seiner militärischen Pflichten. Hatte er doch heute schon die weiße Weste ausgelassen. Aber Bonaventura mußte er wenigstens einen Augenblick sprechen!

111 Er eilte auf den Friedhof und fand den Vetter in der Sakristei der Kirche beschäftigt mit den Anordnungen einer noch im Laufe des Vormittags von ihm bezweckten neuen Einsegnung der entweihten Begräbnißstätte.

Bonaventura war nicht nur von dem Fall an sich aufs heftigste erschüttert und von der Hoffnung, der Thäter würde nicht zu seiner Gemeinde gehören, in der größten Aufregung, sondern er war es noch mehr von einigen Gegenständen, die man, als dem freventlich erbrochenen Sarge in der That entfallen, ringsumher zerstreut gefunden hatte …

Mit dem allen fand ihn Benno so beschäftigt, daß er von seinem Freunde gebeten wurde, sich in der Fortsetzung seiner Reise nicht stören zu lassen. Bonaventura setzte mit der ganzen Erregung einer Natur, die in nervöser Anspannung zu leben nicht gewohnt ist, hinzu, daß er nach der vollzogenen Sühne der heiligen Stätte und einer Predigt, die er zur Erschütterung der Herzen, vielleicht zur Entdeckung des Thäters halten müsse, wahrscheinlich den Abend noch selbst in der Dechanei eintreffen würde. Einmal, sagte er, handelte es sich um eine Anzeige beim Amte in Kocher, dann aber vorzugsweise um einige Andenken an seinen unvergeßlichen Vater, die sich denn also wirklich in dem Sarge vorgefunden hätten … Andenken, über welche er mit dem Onkel, dem Dechanten, zu sprechen die Zeit nicht erwarten könne.

Freund, dich macht der Vorfall krank! Beruhige dich! rief Benno.

Erzähle nichts dem Onkel! erwiderte der Pfarrer. Du kennst seine Abneigung gegen alles, was aufregt …

112 Benno mochte nicht länger forschen, worin die gefundenen Andenken an den Vater bestanden. Er wußte, daß diese Gedankenverbindung um so mehr Trübsinn in dem reinen und kindlichen Gemüthe Bonaventura’s wecken mußte, als sich dieser seit einiger Zeit die Meinung gebildet hatte, sein Vater lebe noch. Bonaventura hatte sich diese Meinung mit um so ängstlicherer Ungeduld gebildet, als er sogar voraussetzte, der Vater wäre freiwillig aus der Reihe der Lebenden geschieden, nur um seiner Mutter möglich zu machen, seinen jetzigen Stiefvater, Herrn von Wittekind-Neuhof zu heirathen. Wenn er dann gedachte, daß die Kirche die Ehe, auch die unglücklichste, auch die seit Jahren auf einer gegenseitigen Unfähigkeit, die Leidenschaften zu unterdrücken, beruhende und unmöglich gewordene in keiner Weise freigäbe und löste, so hatte schon Bonaventura geglaubt, sein Vater hätte sich den Schein des Todes gegeben, nur um zwei Menschen glücklich zu machen, die auf eigenthümliche Art und, wie er aus den Erzählungen der alten Renate sich entnehmen zu müssen glaubte, keine mehr zu vermeidende Weise in die engste Beziehung gekommen waren. Sieben Jahre waren seitdem vergangen. Jetzt erst kamen ihm diese Zweifel, jetzt in verstärkterer Gewalt. Benno kannte sie und mochte sie um so weniger wecken, als sie mit den wichtigsten und zartesten Lebensfragen im Gemüth des seinem Berufe so begeistert hingegebenen Priesters zusammenhingen und schon oft Gegenstand von Differenzen zwischen ihnen beiden gewesen waren. In der sichern Hoffnung, ihn vielleicht schon am Abend beruhigter in der Dechanei wiederzusehen, nahm er Abschied, setzte sich 113 in den Wagen, mit dem Hedemann auf den Friedhof nachgekommen war, und fuhr, um Lucinden abzuholen, nach dem Stern.

Auch diese war von der Meldung des in der Nacht Vorgefallenen nicht wenig überrascht gewesen.

Sogleich fragte sie nach dem Gensdarmenwachtmeister. Dieser war schon unmittelbar nach dem Lärm, der beim ersten Morgendienst des Meßners entstanden war und das Frühläuten zum Sturmläuten gemacht hatte, auf die Landstraße hinausgesprengt, dem Knechte nach, der sie gestern gefahren hatte. Man behauptete, daß der Knecht die Nacht im Stall geschlafen, lange Licht gehabt hätte und sich eines Spatens aus dem Garten des Wirthshauses bedient haben müßte, den man nicht finden konnte. Die herkulische Kraft, die zu der Ausführung des Frevels gehörte, ließ sich ihm zutrauen.

Nun gab das einen Schwung der Spannung und Erregung! Lucinde wusch und erfrischte sich so schnell, als könnte sie einen Auflauf versäumen. Ehe noch die Mägde ihre Oberkleider, Hut und Schleier gelüftet und entstäubt hatten, war sie schon mit dem schnell geordneten Kopfe aus dem Fenster. Der Zweispänner, eine stattliche Chaise, stand schon vor dem Hause, ein Kutscher klatschte, Hedemann und der Freiwillige grüßten.

So zeitig schon? rief sie zum Fenster hinaus und zog ihre stehen gebliebene kleine Taschenuhr auf, stellte sie nach dem glänzenden Zifferblatt des Kirchthurms, hing ihr Kreuz um und drängte zur Eile. Nur Milch trank sie, etwas schwarzes Brot aß sie dazu und nach einigen Minuten, obgleich Benno von Asselyn einmal 114 um das andere hinaufrief: Uebereilen Sie sich nicht! stand sie unten am Wagen.

Nachdem sie vor der Hausthür ihre Zeche berichtigt hatte, stieg sie an der Hand Benno’s ein. Hedemann saß auf dem Bock neben dem Kutscher, der dem Stern angehörte. Für fremde Herrschaften war er ein Postillon, für diejenigen, die unter der Taxe reisten, blieb er in seinen gewöhnlichen Kleidern; heute aber hatte er sein Horn zu sich gesteckt und blies lustig mit hinein in das allgemeine Juchhe. Es kostete das Strafe, hörten es die Gensdarmen. Grützmacher aber und Müller jagten dem Leichenräuber nach.

Nein! rief jetzt Lucinde, an die Erzählung der Vorfälle sogleich anknüpfend. Mein Kutscher wär’ es gewesen! Ich glaub’ es nicht! Ich wette, der Thäter war Herr Grützmacher selbst! Er hat dem Pfarrer zeigen wollen, daß die Polizei nicht an Phantasieen leidet!

So gefällig auch Benno war, ihr den Vorfall in aller Ausführlichkeit mitzutheilen, verschwieg er doch seines Vetters persönliche Aufregung durch die gefundenen Erinnerungen an dessen Vater.

Lucinde warf dem Dorfe und dem Pfarrhause einen langen hoffnungsvoll seligen Abschiedsblick zu …

Hedemann schaute unverwandt in die Ferne. Wie wenig er auch glauben konnte, daß die Italiener an dem Frevel betheiligt waren, bekümmerte ihn doch die Belästigung, der die friedlichen Passagiere ausgesetzt sein konnten.

Allmählich gab sich auch der Postillon sowol mit dem Blasen zufrieden, wie mit seinen Mittheilungen über den 115 neu erst im Weißen Roß eingetretenen Knecht, den Vorfall mit der Stallaterne und dem Spaten, der fehlte …

Lucinde schlug, da der Staub zunahm, ihren Schleier über und forderte Benno auf, seinen Cigarren zuzusprechen. Sie war in ihrem Leben von Jérôme, vom Kronsyndikus, Klingsohrn, Serlo genug „eingeräuchert“ worden.

Benno folgte ihrer Erlaubniß, indem er sagte:

Mein Onkel, der Dechant, ist galanter! Sie werden bei ihm von Tabackrauch nie belästigt werden!

Wie alt ist der Dechant? fing sie nach einer Weile an.

Ah, ah! erwiderte Benno. Wie alt! Fragen Sie das nie in der Dechanei! So alt wie Methusalem ist er nicht, aber so jung auch nicht, wie – von der guten Frau von Gülpen, die nun schon dreißig Jahre seine Wirthschaft führt, seine Geburtstage numerirt werden!

Dreißig Jahre? unterbrach Lucinde.

Eher mehr als weniger! erwiderte Benno.

Und zu Hedemann hinaufrufend, fuhr er fort:

Nicht wahr, Hedemann, als Sie vor zehn Jahren nach Amerika gingen, schwankte der Onkel um das Ende der Sechziger herum? Er müßte demzufolge jetzt siebzig sein! Aber ich will nicht gut dafür sagen, daß nicht Frau von Gülpen seine nächste Geburts- oder Namenstagstorte nur mit sechzig kleinen Wachsendchen besteckt!

Lucinden machte der Name „Gülpen“ in Verbindung mit einer Geburtstagstorte einen fast märchenhaften und in der Wirklichkeit kaum möglichen Eindruck.

Hat Frau von Gülpen, fragte sie, nicht eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Benno versicherte, diesen Namen nie gehört zu haben.

116 Hedemann! rief er; hat die Tante eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Lucinde ergänzte: Eine Schwester vielleicht?

Hedemann oben zuckte die Achseln.

Das Jahr 1809, wo ihre ehemalige Peinigerin von ihrer Lebenshöhe gestürzt sein sollte, lag über die Erinnerungen der sie umgebenden Generation hinaus.

Benno drückte am Wagenschlag die Asche seiner Cigarre ab und sagte ironisch:

Wir sind vielleicht an eine zu große Anzahl von Verwandten unserer verehrten Frau von Gülpen gewöhnt! … Ihre Nichten wenigstens … Nicht wahr, Hedemann, die Nichten der Tante –

Erstes Kennzeichen Ihres Onkels, schnitt Lucinde die zweideutige Anspielung auf den Deckmantel für die weibliche Bewohnerschaft einer geistlichen Wohnung ab – Erstes Kennzeichen also Eitelkeit!

Eitelkeit? sagte Benno. Vielleicht auf seine weißen Hände! Und doch nicht! Diese Selbsttäuschung über den Geburtstag gehört zu des Onkels Philosophie!

Zweites Kennzeichen: Philosophie! Welche Philosophie? Die, welche dem Dr. Laurenz Püttmeyer zu Eschede noch immer nicht den Hegel’schen Lehrstuhl und Fräulein Angelika Müller einen Mann verschafft hat?

Sie sind unterrichtet! lachte Benno. Nein, keine von unsern Haarrauch-Philosophieen, die die Dogmatik trigonometrisch beweisen wollen und zuletzt doch an einem Breve des Papstes zu Grunde gehen, wie die da, die seit ein paar Tagen auf unserer Universität drüben zu leben aufgehört hat! Allerliebst, wie in unsere schöne 117 deutsche Kunst und Wissenschaft hinein ein solches römisches Kapitel sein „Kannichverstan“ hineinsprechen und sogleich so in ihr herumwühlen und aufräumen darf, wie hoffentlich jetzt die Bauern von St.-Wolfgang nicht unter den Götterbildern des guten Napoleone aufräumen … Sehen Sie nichts, Hedemann?

Nichts! … war die Antwort des zuweilen seine zusammengelegte Hand wie ein Perspectiv gebrauchenden Gefährten.

Napoleone erzählte mir, der Dechant liebe die Antike! fuhr Lucinde fort. Ein Sohn Ihrer Heimat und ein Liebhaber der Kunst? …

Indem rief Hedemann einige Bauern an, die eilends des Weges kamen.

Sie waren aus St.-Wolfgang und sagten aus, daß bei den Italienern nichts gefunden wurde, was auf ihren Antheil an dem nächtlichen Verbrechen hätte schließen lassen können.

Wie mag man die Armen belästigt haben! sagte Lucinde nach einer Weile und summte, da Benno über die von ihr angedeutete Unvereinbarkeit seiner zweiten Heimat mit dem Schönen in Nachdenken verfiel, vor sich hin die Worte Mignon’s:

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, gethan!

Für den da oben scheint allerdings Porzia zur Mignon geworden! flüsterte Benno und deutete auf Hedemann, der über die Unschuld der Italiener Zeichen der größten Genugthuung gab.

118 Die Gegend gewann inzwischen einen bestimmter ausgeprägten Charakter. Man befand sich auf der Absenkung eines großen Thalbeckens, das viele Meilen weit sich in wellenförmigen Senkungen und Erhöhungen hinzog bis zu den Gebirgen, die Deutschland von Frankreich trennen. Der Naturforscher kennt diese Gegend als eine, die ihre urweltlichen Bildungsformen nicht verleugnet. Graue Basaltkegel stehen oft in der Mitte dieses Hügellandes als Reste vulkanischer Ausbrüche. Einsam ragen die abgestumpften Felsgestalten, von dünnem Zwergholz überwachsen. Oft steigen sie schroff bis zu den schärfsten und dann und wann mit einem Kreuz gezierten Spitzen hinan. Von einem höhern Punkte gesehen ist der Fernblick meilenweit, aber er ist nicht mehr wohlthuend durch Saatengrün und lichthelle Waldungen, das Land wird unfruchtbar und wie von Steinen überstreut. Vulkane müssen hier einst einen feurigen Hagelregen aus dem glühenden Innern der Erde geschleudert haben. Bei einzelnen etwas grünen Stellen, aus denen ein Kirchthurm hervorragt, kann man immer annehmen, daß sich dort das stete unterirdische Sieden und Kochen auch an einer wohlthätigen Quelle verkündigt, deren Wasser an Ort und Stelle zum Baden dient, erkaltet in Krügen weiter ins Land geführt wird. Kleine Seen finden sich viele; desto weniger Bäche. Der einzige größere ist jener „Fall“, an welchem Kocher liegt, eine von jenen uralten, schon in die Römerzeit zurückreichenden Städten der sagen- und erinnerungsreichen Gegend.

Hatte man weniger den zuletzt vom Hundsrück und den Ardennen begrenzten düstern Höhenblick, so fehlte 119 es abwärts in den Kesselthälern nicht an Abwechselung. Die Cultur hatte dem steinigen Boden abgerungen, was diese nur an Fruchtbarkeit, wenn auch nur für Gerste und Hafer, irgend hergeben wollte. Und belebt war bei alledem die Gegend doch. Selbst auf der Landstraße begegnete man, außer Landbewohnern, Soldaten, die wie Benno sich beim Stabe einstellen mußten, manchem Geistlichen zu Fuß, manchem im Wagen; des Verbeugens vor Heiligenbildern und vor offenen Kirchthüren wurde fast kein Ende und selbst vor einer Procession mußte der Wagen halten. Jetzt nach der Ernte begannen die Wallfahrten zu manchem wunderthätigen Gottes- oder Heiligenbilde. Auch war man ziemlich nahe schon jener hochbegnadeten Stadt, die den heiligen Rock des Herrn selbst besitzen will und allerdings die ältesten Märtyrer und Heiligen aufzuweisen hat, ja die den heiligen Athanasius einst beherbergte, als er aus Aegypten vor den Arianern floh. Die Zeit war herangekommen, wo gerade des Athanasius’ Andenken lebhaft erneuert werden sollte; mancher hohe Würdenträger, ja der Kirchenfürst der Provinz selbst eiferte ihm nach.

In einem Dörfchen wurde gefüttert.

Als man gegen zehn Uhr weiter fuhr, fiel es auf, daß die Reisewagen mit höhern Geistlichen sich mehrten …

Benno erinnerte wiederholt daran, daß in Kocher eine geheime Verabredung sollte getroffen werden, der selbst Dominicus Nück, sein Principal, nicht fremd war.

Er meinte jenes Rütli, auf dem Bonaventura als Tell fehlen durfte, ob Lucinde gleich, zur Mehrung ihrer Erregung, allmählich vernommen hatte, daß der Pfarrer 120 vielleicht doch noch diesen Abend gleichfalls in der Dechanei eintreffen und so sich schon sobald ihr seliges Hoffen erfüllen könnte, wie oft – wie oft Ihm nahe zu sein! …

Mit dem Steigen der Sonne wurde es schwüler und schwüler. Gegen elf Uhr kündigte sich ein Gewitter an. In der Gegend von Kocher her lagerten sich schon dunkle, tief graublaue Wolken …

Benno fing allmählich an in seiner schroffen Beurtheilung Lucindens nachzulassen. Einzelne ihrer Redewendungen, das Mitleid mit den Italienern, die vor einigen Stunden fast mit Rührung gesprochenen Goethe’schen Verse hoben ihm immermehr ihre Erscheinung. Da sie die schwüle Luft bestimmte, den Schleier zurückzulegen, so musterte er mit geringerer Abneigung auch ihren heute fast vornehm sich gebenden äußern Eindruck. Lässig und wie hingegossen lag sie in der Ecke des Wagens. Der schottische Mantel war ihr von den Schultern geglitten und so krampfhaft auch der jetzt eingeschlagene kleine Sonnenschirm von ihr auf die grauen Zeugstiefelchen, die den kleinen Fuß bedeckten, gestemmt wurde, der Eindruck war der der Ruhe und fast einer höhern Ergebung. Gestern hatte sie von der Anstrengung und Ermüdung der Reise älter ausgesehen als sie war. Heute gab ihr eine geringere Röthe des Antlitzes, ja ein wachsbleicher Teint etwas Vergeistigtes. Die langen schwarzen Wimpern bedeckten die unruhigen Augen. Die Athemzüge wurden ersichtlich aus der hoch sich hebenden Brust. Es war wie ein Hauch über ihr ganzes Wesen gekommen, der ihre Formen anschwellen und sie in plastischerer Vollkommenheit erscheinen ließ.

121 Benno spielte mit seiner Cigarre den Gleichgültigen und war es schon lange nicht mehr. Er sah hierhin und dorthin und gab sich, wie absichtlich, den Schein der Gewöhnlichkeit und prosaischsten Nüchternheit; dennoch hielt er bei alledem den Gedanken fest: Wenn sie sich nur nicht rührt! Wenn sie nur in dieser Stellung verharrt, die Augen, die kalten, nicht aufschlägt, nicht redet, ganz so bleibt, wie sie dasitzt, fast liegt, träumerisch, ohne Berechnung, ohne Koketterie und Bewußtsein von ihrem sich mehrenden Reize!

Lucinde merkte aber schon das Interesse, das sie einflößte. Leise blitzte unter den Wimpern ihr Auge. Fast seitwärts schielend sah sie auf. Die Magie des Eindrucks war zerstört.

Woran dachten Sie eben, Fräulein? fragte Benno erschreckend vor einem so immer in Thätigkeit verbleibenden Verstande.

Lucinde blieb in ihrer hingegossenen Stellung, rückte und rührte sich nicht, senkte die Augen und sagte:

Ich sehe Bilder vor mir, die mir Mignon und der Harfner weckten … katholische Bilder …

Malen Sie sie aus!

Benno blies den Dampf seiner Cigarre fort.

Ich sehe ein Schloß und sehe Menschen … die ganz wie in Mondschein getaucht sind … Ein schöner Park umgibt das altmodische Gebäude … Es hat epheubewachsene Thürme und Galerieen … Kleine Buchsbaum- und Taxushecken ziehen sich unter den Fenstern hin … Springbrunnen rieseln … Pfauen schlagen ihre schönen Räder … Bildsäulen lauschen versteckt aus Jasmin- 122 und Geisblattbüschen … Dazu ertönt vom Söller die Mandoline … Ein Pilger schlägt sie … Auf der Altane werden von einer Dame Lieder gesungen aus einem alten Pergamentbuch … ein Mönch, der Liebling und Erzieher des Hauses, steht hinter ihr und schlägt die Noten um … Und wenn dann fernher die Glocken klingen oder ein Jäger im Walde ein Ritornell verhallen läßt, geht alles zur Ruhe … Nun steigen die lieben Englein nieder … Die kleinen bausbackigen Jungen schleppen Violinen und große Contrabässe herbei … sie musiciren und das so, daß die Frösche mit Jubel einfallen, die Heimchen mitschrillen … Alles neckt sich … Blume und Käfer … bis endlich die Sonne am fernen Horizont mit rosigen Streifen sich ankündigt … Willkommen o seliger Morgen … Alles blitzt im Thau … es läutet zur Messe … dann Wagengerassel … es kommen vornehme Abbates und Prälaten … die Kinder des Hauses spielen mit ihnen nach der Andacht, spielen selbst mit dem Strick des Franciscaners, der am Abend die Noten umschlug, und lassen ihn Pferdchens springen … dazu summen die Bienen, schwirren die Käfer … und wenn bei Tisch auch noch soviel Wein aus schönen hochgespitzten bunten Gläsern getrunken wird und braunglänzende Braten hoch aufgetragen werden, wie in den Bildern des Paul Veronese … es geht doch heilig und weltlich immer in eins … die Reste des Mahls und Wein, diesen in einer hohen strohumwundenen Flasche, schickt man dem frommen Eremiten Federigo unter den Eichen von Castellungo, der dafür die Kinder mit Bildchen beschenkt, die er in seiner einsamen Hütte 123 malt … oder sie das schwere, wie Steine rasselnde Deutsch lehrt, wenn es zufällig Kinder eines italienischen Conte sind … oder ihnen in seinen hohlen Eichen Rendezvous vermittelt, wenn sie größer werden und verliebt sind … Doch sehen Sie nur, unterbrach sie sich in ihrer Schilderung plötzlich selbst; es gibt wirklich ein Wetter!

Sie Glückliche, lachte Benno, Sie können Ihre Phantasie zu Hülfe nehmen, wenn nicht alles auf der Dechanei so zutrifft, wie Sie’s sich gedacht und ausgemalt haben!

Ganz recht, bestätigte Lucinde, eben die Dechanei, die dacht’ ich mir so … mutatis mutandis

Mutatis mutandis? wiederholte Benno und sah sie, erstaunend über ihr Latein, an.

Ich meine die Kinder …

Verstehe! Verstehe!

Es trat eine Pause ein, in der Lucinde den Triumph genießen konnte, sich sagen zu dürfen: Du kalter, eingebildeter junger Mensch, glaubtest mich so über die Schultern ansehen und nach den Aussagen der alten Renate, Grützmacher’s und wer weiß, ob nicht auch deines so grausamen, so tugendkalten und mich glücklichunglücklich machenden Bonaventura beurtheilen zu können!

Und auch Benno fühlte vollkommen, was sie dachte. Nach einer Weile sagte er:

In der Hauptsache werden Sie es wirklich so in der schönen Dechanei finden! Sie könnte allerdings ganz in ein Gedicht von Clemens Brentano passen! Selbst die Pfauen fehlen nicht! Noch mehr, der Onkel hat einen alten Diener, dem er gestattet in den Sternen zu lesen …

124 Das ist schlimm für seine Teller! unterbrach sie. Aber?

Frau von Gülpen …

Frau von Gülpen?

Benno zuckte die Achseln und deutete an, daß mit diesem Namen die in Kocher am Fall zu erwartende Poesie ein Ende hätte.

Lucinde verstand diese Geberde. Mit tiefschneidender Ironie sagte sie:

Also Frau Renate die Zweite!

Und wie sie dann hinzufügte: O Männer! Männer! … so war dies doch ein Ton, als hätte Benno aufspringen müssen, ihre Arme zu fassen und sie niederzudrücken mit den Worten: Schwaches Weib, glaubst du denn allmächtig zu sein? … Es war der Glutenstrom, den Armgart gestern aus ihr herausgehen gefühlt hatte, der Glutenstrom, unter dessen Gewalt vielleicht die Gräfin Paula vergangen wäre, wenn sie nicht Bonaventura durch ihre Entfernung gerettet hätte; aber auch der Glutenstrom wieder, der ihm sympathische Naturen heben und zum Gefühl der Unsterblichkeit hätte beleben können und von dem sich trennen zu müssen einst Klingsohrn zur Verzweiflung brachte.

Zum Glück für Benno’s sich meldende Aufregung gab es Zerstreuungen am Wege und bald auch kühlte er sich ab durch Lucindens rückkehrende Koketterie. Sie sprach von Armgart und verrieth ihre Absicht, ihren Begleiter zu Vergleichungen zu veranlassen. Nun war es aber doch wie eine sanfte Musik, die über Benno sich ergoß, als er Armgart so nennen hörte. Mit jener ironischen Schärfe, die seinen Zügen nicht bitter oder gar faunisch wie Klings-125ohrn, nicht elegisch wie Serlo stand, sondern die eine große Anmuth in dem männlichen, edelgeformten Antlitz verbreitete, die schönsten Zähne zeigte und den Augen eine schelmische Gutmüthigkeit lieh, sagte er:

Lieber Himmel, mein Fräulein! Sind Sie denn wirklich schon so alt, daß Sie sich an Armgart’s Jugend ewig rächen zu müssen glauben! Lassen Sie doch die Kleine noch so kindisch sein wie sie ist! Hedemann, wie oft haben Sie ihr die Rettungsthat aus Canada erzählen müssen?

Hedemann wandte sich und sagte, er selbst hätte das nur einmal gethan, aber Herr de Jonge wol ein Dutzend mal.

Herr de Jonge! fuhr Lucinde, die Bennon über seine Aeußerung nicht zürnte, fort. Wer ist Herr de Jonge? Ein Reisegefährte des Herrn Hedemann? Erzählen Sie! Wir genießen das Gefühl, noch im Trockenen zu sitzen! Sehen Sie nur dort drüben, oberhalb der schwarzen Berge, wie es da schon niedergießt!

In Kocher am Fall! bestätigte Benno mit nachdenklichem und zerstreutem Tone.

Also, Herr Hedemann! Die Rettung aus Canada! Wer ist Herr de Jonge?

Sie werden ihn vielleicht in der Dechanei finden! erwiderte Hedemann und um gleichsam auf diese Art der Erzählung überhoben zu sein.

In der Dechanei? Um so mehr müssen wir auf ihn vorbereitet sein! Wer ist gerettet worden? Wer hat gerettet? Erzählen! Erzählen!

Diesem Humor ließ sich nicht widerstehen …

126 Benno zündete sich eine neue Cigarre an und begann:

Das beste Schiffsbauholz –

Hedemann hielt sich auf dem Bock die Ohren zu, als wollte er sagen: Diese tausendmal wiederholte Geschichte! Ich kann sie nicht wieder hören!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr Benno mit um so größerm Nachdruck fort …

Die Cigarre war noch nicht im Gange …

Das beste Schiffsbauholz – wiederholte Lucinde, um gleichsam den Faden festzuhalten …

Bieten die Urwälder Canadas! Sie wissen doch, Fräulein, wo Canada liegt?

Lucinde dachte an ihre Langen-Nauenheimer Wandlandkarte und zeigte mit dem Sonnenschirm fest und sicher nach Westen hinaus.

Mutatis mutandis! bemerkte Benno … Es konnte heißen: Wer Latein kann, weiß auch das! Oder: Da so herum ist allerdings richtig, aber Amerika besteht nicht aus Canada allein!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr er fort, bieten die Urwälder Canadas, und die bequemste Gelegenheit, es auf dem Lorenzostrom und von da ins Weltmeer und nach England und Holland zu transportiren, findet man bei den vielen Nebenströmen des Lorenzo durch die furchtbaren Fälle derselben. Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Thiebold de Jonge, Sohn der großen Handels- und Holzfirma „De Jonge’s Erben“ drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, auf dem St.-Moritzstrome quer über die tausendjährigen Eichen setzte und mit ihnen die drei- bis fünfhundert Fuß stürzenden Fälle hinunter-127schwamm in seinen carrirten schottischen Inexpressibles; nur so viel ist geschichtlich bekannt geworden und in Lindenwerth der abendliche Geisterspuk, wenn die Englischen Fräulein über die Lectüre des „Telemaque“ einnicken, daß eines Tages, Sonntags, nicht wahr, Hedemann? …

Sonntags … antwortete dieser kopfschüttelnd …

Eines englischen Sonntags also, wo die Engländer auch in Canada daheimsitzen und keine Landpartieen aus Quebec oder Three Rivers in jene Gebirge hinauf machen, aus denen der St.-Moritz mit den tausendjährigen Eichen der Firma „De Jonge’s Erben“ niederstürzt – zwei so melancholische Hypochonder wie der Oberst von Hülleshoven und sein Freund und Rathgeber da, Remigius Hedemann aus Borkenhagen bei Witoborn, nach Montreal wollten oder nach Isle de Jesus, wo man noch eine gute und richtige römische Messe zu hören bekommen kann in dem abtrünnigen ketzerischen Amerika …

Hedemann schüttelte den Kopf …

Nicht? fuhr Benno fort. Sieh! Sieh! Euch denuncir’ ich doch noch der Inquisition! Ihr kommt mir beide schon lange so vor, als wenn Ihr in den alten Wäldern, wo die Indianer dem „großen Gotte“ scalpirte Menschenköpfe zum Opfer bringen, heiligere Schauer verspürt haben wollt als in unserer alten borkenhagener Dorfkirche! Schämt Euch! Steigen die beide da nun herum über die Felswände in der Nähe des kleinen Patersonsees und träumen von vergangenen Tagen und künftigen englischen Halbsoldpensionen. Da sehen sie plötzlich einen jungen lustigen Dandy gerade unter dem letzten Sturz des St.-Moritz herumhüpfen, wie wenn 128 er hätte eine von den Töchtern der hochmögenden Frau Walpurgis Kattendyk zum Tanze führen wollen! Die reichste Familie drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, Fräulein!

Keine Ausschmückungen! sagte Lucinde.

Der Oberst, fuhr Benno fort, zeichnet gerade den malerischen Sturz, Hedemann raucht eine transatlantische Originalcigarre, da verschwindet plötzlich der Tänzer und beide wissen nicht, war es ein absichtlicher oder unabsichtlicher Entrechat, nach dem die beiden Firnißstiefel plötzlich aufhörten in der Sonne zu glitzern. Von einem Hülferuf konnte nicht gut die Rede sein, denn der St.-Moritz donnert dort zwar nicht wie der Niagara, spricht aber doch immer noch vernehmlicher als unser immer zahmer und kleinlauter werdender Rheinfall bei Schaffhausen … (ob man sich gleich auch noch jetzt bei dem in der Taxe für die Ueberfahrt verhören und drüben einen Franken zahlen kann, wenn man hüben nur auf einen halben bedungen zu haben glaubt). Ringsum, wie gesagt, englischer Sonntag! Man wußte, daß in einem Orte Namens Forges eine Colonie von Flößern wohnt, die jedoch auf keine sonntägliche Wasserpartieen begierig schien und daheim trotz der Hitze vielleicht irgendeinen soliden Gin-Punch braute. Nur jenen einen Tänzer hatte man bemerkt. Da er nicht wieder zum Vorschein kam, wurden unsere Menschenfeinde denn doch ein wenig unruhig, und der ärgste aller Timone, dort unser Hedemann, beliebte zu äußern: Wenn nur das Bürschchen nicht in den Sturz gefallen ist! In den Sturz nämlich, von dem man die ganze Ausdehnung von dem Orte, wo sie sich befanden, 129 nicht übersehen konnte! Man macht sich nun allmählich auf, klimmt empor, erreicht den Rand der Felsen, durch die der St.-Moritz sich hindurchdrängend in einen Kessel niederstürzt, aus dem hochauf eine riesige Schaumkrone sich erhebt und dann pfeilgeschwind weiter gleitet dem Lorenzo zu. Sie entdecken da nichts. Alles still; nur wilde Vögel fliegen quer über den Sturz, dessen Schaumtropfen hoch hinaufspritzen, daß die Dinger wie taumelnd mit benetzten Flügeln das Weite suchen … Da plötzlich entdeckt Hedemann’s scharfes Auge unten an einem Felsenvorsprung eine Mütze, eine so elegante, wie sie nur Herr Thiebold de Jonge getragen haben konnte. Nun stand es fest, daß der Tänzer verunglückt war. Zu sehen war nichts. Man rief englisch, deutsch, französisch. Keine Antwort. Aber die Mütze lag da auf der Felsenkante und erst von dieser an konnte man senkrecht in die Tiefe blicken. Nun wuchs die Besorgniß. Sie steigerte sich mit dem immer gleichen Donnern und Zischen der aufspritzenden weißen Strudel, die ihr Opfer verschlungen hatten, wenn der Gestürzte nur einen Fuß breit von der Felswand weiter entfernt lag und sich im Niedergleiten nicht an der Wand irgendwie noch hatte halten können. Wer stieg die Wand zuerst hinunter, Hedemann?

Der Oberst!

Erzählen Sie selbst, Herr Hedemann! unterbrach jetzt Lucinde. Herr von Asselyn, scheint es, brodirt die Geschichte, wie wenn sie in den Exercices des strasburger Englischen Fräuleins gestanden hätte zum Uebersetzen ins Deutsche!

130 Da Benno es des drohenden Näherkommens der aus zwei Richtungen heraufziehenden Gewitter wegen für gerathen halten mußte, vorläufig das Hinterdeck der Chaise aufzuschlagen, wobei ihn der Quasi-Postillon hinunterspringend unterstützte, so nahm Hedemann nach Benno’s Ausdruck nicht nur die Leine, sondern auch den Faden der Erzählung auf und berichtete schmuckloser.

Er erzählte, daß anfangs der Oberst und er, beide zu gleicher Zeit, den Entschluß gefaßt gehabt hätten, sich gegenseitig unterstützend bis zu dem Vorsprunge niederzusteigen, wo die Mütze lag. Freilich war damit schon Lebensgefahr verbunden, doch rollte kein Steinchen von der fast senkrecht niedergehenden Felsmauer. Bedenklich wäre schon das Wagniß gewesen, sich nur überzubeugen und weiter in die Tiefe zu sehen. Der Oberst hätte das aber gethan, während Hedemann, sich mit den Fingern in die Wand einbohrend, ihn krampfhaft gehalten. Lautlos hätte er nach erstem Bekämpfen des Schwindels sich wieder zurückgelehnt und nur mit dem Kopfe genickt, als könnte schon der Schall der Worte die Kraft haben, die schmalen Steine, auf denen sie sich hielten, loszubröckeln. Mit Lebensgefahr wäre man emporgeklommen und nun hätte der Oberst berichtet, daß ein junger Mann dicht am Rande des tosenden Sturzes anscheinend todt läge. Er wäre dann gerettet worden …

Was? Wie? fuhr Benno auf. Wer erzählt so!

Zerschmettert vom Niedersturz, fuhr er mit pathetischer Stimme fort; zerschmettert vom Niedersturz konnte der Verunglückte nicht gewesen sein, denn der Fall war dicht an der Felswand entlang; ein Beweis, daß der 131 Gefallene anfangs die Besinnung behalten hatte und an der Felswand niedergeglitten war. Unten aber konnte die Erschöpfung, ja schon der Luftdruck des niederstürzenden Flusses, der bereits an dem kleinen Pavillon zu Lauffen beim Rheinfall den Athem benehmen kann, ihn vielleicht nicht mehr zur Besinnung kommen lassen –

Sie mußten wol, fragte Lucinde zu Hedemann, wie zu einer authentischern Quelle hinauf, nach jener Colonie, wo die Holzschläger wohnten?

Sehr richtig, mein Fräulein! sagte Benno. Eine halbe Meile, und des beschwerlichsten Weges! Es vergingen drei Stunden, bis man an der einzigen Stelle, wo die Rettung möglich war, mit Stricken, Leitern und Stangen ankam. Der Schrecken war nicht gering in der Colonie. Der junge respectable Herr Thiebold de Jonge hatte diesen Spaziergang auf eigene Hand gemacht, während zwei Commis, ein Diener und einer der besten Holzmesser des Geschäfts, der die jungen Leute auf dieser Gewinn versprechenden Unternehmung begleitet hatte, in der Niederlassung zum Studium canadischen Gin-Punsches zurückgeblieben waren. Die Verzweiflung derselben verdreifachte die Anstrengungen, die man zur Rettung machte, und doch würde sie nicht gelungen sein, wenn das schwierige Anbringen der Leitern, der Stricke und Stangen nicht von den beiden tapfern Soldaten geleitet worden wäre. Der Oberst war der erste unten. Der Verunglückte lebte noch. Er war allmählich von einer Betäubung erwacht, um mit Schaudern zu gedenken, daß er, wenn ihn niemand hier aufsuchte, des elendesten Todes hätte sterben müssen. Eine Stunde verging in die-132ser grauenvollen Vorstellung. Sein Rufen verhallte im Wassersturze. Endlich kam Rettung. Sie war schwierig, aber sie gelang, wie Sie heute noch an meinem Freund de Jonge sehen werden. Sie gelang auf folgende Art. Erstens …

Genug! Genug! sagte Lucinde und wandte sich an Hedemann: Das gab gewiß eine glückliche Scene!

Des Dankes? Der Rührung? Im Gegentheil! antwortete pathetisch für diesen Benno. Unsere zwei Söhne der Moorheide enthüllten nur oberflächlich ihr Incognito, nahmen vor zwei Jahren den gleichgültigsten Abschied von ihrem ewigen Schuldner, nicht einmal einen schönen Gruß bestellten sie durch ihn nach Borkenhagen oder Westerhof oder Kocher am Fall. In Quebec erfuhr der Gerettete die Namen des deutschen Obersten und seines nicht im activen Dienste stehenden Gefährten; er wollte ihre Rückkehr in Garnison abwarten, aber sein Schiff war „klar“, er reiste ab mit Hinterlassung einer Menge von Danksagungen und Geschenken. Erst hier in Europa sahen sie sich zufällig in der Residenz des Kirchenfürsten wieder. Heute in Kocher am Fall bei diesem Wolkenbruch werden sie sich an die Strudel des St. Moritzflusses zurückversetzt fühlen!

In der That brach jetzt das Wetter auch über die Reisenden mit furchtbarer Gewalt aus.

Man bot Hedemann an, daß auch das Vorderverdeck aufgeschlagen würde und er schleunigst hereinkäme.

Hedemann öffnete aber nur den Soldatenmantel Benno’s und lehnte einen Aufenthalt um so mehr ab, als ein in der Nähe liegendes Wirthshaus bei schnellem 133 Zufahren sofort erreicht sein konnte. Dort wollte man Rast halten und den Wagen vollends verschließen.

Das Wirthshaus lag an einem Kreuzpunkte mehrerer Landstraßen.

Immer größer wurde die Zahl der sich eilenden soldatischen Kameraden, die in Blusen und Kitteln gen Kocher zogen. Manche Bekanntschaft gab es in der jähen Flucht der sich Bergenden mit winkender Hand zu grüßen. Auch der Major der Gensdarmen, unter dem Grützmacher stand, wurde auf einem Gaule dahinjagend ersichtlich … Von der nördlichen Straße kam ein geschmackvolles Reisecoupé herangesprengt … Zwei Uniformen saßen darin, die aus dem Wagen sich vorbeugten, eine, die einem Offizier, eine andere, die, wie Benno, einem Gemeinen angehörte. …

Letzterer sprang in dem Gedräng an dem Wirthshause noch vor dem Offizier heraus. … Und wie fast zu gleicher Zeit auch das Gefährt aus St.-Wolfgang anhielt und der Soldat den im triefenden Mantel sitzenden Hedemann erkannt hatte, kam er zu diesem herangesprungen, ihm die Hand zu schütteln und ihn fast zu umarmen. Jetzt hielt ein Diener in Livree einen Regenschirm über dem Soldaten – ein wunderlicher Contrast zu seiner Jacke als Gemeiner. In dem Durcheinander des Erkennens, dessen Reihe nun auch an Benno kam, des Vorfahrens, der Begrüßungen da und dort, des aus dem herabgelassenen Schlage Hinausspringens und unter das schützende niedere Dach Eilens auch von Seiten Lucindens war ihr vernehmbar und ersichtlich geworden, daß der neue Ankömmling Herr Thiebold de Jonge war.

134 So eilig sie in die dumpfe, von Menschen überfüllte Wirthsstube lief, sah sie doch, daß der am Wasserfall von St.-Moritz Gerettete eine schlanke Gestalt von lebhafter Beweglichkeit und dreisten und gefälligen Formen war. Er trug helle Glacéhandschuhe, Firnißstiefel, eine Piquéweste unter der nur am obern Knopf geschlossenen Uniform vom feinsten Tuche und eine carrirte Reisemütze, wie sie mehr einem reisenden Engländer als einem Landwehrmann angehören konnte.

In der Wirthsstube sah man Soldaten, Bauern, Viehtreiber, Hausirer, Geistliche, alles was der Regen nur hereinfegte. Lucinde hörte bald, daß der Vorfall mit dem Grabe in St.-Wolfgang schon allgemein bekannt geworden war … Major Schulzendorf erörterte ihn draußen mit den eben Angekommenen und dem Landwehroffizier, dem Begleiter Thiebold’s … Hedemann war inzwischen verschwunden. Ohne Zweifel suchte er die nicht sichtbaren Italiener auf. Daß sie zugegen waren, sah Lucinde an ihrem ausgespannten Wagen vorm Hause.

Angegriffen von der Fahrt, erregt von allen neuen Mittheilungen und Eindrücken, fast erstickend von der Schwüle des kleinen Saales und betäubt von den lärmenden Stimmen der vielen Menschen, stand sie am Fenster. Die Blitze warfen über die ganze Ebene hin ein magisches Licht. Seltsam glänzte und strahlte das graue Gestein der vulkanisch zerrissenen Gegend.

Ihre Begleiter kamen nicht in den Saal und sie selbst mochte sie nicht aufsuchen. Sie erfuhr, daß es bis Kocher nur noch eine halbe Stunde zu fahren war.

Schon nach kurzer Zeit hatte im Regen der Kutscher 135 den Wagen draußen ganz geschlossen, wie sie am Fenster stehend beobachtete. Die Pferde wurden nicht ausgespannt und Lucinde konnte annehmen, daß ihre Begleiter sofort weiter zu fahren wünschten.

Doch kamen sie lange nicht zurück …

Sie wartete und wartete …

Es verging fast eine halbe Stunde.

Endlich ließen sich draußen schon die Italiener sehen.

Auch der Regen hörte auf. Die Wolken theilten sich. Die Italiener schienen an ihre Weiterreise zu denken.

Lucinde trat jetzt aus dem Saale hinaus, wo sie so lange am Fenster sinnend und träumend gestanden hatte.

Sie suchte nach ihren Reisegefährten, die sie so auffallend vernachlässigten …

Eben war sie im Begriff, den Alten, Napoleone Biancchi, zu grüßen, als sie, unter dem Thorwege stehend, nach dem Hofe und Garten zu einen lauten Wortwechsel und plötzlich aufs allerheftigste eine Stimme: Hedemann! rufen hörte.

Sie wandte sich. Mehrere andere folgten ihrem Beispiel. Einige der Hausirer sprangen hinzu nach der Gegend hin, wo der Ruf hergekommen war.

Das war ja Benno’s Stimme! sagte sich Lucinde.

Wie sie dem Beispiel der andern folgend sich wandte, um dem Hofe zuzueilen, kreuzte ihre Schritte, wie auf der Flucht, leichenblaß und mit furchtentstellten Zügen, Porzia … Ihr jüngerer Bruder Catone lief hinter ihr her und trug ihren Hut, der ihr entfallen gewesen schien.

136 Trug diese Begegnung schon den Charakter eines Moments – denn ebenso schnell war Porzia verschwunden und auf dem Wagen bei ihrem staunenden Vater und ihrem ältern Bruder, der schon die Peitsche in der Hand hielt –, so war der Anblick, der sich allen nun schnell herbeigekommenen Beobachtern im Hofe darbot, wie die plötzliche Versteinerung der lebendigsten Scene.

Der Hof und Garten gingen in Eins … Unter der Kegelbahn schienen die Italiener ein einfaches Mahl gehalten zu haben … Auch vom Hause aus konnte man in die Kegelbahn eintreten, wo man einen gedeckten Tisch sah … Hedemann, Benno, Thiebold de Jonge und der Landwehroffizier bildeten eine charakteristische Gruppe … Hedemann’s breitkrämpiger Sommerhut lag auf dem nassen Boden im Garten draußen, er selbst stand wie wuthschnaubend und wie zum Angriff … Benno vor ihm, ohne ihn zu berühren, doch in der Geberde, die den gewaltigen Ruf: Hedemann! begleitet haben mußte … Thiebold de Jonge stand schützend vor dem Offizier, dem seinerseits die Mütze gleichfalls entfallen war und ein plötzlicher Schreck alle Farbe geraubt hatte …

Wie die Menschen neugierig herzugelaufen kamen, riß Benno den in jeder Ader zu einem Angriff gerüsteten Hedemann in den hintern Garten. Er folgte gelassen jetzt wie ein Kind und willenlos und nur noch das eine Wort kam allen hörbar von seinen bebenden Lippen:

Herr – von – Enckefuß!

Jede Silbe war betont … in jeder Schwingung der wenigen Worte lag die Andeutung, als wollte er sagen: Wir beide kennen uns doch wol?

137 Ein Aufenthalt in der Beurtheilung und Vermuthung über alles das war nicht möglich, denn Thiebold de Jonge trällerte soeben laut eine Arie und zog den Lieutenant, wie wenn nichts vorgefallen wäre, gleichsam tänzelnd fort. Er führte den Erschrockenen, der seine Mütze aufhob, auf einem andern Wege gleichfalls in die grünen Gebüsche hinaus …

Bald kam Benno, der Lucindens ansichtig geworden war, aus einem, wie man sah, mit den lebhaftesten Demonstrationen geführten Gespräch mit Hedemann nach vorn und sagte zu Lucinden:

Bestes Fräulein! Sie werden gutthun, lieber allein vorauszufahren! In der Dechanei kommen Sie gerade noch zu einem Mahle an, das heute zu Ehren der fremden Geistlichen stattfindet! Eilen Sie! Sie finden den Onkel und die Tante dann im besten Humor! Wir andern – wir bleiben noch eine Weile zurück – Gelegenheit, sehen Sie, gibt es genug nach Kocher am Fall und mein Absteigequartier ist ohnehin nicht in der Dechanei, sondern seitwärts in einem kleinen Weinberge, den der Oberst bewohnt!

Aber Hedemann? … fragte Lucinde forschend und um so theilnehmender, da sie der Name „von Enckefuß“ an die alten düstern Begegnungen ihres Lebens, an den Rittmeister, den „schönen Enckefuß“, erinnerte …

Fährt mit uns oder geht nach dem Regen lieber zu Fuß … Sehen Sie nur, dieser Thonboden saugt eine Ueberschwemmung ein, so durstig ist er! Adieu, Fräulein! Heut Abend oder morgen in der Dechanei! Viel, viel Glück!

138 Diese Willensäußerung und Verabschiedung waren zu bestimmend.

Benno begleitete schon Lucinden an den Wagenschlag und half ihr mit Artigkeit einsteigen.

Ehe sie sich noch gesammelt hatte, ehe sie nur ihre Frage: Aber was ist denn nur vorgefallen? ausgesprochen, fuhr sie schon von dannen.

Eine Aufklärung konnten die Italiener geben. Diese aber hatten schon eine andere der vielen hier sich kreuzenden Straßen eingeschlagen, nicht die, auf welcher sie nun selbst nach Kocher fuhr.

Vom Kutscher konnte sie nichts Anderes über den Vorfall erfahren, als daß jener Herr von Enckefuß aus der Residenz des Kirchenfürsten und zu den Landwehrübungen kam wie alle andern.

Bald aber glaubte sie den Vorfall so zu verstehen: Der Offizier verfolgte Porzia, Hedemann trat dazwischen, ein Wortwechsel entstand, ein Streit, Benno aber hielt Hedemann zurück, einem Offizier in Uniform eine Beschimpfung anzuthun, die diesen hätte zwingen müssen, vielleicht Hedemann zu – durchbohren …

In dem Ton, wie Hedemann den Namen: Herr von Enckefuß! gerufen, lag eine Andeutung, daß sie sich kennen mußten. Was hinderte sie, anzunehmen, daß sie dem Sohne des „schönen Enckefuß“ begegnet war, desselben Landraths und Freundes des Kronsyndikus, vor dem sie selbst oft genug ebenso, wie jetzt Porzia, entflohen war?

Nach einer halben Stunde, gegen halb zwei Uhr, sah sie am Rande eines eigenthümlich geformten, schroffen, 139 fast sargähnlichen, dunkeln Bergrückens das Städtchen Kocher am Fall.

Eine hohe Kuppel mit vier Thürmen ringsum gehörte ohne Zweifel dem Dom von St.-Zeno an …

Auf ihrer Brust wurde es schwerer und schwerer, je mehr sie hinüberblickte zu der Kathedrale, die mäßig hoch auf einer terrassenförmig sich erhebenden Anhöhe lag. Diese kleine Anhöhe beherrschte auf dieser Seite die Stadt, während auf der andern der düstere Sarg des Gebirges lag.

Jetzt fuhr sie auf gekieselten Wegen durch smaragdgrüne, vom Regen funkelnde Wiesen; dann lenkte der Wagen in Baumalleen ein, die von geschnittenen Hecken durchbrochen wurden …

Unmittelbar um ein im Quadrat liegendes kleines Schloß zwar nicht so phantastischen, wie sie in ihrer Vision gesehen, doch gefälligen alten Geschmacks zogen sich Blumen- und Gemüsegärten … alles hatte einen vornehmen, sehr gepflegten Anstrich …

Das Schloß war mit mancher Bildhauerarbeit geziert.

An der Pforte, wo zwei gewaltige Karyatiden einen Balcon mit einst vergoldet gewesenem Eisengitter trugen, fuhr der Wagen an, ohne sogleich empfangen zu werden.

Der Kutscher mußte absteigen und klingeln.

Es scholl weithin wie mit doppelten Zügen, die den Klang der ersten Glocke nach einer zweiten übertrugen.

Ein alter freundlicher Diener in weißen langen Haaren – wahrscheinlich der in Aussicht gestellte Sternseher – 140 erschien, spitzte klug die Augen, orientirte sich, lächelte wohlwollend und fein und öffnete den Schlag.

Er hatte eine Serviette über dem Arm, zum Beweise, daß man im Hause mit dem Diner beschäftigt war.

141 6.#

Am Nachmittag desselben Tages stehen weit geöffnet die Flügel eines an der andern und gerade der Pforte entgegengesetzten Seite der Dechanei befindlichen hohen Fensters.

Dicht beschattet sind sie von den Zweigen einer Linde, die sich von den fast mühsam durch das Laub hindurchdringenden Strahlen der wieder am blauenden Himmel hervorgetretenen Sonne die nassen Zweige und Blätter trocknen läßt.

Die Vögel zwitschern, Käfer, die an den Simsen und in den Cannelirungen des Hauses vor dem Regen ihre Zuflucht gesucht hatten, summen wieder, und wirklich trottet ein Pfau unterm Fenster über die unten rings hinlaufenden feuchten Sandsteinvliesen und wiegt und hebt den bunten Schweif, fast wie um ihn nicht naß werden zu lassen und ganz wie eine Dame ihre Kleider schont.

Sähe man nicht da und dort ein heiliges Emblem, am Eingang des engern Parks ein Marienbild, am Ausgang zur Kathedrale hin ein Crucifix, unter den 142 Stuccaturen an dem Hause eine ehemals vergoldet gewesene Strahlenkrone, ein Kreuz, ein Dornenhaupt; man würde den Eindruck haben, als müßte man sich hier umschauen nach einem Marmorbilde der Flora, nach einer Gruppe versteckter Satyrn oder Nymphen entführender Centauren.

Am offenen Fenster gibt es einen traulichen grünen Winkel zwischen den fast hineinlangenden Zweigen der Linde und einem Studirtische, dessen Vorsprung den Vögeln ebenso zugänglich scheint wie eine Anzahl ans Fenster gerückter Sessel, auf deren Lehnen sie sich wagen.

Der Greis, den die Vögel schon kennen und den sie sogar auf seinem Schreibtisch besuchen – er lockte sie durch seinen Morgenzwieback und sein Mittagsdessert – nennt diesen Winkel seine liebste Sakristei und seinen segensreichsten Beichtstuhl.

Man sieht auch Bücher in glänzenden Einbänden mit geöffneten Kupfersticheinlagen in der Mitte des Zimmers auf einem runden Tische. Man sieht einen in Guache gemalten Christuskopf von Guido Reni über dem Schreibtisch. Die bunten Lithophanieen, die die Fensterscheiben verdecken, sind jetzt, da die Fenster offen, an die Wand gelehnt. Man sieht in Alabaster das Abbild der speerbewaffneten Göttin der Weisheit vom Parthenon auf einem kleinen weißen Porzellanofen. Auf dem eleganten Mahagonischreibtisch mit Fächern und kleinen durchbrochenen Galerieen aller Art liegen und stehen in Bronze bunterleigestaltete Nippsachen, Briefbeschwerer, Streusandschalen, Federgestelle, Federwischer von bunten Farben, 143 ein gewaltiges Tintenfaß in Gestalt eines sein schwarzes Gift ausspritzenden Drachen, zierliche silberne Leuchter, ein Lichtschirm von grüner Seide …

Der ehrwürdige Bewohner lehnt den einen Arm auf ein grünsammtenes Fensterkissen und athmet den köstlichen Duft der Linde ein. Er lockt einen der Vögel, die sich in seinem stillen und dunkeln Zimmer unter ihren Zweigen zu sein träumen … und am liebsten beschied er ebenso von seinen Beichtkindern alle die, die ihm gar zu oft kamen oder zu umständlich sich ausplauderten oder die in ihrer „Sündhaftigkeit sich so außerordentlich wichtig machten“, hierher an diese stille Stätte … In neuerer Zeit freilich kamen wenige. Die Dechanei stand nie im Geruch der Heiligkeit, jetzt vollends nicht, seitdem Beda Hunnius, Bonaventura’s damaliger Mitgeweihter, nach mancherlei anderweitiger Verpflanzung in Kocher Stadtpfarrer geworden war und überhaupt in vielen Kirchen rings in der Provinz täglich die Posaune Zions mächtiglicher geblasen wurde, als „zu seiner Zeit“ hier Sitte war. Manche jetzt predigten doch, als wollten sie die Trommeln übertönen, die da eben jetzt auf dem Marktplatz drinnen zu Kocher am Fall gerührt wurden zum Appell des 35. Landwehrregiments. Sie lärmten, als sollt’ es an eine neue Bartholomäusnacht gehen, an ein Pour lamour de dieu mit geschwungenem Schwerte, falls nur der Herr Kirchenfürst im Kampf mit der Regierung, mit der Philosophie und den gemischten Ehen die Parole dazu geben wollte … Der gute Onkel Bonaventura’s und Benno’s von Asselyn nahm die Sache der Religion von einer milden Seite. Auch hier an sei-144nem Lindenbaum pflegte er jedesmal schnell mit dem selbstgeschilderten tiefen Verderben seiner Beichtkinder fertig zu werden, zog dann gern sein goldnes Döschen, ging auf Krieg und Frieden in der Türkei, auf Kunst, Natur, Menschenleben in Rom, Griechenland und Kocher am Fall über und endete gewöhnlich mit den besten Zusprüchen zum Entschluß, auf Gottes Gnade zu vertrauen, und mit den zuversichtlichsten Hoffnungen auf das nach Leibniz ja prästabilirte Glück und die Heiterkeit des ganzen Universums.

Dabei entbehrt jedoch der Greis, der, zurückgelehnt in einen bequemen saffianenen Voltaire, ein violettes Sammtkäppchen auf dem mit weißen Löckchen umwallten Haupte trägt, keineswegs einer gewissen Schärfe. Etwas Schlaues sogar, wenigstens Markirtes, fehlte dem Dechanten keineswegs. Seine Nase war lang und habichtartig, das Auge dunkel und sogar listig. Und stochert er sich eben die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben sind, so ist es mit jener feinen Miene, die mehr einem Diplomaten hätte angehören können, allerdings einem Diplomaten aus der alten Schule, jener, die noch am Wiener Congreß um ein Bonmot vom Fürsten de Ligne sich ebenso exaltiren konnte, wie unsere jetzige Diplomatie sich nur um eine neuconstruirte Jagdflinte exaltirt. Auch des Dechanten Kinn war ausdrucksvoll schön geschweift und länglich, die ganze Erscheinung, auch in den weißen wohlgepflegten Händen, entschieden vornehm und aristokratisch; ja, statt des kleinen weißen Streifens unter der schwarzen Halsbinde hätte ebenso gut ein blaues oder rothes Band irgendeines Comthurkreuzes hervorschimmern 145 können. An den schöngeformten Schläfen, an der Stirn und dem Scheitel konnte man Geist und Phantasie erkennen. Nur ein etwas zu weicher, ja schlaffer Zug am Munde verrieth Bequemlichkeitsliebe, ein bekanntes Erbübel alter Garçons, vornehmlich derer von der langen Robe.

Seiner geistigen Richtung nach gehörte Franz von Asselyn zu den wenigen noch Ueberlebenden aus der Zeit Wessenberg’s, der sich damals, als das gesammte Vaterland für alle seine Lebensbezüge eine Vereinigung träumte und sich diese ehrlich verdient hatte durch die Jahre der Napoleonischen Knechtschaft, verdient durch den Aufschwung der Befreiungsjahre, auch für die katholische Kirche „Reformen“ möglich gedacht hatte. In jener Zeit hätte Franz von Asselyn rasch emporsteigen können zu einem Bisthum; er hätte jetzt Erzbischof sein können; denn waren auch die drei Brüder von Asselyn, Franz, Friedrich und Max, an Gütern nicht gesegnet, hatte jener den Priesterstand, Friedrich die Beamtencarrière und Max die Bewirthschaftung der wenigen und nach seinem frühen Tode ganz veräußerten Besitzthümer der Familie gewählt und traten sie dabei ohne andere Ausstattung als die ihres Herzens und ihrer Bildung in die Welt, so fehlte es doch an Verbindungen nicht. Franz ließ sich, nach einer lebhaften Antheilnahme an der „westfälischen“ Zeit und einem damals häufigen Einspruch auch auf Schloß Neuhof, wo er in der That Frau von Gülpen kennen gelernt hatte, in der Friedenszeit eine gute Pfründe genügen, das Dechanat zu St.-Zeno. Obgleich in einer wenig freundlichen Gegend gelegen, war sie doch die 146 einträglichste und reichstdotirte auf fünfzig Meilen im Umkreise. Man würde sie, wie alle diese Stifter, wenn nicht nach dem Wiener Congreß säcularisirt, doch in ihren Einkünften beschnitten haben, wenn nicht von alten Tagen her die deutschen Kaiser auf die alte Kathedrale ein Patronatsrecht gehabt hätten, das infolge eines damals von Franz von Asselyn entwickelten außerordentlichen Eifers auf das Haus Oesterreich übertragen wurde. So erhielt sich die Dechanei zu Kocher am Fall in ihren alten Einkünften, während die Amtsverpflichtungen sich nur auf den Kirchendienst beschränkten; denn zum wirklichen, der Bureaukratie verantwortlichen Dechanten machte man später den Stadtpfarrer eines benachbarten Ortes, nachdem eine kurze Zeit hindurch Franz von Asselyn die wirkliche Superintendentur verwaltet und über Geburten, Hochzeiten, Sterbefälle, Disciplinarvergehen, Kirchenbauten und Reparaturen, Verbrauch von Wein, Brot, Oel, Wachs u. s. w. an die Regierung seine Berichte gemacht hatte. Es war freilich nur ein kurzer hitziger Anlauf gewesen. Franz von Asselyn war seiner Unfähigkeit zu solchen Relationen schon damals inne geworden, als ihn der kurze, befehlende Ton der Regierungsbescheide verletzte. Sowol sein „freiherrlicher“ Sinn wie der dem Priester mit der ersten Weihe eingepflanzte Stolz, der bei manchem bekanntlich in Hochmuth übergehen kann, konnte sich in diese Erlasse, in die Form dieser Fragen und Antworten nicht finden. Als er im Unmuth über den officiellen Regierungsstil einmal fast gegen ein Viertelhundert Briefe im Zeitraum von zwei Monaten gar nicht geöffnet hatte und ihm doch 147 über die Dinge, die er nun versäumte, über die Menschen, die er durch die Nichtbeachtung ihrer Angelegenheiten in die peinlichste Noth versetzte, zuletzt so himmelangst wurde, daß ihm die Briefe in Gestalt händeringender Weiber und Kinder Nachts am Bette erschienen und er nicht mehr schlafen konnte, da schickte er sämmtliches aufgehäufte Material an den damaligen Kirchenfürsten der Provinz mit der Bitte, ihn vor dem hohen Gubernium zu entschuldigen oder ihm wenigstens für sein kurzgefaßtes Mittel, sich nicht ärgern zu wollen, die möglichst lindeste Strafe zu erwirken. Der damalige Kirchenfürst war im Sinne der Regierung gestimmt, doch nicht ohne Wohlwollen für seine Angehörigen; so erfolgte eine friedliche Vermittelung. Die Dechanatsgeschäfte wurden dem Freiherrn Franz von Asselyn einfach abgenommen gegen eine Vergütung an seinen Stellvertreter.

Der nominelle Dechant war indessen bei alledem doch seinen freiern Anschauungen über die Stellung der Kirche zur Religion, Wissenschaft und zum Vaterlande nicht untreu geworden. Für die jetzt angebahnte mittelalterliche Reaction fehlte ihm alle verwandte Gemüthsstimmung. Er sah sogar etwas in ihr, dem der Stolz und die dynastische Treue des deutschen Adels sich fern halten sollte. Er mochte nicht den Protestantismus, hätte aber gern eine katholische Kirche gehabt, in der Licht und Aufklärung, alle Künste und Wissenschaften, die den Menschengeist, vorzugsweise den deutschen, ehren, Platz behalten hätten. Diese Gesinnung mit Eifer zu verfolgen, für sie zu kämpfen, zu leiden, dazu fehlte ihm leider der Aufschwung. Er begnügte sich, seinerseits das zu sein 148 und auch zu scheinen, was er war. Er ließ sich die Minerva nicht von seinem Ofen wegnehmen, bis des Winters, wenn geheizt wurde. Daß es darüber Anfeindungen gab, verstand sich bei der zunehmenden Liebe zur Dunkelheit und Angeberei von selbst. Einstweilen versöhnte er die Gegner durch sein edles Herz. Seine Wohlthätigkeit war grenzenlos und wenn man an seiner Rechtgläubigkeit zweifelte, konnte er sagen: Ich erzog euch ja einen Heiligen und wer weiß ob nicht außerdem noch einen St.-Georg, wenigstens einen vorm Appell- und Cassationsgerichtshofe! Er meinte Bonaventura und Benno, die er beide hatte ausbilden lassen und wie seine Söhne liebte.

Diese Aeußerung hatte der Dechant auch noch heute wiederholt gethan, als er bei seinem immer gewählten, heute sogar festlich gewesenen Tische mitten unter Donner, Blitz und Regen mehrere der tonangebenden Geistlichen der Umgegend zu Gaste hatte. Mit Einschluß der Frau von Gülpen, seiner nunmehr schon fast der „goldenen Hochzeit“, wie er oft scherzte, sich nähernden Wirthschaftsführerin, hätte die Tafel beinahe aus dreizehn Personen bestanden. Sein alter Diener, der Sternseher – er hieß Joseph Windhack und hatte einst bei einem tüchtigen Lehrer der Astronomie, einem österreichischen Exjesuiten in Wien, seine Carrière im Dienen und im Sternsehen begonnen –, hätte diese Herausforderung der Schicksalsmächte ebenso wenig geduldet wie Frau von Gülpen. Es waren an die immer offene Tafel des Gastfreiesten der Gastfreien heute statt neun elf geistliche Herren gekommen, unter ihnen sogar ein Mönch. Jetzt blieb der 149 Oberst von Hülleshoven, der mürrische Sonderling, aus. Nun half nichts, Frau von Gülpen mußte die zwölf Herren allein lassen und sich von der Tafel ganz zurückziehen, wodurch sie insofern einen Vortheil gewann, als sie desto umsichtiger erstens die Ordnung der verschiedenen Gänge dirigiren und zweitens die gerade zwischen einem pikanten Hors d’oeuvre und dem Rindfleisch ankommende Lucinde empfangen konnte.

Auf eine kurze Vorbereitung und erst einleitende Anweisung für ihre Stellung war Lucinde gleich in dem oben citirten Briefchen angewiesen gewesen. Daß diese so kurz ausfallen würde, hätte vielleicht Petronella von Gülpen selbst nicht geglaubt; denn Lucinde war über die Aehnlichkeit der Gesellschafterin des Dechanten mit ihrer alten verschollenen „Frau Hauptmännin“ sogleich wie sprachlos geworden, hatte allem zugestimmt und sich nur erst auf ihrem Zimmer zu sammeln gesucht …

Das Diner war vorüber. Der Dechant erschöpft von Tischgesprächen, wie er sie nicht liebte. Hatten diese Collegen sich heute nicht gerüstet zu der Conferenz, die Nachmittags beim Stadtpfarrer stattfinden sollte, als gält’ es einen Wettkampf mit den Kriegsmanövern! Es waren nicht einmal die Zeloten, die der Dechant bei sich sah, aber alle standen unter dem Druck der Eiferer … und der Mönch, ein Franciscaner, den einer der Herren mitgebracht hatte, war einer der berühmtesten unter den Drängern und Stürmern und ein geistvoller Mann dazu. Wie griff das alles den Dechanten an, ihn, der die Gewohnheit des alten Exjesuitenschülers, seines einst aus Wien mitgebrachten Dieners, Joseph Windhack, Abends auf einer 150 Plateforme des Schlößchens sich um den Lauf und die Stellung der Gestirne zu bekümmern, so gern zum Anlaß nahm, von ihnen beiden zu sagen, daß sie ja überhaupt mehr im Sirius lebten als auf dieser kleinen Erde, dieser Tellus, die nicht einmal ein eigenes Licht hätte, sondern das ihrige von der Sonne und dem armseligen Monde borgen müßte, ja daß die Sonne wieder ein Fixstern untergeordneten Ranges wäre und mit dem Sirius in gar keine Vergleichung kommen könnte, welcher Sirius wiederum seinerseits … Weiter ging er wenigstens in seinen Ketzereien heute an der Tafel nicht, wo das Gespräch auf den Sirius gekommen war und den Mönch veranlaßt hatte, über die Kassiopeia und die Farbe der Sterne überhaupt zu sprechen, worüber sich Windhack beinahe vergessen und beim Serviren ins Gespräch gemischt hätte.

Bis zur Conferenz beim Stadtpfarrer, wo der Dechant nicht fehlen durfte, hatte es noch einige Zeit … Nach dem Diner waren die Gäste entlassen worden, weil sie den Kaffee beim Stadtpfarrer nehmen sollten. Der Dechant hatte ein wenig in seinem Voltaire geschlummert, hatte den süßen, weichen Lindenduft eingeathmet, hatte das Zwitschern der Vögel belauscht und den Pfau vom Simse oben auf die untern Vliesen gejagt, diesen Lolo, den er nur Frau von Gülpen zu Liebe duldete; denn Lolo war ein gar böser Vogel, wie alle Pfauen. Eitel von der hohen Büschelkrone bis zu den bunten Augen seines Schweifes hinunter, fuhr er herzlos auf alles Lebendige zu, dem er nur irgend mit seinem krummen Schnabel beikommen konnte. Ein unsteter Nachtunhold, hielt er nie sein Nest 151 im geräumigen Hofe inne, sondern hatte Lagerstätten überall, oben auf Windhack’s Sternwarte, beim Hühnerstall, in der Nische eines steinernen Marienbildes, an den Eingangssäulen des Portals, auf einem Zweige da, in einer Hecke dort. Lolo war ein Nachtschwärmer, über den der Dechant in mancher schlaflosen Nacht oft bitter seufzen mußte, mehr noch als über das allgemeine Weh der Welt, bis er regelmäßig bei solchen Störungen doch zuletzt ärgerlichst an die spanische Wand klopfte und der in Sorge um den Lolo nebenan noch wachen Petronella von Gülpen zurief: Aber liebste, beste, theuerste Freundin! Was hat denn nur Ihr verfluchter hoffärtiger Satan heute Nacht schon wieder vor? Gewiß wieder nichts als Zorn und Aerger auf die Hennen, die still und sanft über ihren Jungen sitzen! … Dann pflegte Frau von Gülpen seufzend zu erwidern, der Lolo gräme sich, weil er im grünen Parke allein leben müsse … Der Dechant entgegnete aber: Ei, der niederträchtige Kerl mordet uns ja jedes Weibchen, das wir ihm schon bei allen Gutsbesitzern der Umgegend bald erbettelt, bald mit schwerem Gelde erkauft haben! Glauben Sie mir’s, beste Freundin, um das Glück der Ehe würdigen zu können, ist der Mensch, wollt’ ich sagen der Vogel zu lange Cölibatär gewesen! Gerade wie bei uns! Heben Sie heute das Cölibat auf, ich glaube, wir heirathen gar nicht einmal! … Frau von Gülpen war dann, statt auf solche Blasphemieen schlafloser Verzweiflung zu antworten, gewöhnlich schon in ihrer Kontusche, hatte die Fenster geöffnet und sprach in die finstere Nacht hinaus mit dem auf einem Baumzweige wach sitzenden und viel-152leicht, wie der Heine’sche Fichtenbaum, von seiner eigentlichen Gangesheimat, wo eben allerdings die Mittagssonne hellglänzend in die Kelche der Lotosblumen schien, träumenden Vogel sanfte und still begütigende Worte.

Trotz solch schrecklicher Nachtreden war aber der Dechant die Sanftmuth und Herzensgüte selbst und am Tage von den gewähltesten Ausdrücken.

Zur Bestätigung dessen hätte man nur seine zierlichen Billetchen zu lesen brauchen, z. B. die Zeilen, die er schon heute früh geschrieben hatte, um vom eigengezogenen Obst des heutigen Desserts ein Körbchen voll an Frau Majorin Schulzendorf (die Gattin des Chefs unsers braven Wachtmeisters Grützmacher) zu übersenden. Unter einem Briefbeschwerer von Achat lagen die beantworteten, unter einem andern von Marmor die noch zu beantwortenden Briefe. Das waren allerdings keine „Regierungsschinken“, wie sie gewöhnlich genannt und früher zum Räuchern gleichsam in den Schornstein gehängt wurden: zierliche, duftende Billetchen waren es, und manche darunter weit her und hin, besonders aus und nach Wien, das er alle drei Jahre zu besuchen verpflichtet war.

Heute fesselte ihn ein Brief, den er lange in der Hand behielt …

Es war eine vor Tisch erst empfangene Antwort …

Er hatte an einen geistlichen Freund geschrieben, der sich mit dem Ausdeuten von Handschriften beschäftigte und darin ebenso viel Vergnügen fand, wie seinerseits der Dechant in seiner Kupferstichsammlung, seinen Gemmen und den Alterthümern von Herculanum, Pompeji, Baby-153lon, Ninive, die er alle um sich breitete und in Dutzenden von Mappen sammelte.

Diesem Freunde hatte er einige Zeilen einer Handschrift vorgelegt, die ihm vor einigen Wochen in einem anonymen Briefe mit mehreren Poststempeln aus dem Canton Tessin in der Schweiz, aus Chur in Graubündten, aus Lindau am Bodensee zugekommen war …

Der Chirogrammatist schrieb ihm, die bezeichnete Handschrift wäre eine verstellte und gehöre einem Manne an, der mindestens fünfzig Jahre zählte, einen melancholisch-phantastischen Charakter hätte, niemals Börsengeschäfte zu machen im Stande wäre, im Jahrhundert des Yankeethums sich unheimisch fühlte, am liebsten in einer kleinen verschwiegenen Villa am Lago di Lugano, am Fuße der Alpen oder in einem düstern Eichenwalde in den Thälern Piemonts wohnen könnte, einem Manne endlich, der, wenn er ein Feldherr gewesen wäre, wie Cincinnatus hinterm Pfluge die Gesandten würde empfangen haben, die ihm das Consulat bringen wollten, einem Manne, der, wenn er ein Fürst wäre, doch wie Dionysius nach seinem Sturze in Korinth einen Schulmeister hätte spielen können, einem Manne, der Staaten lenkte und dabei junge Mädchen unterrichtete im Griechischen, Hebräischen, auch wol Abends beim Thee mit einer Schere zierlich ausschneiden könnte … wie dergleichen Thatsachen die Handschriftdeuter bis zur Beantwortung der Frage, ob der betreffende Schreiber gern auch Sauerkraut äße und die unlöbliche, doch vielen großen Geistern eigene Gewohnheit hätte, sich die Nägel zu kauen, herauszubringen wissen.

154 Ja, der Correspondent trieb seinen Scherz noch weiter. Der Dechant las, daß der anonyme Briefschreiber ,,Werther’s Leiden“ auswendig wüßte, keinen Monat bis zum Dreißigsten mit seiner Gage auskäme und sich in jeder Stadt gefallen würde, nur in keiner, die zu gleicher Zeit Festung wäre oder an einem schiffbaren Flusse läge …

Und nun zog der Dechant, lächelnd und kopfschüttelnd, aus einem der Schubkästen seines Mahagoni-Schreibbureau einen Brief, an dessen vielfach gestempeltem Couvert man die Veranlassung dieser chiro- und einfach romantischen Deutungen und Ahnungen erkannte.

In anonymen Briefen liegt, wenn sie uns nicht aus feigem Versteck mit Grobheiten regaliren oder die Ansicht eines einzelnen Dummkopfs zu einem „Es geht das Gerücht“ aufblasen, ein eigener Reiz, zumal wenn sie, wie dieser, ein verschwiegenes Abenteuer provociren, ein Stelldichein, das freilich in dem vorliegenden Briefe aus dem Canton Tessin in der Schweiz (so gern der Dechant alle drei Jahre an die Ufer der Donau reiste und sich in seinen „St.-Zeno-Angelegenheiten“ einige Monate lang von den Wirbeln und Strudeln des wiener Lebens wie der Jüngsten einer und dann ohne alles Uebergewicht treiben ließ – Frau von Gülpen blieb daheim –) etwas beschwerlich war und über das ohnehin im Dunkeln gehaltene Alter des Dechanten hinauslag.

Der anonyme Brief hatte gelautet und lautete immer noch, wie er ihn auch kopfschüttelnd betrachtete:

Sub sigillo confessionis.

Fiat lux in perpetuis! Quando quis tibi occurrit fidei romanae sacerdos, qui …

155 Oder geben wir die Uebertragung:

„Unter dem Siegel der Beichte. Es werde Licht in Ewigkeit! Sollte Ihnen ein römischer Priester bekannt sein, der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um unsere Kirche von ihren Fehlern zu reinigen, so theilen Sie ihm unter dem Siegel der Beichte mit, daß sich am 20. August 18** unter den sogenannten Eichen von Castellungo zwischen Coni und Robillante am Fuß des Col de Tende aus allen Theilen der Welt eine Versammlung gleichgesinnter Freunde und Wetteiferer um die Ehre unsers neuen Martyriums einzufinden gedenkt. Es werde Licht in Ewigkeit!“

Als schon vor längerer Zeit der Dechant diese räthselhaften Zeilen erhalten hatte, war seine erste Regung keine wie über einen Scherz gewesen. Er hatte wirklich eine Religion, den Aberglauben. Es gab ganz wichtige Dinge, deren Ausführung er von der geraden oder ungeraden Zahl seiner Rockknöpfe abhängen ließ. Die Ferne, die Zumuthung an sich, ein mit so vielen Stempeln versehener Brief, alles das machte ihm einen geheimnißvollen Eindruck, ja in dem Briefe lag etwas, was ihn im ersten Augenblick erschreckte. Nicht gerade die Züge der Handschrift erinnerten ihn an seinen theuern Bruder Friedrich, doch der schwärmerische Geist des Inhalts. Später legte sich der erste Reiz dieser Zuschrift. Die gewohnte Bequemlichkeit sagte ihm: Dieser Briefschreiber ist entweder ein Narr oder es liegt dem Ganzen eine Fopperei zum Grunde! Man weiß sehr gut, daß ich am wenigsten Lust habe, einen Scheiterhaufen zu besteigen, 156 selbst wenn ich bis zu dem Versammlungstage neunzig Jahre zählen würde, wo ich mir vielleicht aus der Krankheit nichts mehr machen würde, an der ich stürbe! „Aus allen Theilen der Welt!“ Auch aus dem Sirius? … Der Dechant besaß von allen irdischen Dingen die Meinung, daß sie sich ganz von selbst machen müßten, wie die Gletscher, die sich seit Jahrtausenden aus kleinen Zufälligkeiten der Lokalität und Atmosphäre bilden und still und unhörbar von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschieben und die Gestalt verändern … Er nahm dann später an, daß sich’s der Briefschreiber ein schreckliches Geld hatte kosten lassen, diesen oder ähnlich abgefaßte Briefe an hundert andere zu schicken … Er schonte das Geheimniß, er nahm an, daß es ihm in der Beichte mitgetheilt war, und horchte hierhin und dorthin, ob nicht aus den Gesprächen seiner Amtsbrüder Anklänge an diese auch an sie ergangene Einladung sich heraushören ließen; indessen war ihm nichts aufgestoßen. Das hatte ihn dann wieder aufs neue erschreckt und zu der Nachforschung bei dem Freunde veranlaßt, den er die Handschrift aus einigen auf dünnem Papier nachgepausten Worten beurtheilen ließ … Erst heute war ihm aber doch wieder die Ahnung gekommen, als wüßten wol auch andere um den Brief. Zufällig war der 20. August erwähnt worden, der Tag des heiligen Bernhard von Clairvaux, – einige Fanatiker, unter ihnen der Franciscanermönch, tadelten an diesem gelehrten und gottseligen Theologen sein gegen das unbefleckte Geborenwordensein auch der Mutter Gottes abgegebenes Votum, – er sah bedeutungsvoll im Kreise um, er forschte auf den Mienen; aber selbst als wäh-157rend des Gewitters und vor dem Essen der Speisesaal zu dunkel wurde und der alte Windhack an den Fenstern die Vorhänge höher hinaufzog mit den harmlosen Worten: Fiat lux in perpetuis! achtete von den Anwesenden niemand der von Windhack’s Seite nur zufällig gegebenen Anspielung weiter, als die Anerkennung der übrigens schon bekannten Bildung des alten Bedienten mit sich brachte. So fiel denn wieder die Frage schwer auf sein Inneres: Wer hat nun gerade dich erkoren, einen solchen Märtyrer aufzusuchen? Kennt man die Hoffnungen, die wir alle auf Bonaventura setzen? … Dann mußte er sich freilich sagen, daß Bonaventura zu einer Richtung gehörte, die an Rom irgendetwas ändern zu wollen für leere Freigeisterei hielt.

Wie der Greis so sann und sann, gesellte sich allmählich zu dem Zwitschern der Vögel noch das Geräusch eines über die Teppiche des Fußbodens im Zimmer selbst still hin und wieder Wandelnden.

Es war Windhack, der vor einigen Stunden das Fräulein Lucinde Schwarz empfangen hatte.

Wollte das kleine graue Männlein, dem eine spitze Nase und eine stark gewölbte Stirn das unverkennbare Gepräge eines ins Detail gehenden Forschers gaben, sich lieber mit der Thatsache beschäftigen, daß in diesen gegenwärtigen Augustnächten die reichste Ausbeute von Sternschnuppen zu erwarten war, oder unterstützten sein stark geröthetes Antlitz und gewisse klare, glückselige Augen, die auf einen gründlichen Verwahrer der übrig gebliebenen Weinreste des Diners schließen ließen (daß die dem Keller des Dechanten zu übergebenden Weine vorher 158 gründlichst durchkostet und kennerhaft geprüft waren, gehörte nächst der Haarwuchsbehandlung des Hauses und aller Freunde desselben zu den unbestrittenen langjährigen Vorrechten des alten Exjesuitenzöglings), wir sagen, unterstützten diese äußern Merkmale seine Kritik des, wie das ungeduldige Männlein sich äußerte, „überstandenen“ Diners oder schmunzelte und lächelte er darum so behaglich, weil ja nun Frau von Gülpen’s neueste „Nichte“ angekommen wäre … Genug, er begann sich bemerklich zu machen und wie ein guter Diener ganz leise, ganz nur zufällig, nicht etwa hereinplatzend und die Stille der Betrachtung seiner Herrschaft störend. Er brachte eine Zeitung, griff dann nach einem an dem Porzellanofen hängenden eleganten rothen Staubwischer und wedelte sanft über die Minerva hin, über den Guido Reni, über die Kupferstichmappen, mehrere nach hinten versteckte und jetzt erst sichtbare Carlo Dolces und einige noch etwas mehr versteckte und von freistehenden Bücherrepositorien verborgene Torsis alter heidnischer Erinnerungen, zu denen selbst die Venus von Milo gehörte.

Der Dechant wußte nun, daß Windhack etwas zu melden hatte.

Hm! sagte er. Schon fünf? Zeit zur Conferenz?

Noch eine Viertelstunde, Herr Dechant!

Das Getrommel in der Stadt wird die ganze Nacht dauern …

Hier hören Sie’s ja nicht!

Benno angekommen?

Doch wol …

159 Hedemann?

Gesund und munter! Auch der junge Thiebold de Jonge –

Und –?

Assessor von Enckefuß …

Armgart nicht?

Nein, aber das Fräulein …

Welches Fräulein? Ah! besann sich der Dechant. Und?

In diesem Und lag viel, sehr viel, und wenn man will lag in dem lächelnd wiedergegebenen: Je nun! des alten Dieners fast noch mehr. Es lagen zwei Lebensgänge in diesen Worten. Einer durch die schönen Tage auf Schloß Neuhof unter den Tänzerinnen, Sängerinnen, Marquisinnen und Vicomtessen des Kronsyndikus bis nach Wien und Paris … Der andere Lebensgang von da zurück in diese stille Klause hier zu Kocher am Fall, einer Stadt an einem Bergstrome, der wie von einem ungeheuern Sarge hierniederzugleiten schien.

Und eben wollten beide ihr Und? und ihr Je nun! auf die ihnen geläufige Weise erläutern und ausführen, als eine leichte, unsichtbare und auch fast unhörbare Rollenthür in der Tapete aufschnurrte und Frau von Gülpen eintrat.

Auch Frau von Gülpen machte die Anzeige, daß Fräulein Schwarz angekommen wäre und dem Dechanten ihre Aufwartung machen könnte …

Petronella von Gülpen war allerdings die jüngere Schwester Brigittens von Gülpen, der bereits im Jahre 1809 auf Schloß Neuhof entthronten Beherrscherin des Kron-160syndikus. Beide Schwestern gehörten einem Familiensystem an, das sich durch Jahrhunderte in der Nähe geistlicher Sitze in einer Weise fortgepflanzt hat, die, wie man von einem Fahnenadel spricht, ebenso von einem Krummstabadel sprechen ließe. Es ist immer eine und dieselbe Familie, wenn auch die Namen wechseln. Die weiblichen Bestandtheile dieser Familie sind diejenigen, auf welche es am meisten ankommt; die dazu nöthigen Männer sind mehr zufällig und die Verbindungen schließen sich oft geheimnißvoll und unerklärlich. Die Mutter der beiden Schwestern von Gülpen war die Wirthschafterin eines Fürstabts; ihr Vater war ein Unteroffizier Friedrich’s des Großen gewesen, der in der aus hundertzwanzig Mann bestehenden Armee des Fürstabts eine Stellung als Lieutenant gefunden hatte. Ueber Witoborn, eine Priesterstadt, hinweg waren sie auf Schloß Neuhof gekommen, Brigitte als die Aelteste und eine ganz in der Schule eines ehemaligen Unteroffiziers Erzogene, Petronella um zehn Jahre jünger und allmählich zur Freundin des Dechanten erkoren und demzufolge von einem höhern Aufschwunge der Bildung, ja mit den Jahren sogar theilhaftig geworden aller Feinheiten eines in solchem Grade gewinnreichen Umgangs. Tyrannisirt von ihrer Schwester, war sie früh ebenso zum leidlich Guten geartet, wie es jene zum Schlechten war. Der schon 1803 säcularisirte Fürstabt, ihr Vater, wir meinen ihr Landesvater, hatte nichts für sie thun können und den ehemaligen Unteroffizier Friedrich’s des Großen hatte schon in der Reichsarmee, die 1793 gegen die Sansculotten zog, noch vor der Kugel eine zu volle 161 Ladung jungen Weines in irgendeinem geistlichen oder weltlichen, jedenfalls neutralen Keller getödtet … Seit Jahren waren beide Schwestern voneinander getrennt. Obgleich sie sich haßten und nichts voneinander wissen mochten und jetzt wol auch kaum noch etwas wußten, hatten sie doch manches gemein. Petronella mußte man nur in jenen nächtlichen Augenblicken sehen, wo sie, in der Kontusche, mit einer spitzenverzierten Dormeuse über die ganze Stirn und einer das Kinn fast einhüllenden weißen Tüllbandschleife, dem unsteten Lolo Worte der Liebe und Beruhigung sprach; man mußte sie sehen bei den vielen andern tagscheuen Gelegenheiten, z. B. da, wo sie, allerdings höchst liebevoll, den Schwächen aller geschaffenen Creatur zu Hülfe kam … Frau von Gülpen würde, das ist wahr, keine Barmherzige Schwester abgegeben haben für ein großes Spital von allerlei wildfremden Schneidergesellen oder vom Gerüst gefallenen Maurern und Zimmerleuten; dazu hätte es ihrem jetzt so vornehmen Sinn und ihrer Neigung für Exclusives durchaus an Stimmung gefehlt … sie begriff nie – und sagte das auch –, wie es jetzt wieder Gräfinnen und Personen von Distinction geben könnte, die ganz so wie im „Alterthum“ unter die Barmherzigen Schwestern träten und für allerlei „fremden, unsaubern Pövel“ Kamillenthee und Haferumschläge machten und, wenn „dergleichen Bagage“ gestorben wäre, sogar deren Leichen wüschen … aber – bei einem einzelnen Herrn, bei einer geliebten Persönlichkeit, und wäre diese an Bedürfnissen selber ein ganzes Spital, ein Sacré Coeur oder eine lebendige Charité gewesen, da konnte sie sich den schwierigsten Pflegen 162 des menschlichen Leichnams unterziehen. Da gab es kein Seitenstechen, für das sie nicht eine passende Flanellreibung gehabt hätte, kein Magendrücken, dem sie nicht Erleichterung durch irgendeinen Thee verschaffte, keinen Frostballen, dem sie bei verschlossener Thür und die Brille auf der Nase nicht sogar eigenhändig mit einem scharfen Messer, wenigstens an der sterblichen Hülle des Dechanten, zu Leibe gegangen wäre. Nur mußten die Menschen, denen sie die edeln Liebesrathschläge widmete – die Liebeswerke gehörten lediglich nur dem Dechanten – zu dem Kreise ihrer nächsten Beziehungen gehören. Sie mußten durch Distinction und Namen in der Gesellschaft eine Stellung einnehmen. Es war das schöne Lebensprincip der Frau von Gülpen, daß Natürliches niemanden schände und um so weniger schände, als es einmal im Plane der Schöpfung gelegen hat, den Menschen aus einem höchst erbärmiglichen Stoffe zu bilden, einem Stoffe, der bei jedem schönen Abendspaziergang sich eine Erkältung und von der wohlschmeckendsten Truthahnpastete eine Indigestion zuziehen kann. Den Lebensberuf der Frauen fand diese Dame darin, daß sie für die Männer, die sie lieben, in einem ewigen Kampfe gegen die Unzulänglichkeit von „Kraft und Stoff“ liegen sollten. Ihre Waffen waren dabei ein Arsenal von Leibbinden, Wärmsteinen, Fußsäcken, Kräuterkissen, Senfteigen, Theevorräthen aller Art, sowol schweißtreibender, wie beruhigender, luftfördernder und lufthemmender Art, nicht eingerechnet die vielen Pillen, Pulver, Tropfen und noch unausgeführten Recepte, die sie zu häuslichen Vorkommnissen sich aus guten gemeinnützigen Schriften 163 oder aus bewährten klösterlichen oder Familientraditionen niederzuschreiben pflegte, selbst für Fälle, die nur in der Möglichkeit lagen, z. B. die Hundswuth. Aber die erschaffene Creatur auch in ihrem behaglichen Befinden hatte in Frau von Gülpen ihre treueste Beförderin. Man mußte sie sehen an jedem Montag bei der großen Revision der alten und neuen Wäsche; an jedem Dienstag unter den Nähterinnen, die sie, ein liebes Mädchen, Treudchen Ley, an der Spitze, flicken und stopfen ließ; an jedem Mittwoch auf dem wichtigen Mittwochmarkte zu Kocher, wo sie mit der prüfenden Uebersicht eines Feldherrn die vorhandenen Vorräthe an Wild und Geflügel musterte; an jedem Donnerstag, wo es regelmäßig in der Dechanei ein Diner gab; an jedem Freitag, wo die heilige Fastenordnung und ihre specielle intimste Vertrautheit mit der Kunst des Backens und der höhern Fischsaucen sie fast selbst zur Köchin machte; an jedem Sonnabend, wo sie dafür zu sorgen hatte, daß sie nur selbst obenauf blieb und nicht krank wurde, aus Angst, daß es der Dechant werden könnte, der an diesem Tage früh die Schulen zu inspiciren hatte und dann oft von drei Uhr Nachmittags bis spät Abends im Beichtstuhl festgehalten wurde und trotz aller Vorsichtsmaßregeln, trotz Fußsack, Pelz und Kohlentopf im Winter, nach Hause immer so ermüdet kam, so geistig durchschüttert, so von der hochwichtigen Function des Anhörens fremder Seelenbekenntnisse um alle eigene Lebensstärke gebracht, daß er erklärte, nur die schönste, seelenvollste Musik in einem Nebenzimmer, eine Musik wie von Seraphshänden gespielt, könnte ihn wieder in den Zusammenhang mit Gottes harmonischer 164 Weltordnung bringen! Essen konnte der Dechant Sonnabend Abends nichts. Denn, sagte er, von dem, was ein katholischer Priester alles in der Beichte zu Gehör bekommen muß, würde wenigstens ihm immer so weh und schlecht ums Herz, so tief jämmerlich um Seele und Magen herum, so vollständig und unendlich satt zu Muthe, daß er dann nur Appetit nach Himmelsspeise haben könnte, nach Eliaskost, von Raben oder geradezu Engeln oder sonstigen Boten Gottes credenzt … Glücklicherweise kam darauf immer der stolze, feierliche, hochherrliche katholische Sonntag mit seinen brennenden Lichtern, mit seinen gestickten Meßgewändern, mit seinem duftenden Weihrauch, mit seinem erhebenden Orgelton, seiner sichern jahrtausendjährigen Regelmäßigkeit … Der hob, der tröstete, der erquickte ihn dann wieder … Wenn er auch durch vierzigjährige Gewohnheit das Heiligste verrichtete, ohne davon eine andere Vorstellung zu haben, als die eines Traumes, geträumt mit wachem Auge, so fing er denn doch am Sonntag Abend wieder an sich Mensch und von dem Ernst des Lebens minder schmerzhaft berührt zu fühlen.

Jene Sphärenmusik aber, jene Lücke am sonnabendlichen Thee, die die gute Frau von Gülpen nicht ausfüllen konnte, jenes Bedürfniß nach Eliaskost war die Veranlassung, daß seine treue Freundin in fernen Gegenden eine so weit verbreitete Verwandtschaft hatte. Seit dreißig Jahren sagte man zu Kocher am Fall, daß die nie schöne, aber immer wohlgesinnt gewesene „Seitenverwandte der Asselyns“ für die Ihrigen doch auch das mildeste Herz von der Welt hätte. Eine Nichte nach der 165 andern zog sie an sich, sorgte, wenn sie nicht gleich beim ersten Eindruck misfiel und oft schon nach vierundzwanzig Stunden abreiste, für deren Ausbildung, ließ sie in der Dechanei wohnen und verschaffte ihr den Schutz und den Beistand des wohlwollenden und gütigen Herrn, dessen Pflege sie ohne höhere Ansprüche für sich selbst und mit einer in der That klösterlichen Entsagung seit so langen Jahren schon übernommen hatte. Nur böse Zungen waren es, die da behaupteten, daß die Familie der Frau von Gülpen merkwürdigerweise einen höchst unbestimmten Typus hätte. Denn bald wären die Nichten aus einer blonden, bald aus einer braunen Seitenlinie, bald hätten sie schwarze, bald blaue Augen, bald gehörten die Nasen dem griechischen Profil an, bald säßen sie mit zierlichem Trotz stumpf auf Gesichtern, die indessen alle, das blieb unbestritten, hübsch waren. Mesalliancen gab es in dieser weitverbreiteten Familie der Gülpens leider sehr viele, denn einige „Nichten“ trugen adelige, andere nur bürgerliche Namen. Darin aber waren sich alle gleich, daß sie erstens, wenn sie länger als einige Wochen blieben, sämmtlich anmuthig, zweitens gebildet, drittens musikalisch sein mußten, viertens daß keine länger bei der Tante blieb als zwei Jahre. Ueber letztern Umstand gingen verschiedene Gerüchte … Die einen behaupteten, für ein geistliches Haus hätte ein längeres Verweilen, da alle ohnehin mit der Absicht kamen, nur die Tante auf einige Zeit zu besuchen, anstößig erscheinen müssen. Die andern sagten, Frau von Gülpen hätte mit dem Dechanten die feierliche Abrede getroffen, daß sich keine von ihren Nich-166ten jemals dürfte einfallen lassen, irgendwie in ihre Rechte einzutreten, was allerdings bei einem zu langen Verweilen in der Nähe des für alles Schöne so lebhaft empfindenden Mannes zu besorgen war. Man sagte ferner, daß diese Trennungen oft schmerzliche Scenen herbeigeführt hätten, deren Nachklänge der Dechant nur durch seine jeweiligen wiener Reisen vergessen zu können vermochte … Lucinde war etwa die zwanzigste Nichte, die schon nach Kocher am Fall gekommen war. Ihre Vorgängerin war Angelika Müller gewesen, jene Lehrerin, in deren Persönlichkeit entweder eine arge Verwechselung stattgefunden hatte oder die dem, der sie empfohlen – es war nicht der Philosoph Doctor Laurenz Püttmeyer selbst gewesen –, zu sehr verklärt erschienen gewesen sein mochte durch die Schönheit ihres Geistes und Herzens. Dennoch war Angelika Müller bei der „Tante“ sechs Wochen gewesen.

Der Dechant verstand den eigenthümlich aufgeregten und freudvoll-leidvoll gemischten Blick seiner langjährigen Freundin, mit dem auch sie jetzt, aber tief aufseufzend, die „neue Acquisition“ ankündigte. Geschah dies doch regelmäßig mit demselben unheilverheißenden Tone, demselben Unkenruf des Mistrauens und der Furcht vor einer solchen „wildfremden Person“ wieder, der „niemand ins Herz blicken könne“, und die sogleich bei erster Begrüßung für das scharfe Auge der Kennerin gewöhnlich irgendeinen bedenklichen Fehler hatte. Die eine sprach ihr gleich zu rasch, die andere zu rauh, die dritte hatte keine Lebensart, die vierte zu viel, die fünfte war naseweis, die sechste simpel … und schon an der Toilette, an der Wäsche, 167 an der Frisur konnte sie unterscheiden, weß Geistes Kind die von außenher, durch allerhand Vermittelungen empfohlene „Person“ war … und wenn auch eine allen Kennzeichen, die nur der Dechant verlangte, noch so vollkommen entsprach, für Frau von Gülpen konnte sie irgendetwas, vielleicht einen „Odeur“ haben, der ihr einen „Horreur“ verursachte … kurz, der Dechant und Windhack, beide waren die erste Verurtheilung schon gewohnt.

Regelmäßig aber fanden beide hintennach bei eigener Anschauung, daß die so verfehlt geschilderte Acquisition im Grunde „gar nicht so übel war“ … Nur heute bedauerte der Dechant, daß er jetzt sich eilen müßte in die Conferenz zu kommen. Ja da der neue Ankömmling nicht sogleich mit Frau von Gülpen schon eintrat, da man erst nach Lucinde Schwarz klingeln mußte, da des gefallenen Regens wegen Frau von Gülpen auch noch auf eine warme Fußbekleidung für den Dechanten drängte, so wurde beschlossen, die Vorstellung zu lassen bis zur Zurückkunft. Fand sie dann auch, da sich zum Thee jeden Abend Gesellschaft auf der Dechanei einstellte, vielleicht vor Zeugen statt, so konnte man ja dann gerade am ehesten beweisen, daß der Besuch nur der Gesellschafterin des Dechanten galt, nicht ihm selbst.

Indem Windhack seinem Herrn jetzt behülflich wurde, sich zum Ausgange wärmer anzukleiden, begleitete er die Aeußerung der Frau von Gülpen, Windhack hätte sie ja auch schon gesehen! in seinem sanften Redeton, der ihn dem Dechanten besonders werth machte, mit den Worten:

Ja, halt ganz wie die Berenice!

168 Der Dechant wußte, daß Windhack mit dieser Vergleichung nur die Figur eines Sternbildes meinen konnte.

Wie so? Berenice? fragte er, eine weiße Halsbinde unter die schwarze legend, während Frau von Gülpen aufhorchte.

Wenn Sie sich die fünf Sterne der Berenice durch Linien verbunden denken und den obern sozusagen als den Kopf, so kommt halt ungefähr das neue Fräulein heraus!

Hoffentlich, bemerkte der an solche Schilderungen gewöhnte Dechant, heißt das nicht, daß die Dame einen Buckel hat?

Frau von Gülpen meinte schon:

Sie geht etwas sehr übergebeugt!

Frau von Gülpen dachte an ihren eigenen geraden Wuchs und daß man bei etwas Tournure selbst als Sechzigerin immer noch etwas vor der Jugend voraushaben könne … Sie wußte nicht, daß die Vergleichungen mit ihrer alten Hauptmännin Lucinden sogleich mehr als sonst in Furcht und Nachdenken versetzt hatten.

Sonst sehr anmuthig! fuhr Windhack fort. Sehr freundlich! Mit jedem schon so, als wenn sie jahrelang mit ihm bekannt wäre! Mich hat sie gleich gefragt, was es für Menschen im Monde gäbe? Sie arrangirt sich jetzt halt oben ihre Kammer!

Der Dechant verfolgte diese Andeutungen nach der Richtung hin, wie ein derartiges neues Wesen in dem nicht immer ganz stillen Frieden der Dechanei sich künftig wieder bewähren würde. Er erschrak, als Frau von Gülpen bereits daran erinnerte, die Nichte wisse, daß 169 sie nur vorläufig auf drei Tage „zum Besuch“, d. h. zur Probe da wäre.

Hm! Hm! sagte er, Menschen im Monde! Sie kennt also schon unsere Schwächen – wollt’ ich sagen – ja – ei – Windhack, eine Nichte, die Astronomie verstand, die hatten wir ja wol noch nicht? Richtig! Die Müller’n! Aber die trieb mehr Mathematik! Lieber Gott, sie war selbst wie ’ne gerade Linie! Hm! Berenice! Hatte die Berenice nicht ein schönes, berühmtes Haar? Das Haar der Berenice! Blond, lichtblond, wie der Name andeutet, Lucinde? Nicht?

Mit diesen Worten schritt der Dechant schon die steinernen Treppen hinunter.

Windhack begleitete ihn und sagte:

Im Gegentheil, Herr Dechant! Schwarz wie die Novembernacht! … Ein Regenschirm ist nicht nöthig, Frau von Gülpen!

Frau von Gülpen war bis zur Hälfte der Treppe mit hinuntergegangen. Sie blieb da stehen, wo sich eine Thür zu einem Wirthschaftsentresol befand. Dort wollte sie noch einen Regenschirm mitgeben, den der Dechant auch ruhig genommen haben würde. Er hätte auch einen Sonnenschirm genommen, wenn man ihm einen in die Hand gesteckt hätte; er würde höchstens gefragt haben: Sind jetzt so kleine Regenschirme Mode?

Windhack begleitete ihn bis an das hohe Hausportal.

Als er zurückkehrte, rief ihn Frau von Gülpen in die Wäschkammer und wollte wissen, was da die zweideutigen Anspielungen mit „Berenice“ hätten sagen wollen? Die Vertraulichkeiten des Dechanten mit seinem 170 alten Diener gingen zuweilen auf ihre Kosten. Beim „Haar der Berenice“ hatte der Dechant einen so scharfen Blick auf ihre Frisur geworfen … behauptete sie wenigstens …

Windhack erzählte mit Harmlosigkeit, daß es einst einen berühmten alten Astronomen, Namens Kanon, und eine ägyptische Königin, Namens Berenice, gegeben hätte und letztere hätte ihren Mann in die Schlacht schicken müssen, hätte aber gelobt, käme er gesund heim, so würde sie den Göttern – der Venus, Frau von Gülpen, sagte Windhack – ihre Haare opfern, d. h. in ihren Tempel stiften, wie wir Wachskerzen stiften oder silberne Herzchen; und nun, fuhr Windhack fort, hatte der Astronom Kanon das Haar der Berenice zwar vielleicht abgeschnitten, aber nicht in den Venustempel abgeliefert, sondern gleich gesagt: die Götter hätten es in die Sterne versetzt, dicht an die Mähne des Löwen – auch halt ein Sternbild, Frau von Gülpen! – Nun wisse man nicht recht, mit wem der Kanon unter einer Decke gesteckt hätte, vielleicht mit der Königin selbst, die ihr schönes Haar zuletzt nicht gern hergegeben hätte und dann so lange vielleicht die Hauben erfand, bis es ihr wieder hätte gewachsen erscheinen können, oder mit den Venuspriestern, die diese Haare vielleicht zu ihren Perrüken verwandten und keine Rechenschaft hätten darüber ablegen wollen … Kurz, wenn man den Kanon nach dem Haar der Berenice fragte, Frau von Gülpen, so zeigte er halt immer auf die Sterne, woher auch vielleicht mit der Zeit die Redensart: „Mondschein“ entstanden sein mag für einen ausgegangenen oder dünnen oder halt sehr kahlen –

171 Genug! Genug! unterbrach Frau von Gülpen mit Entschiedenheit.

Windhack verstand sich aufs Frisiren wol noch sicherer als auf das Angeben bevorstehender Mondfinsternisse. Er besorgte nicht nur die mathematisch richtige Form der Tonsur des Dechanten, sondern auch die gewellten künstlichen und so schön kastanienbraunen Scheitel der Frau von Gülpen; jedoch so umständlich überhaupt von Haaren zu sprechen, widersprach aller Conduite und „feinen Lebensart“ …

Sie suchte für Lucinden, deren größerer Koffer erst mit Fuhrgelegenheit nachkommen sollte und die sich etwas von dem Regen durchnäßt gefühlt hatte und von der Wäsche der Frau von Gülpen einiges bis auf weiteres in Anspruch nahm, allerlei Frauenzimmerliches aus, von dem sie dann gleichfalls sagte, daß auch das ihn nichts anginge …

Gehen Sie! Gehen Sie! sagte sie, Sie mit Ihrem Kanon! Heute bei Tische ist so viel von Kanonen gesprochen worden, daß ich jeden Augenblick erschrecke, von der Stadt schießen zu hören!

Das rauschendste Trommeln hörte man jetzt allerdings …

Windhack ließ Frau von Gülpen zu der in der Weißzeugkammer arbeitenden Nähterin, Treudchen Ley, eintreten, er selbst verfügte sich, um für die Auguststernschnuppen seine Gläser zu prüfen, auf die Sternwarte.

Der Dechant schritt inzwischen zur Stadt …

Er hatte die Gewohnheit, auf den gekieselten Wegen, die unmittelbar um die Dechanei her durch den kleinen 172 Park sich schlängelten, und auch noch auf den Stufen, die zum Dom emporführten, ganz besonders freundlich zu grüßen. Ernster aber wurde er schon oben um den Dom selbst herum. Vollends vornehm und etwas kalt sogar war seine Art, wenn er die Stufen niederwärts zu Kocher am Fall selbst hinunterschritt.

Man sagte, er entblößte nicht gern sein Haupt. Die einen meinten, weil er die Schwäche besaß, seine Tonsur zu verbergen, andere, weil er die Zugluft fürchtete, und wieder andere, weil ihn ein ewiges Grüßenmüssen von Krethi und Plethi bei aller Freundlichkeit des Herzens verdroß.

Heute aber wurde er kaum beachtet; denn es wimmelte von Soldaten und vor Aufregung in der ganzen Stadt …

Unter den einfachsten bunten Röcken steckten aus der Gegend ringsum achtbare Bürger, Hausbesitzer, Handwerker, junge Oekonomen, Förster, Studirte … Und nun rannten die Frauen und die Kinder und wollten auf dem Marktplatz die „Parade“ sehen und die Handwerker hatten ihre Arbeit eingestellt und standen in den Hausthüren, viele gewärtig auch der Einquartierung, die sie auf drei Tage bekommen konnten; auf dem Marktplatz nach dem Appell und der Revue wurden dazu die Billets ausgetheilt … Und an Ausspannungen und Gasthäusern waren Laubpforten errichtet, Fahnen wehten aus den Fenstern … Teppiche hingen sogar nieder, wie bei einem Kirchenfest … Und dazwischen spielten selbst die Kinder Soldaten, rasselten mit Trommeln, kokettirten mit Dreimastern aus Zeitungspapier … Und die Kühe mußten 173 denn doch auch noch durch die engen Gassen hindurch und sogar eine ganze Hammelheerde über den Brückensteg am Fall … ja, des Ho! Ha! He! ’s war kein Ende … bis auf den Marktplatz schallte es, wo schon die Glieder antraten und auf allen Budendächern die Straßenjugend saß, künftige Rekruten des großen Militärstaats auch … und Bataillon schwenkt! commandirte jetzt der Major vom Stabe, der glückseligst wieder die Seinigen „beisammen hatte“, „seine Jungen“, „seine Kinder“ – er zog das doppelte Tuch nicht aus – und nun hätte einer über diese kerzengeraden Colonnen sagen sollen: Das sind Handwerker, Bauern, Oekonomen, Förster, Studenten, Referendare? Nein! Es waren Krieger so gut, wie die bei Leipzig und Waterloo gefochten haben!

Und auch der Dechant nickte höchst befriedigt, als es so ein donnerndes Halt! galt. Er suchte und suchte … richtig! da fand er den schlanken, heute so extra-brünetten, sonnenverbrannten, „wol zu spät gekommenen“ Herrn Neveu mit dem gestutzten Bart- und Kopfhaar, der jetzt nicht einmal lächeln, nur mit den Augen blinzeln durfte, um ihn zu grüßen, und fünf Mann weiter stand der Blonde … der Thiebold de Jonge, dem Hedemann und Ulrich von Hülleshoven das Leben gerettet hatten … und des Dechanten Herz schlug doch freudiglichst, da so unter der Masse die herauszuerkennen, die ihm bekannt, lieb und unendlich werth waren.

Auch er respectirte die militärische Ordnung und grüßte nur mit einem holdseligen Lächeln und einem höchst ironischen Zuge um die Lippen, als wollte er sagen: Na, da werdet ihr denn jetzt gedrillt, ihr jungen 174 Weltstürmer und müßt wie die Gliedermänner zappeln und Fuß und Hand heben, nicht wie eure hochherrliche, freie, beneidenswerthe Jugendlust es will, sondern wie der alte Major da von Pritzelwitz es commandirt und ihm der Polizeiassessor, heute Lieutenant von Enckefuß, euer Zugführer, nachdonnerwettert! Euch schon recht, euch schon recht!

Und in seinen Spott und seine Freude rasselten nun die Trommeln … die Pickelpfeifen schrillten … die Ladestöcke klingelten … Schulzendorf, der Gensdarmenmajor, jagte mit einer Suite Gensdarmen hinter den Marktbuden weg, um Platz zu machen … auch Grützmacher war schon wieder da, vielleicht ohne den Leichenräuber; jetzt aber fegte er die Straßen rein von allem, was die Entwickelung der Kraft und Größe seines Vaterlandes hemmen konnte.

So aus dem Lager der Ghibellinen trat der Dechant in das der Welfen.

In einem engen Gäßchen ging es zur Stadtschule und zur Stadtpfarrei.

175 7.#

Die Straßen zu Kocher am Fall sind ganz so gebaut, wie das „gemüthliche“ Mittelalter überall baute.

Häuserzeilen, die nicht geradeaus laufen, sondern die den Wind überzwerg durch Winkel und Einbiegungen behaglich abfangen …

Da ein kleiner schiefer Platz mit einem Brunnen … dort eine Sackgasse, die in einer in Sandstein gehauenen alten Kreuzesabnahme endet …

Zwischendurch stürzt und wogt und wallt der „Fall“, ein wilder Bergstrom von mäßiger Breite, der das Städtchen in zwei Theile schneidet, ohne daß man zuweilen die Brücken bemerkt, auf denen man steht. Der Fall ist hier und da ganz überbaut und schießt durch Färbereien oder unter einer donnernden Mühle hin, man sieht ihn nicht.

Am untersten Ende der Stadt liegt an ihm ein Judenviertel. In Kocher am Fall gibt es eine starke Judengemeinde, die schwunghaften Handel treibt, vorzugsweise mit Vieh und dessen Abfällen. Aber auch Hausirer gab es genug in ihr und Fruchtmakler, die Geschäfte auf zwanzig Meilen Weges und weit über die Residenz des Kirchenfürsten hinaus machten. Herr Löb Seligmann von Kocher am Fall war sogar einer der berühmtesten Gütermakler.

176 Zwei so stattliche Kirchen, wie der uralte Dom von St.-Zeno und die Stadtkirche, reichten vollkommen für die christliche Bewohnerschaft aus. Es waren aber noch fünf bis sechs andere Kirchen vorhanden. Sie wurden zu Vorrathshäusern für Militär- und Verwaltungszwecke benutzt. Eine der kleinern, die Minoritenkirche, gehörte den Protestanten, die nur in geringer Zahl in Kocher am Fall wohnten, in geringerer noch als die Juden …

Auf der Conferenz sprach eben jemand, als der Dechant eintrat, die Worte:

Und dennoch, dennoch hat die hiesige kleine Gemeinde von noch nicht hundert Lutherseelen einen Geistlichen, der besser dotirt ist als der Kaplan in der Stadtkirche, der neben seinem schweren Amte auch noch den Kirchendienst in den Dörfern der Umgegend zu versehen hat!

Abwechselnd mit den Pfarrern von Blick, Hilkum und den Mönchen zu Gottesthal! hätte der Dechant gleich hinzusetzen mögen, um eine der von jenen Tagen an immermehr in Umlauf kommenden Tendenzunwahrheiten zu berichtigen.

Doch fürchtete er, seinen Amtsbrüdern die Phantasiegebilde zu zerstören, die jetzt vor ihnen im Qualm ihrer Tabackspfeifen bunt und wirr genug auf und niederzogen.

Immer traf ihn beim Eintreten in den großen Schulsaal – die glückliche Jugend hatte heute „frei“ – sogleich der ihm besonders unangenehme Blick des an der Spitze der zusammengerückten Schultische sitzenden Beda Hunnius, dieser doppelsichtige Blick, der der wahren Gesinnung des Mannes gegen ihn entsprach. Der kurze, gedrungene, breitschulterige Herr Stadtpfarrer schriftstel-177lerte. Er redigirte den „Kirchenboten“, theologisch und poetisch. Der Dechant konnte den Mann nie sehen, ohne noch an einen andern Beda Hunnius zu denken, der im Augenblick nur nicht gegenwärtig war. Beda Hunnius, den er vor sich sah, und der, den er gedruckt kannte, der, auf den er, wie er sagte, abonnirt war, waren zwei ganz unvereinbare Gegensätze. Der Dechant wußte, daß bei seinen Amtsbrüdern das Schriftstellern sowol überhaupt aus der Leichtigkeit entsteht, Erbauungsbücher zu schreiben, die immer gut verkauft werden, wie im Besondern aus einer heftigen Mittheilungslust, die durch den polemischen Eifer geschürt wird. Auch das Gefühl der Einsamkeit ließ Franz von Asselyn als die Muse des katholischen Geistlichen gelten. Obgleich ihn sein Amt mehr in Anspruch nimmt als den protestantischen Pfarrer, fehlt doch die Familie, ihre Zerstreuung, ihre Sorge. Einsamkeit ertragen können ist eine hohe Lebenskunst! Sie ist der wonnevollste Genuß, ja der Luxus des Denkers! Eine Qual ist sie für den mäßigen Kopf. In diesen trüben Winterabenden, wo der katholische Geistliche auf dem Dorfe niemand zum nähern Umgang hat, unterhält ihn die Feder, die Druckerschwärze, die Beziehung zur Literatur, der Antheil an ihren Händeln. Schreiben darf er nichts, was nicht im Sinne seines großen Ganzen ist, und so hilft sich die trübe Laune durch Abfassung von Predigten, Gebeten, polemischen Ausfällen; sie schreibt und eifert sich in allerlei mehr oder minder wohlthuenden Lärm hinein. Der Dechant wußte, daß, wenn die niedere Geistlichkeit aus dem Bauernstande hervorgeht, das geistliche Convict ihm eine abschleifende 178 Berührung mit der Welt nicht gewährt. Beda Hunnius, von Geburt ein Bauernsohn, unterstützt durch Stipendien, auf besondere Empfehlung in dem Convict jener Stadt gebildet, wo er mit Bonaventura die Weihen empfing, hätte immerhin nach seiner Meinung stürmen und lärmen mögen, soviel er wollte; aber er dichtete auch! Er dichtete in einer überschwenglichen Manier, die dem Schauspielerstande gleicht, der eben hinter den Coulissen ein Seidel Bier getrunken haben kann und dann hinaustritt und von dem Duft der Palmen spricht, von der „Götter altem Heiligthume“, „der ewigen Roma Majestät und Capitole“ … „Jerichorosen“ hießen Beda Hunnius’ poetische Erstlinge, „Lacrymae Christi“ seine zweite Sammlung. Es folgte eine dritte und vierte und immer wurde der Dechant an sich selbst irre, wenn er seinen Collegen sah, wie der mit pfundschweren Stiefeln durch die Straßen von Kocher schritt, oder ihn hörte, wie er mit der gewaltigen Hand auf das Kanzelpult schlug, sich an seine Zuhörer z. B. mit den Worten wendend: „Um ein für allemal euer Nasenschneuzen während meiner Worte abzuschaffen, behaltet ihr euer Sacktuch so lange in der Tasche, bis ich sage: Putzt jetzt eure Nasen!“ … und dann von derselben Hand, von demselben Munde eine zarte „Purpurviole“ auf das Grab eines Märtyrers niedergelegt in Tönen und in Weisen der Ueberschwenglichkeit! Beda Hunnius waren ihm zwei Menschen.

Dennoch würde der Dechant, eingedenk seiner Siriusreligion, auch das ertragen und gelächelt haben, selbst über die unablässige geheime Polemik im „Kirchenboten“ gegen 179 ihn selbst, gegen seine gesinnungslose und weltverdorbene Richtung – vor allzu bösen Umtrieben schützten ihn die reichen Geldspenden, die man in der Dechanei für alles und jedes, selbst „zum Ankauf von Kohlen zu Scheiterhaufen“, wie er sagte, zu jeder Zeit erhalten konnte – aber bei den Conferenzen, die Hunnius eingeführt hatte, konnte er oft gar verdrießlich werden über die vielen Erdenschlacken des Himmlischen, über den Sauerkrautsduft auch sogar der Seraphskost und noch auf der letzten Conferenz vor sechs Wochen hatte er wie ein Zelot gesprochen:

Wo ist euch je das Rauchen gestattet worden? Auf welchem Concil? Durch welchen Apostel, Märtyrer oder Bekenner?

Es war nicht Scherz, wenn er auch heute wieder beim Eintreten in die schon mit dichten Dünsten und Nebeln gefüllte Schulstube den sich theilweise Erhebenden entgegenrief:

Meine Herren! Der Geist heißt doch, wie Sie wissen, auf hebräisch Ruach und Sie machen regelmäßig, wenn Sie zusammensitzen, Rauch daraus!

Auf den Schulbänken und die Schulsitze entlang lächelten zwar über zwanzig Geistliche, aber sie blieben bei ihren langen und kurzen Pfeifen und die jüngern sogar bei ihren Cigarren …

Völker und Geistliche, die den Wein genießen dürfen, fuhr der Dechant sich setzend und brummend fort, sollten den Taback den türkischen Derwischen überlassen!

Er suchte sich einen Platz am Fenster und lehnte den Wein ab. Jeder der Herren hatte vor sich ein Glas mit funkelndem Rebengolde stehen.

180 Beda Hunnius nahm die schon im vollen Gange befindliche Debatte des Tages wieder auf.

Er billigte eines Redners Vorsicht, die eben angerathen hatte, nicht blind in das Messer der Bureaukratie zu laufen. Aber, setzte er auf den Tisch schlagend hinzu, die Zeit rückt immer näher, wo wir mit allem, und wär’s mit Freiheit und Leben, für unsere Mutter, die Kirche, werden einstehen müssen! Da – er zeigte auf den Franciscaner –, der ehrwürdige Pater Sebastus dort berichtet uns, daß in der Residenz des hochwürdigsten Kirchenfürsten die Dinge immermehr auf die Spitze getrieben werden – auf die Spitze der Bajonnete!

Von draußen hörte man das Klingeln der Ladestöcke; der Dechant öffnete sich das Fenster, an dem er saß.

Ihr junges Volk! sprach er murmelnd vor sich hin und drückte ein Sammetkäppchen auf sein Silberhaar. Wer in Zeiten gelebt hat, wo wirklich die Bajonnete herrschten –!

Beda Hunnius ließ sich nicht stören. Er gab die damals allbeliebte Schilderung der geistlichen Zustände des unter protestantischen Sceptern schmachtenden katholischen Deutschland. Er sah das Volk Gottes in der babylonischen Gefangenschaft. Er sah vollends auf dem Throne, unter dessen Gewalt sie durch eine „Laune der Geschichte“ hier leben müßten, einen assyrischen König.

Ist es nicht, rief er und sah dabei zuweilen auf ein Papier, als wenn wir die Worte Actorum 7, 43 hörten: „Ich will euch wegwerfen jenseit Babylonien!“ Meine Freunde, noch über Babylonien hinaus! Ist das nicht das schwerste Elend unsers Fluches! Noch über Babylonien hinaus! Denkt das Herz nicht mit Schaudern an Rußland? Wie in 181 Rußland steht es schon mit unserm Glauben, mit unserm Cultus, unserer Selbstregierung! Nicht genug, daß die Kirche ihres jahrtausendjährigen Schmuckes beraubt worden ist, daß man die Pfründen und Stifte einzog, die Bisthümer plünderte, die Klöster aufhob, den Schulen, unsern niedern und höhern, die alte Form nicht nur, sondern die ganze Existenz nahm: selbst bis in das innerste Leben unsers Glaubens dringt die Tyrannei des weltlichen Armes! Wo ist noch irgend, außer im Beichtstuhl, ein freier Verkehr des Seelenhirten mit seiner Gemeinde! Wo ein ungehinderter Verkehr des Unterhirten mit dem Oberhirten! Wo kann sich ein Wunsch, eine Bitte, eine Mahnung aussprechen innerhalb unserer eigenen Angelegenheiten, ohne daß nicht die weltlichen Räthe, deren Mehrzahl unserer Kirche nicht angehört, ihr Ohr hinhalten und die letzte Entscheidung geben! Wir sind Fremdlinge im eigenen Lande, Parias, die der Botmäßigkeit herrschender Rajahs unterworfen sind! Und womit herrschen sie? Mit unserm eigenen Gut und Blut, mit den Besitzthümern der Kirche, die sie säcularisirten, mit dem Schweiß unserer Arbeit, mit dem Erwerb unserer Hände, mit den Steuern, die wir reichlicher zu zahlen haben als die Provinzen, die man im Osten bevorzugt! Darf es mitten in unsern Landen eine Universität geben, in der nicht alle Wissenschaften, die sie lehrt, in unserm Glauben wurzeln? Darf eine Philosophie gelehrt werden, die Rom verworfen hat? Darf noch länger ein hundert Meilen von uns entlegenes Ministerium, in dem nur ein einziger, mit Titeln und Orden verführter Rath unsers Glaubens sitzt, unsere Lebensfragen ordnen und 182 entscheiden? Soll für die Besetzung der Stellen der Bischof kaum ein Vorschlagsrecht ausüben und die Bureaukratie den Ausschlag geben? Soll jedes schadhafte Dach, das über dem Hochheiligsten auszubessern ist, jedes nothwendige neue Meßgewand, jeder außergewöhnliche Schmuck eines mit besonderer Vorliebe gerade an diesem Orte und gerade auf jene heilige Erinnerung gerichteten Festes einer weltlichen Bewilligung bedürfen? Soll sich keine Fahne mehr mit dem hochheiligsten Bilde der gnadenreichen Gottgebärerin zu einer Procession entfalten dürfen, ohne daß diese Gensdarmen dem Priester, der mit seinen frommen Seelen über die thauigen Wiesen dahin zu einem Gnadenorte wallfahrtet, seinen Erlaubnißschein abverlangen, wie einem reisenden Handwerksburschen sein Wanderbuch? Sollen diese ehernen Zungen, die in den Lüften die Lebenden rufen, die Todten beklagen, den Blitzen Halt gebieten, nicht reden dürfen, wenn die Lust und Wonne unsers hochheiligsten Kirchenjahrs, die weihevolle Erinnerungsfreude, der heilige Bußdrang, die Märtyrerandacht und das Bittgebet gläubiger Seelen Gleichgestimmte in die heiligen Kirchenhallen ruft? Soll uns der Wein zugemessen werden und geaicht die heilige Kanne, soll das Brot des ewigen Lebens halbirt und zerschnitten werden wie das Brot in den Kasernen? Soll das von dem Hochheiligsten tröpfelnde Wachs gesammelt werden, wie von den Bedienten geiziger Herrschaften das Wachs gesammelt werden muß nach den Orgien, die sie mit Tanz und Musik feiern? O daß das Maß unserer Leiden noch immer nicht voll ist zum Ueberfließen für die Feigheit und Muthlosigkeit dieser Zeiten! Wir haben 183 als Kirchenfürsten einen Geharnischten des Herrn, einen Michael im Panzerkleide unter dem Pallium der höchsten Kirchenwürde, einen Streiter, der die Mitra trägt wie den dreimal umbuschten Helm eines Gottfried von Bouillon! Und mehr! Rom, das endlich den Muth wiedergewonnen, sich von einer langen Ohnmacht und aus dem Stande der Erniedrigung aufzuringen zu seiner großen Stellung, wieder mitzureden im Rath der Großen mit blitzendem Bannstrahl und donnernder Bulle, Rom hat ihn gesegnet, diesen Streiter des Herrn, hat ihm das rothe Kreuz des Gotteskampfes auf die Schulter geheftet … Und doch –! Wie zaghaft ist bei alledem der Beistand, den er sogar unter uns selbst findet! Wie angstvoll noch unser Umblick auf diesen Heerbann der Hof- und Land- und Steuer- und Kriegs- und Staats- und Regierungs- und Kirchenräthe! O daß die Stunde uns gerüstet finden möge, die Stunde der Entscheidung! Sie wird hereinbrechen wie ein Dieb in der Nacht, wie ein Weib die Wehmutter ruft, wie die zum Tod Erkrankte den Priester, ungeahnt, unerwartet! Unser frommer Bruder da berichtet, daß die Frage der gemischten Ehen für unsern gottseligen Kirchenfürsten an Ketten und Banden streift!

Die brennende Frage des Tages war ausgesprochen.

Mehrere der Pfeifen gingen aus, andere wurden beiseite gelegt. Der Gegenstand wurde zu ernst. Eine drückende allgemeine Stille war die Folge dieser zuletzt ganz abgelesenen Anrede. Der Sprecher, der sich somit offen als Mitverfasser so vieler damals in Würzburg und Augsburg zuerst auftauchender Schriften enthüllte, sah sich im Kreise rundum. Seine Augen funkelten, die starken Züge 184 des Antlitzes waren geröthet; die rechte Hand, zur Faust geballt, hatte mehrmals auf den Tisch gedonnert …

Man kann wirklich nichts sehnlicher wünschen, als daß dieser schwierige Gegenstand seine endliche Erledigung finden möge … sprach eine schüchterne Stimme …

Rom hat gesprochen! riefen andere …

Aber das Breve muß uns erst durch die Regierung zukommen! erwiderte der factische Verwalter der Dechanatsgeschäfte von St.-Zeno.

Das ist es eben! ertönte von mehr als einem Drittel der Anwesenden.

Auch Ruhigere klagten, daß die Seelsorge in der bittersten Bedrängniß wäre. Der Staat verböte die Weigerung der Einsegnung ohne Vorbehalt der Religion der Kinder und Rom wolle doch diese Weigerung …

Schon erhoben sich einzelne und drückten in ihren Mienen den Schmerz aus, daß man nicht zweien Herren zugleich dienen könne.

Hunnius ermahnte zum Sitzenbleiben.

Daß diese Protestanten, sprach und las er weiter, nicht einsehen, was es denn eigentlich mit unserm Glauben ist! Herr Gott im Himmel! Es ist ja nicht die Unduldsamkeit, es ist ja nicht die Proselytenmacherei, die uns gebietet, eine Ehe zwischen Rechtgläubigen und Heterodoxen nur dann einzusegnen, wenn ein Versprechen vorangegangen ist, daß die Kinder, gleichviel welchen Geschlechts, katholisch werden! Fühlt ihr uns denn die tiefe Verpflichtung nicht nach, die wir haben, gleichsam aus dem katholischen Dasein erst das wirkliche menschliche Leben überhaupt zu machen und das blos natürliche, 185 thierische, irdische, unerlöste, durch Christi und der Märtyrer Blut nicht erkaufte Leben aufzuheben! Menschen, was ist denn die Weihe! Fühlt ihr denn nicht, daß in unsern heiligen Handlungen Consequenzen liegen, die, gleichviel ob berechtigt oder nicht, mathematische Beweiskraft für uns haben! Für uns! Gerade für uns! … Da unser College Bennrath, unterbrach er sich, hat einem Protestanten das Begräbniß auf dem Friedhof von Nennhofen verweigert und ihn hierher auf den protestantischen schaffen lassen …

Zu meinem äußersten Entsetzen! warf der Dechanatsverweser dazwischen.

Es war aber eine That! rief Hunnius. Eine That, die Bennrath von Nennhofen in das Buch der Bekenner schreibt! Wo ist gesagt, daß eine Ausweisung von der geweihten Erde unserer Kirche nur vom Standpunkte des reinen Menschenthums zu fassen ist? Menschenthum! Seid ihr Christen? Nicht einmal Juden sprechen vom Menschenthum! Mensch ist dem Juden Goim, Heide! Auch die Juden leben nur in der Ordnung und Harmonie geoffenbarter Zustände! Ein Gottesacker hat nach unserer Lehre eine Segnung empfangen, die ihn zu einer Gemeinde macht, wo sogar die Todten den Herrn lobpreisen, sogar die Todten im Chore stehen und, wenn nicht früher, doch am Auferstehungstage um einen dann errichteten Altar wandeln werden, an dem ein anderes Bekenntniß nicht theilhaben kann und mag es selbst ein solches sein, dem nicht die ewige Verdammniß zuzusprechen ist. Wie ist das so leicht gesagt: Intoleranz! Werdet ihr auf euern Bällen Gäste haben wollen, die ihr nicht ein-186ludet? Werdet ihr an euern eigenen Altartischen Andersgläubige dulden? Die katholische Kirche will ja nur bei den Todten wie bei den Lebenden „unter sich“ sein! Oder hört euch die Religion mit dem Begräbniß auf?

Sprecht! donnerte Hunnius hinterher, gerade wie in seiner Kirche, wo er natürlich Schweigen voraussetzte.

Bennrath von Nennhofen griff den Faden auf und führte ihn weiter.

Was erleben wir nicht alles in unserer nächsten Nähe! sagte er mit gemäßigterm Tone, aber nicht minder sicher und spitz und scharf. Ich will davon nicht sprechen, daß nun draußen wieder unsere eigenen Landeskinder und Mitbrüder mit dem bunten Rock, den sie eben tragen, ganz das Kleid ihrer Heimat, ihrer Familie, ihres Glaubens ausziehen und in die Gemeinschaft des großen protestantischen Ganzen treten müssen, ich möchte sagen, wie die Polen, die russisch commandirt werden! Ich sehe diese Offiziere wieder, diese Enckefuß und andere uns wohlbekannte Söhne von Beamten oder Offizieren! Es wird noch die Zeit kommen, wo diese armen Seelen in die ketzerischen Garnisonskirchen commandirt werden, zu nächst nur anstandshalber, weil ein Austreten aus Reih und Glied militärisch zu auffallend wäre! Ich sehe sie auf den Bänken, wo ihnen die Divisionsprediger das Licht ihres sogenannten Evangeliums aufstecken werden, dies Lichtstümpfchen, das die in Goldschnitt gebundene neue Agende des Landesvaters beleuchtet! Wo man hinblickt, irgendein Schmerz für unsere liebevolle Mutter, die Kirche! In unserer ganzen Armee gibt es keinen einzigen General unsers Glaubens; ich kenne nur einen einzigen 187 katholischen Obersten, es ist ein englischer hier in unserer Nähe! Zu höhern militärischen Graden gelangen unsere Brüder und Verwandte nicht! Nicht minder in der Bureaukratie! Und welche Macchiavellismen! Weil sie auf unsere menschliche Schwäche rechnen, werden überall gleichsam Preise ausgestellt für die, welche sich gefügig zeigen! Ist eine Pfründe einträglicherer Art erledigt, so läßt man ihre Besetzung monate-, ja jahrelang anstehen, um den Wetteifer dafür zu entzünden, daß man sie sich durch die Gesinnung erobere! Ist es dann wol ein Wunder, daß wir ganz durchwühlt sind von der wie die bunten Adern durch ein Marmelgestein sich hinziehenden Protestantisirung? Die Beamten heirathen unsere Schwestern, Nichten, die Töchter unserer Angehörigen! Wo eine reiche Hand zu vergeben ist, gewinnt sie sich einer von drüben. Selbst in der Residenz des Kirchenfürsten ist der Schwager unsers hochherzigen, scharfsinnigen kanonischen Streiters, des Herrn Dominicus Nück, ein Protestant und wird, wie Pater Sebastus dort uns berichtet, infolge seiner gemischten Ehe demnächst eine Tochter im hochmögenden Piter Kattendyk’schen Hause bestimmen, protestantisch taufen zu lassen! Ja selbst von dem heiligen Lande Oesterreich, einem Lande, das mehr als Würtemberg verdient sich Gottes Augapfel zu nennen, muß unserer rechtgläubigsten Provinz drüben das Geschick drohen, die reichsten Länder, die Besitzungen der Dorste-Camphausen, an die protestantische Linie der Salem-Camphausen übergehen zu sehen! Was bleibt uns übrig? Gewalt gegen Gewalt!

Dies Wort lehnte man ab.

Ein Kaplan warf ein:

188 Unsere Gewalt ist nur das Wort!

Das Wort war bei Gott und Gott ist das Wort! rief Hunnius. Es ist der Geist, die Gesinnung und deren öffentliche Bewähr! Erheben wir uns aus unserer Schlaffheit! Ziehen wir den Harnisch des Glaubens an! Seien wir gerüstet und verschmähen wir selbst die kleinere Waffe nicht! Bedrängte Belagerte greifen zu allem, was helfen kann! Ich empfehle Ihnen jetzt die Vorschläge, die Pater Sebastus uns aus den nähern Umgebungen des Kirchenfürsten bringt!

Nur diejenigen beobachteten unausgesetzt den schweigsamen Franciscanermönch, die mit ihm heute noch nicht an der Tafel des Dechanten zusammengetroffen waren. Er ergriff auch jetzt noch nicht das Wort, sondern hielt den geschorenen röthlichen, wunderlich geformten, mit Schrammen und Narben bedeckten Kopf in die Hand gestützt und ließ statt seiner seine eigenthümlich hellen, fast schwimmenden Augen, dann einige Zettel sprechen, die herumgingen und die Mittel enthielten, die man anwenden sollte, um den kirchlichen Oppositionsgeist zu mehren. Vorzugsweise wurde die schon vor Ankunft des Dechanten besprochene Stiftung einer neuen Bruder- und Schwesterschaft des Athanasiusvereins und gerade zur Erinnerung an einen um den Glauben bedrängten, flüchtigen, verfolgten, hier zu Lande liebevoll aufgenommenen Kirchenlehrer wieder aufgenommen … Die Regierung hatte schon lange ein mistrauisches und abgeneigtes Auge gerichtet auf die große Zahl geistlicher Vereine, die scheinbar nur dem gottseligen Leben und einer gegenseitigen sittlichen Aufsicht gewidmet waren, mehr aber 189 noch eine Organisation des Zusammenhangs auch für oppositionelle Zwecke wurden. Es ließ sich voraussehen, daß dieser neue Athanasiusverein von obenher den entschiedensten Anstand finden mußte.

Der Dechant hörte allem, was zur Durchsetzung dieser wichtigen Angelegenheit in hiesiger Gegend nun beschlossen werden sollte, nur seufzend zu und war um so mehr zerstreut, als er nur immer offen vor sich ausgebreitet seine Brieftasche liegen hatte, die er an solchen Conferenztagen schon frühmorgens mit Fünf- und Zehnthalerscheinen zu füllen pflegte, um nur immer schnell durch seine Spenden zu den Gemeinzwecken sich vom Reden oder ausdrücklichen Beistimmen loszukaufen. Er hatte diese Klagen schon so oft gehört! Er hatte sie so oft gelesen! Er war auf zehn Exemplare des „Kirchenboten“ abonnirt! Er kannte diese immer gleiche Rhetorik der Römlinge! Er kannte den Inhalt dieser verbotenen Broschüren und las sie nicht mehr. Von allem, was man an Thatsachen vorbrachte, gab er die Hälfte zu, aber die Erledigung der andern schien ihm ganz an einer andern Stelle zu liegen als im fernen Rom. Heute, wie man nun sogar von fehlenden katholischen Obersten sprach, mußte er gar auflachen und sagen:

Aber ihr wunderlichen Leute! Ihr überlegt gar nicht, ob in unsern katholischen Adels- oder Bürgerfamilien überhaupt das Bedürfniß da ist nach einer öffentlichen Bewähr, das Bedürfniß des Emporsteigens nach Ehrenstellen und Auszeichnungen! Wo ich noch hinsah und ich habe die Jahre, hingesehen zu haben, haben wir hier zu Lande und drüben unsere eigene Art, uns das Leben zu ge-190stalten! Am liebsten hocken wir auf unserer Hufe und suchen das nicht, was wir demgemäß auch nicht finden können.

Wenn ihn Hunnius widerlegen wollte, so störte diesen jetzt das allgemeine Aufstehen aller, um die Zeichnung zu sehen, nach der zehntausend zinnerne Medaillen gegossen werden sollten. Der Mönch hatte die Zeichnung mitgebracht: Maria mit dem Kinde öffnet ein Gitter, hinter welchem ein Bischof, es sollte Athanasius sein, gefangen sitzt … Der Mönch war dabei aufgestanden und zeigte sich von einem langen, magern Wuchse. Die braune Kutte, von der weißen Gürtelschnur festgehalten, ging bis zu den nackten, nur von einer Sandale geschützten Füßen. Es war viel, daß der Mönch sich jetzt zu einigen Erläuterungen herbeiließ. Er hatte bisher ab und zu nur seinem Glase zugesprochen, hatte eine Cigarre nach der andern von einem vor ihm stehenden Teller, der deren eine Anzahl enthielt, weggeraucht und immer geschwiegen. Sein Schweigen war gebieterisch. Es sagte zu denen, die da sprachen, fast soviel als: Entwickelt euch! Steckt getrost eure kleinen Lichter auf, bis Ich kommen werde!

Pater Sebastus mochte etwas mehr oder weniger als dreißig Jahre zählen. Je länger er saß, rauchte oder trank, desto blasser wurde er. Alle wußten, daß der Gast ein Convertit war, eine hohe Bildung genossen hatte, mit Feuer und Geist schriftstellerte und in der Residenz des Kirchenfürsten seit kurzem zu hoher Anerkennung gekommen war. Wenn die weißen länglichen Finger der magern, doch hübschen Hand zuweilen auf dem Tische leise trommelten, so war es, wie im Takt zu einem in-191wendigen Rhythmus seiner Gedanken, die laut gesprochen ohne Zweifel bedeutsam gewesen wären. Als er jetzt mit einer eigenthümlich leisen, fast heisern, aber außerordentlich sichern Stimme zu sprechen anfing, bot Hunnius allgemeine Ruhe. Jeder setzte sich, und selbst der Dechant war gefesselt von einer Weise, die ihm heute an seiner Tafel bei der Redseligkeit seiner übrigen Gäste weniger aufgefallen war.

Einige Mitglieder unsers hochwürdigsten Domcapitels, begann fast silbenzählend Pater Sebastus, wohnten kürzlich einer Vorlesung bei, die von einem der auf der nahe gelegenen Universität angestellten und zu diesem Zweck herübergekommenen jüngern Professoren vor einem gemischten Kreise der Residenz des Kirchenfürsten gehalten wurde …

Der Mönch pausirte. Er zerdrückte die Asche seiner Cigarre und legte diese fort.

Der Gegenstand derselben – fuhr er fort –

Das zufällige Rücken eines Stuhls schien ihn zu stören. Er sah nach der Gegend des Geräusches und wiederholte, während Hunnius ein scharfes St! wie auf seiner Kanzel beim zu frühen Nasenputzen ertönen ließ:

Der Gegenstand derselben war an sich ein unverfänglicher, ließ aber einen historischen Rückblick auf die Kämpfe der Welfen und Ghibellinen zu.

Pater Sebastus stockte von neuem. Aber ein Blick rundum bewies ihm, daß alles jetzt in einer Weise an seinen Lippen hing, wie er dergleichen noch vielleicht von Göttingen, wo er docirt haben sollte, gewohnt war …

Der Redner, fuhr er mit immer gleicher Gelassenheit, doch pointirt und fest fort, sprach in einer Stadt, 192 die fast ausschließlich nur unsern Glauben bekennt; und doch hatte er jenen Standpunkt, den die protestantische Wissenschaft mit der ihr eigenen Einseitigkeit für die Würdigung des Mittelalters aufgebracht hat. Alles, was in einem Zusammenhange mit Rom steht, ist nach dieser Lehre Tyrannei und Finsterniß; alles, was dagegen die deutschen Kaiser wollten, ist Vernunft oder Freiheit. Dem anwesenden überwiegenden Theil der Gesellschaft, den Damen, war der von dem Professor entwickelte Gegensatz völlig unbekannt; so dämmern jetzt die Gemüther in ihren wichtigsten Lebensfragen hin! Sie nahmen die Welfen für den unheiligen, teuflischen Gegensatz der Ghibellinen, diese für die lichtreine, sonnenhelle Partei; dort herrschte nur der finstere Ahriman, hier der lichtstrahlende Ormuzd. Mönchthum, Pfafferei, Sonderbündlerei, Hierarchie sind die Kennzeichen der Welfen; Aufklärung, Ordnung, nationale Hoheit und Größe die der Ghibellinen. Rom soll die natürliche Residenz nur der Nachfolger Karl’s des Großen und des Julius Cäsar sein. Die Hohenstaufen sollen nichts als nur die Befreiung der Welt von den Anmaßungen der Hierarchie bezweckt haben. Daß die Welfen in Italien vor allem ihr Vaterland vertheidigten, daß sie sich in einzelne Städte und Genossenschaften trennten, um nicht durch die Unterwerfung unter Einen die eigenthümlich bedingte, jahrtausendjährige Freiheit des väterlichen Bodens zu verlieren, daß dabei der Priester, wie immer, der Freund und Beistand des einzelnen gegen den Druck der Masse blieb, der Priester der Freund und Beistand der bangen Seele gegen die Anfechtungen der Welt, der Priester 193 derjenige, der noch auf dem letzten Gange zum Schaffot den Verbrecher begleitet und wenigstens noch vor Gott, nachdem die bürgerliche Genossenschaft ihn längst ausgestoßen hat, sein Anwalt bleibt, ja daß diese geistliche Hülfe den Bedrängten auch in den politischen Nöthen beisprang und sich Vaterland, Freiheit und Glaube gegen die Anmaßungen der fremden Eindringlinge hochherzig verbunden hatten – dafür, ich sage dafür hatte der Redner keine andere Ausdrucksform als die bei der jenseitigen Wissenschaft übliche geringschätzende und verdächtigende …

Der Mönch hielt einen Augenblick wieder inne, alles horchte gespannt, selbst der Dechant.

Ruhig und mit immer sich gleichbleibender Stimme fuhr der Franciscaner fort:

Gut! Die Vorlesung lenkte wieder ein, kam auf Unverfängliches, war vorüber. Die Offiziere, Beamten, Damen waren entzückt. Doch zugleich entstand um die Herren vom Kapitel, die sich sogleich entfernt hatten, ein von Vorwürfen und Ausbrüchen des Unwillens gemischtes Murmeln. Die Veranstalter dieser Vorlesung wurden von gesinnungsvollen Personen zur Rede gestellt und ohne Zweifel wär’ es, wie billig, zu Erörterungen gekommen, die die gedankenlose Nachahmung solcher inhaltleeren nordischen Residenzgenüsse verdient hätte, wäre nicht der Gegendruck der Anwesenheit unserer weltlichen Oberbehörden und der hohen Militärs zu stark gewesen. In einigen Abendcirkeln, zu denen ich zugelassen zu werden mir zur besondern Ehre rechnen darf, kam die strenge Unterscheidung, die die Geschichte zwischen Welfen und Ghi-194bellinen aufgestellt hat, zur Sprache und es stellte sich heraus, daß wir uns eigentlich alle noch auf dem Standpunkte jener wilden und blutigen Tage befinden. Ist nicht jede Erfahrung, die wir in unsern täglichen Conflicten machen, eine Bestätigung, daß dieser unselige Kampf immer noch nicht ausgekämpft ist? Das Ghibellinenthum ist der Herrscher des Tages. Die Gewalt nicht der Fürsten und Herren etwa allein, sondern des bureaukratischen Staats ist der siegreiche Hohenstaufe, der überall in unzugänglichen Felsenburgen thront. Verwaltung, Unterricht, Erziehung, Wissenschaft, Gewerbe, Börse, Handel, alles hat die ghibellinische Färbung angenommen, die Färbung der Centralisation, des Aufsaugens aller Säfte und Kräfte der Gesellschaft. Was ist diesem Mechanismus noch der Mensch? Der hat nur noch Werth, soweit er Bürger ist! Und um ihm das Gefühl nicht ganz zu rauben, daß sein Dasein auf diese Art seinem wahren Zusammenhange mit Gott und der Natur entrückt wird, hat man ihm auch zur Noth noch einige religiöse Veranstaltungen gelassen, eine Kirche, einen Geistlichen, die Formen eines alten Cultus; man gibt sich die Miene, diese Veranstaltungen, ob man sie gleich im geheimsten Einverständniß für überlebt erklären müsse, doch heilig halten zu wollen und sogar vor Anfechtung zu schützen; und doch, bei jeder Frage, die nur irgendeine des Lebens ist, bei jedem Zusammenstoß zwischen dem Ewigen und dem Irdischen hat die Gewalt des Irdischen die Oberhand. Wir sind, wo wir hinblicken, in gröberer wie in feinerer Form, durch und durch ghibellinisirt … So ist denn erklärlich die von keiner äußern 195 Veranstaltung, sondern aus einem natürlichen Drange der Gläubigen aller Zonen ausgehende Bewegung unserer Zeit, innerhalb nicht nur unserer, sondern aller Kirchen, die unter Staatsbevormundung stehen, sich ihr eigenes, selbstbestimmtes und selbstbestimmendes Leben wieder zurückzugewinnen. Das neue Welfenthum ist es in den Abendcirkeln Sr. Eminenz offen und ehrlich genannt worden. Wie sogar die protestantische Kirche, wenn sie diesen Namen verdient, sich täglich mehr ablöst und ablösen wird von dem Staate, dem sie freilich dafür in seinen übrigen Nöthen und Bedürfnissen hülfreiche Hand zu leisten verspricht, so hat vor allem die katholische ihren innigsten Zusammenhang wiederherzustellen mit Rom. Thörichter Wahn, der in dieser Forderung nur Botmäßigkeit unter ein herrschsüchtiges Priesterthum und eine fremde Autorität sieht! Rom ist und war und bleibt zu allen Zeiten der Ausdruck des Ewigen, Unvergänglichen und im Wandel Wandellosen. Es ist die Warte der drei in sich verbundenen großen Festlandswelttheile. Es war die Königin der alten und mittlern Welt, es muß die Königin der neuen bleiben. Worauf gründet sich Roms Herrschaft? Auf Schlauheit italienischer Ränke? Auf Verdummung der Geister? Thörichte Anklage, die an den Grundfesten unserer Kirche gerüttelt zu haben glaubt, wenn sie die Schwäche der Menschennatur aufdeckte, die auch unter dem geweihten Kleide des Priesters sündige! Als wenn irgendeine Menschenseele ein ganz reines Gefäß für die Göttlichkeit der Ideen sein könnte! Als wenn die Ideen selbst etwa darunter leiden könnten, daß ihre Träger dem allgemeinen Menschenloose erliegen müssen! 196 Daß ein Bekenner strauchelt, entwürdigt das sein Bekenntniß? Daß Priester unvollkommen sind, entwürdigt das das Sakrament, dem sie administriren? Rom ist das Ewige in der Geschichte! Rom ist die Zunge an der Wagschale der Welt! Rom ist, gerade als wenn es auch nur deshalb die Bewegung der Erde geleugnet hätte, ihr fester Grund, ihre granitene Wurzel, ihr Compaß, ihr Steuer auf dem schwankenden Meere steter Neuerungen und Revolutionen! Was vertritt denn seine Anmaßung? Was gewährt denn die heilige Roma den Völkern? Das ewige Heil im zeitlichen Unheil! Die Blöße und Hülfsbedürftigkeit des natürlichen Menschen allen Purpurgekleideten der Erde gegenüber! Die Schöpfung des Menschen, das Paradies, die diesseitige und jenseitige Hoffnung aller Erdgeborenen gegenüber der millionenfachen Verbreitung unsers Erdenberufs durch millionenfache zu dringenden Nothwendigkeiten gewordene Zufälligkeiten! O du heilige untheilbare, ewige Kirche! Stehe fest in deinem gegliederten Bau! Bist du nicht selbst wie der hohen gothischen Dome einer? Gegründet bis an die Tiefen der Hölle, mächtig dich erhebend auf der Form des Kreuzes, himmelanstrebend in ewiger, wolkenverlorener Sehnsucht! Musik ist das Zusammenspiel deiner schönen Formen! Einheit das majestätische Bekenntniß deiner Theile!

Sie strebt empor durch Drang und Zeit,
Muß himmelan sich ringen,
Und schafft ein Werk der Ewigkeit
Und läßt sich nicht bezwingen!

In deinem Sinne, heilige Roma, wollen wir wahr sein, aber der Lüge gegenüber auch eure Waffen führen! 197 Im Schatze der Gnaden ruht Entsühnung! Krieg! Krieg! ruft die Posaune des Erzengels. Im Kriege kennt die Noth kein Gebot! Jede Waffe ist gerecht, die den Gegner abwehrt! Daß der Zweck die Mittel heilige, ist nicht für den Kampf mit den Guten, sondern für den Kampf mit den Bösen gesagt! Ahmen wir vor allem die Ordnung eines Kriegsheeres nach: Gehorsam dem Obern; Achtung vor jeder Waffe, auch wenn sie eine geringere scheint, als die wir selbst führen; Achtung vor jedem Ruhme, auch wenn er unsere eigenen Verdienste überschattet! Bekämpfen wir in uns selbst die Abneigung gegen die Vorkämpfer der kirchlichen Freiheit, gegen die Mitglieder der Gesellschaft Jesu! Bieten wir denen, die in ihnen ihre unerbittlichsten Feinde sehen, dadurch keinen Beistand, daß wir die alte Eifersucht der Orden, der Kloster- und Weltgeistlichen auflodern lassen! Wo uns die Hände gebunden sind, sind sie jenen, den letzten Rittern vom Kreuze, frei! Die streifen noch ungefesselt über die Länder hin, gebunden durch kein Amt, kein Klostergelübde; sie sind die berittene Schar, die angreift und flieht zu gleicher Zeit, wie einst der Parther kämpfte! Bieten wir alles auf, daß den Jesuiten die Thore des Eingangs geöffnet werden! Sie ertragen alles, sie gehen, sie gehen noch einmal und kommen wieder! Wo ein Amt leer ist, eine Kanzel frei, ein Beichtstuhl geöffnet, lassen wir den Vätern der Gesellschaft den Vortritt! Ob alle diese Dinge reifen sollen bis zu offener Gewalt, darüber sind die Meinungen getheilt. Die einen fürchten und suchen die Erhebung der Massen zu verhüten, die andern fürchten sie nicht und wollen sie. In den Umgebungen des 198 Kirchenfürsten herrscht die Meinung, daß offene Gewalt bisjetzt alles verderben würde. Denn auch darin spräche sich die durch und durch ghibellinisirte Welt aus, daß Handel und Gewerbe, sogenannte Volkswohlfahrt und geregelte Ordnung dem Jahrhunderte, wie es jetzt einmal ist, über alles gehe; denn von den Fleischtöpfen Aegyptens wollen sie nicht lassen und sollten sie auch ewig nur die Ziegel streichen zu den Ruhmessäulen ihrer Pharaonen! Im Gegentheil wünscht die Umgebung des Kirchenfürsten, daß wir alles, was nicht ein Mit-Uns ist, auch als ein Fürsten-Wider darstellen, d. h. eine Förderung der Revolution nennen. Das ist das schlagende Argumentum ad hominem der Zeit! Kämpfen wir gegen die Neuerungen des sich souverän dünkenden Menschenverstandes, so öffnen sich uns die Pforten der Thronsäle auch im jenseitigen Lager, wir werden eingeholt werden mit Triumphpforten als die Retter des Gesetzes und der Ordnung! Dieser Feldzug geht langsam, aber sicher. Halten wir am Geiste fest, fördern wir den vor allem! Denn „wer auf den Geist säet, wird von dem Geiste das ewige Leben ernten“!

Der Redner war schon bei seinem Gebet an die Kirche aufgestanden und alles, selbst den Dechanten nicht ausgenommen, seinem Beispiel gefolgt …

Man schüttelte ihm die Hand, ertheilte ihm die größten Lobsprüche und raunte sich zu, daß nun wohl erklärlich wäre, wie dieser einfache Mönch plötzlich in der Residenz des Kirchenfürsten hätte zu so hohem Ansehen gelangen können. Man erklärte sich bereit, den Athanasiusverein zu verbreiten und dies zu wagen auch ohne Genehmigung der Behörden. Man versprach die Me-199daillen in reichster Anzahl auszutheilen und bestellte die Zahl, die jeder davon in Vorrath zu haben wünschte.

Auf dem Teller, von dem die Cigarren weggestrichen wurden, sammelte man die zur Herstellung nöthigen Beiträge.

Jeder gab nach Vermögen, der Dechant, wie immer, die Hälfte soviel wie alle andern. Der Ertrag wurde dem Pater Sebastus übergeben. Ein Zinngießer der kirchlichen Residenz hatte Verschwiegenheit gelobt und versprochen, die Medaillen zu einer bestimmten Zeit abzuliefern. So trennte man sich …

Es war Abend geworden …

Beim Durchschreiten eines langen Corridors, der an die Hausthür zurück und zu den inzwischen immer noch lebendig gebliebenen, ja wie vom Jahrmarktsgewühl durchwogten Straßen führte, erfuhr der Dechant, daß der, wie es schien, als Wegbereiter kommender Jesuiten wirkende Pater Sebastus dem Kloster Himmelpfort bei Witoborn angehörte. Seines frühern Namens hieß er Heinrich Klingsohr.

Er dachte an seinen anonymen Brief –

Huß, Savonarola, Arnold von Brescia –

Als er, magisch umwoben vom abendlichen Dämmerlicht, zur Dechanei zurückkehrte, läuteten ihm die Glocken seines Domes wie zur Andacht in einer unsichtbaren Kirche droben über den Sternen. Wie er in die schon erleuchteten Fenster seiner Wohnung hinaufsah, rang sich ihm mit Schmerz der Seufzer von der Brust:

Fiat lux in perpetuis!

200 8.#

Die Beraubung des Grabes auf dem Friedhof zu St.-Wolfgang war inzwischen in der Dechanei, wie in ganz Kocher am Fall bekannt geworden.

Grützmacher war auf schweißgebadetem Roß zurückgekehrt, hatte aber den muthmaßlichen Thäter nicht ergriffen.

Auch daß Bonaventura vielleicht noch den Abend in der Dechanei eintreffen würde, war durch Hedemann bekannt geworden, der auf einen Augenblick daselbst vorsprach und die von Angelika Müller erhaltenen, von Benno, dem zu sehr in Anspruch Genommenen, wieder zurückempfangenen Briefe für den Dechanten an Windhack übergeben hatte.

Kein Oberst, kein Benno, kein Thiebold, niemand sonst ließ sich vor Antheil an den Vorgängen in der Stadt sehen, sodaß Lucinde der Frau von Gülpen die räthselhaften Vorgänge allein erzählen mußte, ja wiederholen, mehrfach wiederholen, da die Theestunde geschlagen hatte und einige Freundinnen der gastfreien Frau schon im lebendigsten Mittheilungsgenuß um den siedenden Kessel versammelt saßen.

Zur Justizräthin von Nietnagel, zum Stiftsfräulein von Minnerich und wie sie alle hießen, die entweder in 201 Kocher selbst wohnhaft waren oder zu jener Landeswohlthat (nach andern Landesplage) gehörten, die die Reihe herum immer auf der Wanderschaft bei ihren Lieben und Guten begriffen sind und das schöne Talent des Sich-Einwohnens und Nothwendigmachens des Jahres bei einem halb Dutzend Familien schon seit dreißig Jahren besitzen, gesellte sich zuletzt auch der tieferschütterte Dechant.

Auch er erfuhr nun die unheimliche Kunde und gab dadurch Lucinden Gelegenheit, ihren Bericht zum fünften oder sechsten mal zu wiederholen, sich aber auch zugleich in lebhafter Weise ihm selbst zu empfehlen. Lucinde, die das Wohlgefallen des Greises an seinem wiederholt prüfenden Blick sogleich bemerkte – sie war zwar noch in ihren Reisekleidern, hatte aber manches Krägelchen, manchen Spitzenschmuck zur Hebung ihrer Erscheinung zu benutzen verstanden und besonders schön stand ihr die eigenthümliche thurmartige Krone ihres stattlichen Haares –, suchte sich den Schein der größten Ungefährlichkeit zu geben. Sie wollte sich nur nützlich machen. Sie servirte den Thee wie eine Dienende. Schon erntete sie manchen heimlichen Wink des Beifalls, den Frau von Borchardt an Frau von Nietnagel, diese wieder an Fräulein von Minnerich und Fräulein von Minnerich an die „treue Freundin“, Frau von Gülpen selbst weiter gab. Windhack erinnerte an die Briefe, die Hedemann gebracht; der Dechant wollte jetzt nichts davon wissen, er wollte ruhig „seine Tasse Thee“ trinken, d. h. die Gestalt und den ausdrucksvollen, den Kenner der Antike fesselnden Kopf derjenigen bewundern, die den Thee credenzte.

Windhack konnte, da er Grützmachern gesprochen hatte, 202 von der vergeblichen Verfolgung des Knechtes aus dem Weißen Roß berichten.

Oben auf der Höhe des St.-Wolfgangsberges, erzählte er, hatte ihn Grützmacher und seinen Wagen fast erreicht. Da aber springt der Mensch herunter vom Wagen, läßt alles im Stich, flüchtet in den unwegsamen Wald und Grützmacher hat halt mit seinem Gaul vorläufig das Nachsehen …

Nun kam die Majorin Schulzendorf. Auch sie kam in der ganzen Eile und Aufregung, die nichts zu versäumen wünschte und vor Thatsachen, die sie so lange zurückgehalten hätten, sich nicht zu lassen wußte …

Erst der Leichenräuber und – ei – ei, daß sie fast vergessen hätte, dem liebenswürdigen Dechanten für das wunderschöne, prächtige Obst zu danken – –

Bitte! Bitte!

Köstliche Birnen … Na heute Abend, der große Zapfenstreich …

Der Leichenräuber? …

Nun, nicht wahr? Aber mein Mann vermuthet schon einen gewissen Bickert, einen Menschen, der jahrelang in Frankreich im Zuchthause gesessen hat, dann über die Ardennen herübergekommen ist, bald da, bald dort herumstreift, mit einer ganzen Bande zusammen im Hundsrück die Roßtäuscherei getrieben hat, rotzkranke Pferde für gesunde aufputzt … danke, danke, meine Liebe! der Thee macht mir noch zu heiß! Ein Stückchen von Ihrem Kuchen – Delicat!

Auf dem Lande und in kleinen Städten gewöhnen sich die Menschen an alles Natürliche und Thatsächliche. Sie 203 können von Krankheiten der Thiere mit demselben Interesse reden hören, wie man in großen Städten nicht einmal von den Krankheiten der Menschen spricht. Der Major war selbst Pferdehändler. Seine Gattin spann seine Vermuthung über die Gefährlichkeit dieses Bickert selbst bis auf eine Schilderung der Künste aus, wie man den sogenannten Rotz auf einige Tage scheinbar beseitigen kann.

Mitten in diesem Fragen, Berichten, Wundern kam auch der Major …

Es war eine hagere, mehr bureaukratische als militärische Erscheinung. Er trug Uniform, doch saß sie ihm nicht so stramm und geschlossen, wie man hier in den militärischen Kreisen sich zu zeigen gewohnt ist. Als Candidat der Theologie war er 1815 unter die Fahnen seines Königs getreten und hatte eine Carrière gemacht, die jetzt gewissermaßen wieder in ihre frühere moralische, wenigstens civile Bestimmung zurücklenkte. Als Lieutenant von der Armee abgegangen, war er bei den Gensdarmen allmählich bis zum Major gestiegen und griff nun in Gesetz und Ordnung als Chef eines rings zerstreuten, den Landräthen und Regierungsämtern zur Verfügung gestellten Gensdarmeriecorps ein. Man sollte kaum glauben, daß ein ehemaliger Lateiner so ganz im Berittenen, namentlich im Pferdehandel, aufgehen konnte, wie Schulzendorf, obgleich er immer noch etwas Gelehrsamkeit in Bereitschaft hielt. Seine grauen Augen bekamen oft ein lebhaftes Feuer; um die spitze Nase legten sich aufs blasse Antlitz zwei lange mephistophelische Furchen; der Bart auf der Oberlippe zuckte in allen seinen dünnen grauen Härchen; das Kinn, das in der Mitte gespalten war, 204 streckte sich mit einer Entschiedenheit, die ganz in seinen Charakter des Schlauen und Gekniffenen paßte.

Sogleich warf er einen scharfen und prüfenden Blick auf die ihm als Nichte der Frau von Gülpen vorgestellte Lucinde.

Waren Sie schon früher in unserm Kocher hier? fragte er sie, als sie ihm den Thee credenzen mußte.

’S ist das erste mal! antwortete sie, den Blick niederschlagend.

Sie finden eine kleine Stadt, in der leben zu sollen Ihnen sehr langweilig vorkommen wird! warf artig der Dechant ein.

O! bemerkte Frau von Gülpen, acht Tage läßt es sich schon in Kocher aushalten!

Lucinde wußte bereits, daß alle Nichten anfangs sogar nur auf drei Tage kamen.

Die Majorin verzog ein wenig spöttisch die Miene. Der Major aber, in jener beflissenen Weise, die den Ghibellinen im Lande der Welfen nur zu oft ihre Schreckhaftigkeit nimmt, ging ganz auf die Aeußerung der Frau von Gülpen ein und sagte, wenn auch mit einer etwas anzüglichen Betonung:

Die Kirchen hier sind uralt; noch älter ist aber die Synagoge, die Sie sich einmal ansehen müssen! Die Stadt Kocher ist schon vor Pontius Pilatus angelegt gewesen und gewiß eine jüdische Colonie! Ursprünglich hieß sie ohne Zweifel Koscher, die Reine!

Hielt der Major Lucinden für eine Jüdin?

Alle Anwesenden fixirten Lucindens Erscheinung …

Indessen lenkte der Major auf andere Fährte. Er 205 kam auf das Interesse, das nach solchem Ursprung gleich die ersten Christen für Kocher gehabt haben müßten und führte die kirchliche Bedeutung der Stadt bis auf die neuesten Erscheinungen herab.

Lucinde hatte ihr goldenes Kreuz nicht angelegt. Sie begriff sehr wohl, daß der Major auf ihren Uebertritt anspielen wollte und senkte den Blick wie eine Fromme.

Sie ist fromm! war nun das einstimmige Gefühl aller Anwesenden und, seltsam genug für die Wohnung eines Geistlichen, Lucinde verlor plötzlich bei Frau von Gülpen sowol wie bei Windhack. Nur dem Dechanten gewährte diese Entdeckung einen neuen Reiz. Eine Fromme hatte ihm die langjährige alte Freundin noch niemals vorgestellt.

Man verlor sich indessen in Klagen über Wilddieberei, Unsicherheit der Gegend, Aufsätzigkeit der Landbewohner und, wie das dann geht bei einem Damenthee, man fand das Uebel lediglich in den Dienstboten.

Die gleichfalls dann in ihrem Einfluß auf das Volk angeschuldigten Juden rechtfertigte der Dechant mit den Worten:

Warum läßt unser Leben so viel Lücken offen, daß ein Verschmitzter überall hineinschlüpfen kann! Die Juden sind durch uns selbst ein Volk geworden, das seine Tugenden darin finden muß, unsere Fehler zu benutzen! Wir sind, soweit man die Geschichte überblickt, die Opfer ihrer subtilen Rache geworden und werden es noch immer mehr werden!

Sie sprechen fast wie Grützmacher! sagte der Major. Der kann nie entdecken, wo die Hasen-Jette ihre Rebhühner und Hasen herbekommt!

206 Indem bekam Frau von Gülpen von dem immer nur leise und behutsam auf den trotz des Sommers ausgebreiteten Teppichen hin und wieder gehenden Windhack eine Meldung ins Ohr geflüstert.

Sie flößte ihr einen ersichtlichen Schrecken ein.

Was ist? fragte man allgemein und voll Theilnahme und Spannung.

Frau von Gülpen stockte, sagte dann aber mit einem Blick der Besorgniß auf den Dechanten:

Treudchen Ley will nach Hause … der Mutter wäre es schon wieder … Chère nièce … gehen Sie doch zu Treudchen und erkundigen Sie sich in der Geräthkammer – oder ich will doch lieber selbst gehen …

Treudchen Ley schien alle zu interessiren und wohl vermuthete man: Windhack hatte eigentlich gemeldet, Treudchens Mutter läge im Sterben. Der Dechant war der Beichtvater der Kranken. Die Arme schleppte sich schon lange mit der Zehrung; ihr Ende stand ihr näher bevor, als sie es selbst und die Ihren ahnen mochten. Jetzt sah Frau von Gülpen, wie angegriffen der Dechant schon war von dem unruhigen Tage und seinen wechselnden Eindrücken – sie gönnte ihm die Erquickung eines ungestörten Abends – nun sollte er noch –

Aber schon erhob sich der Dechant. Wenn ihm auch die Bequemlichkeit über alles ging, so kannte er doch die Schicklichkeiten seines Amtes.

Ich werde zu der Armen gehen! sagte er.

Allgemein aber mußte man der Frau von Gülpen, die in die Geräthkammer gegangen war, Recht geben, daß sie noch geäußert hatte, diese Schreckensbotschaft von der 207 guten Frau Ley wäre ja schon so oft gekommen und immer hätte die Dulderin sich wieder erholt, ja sogar es bereut, als sie in einem ähnlichen Anfall schon einmal die Wegzehrung erhalten und dann doch nicht gestorben wäre. Spendet auch die Kirche diese letzte Wohlthat gern in der Voraussetzung, daß sie nicht den Tod, sondern die Genesung erleichtre, so sparen sich die Sterbenden doch gern die hülfreiche Rüstung zum Eintritt in den peinvollen Vorhof des Himmels zu dem Augenblick, wo sie deren wirklich bedürftig sind.

Also rieth man dem Dechanten zu bleiben und Windhack, der der Frau von Gülpen in die Weißgeräthkammer, wo ein liebes zartes Kind, Treudchen Ley, den ganzen Tag über an neuen feinen Hemden gesteppt hatte, nachgegangen war, kam schon mit der Beruhigung zurück, Treudchen wäre zwar gegangen, hätte aber hinterlassen, sie würde sogleich schicken, wenn es nöthig würde.

Geschwister hat sie genug dafür! sagte Frau von Gülpen, die schon zurückkam … Sie sagte dies ganz voll Mitleid, aber scheinbar ohne die mindeste Erregung.

Der Dechant beruhigte sich also.

Wissen Sie wol, lenkte er in ein inzwischen vom Major begonnenes Gespräch über Wilddieberei ein, wissen Sie wol, das Schmerzenslager unserer guten Frau Ley ist eine Folge der Wilddieberei?

Man wußte nur Einzelheiten davon. Während Lucinde den fortgesetzt forschend auf ihr ruhenden Blick des Majors bald fragend suchte, bald erschreckend vermied, erzählte der Dechant:

Ehe noch die Juden in Kocher am Fall den Muth 208 gehabt hätten, an Christen von ihrer eigenen Metzgerkunst mehr zu verkaufen als Gänseblut …

Allen Bewohnern von Kocher war gegenwärtig, daß die Hasen-Jette, Frau Henriette Lippschütz, die jetzige Wildprethändlerin, die Witwe eines einst auch von Christen stark in Nahrung gesetzt gewesenen jüdischen Metzgers war …

Und ehe noch, fuhr der Dechant fort, die Blume der ganzen Judenschaft in Kocher am Fall, mein unvergeßlicher theuerster Busenfreund Dr. Leo Perl, zu unserer Kirche übergetreten war – er hat einst in Borkenhagen unsern guten Bonaventura getauft … Sieh, sieh! unterbrach sich der Dechant selbst, – käme Bona noch, der Wunsch der Frau wenn sie stürbe wäre erfüllt; von ihm hätte sie am liebsten die letzte Zehrung empfangen …

Frau von Gülpen stellte die Nothwendigkeit einer schon so nahen Gefahr und die Erfüllung jenes Wunsches, den Lucinde schon vorgestern aus dem Munde Grützmacher’s kannte, wiederholt in Abrede …

Kurz, vor langer Zeit schon, nahm der Dechant seine Erzählung auf, war der angesehenste Metzger hier im ganzen Orte Treudchens Großvater, der alte Petrus Ley. Als ich hierher an den Dom kam – auf Veranlassung hauptsächlich jenes, so früh dahingegangenen seltensten der Menschen Leo Perl –, stand niemand unter seinesgleichen höher im Ansehen als Herr Petrus Ley. Eine Freude war’s, den Mann in seinem stattlichen Hause unten am Fall zu sehen, wie er, über der Brust die weiße Schürze und mit dem Messer im Brustlatz, an seiner Schranne stand! Den Mann plagte aber plötzlich das 209 Wohlleben, der Müßiggang und mit ihm, wie es auf dem Lande geht, die Jagdlust. Hatten entweder, wenn er über Land zum Einkauf von Schlachtvieh reiste, seine Hunde die Neckerei, Hasen aufzustöbern, die sie ihm zuschleppten – so erzählte er später selbst den Ursprung seiner Jagdlust – oder reizte ihn sein bürgerliches Wohlbefinden, er pachtete eine Jagd und wurde ein so leidenschaftlicher Jäger, daß ihm sein eigenes Gebiet nicht mehr genügte. Die Kugel, einmal im Lauf, sagt unser großer Schiller, ist verhängnißvoll! Sie fuhr auch für Petrus Ley heraus, wenn die Grenzmarke seines Geheges längst überschritten war. Ich mag nicht leiden, wenn ein Bäcker, der für tägliches Brot, meinetwegen Sonntags für Kuchen zu sorgen hat, sich zu feinern Näschereien versteigt. Ein Metzger, der dem Wild nachstellt und das dann zwar nicht aufhängt unter seine Rindsviertel und gespaltenen Lämmer, aber unter der Hand doch auch verkaufen muß, begeht fast eine Untreue an seinem Beruf. Ich will nicht sagen, daß sich sein Beruf rächte, aber Petrus Ley erlebte das Unglück, nach einer heißen Jagd, die ihn nicht wenig mitgenommen hatte, auf freiem Felde von einem Unwetter überfallen zu werden. Der Regen goß in Strömen. Kein Baum, kein schützendes Gestein. Das Wetter endete nicht. Darüber brach die Nacht an; die Nebel umspannen vollends die Gegend. Voll Unmuth wirft sich der reizbare, zum Jähzorn geneigte Mann auf die Erde und bleibt liegen bis zur Besinnungslosigkeit. Das Winseln seines gleichfalls halbtodten Hundes machte einen vorüberfahrenden Bauer aufmerksam; Petrus Ley wurde mit seinem Hunde vor dem immer fortströmenden Regen unter dem Stroh des 210 Wagens geborgen. Herr und Hund kamen nach Hause, Ley aber wurde todtkrank und behielt von dem Tage an die Gicht in einem Grade, der sich aufs höchste steigerte und ganz unheilbar wurde. Der vermögliche Mann reiste in die Bäder und kam immer kränker zurück. Fast gelähmt an allen Gliedern, hatte er Schmerzen, die den Unglücklichen zum Gegenstand des allgemeinsten Mitleids machten. Wie oft hab’ ich für ihn die Fürbitte gehalten! Fast immer im Bett liegend, mußte er die Führung seines Gewerbes seinem Sohn überlassen, der in keiner Hinsicht ihm ähnlich war. Ein träger und bequemer Mensch, hatte Joseph Ley die Früchte der Anstrengungen seines Vaters geerbt, liebte aber die Gesellschaft, das Kartenspiel, den Wein und vernachlässigte so sehr die ihm nun ganz allein übertragenen Geschäfte, daß sie zurückgingen und der zusammengekrümmte, auf seinem Lager stöhnende alte Vater Verwünschungen über Verwünschungen über den Buben, wie er ihn nannte, ausstoßen mußte. Joseph hatte selbst schon lange ein einst vermögendes Mädchen geheirathet, die Tochter eines angesehenen, nur mit zu viel Kindern gesegneten Landwirths. Das immerhin beträchtliche Eingebrachte derselben war bei dem Zurückgehen des Geschäfts bald verbraucht; die Kundschaft verminderte sich, die Concurrenten machten bessere Einkäufe. Alledem sah der von der Gicht krummgezogene Alte, der inzwischen Großvater geworden war, von seinem Lager mit Verzweiflung zu. Innerer und äußerer Schmerz folterten den Greis, der nicht mehr gehen und stehen konnte. Hörte man wilde und laute Verwünschungen aus dem einst so stattlich gewesenen, jetzt die Spuren des Verfalls tragenden 211 Hause, so wußte man schon nicht mehr, waren es die Ausbrüche des Zankes mit seinem Sohn oder die Klagerufe des von seinen Schmerzen Gepeinigten. Dieser Zustand dauerte einige Jahre. Die Verlegenheiten wuchsen; das Haus gehörte schon nur den Gläubigern; Pfändungen folgten auf Pfändungen, und wie es zu gehen pflegt, das Verderben wird unaufhaltsam und wird es auch innerlich für den Charakter des davon Betroffenen. Joseph Ley verkaufte und versetzte ein Stück nach dem andern; die Frau, eine redliche, brave, treue Seele, mühte sich mit der Befriedigung des letzten Restes von Kundschaft, um nur die Kinder erhalten und erziehen zu können. Die Vergünstigungen der Armuthspenden in Empfang zu nehmen, war man noch, schien es, zu stolz. In der Nebenstube des Wohnzimmers, aus dem hinaus man in die jetzt fast immer leere Verkaufsflur trat, stand ein Bett mit Kattunvorhängen; rings von diesen eingeschlossen, um das Licht abzuhalten, das die trüben, rothen Augen des Alten blendete, lag der Alte. Da rückte man ihm eine Fleischbank hin, auf der er Speck und geräuchertes Fleisch schneiden half und Wurst hackte. Eines Tages fand man die Vorhänge sorgsam zugezogen; man öffnete; Petrus Ley hatte sich mit dem großen Messer, das immer in seiner Nähe lag, erstochen. Nun vollends war der Segen des Hauses dahin! Die blutige Gestalt des Großvaters verscheuchte jeden der letzten Kunden, auch die, die aus Mitleid noch gekommen wären. Mit Grauen und Ekel ging man an dem Hause eines Metzgers, der sich selbst erstochen hatte, vorüber, und sah man auch manchmal an der Thür noch ein einziges 212 junges Lämmchen hängen mit ausgebreiteten, an Stecken befestigten Füßen, – die gute unglückliche Frau Ley putzte und scheuerte hellgelb die Haken, an denen einst die schweren Rinderviertel gehangen, die Wagschale blinkte so sauber durch die Fensterscheiben der Hausflurthür wie sonst, – drinnen sah es doch öde und leer aus. Joseph saß dann bald nur noch im Wirthshaus, trank und spielte. Die geistlichen Vermahnungen halfen nichts; es lag wie ein Fluch auf dem Hause, dessen gänzliche Verödung nur das Mitleid um die rechtschaffene Frau abwandte. Das haben wir ja alle erlebt, wie diese unheilvolle Kette an verderblichen Ringen immer reicher wurde! Die kleinen Kinder wuchsen herauf, halfen da und dort; der Vater hatte Augenblicke, wo er sich zusammenraffen wollte. War dann einmal ein Thier gekauft worden, war das ein Jubel von Frau und Kindern! Sie liefen in die ganze Nachbarschaft ringsum und verkündeten die frohe Mär: Der Vater hat ein Schwein geschlachtet! Was ließ sich dann thun? Man mußte den jüdischen Metzger Lippschütz, an den man sich unten am Fall schon gewöhnt hatte und zu dessen Praxis ohnehin diese eine Thiergattung nicht gehörte, übergehen und die arme Frau Ley glücklich machen, die dann freilich erleben mußte, daß der Mann, gleichsam um sich von einer einzigen großen That, dem Schlachten und Zurichten und Verputzen eines einzigen Thieres, auszuruhen, dann wieder im Wirthshause saß und durch erkünstelte Bravaden seine innere Zerfallenheit zu übertrotzen suchte. Sein Blick wurde wilder und scheuer, man mied ihn und je mehr die Theilnahme für die Mutter und die Kinder zunahm, 213 desto vereinsamter fühlte sich ihr Mann, der Joseph. Die arme Frau lief oft sechs Stunden Weges zu Fuß über Land, um irgendeinen Ankauf zu machen; die Kinder folgten, und zu rührend war der Anblick, wenn sie dann ein Lämmlein oder ein taumelndes Kälblein die Landstraße dahertrieben und den Vater aus dem Wirthshause abriefen, damit er an dem auf Borg oder für ein Geringes Eroberten seine Kunst zeigte. Wir wissen alle, daß eines Tages am Pfosten des Schlachthauses nicht ein solches kunstgerecht ausgeweidetes Lämmlein, sondern der Joseph selber hing! Wie sein Vater war auch er aus der Welt gegangen; jener Selbstmord war aus Ungeduld und Stolz, dieser aus Furcht und Scham entstanden; sein Trotzen war eben nur, wie es geht, ein falsches Spiel gewesen. Dann wurde Meister Lippschütz Herr der ganzen Kundschaft bei den Gerbern und Färbern unten am Fall, bis auch der starb und seine Frau die Metzgerei nicht fortführen konnte. Das, Fräulein Schwarz, ist nun unsere Hasen-Jette, die Sie sehr oft auf unserer Dechanei sehen werden! Sie ist eine vortreffliche Frau, wenn auch der Major ihren geheimen Lieferanten nicht traut … Nun stirbt die gute Frau Ley! Ich muß doch hinunter in die Stadt! Man kommt nicht wieder … Gute Nacht!

Der Dechant erhob sich allen Ernstes. Sein gutes Herz hatte über die Bequemlichkeit den Sieg davongetragen.

Sein Entschluß wurde aber von einem heranrollenden Wagen unterbrochen.

Der Pfarrer von St.-Wolfgang! rief alles und Frau von Gülpen trat ans Fenster.

Es war aber nicht diese heiß von ihr ersehnte Ab-214lösung für den Dechanten, sondern es waren die geistlichen Herren vom Diner und von der Conferenz. Windhack kam schon und berichtete: Sie hätten ihre Ueberkleider, Bücher, Regenschirme noch in der Dechanei zurückgelassen und wollten sich, da sie jetzt erst abreisten – bis um acht Uhr hatten sie Gelegenheit genug gefunden sich in Kocher am Fall zu zerstreuen –, alles in den Wagen nachreichen lassen.

Frau von Gülpen fürchtete, daß man nicht jedes da, wo sie es hingelegt hatte, finden würde und schickte auch noch Lucinden mit den nöthigen Anweisungen hinunter.

Windhack war schon vorangegangen. Ohnehin war er im Aufdecken begriffen. Nach dem Thee pflegte man in der Dechanei immer noch ein Nachtessen einzunehmen, das bereits aufgetragen wurde … Man drängte inzwischen den Dechanten, die Botschaft Treudchens erst abzuwarten und sich zu beruhigen.

Bald hörte man, daß nach wenigen Augenblicken auch schon der Wagen unten wieder abgefahren war.

Eben machte der Major einige Glossen über die Anhäufung geistlicher Versammlungen, über die Unbesonnenheit, mit der man Zwecke zur Schau trüge, die böses Blut nach oben setzen müßten, über die fanatischen Schwärmereien des Stadtpfarrers, der sogar allerlei Abenteurer ins Land riefe, jetzt die Italiener, die diesmal Heiligenbilder verkaufen müßten zu Spottpreisen, wie ihnen durch einen Verein ermöglicht würde; ja, auch den „Kirchenboten“ hätte er heute wieder so scharf geschrieben gehabt, daß man ihn in der Censur von Anfang bis zu Ende gestrichen hätte …

215 Er kannte die Spannung zwischen der Dechanei und dem Stadtpfarrhause und sagte ganz offen:

Man möchte fast glauben, der fanatische Mann hat die Herbstmanöver abgewartet, um seine bekannten Anschuldigungen der Regierung besser unter die Leute zu bringen!

Schon sprach man dem Mahle zu, schon füllten sich die Gläser … Man erörterte die heutige Conferenz. Der Dechant zuckte die Achseln und schwieg zu des Majors Besorgnissen … Man sprach von dem ausbleibenden Benno, der wahrscheinlich durch seine Kameraden gefesselt war, und bemerkte endlich die auffallende Nichtwiederkehr der Nichte der Frau von Gülpen.

Der Dechant war der erste, den ihr Außenbleiben störte.

Eine Erörterung über sie, eine Kritik über ihren Eindruck ließ sich noch nicht anknüpfen; man konnte annehmen, daß sie eben eintreten würde.

Ihr Couvert blieb aber leer. Sie kam nicht …

Jetzt fragte man Windhack, der servirte …

Windhack wußte keine andere Auskunft, als daß „Fräulein von Schwarz“ ihm noch vor einer halben Stunde draußen geholfen hätte, den Herren in ihren Wagen die verlangten Sachen nachzureichen. Da hätte sie ein Licht gehalten und plötzlich wäre ihr das Licht aus der Hand entfallen und dann, als der Wagen fort war, hätte er sie gar nicht mehr gesehen …

Frau von Gülpen fand das Fallenlassen des Lichtes „doch auch sonderbar“ und nun öffnete sich manche verhaltene Schleuse …

Die Freundinnen schickten zuerst das größte Lob vor-216aus – nach dem System der Sheridan’schen Lästerschule war dies gleichsam das Einkaufungsrecht, hinterher desto schärfer tadeln zu können.

Flüsternd nur und sehr discret fand man die junge Dame außerordentlich interessant, mit andern Worten höchst unheimlich und kein Vertrauen erweckend; man fand sie wunderbar schön und majestätisch, mit andern Worten zum Dienen nicht im mindesten geschaffen; man bewunderte ihre Augen und fand sie außerordentlich klug, d. h. gefährlich und Vorläufer mancher Beunruhigungen der Dechanei und der Stadt.

Die Frau Majorin schwieg vollends – was bei ihrer Zungenfertigkeit das am meisten Sagende war – und der Major knöchelte nur ein kaltes Huhn aus und legte die Reste so hieroglyphisch vor sich auf den Tellerrand, als wollte er damit das bekannte Räthselspiel einer verwundenen Bandschnur lösen …

Jetzt fragte ihn Frau von Gülpen geradezu, worüber er denn heute eine so ganz extrafeine Miene machte … und der Majorin sagte sie schon:

Unsere Familie ist so groß, daß ich oft erschrecke, ihre nähere Bekanntschaft zu machen!

Und als nun gar Fräulein von Minnerich die Anspielungen des Majors auf den jüdischen Ursprung der Stadt Kocher in Verbindung brachte mit einem gewissen orientalischen Air der Nichte und die Tante darüber in Verlegenheit gerieth, konnte der Major nicht mehr umhin zu sagen:

O Beste, nein! Ich wollte nur auf ihre hohe Religiosität anspielen … sie ist ja eine Convertitin …

217 Feierliches Schweigen …

Man sah sich um, ob Lucinde kam.

Da sie ausblieb, ermunterte Frau von Gülpen, die diese Eigenschaft ihrer Nichte nicht gekannt hatte, den Major, ganz offen sich auszusprechen.

Sie wissen, sagte sie, ich bin schon so oft von meinen Angehörigen getäuscht worden! Noch unser letzter Besuch, Fräulein Angelika Müller –

Ich habe einen Brief von ihr auf meinem Zimmer liegen, sagte der Dechant und wünschte offenbar damit das Gespräch abzubrechen … ihm gefiel Lucinde … er wäre gern auf einen andern Gegenstand übergegangen.

Grützmacher, sagte aber der Major, sah sie schon gestern beim Pfarrer von St.-Wolfgang …

Wir hatten sie dorthin empfohlen, bemerkte Frau von Gülpen, um ihre Sicherheit zu beweisen.

Sie kannte Herrn von Asselyn schon seit Jahren …

Sie kommt aus der Stadt, wo er geweiht wurde …

Nun, wir werden ja sehen …

Sehen? hieß es allgemein.

Ich verschweige Ihnen nicht, gestand jetzt der Major ganz offen, die Dame ist uns zur Aufsicht anempfohlen worden …

Zur Aufsicht?

Als Emissarin! Ihre fanatische religiöse Gesinnung …

Bei dem Worte „Emissarin“ verschüttete fast Frau von Gülpen den Inhalt der goldenen Dose, die der Dechant suchte und die sie ihm, selbst in größter Aufregung jede seiner Mienen, jedes seiner Bedürfnisse beobachtend, hinreichte und öffnete …

218 Dem alten Windhack schien es geradezu Spaß zu machen, Frau von Gülpen so gleichsam immer mehr in die Lüfte gehoben zu sehen. Er schenkte dem Major sein Glas mit 24er Mosel-Auslese ebenso oft voll, wie dieser es leerte. Dadurch kam die Mittheilungslust desselben in Gang und nicht zwanzig Minuten währte es, so wußten, natürlich nur in gemüthlichster Andeutung, alle, daß Lucinde Schwarz kaum viel mehr als eine Abenteurerin war, schon einen sehr verwickelten Lebenslauf gehabt hätte, ja auf Schloß Neuhof beim Kronsyndikus von Wittekind gewesen war, damals namentlich als vor sechs bis sieben Jahren jener Theilungscommissar so räthselhaft getödtet wurde, der Vater eben jenes Mönches, der jetzt Pater Sebastus hieß und vielleicht in diesem Augenblick unter den unten angefahren gewesenen Geistlichen sich befunden haben konnte … Ja, bis zu Lucindens erstem Anfang gingen die Mittheilungen zurück, bis zum Hause des Stadtamtmanns und sogar bis zu ihren ersten Abenteuern mit einer alten Frau Hauptmännin von Buschbeck …

Längst hatte von Kocher her der Zapfenstreich sich vernehmen lassen …

Der Dechant stand schon bei dem Namen „Schloß Neuhof“ auf …

Frau von Gülpen folgte seinem Beispiel bei dem Worte „Buschbeck“.

Lucinde war nicht wiedergekehrt …

Die Freundinnen besaßen Takt genug, nachzufühlen, daß dieser Abend gestört war, und den Zapfenstreich hatte eigentlich niemand versäumen wollen …

219 Major Schulzendorf hatte Lucinden keineswegs anklagen wollen. Er hatte nur das Interesse, das sie vollkommen einflößen durfte, genauer motivirt. Nicht im mindesten durften er oder seine Gattin annehmen, daß seine immer den Rücksichten des Hauses und den vortrefflichen Speisen und Weinen desselben Rechnung tragende Mittheilung irgendjemanden hier verletzte.

Man trennte sich wie mit dem Gefühl allgemeinster Befriedigung …

Frau von Gülpen aber fiel, als sie mit dem Dechanten allein war und ihr scharfes Ohr die letzten Schritte der Gäste verklingen gehört hatte, geradezu in eine Ohnmacht …

Der sanfte Mann that alles Mögliche, sie zu beruhigen.

Nicht vierundzwanzig Stunden länger bleibt sie im Hause! hauchte die Freundin mit einer ihr fast vergangenen Stimme.

Die Haube löste sich, die schönen kastanienbraunen Scheitel kamen in Unordnung …

Und plötzlich raffte sie sich auf und klingelte.

Was thun Sie? Was soll das? fragte der Greis.

Windhack, der die Gäste hinausbegleitet, kam zurück.

Das Fräulein –

Die Stimme versagte … versagte um so mehr, als der Dechant sich einer sofortigen Citation Lucindens entschieden widersetzte.

Windhack berichtete, er hätte oben geklopft und die Antwort bekommen, sie wäre müde und wünschte allein bleiben zu dürfen …

220 „Wünschte! Allein bleiben zu –“! lachte Frau von Gülpen förmlich auf, wie über eine Prätension der höchsten Anmaßung …

Beruhigen Sie sich, liebe Freundin! unterbrach der Dechant wiederholt und mit Entschiedenheit. Verurtheilen Sie nicht wieder zu schnell! Morgen wird sich alles finden! Ich bitte sehr darum! Windhack, leuchte! Ich habe noch Briefe zu lesen. Keine Störung! Keinen Tumult! Ruhe und Friede! Ich bitte darum! Gute Nacht, liebe Freundin!

Damit ging der Greis erregt, wie seit lange nicht, auf sein Zimmer.

Die Schnurrenthüren nebenan bei Frau von Gülpen beruhigten sich aber noch bis tief in die Nacht nicht, so oft gingen sie auf und zu und so oft zu und auf …

Nie noch konnte eine Tante über eine Nichte in größerer Aufregung gewesen sein.

221 9.#

Inzwischen saß Lucinde in einem Mansardenstübchen unter dem Eindruck, den ihr das Wiedersehen Heinrich Klingsohr’s verursacht haben mußte!

Daß es dieser gewesen, daß er wie sie den Glauben gewechselt, ja daß er weiter noch gegangen und ein Mönch geworden, bestätigte Windhack, als er das ihr aus der Hand gefallene Licht erhob und in aller Harmlosigkeit sagte, der Mönch käme mit den geistlichen Herren vom Stadtpfarrer … hieße Dr. Klingsohr, und in der Stadtpfarrei – da müßte man mehr von ihm wissen, als halt er selbst oder der Dechant wüßte …

Windhack ahnte nicht, wie seine Antwort einer fast bebend gesprochenen Frage gegeben wurde.

Und doch wußte selbst auch noch in diesem Augenblicke sich Lucinde schon wieder zu beherrschen.

Aber sie mochte nicht in die Gesellschaft zurückkehren oder, wie Windhack sie aufforderte, am Mahle theilnehmen. Die strenge Kälte der Frau von Gülpen, der prüfende Blick des Majors, der so lässige und nur oberflächlich verrathene Antheil des Dechanten benahmen ihr allen Muth, allen Aufschwung … und doch war sie sorglos und ahnte für ihr Bleiben keine Gefahr.

222 Sie hatte Treudchen Ley schon davongeeilt gefunden, hatte die zurückgelassenen Sachen der geistlichen Herren helfen wollen an den Wagen nachtragen, hatte kaum einen Blick durch das vergitterte Fenster des untern Estrichs geworfen, während Windhack vor der großen Hauptpforte stand … als sie vor dem geschorenen Haupte eines Mönches, der aus dem Wagenschlage sich vorbeugte, zurückfuhr. Die Beleuchtung durch Lichter, den aufgegangenen Mond und die noch nicht ganz entschwundene Tageshelle war zu sicher, der markirte, scharfe Kopf Klingsohr’s war mit keinem andern zu verwechseln und die Bestätigung, daß sie sich nicht geirrt, folgte durch Windhack auf dem Fuße …

Wollen Sie nicht zum Souper kommen? fragte der Alte nach einer Viertelstunde noch einmal.

Durch die geschlossene Thür ihres Mansardenzimmers hatte sie gebeten, allein bleiben zu dürfen und sie wegen ihrer Ermüdung zu entschuldigen.

Ihr Zimmer war klein, sehr niedrig, – fast stieß sie mit dem Kopf an die Decke –

Sie machte sich Licht – sie hätte alle Fenster des Hauses aufreißen mögen, um Luft zu schöpfen, – ihr Stübchen hatte nur ein Fenster – sie fürchtete zu ersticken –

„Beim Stadtpfarrer würde sie mehr erfahren“ – Dies Wort hallte ihr unaufhörlich wider …

Sie hatte Briefe an diesen Beda Hunnius – die dringendsten Empfehlungen – Empfehlungen, die sogar mit „pressant“ überschrieben waren –

Sie suchte nach diesen Briefen –

223 Dabei blieben ihr die Hände wie gelähmt … und fast wie im Gelächter klang es schon und hallte ihr im Ohr:

Klingsohr ein Mönch!

„Sind Sie katholisch?“ hatte sie einst zu ihm gesagt, als er einen Blütenzweig da in die Erde pflanzen wollte, wo sie gestanden, damals, als sie von ihm auf dem Wege vom Düsternbrook so seltsame und ihr fremde Gedanken vernommen …

„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!“ hatte er erwidert …

Sie ging auf und nieder in dem engen Zimmer.

Dann suchte sie in ihrem kleinen Koffer nach den Briefen …

Sie fand sie in ein Convolut alter Papiere versteckt, die sie seit drei Jahren besaß. Es waren die nach Serlo’s Tode aus dessen Nachlaß an sich genommenen Aufzeichnungen desselben … seine oft von ihm vorgelesenen Tagebücher.

Sie kannte jede Stelle darin und nicht eine Secunde brauchte es, daß sie eine Seite aufgeschlagen hatte, die jenen Beda Hunnius betraf. Firmian Neumeister, genannt Serlo, war, obgleich älter, mit ihm im geistlichen Convict gewesen … Bei diesem Hunnius konnte sie von Klingsohr mehr erfahren … von Klingsohr, der jetzt …

Sie wußte selbst nicht, was sie that, als sie, um den überwallenden Strom ihrer Empfindungen zu dämmen, die Schilderung wieder las:

„Wir ältern Schüler hatten die Aufsicht über die jüngern. Schon ganz kleine Knaben kamen ins Convict und mit den glücklichsten Anlagen für ihren künftigen Beruf …

224 „Die Lehrer hatten die Erziehungsgrundsätze der Jesuiten angenommen. Wir wurden von allem zurückgehalten, was nur irgendein eigenes und selbständiges Leben in uns und aus uns hätte entwickeln können. Jede Stunde, ja jede Minute hatte ihre Beschäftigung, ihre eigene Aufgabe. Nur die Ruhe der Nacht, wenn man aus einem Traum erwachte, bot die Gelegenheit eines stillen Selbstgesprächs. Nur in solchen Nächten ermöglichten sich meine Betrachtungen über Menschen und Dinge. Mit dem Glockenschlage fünf begann die gewohnte Ordnung mathematisch genau abgegrenzter Beschäftigungen. Einer der Schüler belauschte den andern. Man wurde angezeigt, wenn man Runzeln auf der Stirn hatte! Ich weiß es noch wie heute, daß ein Schüler, ein kleiner Bauernknabe, mindestens sieben Jahre jünger als ich, den ich zu beaufsichtigen hatte, ein gewisser Hunnius, mich anzeigte, wenn ich die Stirn in Runzeln gelegt hatte! Diese Nachlässigkeit wurde vom Rector scheinbar nur aus Schönheitsrücksichten getadelt und abgestraft. Man sagte: Du sollst dein Aeußeres pflegen! Dein Leib ist ein Tempel Gottes! Wie kann eine Seele zu dir Vertrauen fassen, wenn du mit düsterer, gefurchter Stirn sie anblickst! Die Wahrheit war aber keine andere als die, daß gerunzelte Stirnen Denker verrathen, mindestens Träumer, die in sich selbst versunken Betrachtungen anstellen, die ihnen nicht von außenher veranlaßt und geheißen wurden.

„Dieser boshafte kleine Verfolger meiner Stirnrunzeln war auch schon der eifrigste und gewandteste Escamoteur des sogenannten Signums.

225 „Dies war eine Art Denkzettel von Blech, den derjenige umhängen mußte, der irgendein Versehen sich hatte zu Schulden kommen lassen. Man trug das Signum so lange, bis man an irgendeinem andern eine Unregelmäßigkeit entdeckt hatte, der dann es statt seiner tragen mußte. Da derjenige, welcher das Signum Abends neun Uhr umhatte und der letzte gewesen war auf der nun folgenden Jagd der Angeberei, dann auch wirklich gleichsam für alle bestraft wurde, – Opus operatum auch hier! – ein verhältnißmäßiges Fastengebot erhielt oder irgendeine Arbeit verrichten mußte, so kann man sich denken, wie aufgelauert wurde, um das Signum von sich weg anzugeben auf einen andern! Ich alter, achtzehnjähriger Knabe war gewöhnlich der Unglückliche, der für die Vergehen von einem Dutzend anderer Abends neun Uhr zu büßen hatte.

„Und ich sage nur, wie die menschliche Natur früh auf alles, was sie geistig verkrüppeln kann, vergnüglichst eingeht!

„Niemals kam der jüngste von allen, der kleine Hunnius an die Reihe, der letzte zu sein! So verschmitzt war hier schon ein Kind, so listig, daß es noch Abends um neun Uhr einen Frevel an einem seiner Kameraden entdecken konnte, dem es das Signum kurz vor Thoresschluß zuzuschanzen wußte.

„Gab es keinen Verstoß, der anzuzeigen war, so lockte man einen hervor. Dazu bedurfte es blos doppelter Verschmitztheit; denn der Reiz zur Sünde ist immer da. Von Freundschaft und Liebe konnte bei so durcheinander gehetzten jungen Seelen keine Rede sein. Wir wurden 226 zur Predigt der Liebe angeleitet und in unserm Innern kochten Haß und Rache. Alles zur größern Ehre Gottes!“

Eigentlich war Lucinde auf dem Standpunkte, bei solchen Mittheilungen eher Partei gegen als für Serlo zu nehmen. Sie hatte mit der Denkweise, die sie Klingsohrn, ja Serlon selbst verdankte, eine resolute Entschlossenheit der Menschen für die Abwehr ihrer gegenseitigen Schlechtigkeiten für vollkommen gerechtfertigt zu halten gelernt. Sie lachte schon oft über den kleinen Hunnius und nahm ihn für einen Erzschelm, der mit der Menschheit gerade so verfuhr, wie man mit derselben verfahren müsse und wie sie einst selbst sich gegen die Tücke der Frau von Buschbeck half. Selbst Bonaventura, dem sie einst diese Art der Erziehung vorhielt und unter der gewöhnlichen Beichtstuhlfirma, „sie würde von Zweifeln gequält“ – ihr Verhalten zum neuen Glauben war, den wirklichen Haß gegen die hinter ihr liegende protestantische Welt ausgenommen, nur ein äußerliches und eine Benutzung desselben als Mittels zum Zweck – diese Signum-Anekdote erzählte, hatte gesagt: Man glaubt das Fundament unserer Kirche erschüttert zu haben, wenn man allen Aberwitz aufdeckt, auf den die Einsamkeit der Geistlichen und die Furcht vor der Anfechtung verfallen ist! Die künftige Lebensstellung des Priesterstandes ist eine so schwierige, daß die Angst, es möchten sich keine Menschen finden, die ihm Genüge leisten könnten, seit Jahrhunderten bei uns auf solche Auskunftsmittel der Erziehung zur innern Heiligung verfallen ist!

Die Gäste unten hatten das Haus verlassen – alles 227 wurde still – der Mond trat immer heller und heller hervor und verklärte den Park mit einem magischen Lichte …

Von Benno, von Hedemann, Thiebold de Jonge, Bonaventura, von den Italienern keine Spur – auch die kleine Gertrud Ley brachte – wenigstens hörte sie nichts – keine Botschaft von ihrer sterbenden Mutter …

Die Erzählung des Dechanten hatte Lucinden in ihr eigenes Jugendleben zurückversetzt – in das Leben ihrer Geschwister – in den Tod derselben – auch den Tod ihrer beiden letzten Brüder … Gustav und August lebten nicht mehr – sie hatten aus dem Besserungshause entfliehen, hatten an einem Seil aus einem hochgelegenen Fenster sich niederlassen wollen – ein Geräusch treibt den zweiten Flüchtling, sich aus dem Fenster dem ersten nachzuschwingen, während dieser noch nicht am Boden ist – das Seil reißt – beide verunglücken – – vor einem Leben, das doch gewiß nur das des Verbrechens hätte werden können! tröstete sich schon damals Lucinde. Es war dies fast drei Jahre her; die Kunde traf sie gleich nach ihrem Eintritt in die orthopädische Anstalt. Daß sie diesen Tod getrost auf ihre Rechnung schreiben konnte, hatte ihr das Gewissen schon oft gesagt und ebenso oft auch schon wieder hatte ihre Philosophie der Selbsthülfe und des erlaubten Widerstandes gegen das feindliche Leben sie von allem Vorwurf freigesprochen.

Zur Ruhe gehen konnte sie nicht. So in ihrer Aufregung den Tag schließen, so sich mit tausend quälenden Gedanken aufs Lager werfen? … Unmöglich für eine Phantasie so voll wühlender Ungeduld! …

228 Die Kleinheit des Zimmers machte sie jetzt verzweifeln. Sie riß die Thür auf … Unten hörte sie noch reden … Frau von Gülpen war es, die sich bei den Mägden sicher stellte, daß niemand sich etwa einfallen ließ, vom Lärm der Stadt und der Neugier auf die Einquartierten sich aus dem Hause ziehen zu lassen.

Lucinde lächelte und sagte kopfschüttelnd:

Ganz wie meine Alte!

Zuletzt regte sich nichts mehr im Hause …

Sie griff nach Hut und Mantel …

Wenigstens in den Park wollte sie gehen und mit einer Wanderung durch die Baumgänge die stürmenden Gefühle ihrer Brust beschwichtigen …

Wie auch hatte ihr das Leben dieses Parks poetisch vor Augen gestanden! Sollte sich denn auch nichts davon, keine einzige ihrer Ahnungen erfüllen?

Sie mußte hinaus. Nur das eine Bild des Mönches Klingsohr schon wuchs so riesengroß vor ihren Augen, daß es die Decke des kleinen Zimmers sprengte. Es zog sie, wie wenn sie über Länder und Ströme, über Heiden und Moore fliegen müßte zu dem fernen Meere hin, an dessen Ufern sie einst gelebt hatte, zu dem Strande der Alster, wo Klingsohr im Schilfrohr das blutige Haupt seines Vaters zu sehen sich gefürchtet!

Und wollte nicht zuletzt noch Bonaventura kommen? Wollte er sie gleich schon heute die Wonne nicht fühlen lassen, doch irgendwie berechtigt in seiner Nähe weilen und an seinen Lebensschicksalen betheiligt scheinen zu dürfen?

Mit diesen Empfindungen war sie schon auf der Stiege.

Sie hatte leise ihr Zimmer zugedrückt.

229 Behutsam ging sie hinunter. Nichts hörte sie als das Knistern ihrer Schuhe auf der steinernen Treppe.

Unten steckte der Schlüssel in der Hauspforte …

Sie schloß auf, öffnete und trat hinaus …

Sollte sie den Schlüssel mitnehmen? … Mitnehmen? Wohin? … Wußte sie schon, daß es im Park sie doch nicht halten würde, daß sie sich weiter wagen müßte, wenigstens bis an die Kathedrale hinauf? …

Sie ließ den Schlüssel stecken und drückte nur leise die Thür wieder zu.

So trat sie auf die steinernen Vliesen, die rings das Schlößchen umgaben. Dann kam ein kleiner Rasen mit einem kaum einige Fuß hohen spielend tröpfelnden Springbrünnchen … dann kam eine Baumallee …

Auf einer Steinbank ließ sie sich nieder …

Wie blickte sie zagend auf das Haus, in dem ein Licht jetzt nach dem andern erlosch! … Das Piano, auf dem sie sich leidlich geltend zu machen wußte, hatte man sie gar nicht aufgefordert anzurühren! Sie hatte ihre eigenen bizarren Weisen, in denen sie sich in solchen Abendstunden und solchen Stimmungen anziehend zu ergehen verstand … Wie hätte sie jetzt auf ihm dahinstürmen mögen! Und nun saß sie hier „auf Probe“, so gebunden, so Bettlerin, so Ausgestoßene und Geduldete nur. Sie durfte kaum ein Liedchen trällern, um das tausendstimmige Concert in ihrer Brust, ein Hämmern und Klopfen wie auf tausend verborgenen Tasten, irgendwie zu verrathen – ein Hüsteln sogar mußte sie schon zwingen aufzustehen und sich mehr zum Park zu entfernen.

Sie lauschte dem Plätschern des Quellchens, dem Rauschen der Blätter, dem Geräusch der Stadt … 230 Erst jetzt fühlte sie, daß sie ja die Briefe für Hunnius zu sich gesteckt hatte! Einer von ihnen war „pressant“… Wenn sie ihn noch abgäbe? Jetzt, nachdem die neunte Stunde schon geschlagen?

Klingeln an der Stadtpfarrei? Das war das Wenigste … Zu dem Reiz, der das katholische Priesterthum umgibt, gehört seine freistehende, durch kein Familienleben gebundene Allen-Angehörigkeit. Da fragt kein Eheweib: Was wollen Sie von meinem Manne? Da sind keine Kinder, an deren Bettchen, wenn sie krank sind, ein Vater der Mutter wachen hilft! Diese katholischen Priester sind wie die Aerzte. Man darf sie des Nachts aus ihrer Ruhe klingeln. Man darf sie am Tage in ihrem Studirzimmer überraschen. Man braucht nur um einen Schemel zu bitten, um zu knieen und mit ihnen zu beten. Katholische Priester verlangen auch keine Einführung, keine Empfehlungsschreiben, sie sind sofort mit dem Menschlichsten im Menschen vertraut und einer ist dann wie alle; die Frage, die ihr ganzes Leben vertritt, ist unter ihnen und bei jedem dieselbe … Wie viel Tausende von Frauen, die im Leben keinen Freund und Vertrauten zu gewinnen wußten, gehen ihnen bethört auch nur um deswillen nach! …

Ohne daß sich Lucinde an die übrigen Wege des Parkes hielt, schoß sie quer durch die vom Mondlicht beschienenen Bäume an die steinernen Stufen hin, die zum Dome hinauf und von dort wieder abwärts der Stadt zuführten.

Trotz der späten Abendstunde war das sonst so stille Städtchen heute wie im ganzen Jahre nicht lebendig.

Die zu den Uebungen Berufenen zogen truppweise 231 durch die mondscheinhellen kleinen Gassen, andere saßen in den Wirthshäusern und sangen. Da Musik, dort der Lärm fallender Kegel … Von ihren gestern und heute gemachten Bekannten konnte Lucinde annehmen, daß sie sich bei dem Obersten von Hülleshoven befanden, Hedemann vielleicht ausgenommen, der sicher den Leutenant von Enckefuß vermied … Die Italiener schienen noch in Kocher nicht angekommen zu sein …

Lucinde ging und ging und fragte die Leute nach der Stadtpfarrei … es war ihr, als müßte sie doch vielleicht irgendwo Benno sehen … Den hätte sie nicht lieben können, den schroffen Humoristen … er gab sich absichtlich so unpoetisch, – er kehrte so oft die Seiten nur seines Verstandes heraus – er schien ihr zu sicher, klar und zu bewußt in sich selbst – Thiebold de Jonge erinnerte sie fast an Oskar Binder – aber beide Männer waren zuvorkommend, man konnte mit ihnen scherzen, ausgelassen sein – jetzt hätte sie sich an Benno’s Erstaunen weiden mögen, wenn er sie Abends fast gegen halb zehn Uhr im Mondenschein so durch die Straßen wandern sah in der allgemeinen Aufregung … sie würde seinen Arm aufgegriffen und ihn fortgezogen haben … Entdeckte man ihren Ausgang in der Dechanei, so sann sie, was sie vorschützen würde, die dringenden Briefe an den Stadtpfarrer, die sie vergessen gehabt hätte am Tage abzugeben. Und wenn dieser wirklich noch zu sprechen war – sie hatte sich schon bis zum Marktplatz durchgefragt – wenn sie von ihm allzu lange aufgehalten werden sollte, konnte sie nicht das Interesse für die Erzählung des Dechanten von der sterbenden Frau Ley und den wirklichen Drang, den sie hatte, 232 Treudchen beizustehen, zu ihrer Entschuldigung benutzen? Lucinde gehörte zu den Naturen, die bei großen Schwierigkeiten sich durch das Wort zu helfen wissen: Ans Leben wird mir’s doch nicht gehen! Das hatte sie schon in Langen-Nauenheim so gehalten, wenn andere Theilnehmer einer gemeinschaftlichen Schuld sich der Strafe entgegenängstigten. Für die Dechanei freilich lag ihr alles daran, an der Lage, in der sie sich bisjetzt dort befand, nichts zu ihren Ungunsten zu ändern. Sie ahnte ihre Gefahren nicht …

Endlich war sie an der Stadtpfarrei. Im ersten Stock war noch Licht. Eine Klingel hing am Hause …

Sie zog daran und unerschrocken.

Viel schneller, als sie in geistlichen Häusern gewohnt war, ging die Thür auf.

Lucinde war schon auf der Treppe und von einer Magd empfangen und forschend angeleuchtet.

Das späte Klingeln brachte Hunnius mit einer Aufregung in Verbindung, in der er sich seit einigen Stunden mehr noch als in der Conferenz befand. Man hatte in der That die letzte, eben zum Druck bestimmte Nummer seines Kirchenboten auf der Polizei von Anfang bis zu Ende gestrichen. Der Fall war schon oft vorgekommen; immer aber regte er ihn so auf, daß er die halbe Nacht darüber verlor.

In jeder Minute, da er Aenderungen vorschlug, dann neue Botschaft erwartend, konnte das Ziehen der Klingel ihn veranlassen, sogleich selbst auf die Treppe zu eilen, die Brille auf die vor Aufregung geröthete breite Stirn zu ziehen, im Schlafrock, in Pantoffeln, mit der brennenden Pfeife in der Linken, mit der Studirlampe 233 in der markigen Rechten … und forschend, fragend, eher einem aufgeregten, nach Ordnung sehenden Wirthe ähnlich, als einem Gelehrten, jedem entgegenzurennen.

So auch heute. Er kam, wie nur ein Mann seines Temperamentes, dann aber auch freilich ein Schriftsteller kommen konnte, der sich in jener traurigen Zeit jede geschriebene Zeile vom Censor begutachten lassen mußte …

Hunnius, ungestüm und überreizt, fand eine Dame … eine elegante noch dazu …

Rasch bedeckte er mit den Flügeln des Schlafrocks sein Négligé, zog die Pfeife aus dem Munde, überließ Lucinden der Dienerin und entfernte sich mit einigen Worten der Entschuldigung.

Lucinde wurde in ein Empfangszimmer geführt. Die Magd stellte ihr die Lampe hin und entfernte sich.

Nach einer Weile öffnete wieder der Stadtpfarrer und bat Lucinden näher zu treten in sein eigenes Zimmer. Er hatte inzwischen schnell seinen schwarzen Rock und seine Stiefel angezogen und bot seinem Besuche einen Platz auf dem Kanapee, während er selbst mit großer Beweglichkeit in gespannter Verlegenheit einen Stuhl ergriff …

Das Zimmer bot die oft etwas gesuchte Einfachheit geistlicher Wohnungen. Auf dem Tische vor dem harten Kanapee lag eine fast wie in absichtlichem Ungeschmack gewählte baumwollene Decke; in der Mitte stand ein Crucifix von wurmstichigem alten Holze. Schildereien, Bücherschränke, Sessel, alles war von der größten Einfachheit. Im Volke setzt man solche Entbehrungen beim geistlichen Stande voraus, beurtheilt ihn und dieser selbst richtet sich danach.

234 Hochwürdiger Herr Pfarrer! begann Lucinde. Ich bin eine Nichte der Frau von Gülpen in der Dechanei und heute erst angekommen! Ich nahe mich Ihnen, verlangend, die erste Nacht, die ich in einem neuen Wirkungskreise zubringe, mit einem Gebete unter geistlichem Beistand anzutreten. Beim Herrn Dechanten fürcht’ ich eine Misdeutung dieser Absicht durch meine gütige Tante und wage mich deshalb zu Ihnen. Auch hab’ ich Briefe und einen dringenden vom Herrn Curatus Joseph Niggl an Sie abzugeben!

Ein Wunder die erste Anrede – und leider so schnell natürlich erklärt! Eine Nichte aus der Dechanei, die mit dem Stadtpfarrer beten wollte? Eine religiöse Schwärmerin? Jetzt nur eine einfach an ihn Empfohlene – die zwei Briefe abgibt, auf deren einem „pressant“ zu lesen ist!

Der letztere kam allerdings von einem seiner vertrautesten Freunde und Hunnius fand sich zurecht.

Doch las er den Brief nicht sogleich, sondern fragte Lucinden nach ihrer Reise, ihrem frühern Aufenthalt.

Was eine Nichte in der Dechanei bedeutete, wußte Hunnius, doch behandelte er das Verhältniß mit Schonung, ja er war sogar höchst überrascht, als Lucinde wirklich den Kopf mit dem nicht abgenommenen Hute auf die gefalteten Hände beugte und nicht eher aufblickte, bis er nicht ein Confiteor, das er in Versen übersetzt sogleich zur Hand hatte, laut vorgesprochen und sie gesegnet hatte.

Ohnehin erregt und nun vollends von einer so ihm noch nicht oft vorgekommenen Scene, erbrach er erst jetzt den wichtigern der beiden Briefe. Lucinde bat ihn darum.

235 War Hunnius bereits von seines befremdenden Besuchs hoher, fast stolzer Gestalt, von der Schönheit der Gesichtszüge, dem geistvollen Ausdruck der Augen und dem ganzen räthselhaften Dufte, der sie umgab, im höchsten Grade belebt, so steigerte sich sein Interesse vollends beim Lesen. Von Zeile zu Zeile wuchs der Ausdruck seiner Ueberraschung. Er zog die dunkeln buschigen Augenbrauen in die Höhe und unterbrach sich fortwährend selbst mit einem Hm! Hm! O das ist ja herrlich! bis er zu Ende war. Nun überflog er noch einmal und förmlich wie zweifelnd die an ihn gerichtete Adresse, überzeugte sich von der Unterschrift, zog sein Portefeuille, legte den Brief vorsichtig hinein und reichte Lucinden in verklärtester Miene die Hand mit den Worten:

Das muß ich mir ja zu seltenstem Glücke deuten, mein Fräulein, eine solche Bekanntschaft in Ihnen zu machen! Sie sind zu unserer Kirche zurückgekehrt! Und mehr! Mehr! Sie haben den Muth, Ihre neue Gesinnung auch zu bewähren! Sie kennen die Welt genug, um mit Vortheil die geistlichen und weltlichen Waffen zu führen in dem Kampfe, den wir alle jetzt zu kämpfen haben! O und das jetzt in diesem Augenblicke, wo –

Er horchte auf. Es schien ihm als wenn der Druckerbursche die gerettete Nummer brachte.

So gut bin ich Ihnen empfohlen worden? fragte Lucinde, die den Grund seiner Selbstunterbrechung und plötzlichen Wie-Abwesenheit nicht kannte.

Lesen Sie es selbst! erwiderte Hunnius, griff in sein Portefeuille und reichte ihr den Brief Joseph Niggl’s zurück.

236 Der gute Herr Curatus! sagte sie und lehnte das Lesen ihrer eigenen Lobeserhebungen ab.

Nein! Nein! erwiderte Hunnius halb zerstreut. Sich gerühmt zu sehen, ist manchmal eine Ermunterung!

Und nun las er, seufzend über den nicht gekommenen Druckerburschen, selbst:

„Hochwürdiger, hochzuverehrender –“

Ja so! unterbrach er sich. Ich habe mich vergriffen! Das ist nicht der rechte Brief! Indessen – Sieh! Sieh! Wenn – Entschuldigen Sie mich nur, daß Sie mich in solcher Zerstreuung finden! Schon wieder ist meine harmlose schriftstellerische Thätigkeit Gegenstand der rücksichtslosesten Verkürzung geworden – der Luft, des Lichtes, der Freiheit, des Athems – denn alles das rauben sie uns! Meine ganze morgen fällige Nummer ist mir von Anfang bis zu Ende gestrichen worden! Jeden Augenblick erwart’ ich Antwort auf einen Vorschlag, den ich wenigstens zu Aenderungen machte! Kommt kein Bote aus der Druckerei, so bleibt es bei diesen Leichensteinen – diesem Mord durch persönlichste Willkür … Blau ist die Tinte, die diesen Menschen statt Blut unter den Händen fließt! Sehen Sie nur!

Damit zeigte er den Censurbogen eines kleinen Blattes, das mit blauer Tinte durchstrichen war …

Lucinde drückte ihr Bedauern aus und suchte eine Gelegenheit, auf Klingsohrn überzugehen, durch den sie mit solchen Vorgängen des literarischen Lebens schon früh bekannt geworden war …

Beim Zusammenfalten seines Blattes kam dem Stadt-237pfarrer wieder der verwechselte Brief von vorhin zu Handen.

Ja, sagte er, im Portefeuille suchend, wo ist denn Niggl’s Empfehlung? – Aber – ja, ja – Sie sollten auch diesen Brief hier lesen! Ich nehme keinen Anstand, Sie damit bekannt zu machen. Da ich Ihre Gesinnung kenne, da Sie eine streitbare Jungfrau sind, die ihre Fahne zum heiligen Kampfe mittragen will, mein Fräulein, so hören Sie in Gottes Namen, wie wir denn doch nicht so ganz verlassen sind in unserer Noth! Lesen Sie selbst! Da wir uns über vieles werden zu verständigen haben, so lernen Sie sogleich Ziel, Methode, Absicht, Zusammenhang unserer schwierigen Aufgaben und Kämpfe kennen!

Bei alledem horchte Hunnius stets, ob es nicht klingelte …

Von wem ist der Brief? fragte Lucinde, als sie keinen Namen fand.

Das sei noch eine Weile mein Geheimniß! Er ist von einem höchst einflußreichen Manne …! Lesen Sie getrost!

Zugleich ging Hunnius an die Thür und überzeugte sich, daß seine aufgeregte Phantasie sich wieder geirrt hatte. Die Kinder seines Geistes ruhten sanft auf dem Friedhofe der Censur! Nichts rief sie ins Leben zurück! Nichts rettete wenigstens denjenigen unter ihnen, die diesmal wieder das schöne Kleid seines Stiles getragen hatten, das für Zeitschriften ohnehin so kurze bunte Schmetterlingsdasein!

Er ging auf und nieder und bat Lucinden, wie mit einer Art innerer Genugthuung, laut zu lesen …

238 Im Vertrauen auf die Wunderdinge, die der Curatus Niggl von ihr geschrieben haben mußte, that sie es:

„Hochwürdiger, hochzuverehrender Herr! Die Antwort auf Ihren so angenehmen Brief nächstens! Jetzt zwei Bitten! Erstens: Wissen Sie mir nicht eine kurze Charakteristik aller Dechanten unserer Kirchenprovinz anzugeben? a) Wie gesinnt gegen Rom? b) Gegen Cölibat? c) In Wissenschaften und Fähigkeiten? Zweitens: Wüßten Sie mir nicht einige junge in den drei Beziehungen gute Leute zu nennen, namentlich aus Belgien? … Es wäre (sed tantum inter nos!) …“

Nur unter uns! übersetzte Hunnius schnell und fast gedankenlos.

Sed tantum inter nos!“ wiederholte Lucinde ohne Anstoß. „Es wäre uns eine große Freude, einige Jesuiten hereinzubringen! Wüßten Sie einige, die geläufig deutsch sprechen? Aus der Schweiz oder aus Rom würde zu auffallend sein … Mich Ihrem Gebet empfehlend, verbleibe ich Ihr ergebenster Freund M. Alles zur größern Ehre Gottes!“*)

Die Empfehlung solcher Freunde, wie sie Ihnen zu Theil wurde, sagte Hunnius, gestattet, daß ich Sie tiefer in unsere Interessen einblicken lasse!

Aus demselben Portefeuille zog er einen zweiten Brief und ließ auch diesen Lucinden lesen, indem er auf- und niederging, bald zum Fenster blickte und auf jedes Geräusch achtete, bald sich aber auch an dem Anblick 239 Lucindens, dem Ton ihrer Stimme, dem erneuten Ueberblick des ganzen, so wunderbar überraschend ihm gekommenen Verhältnisses weidete.

„Die Zeit ist reif!“ las Lucinde. „Man muß mit Gewalt alles ergreifen! Der Herr Kirchenfürst gibt zu allem seinen Segen, thut aber einstweilen bei allem noch die Augen zu, sodaß unsere Unternehmungen nur Privatunternehmungen sind! … Ich will kurz nacheinander in unserer Kirchenresidenz vier Jesuiten, in der nahe gelegenen Universität einen unterbringen! Diese werden schon einen Wirkungskreis erhalten … Ich ziehe einige talentvolle Knaben ganz zu diesem Zwecke heran und an der Universität sind mehrere der talentvollsten Theologen, die in den Orden treten wollen. Mit diesen errichten wir einen Glaubensbund und bringen sie dann mit den hiesigen Jesuiten in Verbindung … Von Rom werden zwei Jesuiten erwartet. Sie bringen scheinbar ärztliche Atteste mit, welche ihnen nur vorschreiben, in unserer Gegend zu verweilen … Die Missionen treten da und dort ins Leben; bei uns ist es noch schwer. Der Herr Kirchenfürst wünschen sehr, daß alle Wallfahrten wieder ins Leben treten! Ich bitte, arbeiten Sie wie Sie können, daß alles Abgeschaffte wieder aufgenommen werde. Mit aller Verehrung Ihr ergebenster M. Alles zur größern Ehre Gottes! Der Sicherheit wegen nicht frankirt. Thun Sie es ebenso.“*)

Und einen dritten Brief las Hunnius dann noch selbst.

240 Sie thaten ihm als Ableiter seines Zornes wohl. Triumphirend betonte er:

„Die gute Wendung der Wallfahrtsangelegenheit macht mir erstaunliche Freude. Wie gerne macht’ ich selbst einmal die Springprocession mit, wenn es meine Geschäfte erlaubten! Sorgen Sie für Ihre Gegend: nur daß man es mit der Regierung nicht unrecht angreift, dann ist alles verloren! In all der Drangsal, die wir leiden, habe ich doch auch manche Freude. Mehrere Pfarrer sind verklagt. Je mehr, desto besser! … Geben Sie dem «Kirchenboten» mehr Nahrung! Man muß immer hervorheben, wie jede Beschränkung und Hemmung der Kirche und jede Auflösung des Gehorsams gegen Bischöfe und Rom auch die Grundfesten des Staates untergrabe! Das ist für die Fürsten ein Argumentum ad hominem! …“

Hunnius unterbrach sich, um diese Worte zu übersetzen …

Das greift den Fürsten an ihre eigene Krone! fiel Lucinde schon ein.

Wie? erwiderte er staunend. Aber kein Wunder, mein im Heiland geliebtes Fräulein! Niggl schreibt mir ja von Ihnen, daß Sie ein Wunder nicht nur in –

Bitte! unterbrach sie und ermahnte den sich ihr Nähernden zum Lesen.

„Die guten Folgen der Mission freuen uns!“ fuhr Hunnius fort. „Es muß uns glücken, über ganz Deutschland die Jesuiten als Prediger auszubreiten. Ich erwarte mit jedem Tage 2000 Missionszettelchen. Es wird alles 241 gut gehen! Ihr ergebener M. Alles zur größern Ehre Gottes!“*)

Lucinde dankte für das ihr geschenkte Vertrauen und wollte sich entfernen.

Es schlug von den Thürmen der Stadt schon ein Viertel elf Uhr …

Fräulein, sagte Hunnius, ich begleite Sie selbst zurück … ich stehe, obgleich geistig auf völlig anderm Boden, doch gesellschaftlich sehr gut mit der Dechanei … Bitte! Lesen Sie aber noch, was Niggl von Ihnen selbst geschrieben hat!

Da sie es wiederholt ablehnte, ließ Hunnius nicht nach … Es wird uns enger verbinden! sagte er mit Salbung. Es wird das Symbol unserer von ihm gewünschten Vereinigung werden! Wir haben dann ein gleichsam ausgesprochenes Bekenntniß, das sichere Fundament unsers Verständnisses, den geschriebenen Pact unsers Seelenbündnisses!

Der gute Curatus! sagte Lucinde sich zurückziehend und ließ die Vorlesung geschehen … theils um ihren neuen so schnell gewonnenen Freund zu zerstreuen, theils aber auch, weil sie auf diese Art allerdings erfahren konnte, warum Grützmacher hatte sagen können, er wäre über sie ,,ins Klare“ und Schulzendorf sie so scharf und wie eine mit Steckbriefen Verfolgte beobachtete.

„Mein innigstgeliebter und gefeierter Seelenfreund!“ las Hunnius (und diese Worte nicht ohne beschämt niederblickende Genugthuung), „Sie lernen mit diesem herzinniglichen Gruße nach langem, unverzeihlichstem Schweigen ein Fräulein Lucinde Schwarz kennen, wie man 242 sagt, die Tochter eines einfachen protestantischen Dorfschullehrers. Vor drei Jahren kam diese Seltenste ihres Geschlechts als Gehülfin in die Ihnen bekannte orthopädische Heilanstalt und wurde an demselben Tage, wo wir drei, Sie, mein innigstgeliebter Freund, Asselyn und meine Unwürdigkeit, die letzten Weihen empfingen, in plötzlicher Erleuchtung vom Geiste der Wahrheit ergriffen. In unserer ehrwürdigsten Kathedrale wurde sie von unserm hochwürdigsten Bischof selbst dem Schoose unserer gnadenreichsten Mutter einverleibt … Ja Ihnen, Ihnen, Hunnius, der Sie so ganz der Musik der menschlichen Seele in ihren tiefsten Accorden nachzulauschen verstehen – Ihr letztes Gedicht: «Myrrhe und Aloe» –“

Eine kleine Pause und Auslassung im Lesen war hier natürlich …

„Ihnen schreib’ ich“, fuhr Hunnius nach einigem Murmeln fort; „das Leben dieser Neugeborenen muß ein außerordentlich bewegtes gewesen sein! Da sie bald durch Anmuth und Geist hervorragte, so bildete sich, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt, in kurzem gegen sie eine Anfeindung, die eine Beschuldigung nach der andern gegen sie aufbrachte. Aber allen diesen Angriffen stellte Fräulein Schwarz ihre aufrichtige Wiedergeburt entgegen. Diese wurde ihr reiner, heller, metallener Schild, der sie gegen alles Ungebührliche schützte! Ihre Andacht wurde jene glühende Hingebung an die ewige Liebe, die auch nach dem Rauschen Ihrer Harfe, Hunnius, die Seele von allen Schlacken reinigt! Sie sah und sie hörte auf nichts, was sie umgab. Sie lebte nur ihrem Berufe, ihrem neuen Glauben. Ihre Augen, von denen sie behauptet hatte, 243 daß sie nie geweint hätten, obgleich sie Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, Glück und alles, nur die Ehre nicht, verlor, waren stets umflort von dem feuchten Schimmer frommer, wie vergessen gewesener Thränen. Führen Sie das einst aus, Hunnius, in einem Gedichte! Vergessene, verstockte, sitzen gebliebene Thränen! Wenn die einst zu strömen und zu rinnen anfangen! Diese Flut, dieser heilende Bethesdateich dann! … Diese Seele gestand mir oft, daß ihr alles Leid, was ihr je widerfahren, erst jetzt den Zoll der Thränen abforderte, daß sie über alles, worüber sonst ihr Auge trocken geblieben, nun erst nachträglich weinen müsse und – das ist der Triumph der Wiedergeburt! – weinen könne! Hunnius, ich sage Ihnen nur, Fräulein Schwarz blieb im genannten Institute einige Jahre. Sie hatte die besondere Obhut zu führen über Comtesse Paula von Dorste-Camphausen, jene Erbin, deren Lebensverhältnisse unsere Aufmerksamkeit jetzt so dringend in Anspruch nehmen! Der Vater derselben war gestorben; Vormund und Verwandte riefen sie zurück: es war in jenen Tagen, als uns auch Asselyn verließ, diese emporwachsende Ceder, diese edle Palme …“

Hunnius stockte wieder und überschlug auch jetzt einige Stellen …

„Um“, fuhr er, den Zusammenhang suchend, fort, „um bei Ihnen die Kaplanei zu St.-Zeno anzutreten. Laßt aber diese Seele nur anklagen! Laßt die Stimmen über sie getheilt sein! Laßt –“

Hunnius schien Anstand zu nehmen, der ganzen, hier den Tadel wiederholenden Wortfülle des Freundes zu folgen …

244 Lesen Sie alles, sagte Lucinde.

Es sind Anschuldigungen –!

O, auch das ist manchmal gut, erwiderte sie, zu wissen, was man von uns Uebles denkt!

„Die Stimmen sind getheilt“, fuhr Hunnius fast mit Lucinden über die Parodie seiner frühern Worte liebäugelnd fort. „Die einen sehen in ihr ein Wesen, das seiner persönlichen Eitelkeit alles opfert, ein herzloses, undankbares –“

Lucinde, die Arme übereinandergeschlagen, stand in einer Stellung wie ein furchtloser, unerschrockener Feldherr …

„Doch“, überschlug Hunnius beruhigt diese ominöse Partie, „unsere Stadt, Sitz einer Universität, einer starken Garnison, weiß nichts von einer irgend unpassenden Beziehung zu erzählen: größtentheils nur in unsern geistlichen Kreisen verkehrte sie. Aber sie kennen ja unsere Mit-Leviten! Sie kennen die Lauheit der Zeit, kennen die Bequemlichkeit unsers Standes, dem nichts störender ist als mitgearbeitet zu sehen an seinem Beruf auch von der Laienwelt aus! Niemand soll da reden, ohne gefragt zu sein! Niemand soll das Entzücken, das ihm der Glaube macht, in Bildern und Anschauungen wiedergeben, die über das Maß einer gewöhnlichen Erbaulichkeit hinausgehen! Da irrt nun eine glühende Seele von Beichtstuhl zu Beichtstuhl! Niemand weiß ihr ein Herz, ein Verständniß, eine Hingebung entgegenzutragen! Ihr Verstand ist diesen Menschen lästig und selbst unsere Collegen – brauche ich Ihnen die Namen zu nennen! – verkehren lieber mit der Gewöhnlichkeit, wenn sie nur Whist spielt! Hun-245nius! Wenn diese Feuerseele in der Dechanei so verbraucht würde! … Sie tritt dort als Gesellschafterin ein … Ich dachte an Sie, Freund, an Ihre Verbindungen, Ihre Beziehungen zu Ihrem Kirchenfürsten, an die ernsten und wichtigen Dinge, die von Ihrer hohen Warte aus das Zeichen geben werden für das übrige Deutschland! O, diese Convertitin hat für die Flammen, die in ihr lodern, noch keine Nahrung gefunden! Wer einen Schritt thut, wie sie, will ihn doch anerkannt sehen, will doch wissen, bezeugen, täglich bezeugen, warum er ihn that … Was thut man aber hier? Man fordert sie auf zum Vergessen, zur Ergebung! Immer diese Abneigung gegen Neugewonnene! Immer diese Kälte gegen den Enthusiasmus, der sich bewähren will! Convertiten, gehegt und gepflegt, sind ein Segen unserer Kirche; Convertiten, vernachlässigt, zurückgestoßen, einsam gelassen und wol gar zur Reue gedrängt, können ihr zur fürchterlichsten Geisel werden! Das Schicksal Lucindens ist in Ihrer Hand! Sie Schöpfer, Gestalter, Dichter! Vollenden Sie den Triumph dieser gottberufenen Bekennerin!“

Der gute Niggl! sagte Lucinde, als Hunnius diesen enthusiastischen Brief vollendet hatte. Er war seinerseits gerührt von den Schmeicheleien für seinen Genius; sie ihrerseits erstaunte, wie sie sagte, „über den langen Schatten, den sie würfe“ …

Ich lernte Niggl kennen, erzählte sie, als ich von ihm eines Tages erfuhr, daß er jeden Sonntag Nachmittag einen Kaffee für Damen gibt. Ich wurde neugierig auf einen so gemüthlichen Priester, erkundigte mich näher und ließ 246 mich eines Sonntags Nachmittags an sein Haus bei der Barfüßerkirche führen, wo er Curatus ist. Ich wollte, aufrichtig gesagt, die Damen belauschen, die bei ihm zum Kaffee kamen. Ich stand im Schatten der alten Kirche. Es schlug vier Uhr. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber. Der Kaffee begann nach vier. Wie ward ich beschämt! Welche Damen kamen! Erst eine Blinde, die von einem Kinde geführt wurde; dann kam eine kleine Buckelige, die stolz auf ihre Begleiterin hinaufsah, denn diese durfte nicht mit zum Kaffee, sie aber stieg zum Herrn Curatus hinauf! Nun kam eine Lahme an einem Krückstock! Jetzt fuhr ein Rollwägelchen vor und siehe, der Herr Curatus kam lachend und freudigst selbst die Stiege herunter und hob eine Person aus den Betten im Wägelchen, die nur dem Kopfe nach der Menschheit angehörte! Nach unten zu hing ein Körper, der völlig schlaff, ja nur eine einzige unförmliche und unausgebildete Masse war. Es war ein Mädchen von vielleicht dreißig Jahren und ein halbes Kind! Der Curatus trug sie auf seinen Armen in seine Wohnung und in seinen Kaffee. Nun band ich mir, wie eine Augenleidende, mein Taschentuch über die Stirn und tastete mich auch hinauf. Da war denn eine Damengesellschaft beisammen aus lauter Blinden, Tauben und Gichtbrüchigen, und sie war so lustig, so vergnügt wie jeder andere Damenkaffee auch, wenn es nur etwas zu lästern gibt! Unser kindlicher Niggl hatte nur immer zu dämpfen, daß wir die gesunden und schönen Menschen nicht auch zu schlecht machten!

Ja, wo gibt es solche Entsagungen wie in unserer Kirche! 247 rief Hunnius. Wo solche muthvollen Bewährungen! Solche Triumphe dann auch und solche Belohnungen wieder!

Er erörterte dann die Situation, in der sich Lucinde in der Dechanei befinden würde. Er wiederholte öfter seine Bitte um Discretion wegen der von ihm vorgelesenen Briefe. Er warnte vor der Erwähnung der Jesuiten, die man von obenher noch verfolge wie Verbrecher, und doch wären sie die Sehnsucht aller Gläubigen! Schon wenn einmal ein einzelner Mönch außer Clausur leben sollte, kostete das die größte Anstrengung …

Wer ist dieser Pater Sebastus? warf Lucinde erbebend ein.

Pater Sebastus, sagte Hunnius, ist erst seit kurzem aus der Dunkelheit eines Klosters bei Witoborn in der Residenz des Kirchenfürsten erschienen. Seine außerordentlichen Geistesgaben wurden die Veranlassung, daß man ihm gestattete, auf einige Zeit seine Zelle zu verlassen. Man weiß nicht, soll man seine Begeisterung für das Interesse der Kirche höher anschlagen oder seinen Lebenswandel. Sie sollten doch schon, mein’ ich, von diesem Mönch gehört haben, der den Gelübden seines Ordens gemäß sich die größten Entbehrungen auferlegt! Sebastus lebt nur von dem, was er sich erbettelt hat! Er geht auf die Dörfer in der Umgegend der Residenz mit einem alten Topf in der Hand, um sich selbst die Mahlzeit von den Thüren zu holen; er geht gerade vor die Thüren, wo er in Erfahrung gebracht hat, daß hier die geizigsten Herzen wohnen! Zum ersten male nach Jahren wieder gestattete er sich heute bei mir eine Cigarre und kaum ein halbes Glas Wein!

248 Lucinde war von einem Schauer durchrieselt. Diese Entbehrungen paßten für das Bild nicht, das von Klingsohrn noch in ihr lebte, und doch war er es! Klingsohr mit einem Topf vor Bauerhäusern! Klingsohr nicht rauchend, nicht trinkend! Und doch war er es – der Stadtpfarrer nannte ihn Heinrich Klingsohr und erzählte den Tod seines Vaters – vor ihren Augen stand das Christusbild, an das er einst ihren Hut gehängt hatte mit den Worten:

Am Bilde des Erlösers
Hängt ihr pariser Hut …
Und ihre dunkeln Locken
Netzt heil’ger Wunden Blut …

Da Hunnius sie in die Dechanei zurückzubegleiten versprach, störte beide der Schlag der elften Stunde nicht.

Er machte der sinnend Träumenden die lebhafteste Schilderung von dem Leben in der Residenz des Kirchenfürsten. Er gab Lucinden den Einblick in eine geheimnißvolle geistige Werkstatt, von der sie die Ahnung gehabt hatte, ohne die Thür zu finden, die ihren Eingang bildete. Sie sah, was sie in Bonaventura’s Nähe schon oft zu erblicken geglaubt hatte, nahe und entfernte Ziele, sah Zusammenhänge von Zuständen und Personen, erblickte ein harmonisches Vereintwirken, ein lautloses, geräuschloses und dennoch von ersichtlichen Wirkungen begleitetes. Ob auch kein deutscher Staat mehr vom Krummstab regiert wird, gibt es doch geistliche Höfe, gibt es geheime Sitzungen in geheimen Cabineten und Anekdoten und geheime Verkehre aller Art. Auch das erfuhr sie: Einflußreiche Frauen stehen diesen geistlichen Höfen nahe. Der Reiz des Verschwiegenen verbindet die Geister und 249 die Gemüther. Stürmisch und fest ist der Wille, aber zurückhaltend die Form, ihn zu äußern; unhörbar geht, wie auf unsichtbaren Teppichen, der Schritt, und dabei keine wilde Zumuthung, nichts Rohes, nichts Begehrliches. Das Streben nach Läuterung und Religion ist äußerlich die Oriflamme und das heilige Feldzeichen dieser ganzen geisterhaften Bewegung und doch bringt man duldsamst dabei die menschliche Natur in Rechnung. Man setzt das wahre Verdienst eben immer nur in den Kampf mit der Sünde, nicht in den Sieg über sie. Und wie gering auch die innere Treue Lucindens für Religion überhaupt war, Haß für alles Norddeutsche und Protestantische hatte sie. Ihre ganze Vergangenheit hatte sich in das verwandelt, was ihr neuer Glaube bekämpfte. Und von diesem Gesichtspunkte aus war sie den Gesinnungen ihrer jetzigen Freunde verwandt. Galt es Kampf, so empfand sie die dämmernden Schauer ihres neuen Bekenntnisses, ja empfand sogar den Reiz, daß in alle diese Intriguen die langen Schatten der Kirchen fielen, die Glocken der Dome läuteten, die Farben der priesterlichen Gewänder blitzten. Bis in die unabsehbare Ferne war die wühlende Ahnung freigegeben: in die Ferne des Raumes sowol wie in die der Zeit. Vor allem prangte Rom durch die Nebel hindurch wie die Stadt des ewigen Sonnenscheins! Dort fand der müdeste Fuß auf den Trümmern der Jahrhunderte einen schattigen Ruheplatz, das wundeste Herz Heilung in den Melodieen der Sixtinischen Kapelle; der Blinde wurde dort sehend, der Taube hörend; alles lief aus und vereinigte sich in dem Centralnervensitz des historischen Eu-250ropa … Dies Bild war es, das Lucinden aus halben und träumerischen Zuständen, aus bitterer Lebenserfahrung und nicht immer selbstverschuldeten Kränkungen einst in den Schoos jener Kirche geführt hatte und darin festhielt und ermunterte und bestärkte, alles zu unternehmen, alles zu wagen, was die Umstände von ihr verlangt hätten, wenn sie damit nur den Beifall und die Liebe Bonaventura’s hätte gewinnen können!

Nun brach sie auf.

Der Stadtpfarrer, glücklich über diese Eroberung, fast getröstet über die Censurstriche, holte seinen Hut.

Schon hatte er auf ein Bücherbret gelangt und gab ihr ein Buch zum Andenken an die eben erlebte Stunde.

Es war eine neueste Sammlung seiner Gedichte, die „Saronsrosen“.

Er ergriff eine Feder, zeichnete auf das Blatt vor dem Titel ein Kreuz und in dies hinein ein flammendes Herz und seinen Namen.

So gab er’s Lucinden und vergaß vor Aufregung den Streusand.

Lucinde trug das Blatt offen und versprach, mit Aufmerksamkeit in den Gedichten zu lesen.

Hunnius nahm die Lampe und rief seiner Wärterin … Er wollte mitgehen …

Indem aber klingelte es heftig.

Der Druckerbursche! rief es in allen seinen Nerven.

Und in der That – ein Knabe kam – kam mit einem hoch emporgehaltenen Blatte!

Von Instanz zu Instanz kehrten erst jetzt die von Hunnius gemachten Aenderungsvorschläge zurück … 251 einige waren angenommen worden … bei andern verlangte man am Rande noch diese und jene Milderung … einige Bilder waren gerettet … Hunnius konnte vor Freude sogar jetzt Lucinden vergessen.

Der Bursche erklärte, daß die Censur noch warte, ebenso wie die Presse seines Herrn. Wenn der Herr Stadtpfarrer noch sofort die Aenderungen machte, konnte die Nummer in der ersten Morgenfrühe noch gedruckt werden …

Schon rief Hunnius, sich nun mit seinen Redactionspflichten entschuldigend, seiner Magd. Aber Lucinde sagte:

Lassen Sie, Herr Pfarrer! Ich finde den Weg! Es ist Mondschein! Wirklich, wirklich! Bitte, bleiben Sie!

Hunnius mußte den Burschen, der allenfalls auch noch Lucinden hätte führen können, zurückbehalten … seine Magd war nicht die flinkste … er zögerte noch, als Lucinde schon mit den Worten: Beruhigen Sie sich, Herr Stadtpfarrer! Ich finde den Weg! – unten schon vor der Hausthür und verschwunden war …

Lucinde war allein.

Sie schritt durch die still gewordene Stadt über den mondhellen, jetzt menschenleeren Marktplatz dahin …

Ach, sie kannte solche Nachtbilder kleiner Städte aus der Zeit her, wo sie mit der unglücklichen Gauklerfamilie über die norddeutschen Heiden gezogen … Sie kannte diese Brunnen, die da rauschten, diese Linden, die da so klein und verkrüppelt an einer Straßenecke stehen. Hier in einem Giebelfenster erlischt ein Licht, dort geht eins auf … Hier jammert ein Kind, das von seinen Träumen geängstigt wird und eine Mutter spricht liebe, beruhigende Worte … dort bellen zwei Hunde wachsam um die Wette … 252 Sie hatte das alles so oft erlebt, mit demselben Mondlicht, derselben Stille, immer in einer andern geistigen Beleuchtung … Heute?! … Sie liest noch die Schilder der armen Schuhflicker und Schneider … sie sieht den schwarzen Mohrenkönig an einem Laden, durch dessen geschlossene Thür ein Schiebfensterchen erleuchtet ist, eine Apotheke, wo vielleicht für Frau Ley der letzte Linderungstrank bereitet wird … Dort ein Gasthof: Zum Riesen! Der Goliath steht über dem Thorweg, der noch offen ist … Sie sieht das stattliche Reisecoupé Thiebold’s de Jonge unter ihm … Oben vier Fenster erleuchtet … Zechen dort oben vielleicht noch Benno von Asselyn und seine Gefährten und erzählen sich Anekdoten und verhöhnen die Würde der Frauen und lachen über das, was andern Schmerzen bereitet, über Porzia, über Hedemann? … Gerade so wie sie einst Klingsohrn so unter seinen Freunden wußte, den Weltenstürmer, den jetzt mit dem Topfe Bettelnden!

Sie konnte über Hunnius nicht lachen. Es lag selbst in den „Saronsrosen“, wo endlich das Kreuz mit dem Herzen getrocknet war, nach ihrer gegenwärtigen Stimmung etwas vom allgemeinen Schmerz des Lebens und vom bittersten Weh der Welt… Denn ist nicht das größte Weh Blindheit, Thorheit, Anmaßung, Kampf und Wahn und leidenschaftliches Ringen und das Ganze ein so tief entmuthigendes Durcheinander?

Nun überfiel sie auch noch die Furcht vor der Rückkehr in die Dechanei …

Wenn die Pforte geschlossen war! Wenn sie klingeln mußte!

253 Immer zaghafter wurde ihr ums Herz …

Langsamer und langsamer trat der müde Fuß …

Sie kam bei den Stufen an, die zur Kathedrale von St.-Zeno hinaufführten …

Hier war es dunkel …

Hier mochte sie sich niederlassen, sich ausweinen … vor Schmerz über die Welt und über sich selbst … Nur die Todten die Ihrigen! Auf der Erde nur die – die sie nicht mochten, oder die – die sie nicht mochte! Und sie mußte sich sagen: Ihr, die ihr mich haßt und fürchtet, gewiß, ihr habt ja Recht!

Mühsam, bangend und zagend stieg sie die Stufen empor …

Ringsum die kleinen Häuserchen …

Sonst war sie in solchen Lagen so oft versucht gewesen, den Leuten Nachts von den Fensterbretern ihre Blumen aus den Töpfen zu stehlen! Sonst langte sie im Springen nach einem Hanfbüschel hinauf, das als Wahrzeichen eines Zwirnverkäufers vor einer Thür hing! Sonst jagte sie, wie die alte Hauptmännin, Ratten und Mäuse auf und lief ihnen nach, die Katze spielend … und wenn etwa dann Männer sie verfolgten, so blieb sie stehen, ließ diese an sich vorübergehen und erwiderte ihre Anreden auf englisch oder italienisch fest und bestimmt: Ich kenne den Weg!

Langsam zählt sie heute dreißig Stufen, die zur Kathedrale hinaufführen …

An jeder fünften steht, wie auf einem Calvarienberg, eine steinerne Gruppe der Leidensgeschichte … frisch, übertüncht mit grünlichweißer Oelfarbe … frisch vergoldet an den Heiligenscheinen und Gewändern …

254 Wie sie eben an der letzten Gruppe der Grablegung vorüber ist, wie sie quer über den den Dom umgebenden freien Platz zu der zweiten, niederwärts zu dem Park der Dechanei führenden Treppe kraftlos schreiten will, strahlt ihr plötzlich an dem im Schatten liegenden altehrwürdigen St.-Zenotempel ein magischer Lichtglanz entgegen.

Von dem übrigen Mondschein weicht er völlig ab.

Sie blickt noch einmal hin und wiederholt sich das Wunder von Damascus?

Lichtumflossen tritt ein Priester im Ornat auf sie zu …

Es ist Bonaventura, ihr Heiliger …

Lucinde verbirgt sich hinter der Grablegung …

Bonaventura kommt aus der Sakristeithür, die im Dunkel liegt und beim Geöffnetwerden den von der entgegengesetzten Seite, wo der Mond steht, durch ein buntes Fenster hereinfallenden Lichteffect verursachte.

Es ist Bonaventura in Priestertracht, begleitet von einem weißgekleideten Knaben und einem Meßdiener.

Alle drei kommen, nachdem der Meßdiener die Sakristeithür wieder verschlossen, still und schweigsam näher. Sich unbemerkt glaubend, schreiten sie die Stufen zur Stadt hinunter …

Bonaventura hält das Hochheiligste, der Meßdiener trägt Brevier und Rauchfaß, der Knabe klingelt …

Wer etwa in den Straßen noch verspätet ging, neigte sich. Wer es auf seinem Lager hörte, sagte: Das ist der Dechant! Er geht unten an den Fall zur sterbenden Frau Ley!

Lucinden war es, als wenn sie jetzt Schutz gefunden hätte. Bonaventura mußte in die Dechanei zurück! Konnte sie es nicht unter seinem Beistande thun?

255 Aber auch so und war dies alles auch nicht, doch zog es sie unwiderstehlich …

Sie mußte folgen.

Es klingelte … und klingelte … Dahin … dahin … immer voraus schritt das Sakrament …

Endlich hörte man ein rauschendes Gewässer daherstürzen. Es war der Fall. Ueber ein Brücklein mußte man noch gehen, auf dem ein St.-Nepomuk den Gruß der Vorübergehenden empfing … Die Zahl derselben mehrte sich … Wol ein Dutzend Menschen aus dem Volke schloß sich dem klingelnden Knaben an, so spät auch die Stunde schon vorgerückt war … Es kam ein ganz vertrockneter Lindenbaum und ein Haus, in das sie eintraten …

An der Wand neben dem Thorweg fand Lucinde die verrosteten Haken, von denen der Dechant erzählt hatte …

Noch stand der Hackeklotz im Gange …

Auf dem steinernen Estrich der Vorflur ging eine Rinne, durch welche sonst das Blut floß aus dem im Hofe befindlichen Schlachthause.

Unter den Anwesenden, die der Hostie gefolgt waren, fiel Lucinde noch nicht auf. Meist waren es Frauen. Sie hielten sich in der Vorflur, während eine Thür geöffnet wurde, durch die man in ein hinteres Zimmer sah, wo die Sterbende lag.

Bonaventura schritt durch einige Betten hindurch, wo ruhig die kleinern Kinder der sterbenden Mutter schliefen … Treudchen Ley und ein Bruder, der den Dechanten nun doch noch gerufen hatte, lagen über dem Bette der Mutter ausgestreckt und schluchzten …

Der so überraschend statt des Dechanten gekommene 256 geliebte Priester nahm von dem Ministranten das heilige Oel, um damit seine Finger zu netzen. Mit diesen berührte er die einzelnen Theile des Antlitzes der Sterbenden …

Für Bonaventura konnten Menschen zugegen sein, die noch heftigere Wallungen in ihm hervorgerufen hätten als Lucinde, er würde nicht auf sie geachtet haben. Er ließ die Sterbende, die ihn noch erkannte, mit einem matten Aufblick die ganze letzte Freude empfinden, an seiner Hand aus dem Irdischen hinausgeleitet zu werden. Mit groß und geisterhaft aufgeschlagenen Augen sah sie auf seine hohe Gestalt und zupfte mit den unruhigen Fingerspitzen an der Decke, bis ihre Tochter, wie wenn sie Wünsche hätte, sich ihr näher beugen mußte. Ihr Wunsch war nur, noch so viel Schärfe des Gehörs zu besitzen, die milde Stimme des geliebten Priesters zu hören.

Bonaventura salbte die Sterbende mit leise begleitenden Worten an den von der Kirche vorgeschriebenen Theilen, an denen, welche die Organe unserer Sinne, unsers Willens und unserer Sünden sind. Mit Auge, Ohr, Geruch, Mund, Hand und Fuß sind wir an die Sinnenwelt gebunden: die Lösung von ihr, den Abschied und die Trennung bezeichnet die Berührung mit dem, wie man sagt, schmerzenstillenden Oel …

Bonaventura’s Gebet übertönte das laute Weinen …

Herr, unser aller Gott, sprach er, erquicke die Seele, die du geschaffen hast! Reinige sie von allen Sünden und Makeln, damit sie würdig werde, durch die Hände der Engel dir dargestellt zu werden! Durch Jesum, unsern Herrn!

257 Die Seele der armen Metzgersfrau war schon vor dem Amen! zu der ihr nun gelinderteren Pein des Fegfeuers entflohen.

Treudchen benahm sich mit großer Standhaftigkeit. Das auffallend schöne Kind war blaß, zart, tief verhärmt, tief erschüttert und doch blieb sie umsichtig …

Als die Sterbende geendet hatte, drückte der Leiche jemand von den Nähergekommenen die Augen zu. Es war eine hohe, kräftige weibliche Gestalt. Sie trug ein gelbrothes Tuch um den Kopf gewunden und mußte eine Jüdin sein …

Und dicht hinter ihr stand ein Protestant, Nachbar Grützmacher, der würdige Wachtmeister…

Er begrüßte Lucinden, die nun vortrat und jetzt erst von Bonaventura bemerkt und erkannt wurde …

Muß man erleben den Gegenstand! sprach inzwischen mit lauter alles übertönender Stimme die Jüdin … Eine Frau so sanft wie ein Lamm! Ein Engel! Muß ich sie noch sehen, wie sie ist gelaufen über Land und hat die Bauern gebitt’t und gebettelt, daß sie bringen sollten ihren Mann wieder auf die Füße! Wie hat sie die paar Thälerchen, die sie hatte gespart oder geborgt gekriegt, gezeigt und damit geklimpert, als wenn die Leute machten das rarste Geschäft um ein Ferkelchen, das sie dann haben mitgenommen und nach und nach aufgezogen mit Glückseligkeit, wie, Gott verzeih’ mir’s, ’nen polnischen Ochsen! Und das Treudchen da! Hat sich das Kind nicht die Augen ausgenäht und ausgestichelt und hat sie nicht gekriegt an die Fingerspitzen ganz ’ne rauhe Hand! Ein 258 Mädchen so rar! Schön genug für ’ne Prinzessin! Und die guten Kinder! Gott soll sie segnen!

Während Grützmacher mit Bonaventura und dem Arzte flüsterte, küßte Treudchen Ley Lucinden die Hand und dankte für die „Ehre“ ihres Antheils. Sie nannte die Sprecherin Frau Henriette Lippschütz. Es war die Hasen-Jette, die Wildprethändlerin, die Witwe des jüdischen Metzgers, der die Kundschaft der Leys geerbt und der nun auch schon wieder andern Platz gemacht hatte.

Fräulein, wenn sie jetzt hier haben was zu nähen – fuhr, Lucinden richtig unterbringend und sich ihr zuwendend, die Hasen-Jette fort – feine, feinste Spitzen: geben Sie’s nicht anders als an das Treudchen! Weine nicht, Kind! Du bist nicht verlassen! Dein Toni, dein Edi … alle kommen sie in die große Stadt, ins neue Waisenhaus, wo die Kinder leben wie die Prinzen! Sag’ ich dir, Treudchen, Betten! Staatsbetten! Kauft die Stadt alle Federn von mir und die Decken hat mein Bruder geliefert! Gott! Was wird der Löb sagen, wenn er nach Hause kommt und findet Frau Ley nicht mehr – der Löb mit seinem gefühlvollen Herzen!

Bonaventura kannte auch den Löb, den Bruder der Frau Lippschütz, den berühmten Gütermakler und Handelsmann Löb Seligmann. Er durfte diesen Empfindungen einer einzelnen einen gemeinsamen Ausdruck geben. Noch sprach er, nicht als Geistlicher, sondern als Bekannter und Freund der Bewohner von Kocher, laut einen herzlichen Nachruf, tröstete die Kinder und ging zuletzt mit Grützmachern und dem Arzte.

259 Als er sich mit ersterm über die vergebliche Verfolgung des Leichenräubers verständigt zu haben schien, bildete sich wieder jener Zug, der die Monstranz in die Kathedrale zurücktrug.

Lucinde folgte … Wie mußte sie ihrer eigenen Jugend und ihrer Geschwister gedenken! … Das neue Waisenhaus!

Es schlug zwölf, als Lucinde übermüdet wieder die Stufen zum Dome hinanstieg und wartete, bis Bonaventura aus der Sakristei zurückkehren würde.

Endlich kam er … in seinen gewöhnlichen Kleidern.

Ich muß mich Ihnen anschließen! sagte sie. Ich hatte Briefe an den Stadtpfarrer zu überbringen, deren Eile ich ganz vergessen hatte! Ich hielt mich zu lange im Gespräch mit ihm auf, folgte dann Ihrem Zuge zum Sterbebette und muß nun unter Ihrem Schutze in die Dechanei zurückkehren! Kann ich es thun, als wenn ich überhaupt nicht abwesend gewesen wäre, desto lieber! Ich fürchte Frau von Gülpen und ihre üble Auslegung!

Bonaventura, der Frau von Gülpen’s strenge Auffassungen kannte, erbot sich gern zu dem gewünschten Beistand. Er war so menschlich in allem und kein Haarspalter und kein Mückenseiger …

So gingen beide in den Park hinunter.

Wie tobte es jetzt in Lucinden, wie stockte ihr Athem! Und doch dies ruhige Gespräch über die Vorgänge der letzten Nacht, über Grützmacher’s Nachrichten, über Benno, Hedemann, die Herbstübungen, den kürzern Weg da oder dort, die Leidensfamilie, die eben verlassene, wie-260der dann die Baumalleen, die Boskete, Windhack’s Sternwarte …

Darauf hin kannten sich beide schon … So konnte sie neben ihm gehen, wie eine Nachtwandlerin auf haushoher Zinne, jeden Augenblick den Niedersturz drohend – so er, gleichsam den Arm schützend und schon zum Auffangen ausgebreitet über sie gehalten und doch vom Gleichgültigsten plaudernd und scherzend sogar …

Wie der Geliebte dann den Hausschlüssel zog, öffnete, sie zuerst in das stille Vorhaus ließ, erklärte, zwar unten zu wohnen, aber sie doch bis hinauf begleiten zu wollen, wie sie dann ihn zum leisern Sprechen ermahnte, seine Begleitung ablehnte und er doch noch eine Stiege lang folgte – sollte es ihr da nicht wieder sein, wie schon oft, als müßte sie vor ihm niedersinken und ihn anflehen: Tritt lieber mit deinem Fuß auf mich, du Entsetzlicher, Kalter, Unerbittlicher! … An seiner Brust hätte sie jetzt ruhen, jetzt sich ausweinen, auslachen mögen … und er sagte nichts als: Gute Nacht, Fräulein! Sagte das ihr, die noch jung, noch schön war, die Huldigungen erlebt hatte, wo sie nur irgend erschienen war, eine Siegerin über so viel Männer von Reichthum, Ansehen, Geist … Gute Nacht, Fräulein … Und das in tiefster Stille … im nächtlichen Dunkel …

Die zweite Stiege in ihren Entresol glaubte sie allein gehen zu können … Sie hauchte ihm das in stammelnden Worten so hin …

Sie ging langsam … halb ohnmächtig vor Schmerz über das eine „Gute Nacht, Fräulein!“ …

Alles ringsum war dabei still … niemand bemerkte 261 ihre Rückkehr … vielleicht hatte auch niemand ihr Weggehen bemerkt …

Sie mußte sich an dem eisernen Gitter der Treppe halten, als sie langsam hinaufstieg …

Bonaventura war nicht mehr hörbar …

Auf dem Corridor der zweiten Etage blieb sie stehen und holte einen tiefen, tiefen Athemzug … Dann erschreckte sie plötzlich ein Geräusch wie von einem auffliegenden Vogel …

Es war der Pfau, der ihr neugierig, hoch aufgerichteten Hauptes entgegenschritt.

Sie entlief ihm fast bis an die Thür ihres Wohnzimmers … Das Thier sah so gespenstisch aus …

Ihr Wohnzimmer lag am Aufgang zu einer dritten Treppe, die schon ins Dach und zu Windhack’s Sternen führte.

Wie sie in Eile rasch nur und um unbemerkt in ihr Zimmer zu kommen den Schlüssel drehte, wandte sie sich um, sah eine Weile ins Leere, schrie dann aber fast auf … sie glaubte im ersten Augenblicke ein Gespenst zu sehen …

Es war, mit einem Lichte in der Hand aus einem der Corridore des Geviertes, in dem die Dechanei gebaut war, tretend, die leibhaftige Frau Hauptmännin von Buschbeck …

Dieselben funkelnden Augen aus dunkeln Höhlen, dieselbe aus Haube und Schleife hervorschießende spitze Nase, dasselbe Drehen und mühlsteinartige Schroten der zahnlosen Kinnladen …

Aber es war kein Gespenst … Es war die Schwester 262 ihres alten Nachtunholdes … es war Frau Petronella von Gülpen – ohne die Verschönerungen ihrer Toilette …

Auf die aber auch von Seiten der Frau von Gülpen wie zum Tod erschrockenen Worte: Aber, mein Fräulein! Wo kommen denn Sie noch so spät her? Wo denn – um Jesu Wunden willen – waren – Sie – denn die – ganze Nacht – über –? verschwand Lucinde …

Frau von Gülpen, die nur in diesem ihrem äußersten Négligé und sogar ohne ihre Zähne ihren unruhigen Lolo aufgesucht hatte, war noch mehr erschrocken gewesen als Lucinde …

Lucinde hätte in diesem Augenblick den Pfau erwürgen können.

Ohne eine Antwort gegeben zu haben, war sie in ihrem Zimmer verschwunden.

Immer noch hörte sie den knirschenden Sand auf dem steinernen Estrich draußen, immer noch hörte sie das Huschen des Pfaus, der neben der wie eine Juno keinesweges schönen, aber wie Juno mindestens ebenso zornigen Frau stand und sie mit seinem hoffärtigen kronengeschmückten Kopfe angestarrt hatte …

Es ahnte ihr für den folgenden Tag nichts Gutes …

Freilich so bitter, wie ihr wieder der Kelch des Lebens geschenkt wurde, ahnte sie die Folge nicht …

Als sie nach einer ganz sanft verschlummerten, ganz außerordentlich erquickend gewesenen Nacht erwachte und die Sonne wundergolden in ihr Stübchen schien und das sogar verschönerte und das sogar behaglich machte, als sie dann das Fenster öffnete, den erquickendsten Lindenduft einsog; als sie in der Ferne schon den zweiten Tag der militärischen 263 Uebungen durch Trommeln und Pfeifen angekündigt hörte, erhielt sie von Windhack das Frühstück überbracht …

Er stellte es hin, während sie gerade an ihrem Haar kämmend vor dem Spiegel saß und sich in einem weiten Toilettenmantel verstecken mußte, und ging …

Wie sie aufgestanden war, bemerkte sie beim Frühstück ein Billet.

Es war mit Geld beschwert …

Sie öffnete, las – ein Moment entschied alles …

Sie las die kurzen Worte:

„Ich ersuche Sie, mein Fräulein, noch im Laufe des heutigen Tages unwiderruflich die Dechanei und für immer zu verlassen. Petronella von Gülpen.“

Sie griff an ihr Herz. Im ersten Augenblick hatte es aufgehört zu schlagen.

264 10.#

Zur selbigen goldenen Morgenfrühe saßen der Dechant und Bonaventura in des erstern traulichem, dufterfülltem Studirzimmer zum Frühstück …

Nach der löblichen Sitte katholischer Geistlichen wandelten sie nicht etwa noch in Schlafröcken und Pantoffeln, sondern waren schon ganz in ihren üblichen schwarzen Kleidern.

Nun erst, an der Morgensonne, nahmen sich die grünen Decken und seidenen Vorhänge über den Büchergestellen, Bildern und Alabasterstatuetten, die schön eingebundenen Kupferstichsammlungen, französischen Ganzfranzbände mit dem Wappen der Asselyns besonders freundlich und vornehm aus. Nichts sah vergilbt, verblaßt aus. Die vielen Bekanntschaften, die der Dechant in der Nähe und Ferne sorglichst pflegte, hielten alles jung und angehörig der heitersten Gegenwart …

Schon längst war zwischen Oheim und Neffen über ihr verschiedenartiges Verhalten zu ihrem gemeinschaftlichen Beruf ein Abkommen getroffen. Bonaventura liebte den Oheim wie seinen Vater … Er konnte noch 265 jetzt, wie einst als Kind, die weiße, wohlgepflegte Hand des Greises an seine Lippen ziehen: so zärtlich empfand er für ihn … Sammelt sich doch ohnehin der zurückgestaute Schatz von Liebe im Herzen eines katholischen Priesters und muß irgendwie und irgendwo hinausströmen, um das übervolle Herz nicht zu zersprengen!

In Bonaventura war dieses Bett seiner Empfindungen die Kirche, sein Beruf, seine Heerde … und doch konnte er den Dechanten seinen weisen, menschenfreundlichen, lieben Philosophen nennen und der Dechant wieder nannte ihn seinen Heiligen, seinen künftigen Franz von Sales oder Carlo Borromeo und decretirte ihm, wie Paula, die Seherin, noch einst die Mitra eines Erzbischofs, den Purpur eines Cardinals.

Von dem Liebesdienste, den ihm gestern in so später Stunde gleich nach seiner nicht mehr erwarteten Ankunft Bonaventura abgenommen, wurde nicht viel gesprochen. Das Kommen und Gehen der Menschen, Geburt, Leben und Tod ist die tägliche Erfahrung dieser Männer, wie beim Arzte das Befinden ihrer Patienten …

Dennoch blickte der Dechant düster und mit schmerzlicher Miene in den sonnenhellen Morgen, in die geöffneten Fenster, die grüne Linde und das Hüpfen der gezähmten und an die Brosamen des Frühstücks gewöhnten Vögel.

Diese wagten sich vor zwei Bewohnern heute nicht ins Zimmer. Bonaventura war eben im Begriff, mit einem Körnchen weißen Brotes einen der Spatzen zu überzeugen, daß sich durch ihn hier nichts geändert hätte, daß jeder Hungerige getrost kommen könnte auf den 266 Frühstückstisch, wo in altem geschnörkelten Porzellan Chocolade servirt wurde, die dem Dechanten, wie er behauptete, das Blut erwärmte und ihm mehr Lebensstimmung gäbe, als der nach ihm die Melancholie nährende Kaffee …

Er bereitete sich diese Chocolade, auch nachdem er die Messe gelesen – das Messelesen selbst mußte nüchtern geschehen – mit eigener Hand … Windhack brachte dann siedendes Wasser, das auf einer Theemaschine im Kochen erhalten wurde. In ein kleines Gefäß wurde das Wasser durch einen Hahn abgelassen und während es langsam strömte, mußten die dünnen Scheibchen der Chocolade, die der Dechant dem Strahl entgegenhielt, schmelzen. Nach jedem geschmolzenen Stücke quirlte er die gewonnene Auflösung, die er so oft mit neuen Täfelchen wiederholte, bis sein Geschmack getroffen war. Er behauptete, diese Art der Chocoladebereitung wäre die einzig richtige. Er hätte sie einst von seinem Bruder Max, Benno’s Adoptivvater, gelernt, als dieser aus Napoleon’s in Spanien kämpfender Armee verwundet zurückkehrte und damals ein Knäblein von wenigen Monaten mitbrachte gen Borkenhagen, wo er zum besten der ganzen Familie Landwirth werden wollte, unsern Benno, der indessen dem Haarrauch acclimatisirt und der Familie längst wie ein geborener Angehöriger war.

Die heute so düstere Miene des Dechanten galt zuvörderst dem Mismuth über die abendlichen Enthüllungen wegen Lucinden. Noch wußte er nichts von dem nächtlichen Vorfall und der bereits schon definitiv erfolgten Kündigung. Bonaventura gab Lucinden sogar das Zeugniß, 267 daß sie dem Onkel eine anregende, originelle, wenn auch die Menschen etwas wirr durcheinander hetzende Unterhaltung werden könnte. Da wird nichts helfen! sagte der Dechant. Ihre Erscheinung ruft bei uns Erinnerungen wach, die wir fern halten müssen! … Bonaventura wußte, wie wenig gern der Dechant an Schloß Neuhof erinnert wurde … doch hielt er Lucindens Bleiben für so entschieden noch nicht gefährdet, als es war.

Dann hatten die Briefe sehr aufregend auf den Onkel gewirkt, die Angelika Müller durch Benno und Hedemann geschickt hatte und die letzterer schon gestern Nachmittag abgegeben … Von Benno sah und hörte man nichts.

Endlich aber und vorzugsweise galt die düstere Stimmung einigen auf einem Nebentische ausgebreiteten wunderlichen Gegenständen, die im ersten Augenblick vielleicht einem Eintretenden nicht einmal wären aufgefallen, da sie den allgemeinen Nippcharakter des ganzen Mobiliars trugen.

Auf dem Tischchen, einem jener zierlichen von Mahagoni, die zu den kleinen Spielpartieen in der Dechanei gebraucht wurden, lagen eine zerbrochene goldene Uhr, ein Gemshorn, ein grüner Schleier, eine Spielhahnfeder, ein Klappmesser mit vielen eingeschlagenen Klingen und ähnliche Gegenstände von verwittertem und verrostetem Aussehen.

Dies waren die Sachen, die man in dem Sarg des alten Mevissen gefunden hatte.

Warum hatte der Alte diese Dinge so gehütet? Warum hatte Mevissen, der in seinem eigengezimmerten Sarge schlief, eine so große Furcht vor ihrer Entdeckung gehabt? Wie hing, da Bonaventura sehr bald 268 aus der Uhr und einem Namenszuge des Messers erkannte, daß diese Gegenstände einst seinem Vater gehört hatten, ein dem Werthe nach so unbedeutender Besitz zusammen mit der Furcht des alten Begleiters seines Vaters, sie durch den Tod in andere Hände gelangen zu wissen? Warum hatte er, wenn er diese Gegenstände der Welt und ihrem Verkehr entziehen wollte, sie nicht vernichtet? Die Uhr, das Gemshorn, das Messer ließen sich vielleicht nicht so leicht zerstören; was aber sollte noch die Aufbewahrung des grünen Schleiers und der Spielhahnfeder?

Die Unfähigkeit, sich alle diese Fragen zu beantworten, beunruhigte auch Bonaventura so sehr, daß er wegen dieser theuern Reliquien zu seinem Oheim gereist war.

Der Dechant freilich sagte, als er soeben mit Rührung diese Erinnerungen an seinen Bruder Fritz gemustert hatte, er wisse wohl, wie diese Gegenstände mit dem unglücklichen Ende desselben in Verbindung zu bringen wären. Er könne nur nicht erklären, warum der Diener, dessen Anhänglichkeit und Treue eine seltene und erprobte war, auf diese Andenken einen so ganz unbegreiflichen Werth gelegt hätte.

Ja, fuhr Bonaventura fort, wie konnten diese Dinge damals bei dem theuern Todten selbst fehlen, da Sie doch, wie ich hörte, so manche andere Andenken bei ihm fanden, den Trauring meiner Mutter, das Portefeuille mit seinem letzten Willen, die Wäsche, die er in einem Reisesack trug, als er durch das Val de Bagne über den St.-Bernhard nach Aosta wollte, sogar die Schaumün-269zen, die er in der sogenannten Jupitersebene noch gefunden? Wie ist überhaupt der Tod meines Vaters verbürgt! Begruben Sie ihn selbst? Ich zweifle jetzt an allem!

Bona! rief der Dechant verweisend.

Stand Ihnen denn Mevissen zur Seite, als Sie doch wol eine Untersuchung über den Tod des Vaters anstellten?

Mevissen war ja mein Führer bis St.-Remy, wo der Verunglückte zur Ruhe bestattet liegt!

Ließen Sie denn nicht den Sarg öffnen? Nie haben Sie mir, nie der Mutter, nie dem Stiefvater erzählen mögen, wie alles beim Ableben des Vaters zuging!

Was sollt’ ich vor eure Seelen diese Bilder des Schreckens führen!

Meine Aeltern liebten sich nicht!

Doch! Doch! … Ich war in Wien, lieber Sohn, und recht wie um mich zu strafen für meinen heitern Genuß der Stadt, erhielt ich dort die Mittheilung, von deinem Vater hätte man seit Wochen keine Nachricht und fürchte ein Unglück. Im ersten Augenblicke glaubte man …

An Selbstmord?

Es ließ sich daran denken …

Um meine Mutter!

Bona, gib diesen Vorstellungen nicht ohne prüfende Gerechtigkeit Raum! Deine Mutter lebt und liebt dich! … Mevissen hatte bereits nach dem Orte geschrieben, wo deine Mutter während der Reise deines Vaters weilte! 270 Von dort erhielt ich die Nachricht, daß man seine Spur verloren. Er hatte von Genf Abschied genommen, um durch die Walliser Alpen eine Fußwanderung anzutreten, die er ohne Begleitung seines Dieners machen wollte. Wochen waren vergangen, bis Mevissen etwas von ihm erfuhr. Endlich währte dem Diener das Ausbleiben seines Herrn zu lange. Er stellte Erkundigungen bis auf den Weg zum Simplon an und bis nach Martigny. Leider vergebens. Jede Spur schien nach diesen Richtungen hin verloren. Als ich dann mit einer Eile, wie sie nur irgend in der damaligen langsamen Communication möglich war, in Genf ankam, hört’ ich schon, daß seine Spur auf dem andern Uebergange nach Italien, der von Martigny über den großen St.-Bernhard führt, entdeckt worden war, aber auch das, daß sie zu dem sichern Ergebniß seines Todes geführt hatte. Mevissen befand sich auf dem Hospiz der Augustinermönche; ich reiste ihm nach. Dein Vater, mein edler Bruder, war von einem Schneewetter überfallen, verschüttet, in einen Abgrund gesunken und elend erfroren. So oft der Gleichschritt im gewöhnlichen Dasein mir die Bequemlichkeit als eine zu unverdiente Gnade des Himmels erscheinen läßt, muß ich dieser Tage gedenken und des Anblicks, wie ich meinen theuern Bruder wiedersah!

Wiedersah? Doch sahen Sie ihn wieder?

Allerdings!

Sie fanden ihn nicht schon bestattet?

Ich hatte den Genfersee hinter mir und fuhr an den immer mehr sich verengenden Ufern der Rhone nach Martigny, wo mir Mevissen, selbst ein Bild des Todes, 271 entsetzt entgegenkam. Von dort nimmt man Saumrosse; aber mein Gemüth war zu erschüttert, ich legte mir die Wanderung zu Fuß auf. Sie führte durch gesprengte Felsen, an uralten, noch aus der Römerzeit herausblickenden Mauern vorüber, durch das Geröll der Betten wilder Berggewässer, armselige Dörfer, immer höher empor zu jenem Paß, auf dem Napoleon 1800 die Fußtapfen der alten Cäsaren im ewigen Schnee wiederfinden wollte. Tief in den Schluchten, in die der Blick mit grausendem Schwindel sich verliert, weiden die Heerden der Rinder zwischen den Ausläufern der Gletscher. Hier schon befindet man sich auf einer Höhe von 7–9000 Fuß und erblickt dicht neben und über sich in den Felsenriffen die Spuren des sprengenden Frostes und der wenigen im Frühjahr schmelzenden langen Schneegehänge. Ich reiste im Juni und doch wurden die weißen Todtenfelder immer unabsehbarer, die Ausblicke öder und kahler. Die Führer erzählten von einem Fremden, der vor zwei Monaten allein und ohne Warnung anzunehmen den Paß hätte ersteigen wollen. Da hätte plötzlich niederfallender Schnee die Wege verschüttet und den Wanderer auf eine falsche Fährte geführt. Den Unglücklichen, den ich eben sehen sollte, hätte man auf einem vom Wege abgelegenen Felsenzacken gefunden, dicht an einem unermeßlichen Niedersturz …

Sie sahen den Vater!

Ich sah ihn! Ich sah ihn in jener grauenvollen Morgue, die oft auf viele Jahre die Leichen der auf dem St.-Bernhard gefundenen Verunglückten zur Wiedererkennung durch ihre Angehörigen aufbewahrt! Gräßliche 272 Erinnerung! Eine Stunde vom Hospiz entfernt liegt ein kleines Gebäude, ausgesetzt dem schärfsten Zuge der Eisesluft, die das Défilé de Marengo durchstreift. Einer der Augustiner stand schon mit dem Schlüssel an der Pforte des Todtengewölbes und begrüßte mich. Ein und derselbe Glaube, ein und derselbe Beruf, und doch wie verschiedenartig unsere Pflichten! Ich kam aus Wien mit goldenen Ringen an den Fingern, mit zierlichen Billets in der Brieftasche, die mich zu einem Diner, dort zu einer Soirée eingeladen hatten, noch schwirrten die Opern der Italiener mir im Ohre, die im Kärntnerthor ihre Stagione hielten, und vor mir stand trotz der Kälte im leichten Chorherrenrock ein Priester von nicht viel über dreißig Jahren mit seinem Begleiter, einem ihm mit dem Kopf bis an die Hüfte reichenden Hunde, dessen gewaltige Muskeln, aufmerkende hohe Ohren, fürchterliche Lefzen und Tatzen in einem rührenden Contrast zu dem Körbchen mit Lebensmitteln und dem ledernen weingefüllten Schlauche standen, die an seinem zottigen Halse befestigt waren. In französischer Sprache begrüßte mich der Chorherr und bedauerte die Veranlassung, bei welcher zwei Priester so ihre Bekanntschaft machten. Eine nach niederwärts führende Thür schloß er auf und wir standen in einem Gewölbe, das die erhitzteste Phantasie nicht grauenvoller sich ausmalen kann. Rings an den Wänden Gerippe an Gerippe, und nicht etwa nur völlig versehrte, nicht etwa nur Reste, sondern wohlerhaltene Körper, die die Eisesluft, die durch die offenen, correspondirenden Fenster zieht, an gänzlicher Verwesung verhindert. Niemand wird hier begraben, dessen Identität 273 nicht im Laufe der Jahre hergestellt wird. So standen dort Gestalten schon zwanzig Jahre an die Wand gelehnt! Vor ihnen lagen auf einem Tische ihre Kleider und die sonstigen Gegenstände, die sie bei sich trugen. Der letzte in der Reihe war … ja! es war mein unglücklicher Bruder, dein theurer Vater … Ich sah ihn stehen! Vor mir! Todt! Von einem Sturz von der Felsenkante, wo man ihn fand, war das Haupt zerschmettert und hing, schon fast nur noch in Knochen, hernieder! Im übrigen war es sein lieber, edler Eindruck! Da lagen die Kleider, die ich nur zu gut kannte, da lag das Portefeuille, das ich an mich nahm, da lag noch sein Geldbeutel mit dreißig Napoleons und etwas kleiner Münze und einigen römischen, wie man sie in diesen Gegenden oft findet, ein Plan der Schweiz, ein Fernrohr, Billets zur Ueberfahrt über den Genfersee, einiges weißes Brot, eben noch wie davon abgebrochen, eine Korbflasche mit Kirschengeist, Handschuhe, Tragbänder, der Trauring deiner Mutter … alles … alles … Die Träger bürdeten es sich dann mit der Leiche auf. Ich stieg mit dem Mönch zum Hospiz empor. Die Leiche blieb da so lange in der Kapelle, bis man sie auf meinen Wunsch nach der südlichen, italienischen Seite zu, über dem Orte St.-Remy beerdigte!

Der Dechant schwieg … Nie hatte er diese Schilderung so genau gegeben. Nur einmal vor den Gerichten und einmal – vor dem jetzigen Kirchenfürsten, als dieser noch die Geschäfte eines Generalvicars verwaltete und die Heirath der Witwe beanstanden wollte.

Der Trauring meiner Mutter! wiederholte Bonaven-274tura schmerzlich. In ihm liegt – die ganze Lebensfrage unserer Kirche!

Das ist ein Abgrund, mein Sohn, wie auch unsere Ehelosigkeit … sagte der Greis. Laß es ruhen!

Beide Priester schwiegen …

In diesem Schweigen lag der Schauer zweier Jahrtausende.

Eine Weile verging – –

So also war es! begann Bonaventura wieder voll Schmerz. Und doch wie ist es möglich, daß diese Gegenstände vor uns auf dem St.-Bernhard damals fehlten? Warum hat sie Mevissen ohne Ihr Wissen an sich genommen? Warum nahm er sie mit ins Grab?

Der Dechant schwieg …

Ich weiß es nicht! sagte er dann nachdenklich.

Mevissen wohnte allen diesen Vorgängen bei, die Sie schilderten?

In aufrichtigster Trauer! Wir legten oben auf dem Hospiz alles zusammen, was deiner Mutter zu übersenden war. Diese Gegenstände dort fehlten, das weiß ich genau. Da das Geld unangerührt war, gedachten wir nicht der Uhr. Die Spielhahnfeder ist ein Hutschmuck der Alpengegenden. Das Gemshorn saß ohne Zweifel als Griff an einem Alpenstock. Der grüne Schleier ist eine Schutzwehr des Auges gegen die blendende Wirkung des Schnees. Gewiß! Ich sah damals diese Dinge nicht und begreife den Werth nicht, den Mevissen so weit darauf legte, sie so heimlich zu bewahren! Er war so ehrlich und so treu … Ich erkundigte mich später in Genf; ich hatte die sichersten Beweise, daß diese einsame Alpenwanderung 275 deines Vaters, während Mevissen allein im Gasthofe zur Balance zurückbleiben mußte, ihn mit einer durch den Erfolg nur zu sehr gerechtfertigten Unruhe erfüllte. Die Beerdigung in St.-Remy vollzog er mit all der Standhaftigkeit, zu der ich mich nicht aufschwingen konnte. Ich saß erschöpft im Refectorium des Hospizes und schilderte den kindlichen Mönchen die Tugenden des Verblichenen. Wie hätt’ ich sie erfreut, wenn ich ihnen schon damals hätte sagen können, daß der Sohn des Unglücklichen in den geistlichen Stand treten würde! Ich mußte diese Männer bewundern, die über siebentausend Fuß über dem Meere wohnen, fünfzehn Jahre hier zu verweilen verpflichtet sind und selten, wenn sie auch mit zwanzig Jahren schon vom Bischof zu Sitten hierher entsendet werden, ihr fünfunddreißigstes Jahr erreichen. So wüthen die Stürme, so dorrt der Frost die Glieder aus, so verbraucht die tägliche Anstrengung, die es kostet, nur allein die nächsten Bedürfnisse auf diese Höhe zu bringen, nur Holz und Wasser! So oft ich jene vermessenen Reden unserer Geistlichkeit höre, Reden, wie ich sie noch gestern wieder vernahm, möcht’ ich doch aufstehen und eine Schilderung des Lebens der Augustinerchorherren auf dem St.-Bernhard geben und rufen: Hic Rhodus! Hic salta! Da zeigt euern Heldenmuth!

Bonaventura schüttelte sein Haupt, hob sein braunes Auge wie verklärt und erwiderte:

Nein, Oheim! Was ist es denn, was diesen Menschen dort oben selbst den Schnee so rosig erglühen läßt, daß sie ihn auch ohne die Sonne wie nur in Purpur getaucht zu erblicken glauben! Es ist die himmlische 276 Sonne, die sie bescheint, die moralische, daß sie sich fühlen in einer großen Gemeinschaft, der zu Liebe diese und alle Opfer dargebracht werden! Laßt diese Priester der Ebene doch vermessen reden und sich ihrer Rechte und Pflichten rühmen! Würde nicht schon in der Ebene dieser Geist der Hingebung gepflegt, allmählich aufgezogen, allmählich herangebildet, wie könnte er in die Berge steigen! Nein! Aus einer einzelnen zufälligen Entschließung des edeln Herzens hier und dort ist es nicht möglich jene jungen Männer dort oben wohnen, wirken, früh dahinwelken zu lassen! Sie würden vielleicht zuweilen in größerer Anzahl sich einstellen, als sie nöthig sind; öfter aber auch würden sie ganz fehlen. So muß es eine Pflanzschule dieses Geistes der Aufopferung geben, irgendeine magische Zauberformel muß sie alle halten und regieren. An dem Muth, dort unter den Gerippen und dem Schnee des St.-Bernhard auszuhalten, arbeitet der streitende Geist derer hier unten mit! Das ist ja das Geheimnißvolle in unserer Kirche, daß sie ein Zusammenwirken tausendfacher Kräfte ist, wo sie wunderbar durch die Formen ersetzt, was an den Personen sich heute findet, morgen fehlt. Unsere Kirche befreit den Geist von den Launen des Zufalls, der Natur! O daß das so wenig verstanden wird!

Unsere Methode ist groß! räumte der Dechant ein; seufzend aber setzte er hinzu:

Soviel Schönes, soviel Erhabenes in unserer Kirche, so vieles, was den poetischen Menschen in uns mit den tiefsten Ahnungen und Schauern durchrieselt – wenn nur so vieles andere, was dem Menschengeiste von un-277sterblichem und göttlichem Werthe sein darf und muß, nicht in ihr verloren ginge!

Dies Thema trennte beide wie immer …

Ein räthselhaftes Gefühl drängte den Dechanten, während der entstehenden Pause seinem Schreibtisch zuzulangen, als müßte er jenen Brief von unbekannter Hand Bonaventura mittheilen, jene Aufforderung, im Jahre 18** am Tage des heiligen Bernhard von Clairvaux unter den Eichen von Castellungo sich zu einem Concil der Befreiung einzufinden!

Doch erblickte er unter den Papieren zunächst nur den Brief Angelika Müller’s mit den Einlagen …

Auch dessen Inhalt erlaubte es, bei dem Gegenstande zu verweilen, den Bonaventura die Grundlage der katholischen Kirche genannt hatte.

Der Dechant war der Meinung, daß die katholische Kirche nicht zu ihrem Vortheil die Ehe zu einem Sakrament erhoben hat. Wo die persönliche Freiheit so beschränkt wäre, daß man sein Lebtag im Joche einer einmal verfehlten Wahl hinsiechen müsse … da könne der Segen Gottes nimmermehr weilen! Er sprach dies auch jetzt wieder aus mit Rücksicht auf die Briefe, die er entfaltete …

Bonaventura unterbrach ihn aber schon …

Nein, Onkel, sagte er, es gibt keine Religion, die nicht bindet! Schon im Namen liegt’s ja! Haben die Völker nicht in diesem ein höheres Gesetz, so haben sie es in jenem! Was ist nicht alles den Juden, was nicht den Türken untersagt! Ja, die katholische Kirche hat sich das Schwerste auferlegt! Das ist wahr – aber darin liegt gerade ihr Muth, liegt –

278 Ihre Verwegenheit! warf der Dechant dazwischen und fuhr in der That aufgeregter als sonst fort:

Gelten lass’ ich Reinigungen und Fasten! Es ist gut, daß der Mensch sich oft und regelmäßig die Schranke vorführe, die ihn von der Thierwelt ebenso wie von einem übermäßigen Gebrauche seiner Freiheit trennt! Aber die Ehe! Eine Verklärung der Schöpfung mag sie sein, eine Stütze der Civilisation; aber die Ehe an Gesetze zu binden, die wenn nicht die Natur – die man schon leider ganz aufgeben muß! – doch die Liebe ausschließlich vorgeschrieben hat, das rächt sich an der Sitte und – Sittlichkeit! Es wird sich an der Kirche rächen!

In solchen Augenblicken der Erregung des Greises widersprach Bonaventura nicht.

Es lag auch dann ein so stolzer, hoher Ausdruck in des Dechanten Blicken, die schlanke, noch ungebeugte Gestalt wuchs vollends in die Höhe, die gewohnte Indolenz schwand so ganz, daß der Oheim dann etwas von einem Staatsmann oder einem weisen Gesetzgeber zu bekommen schien und den, der ihm widersprach, geradezu unreif erscheinen ließ.

Habe nur meine Erfahrung! sagte er. Man sieht nur nicht diese Nachtheile einer scheinbaren Wahrheit und einer so großen Lüge! Sie liegen – dank der furchtbaren Organisation, die in unserer Welt die polizeiliche Ordnung hat! – nicht so offen! O sie liegen so verborgen, daß es mir oft, wenn ich mich in unserer katholischen Welt umsehe, vorkommt, als sähe man die alten Verließe der Burgen wieder, wo die Gebeine der Geopferten modern, sähe in die Kerker der alten Klöster, die die Folgen der Zuchtlosigkeit vergruben … Doch – laß es jetzt genug sein!

279 Und gleichsam als wenn die Erinnerung einer ganzen schweren Vergangenheit über ihn käme, so zitterte er und brach nun ab.

Wie um sich zu besänftigen, nahm er dann die Briefe und sagte:

Gehst du zum Weinberg des Obersten von Hülleshoven hinüber, so weiß ich nicht, sollst du dem Obersten diese Briefe da mitnehmen oder nicht?

Er erzählte, daß sie ihm von Armgart von Hülleshoven zugekommen wären …

Bonaventura wollte schnell in seine Pfarre zurück. Er konnte nicht hoffen Benno’s habhaft zu werden; nur auf dem Amte galt es noch seine Anzeige über den Leichenraub zu machen. Dem Obersten stand er ferne. Der Oberst war ein Sonderling, der gegen die ganze Welt etwas Schroffes, ja Ablehnendes hatte …

Die Briefe beziehen sich, sagte der Dechant, auf Dinge, die ich nicht gern mit dem Obersten erörtere …

Bonaventura kannte die Personen und Verhältnisse … er wußte, daß Armgart von Hülleshoven in dem Glauben erzogen war, eine Waise zu sein … er wußte, daß sie seit noch nicht lange erst erfahren hatte, daß ihre beiden Aeltern lebten und getrennt lebten.

Als Bonaventura die beiden zierlich zusammengelegten Briefe sah, auf welchen mit sauberer Hand geschrieben stand: „An meinen Vater!“ Auf dem andern: „An meine Mutter!“ sagte er:

Sie spricht doch wol ihr Glück aus, jetzt plötzlich diese Schätze gefunden zu haben?

Im Gegentheil! erwiderte der Dechant. Als ich die 280 Briefe empfing, wußt’ ich nicht, ob ich über sie lachen oder mich ärgern sollte. In Wahrheit war ich von ihnen gerührt, um so mehr, da auch die Mutter mir aus Wien geschrieben hat, wo sie endlich das Kloster, in dem sie zeither meistentheils lebte, verließ. Beide Aeltern machen Ansprüche auf ihr Kind und jetzt um so lebhafter, seitdem sie um diesen Besitz wieder in den alten eifersüchtigen Streit gerathen sind. Die Mutter will sogar binnen kurzem in die Gegend kommen, was ich dich bitte, um Aufreizungen zu vermeiden, dem Obersten zu verschweigen …

Bonaventura hätte sich gern dem Auftrage entzogen. Doch las er, da der Dechant es wünschte, den einen der offenen Briefe Armgart’s.

„Mein Vater!“ schrieb Armgart von Hülleshoven. „Wie die heilige Margarita betete, so wiederhole ich: «Mein Herr und Gott, bewahre unser Herz in Reinigkeit, unser Leben in Unschuld und jede Begierde, jede Meinung, jede Handlung unsers Lebens in reinster Wahrheit!» Daß ich dich einst nennen werde: Mein einziggeliebter Vater! wird die Folge der Erkenntniß deiner hohen Tugenden sein. Die Heiligen mögen mir bezeugen, ich habe ein Herz, so voll der himmlischen Liebesflammen, daß ich dich mit Innigkeit umarmen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß ich eine Mutter habe. Auch sie darf ich, wenn ich wahr sein will, nicht begrüßen, wie es Kindern ziemt, ihre Aeltern nach langer Trennung zu begrüßen. Würd’ ich aber, wenn ich zu dir mit ausgebreiteten Armen flöge, nicht die Mutter betrüben? Würd’ ich nicht den Schein annehmen, als bevorzugte mein Herz eines von euch? Würd’ ich nicht 281 ein Urtheil zu sprechen scheinen, das ferne von mir liegt? Ach, ich beschwöre euch! Kommt, liebevereint, beide – und ruft mich an euer ausgesöhntes Herz! Laßt mich zu euch beiden zu gleicher Stunde emporblicken! Laßt mich reuevoll und in ewiger Liebe vor euch beiden niedersinken und mit einem einzigen glückseligen Worte mich nennen euer einziges und treues Kind, Armgart von Hülleshoven.“

Und der Mutter?

Schreibt sie wörtlich dasselbe!

Bonaventura überflog den Brief, den der Dechant nach Wien schicken sollte. In dem einen Briefe waren nicht mehr Worte und Buchstaben als im andern.

An den Pünktchen da, sagte der Dechant, seh’ ich, wie sie gezählt hat, ob auch keiner mehr Buchstaben bekommen hat als der andere!

Oder weniger! sagte Bonaventura gerührt. Sieh, ein Kind will sich zum Preis der Aussöhnung seiner Aeltern setzen! Sollten diese beide nun nicht wirklich, um vor ihrem Kinde nicht beschämt zu stehen, ihren Haß und Groll fahren lassen? Bleibt der kleine Genius des Friedens nur fest in seiner Weigerung, so mein’ ich, müßte eine Eifersucht entbrennen zwischen Vater und Mutter, die zum Guten führt! Nennen Sie das Sakrament der Ehe noch den großen wunden Schaden unserer Kirche, wenn es solche Opfer möglich macht? Die kleine Armgart handelt – ich muß es so nennen – katholisch!

„Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dein Lob zugerichtet!“ sagte der Dechant ironisch und erhob sich, um Bonaventura das Geleit zu geben und nach Windhack zu klingeln.

282 Nachdem sie beide die Reliquien aus dem Sarge zusammengelegt und in einer Tasche, die zu Bonaventura’s Reiseeffecten gehörte, geborgen hatten; nachdem der Dechant auf die von ihm ausgesprochene Erwartung, der Neffe würde doch wenigstens zum Mittagessen noch dasein, eine ablehnende Antwort erhalten hatte – den Pfarrer zog es mächtig in seine Gemeinde zurück und – Lucinde verscheuchte ihn –; standen beide schon an der Thür, Bonaventura, um auf den Weinberg des Obersten zu gehen, der Dechant, um in der Stadt die diese Nacht mutterlos gewordenen Waisen mit Geldmitteln zu versehen.

Eben sagte er:

Tröste Witwen und Waisen, wie du heute Nacht gethan hast, theile, wenn du ihnen nichts Besseres geben kannst, Heiligenbilder an sie aus: nur um Eines bitt’ ich dich, Bona, um Eines …

Zwei Thüren gingen in diesem Augenblicke zu gleicher Zeit auf.

Windhack trat ein und wollte eine Meldung an Bonaventura bringen.

Herr Pfarrer! sagte er eilends …

Aber auch Frau von Gülpen war von nebenan erschienen und machte einen Eindruck, der jedem, der sie nur ansah, die Sprache rauben konnte …

Zwar war ihre Toilette schon in schönster Ordnung, Windhack’s gewellter Scheitel saß schon kunstvoll unter der buntbebänderten Spitzenhaube und doch kam sie wie eine halb Bewußtlose. Ihr eines Auge war Entrüstung, ihr anderes Schrecken, die Nase Zorn, die Oberlippe Staunen, die Unterlippe Abscheu. Sie glich einem eben 283 von einem Traum Erwachten, der geträumt hatte, eine Maus wär’ ihm quer über das Gesicht gesprungen, und dem es in dem Augenblick, wo er erwachte, auch wirklich so vorgekommen, als hätte ihm etwas Kaltes auf der Nase gesessen.

Gott, was ist Ihnen, Liebe? fragte der Dechant.

Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht …

Sie winkte nur Windhack, zu sagen, was der wolle …

Ein Wägelchen ist halt eben vorgefahren –! sagte Windhack, stockte aber, weil dem so sichtbaren Schmerz der Frau von Gülpen offenbar die Vorhand gebührte …

Ein Wägelchen – ist – eben – vorgefahren! wiederholte Frau von Gülpen mit hauchender Stimme. Sie that dies, um ihm gleichsam seine Mittheilung zu erleichtern. Es war ein Ton der leidendsten Geduld, ja der eines förmlichen Abgeschlossenhabens mit dieser ganzen höchst unvollkommenen Welt …

Schon ahnte der Dechant die Ursache dieses Anblicks – die neue Nichte –

Was ist denn, Windhack? fragte er, um nur bald wenigstens über dessen Störung hinwegzukommen –

Der Wagen unten …

Nun ja, nun ja –

Herr Maria!

Wer?

Herr Maria!

Frau von Gülpen war so großmüthig, so tief edelgesinnt, so gewohntermaßen aufopferungsfreudig, auch noch jetzt die Verständigung zu unterstützen.

Herr Schnuphase! sagte sie.

284 Herr Schnuphase? …

Eine dringende Meldung an den Herrn Pfarrer … fuhr Windhack fort.

An mich? fragte Bonaventura …

Herr Maria hat Sie halt schon in St.-Wolfgang aufgesucht … ein sehr wichtiger Auftrag …

Und schon hörte man auf dem Corridor draußen das Husten und Räuspern eines Mannes, der nicht gewohnt schien, lange ohne das freudigste Bewillkommtwerden zu verharren …

Ist denn schon die Zeit der Wachsernte, fragte der Dechant lächelnd und verdrießlich zugleich …

Aber Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase, Lebküchler, Wachslichterfabrikant und Meßgewandsticker aus der Residenz des Kirchenfürsten, schien absichtlich zwei oder drei Prisen genommen zu haben, um nur dicht am Schlüsselloch draußen niesen zu können …

Und mit jener Selbstaufopferung, die für sich selbst im Leben ja auch nichts, auch gar nichts beansprucht, sondern die nur allein andere glücklich zu machen wünscht, winkte Frau von Gülpen, daß Herr Schnuphase eintreten möchte!

Der Dechant war im äußersten Grade gerührt, zu sehen, wie sich jetzt die gute Frau erschöpft auf ein Eckkanapee im Dunkeln niederließ, ganz nur Resignation, ganz nur ein Bild der Ergebung, sich selbst eklipsirend, wie Windhack hätte sagen können … Gern hätte er tröstend ihr zugeflüstert: Nun, „die Person“ ist doch schon fort? Lassen Sie sie in Gottes Namen reisen! Und gleich! Den Augenblick! … Aber der Eintretende nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden allein in Anspruch.

285 Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase ist ein kleiner Mann von unendlichster Devotion. Sein Frack ist grün, die Knöpfe daran sind weiß und von Metall, die Weste ist von Kameelgarn und gelb und die Beinkleider sind von Nanking. Er trägt weißgewaschene Lederhandschuhe, wie zu einer Kindtaufe. Aber statt eines Hutes hat er doch nur eine Reisemütze in der Hand und das genirt ihn und das bringt ihn außerordentlich in Verlegenheit und er muß lächeln und um Entschuldigung bitten und muß alles aufbieten, um das Négligé dieser Reisekappe zu verbergen und muß sein: Hochwürdigste Hochwürden – gnädigste Frau – hochehrwürdiger Herr Pfarrer – sehr geehrter Herr Windhack … mit so vielen Verbeugungen unterbrechen, daß wir –

Doch nein! Um Jean Baptiste Maria Schnuphase ganz zu charakterisiren und nichts zu unterlassen, was zu seinem „ganz ergebensten“ und „hochachtungsvoll ergebensten“ Eindruck gehört, müssen wir ihn eigentlich in seiner eigenen Sprache reden lassen … Es ist das jene Sprache von der Abdachung des Harzes her in die kleine römische Enclave, das einzig rechtgläubig dortherum gebliebene Hildesheim. Es ist die Sprache der braunschweigischen Umlaute ,,uö“ statt a oder au oder o, die Sprache des lispelnden S vor St und Sp … Alle diese feinen Nuancen gehören zu dem Duft des „Vörnöhmen“ und „Erhöbenen“, das den Lebküchler, Wachslichterfabrikanten und „Meßgewands–ticker“ schon seit dreißig „Jöhren“ umgibt.

Schnuphase, oder nach seiner eigenen Aussprache „Schnuphöse“, besitzt eine nie „ermöngelnde“ Erge-286benheit. Er ist das Factotum aller menschlichen Bedürfnisse des höhern und niedern „christköthölischen“ Klerus. Er ist der Beichtvater der Beichtväter. Herr Maria, von Hildesheim durch eine glückliche Gesellenschaft und darauffolgende Verheirathung gen Westen verpflanzt, ist wohlangesehener Bürger und Hausbesitzer in der stolzen Königin des großen „S–trömes“, die wir kennen lernen werden. Er ist der „Figaro hier“, der „Figaro dort“ des Domstifts und aller derer, die sein Vertrauen suchen und nicht suchen! Dienen, dienen um jeden Preis, dienen und wär’s auch nur um die regelmäßige Abnahme seiner weltberühmten Wachskerzen für Haus und Altar, seiner Lebkuchen für den Weihnachtsbaum, seiner Stickereien, deren Anfertigung seine beiden Töchter Eva und Apollonia zu den Garderobièren aller Gottesmütter des Landes und aller sonstigen heiligen Toiletten gemacht hat … dienen war „Herrn Maria’s“ Lebensaufgabe! Wo ereignete sich das Weihen einer Kirche auf zwanzig Meilen in der Runde, stromauf, stromab, ins Frankenland hinein und hinüber auf die rothe Erde, daß Herr Maria fehlte? Oder eine Priesterweihe oder ein Zweckessen oder ein großes Leichenbegängniß oder eine Glockenweihe oder eine Wallfahrt oder eine Schaustellung wunderthätiger Bilder oder Reliquien … Herr Maria sollte fehlen? Herr Maria, der kleine, immer vom Feuer der Ueberzeugung sowol wie vom edelsten Ahrbleichert Geröthete? Er war einer der Cherubs, flammend von der Nase bis zum Schwert, die an der Kathedrale in der Residenz des Kirchenfürsten die Eingangsportale hüteten! Dabei durfte er auch wandeln auf Erden wie ein Cherub auf 287 Urlaub, ein Cherub der Legende, zu Wagen, zu Roß, per Dampf auf der kühlen Welle oder der hie und da schon sich streckenden Schiene! … Herr Maria wohnte in einem der alterthümlichsten, massivsten Häuser, die man sich durch hochwürdigste Protection nur erwerben kann. Er war in seiner Art ein Napoleon. Wenigstens war die Biene sein Symbol. Er hätte eigentlich in einem Bienenmantel bei jeder Procession voranschreiten müssen, wie er oft voranschritt, dann freilich im schwärzesten der schwarzen unter seinen vielen Fräcken, mit entblößtem Haupte und eine seiner eigenen Kerzen tragend … Die Bienen hatten ihn gelehrt, Honig früh von Wachs zu unterscheiden, aus jenem die lieblichsten nürnberger Leb- und thorner Pfefferkuchen und baseler Leckerlis zu gestalten, aus diesem aber Kerzen, reine, weißgelbe edle Wachskerzen zur heiligsten Weihe. Und diese Bienen hatten ihn auch die Emsigkeit gelehrt, den rastlosen Fleiß, das Sammeln auf allen Fluren und Wegen und Stegen für seinen eigenen Schatz und den des Reiches Gottes. So erlebte er freilich die Berufung zu den höchsten Steuersätzen durch diesen kalten protestantischen, keine Exemtionen duldenden „S–töt“, aber auch die Mittel, sie quartaliter pünktlichst zu berichtigen. Herr Maria galt für wohlhabend, aber er war reich. Das wußten Domherren und Capitulare und Officiale und Curaten bis zu Psalteristen und Calcanten hinunter. Dominicus Nück, der mächtige Procurator, Benno’s Principal, wußte es gleichfalls. Der hatte ihn auf der Liste aller derer, die in großen Erbschaftsfragen, wie z. B. jetzt in der der Dorste-Camphausen, Mündel- und Pupillengelder auf die rechten Plätze 288 anzulegen wissen. Und was gab es nicht allein schon auf dem geistlichen Gebiete zu rechnen und zu zählen! Was hatten die Herren von Sancta-Columba und Den Aposteln und Den sieben Schmerzen und allen Kirchen diesseit und jenseit des Stromes nicht für einen Neffen dort, für eine Nichte da liebevollst zu sorgen, aufzunehmen und abzutragen! Was gab es nicht Kapitalien unterzubringen! „Schicket euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit!“ Herr Maria kannte das ganze Land, kannte alles, was neben Bienen auch Korn und Gerste zieht und Hypotheken braucht. Freilich war er nicht in dieser Gegend geboren, aber er war geboren in dem Lande der Höflichkeit, der feinsten deutschen Aussprache, der gewähltesten Umgangsformen. Er wurde überall gut aufgenommen und nie übermüthig. Er hatte von den Bienen die schöne Harmonie gelernt, die Unterordnung unter einen gekrönten Weisel, unter die selbstbeschauliche Trägheit vornehmer Drohnen; selbst jener poetische Schwung fehlte Herrn Maria nicht, den die Alten mit den Bienen bezeichnen wollten, wenn sie im Munde eines göttlichen Redners die Biene abbildeten oder einen Sophokles an ihr sterben ließen … nein, Sophokles starb an einer verschluckten Weinbeere! Aber schon die attischen Bienen ruhten vielleicht am liebsten auf solchen Weinbeeren, die von Chios und Tenedos an den Ilissus verpflanzt wurden! Schnuphase bestätigte den Naturforschern, daß die Bienen am liebsten sich den Honig vom Safte der Weinbeeren saugen. Oder verurtheilt ihr ihn deshalb? Lebte der schwungvolle Mann nicht im Lande der köstlichsten Reben? Er, der nur „brauns–weiger“ Mumme oder 289 goslarer „Göse“ als die höchsten Errungenschaften der dürstenden Menschheit bei seiner Geburt kennen gelernt hatte, er bekam sein rothes Näschen, seine rothen Wänglein, die dem weißen Lockenköpfchen allerliebst standen, nur auf den schönen Nebenhügeln seines neuen Vaterlandes, unter den epheuumwundenen Burgruinen, da, wo man ringsumher dicht neben dem Anblick des Großen und Schönen auch überall einen Guten schenkt. So zu stehen auf „erhöbenstem“ Standpunkte, so mit dem grünen „Römerglöse“ allen „Köpöllen“ und Kirchen und „Dömen“ und „S–tiften“ und „Köthödrölen“, die er erleuchtete, allen Tannenbäumen ringsumher, die er zur Weihnachtszeit mit Lichtern und Lebkuchen schmückte, allen Kaplanen und Pfarrern, die er mit wundervollen Meßgewändern bekleidete, ein Hoch nach dem andern auszubringen – wer konnte ihm das verdenken! Blieb er nicht immer fein, nicht immer nobel, immer Herr seiner weißen Wäsche, Hüter seiner Manschetten, Meister im Knoten seiner weißen Binde, zierlich und manierlich? Einem Weihbischof die Hand zu küssen, hätte ihn von allen Schäden der Pathologie geheilt! Glücklicherweise war er gesund und fühlte sich im Ahrbleichert und seinem Berufe wie der Fisch im Wasser! Oder er war selbst wie eine seiner Kerzen! Erst Product einer von tausend Enden und Ecken her gesammelten Betriebsamkeit – und dann so sanft sich selbst verzehrend im Lichte, in aufwärtsstrebender reiner, heiliger Flamme und fanatischster Hingegebenheit an alles, was sich nur für sein römisches Ideal unternehmen, betreiben, wühlen ließ! Betriebsamkeit ließ ihn, wie Löb Seligmann, der Bruder der Hasen-Jette, 290 vom Felde die Früchte „auf den Halm“ kaufte, den Reps „auf die Blüte“, den Taback, die Runkelrübe „auf Stengel und Knollen“, so den Honig und Wachs kaufen „auf die Blume“, auf die Blume, wenn über dem duftenden Kelche noch die grünen Weberinnen wetteifernd mit den Schmetterlingen summten und schwelgten! Und fast alle Stöcke der Bauern und Schullehrer waren so dem tendenziösesten aller Tendenz-Tendenzer verpfändet, noch ehe die Zellen sich füllten. „Die Blume“ – darauf war er Kenner! Und er drückte niemanden. Er handelte wie ein Mann, der die heilige Ehre genoß, mit Stolen, Alben, Manipeln, Fahnen, Standarten, Demonstrationen, selbst Intriguen die Glorie des katholischen Lebens zu mehren, die Hochämter bis nach Lüttich und Antwerpen hin und die großen Dome – o wär’ es bis an die Peterskuppel von Rom gewesen! – mit Licht-, Gold- und Silberglanz zu füllen!

Herr Schnuphase überbrachte vom Herrn Kaplan Michahelles, dem Secretär des Kirchenfürsten, einen Brief, der für St.-Wolfgang bestimmt war.

Ein Auftrag Sr. Eminenz? fragte der Dechant erstaunt, als Bonaventura den Brief erbrach.

Frau von Gülpen zitterte bei diesem Worte jetzt auch noch zu alledem vor – Devotion …

Zu dienen, Hochwürden! sprach Herr Maria.

Ohne weitern Aufenthalt? sagte Bonaventura betroffen im Lesen halb für sich.

Ohne allen weitern Aufenthölt, Höchwürden!

In die Residenz sollst du kommen? fragte der Dechant hocherstaunt.

Zu dienen, Höchwürden! bestätigte Schnuphase.

291 Des Dechanten Herz klopfte fast hörbar von einer Ahnung, die mit der vorhin unterbrochenen Warnung im innigsten Zusammenhange stand. Gerade das hatte er sagen wollen, gerade vor der Gefahr warnen, die jetzt für Bonaventura heraufzog!

Zu all den Foltern, die Frau von Gülpen zu überstehen hatte, kam nun noch die, sehen zu müssen, wie der Dechant förmlich erblaßte und sich an seinem Tische halten mußte … Alle ihre Gedanken gingen nun wieder blos auf die Hausapotheke, auf ihre niederschlagenden Pulver – und dabei sah der geliebte Mann offenbar doch nur mit der Absicht so scharf jetzt auf sie hinüber, um sie zu entfernen, sich allein zu wissen mit Bona und über den empfangenen Brief mit ihm eine Scene zu haben … eine Scene!

Herr Maria, nichts ahnend als nur Gutes, äußerte:

Hochwürden werden gewögentlichst in meinem Hause abs–teigen! Ich bitte! Ich bitte! Es ist der Befehl – wöllt’ ich sögen der Wunsch Sr. Eminenz, daß Ew. Hochehrwürden bei mir wöhnen! Im sogenannten s–teinernen Hause, dicht an der Köthödröle!

Der Dechant beherrschte sich nicht länger. Windhack bekam Befehl, Herrn Schnuphase, der es einräumte, sich noch „im ungefrühstückten Zustande“ zu befinden, ein Déjeûner à la fourchette vorzusetzen … Frau von Gülpen durfte dem entscheidenden Blick, dem Wunsche, der sie in diesem Moment aus den Augen des Dechanten machtgebietend traf, sich nicht widersetzen … Sie ging … sie ging auf Bonaventura mit einem Blick, der ihn um aller Heiligen willen, die im und nicht im Kalender stehen, bat, den Dechanten zu schonen! … Sie? Sie selbst? 292 Ach sie war ja gewohnt alles zu tragen! … Als sie noch Herrn Schnuphase’s Diener und „gehorsamsten Befehle“ und „unterthänigsten Bereitwilligkeiten“, auch „die Absicht, den nähern Bescheid abwörten zu wollen“, unterbrechen mußte und die Thür öffnete, die zum Corridor führte, und nun wieder mit Herrn Schnuphase zu complimentiren hatte, wer zuerst ginge, da warf sie noch einen Blick gen Himmel … Er war gemischt aus Kummer und schon wieder doch – aus der seligsten Freude: Diese Bürden – wie sind sie so schwer und dennoch – wie wär’ ich unglücklich, wollte sich irgendjemand unterstehen, sie mir abzunehmen!

Bonaventura und der Dechant waren allein.

Mein Sohn! rief der Greis jetzt ausbrechend und mit der ganzen zurückgehaltenen Kraft seiner Furcht und Aufregung, mein Sohn! Was ist das?

Er warf sich dem jungen Priester mit einer Leidenschaft, die dieser an ihm nie gekannt, an die Brust.

Was kann, was soll dir beschieden sein! fuhr er fort. Auch dich wollen sie haben! Auch dich wollen sie in ihre Strudel ziehen! Wir gehen den trostlosesten Verwirrungen entgegen – o mein Sohn! Mein Sohn! Folge diesem Briefe nicht! Ich beschwöre dich! Widerstehe!

Wie kann ich? erwiderte Bonaventura und erinnerte den Greis an die allbekannte Stellung des Kaplans Michahelles.

Dieser hatte einfach und kurz geschrieben:

„Hochwürdigster Herr! Im Auftrage Sr. Eminenz soll ich Sie ersuchen, ihm binnen acht Tagen persönlich Ihre Aufwartung zu machen. Ihr hochachtend ergeben-293ster Eduard Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.“

Das Losungswort der Jesuiten! sagte der Dechant mit tiefster Erbitterung. Bona! Bona! – es würde den Rest meiner Tage kürzen …

Theurer Onkel! unterbrach der Pfarrer und umarmte den Dechanten. Warum diese Sorgen! Man beruft mich zu irgendeinem harmlosen Auftrage! Der Kirchenfürst ist aus unserer Heimat gebürtig! Er kannte den Vater …

Sein Arm ist gewaltig, sein Wille stark – Bona! Es ist mir, als säh’ ich dich von mir geschieden! Geistig geschieden!

Ich werde prüfen und nur das Gute behalten!

Sie werden deine Liebe zur Religion mit einem neuen, dir fremdartigen, verfälschten Stoffe schüren! Sie werden dich in ihre Bahnen reißen, die Bahnen der Zerstörung, des Kampfes, der Auflehnung gegen Gesetz und Obrigkeit, des Kampfes gegen das theuere Vaterland! … Priesterberuf! Die Kirche! Rom! Das werden die Formeln werden, die deine Ueberzeugungen binden, deinen Willen gefangen nehmen – Bona!

Der junge Priester zuckte die Achseln und deutete auf den Brief …

Du – mußt – folgen! sagte der Dechant endlich wie tonlos. Sicut cadaver estote! Ihr sollt sein wie die Leichname! … Lebe wohl!

Beide gingen … sie gingen erst noch zusammen. Der Dechant nahm schon jetzt Abschied von dem jungen Priester, den, wenn er wahr sein wollte, der Ruf des Kir-294chenfürsten in die außerordentlichste Aufregung versetzte, ja bis zur Begeisterung erhob.

Um den Greis zu trösten, sagte er:

Fiat lux in perpetuis!

Wie? blickte der Dechant auf und sah ihn auf dies Wort betroffen an. Es war die Losung der aus Italien gekommenen Aufforderung …

Doch ruhig und harmlos hielt Bonaventura des Greises Frage aus. Der Dechant sah, daß diese Worte nur durch einen Zufall gesprochen wurden.

Am Hause unten trennten sie sich …

Herrn Maria fesselten Windhack und das Frühstück …

Den Dechanten hielt eine Weile noch der nun angekommene froh scherzende und grüßende Napoleone Biancchi auf. Catone trug ein Bret voll Gipsabgüsse, frisch gefüllt, und unter den Heiligen stand ein Apollino, stand der Knabe mit dem Schwan, stand Dannecker’s Ariadne … Alle Jahre brachte Napoleone dem Dechanten irgendetwas, was seinen Geldbeutel in Contribu-tion setzte und Frau von Gülpen für die Unterbringung in den schon überfüllten Räumlichkeiten neue Sorgen machte …

Der Dechant beschied den alten Bekannten, gezwungen freundlich, auf den Nachmittag und wandte sich zum Dome von St.-Zeno, während Bonaventura auf dem Wege zu dem Weinberg des Obersten bereits hinter den Bäumen verschwunden war.

295 11.#

Inzwischen war Lucinde nicht müßig gewesen.

Eine Weile hatte es gedauert, daß das Billet der Frau von Gülpen sie so niederschmetterte, wie vor Jahren einst der Tod Serlo’s an jenem Abend, als sie in ihm den einzigen Menschen zu finden hoffte, der für sie noch auf der Welt tröstend leben konnte.

Eine Weile hatte sie sich gesagt:

Du gehörst denn also wirklich zu den Unglücklichen, die keine Ruhe im Leben finden werden! Zu den Gezeichneten, vor denen alles flieht! Zu denen, die gehaßt werden, wo sie lieben, falsch erscheinen, wo sie voll Vertrauen sich hingeben! Zu den Unglücklichen, vor denen die Mütter ihre Kinder wegziehen, weil sie glauben, schon ihre freundliche Anrede thäte ihnen Leids, ihr Auge schon hätte den bösen Blick, der Verderben bringt! Zu den Unglücklichen, die, was sie auch im Leben beginnen, nie und keinem etwas recht machen können, immer eine andere Absicht haben sollen, als sie aussprechen oder zeigen, … ach und denen die Natur selbst schon, grausam genug, wirklich auch die Hand des Ungeschicks gegeben hat, die alles fallen läßt, was sie angreifen, alles nur noch mehr verwirrt, was sie lösen möchten!

296 Sie kämpfte zwischen zwei Rathgebern und Beiständen jetzt … Bonaventura oder Beda Hunnius …

Jener war gestern, auch vorgestern, so freundlich und so gut gewesen … Ihr einziges Lebensziel, in dieses Priesters Nähe und Vertrauen, im Abglanz seines Lichts zu leben, und wär’ es als Magd … es war ihr wieder in so unmittelbare Nähe gerückt … Und doch auch er! Wie ablehnend war bei alledem diese seine Freundlichkeit, wie kalt seine Höflichkeit! Es schien ihr so seltsam, daß auch Bonaventura sich vor ihr fürchten konnte, fürchten als Verführerin zum Bruch seiner Gelübde! Bitter sagte sie sich: Daß doch diese Männer ewig nur dies Eine in uns finden können –! Nur dies Eine –! Nie und nirgends etwas Anderes!

Nach einigen Stunden der Verzweiflung, des Zornes, der Hoffnung auf einen versöhnlichen Schritt vielleicht von Seiten des Dechanten oder von Seiten Bonaventura’s, entschloß sie sich – da sie Bonaventura und den Dechanten nun auch noch das Haus verlassen sahe und nichts kam, sie zu befreien von ihrem Jammer, von ihrer Demüthigung, – die Hülfe Beda Hunnius’ in Anspruch zu nehmen.

Ihr Zimmer zu verlassen wagte sie nicht – aus Scham, etwa Benno oder Hedemann zu begegnen – jeder Stein schien sie zu verhöhnen – jedes Baumblatt schien ihr ein sie verletzendes Mitleid mit ihr zu haben.

Sie wollte an Hunnius schreiben … Geräthschaften dazu gab es in ihrem Koffer … Sie öffnete und legte alles Nöthige heraus …

297 Als sie geschrieben, hatte sie zwei Gelegenheiten, deren sie sich zur Abgabe des Briefes bedienen konnte …

Die eine war Napoleone Biancchi, der sich vom Dechanten nicht ganz hatte abweisen lassen, sondern die Treppe hinaufstieg und nach Signora Schwarz fragte …

Auch das mußte Frau von Gülpen hören und sehen!

Der Ankauf schon einer Kunstsammlung im Hause! sagte sie, als sie den Italiener an die Thür verwies, wo man den Moses Michel Angelo’s hatte kaufen wollen.

Lucinde begrüßte den Italiener gefaßt, lehnte den Ankauf nicht ab, gab für die Statue, was Napoleone verlangte.

Sie ließ dann Porzia grüßen. Sie erfuhr, daß Hedemann seiner Tochter gestern ganz den Dienst erwiesen hatte, den sie vorausgesetzt.

Auf ihren Glückwunsch zur „schönen Müllerin von Witoborn“ machte Napoleone eines der charakteristischen Zeichen, mit denen der Italiener dreierlei Gedanken zu gleicher Zeit ausdrücken kann, sagte aber doch:

Herr Hedemann wollte von Ihnen italienisch lernen!

Bitter lächelnd über die Zerstörung aller dieser schönen, so traulich gewesenen Hoffnungen, überlegte sie, ob sie ihren Brief für die Stadtpfarrei durch Napoleone besorgen lassen sollte.

Dabei fiel aber ihr Blick vom Fenster aus auf einen andern Ankömmling, der in den Wegen des Parkes sichtbar wurde, eine hohe, kräftige weibliche Gestalt, die unverkennbar die Jüdin von gestern war. Sie trug auf dem einen Arm ein Kind, auf dem andern einen großen verdeckten Korb.

298 Rufen Sie mir jene Frau mit dem Korb und dem Kinde herauf! sagte sie zu dem Italiener, der sich entfernend der aus ihrem Erstaunen nicht mehr herauskommenden und wie auf Wachtposten befindlichen Frau von Gülpen in der That die Mittheilung machen konnte, daß Lucinde ihm einen seiner werthvollsten Abgüsse abgekauft hatte.

Sinnend stand Lucinde vor dem Gesetzgeber der Juden, dessen kolossale und markige Formen eher einem Hercules angehörten, wenn man nicht an den Propheten des „starken und eifrigen“ Gottes denken wollte …

Ist doch nicht jeder Priester nur ein Schatten! sagte sie sich. Nicht jeder nur ein kalter todter Begriff! Nicht jeder nur die Drohne im Bienenstock! Nicht jeder nur ein Mann in langem Frauengewande!

Es paßte auf Moses und auf Beda Hunnius …

Sie hatte den Brief noch einmal überlesen. Sie schilderte dem neuen Freunde ihr Misgeschick in der Dechanei und bat um seinen Beistand …

Als sie gesiegelt, klopfte es …

Die Hasen-Jette trat ein …

Auch ihr hatte Frau von Gülpen mit den Worten den Weg zur Mansardenstube gewiesen:

Ich sehe, dort oben bekommt noch heute die ganze Stadt Audienz!

Frau Henriette Lippschütz trat in gewählterer und minder phantastischer Kleidung ein, als sie diese Nacht getragen hatte. Am rechten Arme hielt sie einen mächtigen Korb voll frischgeschossenen wilden Geflügels, das auf einer Unterlage von zusammengerollten und gleichfalls 299 verkäuflichen groben Scheuertüchern, Zwirngebinden, Bandrollen, Schwefelfäden, Feuerzeugen und dergleichen ruhte; auf der Linken trug sie einen Knaben von mindestens schon zwölf bis dreizehn Jahren.

Tragen Sie einen so großen Jungen noch auf dem Arme? fragte Lucinde.

Mein Davidchen! antwortete die Jüdin. Das Kind ist so schwach auf die Beine! Und weil die Tante Ley nun gestorben ist, fürchtet sich das Kind zu Hause! Wir wohnen gerade gegenüber dem Unglück! Komm, Davidchen, ich setze dich auf das schöne Sopha da! Das Fräulein erlaubt es! Womit kann ich dienen?

Lucinde nahm Kleider und Wäsche vom Sopha fort. Aber der schon so große Knabe protestirte mit langgezogenem, weinerlichem Tone und hielt sich fest am Halse seiner Mutter.

Fürchtest dich doch nicht, Davidchen? Eine so schöne Dame! Hände wie Seide! Komm, Davidchen! Laß dich sitzen!

Nein! war die Antwort, weinerlich langgezogen und entschieden.

Und voll unendlichster Milde und Nachgiebigkeit sagte die große Frau:

Willst du nicht, Davidchen? Nun, so gib dich nur! Ich will den Korb niederstellen! Womit kann ich dienen, Fräulein?

Dabei hielt die Frau unverwandt den schweren Knaben.

Ich hätte gern einen Brief von Ihnen in die Stadt besorgt – sagte Lucinde …

300 Die Frau nahm den Brief; aber David sagte:

Ich – ich will ihn haben!

Willst ihn haben, mein Sohn? sagte die schwächste aller Mütter. Er kann nichts sehen Geschriebenes, er will’s haben! Gelt, David, du gibst einen Gelehrten?

So schmeichelte sie dem David, nur damit er nicht den Brief zu tragen begehrte. Die kluge Frau sah wohl, daß das Fräulein nicht den Brief offen getragen wünschte.

Zum Glück war David eitel und wollte noch gründlicher seine Kenntnisse leuchten lassen.

Er zeigte auf den Korb und sagte:

Achetez quelque chôse Mademoiselle! Nous avons des jolis objets à vendre!

Was hat er gesagt? Was hat er gesagt? rief die entzückte Mutter.

Lucinde übersetzte es und rühmte aufrichtig des Knaben Genie.

Der Onkel laßt ihn lernen alles zu Hause durch Maîtres! Das Kind ist so klug! Aber es kann nicht gehen in die Schule! Gleich ist es müde, wenn es ist gegangen eine halbe Stunde – es ist so schwach auf die Beine!

Also David kann gehen! sagte Lucinde voll Entrüstung über den großen Jungen, der sich tragen ließ …

Er studirt soviel! wiederholte die gute Mutter.

Aber wieder wollte David den Brief haben und die Adresse lesen.

Er bekam ihn auch und übersetzte die Adresse gleich ins Französische …

301 Das Kind! sagte Frau Lippschütz. Nicht wahr, Fräulein, der Brief ist auf die Post?

Auf die Post? wiederholte Lucinde. Sagt’ ich’s denn noch nicht? Nein, liebe Frau! (Sie gab ihr ein Geldstück.) Bringen Sie den Brief in die Stadtpfarrei –

Wohin? fiel die Frau mit einer sich verdüsternden Miene ein.

Zu Herrn Hunnius!

Hunnius –? sagte die Jüdin und während sie immer mehr in Verlegenheit gerieth, betrachtete David das der Mutter sogleich aus der Hand genommene Geldstück.

Ein Frédéric dargent! sagte er.

Was hat er gesagt?

Ich hätte Ihnen einen silbernen Friedrichsdor gegeben!

Ein Viergroschenstück ein silberner Friedrichsdor!

Doch erhob sich die Freude der Mutter nicht mehr zu dem frühern strahlenden Glanze über die Kenntnisse und den Witz ihres Kindes, sie zögerte und nahm Anstand, das Billet in die Stadtpfarrei selbst zu tragen …

Fräulein! sagte sie. Ich muß Ihnen etwas sagen! Ich will schicken eines von den Kindern der armen Frau Ley! Es will auch kommen ein Herr, der Treudchen Ley möchte mitnehmen in die Stadt und will sich erkundigen nach ihr beim Herrn Stadtpfarrer! Ein Kind wie eine Prinzessin! Dabei die Arbeitsamkeit selbst!

Warum wollen Sie denn nicht selber gehen?

Ich kann nicht gehen in die Klostergasse –

302 Liegt dort die Stadtpfarrei?

Ich kann nicht gehen über die Schwelle der Stadtpfarrei –

Sind Sie so rechtgläubig?

Die Jüdin lehnte diese Auslegung ab –

Auch die Dechanei ist die Wohnung eines christlichen Geistlichen … sagte Lucinde.

Die Jüdin sah sich um, mit einer Miene, die offenbar so viel sagen wollte als: Hier, in diesem toleranten Hause empfind’ ich nicht das, was mich in der Stadtpfarrei stören würde …

Dabei fiel ihr Auge, das sie unverwandt nur auf ihren David gerichtet gehabt hatte, jetzt erst auf das ansehnliche Gipsbild, das Lucinde auf eine Kommode gestellt.

Gott! rief sie plötzlich. Wer ist der Mann?

Hercules, der Gott der Stärke! sagte David …

Nein – warf in steigender Aufregung seine Mutter ein –

Es ist Moses, euer Gesetzgeber! berichtigte Lucinde.

Hätte mir eins gesagt: Henriette, es ist dein Onkel, der Doctor Leo Perl – ich würde gesagt haben: Der Kopf! Der Blick! Das Auge, ja! Gott im Himmel, es war ein Mann – man hätte geglaubt, er zerschmeißt die Welt – und muß sich taufen! Tauft sich in der Stadtpfarrei! Hier in Kocher vor seiner ganzen Familie! Es war meiner Mutter Bruder! Und der Mann, gewesen wie ein Löwe, ist zusammengegangen wie ein Kind, wie wenn ich sagen wollte, der Moses da auf der Kommode geht zusammen wie hier mein David auf dem Arm!

In diese lebhafte Anschauung einer Phantasie, die auch 303 das kleine Gipsbild gleich nur im vollen Bilde des Propheten sah, den es bedeutete, wiederholte mehrmals David mit kritischer Schärfe:

Warum sitzt Moses?

Die Mutter, die wieder leicht im Stande gewesen wäre, zu erwidern: Auch er war schwach auf die Beine! hatte vor Trübheit ihrer Erinnerungen keinen Ausdruck der Bewunderung mehr über diese Frage, die schon Winckelmann beschäftigt hat, sondern hob den Korb in die Höhe, bat Lucinden, ihr die Thür zu öffnen und versprach, das Billet so pünktlich besorgen zu lassen, als wenn sie es dem Stadtpfarrer selbst überbracht hätte.

Lucinde entsannn sich aus des Dechanten gestriger Erzählung, daß Leo Perl von ihm sein Freund genannt worden war und sogar der Geistliche gewesen sein sollte, der Bonaventura getauft hatte.

Es vergingen ihr jetzt zwei der peinlichsten Stunden ihres Lebens.

Ungeduldig schritt sie auf und nieder, las eine Weile, schrieb, schloß und öffnete das Fenster, sah bald nach dem kleinsten Geräusch, bald verschmähte sie es, dies nach einem größern zu thun …

Wagen rollten an und ab … Aus der Ferne hörte sie die militärischen Uebungen – Trommeln und Schießen … Sie las in Serlo’s Erinnerungen – in Hunnius’ Saronsrosen – sie schrieb an Joseph Niggl … an den Vorsteher des orthopädischen Instituts … sie wußte noch nicht, ob sie dorthin zurückkehren sollte … Sie zeichnete sich mit der Feder auf ein leeres Blatt Papier als Pilgerin mit dem Muschelhut und dem Wanderstabe – 304 sie dachte allen Ernstes daran, vielleicht so hinauszuwandern in die weite Welt und die zu ärgern, die für ihre katholische Wiedergeburt so wenig Anerkennung hatten … Sie sagte sich: An der Schwelle der Peterskirche will ich sterben!

Die Hoffnung, daß plötzlich Bonaventura eintrat oder der Dechant oder Benno oder irgendwer, der eine Vermittelung versuchte, erfüllte sich nicht.

Gegen Mittag erschien Windhack und bot ihr zu essen.

Er wollte ihr, was sie nur begehrte, auf ihr Zimmer bringen …

Sie schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken …

Im Spiegel sah sie, daß sich der Alte zu verwundern schien über die gemüthliche und noch so wohnliche Ordnung des Zimmers, die keine Spur einer Zurüstung zur Abreise trug.

Das Gipsbild wird halt ein bissel schwer zu verpacken sein! sagte er, mit Erwartung, was auf diese ironische Andeutung erwidert würde.

Statt aller Antwort trat Lucinde an die Kommode, fuhr einfach mit der Hand über sie hinweg und warf die Figur hinunter, sodaß sie in hundert Scherben im Zimmer lag.

Windhack schien sein Gefallen an dieser Kraftäußerung zu haben … Lächelnd sagte er:

Wenn Ihnen das Zimmer zu dumpf ist, Fräulein, und Sie frische Luft schöpfen wollen, hier geht gleich die Treppe zu meiner Sternwarte hinauf!

Lucinde sah nicht hin, dankte aber mit einer stummen Kopfverbeugung.

305 Der Dechant drückt Ihnen sein Bedauern aus! Er hat es eben erst jetzt nach seinem Ausgang erfahren! Er läßt Sie fragen, ob Sie noch etwas zu wünschen hätten?

Lucinde schüttelte den Kopf.

Herr von Asselyn, der Pfarrer, ist schon nach St.-Wolfgang zurück …

Lucinde hielt mit beiden Händen krampfhaft das Bret am Fenster fest und sah zitternd in den Park und gen Himmel.

Ein Bote hat ihn nach der Residenz des Kirchenfürsten berufen … Man sagt, er wird dort in eine offene Stelle an den Dom kommen …

Sie lächelte bitter. Ihre Gedanken sprachen:

Empor zu Paula’s Prophezeiung!

Fräulein! näherte sich Windhack vertraulicher …

Sie erwarten einen Brief? sagte er.

Nun wandte sich Lucinde …

Frau von Gülpen, flüsterte er, läßt niemanden mehr zu Ihnen! Hier den Brief da … den hab’ ich halt dem Treudchen Ley abgenommen … aber heimlich … Sie wollte Ihnen für Ihre Theilnahme danken, sagte sie. Ich merkte gleich etwas. Frau von Gülpen meinte, des Nachts wäre noch keine ihrer Nichten so aus dem Hause gelaufen und wenn noch soviel Menschen in der Stadt im Sterben gelegen hätten … Sie würden abreisen! sagte sie. Und während mir das arme Kind dann vom Begräbniß der Mutter erzählte und von einem prächtigen Dienst, den sie bekommen soll, ließ ich mir heimlich von ihr halt den Brief zustecken …

306 Dann sich umsehend, wie wenn Frau von Gülpen an der Thür lauschen könnte, gab ihr Windhack das Billet.

Er entfernte sich, um dem Verdacht zu entgehen, als wenn auch er sich „mit der Person auf Gesprächen betreffen ließe“.

Es war die Antwort des Stadtpfarrers.

Lucinde erbrach und las:

„Meine Hochverehrteste! Ich bin aufs tiefschmerzlichste berührt von der Ihnen widerfahrenen Behandlung! Kaum eine Freundschaft gewonnen, wie die Ihrige, und schon die persönliche Nähe preisgeben müssen! Aber zu erwarten war dieses schnelle Ende! Ihr Geist, Ihr Feuer, Ihre Bekenntnißtreue und – die Dechanei!“ …

Sie nickte, jetzt ganz übereinstimmend.

„Hier an Ort und Stelle!“ fuhr sie zu lesen fort, „wüßt’ ich im Augenblick leider keine Gelegenheit, Sie zu fesseln! Ohnehin ist vor Ihnen als vor einer Emissärin gewarnt worden! Auch meines Bleibens ist hier ja wol schwerlich noch allzu lange! An dem Dom in der Residenz des Kirchenfürsten ist eine Stelle offen, für welche ich gegründete Aussicht habe, daß ich durch den Ihnen bekannt gewordenen Freund und Briefsteller designirt bin …“

Lucinde unterbrach sich mit einem bittern Lächeln, als wollte sie sagen:

Du armer Thor! Diese Stelle ist schon für Bonaventura von Asselyn bestimmt und wird die Staffel werden zu seinem künftigen Bischofssitz!

Und nun schon im Uebermaß ihrer Eifersucht und Liebe zerstreut durch den Gedanken, die alte Renate in St.-Wolfgang packen und aufbrechen und mitreisen, auch 307 durch die Furcht, jetzt wol gar Klingsohrn und Bonaventura zusammentreffen zu sehen – fuhr sie fort:

„Eine Anknüpfung ist vielleicht für Sie durch einen Mann möglich, den ich stündlich von der Residenz des Kirchenfürsten erwarte, einen vielvermögenden Herrn Schnuphase. Er hat, wie er hieher geschrieben, den Auftrag, für ein vornehmes, überaus reiches und einflußreiches Haus daselbst eine Gesellschafterin zu suchen, die gewisser Conflicte wegen mit besonderer Vorsicht gewählt werden muß …“

Lucinde las diese Stelle noch einmal …

Der plötzliche Gedanke, in die Nähe Bonaventura’s und Klingsohr’s verpflanzt werden zu können, ließ sie vor Aufregung den übrigen Inhalt dann fast nur noch überfliegen …

„Das erste christliche Handelshaus daselbst ist das Piter Kattendyk’sche, und wenn Sie vielleicht geneigt wären, bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk –“

Postscriptum. Soeben kommt Herr Schnuphase bei mir vorgefahren! Der Vorschlag ist gemacht, erwogen, angenommen! Sie können, wenn Sie wollen, Herrn Schnuphase sofort begleiten und noch heute mit ihm in die Residenz des Kirchenfürsten reisen, wo Sie nach dem, was ich von Ihnen erzählt habe, im Kattendyk’schen Hause zu einer der glänzendsten Stellungen mit offenen Armen werden aufgenommen werden!“

Lucinde mußte jetzt vor Aufregung, Glückseligkeit und dem triumphirenden Gefühl der Genugthuung und doch wieder auch vor Furcht, alles das – und was mehr, 308 als die Hoffnung, in Bonaventura’s Nähe weilen zu dürfen! – könne doch wieder scheitern, den Brief eine Weile aus der Hand legen.

Dann aber las sie den Schluß:

„Sie können sich aber auch, wenn Sie vielleicht – und zu meiner höchsten Freude – noch einige Tage hier im „Riesen“ wohnen bleiben wollen, einer spätern Gelegenheit bedienen! Derselbe vortrefflichste Herr Schnuphase kehrt in einigen Tagen wieder zurück, um vielleicht dann die ihm von mir empfohlene bedauernswerthe Waise, Gertrud Ley, abzuholen, die er in einer nicht minder respectabeln Stellung unterzubringen hofft, wie er sagt, bei einer verwitweten Frau Hauptmännin von Buschbeck …“

Das Papier entfiel Lucindens Händen.

Wie? rief sie laut vor sich hin und nahm den Brief wieder auf und las die Worte noch einmal.

Es war der wirkliche Name, wirklich war es Treudchen Ley, die diese ihr so wohlbekannte Stellung antreten sollte …

„Das Mädchen“, las sie zitternd weiter, „niedergebeugt von ihrem Verlust, überbringt Ihnen diese Zeilen selbst, zugleich auch, um ihre Freude auszudrücken, mit Ihnen vielleicht gemeinschaftlich die Reise machen zu können. Wäre nicht das Begräbniß ihrer Mutter noch abzuwarten, sie ginge schon heute.“

Zur Hauptmännin von Buschbeck? … Die noch lebt? … In der Residenz des Kirchenfürsten lebt? … Die Schwester meiner zweiten Peinigerin? … Hat diese wol schon den Namen ihrer Herrschaft von Treudchen Ley vernommen? … Ist sie wol gar verbündet mit dieser 309 Schwester, die jetzt von Frommen protegirt wird, sie, der zufolge nicht Gott, sondern Satan die Welt regiert? …

So schossen ihre Gedanken dahin …

Lucinde konnte sich nicht denken, daß die gemeinte Frau Hauptmännin von Buschbeck die ihrige war.

Dennoch überflog sie nur noch kurz die fast zärtlichen Schlußversicherungen der Hochachtung und Ergebenheit, mit denen Beda Hunnius seinen Brief geschlossen hatte, warf ihren Shawl um, setzte den Hut auf und eilte die Stiege hinunter, um, unbemerkt über das, was sie im Hause etwa aufhalten, etwa anstaunen, etwa anreden konnte, hinüber in die Stadt zu eilen, wo sie im Uebermaß ihrer neuen und glücklichsten Hoffnungen in der Pfarrei erwartete, entweder Aufklärungen zu vernehmen oder, wenn ein ihr lieb gewordenes junges Mädchen in Gefahren gerathen sollte, die sie kannte, deren die vorsorglichsten dann selbst zu geben.

Ihr Herz war vielleicht nicht mehr gut, aber auch noch nicht böse …

Sie war das, was ein starker Bildner aus ihr hätte formen können.

310 12.#

Benno aber, Hedemann, Thiebold de Jonge … wo weilen die, die uns hoffentlich ein wenig lieb geworden sind oder die es mit der Zeit vielleicht noch zu werden hoffen?

Ihrer habhaft zu werden ist nicht möglich.

Wol aber tauchen sie mit dem, was uns an ihnen vielleicht interessirt, bei einem ersten Blicke auf, den wir noch zuletzt – acht Tage mögen freilich verstrichen sein – auf die vielgerühmte Residenz des Kirchenfürsten selbst werfen wollen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Da liegt Sie denn also vor uns! … Eine königliche Stadt! … Die gewaltige Jungfrau, die bei festlichen Gelegenheiten, gemalt oder aus Gips und Draperieen geformt, den Genius derselben vorstellt, ziert mit Recht die majestätische Mauerkrone! …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kein gebietender Herrscherwille schuf dies Chaos von Thürmen, Kirchen, Kapellen, Klöstern, Giebeldächern, Rath- und Kaufhäusern, Waarenhallen, Hafenspeichern, Schiffsmasten, jetzt auch von dampfenden und funkensprühenden Feuerschloten!

Was da im Abendglühen von den letzten Strahlen 311 der scheidenden Sonne des ersten Septembertags erleuchtet und von der matten Scheibe ihres Stellvertreters an der Wächterzinne des Himmels sanft bläulich schon angedämmert vor uns liegt, schuf sich im Laufe zweier Jahrtausende durch die Umstände selbst!

Hier stieß der Römer seine Lanze in den Boden und baute statt windbewegter Zelte Castelle, wie uralte Cyklopenarbeit … Hier stampften die Rosse Karl’s des Großen, wenn sie rasteten vom Marsch aus den Thälern von Roncesvall und entgegenschnaubten den Wittekindsschlachten auf jenseitigem Ufer … Hier fing sich, Schiffssegel blähend und den Handel der Welt belebend, Nordsturm, vom eisigen Island brausend, Ostwind, der aus der Levante wehte und den Weg an den Ufern Spaniens, Frankreichs und Hollands entlang die Waaren nehmen ließ, die sonst über Venedig kommend nur Augsburg und Frankfurt bereichert hatten … Hier drängte und trieb und stieß die Zeit die Zeit, die Sitte die Sitte, die Meinung die Meinung … Was übrig geblieben von Zeit und Sitte und Meinung, das ergänzt die Ordnung und Civilisation der Gegenwart … ja sie ergänzt sogar die Ruinen und baut das mit künstlichem Glauben aus, was der natürliche unvollendet ließ.

Es ist neun Uhr Abends …

Noch einmal schlagen all diese Kirchthurmglocken zusammen, wie wetteifernd mit den Trommeln in den Kasernen, mit dem Signalhorn vor den Wachthäusern! Es ist die Stunde, wo die Müden zur Ruhe gehen sollten – eine arbeitende, fleißige und gewinnsüchtige Stadt wird früher müde als eine Stadt nur des Luxus und Genusses …

312 Und doch gibt auch diese sinnlichbewegte und lebenssichere Stadt nicht nach … noch wogen die Menschen auf und ab … noch lustwandeln sie auf der die Ufer des großen Stromes verbindenden großen Schiffbrücke, die wie von Fischbein sich biegt unter jedem Roß und Wagen … noch stehen Liebende in träumerischem Plaudern über die Brüstung gelehnt und sprechen von zukünftigem Glück, das nur zu oft dem Golde gleicht, das eben der Mond auf den Fluten schwimmen läßt … in den Schenken kämpft die Rebe und der Saft der Gerste um den Sieg … das christliche Opium, die Cigarre, secundirt beiden Parteien, bis die Kämpfer – vorläufig auf beiden Seiten unterliegen …

Hat sich denn, du alte Römerstadt, endlich im Zechen und Reden und Singen dein deutsches Gemüth genug gethan? Hat es sich endlich ausdebattirt und auspolitisirt? Sattgetrunken an ungegorenem Zeitungsmost und zu Essig gewordenen oder schon mit Schimmel bestandenen alten Gemeinplätzen? Hat ausgeklingelt und ausgeklüngelt die Schellenkappe? Verdampfen die lebendigen Rauchmaschinen in den Straßen und erklingen endlich nur noch die letzten guten oder schlechten Geckenwitze? Eine Gute Nacht! hüben und drüben … Alles endlich still, falls nicht noch irgendwo ein Mitglied der mehreren hochberühmten Gesangvereine der Stadt ein Tenorsolo probirt bei offenem Fenster … die musikliebende Stadt ist stolz auf ihre Leistungen im Quartett; niemand, außer vielleicht einer Katze, wird den Sänger parodiren.

Halten wir aber am sogenannten Heiligenpütz still, überschreiten links den Aschenkötter, lassen rechts den 313 Treckkamp liegen und bleiben wir endlich vor einem mit zwei hellen Gaslaternen geschmückten, jüngst erst mit graugrüner Oelfarbe bestrichenen stattlichen Gebäude …

Das untere Stockwerk ist mit Eisengittern geschützt.

Steinerne Kegel, die mit Ketten verbunden sind, halten das profanum vulgus, das ohne Wechsel oder Anweisung nur etwa aus purer Neugier in die Comptoire blicken könnte, zurück …

Irgendein Schild, irgendeine Firma ist nicht ersichtlich …

Wer hier die blitzende Messingklingel zieht, weiß, daß in diesem mächtigen Hause mit seinen weit hinaus sich erstreckenden Hintergebäuden, die alle auf den Heiligenpütz, den Aschenkötter und den Treckkamp noch ihre eigenen Thorwege hinaus haben, das erste „christliche“ Geschäft der Stadt, die Firma „Kattendyk und Söhne“ waltet.

Oeffnet man uns dann, so steckt ein Portier den Kopf aus einem Kellerfenster des Thorwegs …

Man kennt uns? Passirt! Wir finden uns zurecht …

Ein Glasverschlag trennt das Treppenhaus von der Region der untern Stockwerke; unten waltet nur das Geschäft …

Man läßt die mit Blech belegten Eichenthüren und mit Eisenstangen verschlossenen untern Comptoire liegen und steigt erst drei kleine Stufen höher …

Hier wieder eine Klingel. Die Glasthür öffnet sich. Jetzt erst schreitet man auf Teppichen in den ersten Stock hinauf …

314 Gewiß ist es ein behagliches Gefühl, sich Abends gegen zehn Uhr in einem Haufen todter Steine, während ringsum alles schon zu schlummern scheint, einen kleinen stillen Winkel denken zu können, wo im Winter und selbst in den ersten Herbsttagen schon die Flamme des Kamins noch nicht erloschen ist, ein gelblicher Schein von der durch einen bunten Schirm gedämpften Glaskugel der Lampe die Teppiche auf dem Fußboden und auf dem Tische erhellt, einen Winkel, wo noch ein kleiner Kreis von Menschen sich um ein Piano versammelt hat oder um ein Buch, das vorgelesen wird, oder um einen geistvollen Redner oder eine gemüthvolle Frau, die jeden heiter anzuregen versteht. Einem Einzigen, Unverbesserlichen vielleicht ist gegen zehn Uhr von der Hausfrau noch gestattet worden, dicht am Kaminrande mit Discretion eine Cigarre zu rauchen; zwei junge Damen schneiden eine Zeichnung aus; einige junge Herren sind über eine neue Oper in Streit gerathen; gelöst wird der Kampf von einem nicht fehlenden, den Abend beschließenden kleinen Stegreif-Souper. Geht man dann gegen elf Uhr von dannen, so trägt jedes mit sich hinaus das Gefühl, das uns zuweilen wol noch erstens in eine geöffnete Restauration ziehen kann, um auf magenverderbende Majonaisen ein gutes Beefsteak und ein Seidel Bier zu setzen, aber auch zweitens jenes Gefühl, daß wir denn doch im Grunde ein Dasein leben, unabhängig von Holz und Stein und Stundenschlag und Nachtwächterhorn, und daß wir mit schönen Seelen noch schön empfinden können und unsere Leidenschaften zügeln oder anständig verbergen und aufgehen können in einer schönen harmonischen Welt-315ordnung, aus der wir uns nur langsam zurückfinden in diese „schnöde Welt“ – vielleicht erst durch die Mahnung eines vergessenen Hausschlüssels.

Bis elf Uhr mag diese behagliche Erinnerung im allgemeinen auch auf eine Gesellschaft gepaßt haben, an der wir diesmal im ersten Stock des Kattendykschen Hauses vorübergehen. Um diese Zeit saßen bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk gewiß noch ihre Töchter, die verheiratheten und die unverheiratheten, zusammen, ihre Schwiegersöhne, der berühmte Procurator Dominicus Nück, Benno’s Principal, der „Vordenker“ und Agitator der Lande hüben und drüben, soweit zu Gott in lateinischer Zunge gebetet wird, vielleicht auch noch ein anderer Procurator, der Procuraführer des Hauses, Ernst Delring, der zweite Schwiegersohn; vielleicht auch der Beichtvater der Commerzienräthin, Domherr Martinus Taube; auch ihr Rathgeber in leiblichen Angelegenheiten, Medicinalrath Goldfinger; vielleicht sogar, da die nahe gelegene, bedenklich bedrohte Universität Ferien hat, dessen Sohn, der Professor extraordinarius Guido Goldfinger, der um die jüngste Tochter des Hauses freit; auf alle Fälle fehlt der dritte und sogar lustige Rathgeber des Hauses, Ignaz Pötzl nicht, ein ehemaliger Schauspieler und Sänger, der das Gnadenbrot im Hause mit Anekdoten und stillertragenem Gehänseltwerden lohnt … und was sich sonst an Parasiten und Hausfreunden und allerlei menschlichen Schooshündchen um eine reiche, anregungsbedürftige Kaufmannsfrau, die unter der Last, sich und andern wohlzuthun, oft zusammenbricht, täglich zu versammeln pflegte … auch eine neue Mehrung der Gesellschaft fehlte ohne Zweifel nicht – – – Lucinde Schwarz.

316 Belauschen wir heute keinen der hier ausgestoßenen Seufzer über die Zeit, die neuen pariser Moden und die Leiden der Kirche, keine Klagen über den Aufschwung der jüdischen Häuser, keine Vermuthungen über die Besetzung des erledigten Domvicariats, keine Bewunderung vor einem neuen Zeitungsartikel oder einer neuen Selbstdemüthigung des Pater Sebastus, auch keine stille Vergleichung der glänzenden Berichte Jean Baptist Maria Schnuphase’s über die seit einigen Tagen aus Kocher am Fall angekommene neue Gesellschafterin mit ihrem wirklichen Benehmen … ihrer so sittsamen, fast stummen Haltung, ihrem täglich zweimaligen Kirchgang und einem so tief, tief demuthsvoll niedergeschlagenen Blick, daß man schon anfängt, über eine so unerwartete Einfachheit und fast zu weit gehende Anspruchslosigkeit einer doch äußerlich so auffallenden und überraschend schönen Erscheinung staunend – den Kopf zu schütteln …

Steigen wir einen Stock höher …

Im zweiten Stock wohnen der Procuraführer Ernst Delring und seine Gattin Hendrika geborene Kattendyk; nach hinten hinaus aber Piter Kattendyk, ihr Bruder, der einzige Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin.

Piter hat nach hinten auch noch den ersten Stock in Beschlag … beide waren durch eine niedliche Wendeltreppe verbunden …

Wir finden auch bei Herrn Delring schon alles dunkel.

Dagegen sind bei Piter noch der erste Stock, der zweite und die Wendeltreppe prächtig erleuchtet.

Piter Kattendyk hatte einen seiner glücklichsten Momente …

317 Umgeben ist er nicht nur von seinen „guten“, sondern heute sogar von seinen „besten“ Freunden und sie zechen und sie schmausen und sie jubeln – ganz im üblichen Tone der alten frommen Römerstadt.

Die Bowle steht auf dem Tisch, die kunstvoll geschliffene, rosenrothe Krystallbowle …

Sie ist gefüllt mit einem nach allen trinkwissenschaftlichen Gesetzen der Vereinigten Staaten Nordamerikas gebrauten Sherry-Punsch …

An den drei vor Cigarrendampf etwas matt brennenden Glaskugeln, an den Anekdoten, deren zwei Drittheile aus dem „Humoristen in der Westentasche“ entlehnt sind, an der Fülle von bei alledem wiehernd belachten „Witzen“, an gewissen Thatsachen, die man vorher immer als etwas „auf Ehre zu Verbürgendes“ und mit einem Schnedderedeng der glaubwürdigsten Versicherung Anzupreisendes verkündigte und nachher dann doch allen noch so touchirenden Zweifeln preisgab, merkt man, daß man sich hier unter den Jünglingen mit den malerischsten Bärten und den halbgelösten bunten Halsbinden unter der kaufmännischen Aristokratie der Stadt befand … Alle führen sie Namen, vor denen Tausende ihrer Mitbürger selbst im Traume den Hut abziehen.

Wie hängt auch hier alles am Wink ihrer Augen! Zwar trennt eine große Glasthür diese höchst respectabeln jungen Herren der Schöpfung von einem im Vorgemach eingeschlummerten Diener in Livree; die alte Kathrine jedoch unten in der Küche der Mutter wacht noch, hat sie auch sowol einer heute erst neu zugezogenen Kammer-318jungfer der Frau Hendrika Delring wie dem Kutscher und dem ersten Hausknecht gesagt:

Na, ich denke wol, um ein Uhr kann ich zur Ruhe gehen! Der junge Herr Thiebold de Jonge sind zugegen! Da blasen sie blos Trompete! Zur Trompete brauchen sie blos manchmal ein bischen mehr Arak und die Arakflasche hat Herr Piter immer selbst zur Hand!

Thiebold de Jonge war erst gestern von seinem kurzen Kriegsfeldzuge zu Kocher am Fall und einer damit verknüpft gewesenen kleinen Reise zurückgekehrt. Mit drei Tagen hatte man die Uebungen zur allgemeinen Wehrtüchtigkeit bewenden lassen. Das „Blasen der Trompete“ war jedoch von Seiten Kathrinens keine Anspielung auf die Montur Thiebold’s, in der dieser Abschied genommen hatte von Freund Piter, als er mit von Enckefuß Extrapost abreiste – Freund Benno von Asselyn wollte in „einem Anfall seines gewöhnlichen todtschlägerischen Humors“ zu Fuß gehen. Die andern Genossen waren noch militärfrei und hatten sich vorläufig allenfalls durch „zu schwache Brust“ von dem Waffendienst ledig gemacht, was jedoch nicht hinderte, daß sie soeben die Arie: „Von Romeo’s Rächerarmen“ – die Schröder-Devrient hatte vor kurzem erst in der Stadt gastirt – mit einem Effect sangen, ja die Worte: „Soll sich kein Gott erbarmen!“ so hervorhoben, daß das ganze Haus bis in die hintersten Waarenmagazine erzitterte.

Die Trompete entsprach einer andern Ideenverbindung.

Clemens Timpe (Timpe’s sel. Erben, Commission und Spedition) war auch in der Union gewesen, hatte „Seewasser gekostet“ wie Thiebold de Jonge … wenn 319 auch nicht wie dieser sogar das Naß amerikanischer Wasserfälle … Clemens Timpe sprach nie von einem Whip oder Brandygrog oder sonst einer pikanten höhern Alkoholvergiftung, die er in Boston oder Neu-Orleans kennen gelernt hatte, ohne die „Sherrypunschbrauerei“ des canadischen Holzflößers Thiebold de Jonge zum Gegenstand einer Discussion zu machen, wobei der vom Wasserfall zu St.-Moritz Gerettete und leidenschaftliche Schwärmer für Armgart von Hülleshoven, die Tochter „seines zweiten Vaters“, wie er sagte, meist, wie sonst nicht seine Art war, unterlag. Heute saßen Piter und die Freunde um die Arakflasche, wie tätowirte Indianer, nicht jedoch „gierig nach flüssigen Feuerfluten“. Sie saßen, nach einer lebhaften Discussion, ob Whip – ob Brandygrog – ob kalten Sherrypunsch! bei letzterm und nun waren sie gereiht um einen glänzenden Mahagonitisch, die Linke cigarrenbewaffnet, in der Rechten mit langen Maccaronistengeln, durch die sie den Sherrypunsch einschlürften … eine Trinkmethode, die Thiebold de Jonge hier zu Lande eingeführt hatte. Man durfte sie allerdings dann adoptiren, wenn, wie z. B. heute, es galt, einen von Rostbeef à l’Anglaise, Salmen à la Hollandaise, Rebhühnerpastete à la Kathrine Fenchelmeyer – Kathrine unten in der Küche der Mutter Commerzienräthin hieß Fenchelmeyer und war nicht blos in Rebhuhnpastete, sondern auch in Fischsaucen Original – und von dem dazu nöthigen Rhein-, Mosel-, Bordeaux-, Burgunder- und Portwein überhitzten Gaumen allmählich linde und leise und lieblich wieder abzukühlen.

Der „junge Herr“ (zu Ehren der uralten Firma 320 und bei der Tendenz der Neuzeit zur alten Zeit Piter genannt), Piter Kattendyk war einer der „famosesten“ jungen Gentlemen der stolzen Handels-, Gewerbs- und Kirchenstadt. Er hatte heute die Absicht, um vier Uhr Morgens, wenn die von Paris kommende Briefpost sich eines Stückchens Eisenbahn bediente, das schon am jenseitigen Ufer einige Meilen hinein ins Land ging, sich mit dieser Reisebeförderung in die Gegend von Witoborn zu begeben, wo ihn Dominicus Nück, sein Schwager, zu einem schleunigst arrangirten Güterankauf benutzen wollte … Benutzen! Ihn! Himmel, wenn Piter dies von Nück wirklich zu mehreren Domherren und besonders dem Secretär des Kirchenfürsten, Eduard Michahelles, gebrauchte Wort in Erfahrung gebracht hätte! Ihn „benutzen“! „Vorschieben“ schon hätte ihn beleidigt! Pitern, dem jetzt alles daran lag zu beweisen, daß sein Schwager Ernst Delring, der Procuraführer und bisherige Chef, vor seinem Genie sich in Acht zu nehmen hätte, seitdem er, der „junge Herr“, von Reisen zurückgekommen war! Pitern lag, als er die Zustimmung zu dieser Reise nach Witoborn gab, nur an einem Beweise seiner seltenen Einsichten und seines Geschmacks für eine neue Reisetoilette, in der er sich bereits fertig befand, theils ganz schottisch, theils halb schottisch. Piter wollte in diesem malerischen Costüme Wälder und Felder und Mühlen kaufen, für welche Dominicus Nück dann vielleicht wieder einen Abkäufer wußte, vielleicht das Domkapitel selbst – eine Differenzsumme erstens für das Haus Kattendyk und Söhne und zweitens für Dominicus Nück blieb schon übrig – kurz einen irgend ähnlichen Zweck gab es zu einer Reise, um derentwillen 321 die zu einem letzten „Satz“ von Pitern entbotenen Freunde so spät noch bei ihm blieben, ja sogar gewillt waren, im Anfall einer beim Sherrypunsch zu allem fähigen Romantik, ihm gegen vier Uhr Morgens das Geleit auf den provisorischen Bahnhof zu geben.

Auf den Untergang aller Schnell-, Fahr- Malle-, ja Extraposten nicht ausgenommen! rief Joseph Moppes (Joseph Moppes sen., Weingeschäft) und begleitete diese eigenthümlich betonten Worte mit einem anzüglichen Blicke auf Thiebold de Jonge, der heute der einzige nicht recht in die allgemeine „ungeheure Heiterkeit“ Miteinstimmende war.

Thiebold ließ es ruhig geschehen, daß Gebhard Schmitz (A. und G. Schmitz, Stahl-, Eisenwaaren und Hüttenbetrieb) auf seine Kosten denen, die noch nichts davon wußten, die „kolossale Idee“ des Hausknechts im Riesen zu Kocher am Fall erzählte, der die sich selber ölenden neuen englischen Patentachsen am väterlicherseits geborgt gewesenen Landau Thiebold de Jonge’s abgedreht und mit Wagenschmiere verdorben hatte …

Gerade so wie Henneschen, rief nachträglich in den lachenden Chorus Gebhard Schmitz hinein, wenn er die Lackstiefeln seines Herrn mit Wichse tractirt!

Thiebold saß ruhig mit aufgestemmten Armen und senkte den Kopf auf seine Trompete, den Maccaronistengel herab, den er mit aller Ruhe wie zu einer „stillen Musik“ der Seele, ja, wie ein Schäfer Arkadiens seine Flöte blies und dabei vielleicht über die Theorie des Stechhebers oder des Luftdrucks oder sonst etwas Höheres nachgrübelte …

Thiebold war eine etwas zum Embonpoint neigende, 322 aber hoch und schön aufgeschossene blonde Natur, frisch und rund in seinen angenehmen Gesichtszügen, von einem schöngepflegten, ins Goldgelbliche spielenden Barte, in allem zu männlichstem Effect bestimmt, nur zu lebhaft, zu sehr oft ein Vorsprecher, Anekdotenerzähler, heute jedoch fast „tiefsinnig“, wie ihm Piter vorwarf, und sogar bei Tische, wo er sich das Tranchiren – Aufschneiden, wie seine Freunde sagten – niemals nehmen ließ, von einer Apathie, die einige – freilich spottweise – für die Nachwehen seines hier schon zum Amusement gewordenen Sturzes in den St.-Moritz, andere für den untrüglichen Beweis hielten, daß Thiebold „einmal wieder“ verliebt wäre … Letzteres war eine Verleumdung, da er seit dem ersten Besuch des Pensionats der Englischen Fräulein von Lindenwerth für keine weibliche Erscheinung der Welt, die nicht Armgart hieß, mehr Sinn hatte.

„Schwing dich auf, Frau Nachtigall!“

intonirte Joseph Moppes, der einen klangvollen ersten Tenor für die berühmten Quartette der Vaterstadt commandirte, und er that dies schon zum zweiten mal, um Thiebold de Jonge mehr in die allgemeine Heiterkeit mit hinüberzuziehen.

Die Eisenbahnen waren noch so neu und die sämmtlichen „Häuser“ dieses jungen mercantilischen Vollbluts so an den Actien derselben interessirt, daß das Gespräch von den Patentachsen des vom Hausknecht im Riesen fast verdorbenen Landau sogleich auf diese selbst überging und einstimmig vereinigte man sich mit einem hohen und außerordentlichen Ernste in dem sehr paradoxen Satze, daß 323 die Eisenbahnen wirklich eine merkwürdige Erfindung des menschlichen Verstandes und jedenfalls ein Fortschritt wären.

Thiebold, der sonst niemals lange schweigen konnte und heute wirklich wie von einem entschiedenen „Weltschmerz“ beherrscht schien, ließ sogar die ganz aus der Tiefe wie ein Unkenton aus dem Sherrypunschglase hervortönende Bemerkung fallen:

Der Generalpostmeister hat erklärt, mit den Eisenbahnen hörte die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf!

Gewisse englische Groans oder ironische Beifallsspenden hatten die Freunde schon für mehrere heute Abend gefallene Aeußerungen in Bereitschaft gehabt. Sie brachen auch jetzt über diese de Jonge’sche Aeußerung und sogar mit einem Trommeln auf Tisch und Fußboden aus …

Im Staatsrath, fuhr Clemens Timpe allen Ernstes fort, ist wahrhaftig die Majorität – nein wirklich hört doch! – die Majorität noch schwankend, ob die Eisenbahnen überhaupt weiter zugelassen werden sollen …

Und Joseph Moppes fiel ein:

Weiter, als wir uns hier schon wieder infolge unserer unverbesserlichen Nachäffungssucht herausgenommen haben!

Wie hierauf die Worte: „Eine jute jebratene Jans ist eine jute Jabe Jottes!“ passen und von der ganzen Gesellschaft mit einer jener jubelnden Zustimmungen, die man gewöhnlich „Hohngelächter der Hölle“ nannte, aufgenommen werden konnten, wird niemand begreifen.

Und dennoch hatte damit Weigenand Maus (Maus & Compagnie, Droguerie- und Farbwaaren) nur sagen 324 wollen: Was läßt sich von den Ghibellinen anderes erwarten !

Man setzte nun vom socialen Standpunkte aus die Anklagen fort, die Bennrath von Nennhofen auf der Conferenz des Beda Hunnius vom kirchlichen erhoben hatte. Man begann durcheinander Mir und Mich zu verwechseln, schilderte den Appetit der Offiziere und Beamten bei dem letzten Diner ihrer Väter, machte dem immer schweigsamer werdenden und in völligem Nichtvertheidigungszustande befindlichen Thiebold de Jonge Vorwürfe über seine Reise mit Herrn von Enckefuß und bestätigte den separatistischen Geist, auf den damals und noch jetzt die Thiers, Odilon-Barrots und Bonapartes rechnen, wenn sie von einem ganz ohne Schwertstreich zu erobernden linken Rheinufer sprechen.

Man durfte erwarten, daß Thiebold jetzt endlich auffahren konnte und gewohnterweise sich vielleicht die Freundschaft mit von Enckefuß verbat. Er schwieg aber und zuckte nur mitleidig die Achseln. Die ganze Reise in seinem Landau nach Kocher am Fall schien von ihm vergessen worden zu sein und Joseph Moppes hatte sehr Recht oder bekam es wenigstens durch die allgemeine Zustimmung, als er Thiebold vorwarf, erst mit so großem Jubel zu den Uebungen abgegangen zu sein und jetzt in solcher Laune zurückzukehren. Und als Thiebold brummend diese Uebungen für das Langweiligste von der Welt erklärt hatte, sagte Joseph Moppes zu allgemeiner Billigung:

Merkwürdig, de Jonge! Bei Ihnen ist immer alles entweder gleich „Supra“ oder „unterm Nachtwächter“!

Letzterer hatte inzwischen schon längst die zwölfte Stunde 325 gerufen und die zahllosen Thurmuhren der frommen Stadt hatten diese Angabe in allen Tonarten bestätigt …

Die Elasticität der sieben Freunde ließ jedoch nicht nach. Auch Thiebold bekam eine erhöhtere Stimmung, d. h. negativ, bis zum offenbaren „Sein oder Nichtsein“ à la Hamlet. Er fuhr sich in seinen schönen blonden Scheitel, zupfte am Barte, schlug zuweilen das Glas auf den Tisch und hatte eine Welt voll Zorn und Aufregung und Schmerz und doch dabei wieder auch, schien es bei alledem, von Lust und Freude in der Brust. Er hätte sich jetzt offenbar ganz gern, wie es bei Goethe heißt, „mit einem Poeten associirt“, um seine Empfindungen so ganz con amore auszusprechen, wie sein volles, wirklich gutes und der reinsten Liebe und Dankbarkeit fähiges Herz sie fühlte, nicht wie sie Joseph Moppes, der heute, da Thiebold pausirte, die Oberhand hatte, parodirte.

Merkwürdig aber bei alledem die Glückseligkeit Piter’s! Piter braute nur bald mit Sherry, bald mit Arak an der Bowle, schenkte die Gläser voll, lächelte nur und genoß das Glück, sechs solche Freunde zu haben … Piter schwieg! Piter, der nicht ertragen konnte, daß sein Schwager Ernst Delring fünf Worte sprach, die er nicht sofort durchkreuzte mit seinem täglichen, ja stündlichen „Hören Sie ’mal, Delring, ich bin nicht mehr derjenige, welcher –“

Nämlich auch Piter war blond, aber nicht von der Fülle und Kraft seines Freundes Thiebold de Jonge. Er war auch schlank, freilich viel schmächtiger. Sein Kinn und seine Lippen waren weniger ganz bartlos, als nur etwas stark dünnbärtig. Kaum dreiundzwanzig Jahre alt, hatte Piter schon das Leben gleichsam hinter sich, 326 ohne darüber die Energie des Willens und einen seltenen Ehrgeiz verloren zu haben. Seit einiger Zeit war er von „Bildungsreisen“ nach dem Auslande zurückgekehrt und nahm nun, als einziger Sohn der verwitweten Frau Commerzienräthin, an dem großen Geschäfte theil in einem Grade, der ihn mit seiner ganzen Familie in die heftigsten Conflicte brachte. Piter glaubte die vollkommenste Berechtigung zu haben, sich keine gewöhnliche Natur zu dünken. Vorurtheilsvolle Menschen mochten vielleicht sagen: Dieser einzige Sohn wurde nach dem frühen Tode Piter Noë Kattendyk’s von der Mutter wie ein Prinz erzogen! Während sie in die Bäder und nach Rom und Paris reiste, wurde Piter durch Beispiel und Erziehung zu einer unglaublichen Meinung von sich selbst gesteigert! Aber Piter sah nicht ein, warum er von sich gering denken sollte. Er schwieg nur unter Freunden, wie sie jetzt bei ihm Sherrypunsch tranken; sonst nie; immer führte er das Wort und schon als neunzehnjähriger junger Mann, der eben von der Handelsschule kam, hatte er wie ein Principal die Hände in den Beinkleidertaschen und wußte über jeden Gegenstand in Oper, Ballet, Freihandel und Statistik der Ein- und Ausfuhr eine Meinung zu behaupten. Widerspruch duldete er sonst, jetzt nicht mehr, am wenigsten aber von Menschen, die ihm durch Bande des Bluts verbunden waren und etwa dadurch ihrerseits die Berechtigung zu haben glauben durften, ihn als großen Charakter nicht im mindesten anzuerkennen. Nur die Mutter schonte den einzigen Sohn. Er glich so ganz ihrem Seligen, für den sie jetzt noch nach zehn Jahren so viel Messen lesen ließ, als wenn dieser Gute durch seinen Titel als Com-327merzienrath und seinen Orden, die ihm beide freilich Protestanten gegeben hatten, immer noch an der Pforte des Paradieses uneingelassen umherirren müßte … Merkwürdig dabei, daß Piter mit seinen blauen Augen, seinem fast unsichtbaren Bärtchen um Lippe und Kinn und Wange eigentlich ein herzensguter Junge war. Er hatte Anfälle von Gemüth. Für einen sogenannten „guten Freund“ konnte er sich im wörtlichsten Sinne todt schlagen lassen; wie oft hatte es nicht schon einen nächtlichen Zusammenstoß mit den Spießen der Straßenwächter, ja sogar den Gewehrkolben der Schildwachen gegeben! So streng er im Comptoir war und sich die Miene geben konnte, als müßten Bücher, die dreißig Jahre gestimmt hatten, jetzt einmal von einer Commission geschworener Buchhalter oder von ihm allein in einer „stillen Abendstunde“ gründlichst revidirt werden, so nachlässig behandelte er die Contocorrenten etwaiger Anleihen der Freunde, die mit ihm Sherrypunsch tranken. Wer Piter’s Verstand anerkannte, konnte bei ihm über alles gebieten. Wer aber zuweilen an seinem Verstande zweifelte, was seine Schwäger, seine Schwestern und die ältern Buchhalter nicht mehr wie gern thaten, hatte einen geschworenen Feind in ihm. Wie Piter von sich selbst dachte, bewies er eines Abends in einem Cirkel seiner Mutter, wo er bei Gelegenheit der damals eben wieder neu aufgekommenen Phrenologie sagte: „Die Phrenologie hat an mir die Zeichen des sanguinisch-nervösen Temperaments entdeckt! In erschreckendem Grade findet sich an meinem Schädel (er sah dabei auf seinen Schwager Delring) die Anlage der gegenständlichen Auffassung! Sehr 328 groß ist (er blickte auf seine drei Schwestern) mein Zerstörungssinn! Selbstachtung aber und (nun sah er, doch etwas liebevoller, auf seine hochgespannte und fromme Mutter) ein bischen Neigung zum Wunderbaren mildert diese gefährliche Anlage! Gering ist indessen (die Mutter zuckte schon wieder zusammen und entsetzte sich über den Blick, den Piter auf einige der Domherren warf), gering ist mein Verehrungssinn! Schwach, ganz schwach ist meine Anhänglichkeit (die Mutter, außer sich über ihre Täuschung, protestirte fast mit Thränen) und am wenigsten ausgebildet ist mein sogenannter Ingenieursinn! Aus letzterm muß ich schließen, daß ich nie eine Vorliebe für große Bauten haben werde!“

Diese Bemerkung war die allerbitterste. Sie ging auf eine Summe von 10000 Thalern, die die Mutter zum Ausbau eines gewissen berühmten großen Domes verwilligt hatte. Denn an sich hatte Piter im Gegentheil das ganze altbewährte Haus seiner Aeltern neuerdings fast umgerissen, Treppen gebaut, wo früher keine waren, Alkoven zerstört, Säle geschaffen und vorzugsweise seine Schwester Hendrika Delring so in der langgewohnten Existenz ihres zweiten Stockes beeinträchtigt, daß diese Aermste, wie sie sagte, sich vor dem Bruder kaum rücken und rühren konnte, von dem Lärm seiner nächtlichen Orgien ganz zu schweigen. Nur die Besonnenheit ihres Gatten hielt sie von äußersten Schritten zurück, die niemanden hätten wunder nehmen dürfen, da die vortrefflichste Frau nach zehnjähriger kinderloser (gemischter) Ehe Mutter zu werden in nächster Hoffnung hatte …

In Piter’s Freundeskreise aber schlug es jetzt im Durch-329einander der Debatten, vorzugsweise jetzt über Westen und Cigarren und durchreisende Sängerinnen bereits halb zwei Uhr … und wer hätte nun nicht schon in einem Sylvesterkreise das neue Jahr abgewartet und die Entdeckung gemacht, daß dreißig Minuten vor „des Jahres letzter Stunde“ der lebendigste Humor zu der Erkenntniß kommen kann, ob er sich im Abwarten des neuen Jahres auch nicht vielleicht zu viel zugemuthet? Der Punsch ist in der Terrine kalt geworden, der Witz erschöpft sich schon in Leberreimen und zwei- und dreisilbigen Charaden; immer müder werden die Augen, immer langsamer schleichen die Minuten, die noch bis zur allgemeinen Umarmung und kußbesiegelten Beglückwünschung hin zu verleben sind. Wer da nicht im Stande ist ans Klavier zu springen und einen elektrisirenden Tanz zu spielen, der kann erleben, daß einer um den andern das große Unternehmen, den letzten Stundenschlag des Jahres abzuwarten, völlig aufgibt und in aller Stille davonschleicht mit einem das ganze Jahr zusammenfassenden Trinkgeld an die gratulirende Bedienung.

Um ein Viertel auf vier Uhr hatten die Freunde zwei Wagen zu erwarten, die im Hofe unten auf die Minute sollten angespannt erscheinen. Es war auch ganz bestimmt vorauszusehen, daß sie alle noch etwa eine Stunde auf den Divans ringsum schlafen und tüchtig schnarchen würden, aber zwischen ein und zwei Uhr zeigte sich davon noch keine Spur …

Fehlte auch die lebhafte Mittheilung des auf Spott jetzt sogar verdrießlich werdenden und den Kopf aufstützenden Thiebold de Jonge, stockten die Zungen schon und mußten sogar die sonst ganz ungentilen Anspielungen auf 330 die einzelnen Geschäftsbranchen, wie: „Sie sind auf dem Holzwege!“ zu dem Holzhändler Thiebold, oder „Schenken Sie reinen Wein ein!“ zu dem Weinhändler Moppes, durch die Vermittelung der andern gütlich beigelegt werden, so fehlte es doch immer noch an Stoff der Unterhaltung nicht; denn es gab zwei Themata, die in diesem Kreise endlos variirt werden konnten. Das waren die Juden und die Frauen.

Erstere hatten sich in kurzer Zeit hier sehr emporgeschwungen. Eine nicht zu entfernte Verwandtschaft der Hasen-Jette, die Fulds, rechnete man zu den dreifachen Millionären und wenigstens im Wechselgeschäft hatten die Brüder Moritz Fuld und Bernhard Fuld alle überflügelt. Sie hatten Comptoire in Paris, Brüssel und Amsterdam, machten ein großes Haus, hatten eine Besitzung im Enneper Thal gekauft, dort eine Villa, sogar eine Kirche gebaut. Es konnte zunächst keinen anziehendern Stoff geben, der hier besprochen wurde, als das Haus Fuld und Söhne, und im Verlauf dieser Mittheilungen, die indessen eine Kette nur von Spott und Misgunst waren, wurde auch Thiebold lebendiger und erregter.

Gebhard Schmitz und Joseph Moppes hatten zwei Kunstfertigkeiten, die miteinander wetteiferten. Dieser intonirte die anziehendsten Lieder, jener war ein Dialektkünstler. Ob sächsisch oder berlinisch oder frankfurtisch oder im Volkston der eigenen Vaterstadt, war ihm gleich. Er ahmte jede Mundart nach, so weit die deutsche Zunge reicht. Vorzugsweise aber war ihm das Jüdeln geläufig. Er erzählte von Juden nie anders als im rauhsten Kehlkopftone. Und wenn er von Spinoza hätte sprechen 331 können, Gebhard Schmitz würde dessen Philosophie vorgetragen haben wie die eines Hausirers, der von seinen Masematten spricht.

Von einem der Fulds, zwei in den pariser Börsencoulissen und Salons gebildeten, höchst eleganten und weltgeschliffenen jungen Männern, die auf einer Jagd in Homburg oder Baden-Baden sich neben jedem deutschen Standesherrn sehen lassen konnten, erzählte er:

Bin ich doch gekommen heute Abend auf den Domplatz und habe gesehen … Gottswunder … Was hab’ ich gesehen! Ist gekommen Herr Fuld und Söhne junior der Moritz! Ist er gekommen mit dem neuen rothen Bändchen im Knopfloch! Hat er doch gekriegt den Orden von der ehrlichen Legion in Paris!

Die Unterbrechungen der Zustimmung verstanden sich an den schlagenden Stellen von selbst …

Sieht der Ritter Moritz sich um und wird fragen: Wo ist hier die Fabrik von die Wachslichter und Lebkuchen und heiligen Oblaten? Herr Schmitz! Können Sie mir nicht sagen: Wo ist wohnhaft Herr Jean Baptiste Maria „Schnuphöse“ aus Hildesheim mit die elegönte s–pitze Vatermörders?

Diese Variation gestattete eine neue Zustimmung. Sie war eine andere Tonart der Gebhard Schmitz’schen Redekunst, die ein Unisono von ähnlich betonten Worten hervorrief …

Gebhard Schmitz fuhr fort:

Gut! Hab’ ich ihm gezeigt den Laden von Herrn „Möriö“ und hab’ mir gemacht doch auch ein Geschäft bei die Fräuleins, um zu hören, was der Ritter von Louis 332 Philipp’s ehrliche Leute hat für neue Masematten! … Gut! Wie wir eintreten, frag’ ich die Fräuleins …

Unisono des Chorus:

Evö! Apöllönia!

Ob sie nicht hätten ein schönes ges–ticktes Tauftüchelchen mit bröbönter S–pitzen, das ich wollte schenken nach Bilk uf die Hütte von meinem Tate, wo zwei bilkener Jüden sind gekommen auf den Einfall sich zu taufen! Sagt der Herr Ritter von die französische Ehrlichkeit zu mir: Main, Herr Schmitz! Sie wollen kaufen so feinen „Böttist“, um zu waschen zwei bilkener Juden rein von’s Judenthum? Da will ich Sie recommandiren die geistliche Stickerei da oben in dem fünften Carton rechts seh’ ich Litera B, wo angeschrieben steht mit lateinische Buchstaben: „Tauftügelchen“ – Tügelchen mit ’nem G, Herr Schmitz!

Neue Unterbrechung über die Orthographie Eva’s und Apollonia’s Schnuphase …

Aber der Ritter der ehrlichen Legion … wird er doch sagen: Hat mein Bruder nicht gestern gekauft hier ein Altarbecken und drei neue Meßgewandkleider … meine Damen? … Ja, Herr Fuld! … Nun, so werden die Fräulein haben die Güte mir noch zu geben zwei Dutzend von die stärksten Wachslichter fürs heilige Hochamt! … Sag’ ich: Herr Fuld: Wie heißt Hochamt? … Alles, Herr Schmitz, für die neue Kirche zum Geschenk, wo mein Bruder hat bauen lassen oben bei Lindenwerth und Drusenheim im Enneper Thale! Und zu die Fräuleins sagt er: Wissen Sie, Fräulein, die Kerzen, wo Herr Levi, der Gemeindevorstand, hat gekauft neulich 333 fürs Tabernakel in unsre Synagoge … Die aufgeklärte? frag’ ich. Die neue, Herr Fuld, wo soviel Licht in die schönen Fenster fällt? … Nein, Herr Schmitz, sagt er, in die dunkle! Gerade so wie wir gebaut haben unsre Kirche in Drusenheim auch ins Byzantinische!

Durch den Jubel der Freunde hindurch fuhr mit gesteigerter Stimme Gebhard Schmitz fort:

Herr Schmitz! Sie wird eingeweiht am neunten October, dem Tag vom heiligen Dionysius, wissen Sie dem, den die Römer haben abgehauen den Kopf und der noch ist gegangen ich weiß nicht wie viel Meilen zu Fuß und mit dem Kopf unterm Arm! … Ist es denn wahr, Herr Ritter, frug ich, daß Ihr Herr Bruder in Paris von seinem Freund Louis Philipp und aus dem seiner Kapelle von St.-Denis um 10000 Francs hat angekauft einen heiligen Zehen von St.-Denis und will ihn lassen einmauern in dem Altar, wo Sie haben gebaut in Drusenheim die neue Kirche im Basiliskenstil?

Basiliskenstil … wiederholte der Chorus.

In dem Augenblick ist aber gekommen eine Chaise vorm Wachslichterlöden und Fräulein Apollönia hat gerufen: Ach, Herr Fuld! Ach Herr Schmitz! – bitte um Entschuldigung, wir bekommen soeben – ! und ein schöner schlanker Herr Köplön ist eingetreten in den Löden, frisch von der Reise angekommen und soll wohnen bei Herrn Schnuphöse … Und was wird mein Ritter thun von der ehrlichen Legion? Gleich als wollt’ er haben Ablaß auf hundert Jahre für die byzantinische Kirche hat er Hochwürden eingeladen, auch zu sehen, was gebaut hat sein Bruder Bernhard Fuld zu Drusenheim neben die neue 334 Villa und zog sein Portefeuille und hat gegeben dem fremden Priester gleich die Visitenkarte: Monsieur Monsieur Moritz Fuld

Der ganze Chorus fiel hier mit den donnernd betonten Worten ein:

A Paris! à Paris! Man weiß schon!

Diese für unsere Leser gänzlich unverständliche und doch allgemein bejubelte Pointe der Erzählung krönte sie für die jungen Männer wie das letzte Schlagwort eines Epigramms … Die Worte: „Man weiß schon!“ knüpften sich nämlich an die allbekannte Anekdote, der zufolge der ganz arm aus Kocher am Fall einst gekommene und durch Kriegslieferungen emporgestiegene alte Vater der Gebrüder Fuld jemanden, der ihn bei seinen öftern Reisen nach Paris um seine dortige genauere Adresse gefragt, mit schmunzelndem Stolz geantwortet haben sollte: „Schreiben Sie nur ganz getrost und einfach blos meinen Namen à Musje Musje Fuld à Paris! Man weiß schon!

Die Wirkung dieser Erzählung auf Thiebold de Jonge war eine in der Hauptsache, doch im andern Sinne als bei den Freunden, auch aufregende.

Nicht daß er Gebhard Schmitz gesagt hätte: Aber Sie lügen ja ganz entsetzlich, Schmitz! Moritz und Bernhard Fuld sind ja zwei höchst gebildete und sehr taktvolle Männer, über die wir uns nur deshalb ärgern, weil sie geradezu einen Aufschwung nehmen, der uns alle verdunkelt – auch er stand unter den Vorurtheilen seiner Geburt und seines Standes – aber sowol die Thatsache, daß wahrscheinlich den Abend Bonaventura von Asselyn angekommen war, wie die Erwähnung Drusen-335heims, das dem Aufenthalte Armgart’s auf einen Büchsenschuß gegenüberlag, ließen ihn kaum zur Besinnung kommen. Er sprang auf, lief im Zimmer hin und her und überhörte dabei gänzlich, daß Weigenand Maus unter allgemeinster Zustimmung beantragte, eine Caricatur anfertigen zu lassen, um „auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ das zeitgemäß-modernste Thema: Juden bauen den Christen ihre Gotteshäuser! zu verspotten. Ein stillerer und sanfterer unter den Freunden, Alois Effingh (Effingh & Cie., Bankgeschäft), übernahm die Ausführung durch einen vertrauten Freund, der das Talent besaß mit der Feder gleich auf Stein zu zeichnen.

Hieß der Geistliche nicht Herr von Asselyn? fragte Thiebold de Jonge.

Ich glaube, ja … antwortete Gebhard Schmitz, ganz verloren in die Caricatur und noch weitere Details gebend.

Ein Vetter Benno’s von Asselyn … sagte Thiebold und erwähnte einen Namen, den alle kannten, der aber nicht zu diesem Kreise gehörte …

Nächsten Sonntag Partie nach Drusenheim! rief Clemens Timpe …

Bewunderung der Villa …

Der Kirche …

Der Tauftügelchen …

Wir laden Eva und Apollonia ein …

Nein! unterbrach Joseph Moppes. Achtung vor Thiebold de Jonge! Auf Lindenwerth

„Da blüht eine Blume so hold, so hold“ …

Auf Lindenwerth? rief der Chorus.

336 Ja, de Jonge! unterbrach den Singenden Gebhard Schmitz. Ich war im Stifte bei meiner Schwester! Wahrhaftig! … Ich bin sonst in Geschmackssachen – auf Ehre – aber die Tochter Ihres Lebensretters –

Die Lebensretterstochter … rief der Chorus.

Kapitaler Geschmack! Auf Taille! näselte Schmitz im ghibellinischen Leutenantston …

Moppes sang:

„Und schöner als in dieser Rose“ …

A la bonne heure! Eigentlich noch ein Backfisch, aber künftige „Jöttin“! fuhr Schmitz fort und –

„Hebe stieg in sanfter Feier“ …

sang Moppes.

Schwarz und braun sind ihre Augen …

„Maikäferlein, was fliegst du auf?“

Zähne, – reizend! Zwei Zähne –, man sieht sie immer –

Man sieht sie immer? rief der Chorus …

„Um das Rhinoceros zu sehen“ –

declamirte jetzt sogar Weigenand Maus.

Thiebold erwachte aber aus seinem Brüten wie ein Löwe und schüttelte seine goldene Mähne.

Genug! rief er mit donnernder Stimme …

Aber

Singvögelein singet,
Singvögelein schwinget
Stolz sich in den Himmel hinein!

antwortete Moppes.

Der Streit wurde durch Gebhard Schmitz beigelegt. Letzterer blieb bei seiner Bewunderung Armgart’s, nannte 337 sie das Entzücken des ganzen Pensionats und ließ jetzt wirklich etwas Höheres gelten als seine Dialektkunst und seinen pariser „Gibus“ zum Einklappen, den er suchte.

Es blieb bei der Caricatur und bei der sonntäglichen Partie …

Gruppen bildeten sich … der eine lag von der Caricatur sprechend da, der andere von der Liebe überhaupt dort … man flüsterte … man hatte jetzt Geheimnisse … ja es senkte sich über die wüste Atmosphäre mancher reinere Sonnenstrahl … Selbst Piter ließ endlich von der Arakflasche und erzählte mit gedämpfter Stimme von einigen wunderbaren neuen weiblichen Bekanntschaften, besonders einer … er sprach ganz leise nur ins Ohr zu Gebhard Schmitz … Joseph Moppes, der hören wollte und nichts verstand, parodirte:

Mir auch war ein Leben aufgegangen!

Folgen können wir diesen Gesprächen nicht. Sie enthielten zu viel von dem, was, wenn Männer zwischen zwei und drei Uhr Morgens von Frauen sprechen – die Nacht „bedeckt mit Grauen“.

Endlich aber wurde alles still … die am lautesten gesprochen hatten, schnarchten schon … auch Piter im schottischen Reisecostüm schlummerte und lächelte und sein etwas stumpfes Näschen schien im Traume eine ganze Jakobsleiter voll Seligkeiten zu balanciren … nur Thiebold de Jonge lag auf einem Sopha ausgestreckt, das Haupt aufgestützt, sah nach der Uhr und war in wenig Minuten der einzige, der wach geblieben.

338 Er gedachte seines Freundes Benno … Benno’s, der, wie dieser sich einmal ausgedrückt hatte, den „lateinischen Stolz“ besaß, sich in einer Soll und Haben-Sphäre von dieser Art nicht heimisch zu fühlen, ja die geschilderte geradezu verachtete.

Thiebold, in seiner Art ein Schwärmer, betete bei alledem Benno an. Nur hatte er sich wieder einmal mit ihm gezankt und zwar empfindlich … er hatte sogar den ersten bedeutendern Zwiespalt mit ihm … Nicht um Armgart’s willen … Von Benno’s Empfindungen für Armgart hatte Thiebold bei dessen in allen Dingen bewahrter kalter Außenseite keine entfernteste Ahnung … Wohl aber war der Vorfall an dem Tage, wo Hedemann die Begegnung mit Herrn von Enckefuß im Wirthshause an der Landstraße gehabt hatte, für beide zum Gegenstand des ersten längern Misverständnisses geworden.

Benno und Thiebold waren Schulfreunde, die sich in spätern Jahren aus dem Auge verloren hatten. Sie fanden sich wieder, als Benno sich bei einer zufälligen Begegnung über das gerade besprochene Abenteuer in Canada dahin äußern konnte, daß ihm wenn auch nicht Ulrich von Hülleshoven, doch Hedemann seit frühester Kindheit wohlbekannt, ja sozusagen sein Nährvater und Erzieher gewesen wäre, solange bis der Dechant ihn ganz in seine Nähe nahm und ihn in der der Residenz des Kirchenfürsten nahe gelegenen Universität auf Schulen schickte … Das Band der Freundschaft mußte sich enger und enger um beide schlingen, da Thiebold’s Charakter die Hingebung selbst war. Nach wenig Monaten schon konnte er nicht mehr ohne Benno sein, nichts mehr ohne 339 ihn unternehmen. Alles, was dieser sagte oder that, war für ihn, sogar in Gegenwart anderer, ein Evangelium. Seine enthusiastische Natur umschlang Benno, trotz allerdings mancher und fast stündlicher Reibung, doch wie der Epheu den festen Stamm.

Die Reise nach Kocher am Fall mit Extrapost entsprach Thiebold’s Verhältnissen und galt eigentlich der Huldigung Benno’s und den Verwandten desselben in Kocher. Da Benno aber allein und über Lindenwerth und St.-Wolfgang und sogar zu Fuß gehen zu wollen erklärt hatte (in seinem Charakter lagen diese schroffen Ablehnungen des liebevollsten Entgegenkommens), so hatte von dieser bequemen Reisegelegenheit der Assessor von Enckefuß den Gewinn. Dies war nur eine oberflächliche Bekanntschaft beider Freunde. Sie hätte sich jetzt fester knüpfen können. Gab das Zusammenreisen dazu die beste Gelegenheit, so wurde doch jede weitere Beziehung wenigstens für Thiebold durch die Scene mit Hedemann und Porzia Biancchi unmöglich.

Lucinde hatte sich an jenem Abend, als sie im „Riesen“ ein Gelag in dem Geschmack, wie eben geschildert, voraussetzte, wenigstens in Betreff einiger Theilnehmer vollständig geirrt. Benno fehlte und Thiebold. Beide saßen beim Obersten auf seinem Weinberge. Sie saßen mürrisch und ohne Entschluß, auch nur auf die Dechanei zu gehen. Benno hatte an einem Souper im Riesen theilnehmen wollen; Thiebold erklärte, mit Herrn von Enckefuß nichts mehr gemein zu haben. Hedemann ist ein Narr! hatte Benno in seiner kurzen Weise erwidert und darüber entspannen sich dann Wortgefechte, die bald 340 einen ernstern Charakter annahmen. Sie endeten damit, daß Thiebold das ganze, eigentlich ihm doch so unendlich süße und nothwendige Joch seiner Abhängigkeit von Benno einmal abschüttelte und ihm Dinge sagte, die sich selbst unter den besten Freunden nach vierundzwanzig Stunden nicht wieder zurücknehmen lassen.

Asselyn, hatte er gesagt, Sie sind ein Mensch, dem seine Philosophie noch das Herz im Leibe ausdörren wird! Ich bemitleide Sie, wenn Sie sich Ihren Dominicus Nück zum Muster genommen haben, diesen armseligen Menschen, der eine Million besitzt und Sonntags die Sackträger beneidet, die vorm Thore bei einem Glase des schandbarsten Krätzers Kegel schieben! Schämen Sie sich mit Ihrer sündhaften Gleichgültigkeit für Gott und die Welt! Sie erzählen von einem Zauberweib, mit dem Sie hierher gereist sind, und wollen nicht in die Dechanei zurück, nur um sie nicht wiederzusehen! Von einem Engel in Menschengestalt, einem Mondscheinelfen, unserer Armgart, wissen Sie nichts, als daß sie ihrem Vater ein paar Hosenträger stickt! Diese Porzia Biancchi ist Ihnen nicht viel mehr als eine Landstreicherin, und Hedemann’s Neigung finden Sie geradezu lächerlich, da Sie doch wissen, daß er, wie der Oberst, eine Natur ist, die die Spreu vom Weizen zu unterscheiden weiß! … Als Müller! wird Ihre ewige Ironie einwerfen; aber nach Ihnen müßte der Friede in dem Hause der Hülleshoven und Ubbelohdes einfach nur durch die Polizei vermittelt werden! Sehen Sie zu, wie weit Sie mit diesem Sibirien in Ihrem Herzen kommen werden! Gerade solchen Naturen, denen alles gleichgültig ist, solchen, die 341 in der ganzen Welt nichts, aber auch nichts als Schein und Dummheit sehen, wird zuletzt so heiß unter den Sohlen, so fegefeuermäßig schwül schon hier auf Erden zu Muthe, daß sie sich wie der Skorpion, den man auf Kohlen setzt, zuletzt selbst umbringen!

Sie haben wahrscheinlich in der letzten Nacht, wo Sie nicht schlafen konnten, Seume’s „Spaziergang nach Syrakus“ gelesen? war alles, was Benno geantwortet.

Dennoch trafen die Worte Thiebold’s ihn tiefer, als er sich den Schein gab.

Dazu war er zu stolz, zu entgegnen: Sage mir, wie ich in die Welt gekommen bin, und du wirst sehen, ich kann die Welt lieb haben! Er vertändelte den Ernst seines Unmuthes überhaupt und auch jetzt den Ernst seiner innerlichsten Zustimmung zu diesem ungewohnt starken Ausbruch allerdings schon vielfach benutzter Freundschaftsrechte. Gerade dadurch, daß er dennoch zu Enckefuß hielt, bewies er, wie sehr er sich getroffen fühlte.

Vor Hedemann rechtfertigte er sich im Vertrauen:

Lieber Alter, mögen Sie mit dem Enckefuß haben, was Sie wollen, der Sohn hat mir gestanden, daß sein Vater in Verzweiflung ist – wie kann ich ihm meinen Beistand entziehen!

Hedemann hatte dieser Antwort auch zugestimmt und sie natürlich gefunden … Seitdem die Italiener im Orte angekommen waren und ihren gewohnten stark aufdringlichen Handel trieben, schien er von der ersten Hitze seines Antheils etwas zurückgekommen.

Eine weitere Erörterung und gründliche Aussöhnung zwischen Thiebold und Benno hatte in Kocher selbst nicht 342 mehr stattgefunden. Major von Pritzelwitz benutzte die ihm nur verwilligten drei Tage, um seine kleine Armee in einen jeden Augenblick schlagfertigen Zustand zu versetzen und ihr durch tüchtigstes Sporengeben auch dergleichen „Mucken“ der Gesinnung zu vertreiben, wie sie hier zu Lande üblich waren, wo man an Carnevalstagen den Kaiser Napoleon, seine Marschälle und seine alte Garde in öffentlichen Aufzügen copirte. Moppes, Timpe, Schmitz und selbst Weigenand Maus waren nicht selten schon zu Pferde mit Mamluken einhergeritten und hatten sich mit allem Pomp so in Orden und Stickereien gefallen, als wenn sie die Schlachten bei Jena und Eylau gewonnen hätten.

Auch Benno’s bester Absicht, den Streit in der Dechanei beizulegen und Lucinden in sie zurückzuführen, ließ sich nicht der Nachdruck seiner gewohnten Handlungsweise geben. Diese fuhr mit Herrn Schnuphase schon am andern Tage in ihre neue Lebensstellung.

Und auch Thiebold war dann am Morgen des vierten Tages in Kocher plötzlich verschwunden. Er hatte an Benno ein einfaches Billet zurückgelassen, worin er sagte, es würde ihm Vergnügen machen, wenn er mit dem Assessor von Enckefuß seinen Landau benutzen wollte; er selbst wäre in Flößereigeschäften erst mit der Post, dann mit dem Dampfboot auf einige Tage nach Mainz gegangen.

Seit heute Abend erst war er, und jetzt bedeutend abgekühlt, von dorther zurück. In Lindenwerth hatte er Halt gemacht und sich mit den Empfindungen eines Toggenburg einige Stunden am vielberühmten Hüneneck aufgehalten. Nach dem Fenster des Saales, in dem Armgart wohnte, hatte er das Angesicht gerichtet, solange die letzten Strah-343len der Sonne es vergoldeten. Da er keine Verwandte im Pensionat hatte, wurden ihm die Besuche von den gestrengen Englischen Fräulein nicht mehr gestattet.

Nun lag er hier, im Ohr die wüsten Scherze seiner „Freunde“ … vorgenießend schon die von ihm mit leidenschaftlicher Zustimmung ergriffene Sonntagspartie nach Drusenheim, wo eine Begegnung mit Armgart nicht unmöglich war … sonst aber aufgelöst in Reue und Scham und unendlichster – Sehnsucht nach Benno.

Und vielleicht wäre dennoch auch über ihn der Schlummer gekommen, wenn nicht plötzlich im Hofe Wagenrasseln und das mahnende Knallen zweier Peitschen hörbar geworden wäre … Er sprang auf, fiel fast, da die Lampen ausgegangen waren, orientirte sich und weckte Pitern, der im Concert der ringsum Schnarchenden jetzt eine Solostimme übernommen hatte … Piter war eingeschlummert gewesen mit den vertraulichsten Geständnissen, die er in das Ohr seines Freundes Gebhard Schmitz geflüstert hatte über zwei wunderbare Frauenerscheinungen, die plötzlich durch „einen höllisch vernünftigen“ Gedanken seiner Angehörigen ganz dicht in seine Nähe verpflanzt waren … weniger von Mamsell Lucinden Schwarz war er entzückt – „obgleich auch diese“ … Und in diesen Haarspaltungen seines Geschmacks war er selig eingeschlummert …

Nun, von Thiebold de Jonge aufgerüttelt, fuhr er empor … So groß auch immer sein Vertrauen zu sich selbst war und so sehr er sich vorgenommen hatte, sich in seiner ganzen künftigen Haltung im Leben einen wenn nicht großen, doch eigenthümlichen und merkwürdigen Charakter zu geben, so geschah ihm doch immer, daß sein erstes Erwachen von 344 irgendeiner der vielen, nicht blos durch den natürlichen Schlaf verursachten Besinnungslosigkeiten regelmäßig eine geringfügige Vorstellung über die gerade obwaltende Situation begleitete, der dann die völlig decontenancirte Miene entsprach … So auch heute … Der erste Gedanke, als ihn Thiebold aufrüttelte, war an das Fünfuhraufstehen in der Handelsschule gerichtet … Bald aber besann er sich auf sein gegenwärtiges Alter und seine Stellung im Leben und in diesem Hause und rief donnernd den Joseph im Vorzimmer wach, ihn in den Hof jagend, und taumelte, seliger Rückerinnerungen voll, eine niedergebrannte Kerze in der Hand, das Product seines ihm nur für den Ausbau des Domes seiner Vaterstadt mangelnden Ingenieursinnes, die luftige, zierliche neue Wendeltreppe, empor.

Er mußte ja, während Thiebold die andern Schläfer weckte, noch einmal in sein Garderobezimmer … Um ganz dem Bilde der Modenzeitung, nach der er sich kürzlich erst für die Morgentoilette, für die Jagd und für Reisen equipirt hatte, zu entsprechen, fehlte noch sein Plaid und seine Tragtasche an juchtenledernen Riemen. Piter war in solchen Dingen exact. Für die Jagd besaß er eine rothe Jacke mit kurzen Schößen, goldenen Knöpfen, grauledernen Hosen und hohe gefirnißte Stulpstiefel. Für die Reise trug er einen kurzen Phantasierock mit zwei Brusttäschchen, schottische Beinkleider ohne Sprungriemen, Lackstiefel, die, wenn die Beinkleider in die Höhe gingen, Schäfte von rothem Saffian zeigten.

Wie Piter etwas mühsam hinaufsteigt, wird ihm eine Ueberraschung zu Theil. Kaum hatte sein etwas schwerer Fuß auf der leichten Treppe die ersten Stufen 345 betreten, kaum hatte sich sein etwas unsicheres Auge überzeugt, daß es auch oben dunkel geworden war, kaum war die mit besonderm Nachdruck an die Lehne sich krampfende rechte Hand im Begriff mit der linken zu wechseln, wobei die Uebergabe des Lichtes in die andere Hand mit Schwierigkeiten verbunden schien und, da er sie doch zu überwinden versuchte, das Licht auch richtig ausgehen ließ – als von oben her eine Thüre aufging und der Schimmer eines Lichtes dem im Dunkeln Emportastenden zu Hülfe kam.

Und kaum hatte Piter, staunend über dieses ungewohnte nächtliche Lebendigsein über ihm, aufgeblickt, so mußte er sich um so betroffener fühlen, als ihm über das kleine bronzirte Gitter hinweg ein holdes Frauenantlitz entgegenleuchtete; in Wirklichkeit leuchtete mit einem Lichte und figürlich durch holdesten Liebreiz und eine seltene Anmuth; dabei dasselbe zarte Mädchenangesicht, in dessen Schilderung er soeben zu Gebhard Schmitz beinahe hätte poetisch werden können, wenn ihn nicht der Schlummer übermannte …

Ja, aber, um Gottes willen! Sie noch auf? sprach er mit nicht leichter Zunge …

Das junge Kind zitterte und trat mit dem Leuchter in der Hand zurück … denn nun stand Piter schon schwer und krampfhaft und mit einem entsetzlichen Dunst von Taback und Wein dicht vor ihr … Er weidete sich an einem Anblick, der ihm ein „Bild aus Himmelshöhen“ schien. Diese zwar nur kleine, aber zierlich behende Gestalt, dies goldblonde Haar, das einen Trauerkrepp in seine dichten Flechten eingewunden hatte, diese aus 346 einem gleichfalls trauernden schwarzen Kleide hervorblendende weiße Haut und der Schnitt des Gesichtes von einer wunderbar lieblichen Rundung und Regelmäßigkeit übten wieder die ganze Wirkung auf ihn aus, die er schon seit gestern früh um zehn Uhr empfunden hatte, als er dieses neu hinzugezogene Mädchen seiner Schwester Hendrika Delring zum ersten mal gesehen hatte.

Aber zum Donnerwetter … wie kommen Sie denn dazu, so – so lange aufzubleiben oder vielmehr –?

So hab’ ich Frau Commerzienräthin – vielleicht – nicht richtig verstanden – sie befahl – mir, da ich hier oben doch – bei Madame Delring bin – immer auch auf Ihre Wünsche zu hören – und wenn Sie reisten – hätten Sie manchmal noch etwas nöthig – und da – wartete ich so lange –

Die Stimme des armen überwachten, verweinten und erschreckten Mädchens zitterte …

Na, das ist ja aber wahrhaftig noch besser …

Piter lachte wie über eine grenzenlose Beschränktheit und doch that ihm die Naivetät wohl, die so auf seine allerhöchste Befriedigung bis gegen vier Uhr Morgens aufbleiben konnte.

Hahaha, lachte er und taumelte, um sein ausgegangenes Licht auf ein Fenstersims zu setzen. Das ist ja einzig! Sie bleiben ’ne ganze Nacht um unsereinen – und nun reis’ ich – jetzt, wo ich solche – Nachbarschaft – habe – Meine Schwester – na, wird einen schönen Lärm machen, wenn sie hört, daß Sie Muttern so unsinnig – wollt’ ich sagen allerliebst – verstanden haben! Herr Gott – kleiner 347 Engel! Die Zeiten sind vorüber, wo man – Nachts aufblieb – wenn unsereins blos nur nach Elberfeld reiste – Jetzt heißt’s: Reise glücklich! und das Uebrige – macht Wecker an der Uhr – und – und Hausknechts Stalllaterne –

Diese blitzte auch unten im dunkeln Hofe hochauf an die Hauswand gegenüber …

Piter wollte von dem überraschenden Misverständniß noch Vortheile ziehen, aber das schöne Mädchen hatte schon die Thür ihres Zimmers zum Rückzug in der Hand –

Piter wollte nach und trat einstweilen mit den Füßen zwischen die Oeffnung, die die Fliehende schließen wollte.

Warum sind Sie denn schwarz – an – angezogen – Donnerwetter und wie heißen Sie denn –?

Gertrud Ley –

Gertrud! Also Treudchen? Sieh! Du bist schön, Treudchen, straf mich Gott, wie ein Engel – aber – aber warum denn der schwarze Flor da in – deinen allerliebsten –

Wenn Treudchen Ley jetzt in ein fast krampfhaftes Weinen ausbrach, so war es nicht so sehr die Erinnerung an die Leiden, die sie seit einigen Wochen und vollends den letzten Tagen durchgemacht hatte, als auch das Gefühl der tiefsten Beschämung über den Irrthum, der sie so bis früh Morgens hier oben hatte aufsitzen und wachen lassen, auch vielleicht der Schmerz, dafür so belohnt zu werden, wie jetzt von Pitern geschah … und auch ihr Vater fiel ihr ein, wie der so des Morgens aus den Wirthshäusern kommen konnte.

Ihr Weinen war so convulsivisch, daß Piter darüber an Besinnung verlor und gewann – je nachdem. Den Versuch 348 sich ihr noch zu nähern gab er auf und zog sich scheu und seit langer Zeit zum ersten mal in einer Art Verlegenheit auf sein Zimmer zurück.

Als er dann wiederkam mit Plaid und Tasche, war Treudchen verschwunden. Die zu den Zimmern seiner Schwester führende Thür war verriegelt.

Er klopfte und klopfte. Er war in einer Begeisterung, in einem Sturm, in einem Drange der Liebesbetheuerung, in einem Vergessen ganz seiner selbst –

Treudchen Ley antwortete aber nicht mehr.

Piter mußte den schon mahnenden Freunden folgen.

Unten schob einer den andern in die harrenden beiden Wägen. Im Abfahren waren alle sieben noch leidlich wach. Piter war sogar ganz, als hätte er die „seiner Natur durchaus nothwendigen“ zehn Stunden vollständig geschlafen, er lachte und trällerte, und sagen wir nur, wie unsinnig. Seine eben erlebte Geschichte hätte jedoch niemand hören können, wollte er sie auch erzählen, so rasselte man über die öden und schon vom kommenden Tageslicht angedämmerten Straßen, über die große Brücke, durch die Festungswerke; auch kam die pariser Mallepost, nicht unhörbar, hinter ihnen her …

Im Bahnhof angekommen, schliefen alle außer Pitern und Thiebold.

Nun aber raffte man sich noch einmal auf und nahm Abschied. Kutscher und Bediente besorgten Piter’s Effecten und die Freunde gewannen auf einen Augenblick ihren alten Humor wieder. Allen fiel ihr erstes Reisen zur Messe nach Frankfurt oder Leipzig ein und nun brach Gebhard 349 Schmitz, der Dialektkünstler, wieder das Eis und entfaltete neue Talente. „Sie, mein kutes Härrchen! Eine kute Messe!“ variirte er und der einfallende Chorus sächselte mit, bis auf den Pfiff der Locomotive der Zug davonbrauste und ein donnerndes Hurrah den Zweck und die Bedeutung dieser Nacht krönte.

Die Chaisen fuhren jetzt in die Stadt zurück und setzten alle jungen Herrschaften vor den Pforten ihrer hochmögenden Väter ab, wo dann ein jedes froh war, sich in bequemen Sprungfedermatratzen auszuruhen von soviel Witz, soviel Bildung, soviel Kenntniß der Welt und der Menschen, soviel bewußtem Werth für die Welt im allgemeinen und diese höchst ehrwürdige und in so vielen Dingen entschieden und selbstvertrauend den vaterländischen Ton angeben wollende Stadt im besondern.

Während Piter vielleicht entschlummernd Treudchen im hochzeitlichen Kleide und von ihm selbst an den Altar geführt sah – es wäre das die kapitalste Idee gewesen, die sein ihm mangelnder „Verehrungssinn“ für die Familie hätte ausführen können – war Thiebold, der jeden der Genossen noch an sein Haus gebracht und sich das Festhalten an der Drusenheimer Sonntagspartie bedungen hatte, in der Mitte der Stadt ausgestiegen.

Schon war es halb fünf Uhr … die Straßen wurden lebendiger … die Tageshelle mehrte sich …

Seine Schritte führten ihn an einen kleinen winkeligen Platz, wo Benno wohnte.

Mit der Schwärmerei eines Verliebten stellte er sich an einen schon von den Mägden mancher fleißiger Handwerker belebten Brunnen und sah zu den geschlossenen 350 Fenstern seines Freundes im ersten Stock eines schmalen Häuschens empor.

Es hing ein Blumenbret vor dem Wohnzimmerfenster … alle drei Läden waren geschlossen.

Der Morgenthau, die herbstlich frische Luft kühlte die Augen des stillen Beobachters, der gewiß sein konnte, draußen auf den Holzhöfen seines Vaters auch schon das lebendigste Tagwerk begonnen zu finden.

Wie er einige Minuten so gestanden hatte, nicht achtend der Neugier um ihn her, nicht achtend der Fuhrwerke, die schon im Gang waren, der Ausrufungen, die schon von Verkäufern ertönten, öffneten sich im ersten Stock die Jalousieen an Benno’s Wohnzimmer.

Benno war schon aufgestanden und öffnete, wie er war, im rothgestreiften Nachthemde, mit der einen Hand durch sein dunkles Haar fahrend, mit der andern einen kleinen Vogelbauer unter die Blumen setzend.

Guten Morgen, Asselyn! rief Thiebold voll bebender Freude und fast schüchtern hinauf.

Guten Morgen, de Jonge! war die ruhige und erstaunte Antwort.

Schon so zeitig auf?

Und Sie noch so spät wach?

Haben Sie schon gefrühstückt?

Das nicht! Aber Reste aufzuarbeiten … Doch kommen Sie nur herauf, falls Sie mir nicht wieder über meine alte Kaffeemaschine die Ohren voll lamentiren wollen!

Thiebold wußte schon, daß das alles von Benno nur Redensarten waren, die wenigstens die halbe Freude der 351 Ueberraschung verdeckten, die er selbst so überströmend voll und vom tiefsten Herzensgrunde ganz empfand.

Da ist der Hausschlüssel! sagte Benno nach einer Secunde und warf ihn hinunter.

Thiebold hob den Schlüssel auf, schloß die Hauspforte und stieg die schmale Stiege zu seinem Freunde und zum gemeinschaftlichen Frühstück hinauf.

Er wußte, daß er seinem bewunderten und angebeteten Asselyn nicht um den Hals fallen durfte; er wußte, daß ihm jede weitere Erörterung des Misverständnisses mit den Worten würde abgeschnitten werden: Sie sind ein närrischer Kerl! … Er wußte, daß seine ganze zu einer Scene der innigsten Zärtlichkeit geneigte Stimmung sofort die kalte Douche der Ironie bekommen würde. Aber wie er so Stufe um Stufe hinaufstieg, fühlte er doch, er kam aus einem Chaos voll Nacht, voll Kampf, voll Wahn, voll Torheit zu einem Menschen, der sein überwallendes Herz beruhigen, die dunkeln Stimmungen seiner Seele erleuchten, ihn im Straucheln halten, im Irren führen konnte, zu einem Freunde, zu dem, so jung er war, er und mancher andere hätten sprechen dürfen:

Bei dir – ist Licht und Ruhe!

Darin glichen sich Bonaventura und Benno, daß jeder von ihnen umstrickt und umsponnen war von einem durch Schicksalshand angelegten Lebensräthsel. Aber auch darin glichen sie sich, daß von einer zu hoffenden Lösung desselben ihnen und andern mehr abhängen mußte als nur – ihr eigenes Glück.

Ende des zweiten Buchs.

Apparat#

Der Apparat für alle Bände des Zauberers von Rom ist unter dem ersten Band einzusehen.