Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Tzschoppe. Ein Beitrag zur Seelenkunde#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
05.12.2019

Text#

677 Tzschoppe.#

Ein Beitrag zur Seelenkunde.#

Nicht von Jean Paul’s unsterblichem Schoppe soll dies kleine Blättchen reden, sondern von dem verstorbenen Herrn von Tzschoppe, weiland königl. preußischem Oberregierungsrathe und wirklichem Präsidenten des Obercensurcollegiums in Berlin.

Sonderbare Umkehr der Zeiten! Vor einem Jahre wurde dieser rührige Staatsdiener von dem jetzigen Könige pensionirt und ist seitdem, wie alle Zeitungen berichten, im Zustande einer völligen Geistesauflösung verstorben. Noch mehr! Man macht keiner Zeitschrift mehr ein Verbrechen daraus, wenn sie die vertrauliche Mittheilung bringt, daß Herr von Tzschoppe schon vor Jahren, als er noch in voller Amtsthätigkeit wirkte, bedenkliche Spuren von Wahnsinn zeigte. Wir benutzen diesen erfreulichen Fortschritt des freien Wortes und theilen einige Erinnerungen an diesen Staatsdiener mit, die wir leider nur aus eigner bitterer Erfahrung schöpfen können.

Ob wohl unsere Leser ein Gefühl verstehen werden, das ich ihnen beschreiben will?

Wandelnd im Lichte seiner Gedanken, sich anschmiegend an Gott und das göttliche Leben der Geschichte, still bewegt vom Drang des innersten Herzens und frei geworden in sich, frei vom fesselnden Buchstaben des Gesetzes, frei von den trüben Beklemmungen des irdischen Dunstkreises, demüthigt unsern Stolz, entmuthigt unsern Glauben die kläglichste Anforderung des irdischen Daseyns. Einem Schmetterlinge nachjagend, verirren wir uns in einen Blumenhag, aus dem uns ein Büttel hinausweist. Auf der Landstraße schlendernd und still für uns mit dem Weltgeist redend, fährt uns barsch die Wegepolizei mit einem Verlangen nach unserm Passe an. Die redlichsten Wünsche werden verdächtigt, die Keime und Blüthen des in uns wachsenden Dranges nach geistiger Bewährung werden mit roher Hand abgeknickt. Man kann von den Citronen und den Orangen Italiens schwärmen, von Roms Größe und Neapels Schönheiten, und die Polizei untersagt Dir, hinzureisen. Man nennt das die Civilisation und die moderne gesittete Gesellschaft.

Mit Gefühlen dieser Art hab’ ich mehre Male in der Behrenstraße zu Berlin vor dem Casinogebäude, wo Herr von Tzschoppe wohnte, gestanden. Die Umstände machten es mir zur unumgänglichen Bedingung, wenn ich in Berlin unangefochten bleiben wollte, dem Chef des gesammten allgemein literarischen Verdächtigungswesens persönlich aufzuwarten. Blutige Thränen weinte mein innerster Mensch. Wehmüthig schlenderte ich unter den Linden, um mir den Muth zu holen, bei Herrn von Tzschoppe einzutreten. Es empörten sich alle meine heiligsten Empfindungen gegen diese klägliche und demüthigende Begrüßung, ich lächelte schmerzlich die Rebellen meines Herzens fort, bat Gott mit einem Blick gen Himmel, sich die Leiden freier Seelen in seinem Buche der ewigen Ausgleichung aufzuschreiben und trat die Stiegen hinauf zu dem allmächtigen Polizeiwart der Literatur, von dem jetzt die preußischen Blätter selbst eingestehen, daß er sich in Wahnsinn aufgelöst hat.

Ich mußte Herrn von Tzschoppe zweimal sehen. Das erste Mal war er so eben geadelt worden. Es ist dies jetzt sechs Jahre her. Das zweite Mal stand er auf dem Zenith 678 seines Glückes und war schon im Sinken begriffen. Es war dies kurz vor dem Tode Friedrich Wilhelms III.

Herr von Tzschoppe war ein kleiner, noch jugendlicher Mann, Blondkopf, mit angenehmem Äußern. Er sprach viel und lebhaft. Sein Dialekt gehörte der schlesisch-sächsischen Mischung an, er sprach, wie man in der Niederlausitz spricht, mehr singend als sprechend. Weit entfernt, die Gegenstände zu berühren, wegen deren man ihn besuchte, sprang er auf hundert entfernt liegende Dinge über. Statt mich über die Bedrängnisse, die man meiner literarischen Thätigkeit setzte, zu beruhigen, sprach er von Norwegen und den Romanen Henriks Steffens, die ihm entschieden mißfielen. Von Steffens sprang er auf Bernadotte, von Bernadotte auf den Bremer Wallfischfang über, und entließ mich mit dem Gefühl, mich in dieser Art von einem höchst geistreichen, schlauen und durchtriebenen Kopfe mystifizirt zu sehen. Der Erfolg bewies aber, daß das, was ich für Klugheit gehalten hatte, schon die bedrohlichen Anfänge einer völligen Geistesschwäche waren.

Beim zweiten Besuche (vor zwei Jahren) hätt’ ich seine Krankheit voraussagen können. Herr von Tzschoppe schien mir liebenswürdiger geworden, aber es ist schlimm, wenn man erst wahnsinnig werden muß, um erträglich zu erscheinen. Statt mit mir über die fortgesetzten Bedrückungen der Presse zu reden, führte mich Herr von Tzschoppe in seine Bibliothek, zog eine hebräische Bibel hervor und sagte: „Sie müssen mir das Zeugniß geben, daß ich gebildet bin; denn ich kann sogar hebräisch!“ Dabei bestieg er eine Leiter und kletterte an einen Bücherschrank hinauf, aus welchem er ein altes Heft vergilbter Papiere holte, die er mir mit großer Emphase und den Worten überreichte: „Sehen Sie da, hier haben Sie meine hebräischen Präparationen.“ Nicht genug, mich auf so komische Art mit den Anfängen seiner Bildung bekannt gemacht zu haben, rühmte er die Gelehrsamkeit seines Vaters, eines Senators in der Lausitzischen Stadt Görlitz, und zeigte mir eine zahllose Menge von Handschriften, die sich alle auf die Geschichte von Görlitz bezogen. Der arme, schon schwache Mann hatte die Absicht, Geschichtschreiber von Görlitz zu werden. Kaum hatte er diesen Gegenstand erschöpft, so trieb ihn eine ängstliche Hast, wieder in ein anderes Gebiet der Mittheilung überzuspringen. Er führte mich von Schrank zu Schrank, um mir seine kostbaren Ausgaben alter Classiker zu zeigen. Besonders verweilte er bei Glossarien, Wörterbüchern, großen Sammelwerken, und knüpfte an jeden dieser Folianten die kuriosesten Details aus seiner Studienzeit. Endlich schien ihn wieder ein Vernichtungsgedanke zu überkommen. Es fiel ihm seine inquisitorische Stellung ein, und mit einer Miene, die mir Angst machte, fragte er: „Wissen Sie, wie Alba ausgesehen hat?“ Man erfuhr, daß Alba sein Held war. Er stieg wieder die Leiter hinauf und holte mir einen alten Holzschnitt, der sehr getreu das bekannte Porträt des niederländischen Würgers wiedergab. „Welche Größe in diesen Zügen!“ Herr von Tzschoppe verlor sich in die tiefste und andächtigste Betrachtung seines historisch-politischen Ideals. Endlich, um mir noch zum Schluß einen Begriff von seiner großen Allmacht zu geben, zeigte er auf eine geschlossene Mappe, die so eben ein Kanzleibote gebracht hatte. „Wissen Sie, was hierin enthalten ist?“ Schon ganz erschöpft von dieser sonderbarsten aller Audienzen, schwieg ich mit leidender Erwartung. Der neue Bücher-Alba öffnete und zeigte mir eine Liste aller der Personen, die den Abend vorher unentgeldlich im königlichen Theater gewesen waren. Obgleich diese Liste wohl nur zur finanziellen Controlle angefertigt war, so wehte es mich doch ganz schauerlich und geheimpolizeilich an: ich dachte an die Schicksalsfäden der Inquisition und die dunkeln, verhängnißvollen Register der Santa casa. Mit der charakteristischen Bemerkung: „Ich war es, der Professor Raupach als Theaterdichter angestellt hat!“ entließ mich Herr von Tzschoppe. Ich wußte nicht, was diese Bemerkung sollte, verstand die ganze Audienz nicht und war innerlich so vernichtet und gekränkt, daß ich nach dieser verkehrten, lieblosen Unterhaltung über den Lauf der Welt, über Erdenloos und Menschenschicksal, über mein eignes Daseyn, über Himmel und Erde hätte weinen mögen.

Ich theile diese Charakterzüge nicht der bloßen Kuriosität wegen mit. Ich frage: wie war es möglich, einen Mann, der so unverkennbare Spuren von Wahnwitz schon damals verrieth, über das geistige Leben und den geistigen Tod von Dichtern und Publizisten entscheiden zu lassen? Ich frage: da zwei Dinge entschieden sind, einmal der Wahnsinn dieses armen Mannes und zweitens die unumschränkte Herrschaft, die er zehn Jahre lang über die preußische Preßgesetzgebung ausübte, ich frage: ob diejenigen Autoren, die durch Herrn von Tzschoppe gekränkt wurden, nicht die gerechtesten Ansprüche auf eine ehrenvolle Genugthuung haben? Es ist viel für die Presse geschehen, aber noch nicht alles. Wo man hinblickt, sieht man noch die Spuren jenes unglücklichen Systems, durch welches Herr von Tzschoppe seit 1830 die Wissenschaft und Kunst in ihren freiesten und nothwendigsten Entwickelungen von Berlin und Preußen exilirt hat. Daß sich der Ursprung jenes Systems in das offene Geständniß 679 des Wahnsinns auflösen mußte, ist wahrlich für den preußischen Staat eine so demüthigende Beschämung, daß man sich beeilen sollte, die vielen damals gekränkten Interessen wieder herzustellen und das Verschuldete durch herzliches Vertrauen und wohlwollende Reue wieder gutzumachen.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Die Reminiszenz an Gustav Adolf von Tzschoppe brachte der "Telegraph für Deutschland" nur wenige Wochen nach dessen am 16. September 1842 erfolgten Tod. Zwei Jahre später übernahm Gutzkow die Arbeit in seine Sammlung Aus der Zeit und dem Leben. Dabei änderte er stilistisch nur wenig, strich aber den gesamten zweiten Absatz (22,7 bis 22,17 unserer Ausgabe) sowie die beiden Schlusssätze (25,34 bis 26,9).

1875 integrierte er den Text in den neunten Band seiner Gesammelten Werke, einer stark erweiterten Ausgabe der Oeffentlichen Charaktere von 1835 bzw. 1845. Dafür benutzte er nicht den Journalerstdruck, sondern die erste Buchausgabe von 1844. Die dort gestrichenen Passagen und kleinen Änderungen wurden nicht rückgängig gemacht. Gutzkow unterzog den Text nochmals einer detaillierten stilistischen Überarbeitung. Den Titelzusatz Ein Beitrag zur Seelenkunde ließ er 1875 weg und fügte dem Titel lediglich die Jahreszahl 1840 hinzu (irrtümlich offenbar für 1842, das Jahr der Erstpublikation). Die auffallendste Varianz gegenüber E besteht in der veränderten Absatzgestaltung von A2. Gutzkow fasste die ersten drei Absätze von E zusammen und untergliederte sie durch lange Gedankenstriche.

J Karl Gutzkow: Tzschoppe. Ein Beitrag zur Seelenkunde. In: Telegraph für Deutschland. Hamburg. Nr. 173, [24.] Oktober 1842, S. 677-679. (Rasch 3.42.10.24)
E Tzschoppe. Ein Beitrag zur Seelenkunde. In: Karl Gutzkow: Aus der Zeit und dem Leben. Leipzig: Brockhaus, 1844. S. 101-109. (Rasch 2.25.3.1)
A2 Tzschoppe. 1840. In: Karl Gutzkow: Oeffentliche Charaktere. (Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 9.) Jena: Costenoble, [1875]. S. 279-282. (Rasch 1.5.9.26)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Kleine autobiographische Schriften und Memorabilien. Hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2018. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 3.)

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.