Göthes Briefwechsel mit der Schwester der Stollberge#
Metadaten#
- Herausgeber
- Madleen Podewski
- Fassung
- 2.1: Korrektur
- Letzte Bearbeitung
- 12.05.2021
Text#
1297 Göthes Briefwechsel mit der Schwester der Stollberge.#
Die diesjährige Urania – die auf den gescheuten Einfall gekommen ist, ohne Goldschnitt und Stahlstiche zu erscheinen – bringt den schon vielfach besprochenen kleinen Briefwechsel, welchen Göthe mit Auguste Gräfin von Stollberg, (spätern Gräfin Bernstorff) der Schwester der beiden Dichter Stollberg geführt hat. Herrn von Binzer und seiner geistreichen Gattin verdanken wir hier die Bekanntschaft mit einer Briefsammlung, welche leicht die älteste und individuellste ist, die wir von Göthe besitzen. Keine der vielen Reliquien, die wir von Göthe haben, ist so persönlich, so menschlich, so unmaskirt. Göthe giebt sich der Schwester der Stollberge, die er nie gesehen hat und nur durch die Äußerungen der Brüder kennen lernte, mit jener zärtlichen Schwärmerei hin, die über die edlen Geister der siebziger Jahre eine so wunderbare Verklärung ausströmte. Göthe nennt die Reichsgräfin Du, nennt sie „Gustgen,“ wechselt mit ihr die gegenseitigen Schattenrisse, küßt sie in Gedanken und Worten und vertraut ihr seine Herzensangelegenheiten, die freudigen und die traurigen. Das bekannte Verhältniß des Dichters zu Lilli bildet den vorzüglichsten Hintergrund dieser Briefsammlung. Da Göthes Briefe fast nur Tagebücher sind, die er „Gustgen“ schickte, so können wir alle Stimmungen verfolgen, welche ihn in diesem eben so süßen wie schmerzlichen Verhältnisse bedrängten. Göthe riß sich auch hier wie immer los; ob er gleich gegen Lilli gerechtfertigter seyn mochte als gegen Friederiken. Lilli war 1298 schön und liebenswürdig, aber verzogen und reich genug, um für eine glänzende Parthie zu gelten. Es ist ein Unglück, ein Wesen zu lieben, das sich einfallen lassen darf, die Verzeihung, die man ihren Unarten angedeihen läßt, auf Rechnung ihres Reichthums zu schieben. In einem solchen Verhältniß liegt mehr Demüthigung als Erhebung. Es gewährt für den Verehrer Göthes einen eignen Reiz, dies Zerfallensein seines Innern in den gar aufrichtigen und bis zum Kindischen naiven Briefen zu verfolgen. Göthe war damals 27 Jahre und schrieb schon am Faust. Man mögte kaum glauben, daß der Verf. des Werther und Götz mit diesem saloppen und aphoristischen Briefsteller eine und dieselbe Person ist. Die Briefe sehen wie die Toilette aus, mit der man aus dem Bette schlüpft. Göthe schreibt Gustchen, wie er geht und steht, was er eben thut und was er vor einer Viertelstunde that; alles in jener kurzen Frankfurter Weise, die seinen frühsten Dichtungen einen besondern Reiz giebt. Soll man sagen, daß Göthes Egoismus sich in diesen bis ins Kleinste gehenden Abspiegelungen seiner selbst zu erkennen giebt? Ich glaube: nein! Man konnte sich im Jahre 1775 nicht glücklicher machen, als wenn man sich schrieb, was man, indem man die Feder eintauchte, für Kleider trug, was auf dem Tische neben dem Briefe lag, wie das Zimmer decorirt, was für Wetter draußen ist. Man schlürfte diese Einzelheiten mit wonniger Lust ein: man schuf sich aus ihnen ein Bild, das, zumal wenn man sich erst später persönlich sahe, freilich so oft täuschte und jene wunderlichen Verstimmungen hervorrief, die in den achtziger Jahren den schwärmerischen Siebzigern folgten. Bei all diesen Ichheiten fällt es aber doch auf, daß Göthe am 28. Aug. 1776 von Weimar aus zwar erwähnt, wie er eben aus dem Bette steigt, was draußen für Wetter ist, daß er eine Ente schießt, daß ihn Wielands besucht haben, aber nicht, daß an dem Tage sein Geburtstag war! Merkwürdig ist auch noch die Nachschrift dieses Briefes. Auf Göthes Empfehlung war Fritz Stollberg in die Liste der Kammerherren des Weimar’schen Hofes aufgenommen. Doch blieb Augustens Bruder aus; Wochen, Monate vergingen – er traf nicht ein und Göthe mußte sich dadurch 1299 sehr beleidigt, wenigstens in Verlegenheit gesetzt fühlen. Er giebt der Schwester seinen Zorn recht liebevoll zu verstehen. Fritz Stollberg wurde aber von Niemand anders, als von Klopstock zurückgehalten. Der alte Barde wollte ihn nicht an einen Ort ziehen lassen, der durch Göthe und seinen fürstlichen Freund in Verruf gekommen war. Von dieser Zeit an wird der Briefwechsel oft unterbrochen und endet mit dem Jahre 1782. Sehr merkwürdig aber ist die Art, wie er nach vierzig Jahren noch einmal wieder angeknüpft wurde. Die Schwester der Stollberge, die erst vor drei Jahren in Kiel gestorben ist, hatte sich dem Pietismus zugewandt. Dasselbe Bedürfniß, welches ihren Bruder in den Schooß der katholischen Kirche geführt hatte, trieb sie zu dem Schooß des Erlösers, dessen Seeligkeit bekanntlich in Kiel von Claus Harms mit viel Originalität gepredigt wird. Der Gedanke, Göthen im Jenseits nicht wiederzufinden, beunruhigte sie so sehr, daß die mehr als sechzigjährige Dame im Jahre 1822 an ihn schrieb und ihn bat, sich zu unserm Heilande Jesu Christo in Demuth bekehren zu wollen. Der Brief ist rührend durch seine Veranlassung, aber verdüstert wie alles Pietistische von dem gewöhnlichen Schlage, geistlos sogar, wenn man bedenkt, wie man einem Göthe hätte beikommen müssen, um ihn für Christo zu gewinnen. Göthes Antwort ist Göthisch. Ruhig und kalt weist er das Ansinnen zurück, das er selbst, der Erinnerung an alte Zeiten wegen, „erfreulich-rührend“ nennt. Er erklärt der „Wiedergebornen“, daß Gott in seinem himmlischen Reiche viele Provinzen hätte und setzt mit gutmüthiger Ironie hinzu, daß er hoffe, sie würden im Himmel gewiß Gelegenheit bekommen, sich von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. Fühlend, daß der Ton dieser einem Schreiber diktirten Antwort wohl etwas zu kalt seyn möchte, fügt er eine mildere Nachschrift hinzu und schließt: „Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wiederzusammenfinden. Wahrhaft anhänglich Göthe.“
Man sieht, dieser Briefwechsel hat eine Abrundung, die ihn fast einem Romane ähnlich macht. Welch’ ungeheure Umwälzungen im Glauben und Empfinden der Menschen liegen 1300 zwischen jenem Anfang und diesem Ende! Wie hat sich Alles so verändert; wie ist Alles so kalt, finster, lieblos worden! Wie entfremdet sind sich die Menschen; wie mißtrauisch sind die Verhältnisse! Sollte nicht eine schöne Folge der Veröffentlichung von Zuständen, in welchen unsre großen Geister in alten Tagen gelebt haben, auch die werden, daß wir ihrer Liebe und ihrer Hingebung nachahmen und inniger, zutraulicher aneinanderrücken, duldsamer uns tragen, traulicher uns genießen?
Apparat#
Bearbeitung: Madleen Podewski, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Nach der ungezeichneten Publikation im „Telegraphen“ nahm Gutzkow den Beitrag nahezu unverändert in den zweiten Band seiner Vermischten Schriften auf. Hier ist er an den Anfang des dritten Abschnitts, betitelt Literarhistorie, gestellt. Gutzkow strich den deiktischen, nur im Journaldruck verständlichen Zeitverweis zu Beginn und eine in den ersten Satz eingeschobene kleine Passage, die sich auf die Ausstattung von Taschenbüchern bezieht.
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte. Mit weiteren Texten Gutzkows zur Goethe-Rezeption im 19. Jahrhundert hg. von Madleen Podewski. Münster: Oktober Verlag, 2019. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 3.)
2.1.1. Texteingriffe#
139,33 aneinanderrücken, aneinanderrücken
Kommentar#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.