Wir stellen die Gutzkow Gesamtausgabe zur Zeit auf neue technische Beine. Es kann an einzelnen Stellen noch zu kleinen Problemen kommen.

Aus der Knabenzeit (1852)#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Wolfgang Rasch
Fassung
1.2
Letzte Bearbeitung
04.04.2024

Text#

Aus der Knabenzeit.#

Wer die Menschheit nicht in ihren

niedrigen Sphären erkannt hat, der be-

greift sie nimmer in ihren Höhen.

Bogumil Goltz.

III Vorwort.#

Nicht zur Nachahmung der großen Muster in der Autobiographie sind die nachfolgenden Blätter geschrieben worden. Des Verfassers Person war ihm bei ihrer Abfassung in dem Grade gleichgültig, daß er ausdrücklich sich gegen die Auslegung verwahren muß, als hätte er ein Entwickelungsbild von sich selbst entwerfen wollen.

Er schilderte seine frühste Jugend ihrer Thatsachen wegen. Diese Thatsachen sind keinesweges abenteuerlich … jedes Findelkind, jeder Waisenknabe würde der Neugier größre Reizungen anbieten können … Aber denkwürdig schien dem Verfasser zunächst schon seines Jugendlebens Schauplatz.

Es ist Berlin … Diese große Stadt hat sich für die, die in ihr geboren wurden, bekanntlich den übelsten Windeln- und Wiegenruf erworben. Sie gilt dafür, IV daß sie nur gesuchten Witz, kalten Verstand, baarste Gemüthsleere hervorbringen kann. Alle Gebiete Deutschlands haben sich in unsern Tagen geregt und ihren Schooß geöffnet, um zu zeigen, daß die Quelladern deutscher Sitte, deutschen ursprünglichen Lebens durch sie hindurchzögen; Berlin allein ist dabei stumm und regungslos geblieben. Schwaben zeigte sich als das Goldland des Gemüths, das Rheinland als der Armida-Garten der Phantasie, Thüringen öffnete die Felsenspalten seiner Sagen, in denen verzauberte Kaiser über unsres Volkes Zukunft träumen, Schlesien, Westphalen, selbst die Lüneburger Haide und die Deutsch-Böhmen haben über die Meilenzeiger der Landstraße, die bunten Röcke der Polizei und das große Nivelliment der modernen Wirklichkeit hinweg ein heimlich Inneres, ein traulich Anderes und irgendpoetisches Bild von sich zu geben versucht; nur Berlin brachte als spezifisch Berlinisches immer und immer nur seine Eckensteherwitze, seine Kreuzzeitungsfeuilletons, seine Weißbiergemüthlichkeit und die Schusterjungencouplets aus der Friedrich-Wilhelmsstadt.

Ist denn nun aber wirklich Berlin ganz so flach, wie es sich giebt und genommen wird? Geht jener unterirdische Silberstrom des reinen deutschen Gemüthslebens wirklich um die Mark Brandenburg herum und kreuzt sich auch nirgends mit der beschei-Vden fluthenden und doch auch vom Gebirge kommenden Spree? Man möchte die Nichtbegegnung fast glauben, wenn man sieht, was alles auf der entsetzlich breiten Grundlage von Berliner Trivialität sich Fremdartiges aufbauen darf und von Heimischem meist nur Thatsachen, die im deutschen Vaterlande wenig Credit gewinnen wollen. Und doch besitzt Berlin in sich selbst eine weit bessere Entwickelungsfähigkeit, als die speziellen Interessen der dortigen Tonangabe ihm seit fünfzig Jahren gestatten wollen. Es ist nicht so verlassen von einer gewissen Ursprünglichkeit, wie es sich in seiner Neigung zur Selbstpersiflage darstellt. Es ist nicht einmal so kahl, so sandig, so farblos in seiner Natur, wie man nach den allgemeinen topographischen Bedingungen der Mark glauben sollte.

Vielleicht nützen die nachfolgenden Blätter einem bessern Studium. Es wäre sicher schon erfreulich, wenn die Tausende von Berlinern, die das spezifisch Berlinischseinsollende erst auf dem Theater oder in der bekannten Jargon-Literatur kennen gelernt haben, einmal den Blick von ihrem Geburts- und Heimathsschein aufzuschlagen wagen und bekennen dürften: Endlich schwindet etwas dieser falsche Schimmer totaler Unpoesie, dieser Beigeschmack von Verstandesnüchternheit, der auf dem Berlinischen Ur-VIsprunge durchaus liegen soll! Die nachfolgenden Blätter sind nur eine Probe dessen, was der Verfasser von späteren Lebenszeiten reicher, eine Probe dessen, was tausend Andre aus ihrer Jugend sicher viel bunter und mannichfaltiger an besseren Berliner Erinnerungen geben könnten.

Nächst dem Interesse des Schauplatzes glaubt der Verfasser auch von Seelen- und Lebenszuständen Manches dargestellt zu haben, was den Erzieher und den Freund des Volkes beschäftigen könnte. Hie und da giebt er Beiträge zu einer Wissenschaft, die man neuerdings die Gesellschaftskunde genannt hat, einer Wissenschaft, die die leere und allgemeine Bezeichnung des Volkes in seine einzelnen Bestandtheile gruppirt und über die wir kürzlich von W. H. Riehl ein so förderndes Buch erhalten haben.

Endlich stellten diese Blätter, besonders wenn ihnen einmal ein zweiter Theil (für 1821–1831) folgen sollte, sich die letzte Aufgabe, ein allmäliges sich Entwinden und langsam freiwerdendes Losringen von einem tiefeingeimpften und fast zur andern Natur gewordenen spezifischen „patriotischen“ Lokalgeiste zu schildern. Einen schönen und lieblichen Jugendwahn als drückenden Ballast auf hoher Lebensfahrt auszuwerfen, kostet für jedes fühlende Herz Ueberwindung. Aber wenn der Verfasser zeigen könnte, daß VII man bei erkannten Irrthümern doch liebende Pietät und strenge Beurtheilung in ein Gleichgewicht bringen kann, „das der Empfindung nicht schenkt, was dem Verstande gehört“ so hätt’ er noch einen geheimen und von ihm mit vertrauendem Herzen angestrebten Zweck dieser Blätter erreicht.

Die endlich an der Darstellung vielleicht auffallende, zuweilen scherzend übertreibende Wort- und Bilderwahl möge die Thatsachen nicht verdächtigen, die ohne Ausnahme faktisch sind und Niemanden anders, als bereits Verstorbene, treffen! Der bekannte aufgebauschte Ausdruck des komischen Heldenepos schlich sich hie und da nur deßhalb zuweilen in die Prosa ein, weil eine innere Besorgniß den in der Würdigung seiner Herzensmotive selten glücklichgewesenen Verfasser bestimmte, überall da, wo seine eigne Person zu sehr hervortrat, lieber sogleich selbst Gelegenheit zu einem Lächeln zu bieten, das er allerdings in diesem Buche dann und wann auch bei Wohlwollenden wird voraussetzen müssen.

Dresden im Februar 1852.

IX Inhaltsverzeichniß.#

I. Seite 3 bis 33.

Vorsatz. Die Jugend. Die Erinnerung. Berlin. Unter den Linden. Das Akademiegebäude. Die Normaluhr. Universelle Bestimmung eines einzigen Gebäudes. Pegasusstall. Seine innern Mysterien. Stilles Kinderleben im lautesten Gewühl. Der Kastanienbaum des Königlichen Kutschers. Die Bewohner des Akademie-Quadrats. Der Prinzenstall. Rundschau der Umgegend. Der Leib-Bereiter. Der Mensch und das Pferd. Rückkehr aus der Campagne. Die Beute. Nachwehen des Krieges. Verstimmung. Die Russen. Iwan. Die Geschichte vom schönen Dorich und der kleinen Marianne. Ein Wort der Prinzessin Marianne. Christliche Wiedergeburt und eine Anstellung.

II. Seite 34 bis 61.

Die Poesie der dienenden Klassen. Familientradition. Pommerland. Der Schreiber und der Küster. Schullehrerwaisen. Väterliche Erzählungskunst. Boitzenburg. Der Schneider und der Maurer. Die Syrupstraße in Berlin. Graf Brühl. Prinz Wilhelm. Des Vaters Reiseabenteuer. Der „unglückliche“ Krieg. Die Flucht. Tilsit. Napoleon. Der Kurprinz von Hessen. Der Freiheitskrieg. Stallmeister Major bei Groß-Görschen. Ein Schuß in der Leipziger Schlacht. Deutschland. Französische Invasion. Die vorneh-Xmen Marodeurs. Paris. Frankoni. Die Geschichte vom Ring der schönen Sattlermeisterin. Die Mutter und ihre Angehörigen. Die Armen. Vetter Christian. Der Lederkoller mit eingenähten Thalern. Vetter Wilhelm.

III. Seite 62 bis 113.

Der Apokalyptiker. Der Pietismus. Die Propriande. Die Offenbarung Johannis. Der nächtliche Beter. Eine Mutter. Erstes Traumleben des Kindes. Kinderlieder. Der Sinnenreiz der Jugend. Geigenschmerz. Bilderbögen. Naschen. Kindeseinsamkeit. Der Katzenstieg. Der Bauhof. Winkelleben der Kinder. Kinderphantasie. Todesfurcht. Lebensgenuß. Die Gestirne. Der Mond. Das All-Nichts und Gott. Ortssinn. Terrainerweiterung. Hinter-die-Schule-Gehen. Die Loge Royal-York. Die Kasernen. Der Unteroffizier als Schneider. Der Wachtdienst. Spukwachen. Das Negligée der Soldaten. Eine Parade. Der Prinz von Preußen. Soldatenschwänke. Die Wanderung nach dem Thürmchen. Die Selbstmörderleichen. Die Mumien. Der Galgen. Voigtland. Wedding. Invalidenhaus. Thierarzneischule. Die Narren in der Charité. Die innere Stadt. Die Rauhbeinigen. Der Schützenplatz. Berlins idyllische Poesie.

IV. Seite 114 bis 140.

Schönhausen. Die Gemahlin Friedrichs des Großen. Prinzenerziehung. Vornehmer Pietismus. Ein römischer Bischof in Berlin. Wanderungen nach Charlottenburg und Spandau. Der Thiergarten. Charlottenburg. Das Schloß. Die Signalhörner. Grützmacher. Der Spandauer Weg. Die Festung. Graf Lynar. Die kleine Bürgerwelt. Das Bedürfniß des Friedens und der Liebe im Kinde. Das Unglück. Kindeswehmuth. Krankheit. Phantasiren. Der Arzt. Volksheilkunde. Doktor K. Die Hexe am Königlichen Schloß.

XI V. Seite 141 bis 178.

Die Schule. Meister Schubert. Schulton im Ganzen und Lehrerton im Einzelnen. Der Wissensstoff einer Klippschule. Herr Gädike. Lehrmethode. Kindergärten. Schulbesuch. Schulheimgang. Das Hufeisen. Der brandenburgische Kinderfreund. Die Kirchen. Die Domkirche. Schlüters Kanzel in der Marienkirche. Der Judentempel. Die Hedwigskirche. Die Prediger. Pastor Koblanck. Pastor Jänicke. Die Conventikel. Ihre Entartung; ihre Wahrheit. Der junge praktische Homilet. Religiöse Wehmuth. Die Bibel. Die Hauspostille. Ein seltner Fund. Häfelis Predigten. Die Morgenröthe.

VI. Seite 179 bis 233.

Göthes Faust. Ein Exemplar des Königs. Kinderlogik. Die Hexenküche. Die Meerkatzen. Die Himmel öffnen sich. Don-Quixote. Spanien und Pommern. Die Jugendlectüre. Pädagogische Poesie. Die Lovely-Bilderbücher. Ueber Land. Die alte Cichorien-Liese. Das Geistersehen. Die Spieke. Lichtenberg. Märkische Bauern. Kindertraumseligkeit im Wachen. Die Jubelfeier der Reformation. Napoleons Tod. Die Erhebung der Griechen. Kotzebues Ermordung. Altdeutsche Tracht. Turnerei. Jahn. Der Brand des Schauspielhauses. Lebenserfahrung. Gut und Böse. Die Charaktere. Die Leichtsinnigen. Die Gewerbefreiheit. Der junge Meister. Kundenbesuch. Das zweite Frühstück. Erwerbstrieb. Religiosität als sittlicher Hebel. Das allgemeine Stimmrecht. Die Frauen der Armen. Gute und Schlimme. Das Richtamt der Familie unter sich. Der Bettelstab. Der Weg zum Ruin. Die geschlossenen Gesellschaften. Die Liebhabertheater. Das feinere Proletariat. Das große Maul. Der Existenzjammer. Die Gesinnungslosigkeit. Die dienenden Klassen. Bediente, Köchinnen, Ammen. Die Juden. XII Wucher. Die Lotterie. Die Sparkassen. Die englischen Waaren. Schutzsystem. Die Freihändlertheorie. Ein geöffnetes Paradies.

VII. Seite 234 bis 262.

Bode. Osann. Hufeland. Göhrke. Lautenschläger. Verschlossene Häuser. Die Mauern am Katzenstieg. Ein reicher Maler. Herr Cleanth und sein Realismus. Eine Ohrfeige. Vornehme Erziehung. Reiz der höheren Geselligkeit. Gartenlust. Die Blumen und der Regen. Spiele. Praktische Lebensphilosophie. Bühnenneigung. Puppenspiele. Der bayerische Hiesel. Faust und Caspar. Der Gärtnersohn. Die Jungfrau von Orleans. Das alte Opernhaus. Rebenstein. Frau Stich. Ein neues Nationaltheater nach einem Plane Schlüters. Iphigenia in Aulis.

VIII. Seite 263 bis 305.

Frauenanmuth. Die Liebe. Beobachtung der Herzen. Das Roß des Königs. (Das Duell in der Kaserne. Die Wittwe von Spandau. Der Ritt zum Plötzensee.) Frauenzauber. Nothwendig auch in der Erziehung. Geständnisse eines Freundes. Herr Cleanth, ein Lebenskünstler. Kinderbälle. Galanterie. Das Küssen der Hände. Plebejische und deutschthümliche Opposition. Das Thun und Treiben der Gesellschaft. Der Servilismus. Lachende Erben. Der Tod. Das Hundefräulein. Erste Liebe. Doppelliebe. Liebe und Leid. Kaiser Alexander. Die polnischen Herrschaften. Willusch. Patriotismus. Ende des Paradieses. Abschied. Neues Leben. Zimmermann und der Friedrichs-Werder.

Berichtigungen.#

S. 111, Z. 2 v. u. und S. 157, Z. 11 v. o. lies Louisenkirche statt Jacobikirche. S. 161, Z. 9 v. o. lies volle statt vollen. S. 169, Z. 1 v. u. lies Abracadabra. S. 171, Z. 8 v. u. lies wunderbaren statt „wahren sonderbaren“.

1 1811 – 1821.#

3 I.#

Zutraulich ergreift ein Kind des Lesers Hand. Komm mit! spricht es; ich will dich führen!… Wohin?… In eine Zeit um dreißig, wohl vierzig Jahre zurück, könnte es antworten, aber es sagt: Ich führe dich geradezu an den Rand der Ewigkeit, an den Uranfang aller Tage, den auch Du kennst, wenn Du das Ohr nur an dein innerstes Herzklopfen legen wolltest; ich führe dich zurück in die Zeit der ersten Jugend.

Der Schauplatz dieses Märchens, das wahrer ist, als alle Geschichte, liegt in einer dunkeln einsamen Kammer. Ihr kennt den Ort, wohin der ausgediente Tannenbaum der Jugend verbannt wird! Entkleidet seiner goldnen Herrlichkeit, halb versengt von der Gluth seiner glänzenden Lichter, wandert er in eine winterkalte Polterkammer zur schmutzigen Wäsche, zu leeren 4 Kübeln und zu alten Besen. Ach, es weinte die Dryade des feenhaften Baumes doch auch zu bitter, wenn sie schon am dritten Weihnachtstage in den Ofen müßte. Zuletzt stirbt sie im Schlot, aber man schont das Herz der Jugend und tödtet ihre Seligkeit nicht mit zu grausamer Eile.

Wenn die dunkle Kammer einmal nach Jahren sich erhellte! Wenn die schmutzige Wäsche des Alltaglebens, die alten Kübel der Sorge und die Besen des Schicksals sich einmal niederduckten und der alte Tannenbaum richtete sich empor und schmückte sich wieder und strahlte in seiner goldnen Herrlichkeit! Was Euch Allen in Augenblicken solcher Freude, hervorgerufen leider! meist nur durch tiefinnerste Wehmuth des Alters, einen Berg zaubern würde, an dessen grünem Fuße Ihr geboren wurdet oder ein storchennestgehüthetes Giebeldach im Dorfe oder eine Hütte im Walde oder einen Pallast in rauschenden Städten, dasselbe Wunder führt den Knaben, der Euch heute erzählen will, auf einen der schönsten Plätze Europas und der Welt.

Da, wo in der norddeutschen Hauptstadt jetzt Friedrichs des Großen Standbild mit scharrenden Rossen und demüthig stolzen Reitern auf die Umgebungen der Häuser, Kirchen, Palläste, der neuen Menschen, veränderten Sitten und gegenwärtigen 5 Meinungen in stiller Mitternacht ein seufzendes: Gewesen! niederzuflüstern scheint, am Beginn der freundlichen Boulevards, die, obgleich sie schon lange weit mehr nur von wilden Kastanien geschmückt sind, doch „unter den Linden“ heißen, gegenüber der jetzigen Wohnung des Prinzen von Preußen, des Drachentödters der „Revolution“, und einem düsterschweigsamen, erinnerungsreichen Säulenhause, dem Palais der Oranier, liegt ein nicht hohes, aber in seinem Umfange majestätisches Gebäude.

Wer vorübergeht und ein Mann nach der Uhr ist, bleibt eine Weile stehen. Die goldene, sonst so lang getragene Uhrkette wird gezogen und der Weiser der Taschenuhr bedächtig nach jenem großen Zeitmesser gerichtet, der an dem Hauptportal über einem langsam und feierlich bewegten Pendel schwebt. Kaum hörbar schlägt diese akademische Uhr. In alten Zeiten unterhielt nebenan auf der zerbröckelnden gelben und der Mauertiefe zu braunfeuchten Wand eine Sonnenuhr die Controle eines felsenfesten, unumstößlichen Dogmas. Ginge in Berlin die Uhr der Akademie falsch, so wäre „etwas faul im Staate Dänemark“. Der Punkt, den Archimedes suchte, um die Welt aus ihren Angeln zu heben, liegt dem Berliner zwischen seiner akademischen Uhr hüben und dem Barometer Petitpierres drüben. Gieb mir, wo ich stehen soll! predigen für 6 die frommen Geheimräthe die Büchsels und Krummachers in den Matthäus- und Dreifaltigkeitskirchen und nennen den Heiland alles Lebens Eckstein. Müller und Schulze aber haben nur einen Glauben: Den an die Uhr der Berliner Akademie.

Ein wunderbares, ein Riesengebäude das! Ein Pantheon aller Künste und Wissenschaften! Ein Tempel für Minerva … Preußens Minerva, die auch Schild und Lanze zu führen weiß. Rings die Musen, in der Mitte Mars. Asyl der Künstler und Rennbahn der Cavaleriepferde. Die Trompete der Uhlanen durcheinander wirbelnd mit der Trompete Famas, die in einem Kämmerchen hier der akademische Historiograph des Landes zu blasen hat. Ueber der akademischen Uhr sollte aus der Mauer ein Pegasus springen; denn das Pferd ist es, dessen geflügelter oder auch nur hufbeschlagener Bedeutung dies ganze gewaltige Quadrat gewidmet ist.

Nach der Lindenfront hinaus liegen die von Friedrich dem Großen nach einem Brande wiederhergestellten Sammlungs- und Unterrichtssäle der vom ersten Preußenkönig schon in seiner Kurfürstenzeit hier errichteten Akademie der schönen Künste. Mehr zur Rechten, dem früher Prinz Heinrich’schen Palais, der Universität zu, begannen die Säle und Sammlungen der Akademie der Wissenschaften, zu denen 7 sich in der früheren Stall-, jetzt Universitätsstraße auch die Druckerei der Akademie für Gelehrte, wie Bopp und Wilken, mit ihren persischen, arabischen und Sanscritlettern gesellte. Auf der dritten Linie des Quadrats, die zur jetzigen Dorotheen-, früher „letzten“ Straße hinausgeht, lag der akademischen Uhr grade gegenüber die von Bode observirte Sternwarte, und nach der vierten, der Charlottenstraße zu, führte eine Treppe zur Anatomie und den Hörsälen des alten, vor der Universitätszeit hier schon blühenden, unter Andern auch von Ludwig Börne besuchten, „medizinischen Collegiums“ empor. Alle anderen Längenseiten, Thurmpavillons und Vorsprünge dieses fast encyklopädischen Baues hatten eine Bestimmung, die man unter Umständen an sich keine prosaische nennen kann, wenn sie auch mit dem wissenschaftlichen und artistischen Charakter der übrigen Theile nicht in nächster Berührung stand. Sie wurden zu Pferdeställen verwandt, theils für das Garde-du-Corps- oder Cürassier- oder Uhlanen-Regiment, theils für die Bespannungen der königlichen Prinzen und des Königs selbst.

Dies abenteuerliche, seltsame, lichte und dunkele, classische und romantische Gebäude, ein Pegasusstall nach Hufbeschlag und Flügelschwung, mußte einem Kinde, das ohnehin in einem Spahn geschnitz-8ter Baumrinde Silberflotten, in einem blitzenden Kiesel Dresdener grüne Gewölbe sieht, so gut wie das halbe Universum erscheinen. Ihr Armen, die ihr hier nur diese Uhr, diese Kunstausstellungen, diese akademischen Leibnitz-Sitzungen, diese Bopp’schen Sanscritlettern, diese funkelnde Kometen-Warte, den Rudolphischen Cursus über Splanchnologie nebst den demonstrativen Spiritus-Eingeweide-Gläsern, diese Königlich Preußischen Wagenremisen und die Hauptwache der Uhlanen seht, wie viel ist Euch von der noch übrigen wahren Poesie dieses Pantheons entgangen! Die innern Höfe, die Pluvien dieses Tempels, die lauschigen Mysterien innerhalb dieser vier Straßen, unzugänglich allen Neugierigen, von den Kastellanen mit Rohrstöcken, den königlichen Leibkutschern mit Peitschen, den Wachtmeistern mit dem Sarras streng gehütet … da gab es zu schauen, zu lauschen, zu schleichen, zu naschen, zu wühlen und zu spielen! Wirres Gemäuer, durcheinander gewürfelt. Düstre grasbewachsene Gänge, schauerliche Thürme, viereckig oder rund. Dies Chaos war ohne Zweifel dem in diesem Hause am 17. März 1811 geborenen Kinde wichtiger als die akademischen Säle, wo Schleiermacher über Plato, Wilken über die Kreuzzüge las, oder Gottfried Schadow neuangekommene vespasianische Badewannen mit seiner kostbaren, allerweltbekannten 9 Hausverstandslogik auch balneologisch vom Standpunkte antiker Unbequemlichkeit musterte. Hier zeichneten wohl die künftigen Düsseldorfer, Hübner, Hopfgarten, später Bendemann, Sohn, Hildebrandt als kleine Studienklassiker nach Gypsabgüssen, dort wurden eben von Italien Gemäldekisten zur Kunstausstellung ausgepackt und das Campagna-Romana-Stroh wie gemeines pommersches oder Ukkermärker Stroh behandelt; hier ordnete man die Bücher der Akademiker oder zog von der Presse ein neues Werk von W. von Humboldt über die Kawisprache, in deren vom gelehrtesten Setzer leise vor sich hin buchstabirte Gurgellaute sich das Roßwiehern einer Reitschulbahn für die Garde-Cavalerie mischte; dort krächzten um die Himmelskugel der Bode’schen Sternwarte Schaaren von Raben, die der vergoldete blitzhelle Glanz des großen Globus ebenso, wie der Leichengeruch von der grauenvollen Anatomie her anlockte … und zwischen allen diesen Offenbarungen einer geistigen Welt das rücksichtsloseste Schmettern der Trompeten, die Signale und Ablösungen von einer der Mittelstraße gegenüber gelegenen Wache, das Wiehern und Kollern und Kettenrasseln von Hunderten von Pferden, die durch Trommelschlag und Pistolenschüsse an kriegerischen Lärm gewöhnt wurden … Sollte man glauben, daß hier, wo es manchmal war, wie auf dem offnen 10 Markt oder der wogenden See, dennoch von einem Kinde still geträumt werden konnte, daß hier auf kleinen Gartenplätzen, auf grünen Rasenbänken, in Lauben von wildem Wein, durchmischt mit türkischer Bohnenblüthe, hinter Fenstern mit Terrassen von Goldlack, Levkoien, Astern, hinter großen Kästen, mit rother Kresse, die ihre zinnoberrothen, beizendduftenden Blüthen an Bindfäden bis hoch über die Fensterrahmen rankten, eine stille nur auf sich selbst lauschende Kinderseligkeit durchlebt werden konnte? Dies war ein Tempel der Musen, ein Stall, und doch das grüne Feld und der einsame, stillfriedliche Wald. Da stand ein einziger, aber riesengroßer Nußbaum, der dem ersten Rosselenker des Königs selbst gehörte und vor den lüsternen Blicken des Knaben, der schon glücklich war, nur ein einziges duftendes Blatt von ihm zu erhaschen, das er in seinem zarten Geäder mit sanftem Fingerstrich von dem Blattgrün befreite und als übriggebliebenes zierliches Geripp in seinen davon durchdufteten „brandenburgischen Kinderfreund“ legte, mit allen zu Gebote stehenden, oft drastischen Mitteln gehüthet wurde. Es war hier alles, alles Idyll. Die reizendste Lockung der Natur in diesem stillen Seitenhof. Die Wohnung des so bevorzugten Selbstherrschers vom allerhöchsten Wagenbock lag mit jenem schattigen, früchteschweren Nußbaum, unter dem eine 11 grüngestrichene Bank die allerhöchst Geduldeten zur Ruhe einlud, so lauschig, so versteckt, so malerisch, so dicht gelehnt an einen großen pittoresken Thurm, von dessen kleinen eisengegitterten Fenstern oft mit Sehnsucht hinuntergeblickt wurde, wie ein Claude Lorrain oder, wenn die königlichen Wägen begossen wurden und das Wasser durch die Landschaft rieselte, wie ein krystallheller, najadenbegeisterter Ruisdael.

Dies der Schauplatz. Aber die Menschen! Von den großen Künstlern und Gelehrten erfuhr der Knabe erst allmälig. Verständlich waren ihm in seinen ersten Lauf- und Sprechübungen nur jene rüstigen, kurzen, strammen Leute, die in ledernen Buchsen, gelben Stulpen an den Stiefeln, blauen Röcken, rothen Westen und kleinen silberdrathüberzogenen und mit langen Silberschwänzen in der Mitte gezierten englischen Jokeymützen vor dem viereckten Nord-Ost-Thurme, an der Ecke der „Letzten“ und der Stall- oder Universitätsstraße walteten und schafften. Diese Männer hüteten und pflegten einige dreißig stattlicher Rosse, die dem Bruder der regierenden Majestät gehörten, dem Prinzen Friedrich Wilhelm Karl von Preußen Königliche Hoheit. Links bis zur Astronomie wieherten dieses Purpurgeborenen Fahr- und Reitrosse, rechts bis zur Sanskritdruckerei standen seine Wägen. In dem viereckten Thurme 12 selbst gab es Dienst- und Ablösungsstuben, Wohnungen bestehend aus Küche und Kammer für einige bevorzugte Wagen- oder Roßlenker, Verschläge für Sättel und Riemzeug, Riegel für Candaren, Ketten, Schabracken, Pistolenhalfter und bis hoch hinauf über dunkle breite Treppen ging es zu Dachkammern und geheimnißvollen Luken, durch die oft der Wind melancholische Weisen pfiff und in der Vogelperspective, von einem zwischen den Dachziegeln freigewachsenen zierlichen Kopfe sogenannten Hauslaufes aus, eine Rundschau über die ganze bedeutungsvolle Gegend erlaubt war. Das war eine Aussicht! Da unten lagen die Kunsträume mit ihren Gypsabgüssen und verhangenen hohen Fenstern, da zur Seite die Wissenschaftssäle mit ihren Büchern und Protokollen, dort glitzerten die Himmelsgloben der Astronomie, dort tanzten auf anatomischen Theatern, wenigstens in schauerlichen Spukgeschichten, mit grauenhaften Klagetönen, die man des Nachts von jenen Sälen herunter hören wollte, zerschnittene Arme, enthäutete Beine und um ein Begräbniß betrogene Leiber. Drüben erhob sich der gewaltige Koloß des Prinz Heinrichschen Palais, dessen Besitzer so geheimnißvoll und katholisch mythenreich seit Jahren in Rom verschollen war, während einige alte Pferde von ihm in jenem Winkel drüben das Gnadenbrot fraßen und das übrige Palais den 13 Musen überlassen hatten, die hier 1810 die so rasch aufblühende Tugendbunds-Universität begründeten. Zwischen den schattigen Alleen des damals rings geschlossenen Universitätsparkes, Kastanienwald genannt, lag ein großer Holz- und Zimmerplatz, wo Tausende frisch geschälter, sogar in der Rinde den tollsten Kinderappetit reizender Bäume aufgeschichtet lagen und die gewaltigen Sägen, die Aexte, die Hämmer von Morgens bis Abends wiederhallten und dröhnten an derselben Stelle, die jetzt ein freundlicher kleiner botanischer Garten zum Universitäts-Taschenhandgebrauch einnimmt. Weiter abwärts die Ufer der Spree, noch nicht überbrückt, noch nicht halb verschüttet. Nirgends Durchgänge, alles Winkel, Sackgasse, grüner Rasenplatz, da und dort dunkle breitästige Bäume, wo jetzt überall nur Gaslaternen. Schrägüber wohnte Hufeland, der Arzt des Königs, der im runden Quäkerhut dem Knaben erinnerlich ist, wie einer seiner liebsten Bleisoldaten. Zur Seite die Lehranstalt der jungen Militärärzte. Dann Kasernen (Berlinisch: Kasarmen), Exercierplätze, große Magazine, alles verworren, regellos durch einander auf denselben Plätzen, die nach wenigen Schritten sich zum Ueberblick der Linden, der Bibliothek, des Opernhauses, des Schlosses, einer der schönsten Perspektiven Europas, öffnen. Es mag wenig Städte geben, wo berühmte und vielbedeutende 14 Gebäude so dicht in großer Anzahl beisammen liegen und zwischen den gewaltigen Quadersteinen und stolzen Säulen doch so viel stille bescheidenste Lebensexistenz gestatten, wenigstens wie sie sich damals hier einnisten durfte. Von allen diesen großen Beziehungen war oft die Seele des Knaben wie von räthselhaften Fittichen hoch emporgehoben. Aus dieser majestätischen Anschauungswelt zitterte, drängte, schauerte etwas in ihn hinein, wofür er keinen andern Ausdruck fühlte, als eine unendliche, oft namenlos wehmüthige Sehnsucht nach Klarheit, Licht oder irgend einer braven Bewährung in diesem großen Ganzen. Das hinlänglich übelberufene Wesen des in andern Stadttheilen üppig wuchernden Berlinerthums kannte er nicht.

Doch zurück zu Roß und Reisigen am nordöstlichen Thurm! Der Vater des Kindes nahm unter ihnen die glänzende „soziale Position“ eines ersten Bereiters Sr. Hoheit des Prinzen Wilhelm von Preußen ein. Bettelstolz, bekanntlich viel empfindlicher als die andern Gattungen des Hochmuthes, müßte den Erzähler, wenn er ihn besäße, bestimmen, den ersten Leibbereiter eines königlichen Prinzen etwas in’s Stallmeisterhafte hinüberzutuschen, aus einem zwar nicht vorreitenden, aber doch immer nachreitenden Knappen halb und halb einen Ritter zu machen. Doch 15 begnügt er sich, nur gegen den Stallknecht oder den Jokey schlechthin Einspruch zu thun. Und dem Roß zu dienen, hebt es nicht denselben Menschen, der den Menschen dienend sich viel tiefer erniedrigt? Welch’ ein freies, auf Gegenseitigkeit begründetes Verhältniß! Der Hirt beherrscht seine Heerde, der Reiter kann sein Roß nur allmälig gewinnen, nur gewöhnen, nur wie ein freies und doch wieder nicht wildes Wesen bändigen. Sein Dienst ist ein Triumph der männlichen Kraft. Die Zähmung bringt wohl einen Schein von Ergebung, Schwäche, selbst gemüthlicher Anhänglichkeit in die Bewegungen des Pferdes; es ist aber zu oft nur ein Schein. Die wahre Natur der Freiheit und des Stolzes sind dem Thiere des schönen Ebenmaßes trotz aller rührenden Schlachtfeld-Anekdoten doch nicht ganz auszutreiben. Jeder langverhängte Zügel giebt ihm die volle Kraft der eignen Laune wieder und launisch ist das Pferd, so launisch, wie nur Könige launisch sein können. Das Pferd hängt von der Reizbarkeit seiner angeborenen Natur so ab, daß es sich, selbst wenn es gezähmten Willen hätte, nicht einmal mit bestem Willen in der Gewalt haben könnte. Mit einem plötzlichen Schreck, mit einem ungeahnten Scheuwerden stürzen alle seine guten Vorsätze, wenn man seine Zähmung so nennen dürfte, zusammen. Das Roß vergißt dem Menschen 16 nie, daß die Peitsche und der Sporn die strengen Begleiter seiner Liebe sind. Und oft ist es, als verstünde das edle Raçenpferd nicht einmal die Sprache des Abendlandes, als lernte es nie, daß es andre Laute geben könnte, als die des Sohnes der fernen morgenländischen Wüste. Der abendländische Reiter hat ein arabischen Ahnen entsprossenes Thier liebgewonnen, er streichelt es, es spielt mit den Ohren, es schwingt den Schweif, es stößt die kurzen grammelnden Laute des Wohlbehagens aus, man glaubt Wunder wie innig der Bund zwischen dem Thier und dem Menschen geschlossen ist … und plötzlich bringt man den vom Rosseshuf getroffenen Herrn, bringt ihn todtenblaß, das Blut quillt aus des Sterbenden Munde, er röchelt, ächzt … verscheidet. Wie oft drang nicht dies Schreckenswort an des Knaben Ohr, daß dieser oder jener junge lustige Reiter im „Klinikum“, an dieser grauenvollen Pforte des Lebens, wo der Tod statt der Sense eine chirurgische Säge schwingt, rettungslos darniederläge, daß sein guter Hektor, sein treuer Ajax ihm die Brust zerschlagen hätte!

Treten wir näher! Da stehen die Rossebändiger, putzen Riemzeug oder bemalen die ledernen Hosen mit geriebenem Ocker. Vor dreißig, fast vierzig Jahren waren ihre Mienen gebräunt, wild, bei Manchem 17 übermüthig und trotzig. Die Reisige und Troßknechte legten damals erst vor Kurzem den Dreimaster, die orange-schwarz-weiße Schärpe und den geschliffenen Säbel ab. Sie kamen aus dem heiligen Kriege der Befreiung. Weit in der Welt herumgeworfen, waren sie in Tilsit, Königsberg, in Breslau, bei Leipzig, sahen Paris, Belle-Alliance, Ligny, Namur; sahen zum zweiten Mal Paris und selbst Orleans. Der zweite Pariser Friede scheint ihnen nicht zu behagen. Diese Ruhe jetzt, diese Spazierritte nach Charlottenburg, diese Jagdausflüge nach dem Grunewald, dies winterliche Haltenmüssen vor den Schlössern, Theatern, bei den Bällen und den Diners der Wilhelmsstraße scheint ihnen lange nicht so zu munden, wie das rauschende, poetische Leben im Felde. Da hatte es Entbehrungen, Strapazen, Gefahren gegeben, aber welche Entschädigungen im Quartier, welche Abenteuer, welche Freude an fremder Sitte, welche schnelle Gewöhnung selbst an die Art des verhaßten Feindes! Der geringe Mann findet sich auch unter den Gegnern sobald zurecht mit Seinesgleichen. Die Großen führen noch immer die Kriege, die Kleinen haben sich längst ausgesöhnt. Da wurde die Beute, die auf dem Schlachtfelde gewonnene, der wohlfeile Einkauf, der vom „dummen“ Kosaken erstandene, nicht einmal aufbewahrt bis zur Rückkehr in die Heimath, 18 sie wurde schon wieder getheilt mit dem Feinde selbst, verschenkt an den guten Wirth, zurückgelassen als Andenken an eine zärtliche Mutter, an die Kinder, die an den rothen Bärten der Fremdlinge zupften und sich mit deutschen Liebkosungen trösten ließen, daß ihnen ein Bruder Pierre oder Matthieu oder Napoleon bei diesen Fremden daheim im Felde geblieben war. Sie kamen nun aus diesem gezähmten Frankreich zurück … Die Weiber gingen ihnen entgegen schon bis zum halben Wege von Potsdam. Sie umarmten die Längstentbehrten, endlich im Staub Erkennbaren, hinter Steglitz. Beim Landgute des Großkanzlers von Beyme steigen die Wohlbehaltenen vom Pferde, küssen Weib und Kind und sind, aber wie! verändert. Die wilden Bärte reiben beim Kusse fast wund. Und die Worte, was die so neu sind, die Fragen, was die so zerstreut, so fremdartig und so vergeßlich klingen! Das Pferd da, Sophie, das hab’ ich erbeutet, heißt es; aber ich verkauf’ es – Die Juden in Magdeburg boten schon sechszig Thaler. Der Stallmeister giebt siebzig … Da! Drei Uhren! Eine für den Bruder, eine für den Vetter, eine für den Aeltesten zur Einsegnung … lauter ächte Breguets! Hier Tücher, Lyoner seidne Tücher, nicht viel, aber nur um die Mode zu zeigen, und ein Ring – wer weiß von wessen Hand! Später sag’ 19 ich’s – aber da ist er. Ich habe viel, viel zu erzählen. Im Mantelsack liegen ein paar Thaler. – Das ist die ganze Bescheerung? Wie? Wie? Das ist Alles? fragt die ihr Eherecht schon wieder Fühlende auf dem Wege halb nach Schöneberg. Da sind doch Andre, die auch zurückkehrten … was haben die mitgebracht! Wahrhaftig mehr, als da die Tabackspfeife mit silbernem Beschlag, mehr als da die englischen Rasierzeuge und die Pariser Schaumseife, mehr als da die Spieldose mit der Modearie des Tages: „Ich war Jüngling noch an Jahren …“ lauter unnütze und verschwenderische Dinge das! Und nun zeigt sich wohl, daß die Haupterrungenschaft der Krieger, ihre wahre gemachte Campagne-Beute Mißmuth, Zorn, überspannte Phantasie, tolle Lebenslust und ein überraschender Reichthum von ganz neuen, bisher unerhört gewesenen sakramentischen Bougre-Flüchen und Kreuzhimmelherrgotts-Verwünschungen über die Wucherer im Felde, die Räuber, die Stubenhocker, die Schleicher, die den armen Fremdlingen „das Fell über die Ohren“ zogen und die Habgier der Weiber sind.

Ringsum ertönte nun das wilde Toben der Rückkehrenden. Was klapperten da die Säbel! Was stoben Funken auf dem Straßenpflaster! Was wurde da gesungen, getrunken, gewettert! Auf den Straßen 20 schrie man aus: „Bonaparte’s neueste erbärmliche Stoßseufzer aus St. Helena“ … man kennt die Spottliteratur, die nach Napoleons Sturz auf allen Märkten und Gassen so wenig Großmuth und so viel Siegesübermuth verrieth. Ja, sagten die Heimkehrenden, wenn er nur bald wieder käme. Sie mochten diesen schaalen Frieden, diese Heimath, diese Habgier, diese Polissonerien und „Schuriegeleien“ des wiederhergestellten Dienstzwanges nicht. Es blieb noch Alles gerüstet, trotz der Durchmärsche, die von heimkehrenden Russen kein Ende nahmen. Die Russen galten im Ganzen für die gemüthlichste Nation von der Welt. Die Großen mochten sich in Eifersucht und Misstimmung aneinander reiben und Fritz des Franz, Franz des Iwan längst überdrüssig sein, die Kleinen hatten schon wieder treueste Freundschaft geschlossen, nahmen sich schon wieder längst gegenseitig von der allgemeinen brüderlichen Menschenseite. Es hieß wohl, der Russe nimmt ein ganzes Talglicht und zieht es sich, selbst wenn er’s vom Leuchter, nicht vom Lichtzieher hat, zum Frühstück durch die Zähne; aber die Kinder bekamen doch russische Taufnamen: Paul, Alexis, Feodor, Kathinka, Alexandrine, Maschinka. Auch Türken gab es viele und nicht unkenntliche unter den Russen … Iwan, ein Türke vom schwarzen Meere, nahm den Knaben oft auf 21 den Schooß und schenkte ihm, nicht orientalische Zuckerfrüchte oder Harem-Eingemachtes, was er nicht hatte, wohl aber Thorner Pfefferkuchen und große Rostocker oder Stettiner Aepfel. Ein unerlaubtes Einstürmen von trunkenen Russen in ein ihnen nicht gehörendes Quartier und die mit Macht von der entschlossenen Mutter vertheidigte Thür ist dem Knaben gegenwärtig wie eine Scene aus dem Homer.

Die Geschichte des Ringes aus Paris wurde erzählt, vom vierjährigen Kinde noch nicht verstanden; öfter und wie öfter! wiederholt und später erst begriffen. Sie soll folgen. Hört eine Geschichte, die sich unter des Knaben eigenen Augen begab!

Zwei stattliche Reiter des Prinzen hatten im Felde sich die treueste Freundschaft geschworen. Der Eine, mit krausem, schwarzem Haar, lebensfroh, mit Feueraugen, der erste Vorreiter des Prinzen. Der Andere, blond, ernster, milder, blauäugig, der erwähnte erste Nachreiter. Es konnte keinen fröhlicheren Gesellen geben, als den schönen, schwarzen, krausköpfigen Dorich. Wenn Dorich auftrat in den frischgetünchten gelbledernen Buchsen, den hohen geglänzten Steifstiefeln, der kurzen blauen Jacke mit weißen Metallknöpfen und rothen silberbesetzten Krägen und Aufschlägen, die runde Jokeykappe und die silberdrathüberflochtene Reitgerte tänzelte in seiner Hand, die 22 Sporen klirrten hinter den Absätzen, so war Dorich der Stolz des Marstalles. Dorich schäkerte mit den Mädchen, lachte mit den Frauen, Allen mußte seine frohe, lebensprühende Art gefallen. Dorich war verheirathet. Er hatte die schönsten Kinder. Aus dem Kriege heimkehrend waren die verbundenen Freunde, Dorich und des Knaben Vater, halbe Franzosen geworden. Wenigstens die Sacres der Pariser konnten sie ohne den Meidinger. Sie hielten eine geschlossene Kameradschaft, die um so enger sie verbinden mußte, als sie in einem und demselben Hause wohnten, in dem nordöstlichen Marstall-Pavillon des Prinzen Wilhelm.

Aber ach, diese Freundschaft wurde auf harte Proben gestellt!

Die aus dem Frankenland heimkehrenden jungen Reiter fanden ihre Frauen wieder, aber beide gegenseitig in Zorn und Haß entbrannt. War es die alte Eifersucht, die seit Chriemhilden und Brunhilden wetteifernde Kriegsgesellen gegen einander stachelt, oder hatte reizbares Frauennaturell keine Veranlassung gefunden, für den Würfel und das Kartenspiel, das die Männer verband, eben so bindende Surrogate, den Kaffee, die Neugier, die Zuträgerei, die Klatschsucht, eintreten zu lassen; genug, die beiden Frauen der Freunde haßten sich. Das war aber nicht etwa 23 wie bei uns eine kalte oberflächliche Gleichgültigkeit der Einen gegen die Andre, ein Hinterrücksangreifen, ein Mangel nur an sympathischer Stimmung, wie wir uns hassen, nein, das war ein Haß, ein Zorn, eine Leidenschaft, wie aus der Heldensage. Die Kinder der einen Frau den Kindern der andern sich nähernd, wurden mit Gewalt fortgerissen. Das Weib Dorich’s, eine hohe, schlanke Gestalt, mager, von brennend stechenden Augen, wie ihr Gatte, bei dem aber diese Kohlenaugen nur vor Lust und Freude funkelten, und die Mutter des Erzählers, kleiner, rundlicher, von blauen Augen, schwarzem Haare und schwarzen Augenwimpern und einer so gewaltigen Charakterregung fähig, daß sie auf ihrer Stimmung festhielt, ob dabei auch mehr als ein Schüreisen biegen oder brechen sollte.… das Pathos dieser Leidenschaften reichte bis an die Tragödie. Beide Frauen waren ja so angewiesen allein auf Liebe, so allein auf Schonung und Duldung! Denn – verhängnißvolle Wendung! – jede hatte zwar ihre eigene Stube (ohne Kammer!) mit drei Kinderbetten oder wenigstens Plätzen oder Stühlen, aus denen man Abends Betten formen konnte, hatten als Dienstwohnungen diese Löcher zu behaupten, aber beide benutzten dabei nur eine, eine und dieselbe Küche! Brunhild und Chriemhild in einer einzigen Küche! Zwei 24 Feuerflammen vor einem Heerde! Beide auf einem und demselben steinernen Estrich ihr Gemüse putzend, ihre Kartoffeln schälend, ihre Erbsen verlesend! Und Gemüse, Kartoffeln und Erbsen auch auf einem und demselben Penatenaltar siedend! Es ist wahr, eine kleine Scheidewand von Backsteinen trennte den Topf Brunhildens vom Topfe Chriemhilds. Links knisterte an seltenen Tagen der Speck der Einen, rechts brotzelte die gebackene Leber der Andern. Die Kartoffeln, die Bohnen und die Erbsen dampften sich dicht neben einander täglich in dieselbe Esse aus, in dieselben schwarzglühenden Wände, auf deren rußige Krystalle immer gleich kalte, gleich starre Mienen des Hasses fielen. Durch die kleine Küche war eine Demarkationslinie der Neutralität gezogen, die nur beim Eintreten durch die Thür von beiden Partheien überschritten werden durfte; sonst standen Eimer und Scheuerfaß, Schrank und Holzklotz, Hackebrett und Marktkorb in mathematischer Genauigkeit so gestellt, daß Eins nicht um die Linie in das Gebiet des Andern rückte, es sei denn, daß der kochende Groll eine Veranlassung zum Ausbruch suchte. Suchte! Wie dieser Haß entstanden, ist dem Erzähler unbekannt, aber das ist erwiesen, geringe Leute hassen sich nicht, wie wir Andern uns hassen – in unserer Bildung! Wir Gesellschaftsfähiggewordenen gehen süß, 25 gehen lächelnd an einander vorüber, meiden uns wohl einmal in einem und demselben Salon, würden aber sogar in einer Küche mit einander fertig werden Jahre lang, wenn uns die Neigung würde, uns unsere Beefsteaks selber zu dämpfen. Aber Naturmenschen? Was wäre ihnen Mäßigung und ein Zügeln der Leidenschaft? Feigheit! Ein Scheitholz, das der Einen im Wege liegt, wird mit dem Fuß zur Andern hinweggeschleudert, als wär’ es eine giftige Otter. Ein kostbar Gericht, das die eine Mutter zum Sonntag ihren Kindern bescheeren will, wird bei der Enthüllung aus dem sonnabendlichen Marktkorbe von der Andern mit einer lauten Lache begrüßt. Da wird kein Epigramm in das innere Herz zurückgedrängt. Keine Diplomatie tritt an die Stelle des wilden Naturzustandes, der Alles sagt, was er denkt, alles austobt, was er fühlt, ja jede Gelegenheit ergreift, sich in jenen nervenanspannenden Zorn zu versetzen, der eine rechte, innere Nahrung mancher Seele zu sein scheint und auf sie wie ein berauschendes Opium wirkt. Dieser schlimme Krieg der Küche, dessen Schlachtfelder zuweilen die große mit Steinen gepflasterte Hausflur bildete, dauerte während des ganzen großen heiligen Befreiungskampfes und wurde, als Napoleon schon längst in St. Helena von Sir Hudson Lowe, vom Magenkrebs und der bittersten 26 Reue über seine verkehrte Menschen- und Welt-Auffassung promethëisirt wurde und die großmüthigen Sieger von Belle-Alliance noch immer in den Straßen die erbärmlichsten Pamphlete auf den am St. Helena-Kaukasus langsam Entleberten auszurufen duldeten, noch lustig fortgesetzt zum Jammer der beiden Freunde, die so engverbunden von Paris heimkehrten und durch ihre auf wilde Sitten, Unlust am Frieden, Kartenspiel und geringe Werthschätzung des Geldes begründete „gutbrüderliche“ Einigkeit das Hauskreuz dieses Zwiespaltes nur noch ärger machten.

Da geschah ein Wunder, das tief in die Herzen dieser Menschen und in die Seele des Knaben griff.

Die Kinder beider Partheien liebten sich so innigst, so zärtlich wie die Väter. Und nun nahte sich auch den Müttern ein Engel des Friedens, in weißem Gewande, mit der Palme in der Hand, der Engel … des Todes. Des schönen Dorich jüngstes Kind, ein holder, kraushaariger Schelm von wenig Jahren, ein Mädchen erkrankte … starb. Die kleine lockige Marianne – des Prinzen Gemahlin hieß Marianne – hatte noch vor einigen Tagen so heiter mit dem Knaben gespielt. Dann hieß es: Mariannchen liegt zu Bett: Und dann: Mariannchen ist todt … Dorich, der Vater, weinte. Die Mutter, die kalte Brunhild, trug ihren Schmerz mit düstrem Ernst. Das Unglück 27 bei Armen ist noch etwas ganz Anderes, als das Unglück bei den Reichen. Das Unglück des Armen entmuthigt meist seine sittliche Kraft, während den Gebildeten das Unglück sittlich heben und anfeuern kann. Die Armen haben noch nicht unsre Vorstellung von einer allgemeinen gleichen Vertheilung von Leid und Freud. Sie nehmen jede Begegnung des Geschickes persönlich hin, wie etwas auf sie von bösen Mächten absichtlich Gemünztes, sie fliehen, verstecken sich wie vor der wirklich aus den Wolken langenden Hand des persönlichsten Gottes, sie bitten und flehen um gnädige Lebensloose an Gottes Thron, wie an den Stufen eines großen allmächtigen Weltenkönigs, und hoffen nur darum das Gute, das Freundliche, das Gnädige, weil ihnen Gott ein ernster, strenger, aber meist doch gütiger Vater ist. Der Jammer aber dann doch um ein Mißgeschick wirft den Armen nicht um den Verlust so sehr, wie uns zaghafte verhätschelte Ichmenschen, denen mit dem Verlornen gleich das ganze Dasein weggezogen scheint, nieder; sie wirft der Schrecken, das Entsetzen nieder, das Entsetzen, sich so räthselhaft schlimmen, unheilvollen Mächten verfallen zu sehen und den Finger Gottes so bedenklich grade auf sie ausgestreckt zu erblicken. Nun ahnen sie die Fülle des Elends, die über sie kommen wird. Sie sind starr, innerlich vernichtet. Und auch Das … 28 die strenge, kalte Dorich, eine vortreffliche Mutter, verbarg ihre Thränen, um ihren Schmerz – vor der Feindin nicht sehen zu lassen!

Der Engel im weißen Gewande und der Friedenspalme hatte es eigen beschlossen. Er suchte der eben entschlummerten kleinen Marianne zunächst eine vorläufige Ruhestätte doch noch vor dem Grabe. Sie mußte doch irgendwie außerhalb des Zimmers liegen, wo die stilljammernde Mutter, der zerknirschte Vater, die weinenden Geschwister schliefen. Wo anders war das holde kaltgewordene Kind unterzubringen, als in der Küche? Diese zweien Herren gehörende Küche, sonst das Schlachtfeld des Hasses, wurde nun ein Versöhnungsplatz der Liebe. Die Simultanküche wurde Simultankirche, wo zwei Confessionen des Herzens zu demselben Gott der Liebe beteten und ein Glockengeläute jetzt für beide Partheien zum Frieden rief. Der Raum, so enge, so arm, so gedrückt, konnte zum Katafalk der kleinen Leiche – zwei Stühle und ein Strohsack – nur dann ausreichen, wenn von beiden Frauen eine jede etwas von ihrem Gebiete hergab und die gelbe Demarkationslinie des Hasses und der Eifersucht mit dem grünen Zweige der Liebe ausgeweht wurde. Und es geschah so. Die kleine Frau mit den blauen Augen unter schwarzen Wimpern hatte Mariannchen wie ihr eignes Kind geliebt. Sie rückte 29 trotz des Hasses gegen die Mutter immer schon fort, was dies liebe Kind zum Leben gebraucht hatte, sollte sie nun seinem Tode nicht Platz gönnen? So lag das Kind mit dem blonden Lockenhaupte halb im Gebiet seiner Mutter, halb im Gebiet der Nachbarin, hier das Haupt, dort die Füße und der Heerd wurde zum wirklichen Altar und die Küche ein Asyl der Versöhnung. Ueber dem weißgeschmückten, rosen- und myrtenumkränzten kleinen Kinde reichten die Mütter sich weinend die Hände. Sie blieben ihr Lebenlang verbunden, verbunden in einer Liebe. Ja sie holten das Verlorne gleichsam nach. Denn viel stärker, viel emsiger zum Dienen und gegenseitigen Helfen wurde nun ihr Herz, gleichsam um zu zeigen, als hätte schon von Anbeginn dessen beßre Regung bestanden.

Und wie bedurften sich diese beiden Frauen! Die Armen ahnen nicht mit Unrecht in einem Unglück den Anfang einer ganzen Unglückskette. Dunkelste Wetter ihres zornigen Gottes zogen über diese Frauen her. Der schalkhafte, muntre, im Trunke wilde und gefährliche Dorich verlor vom Tode seiner kleinen Marianne an, ja auch von der Rührung über die Versöhnung der Frauen, die alte vom Pariser Venusberg mitgebrachte Heiterkeit. Es ist diesen Menschen oft, als müßten sie ordentlich manche spitze und stachelnde Dinge im Leben haben, die ihnen Kraft und 30 Elastizität geben. Lassen diese Widerhaken nach, wird Alles weich und gut um sie her, so siechen sie hin. Dorich ist nicht der Einzige, den der Erzähler unter zuviel der Milde und der Güte, unter zuviel der Aufforderung zur Tugend und Mäßigung so zusammenbrechen sah. Wie dem schönen Dorich ging’s auch seinem Freunde, dem Vater. Die Gelegenheiten zu gewaltsamen Scenen nahmen ab. Der wilde Nachklang des Krieges verhallte in der Ordnung der Sitte und im bessern Gemüthe. Der Säbel, der oft noch gezogen wurde, wenn die charakterfeste Mutter auf ihrem Rechte oder ihrer Auffassung vom Rechte bestand, verrostete, wurde vergessen, verschenkt; er ging schon lange nicht mehr aus der Scheide und die Kinder gewannen an Kraft, dem entfesselten Zorn in die Arme zu fallen. Da sank der stolze Bart, das wilde Haar, die gute „Kameradschaft“ wurde kleiner, der Sinn trüber, düstrer, ernster … So trüb und düster wie beim Dorich freilich umwölkte sich der Sinn des Vaters nicht … Den Dorich suchte man eines Tages lange und vergebens. Es war Mittagszeit. Schon gegen ein Uhr. Das Essen wartete. Wo ist Dorich? Die Frau, die Mutter der todten kleinen Versöhnerin, suchte ihn, schickte die Kinder nach allen Orten, wo Dorich sonst wohl verkehrte. In allen Höhlen, wo Spiel, Trunk, Taback die Kumpane zu vereinigen 31 pflegte, in allen Ställen des Königs, der Prinzen wurde Nachfrage gehalten. Dorich war verschwunden. Die Frau jammerte, sie ahnte ein neues Entsetzliches, einen neuen Schlag von Oben. Es war auch so. Man fand den schönen Dorich gegen Abend in der dunkeln unheimlichen Sattelkammer. Dort an einem Riemzeugpfosten hatte er sich erhängt.

Die Wirkung dieses Selbstmordes auf die ganze alte Genossenschaft des Krieges war gewaltig. Alle hatten den Unglücklichen geliebt, Alle ihn im Herzen gehegt, und doch – und doch? Es fehlte in diesem Kreise, erschreckend schon für das Kindesgefühl, gänzlich eine milde Vorstellung, die dem Gebildeten von so traurigem Ausscheiden aus dem Bereich der Lebenden geläufig ist. Der schöne Dorich hatte sich erhängt. Es war fast wie ein böser Verdruß, den er Allen damit gethan. Man fand es ganz natürlich, daß der Friedhof, der das kleine mit Blumen geschmückte Mariannchen aufgenommen, den erhängten Vater nicht auch aufnahm, man fand es natürlich, daß er nächtlicherweile von den Boten jenes schauerlichen Ortes abgeholt wurde, des „Thürmchens“ jenes später zu erwähnenden Selbstmörderkirchhofs, der in so naher Verbindung mit der anatomischen Flanke des Quadrats stand. Hier wurde nicht im Mindesten polemisirt gegen alte Sitte und übliche Gewohnheit. Der schöne Dorich, 32 allgeliebt, allumschmeichelt, war dem Gesetz der Selbstmörder verfallen. Er hatte durch den Schnallengurt in der Sattelkammer, an dem er sich erhängte, von der vorgezeichneten, altmoralisch bedingten Welt sich selber ausgestoßen, aus einer Welt, in der diese Menschen einmal gläubig lebten. Und geradezu hieß es: Es war eine Blendung der Hölle gewesen, der Dorich nicht widerstehen konnte. Man sah den Bösen selbst, der solche Opfer umlauert, beschmeichelt, allmälig verwirrt, lockt: Komm, komm in die Sattelkammer! Hier ist’s still, kühl, dunkel! Komm! Da, der Riegel, er ist stark genug! Nimm den Schnallenriemen! Um den Hals damit! Du kommst in mein schönes lustiges Reich, in ein ewiges Paris, in den ewigen Venusberg! Und diese Menschen sahen alle den Teufel, der mit eigner Hand dem Dorich die Schlinge zuzog, die doch nur sein Lebensüberdruß und ein Verzweiflungstaumel geknüpft hatte. Man erzählte, daß Unmuth über eine erfahrene Zurücksetzung, Schmerz um ein strafendes Wort des über die nicht aufhörende campagnemäßige Aufführung seiner Leute erzürnten Prinzen, die Bevorzugung mehrer neu angenommener glatter, geschorener, schmeichelnder Diener diese Katastrophe herbeigeführt hatte. Aber reif konnte sie diesen Menschen allmälig doch nur durch den innern ergrimmten Dämon werden, der in dieser Welt keine 33 behagliche Stätte mehr für seine Satanslust fand … Ja, und der Freund des schönen Dorich? Der Vater? Ihm ging das Begegniß des Kameraden nahe bis zum eignen Tod. Er wurde krank, sprach verwirrt, ja eine Weile konnte man für die Rückkehr seiner Besinnung fürchten. Dann erhob er sich vom Lager, feierlich, ernst bewegt. Er war ein in seinem Sinne neuer Mensch geworden. Ein Wort der Prinzessin Marianne hatte ihn schon längst auf Jesus Christus, den Heiland, das A und das O des Lebens, hingewiesen. Die Wehmuth über Dorichs Ende führte ihn auf seine Jugend, auf sein vielbewegtes, von Gott beschützt gewesenes Leben, und wenn nun auch wohl jene Zeit anbrach, wo die Aemter mit der erwachten „innern Wiedergeburt“ vergeben wurden, so war doch nicht des Vaters Ausscheiden von seinem alten Verhältniß zu den Pferden eines Prinzen und sein Uebertritt zu einem kleinen Beamtenposten in des General von Boyen Ministerium allein die Folge jener fürstlichen Aufforderung, sich dem Heiland zuzuwenden; es war wirklich die tiefste Erschütterung seines Innern durch des geliebten Dorichs jammervolles Ende und der Rückblick auf das wunderbar „behütet“ gewesene Leben seiner eignen Jugend.

34 II.#

Es giebt und hat zahllose Menschen gegeben, die auf untern Lebensstufen dem Auge, das sich nur die Mühe giebt, auf sie zu achten, seltene und verhältnißmäßig ganz wunderbare Kräfte der Seele und Eigenthümlichkeiten des Herzens verrathen. Die gewöhnliche Lebenschronik eines Gebildeten verschwindet an Reiz für den Psychologen gegen viel Tausende von Entwickelungen, die sich nur im niedersten Striche hielten und doch niemals dumpf oder ganz bewußtlos brütend auf plattem Boden hinkrochen. Ja selbst der neuerdings zu so überschwänglichen, etwas unwahren poetischen Ehren gekommene deutsche Bauer und der seinen Auerbach und Jeremias Gotthelf noch suchende deutsche Handwerker kann lange so viel Eigenthümliches nicht erleben, wie manche abenteuerliche Lebensstellung und Beziehung zur gemeinsamen Existenz, 35 mancher Lebenslauf aus jenen Zwischenregionen, besonders der dienenden und auf eine gewisse Regellosigkeit im Gil-Blas-Style angewiesenen Klassen. Ein Streben nach Erfolgen hebt diese Menschen früh aus den Bahnen hervor, die sich den meisten Augen auch für bescheidene Lebensverhältnisse hier einsichtlich und zugänglich zeigen. Eine im Felde arbeitende Bauersmagd ist in dem Werth, den sie für den Menschenforscher oder Dichter ansprechen kann, sehr bald erschöpft oder man müßte denn erfindend übertreiben, künstlich hineintragen, Unmögliches dem Unkundigen als die rosigste, sauberste Aquarellfarben-Möglichkeit darstellen. Aber eine Bauersmagd, die zum Dienen in die Stadt kommt, eine andre, die für einen Fehltritt im Dorfe den Ort ihrer Beschämung verläßt, als Amme sich verdingt und aus wunderlichen und verschnörkelt-verworrenen Lebensverhältnissen oft nicht wieder herauskommt, regt das ganze Interesse an, das wir den zügellosen Abenteuern der spanischen Schelmenromane schenken, wo wir die Gil-Blas oft gescheuter und bedeutsamer antreffen, als die Prälaten und Hidalgos, die sie zu bedienen vorgeben, und wo manche Staatsaktion der Weltgeschichte geeignet ist, eher auf die Gran Tacanos, als auf die Alberonis zurückgeführt zu werden.

36 Des – vergebt ihm! – ins Plaudern gerathenen Kindes Familie stammt Vaterseits aus dem kernfesten, „hanbüchenen“, plumpberufenen Pommerland. An des Pommerlands und der Uckermark Grenze sollen gewisse Ortschaften, Namens Löcknitz, Klempenow, Dorotheenwalde liegen, Gegenden, die den ganzen Charakter der dortigen Landschaft tragen müssen, feuchte, fruchtbare Sumpfstellen („Bruuche“ genannt), Wald- und Heidedurchwachsen; denn so lebt diese grüne Urheimath in des Knaben Gedächtniß. Vorfahren verlieren sich bis in urälteste, erst schwedische Zeit, dann berichtet die Geschichte Pommerns selbst von einem Bischof zu Wollin aus einem gleichnamigen Grafengeschlecht. Aber Hochmuth komm nicht vorm Fall! Du wirst von gräflichen Bischöfen des eilften Jahrhunderts vielleicht nur in Cölibatsumgehung abstammen! Diese Ahnung hat in der That etwas für sich; denn alle Vorvordern waren arm, aber gelehrt und selbst lehrend. Eine ununterbrochene Reihenfolge zeigt dies alte Pommergeschlecht bald entartet zu Gerichtsschreibern, bald zu Schullehrern und Küstern, stattlichen Armuths- und Kindergesegneten Lebensständen! Der Großvater war Anfangs Patrimonialgerichtsschreiber in jener Zeit, wo zu den erlaubten Justizmitteln der ländlichen Gerechtigkeitspflege noch ein großes, dem Kinde oft geschildertes 37 Faß gehörte, in dessen einem Boden ein Loch geschnitten war, groß genug, um den Kopf des Inquisiten durchzulassen, während die Beine durch zwei entsprechende Löcher im andern Boden hinlänglich Kraft zur langsamen Bewegung, somit in einer Art von Zwangsjacke, behielten. Der junggestorbene Großvater muß trefflich geschrieben haben. Erst Protokollant irgend eines pommerschen Don Holzapfel und seines juristischen Beisitzers Magister Schleewein, wurde er „ob schwächlicher Gesundheit“ Schullehrer „wie auch“ Küster und scheint als solcher in Löckenitz, Klempenow und „Dortenwalde“ auf eine kräftige, männliche Handschrift – wie die Figura der Handschrift seiner Söhne zeigte – gesehen zu haben. Der Brave starb, wie Schullehrer sterben. Sie hinterlassen ein liebevolles Andenken und das Elend der Ihrigen. Den Großvater überlebten eine kranke bettlägerige Wittwe und zwei unmündige, kräftige, des Vaters „schwächliche Gesundheit“ nicht dokumentirende Knaben. August und Karl rangirten als Schulmeisterswaisen gradezu mit den Vögeln unter dem Himmel und mit den Lilien auf dem Felde. Sie fanden ihr Brod wohl nicht bettelnd vor den Thüren der andern Leute, aber wahrlich auch nicht in ihrer eignen Hütte. Ein auf Naturalien angewiesener Schulmeister ist schon an sich eine der ver-38zweifeltsten Stufen des modernen Musen-Proletariats; aber eine auf Naturalien angewiesene Schulmeisterwittwe mit zwei hungernden gesunden Schulmeisterwaisen, da müssen die Engel selbst vom Himmel kommen, Herzen erweichen, Mehlkästen aufschließen, um mitten in unsrer Civilisation keine Hungerleichen auf die Landstraße zu werfen. Ein Invalid Friedrichs des Großen, dem das Gnadenbrod einer Lehrerstelle die Schulranzen der benachbarten Dorfjugend zutragen durften, hatte doch noch seine Pension für einen bei Leuthen verstümmelten Fuß; aber ein Schulmeister, so von der Schreiberbank seines Wissens und wirklichen Könnens wegen weggenommen, ein wirklicher calligraphischer Dorfgelehrter hinterläßt seinen Kindern Regen und Schnee, Sturm und „Schlack“wetter, Zittern und Frieren auf der Haide, wenn sie die Reihherum bei vermöglichen und milden Bauersleuten die Kost bekommen und wandern müssen Tag ein Tag aus von Löckenitz nach Klempenow, von Klempenow nach Dortenwalde, pochen müssen an Gehöft und Amthaus und Jägerhütte und Müllerhof, und Abends, wenn ihnen die Engel durch das Herz guter Leute noch für die ewiglich auf’s Bett gebannte Mutter zulangen Brot, gedörrtes Obst, Eier, Speck, doch wieder damit weit, weit nach Hause zurücktrollen müssen. Da war kein Wind, kein Regen, 39 kein Schnee, kein Frost, der diesen beiden Schulmeisterwaisen einmal gesagt hätte: Ihr bleibt heute an diesem warmen Kachelofen, der Bauer duldet Euch, die Bäuerin gäbe vor dem Bettgang Sonntags gern noch Eierbier und einen brennenden Kiehnspahn, um ihr aus dem Pommerschen Gesangbuch ein Lied vorzulesen mit kindlichfrommem Stimmchen .… nein, die Jungen mußten zur Mutter zurück mit ihren eroberten Brosamen, mußten ihr Altes noch im Neste atzen, mußten sich selbst noch am Bett der Mutter zeigen, die nicht einschlafen konnte, wenn sie nicht den Abendsegen den Jungen abgehört und jeden Morgen ihnen die flachsblonden Haare selbst gestriegelt hätte von ihrem Bette aus. Es war eine in ihrer Art gebildete Frau, diese kranke Mutter. Alle liebten sie und gaben ihr und den Jungen gern. Im Novembersturm und Jännerschnee, in Julihitze oder Augustgewitter aßen ihre Söhne Reihherum bei einem Pfarrer, einem Jäger, einem Müller, einem Amtmann, drei bis vier Erbpachtbauern, jenen stattlichen fetten Bauern mit den silbernen Thalerreihen auf den langen Röcken, die nach Berlin oder Stettin ihren Roggen, ihren Weizen, ihre Wolle oder Gänsebrüste führen. Die konnten es. Die Kinder dankten mit allen Belohnungen des himmlischen Lebens, gingen von dannen und pochten Abends wieder, ob nun mit erfrornen Fingern 40 oder durchweichten Röcken, an der Hütte der Mutter, die noch Bericht verlangte, Bericht vom Erlebten, und mit diesem Erzählenmüssen in ihren Söhnen eine so übergewaltige Phantasie weckte, daß ein leiser Schimmer davon in einem ihrer Enkel nachbleiben konnte.

Denn erzählen konnte der Vater! Erzählen! Sheheresade hätte an ihm einen Meister gefunden. Das war kein ungefähres Berichten, kein unbestimmtes Erinnern, das war das Leben, die Wahrheit selbst, handgreiflich die Thatsache vors Auge gerückt; nun sieh dich satt und vergiß dich selbst darüber! Denn wie käme es, daß der Knabe das niegesehene, autochthonische spickaal- und gansbrustgesegnete Urland der Pommern kennt wie etwa den Rhein oder seine Tasche! Säen, ernten, heuen, dreschen, das konnte auch die Umgebung Berlins, ja Berlin selbst lehren, in dessen Ringmauern wirklich gesäet, geerntet, geheut und gedroschen wird wie auf flachem Lande; aber du treues Pommerland, das du dich bei den Loyalitäts-Demonstrationen deiner Gutsbesitzer in so grundherrlicher Competenz durch deine tausendfachen Unterschriften bewährtest, woher lebt denn der abtrünnige Halbpommer wie leibhaftig in jenen „Bruuchen“, die soviel Heu für die Rindviehzucht abwerfen, sieht im Geiste diese Schaaren von Gänsen, die „mit den Flügeln 41 jauchzend,“ wie Homer singt, deine Stoppelfelder wie weiße Leinen bedecken und Winters mit ihren geräucherten Brüsten die Tafeln der Kenner schmücken? In des Vaters Schilderungen glänzte das dem Pommerland nahegelegene Boitzenburg, die Stammburg der stolzen Arnime, als das wahre Land der agronomischen Fabel, wo die Bodenkrume so fett wie mit Butter bestrichen ist, die Kühe in ihrer Milch schwimmen, das Gras von selbst auf die Heuböden wächst, das letzte Korn aus Mangel an Säcken ungeärntet bleibt und die Knechte vom Hofe die Linsen und den Speck Mittags Fuderweise aufgetragen bekommen. O du treues, biedres Pommerland, letzte Vendée des Kreuzzeitungs-Preußenthums! Wie gegenwärtig bist du, obgleich nie gesehen, dem geistigen Auge bis hinab an die Niederungen der Inseln Usedom und Wollin, wo am Strande die Kibitze dahinschießen, deren beinunterschlagenes Wie-der-Windlaufen in guten Stunden der Vater dem Sohn im Felde vormachte, dieselben Kibitze, die uns die kleinen delikaten grünen Eier mit dem goldgelben Dotter und grünlichen Eiweißgallert geben? Woher stammt das Alles so gegenwärtig her, als aus der Erzählerphantasie des Vaters, der der kranken Mutter Kunde aus der Welt von Löcknitz, Klempenow und Dortenwalde bringen mußte?

42 Die beiden Brüder, August und Karl, kamen mit der Zeit aus dem Lande, das da heißt Vorpommern, in das andre Land, das da heißt Hinterpommern. Die Schulmeisterwaisen strebten Großes an. Sie hätten ja Bauernknechte werden können, die Kraft dazu hatten sie. Sie wollten aber dem Stammbaum des Hauses, der bis zu Grafen und einem Bischof reichte, Ehre machen. Der Aelteste lernte in Stettin deßhalb das Schneiderhandwerk, der Jüngste, des Erzählers Vater, folgte und wurde noch etwas Vornehmeres, ein Maurer. Für zwei so arme Existenzen, zwei solche Schneeflocken zur Osternzeit, die ein Sonnenstrahl wegthauen kann, war es eine Heldenlaufbahn, sich fünf Jahre lang bis zum „losgesprochenen“ Gesellen ehrlich und bieder oben auf zu erhalten; sie wurden mit einem Stolze, der auf ihrer Lebensstufe die vollste Berechtigung hatte, Gesellen und konnten nun auf die Wanderschaft gehen. Aber die unruhige abwechslungsgewöhnte Dorffreiherrlichkeit regte sich mit der gewonnenen Freiheit. Erst kommt der Mensch, der muß, dann doch wieder der Mensch, der will. Sie hatten jenen ausgehalten, nun kam dieser in die Versuchung. Der Aelteste, der Schneider, ging nach Berlin, suchte „Condition“ und wurde – der Diener eines Großen. Der Jüngste, der Maurer, folgte, arbeitete an einem Bau in der damaligen „Syrups-43straße“ – die Zeit Friedrichs des Großen hatte der ersten so hochgepflegten und blühenden Zuckersiederei (1749) zu Ehren diesen süßen Namen einer der Straßen gegeben, die den Spittelmarkt mit der Waisenhausbrücke verbinden – erlebte aber das Unglück, daß ihm das eine Auge von aufspritzendem heißem, eben gelöschtem Kalk halb geblendet wurde. Der Bruder machte Anträge, eine so gefährliche Lage zu verbessern. Er kannte längst des Maurergesellen schwache Seite. Es war das Pferd. Die Koppeljungen von Löcknitz waren des Vaters beste Freunde gewesen. Mit ihnen hatte er sich auf jungen Fohlen getummelt, mit ihnen war er bügellos in die Schwemme geritten. Der Maurergesell brauchte nur die Reitpferde des Grafen von Brühl zu sehen und schon griff er nach der Striegel und dem Wassertrog. Graf Brühl, Erzieher eines der Söhne des Königs, wußte den neuen jungen Freund seiner Pferde so zu schätzen, daß er ihn, als der hohe Zögling seinen ersten eignen Hofstaat erhielt, dem Prinzen selbst empfahl. Jetzt in der königlichen Manêge wurde die Kunst des Reitens noch einmal vom Sattelschluß bis zum Grabensprung theoretisch durchgemacht. Prinz Wilhelm, ein gemüthlicher und bei den traurigen zurückgezogenen Verhältnissen, in denen der in der Geschichte gewürdigte Vater die eigene königliche Familie zu leben 44 zwang, in Bescheidenheit aufwachsender Jüngling, gewöhnte sich so an den ersten Pfleger seines neuen Marstalls, den jungen pommerschen Dorfsohn, daß sie lebenslang sich nicht wieder aus dem Auge verloren. Die ersten selbstständigen Reisen nach Böhmen, Sachsen, Schlesien, den Feldzug von 1806, den Rückzug und den Aufenthalt in Königsberg, die Freiheitskriege und nach ihnen noch manches Jahr des Friedens und des gerüsteten Manövers hielten Herr und Diener, der Eine in Gnaden, der Andre in Treuen zusammen. Welche Fülle von Erlebnissen, deren Erzählung und winterabendlich hundertfach wiederholte Darstellung die Phantasie des Kindes mit allen Zaubern der Fremde und der buntesten Lebensbeziehungen erfüllte! In Berlin gab es keine ächten Berge zu sehen; aber lebendig, zum Greifen nahe hingen ächte Berge über dem Haupte, wenn die Rede war von den Engpässen Böhmens, den Schluchten des Riesengebirges, von Felsen, die über der Straße so weggingen, daß man sie im Reiten fast mit dem Hute berührte. Diese Schilderungen von himmelhohen Gebirgen, tiefen Thälern, siedendheißen Quellen, wildreißenden Strömen und den hunderterlei verschiedenen Benennungen für das dem gemeinen Mann überall zunächst Gerückte, Maaß und Gewicht, Brot, Butter, Fleisch, Eier, Käse und die hunderterlei Abweichungen in 45 der Volkssitte fürs Grüßen, fürs Danken, fürs Fluchen, fürs Schäkern und Necken, alles das stammte aus des Prinzen erster Bildungsreise mit seinem Gouverneur, dem Grafen von Brühl. Und nun kam die Erzählung vom sogenannten „unglücklichen Krieg.“ Erst der Jugendübermuth, als die Armee die alten Zöpfe opferte, dann die hohe Erwartung von der seltnen Kriegeskunst der alten Ueberbleibsel aus Friedrichs des Großen Sagenkreise, vom alten Möllendorf und seinem Schimmel, vor dem sich Napoleon nur ja verstecken sollte! Aber da schon ein dem Prinzen bei Auerstädt unterm Leibe erschossenes Pferd, der erste Kriegeskummer, wie er beim Cid nur um sein Roß Babièca empfunden werden konnte! Dann die Niederlage, dann die Flucht, dann der Jammer um den Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld, dann die losplatzende Lächerlichkeit der alten Generale in Steifstiefeln, die die Leute weinend zur Ruhe verwiesen, der Rückzug über die Elbe, General L’Estocqs neues hoffnunggebendes Zusammenraffen der Trümmer, die Schlachten bei Eylau, Friedland, die Königsberger Zeit .… Alles das rollte sich in wildem Getümmel und in rasender Flucht vor dem Kinderauge auf und war das schauerliche Vorspiel einer folgenden, dann aber auch ganz himmlischen Wunderzeit der Siege und des Triumphes … Napoleon, 46 oft vom Vater in unmittelbarer Nähe gesehen, stand leibhaftig vor dem Knaben, der ihn wie den Teufel haßte. Gelbes Gesicht, weißlederne Hosen, dünnes schwarzes Haar, grüner Oberrock, dicker kurzer gedrungener Wuchs, hohe schwarze Steifstiefeln … Eins floß so ins Andre und immer war der Refrain dabei der: Man hatte ihn grade so, daß man ihn richtig treffen konnte, wenn Einer hätte schießen wollen oder in Tilsit, auf dem Niemen, beim Friedensschlusse 1807, wo Kaiser Alexander auf einem schwimmenden Flooß mit dem „Bonaparte“ zusammentraf, wo er, wenn da Einer gewollt hätte, mit einem Ruck hätte ins Wasser müssen – wie sein Landsmann Fiesko in Genua. Aber, setzte der Patriot hinzu, die Generale, die Gensdarmen, die Mamelukken, die Pracht und Herrlichkeit der gestickten Comödianten-Uniformen, worin die ehemaligen Schneider, Schuster, Friseurs staken! Jetzt beugten sich Kaiser und Könige vor dieser „Räuberbagage“ und „dankten ihrem Schöpfer“ für einen guten Frieden. Das ganze Leid der königlichen Familie lebte in dem mitfühlenden Manne fast wie ein persönliches. Diese Diener der „unglücklichen“ d. h. gedemüthigten Großen sahen die Thränen der Königin Louise wirklich fließen, sahen die Zurücksetzung auch wirklich ihren Herrschaften angethan. Die große zeitungsausposaunte Weltgeschichte, die Strategie der 47 Kabinette und Diplomaten, war diesen bescheidenen Umgebungen unbekannt, aber die unmittelbarste Wirkung aller neuen Zustände in den vornehmen Menschen selbst, in ihrem Stolz und ihren Leidenschaften, fühlten sie wie in sich selbst nach. Der vertriebene Kurfürst von Hessen, der Alte mit dem Zopf, und sein Sohn, der Spieler, von dem man nicht Haltloses und Verkehrtes genug erzählen konnte, mischten etwas Humor in diesen Schmerz. Die hessischen Herren guckten in die Kochtöpfe der Stallbediente, luden sich bei ihren Ehefrauen zu Gaste ein. Die populären Neigungen des künftigen Gemahls der Demoiselle Emilie Orlöp aus Berlin wurden viel belacht und eine eigne Erfahrung bestätigte sich dabei; die nämlich, daß die Kleinen an den Großen viel lieber haben, daß sie sich groß geben, als klein ohne Würde.

Wie wurde dagegen des Prinzen Art gerühmt! Der Vater erzählte: Du warst geboren. Ein schöner Märztag im Kometenjahr. Die Sonne schien auf’s Bett der Mutter. Sie wollte hinaus, so prächtig roch es nach Hyazinthen und Frühjahr. Nach acht Tagen war schon die Taufe. Neun Pathen; der zehnte war der Prinz. Am Abend, da der Sekretär eine goldne Bescheerung vom Schlosse in die Wiege warf, ging’s hoch her. Bis in die Nacht wurde getafelt, gesungen. 48 Die Mutter wird aber krank. Da bestellt der Prinz die braune Venus, eine Stute, die er selbst gekauft hatte. Bist traurig, redet er den Diener an. Ich weiß schon, du hast die Landkarte beim Manöver verloren … Hoheit – … Schon gut, es ist eine neue gekauft. Künftig Ledertaschen für Landkarten! … Man reitet eine Stunde. Der Prinz wendet sich alle zehn Minuten um und will die Venus gelobt haben. Er hatte sie selbst gekauft … Geht sie nicht superb? .. Hoheit, ein Punkt im Auge … Wetter, mit Euerm Punkt! Weil ich sie gekauft habe, hat sie einen Punkt im Auge … Sie wird blind werden, Hoheit … Ist nicht wahr! War ein armer Rittmeister, dem ich das Pferd abgekauft habe; hat keinen Punkt … Aber Hoheit … Hat keinen Punkt! Hättet Ihr das Pferd eingekauft, der Stallmeister und die Andern, dann hätte die Venus keinen Punkt. Nun hab’ ich einmal eingekauft, so soll sie einen Punkt haben! .. Damit die Sporen gegeben. Dann wieder inne gehalten … Bist so traurig? Was ist? … Hoheit … Der Junge gesund? … Die Frau … Krank? … Sterbenskrank … Leibarzt soll kommen. Und so lange sie stillt, soll sie von meinem Tisch essen und meinen Burgunder trinken! – So wurde der Junge mit Milch aus Prinzenkost getränkt und hatte in spätern Jahren auf die bittern Vorwürfe, wie man 49 bei solchen Verpflichtungen sich unter den Turnern, den Demagogen, den Liberalen und „Gottesleugnern“ betreffen lassen konnte, kaum eine andre Antwort als die: Was kann man gegen so nährende Muttermilch! Es giebt zwei Welten, die des Herzens und die des Geistes. Die Pflichten und Rechte beider gleichen sich hienieden nicht aus.

Die Lichter, Farben, Raketen, Feuerwerke des Erzählungsstoffes aus den Befreiungskriegen lassen sich nicht wiedergeben. Das war eine Lichtgirandole der Begeisterung nach dem Brande von Moskau! Die Niederlage der „großen Armee“ durch Frost und Hunger wurde vom Vater mit dem ganzen parteiischen Gefühl vorgetragen, das im Naturmenschen das Unglück des Feindes für eine Quelle von Freude nimmt. Niemanden mehr, als den unter dem „Bonaparte“ kämpfenden Deutschen wurde das Elend des Winters 1812 in alle Gliedmaßen gewünscht, den Bayern zumeist, die „in Schlesien grausamere Wirthschaft getrieben, als die Franzosen.“ Die Erhebung war natürlich die Erhebung „Preußens“, nicht „Deutschlands“, das solcher angestammter Hohenzollersinn nicht kannte, sondern gewöhnlich nur unter dem Namen zusammenfaßte: „Aller Herren Länder.“ Preußen war es, das in Schlesien, der 50 Lausitz und in Sachsen das blutige Vorspiel eröffnete. Die zarteste Blüthe der schlesischen und märkischen Jugend wurde wie mit einem einzigen Sensenschnitt hinweggerafft. Der Prinz stand bei Blüchers Hauptquartier, als dessen Seele Scharnhorst dem Knaben wie ein grübelnder, denkender, ernster Genius des Schicksals geschildert wurde. Bei Großgörschen, wo der Prinz einen Cavallerieangriff commandirte, fiel jener gewissenhafte Kritiker der braunen Venus, ein Stallmeister, der den Eigennamen „Major“ führte, ein geliebter, beweinter, treuer, brandenburgischer „Froben.“ Nach dem Waffenstillstande und der mitgerittenen Schlacht an der Katzbach traf den Vater bei Leipzig, wo das knatternde Niederfallen der verklammenden Gewehrkugeln regelmäßig mit etwa in Kohlfeldern niederprasselnden Tausenden von Erbsen verglichen wurde, eine Prallkugel in den Rücken, die ihn nach schmerzlichem Aufschrei ohnmächtig vom sich bäumenden Pferde warf. Die besorglichst theilnehmenden, vom Prinzen und von Blüchern zugerufenen Worte der Hülfe und des Bedauerns standen, wenn auch unsichtbar, doch wie mit Gold geschrieben für ewig über des Hauses Schwelle. Der herzlichste Antheil des Prinzen kann ermessen werden nach einer Zeltkameradschaft, die in Schlesien des eignen Dieners Hemden trug und bei manchem einsamen Ritt aus 51 dessen Brodbeutel und Feldkessel aß. Die Wirkung des Schusses ging über eine betäubende Erschütterung nicht hinaus. Thüringen, Hessen, Nassau wurden rasch durchschnitten. Oft klagte der Abenderzähler die Wildheit der Soldaten auf deutschem Boden an, von denen er wörtlich sagte: „Die Bauerlümmel denken immer, gleich hinter ihrer Garnison fängt Feindesland an.“ In Wiesbaden wurden die heißen Bäder, die an der Quelle gesottenen Eier und möglicherweise sogar gebrühten Hühner bewundernd erwähnt. Bei Caub ging es über den Rhein. Die Gefahren und Entbehrungen wuchsen; aber die neuen Menschen und neuen Sitten reizten nur um so mehr des Kriegers Lust. Zahlreiche Erzählungen folgten von einsamen Meierhöfen, verlassenen Dörfern, versteckten Waldhinterhalten, niedergebrannten Städtchen, Plünderungen, Gewaltthätigkeiten, Jammerscenen aller Art. Einreden von Humanität und Billigkeit wußte der Humor erlaubter Selbsthülfe achselzuckend zu pariren. Was halfs? Es war Krieg! Die Geschichte eines eroberten Kalbes, eines heimlich versteckten Schweins, die mit Marderspürkraft aufgefundenen versteckten Hühnerkörbe bildeten Episoden von tragikomischer Umständlichkeit und konnten im Drange der Verhältnisse nicht anders enden, als mit dem besten Wunsche, das Verstecken ihrer armen Habe möchte den unglücklichen 52 Einwohnern nicht im Mindesten gelungen geblieben sein. Stereotyp war bei diesen Begegnissen auch die Thatsache, daß die dem Vater widerwärtigsten Faullenzer, die großsprecherischsten Ordonnanzen oder „schnauzmäuligsten“ Offiziere, die feigsten Cavaliere im Gefolge der hohen Herrschaften, die Schreiber, die Federfuchser, die Oekonomen bei allen diesen Fouragirungen immer die gewaltsamsten und rücksichtslosesten Tyrannen waren. Hier wurde von den Beutelustigen derselbe Sarras gezogen, der sonst beim Kampf in der Scheide stecken blieb, hier drohte der Feigling mit Niederschießen und führte ein „großes Maul“, während er, sowie nur ein paar Kugeln herüberpfiffen, mäuschenstill davonschlich. Von einer großen Anzahl dieser „Heimtücker“, deren Heldenthaten nur in Essen und Trinken bestanden – wie sie später auch die ewigen Tafelhelden und mit dem patriotischen Zaunpfahl nach Orden und Gratificationen winkenden „Erinnerungsfresser“ zu bleiben schienen – wurmte es den Erzähler oft, daß sie später wirklich im Frieden die fettesten Anstellungen, für ihre krummen Buckel die einträglichsten Aemter bekamen. Es sind das die Menschen, die dem Knaben schon früh die ewige Niedertracht der menschlichen Natur zeigten und in andern Lagen, unter andern Bedingungen, bei unsern neuesten politischen Kämpfen 53 und dem mehrfachen Umschwunge der öffentlichen Meinung die bekannten scheußlichen Rollen von Menschenentwürdigung und Gesinnungslosigkeit gespielt haben.

Nach den Schlachten von Laon und Montmartre im Gefolge des Yorkschen Corps, bildete dann der Einzug in Paris den Glanz dieser Abenderzählungen, die die Geschichte von dem Ringe krönte. Die Boulevards! Das war etwas mehr, als das Berliner Unter den Linden! Das Palais-Royal, die Tuilerien, die Champs-elysees wurden Zauberworte für die Kindesseele, die in dem Gewühl von Kosaken, rothröckigen Engländern, beinbaaren Schotten, Ungrischen Husaren und der eigenthümlichsten aller Nationen, genannt die Pariser selbst, sich früh zurechtfand und auf die behaglichste Art sich bei einem elsasser Sattler auf dem Boulevard St. Marceau einnistete, wo der Erzähler im Quartier lag und von der französischen Gattin dieses Landsmannes so viel galante Späße berichtete, daß die Eifersucht der Mutter rege wurde und ein liebevoll nachdrücklicher Anstoß und das drohende Wort: „Schäme dich, Alter!“ diesen Schelmereien einen Uebergang zum Cirkus von Franconi bahnte. Die Pferdedressur blieb auch auf fremdem Boden des Pommers liebste Leidenschaft. Franconi’s berühmter Hirsch, der durch einen sprühenden 54 Feuerregen gejagt wurde, war das letzte und prächtigste Bouquet aller dieser Berichte, unter dessen glitzernden Lichtern und dabei wie unter einer rauschenden Musik dann endlich den gaffenden Jungen der „Sandmann“ mahnte, ins Bett zu gehen …

Die später erst halb und halb verstandene Geschichte vom Ringe bestand aus Fragmenten, die vielleicht einen Zusammenhang gehabt haben mögen, wie dieser:

Ein Elsässer Sattlergesell, Caspar Pfeffel, kommt nach Paris und sucht Arbeit. Er findet deren genug bei Michel le Long, Sellier anglais, d. h. einem Pariser Sattler, der in glänzenden Riemen, blanken Steigbügeln und leichten blaßgelben Sätteln nach englischer Art arbeitet. Michel le Long hat das blühendste Geschäft, ein schönes junges gutes Weib, aber eine elende Gesundheit. Er ahnt sein Uebel, die Schwindsucht, und bereitet sich vor, zu sterben. Voll Wehmuth bedenkt er, was aus seinem Weibe, seinem Geschäft werden wird. Mit Kindern war seine Ehe nicht gesegnet. Caspar Pfeffel, sein bester Gesell, konnte sein Bruder sein, aber er wurde gehalten wie der Sohn im Hause. Der deutsche Arbeiter war der geschickteste seiner Art, der fleißigste, der zuverlässigste. Michel le Long hustet des Nachts und stöhnt am Tage. Er berechnet das baldige Ende seines 55 Uebels und weist die Tröstungen seines liebenden Weibes zurück. Wie er abzehrte, wie seine Hand abmagerte, sah er einst recht an einem Ring, der ihm eines Tages, wie er still am Fenster sitzt und von der Sonne sich wärmen läßt, von den Fingern rollt. Caspar Pfeffel, in der Nähe arbeitend, hebt den Ring auf und behält ihn auch, denn der Meister wurde gerade am Fenster angerufen. Im Abwarten des Gespräches am warmen Boulevardfenster ist der Ring vergessen. Caspar Pfeffel hatte ihn so lange an den Finger gesteckt, bis der Besuch abgefertigt war. Er will ihn zurückgeben, er sieht sich um, Michel le Long aber ist in sein Kämmerchen gegangen, hat sich gelegt, bleibt liegen, bleibt acht, vierzehn Tage liegen … in drei Wochen ist der Meister todt. In dem Kämmerlein mußten eigne Worte mit dem Weibe gesprochen worden sein. Sie kam oft verweint aus der Thür, schwankte fast beschämt durch die Werkstatt, und wenn Caspar Pfeffel an den Ring des Meisters erinnerte, hörte sie nicht darauf. Jedes Mal zog er ihn ab und jedes Mal nahm sie ihn doch nicht und jedes Mal ging er langsamer von den verquollenen Fingern, denn Caspar Pfeffel war gesund und frisch und wohlgenährt. So behielt Caspar den Ring einen Tag, vier Wochen, sechs Monate, ein Jahr, fast lebenslang, denn nach diesem Jahre wurde die Wittwe sein Weib, 56 Caspar Pfeffel Michel le Long’s Nachfolger. So lebten beide manches Jahr, getröstet durch die heilende Zeit und das treugebliebene Glück im Geschäft. Nur daß auch ihnen Kinder fehlten, minderte das Maaß der Freude. Da führte das sinkende Gestirn des „Corsen“ die Fremden nach Paris. Caspar Pfeffel erhielt deutsche Einquartierung. Seine neuen Hausgenossen, Monsieur Charles und der schöne Dorich, konnten nicht angenehmer wohnen, als unter Riemzeug, Sätteln und Steigbügeln. Monsieur Charles, nicht so unzuverlässig wie der schwarzlockige Kamerad, wurde der Liebling des Hauses, der Gallopin Madame’s, der gemüthliche Anschluß bei jeder Lustparthie nach St. Cloud oder Versailles, der gelehrige Schüler der ganzen Firma le Long Veuve im französisch Parliren. Necken und galantes Schäkern muß da so um sich gegriffen haben, daß es kein Wunder nahm, als die dicke behäbige Frau Sattlermeisterin einst den vom Finger des guten Caspar zufällig abgestreiften und von Monsieur Charles zum Scherz angesteckten Ring als ein Omen für ihre Zukunft erklärte. Die Geschichte wurde erzählt und der Ring nun wirklich nicht dem gesundheitsstrahlenden Caspar Pfeffel zurückgegeben, sondern es hieß: Monsieur Charles sollte der dritte Gatte der schönen Pariserin werden! Vielleicht wollte der deutsche Reitersmann schon Rechte 57 in Anspruch nehmen und veranlaßte die Meisterin zu einer sinnigen Strafe. Sie holte ein Etui, verlangte den Ring, legte ihn hinein und übergab beides Monsieur Charles mit der Bedeutung, es daheim à Madame son epouse mitzubringen als Erinnerung an das schlimme und die Männer verwildernde Paris. Es war kein Trauring, sondern ein einfacher goldner Reifen zum Zierrath. Die Verlockung, ein solches Geschenk mitzubringen, war zu reizend und die deutsche Epouse trug wirklich den Ring mit sorgsamster Hut bis ins Grab. Im Ahnungsgefühl, daß der Ring den dritten Mann der Sattlerin bedeuten konnte, noch dazu ihren eignen, den Vater ihrer Kinder, wurzelte sich der Ring so fest ins Fleisch, verwuchs das Symbol der Pariser Gefahren und der schalkhafte Gruß einer guten und auf die gemeinsamen, durch alle Welt gehenden Frauenrechte bedachten Französin so in dem Finger der Mutter, daß man, als sie hochbetagt starb, den Ring geradezu hätte durchfeilen müssen, wenn man ihn nicht hätte mit in den Sarg geben wollen. Der Pariser Ring rostet auf dem Hallischen Kirchhof …

Dem sanguinischen, leidenschaftlichen, abentheuerlich bewegten Charakter eines solchen Vaters hielt das schalkhaftblitzende, freundlichlächelnde, grübelndzweifelnde Auge der Mutter fast den Widerpart. Der 58 pommersche Reitersmann hatte etwas vom Beduinen; immer sich tummelnd, immer unruhig, rastlos, Morgens mit der Sonne auf, im Gespräch das Ende vergessend und dabei doch alles mit Umsicht und Eifer erledigend, ehrgeizig, schnell verletzt und leicht versöhnt. Sein Weib kam im Gegentheil von einem Prinzip der Stabilität her. Ihr Vater, ein Zuckersieder bei den Schicklerschen Entreprisen, der in den äußersten Vorstädten wohnte, hatte von einer einzigen Frau achtzehn Kinder. Die Aelteste war unsre Sophia. Viele von dieser wahrhaft biblischen Nachkommenschaft starben und verdarben. Die Ueberlebenden waren Weber, Handschuhmacher, Hutmacher, alle Gewerbe durcheinander. Alle Handgriffe der Arbeit, alle untern Lebensverhältnisse waren hier vereinigt. Wenn diese Onkels und Tanten kamen, schwirrte und summte es in der einzigen Stube, die hier eine Wohnung vorstellen mußte. Was gab es da nicht zu horchen, zu lauschen, allmälig erst zu begreifen! Wie oft wurde plötzlich leise gesprochen, wie oft leise geklagt und laut geweint! Was gab es da nicht zu rathen, zu fragen, zu mahnen, zu erinnern! Wie viel Leid und Freud hängt sich an das Leben so vieler geringer Menschen und was bringen sie nicht, wenn sie zusammenkommen, für seltsame Nachrichten aus ihrem Pygmäen-Leben mit! Wieviel Noth haben sie nicht zu tragen, wieviel 59 Kummer einzutauschen für nur geringe Freude, wie sie ihnen Sonntags und an einzelnen Festtagen wird! Und doch wie genügsam sind sie! Wie glücklich macht sie eine erwärmte Stube, ein knisterndes Feuer, ein brennendes Licht, ein Fidibus, eine Pfeife, ein Trunk Dünnbier, noch dünnerer Kaffee! … Wie glücklich sind sie in dem sonntäglichen Reichthum frischer Wäsche, wohl gar eines neuen Rockes, immer aber einer guten Predigt und zuweilen eines jener massenhaften Spaziergänge, die man Ueber-Land-Gehen nennt! Alle diese Menschen von der Mutterlinie hatten etwas Sinniges, Sanftes, Geregeltes, Feines, Bescheidenes … Der Eine von ihnen, ein Hutmacher, kam auf der Wanderschaft bis Siebenbürgen, hatte in Wien für die feinsten Gewölbe auf dem Graben gearbeitet, hatte Ungarn durchreist und würde nach der Türkei gewandert sein, wenn er Pässe bekommen hätte und die Zeit der Griechenerhebung den Fremden günstig gewesen wäre. Eines Tages, nachdem man ihn seit achtzehn Jahren todt und verschollen geglaubt hatte, erschien ein kleiner vertrockneter Mann, mit Knotenstock, um den Hut Wachstuch, ein Felleisen auf dem Rücken, und sagte: Kennen Sie mich nicht? Die Schwester erkannte ihn sogleich als den Christian. Er brauchte nur seine wie Leder gegerbte Hutmacherhand zu geben, um erkannt 60 zu sein. Er redete die Seinigen mit Sie an. Der Vetter aus Siebenbürgen war so still, so schweigsam, so freundlich. Er legte das Felleisen ab, schloß es auf und gab jedem ein kleines Angedenken von seinen wunderbaren Reisen. Er zog sich den Rock aus, man glaubte, es fröre ihn, er wollte sich am Ofen wärmen. Er zog aber auch die Stiefeln aus; man glaubte wohl, daß die Füße recht durchlaufen und vom Frost heimgesucht waren. Er zog aber auch die Hosen aus. Man dachte: Was hat denn der Vetter Christian vor? Endlich zog er auch noch das Hemd aus. Was soll das werden? Die Eltern merkten etwas und lachten schon. Bis der Vetter dann dastand in einem wunderbaren großen Lederkoller auf bloßer Haut. Kommt, sagte er lächelnd, faßt an! Man betastete ihn. Der Wamms war vom weichsten Ziegenleder, strich sich gar sanft, hatte aber überall harte curiose Buckeln. Die Eltern ahnten schon. Vetter Christian zog auch den Koller aus und stand nun so lange abgewandt splitternackt, bis er sich wieder neu gekleidet hatte. Die Eltern sahen wohl die Bescheerung. Ein Messer, eine Scheere herbei! Jetzt ging es an ein Auftrennen und Lösen. Die Buckeln in dem schweren Wamms waren über und über eingenähte harte Thaler. So geharnischt war der fleißige Hutmacher von seiner Wanderschaft nach achtzehn Jahren heim-61gekommen. So hatte der ehrliche deutsche Handwerksgesell sein Gespartes in den Herbergen gesichert und sich von den Gefahren frei gemacht, die sein Felleisen bei einer Rast im Walde, einem Nachmittagsschlaf auf kühlem Rasen oder einem Nachtquartier auf Scheunenstroh von schlimmen Kameraden hätte treffen können.

Aber Vetter Christian, was ist der Vetter Christian gegen den Vetter Wilhelm, Wilhelm, den Weber! Vetter Wilhelm, der Weber, war der Aelteste der Brüder und wandernd nur bis Würzburg gekommen. Vetter Wilhelm trieb jene feine Weberei der Musseline. Aber seinem mühsamerlernten Beruf traten für immer die Engländer und die Maschinen in den Weg. Wenn der Vetter – doch wie kann man einen Helden so einführen, einen merkwürdigen seltenen Originalmenschen so gewöhnlich, so ohne Anrufung der Muse, so ohne Beginn eines neuen Kapitels besingen! Steige herab, du heilige Muse der Christen! Klopstocks begeisternde Messiassängerin! Eloah, aus deinen Händen empfing David die Harfe und sang die Thaten Israels wider die Kinder der Philister, begeistre auch uns zum Preise eines Gottsohnes, der, wenn er die Feder ergriffen und nur ein klein, kleinwenig mehr Schulunterricht genossen hätte, zu den beiden weltberühmten Schustern von Nürnberg und Görlitz ein vollkommen ebenbürtiger Dritter gewesen wäre!

62 III.#

Vetter Wilhelm war kein Schuster, sondern ein Musselinweber. Ob ihm der Musselin in Wolle oder Baumwolle, in pure laine oder laine coton besser gelang, weiß der Neffe nicht zu bestimmen, aber es lebte in diesem kleinen vertrockneten Männchen ein seltener Geist, vor allem ein Gottvertrauen und eine spekulative Mystik, die ihn zu einer der merkwürdigsten Personen macht, deren Kunde nur in ein junges Menschenleben dringen kann. Wenn wir die Kunst der Musselinweberei der Stadt Moßul in Mesopotamien verdanken, so lebte der Vetter in seinem Webstuhle auch wirklich nur wie in Mesopotamien. Seines Geistes Heimath waren die öden Steppen des Euphrat, die grünen Triften des Tigris. Von den Früchten des Oelbaumes und den Datteln der Palme, ja selbst von Heuschrecken, wie Johannes in der Wüste, hätte 63 unser Vetter allein leben können. Der kleine, magre, dürre, ewige Junggesell hatte schwarzumbuschte, feurige Augen. Sein Blick war voll Geist und Leben, seine Rede scharf und sicher, aber zurückhaltend, da sich ja zuviel des Heidenthums und der Weltlichkeit in üppiger Selbstsicherheit unter den Menschen bewegt. Vetter Wilhelm war seinem innersten Wesen nach ein aufrichtiger, von jeder Heuchelei entfernter, wirklich gläubiger Pietist aus der alten Spenerschen Schule und das mit theologischem Anstrich. Er kannte vollkommen Jacob Böhme, rühmte dessen Glauben und tadelte nur das Uebermaaß seines Witzes und das Spiel seiner Phantasie. Der Vetter hatte nicht die Spur von einem Kopfhänger, sondern lachte über jeden guten Spaß und seufzte nur, wenn er die reine Weltlichkeit der meisten, auch der guten Menschen so gar sicher sich ergehend sah. Keinem Unchristlichgestimmten war er etwa in offener Feindseligkeit gram. Er ließ die ganze Mannichfaltigkeit des Lebens und das Durcheinander dieses Menschengewühls gelten und wünschte nur, daß immer mehr bei Seite treten, immer mehr in ihr Kämmerlein gehen und vor Christo, dem Seligmacher, ihre eigne „Selbstgerechtigkeit“ bekennen möchten. Es war die Wiedergeburt, für die er nicht etwa richtend und eifrig, ketzermacherisch, sondern still und gelassen Proselyten warb. Er begnügte sich, wenn 64 er rathlose Zustände, blinde Leidenschaft und ihre Folgen sah, aus dem Winkelchen heraus, wo er saß und seine Pfeife schmauchte, die Achseln zu zucken und mit ruhiger Gelassenheit zu sagen: „Das ist es, wenn man Jesum Christum nicht erkennt!“ Vetter Wilhelm theilte alle Menschen in drei Klassen: in Solche, die wiedergeboren sind, in Solche, die ihren Tag von Damaskus noch erleben würden und in Solche, die „dahinfahren.“ Die letztere Klasse war ihm leider die große Mehrzahl aller Menschheit. Und er mußte leider nicht nur die Völler, die Säufer, die Lügner, die Ehebrecher allein zu den Dahinfahrenden rechnen, sondern auch so viele Vornehme, die Reichen, die Gewaltigen und die, denen es am Schlimmsten von Allen ergehen würde, die berühmtesten Schriftgelehrten und bewundertsten Hohenpriester und Pharisäer. Der Stall-Thurm lag dicht an der Universität. Unter ihren Professoren, wenn sie so selbstzufrieden aus ihren Collegien kamen, waren Wenige nur, die für den Vetter nicht zu den Dahinfahrenden gehörten. Dabei sei aber ausdrücklich bemerkt, daß er nicht etwa in blinder puritanischer Bibelklauberei so sicher sprach, sondern daß er ein in seiner Art gelehrter Mann war, wenigstens die ganze Geschichte Roms, Griechenlands, der Deutschen und der Franzosen kannte. Er hatte, so arm er war, sich die Ueber-65setzungen der Schriften von Pascal und Bossuet zu verschaffen gewußt. Er kannte Schröckhs Weltgeschichte, hatte alle nur erdenklichen Erbauungsschriften von Spener, Arndt, J. V. Andreä an bis zu den neuesten Werken von Neander, dem Berliner Strauß, Lisco, Couard, besonders aber dem Convertiten Goßner gelesen. Er kannte nicht nur Sokrates und die Allgemeinheiten der altgriechischen Philosophie, nicht nur manche Schrift von Jacob Böhme und Einiges von Tauler und den Scholastikern, sondern sogar allgemeinste Umrisse von Schelling und Hegel, bei denen er natürlich nur den ohnmächtig sich abmühenden Menschenwitz und ein gelehrtes Heidenthum belächelte. Er verwelschte dabei die wissenschaftlichen Ausdrücke auf die sonderbarste Art; doch ahnte er, was Subject und Object, Idealität und Realität heißen sollten. Auch in der Politik stand er weit über den Berliner Zeitungen. Es hat lange gewährt, bis der Knabe sich über eine seiner stehenden Terminologieen klar werden konnte. Sie hieß: „die Propriande“. Schon dem Kinde stellte nämlich der Vetter den Lauf der Welt im apokalyptischen Sinne dar. Er prophezeite mit ruhig lächelnder, unerschütterlich sicherer Ueberzeugung alle Weltalter nach der Offenbarung Johannis. Das große siebenköpfige Thier, mit dem die Könige buhlten, war ihm Rom, der Papst, der 66 Antichrist; Napoleon war ihm eines der größten Zeichen, die „der Wiederkunft des Herrn“ vorangingen. Die „Propriande“ nun arbeitete nach des Vetters Auslegung für die Zukunft des Gerichts, für den allgemeinen Sieg des Antichrists, dessen Zeit erst voll werden müsse, bis die Zornschaalen überliefen. Vetter Wilhelm verstand unter dieser Propriande, dieser wühlenden päpstlichen Genossenschaft, die Propaganda, und zwar in dem doppelten Sinne der reinrömischen und der weltlichpariserischen Propaganda. Die Propriande, die Krug in Leipzig bekämpfte, und die, die der Minister von Kamptz verfolgte, war ihm eine und dieselbe, die Jesuiten und die Turner, die an der Hausvogtei wagenweise abgeladen und wagenweise nächtlich nach Köpenick gebracht wurden, waren ihm Aeste und Ausläufer desselben Baumes, der in Rom wurzelte; die Aeste wußten es nur nicht. Vetter Wilhelm war ein Meister in der Kunst, alle Erscheinungen der Geschichte auf die einzelnen Zahlen und Begriffe der Apokalypse zu deuten. Er las auch nur darum in weltlichen Büchern, um überall das wiederzufinden, was ihm wie Felsen so fest in der Offenbarung Johannis und Bengels Auslegungen stand. Jeder große Factor der Geschichte hatte bei ihm seine apokalyptische Zahl. Gregor, Innocenz, Friedrich der Hohenstaufe, Papst Leo, Wallenstein, 67 Friedrich der Große, Voltaire, Napoleon, alle waren ihm stigmatisirt schon in der Geburt mit irgend einem Zeichen aus jenem Buche aller Bücher, von dem er nur bedauerte, daß sein Erklärer Bengel aus Ungeduld, die Wiederkunft Christi zu beschleunigen, in seinen Auslegungen Sprünge gemacht hätte, die durch die unendlich reiche gegenwärtige apokalyptische Zeit sich als übereilt erwiesen.

Wenn Vetter Wilhelm „keine Arbeit“ hatte, schlief er dicht in der Nähe der Kinder. Er war zünftiger Meister seines Gewerbes, hatte aber mit dem ersten „Stuhle“, auf dem er für eigne Rechnung Musselin zu weben begann, Unglück und konnte sich in Zukunft nur noch als Gesell zu andern, meist fast eben so armen Meistern halten. Wenn der Vetter zu lange arbeitslos gewesen war, auch zu lange das Herz im Bruche der getäuschten Erwartung zucken mußte, so hörte der Knabe oft des Nachts ein so lautaufseufzendes, jammervolles Athmen neben sich, daß er davon erwachen mußte. Es rangen sich dann die tiefsten Wehrufe von des armen Vetters Herzen und ein fast hörbares Klopfen seiner Brust steigerte sich so, daß er zuletzt laut betete, und das fast so, als wüßte er selbst nichts von seinen Worten. Der Erzähler hört ihn noch jetzt, wie er in einer Nacht, wo sein Schmerz den neben ihm Schlafenden geweckt 68 hatte, mit auf der Brust gefalteten Händen sprach: „Du, mein Heiland, nimm mich zu dir, so es dein Wille ist! Laß mich in meines Herrn Freude eingehen, so es dein Wille ist! Laß mich sterben, o mein Gott, und deine Herrlichkeit schauen, so es dein Wille ist!“ Zitternd rief das Kind: „Vetter, schlafen Sie denn nicht?“ Er schwieg. Er hatte den Anruf nicht gehört. Es war, als lebte sein Geist schon gelöst in fremden Welten. Diese Nacht blieb dem Kinde unvergeßlich. Doch lebte Vetter Wilhelm noch viele Jahre darnach. Er nannte solche Zwiesprache mit Gott „das Gebet im Kämmerlein.“

Die Schwester eines so stillen und sinnigen Bruders mußte dem stürmischen Charakter des Vaters eine imposante Ruhe entgegenstellen. Aber diese Ruhe war nicht Phlegma, nicht einmal Selbstbeherrschung, es war vielmehr die Ruhe, die eine nicht minder lebhafte Beweglichkeit giebt, aber die Beweglichkeit eines Gemüths, wo Verstand und Herz im glücklichsten Gleichgewicht leben. Es ist hier von armen geringen Menschen die Rede, und wirkt es nicht wohlthuend und beruhigend, wenn wir in den Urquellen des Volkes so viel Reinheit, Lauterkeit und ohne alle wissenschaftliche Bildung einen doch immer flüggen Verstand antreffen? Es darf uns nicht gegenwärtig genug bleiben, was wir im Volke auf die meist allein 69 geschilderten Ausnahmen von der guten Regel doch im Großen und Breiten noch so viel Grundstoff und ächte Bodenkraft unsres Lebens verbreitet antreffen. Der Autor spricht von allen diesen Menschen nicht, weil sie in Beziehung zu ihm standen, sondern weil er meinen muß, es kann nur Freude gewähren, so auch einmal in das Gewöhnlichste und Unbelauschteste des Lebens einzublicken.

Diese Mutter hatte fünf Kinder, von denen zwei früh starben. Sie war klein, von zarter Haut, sanften Gesichtsformen und einer Lebhaftigkeit der Mienen, die Freude und Schmerz, Furcht oder Liebe, Theilnahme oder Abneigung im Augenblick wiedergaben. Weiter aber als bis zur Miene erstreckte sich die Leidenschaft dieser immer regen Natur nur dann, wenn Beherrschung eine Niederlage gewesen wäre. Sonst ein immer strahlendes, bald dunkles, bald helles Auge, immer blitzend, die Gedanken fast mit einem eignen Blinken begleitend, einem Nicken, wo Zustimmung, einem Zusammenziehen des Auges, wo Abneigung verrathen wurde. Aber Alles verrieth sich nicht so bald. Die gutmüthigste Schlauheit ließ hier einen Narren plaudern, bis er ermüdet war und behielt sich doch die eigne Meinung, ohne darum eine andre falsche herauszuhängen. Die erlaubte List der Diplomatie wurde hier eben so klug geübt, wie die uner-70laubte verabscheut. Ruhig wurde entgegengenommen, was des Andern Absicht und Begehr. Stimmte sie nicht mit den eignen Wünschen oder Verhältnissen, so war die Abweisung kurz und bündig. Für neutrales Verhalten gab es sanfte und milde oder nur kurze, zum Abwarten rathende Worte. Der Befreundete wurde mit frohem herzinnigem Gruß empfangen, ohne Ueberschwall. Kam diese Mutter zu Andern, so brachte sie vor Allem sich selbst mit, und das galt mindestens so viel, wie ein ganzer Korb voll Neuigkeiten. Trotz der langstrichigen Haube, die sie trug, und trotz des kattunenen Kleides oder grobwollenen Ueberrockes war es eine Person und ein Wesen, das sie darstellte. Bescheiden gegen Vornehme und doch nicht unterwürfig. Nie zudringlich, nur zutraulich. Schnell gleich dem Menschlichen nahe und für Jedes Freud und Leid gewonnen. Hülfreich, aber nach dem Maße des Könnens, am liebsten mit der eignen Person dienend bei Kranken und Gebrechlichen. Bei einem weinenden Kinde auf der Straße nicht nur Trost spendend, sondern auch Nachfrage haltend, Untersuchung, Strafe oder Drohung äußernd gegen die Bedränger. Immer prüfend und auf der Hut gegen alles, was Schlimmes von Menschen oder vom Schicksal überhaupt kommen kann. Im Sommer Sorge für den Winter, im Winter Sorge für den Sommer. 71 Dem eignen Blut oder dem Gatten in gesunden, fröhlichen Zeitläuften ein scharfes Auge, oft mit schmählendem und lärmendem Munde über Thörichtes, Unerlaubtes, Willkürliches, oft auch genug strafend, dann aber mit vollem Ausbruch des eignen Ingrimms, nicht etwa mit pädagogischer Kühle oder dem grausamen, sogenannten „kalten Blute“. Wiederum dafür in Krankheit, beim geringsten angewehten Uebel oder auch nur bei Hülflosigkeit, und wäre der Jammer von einem fehlenden Knopfe gekommen, eine überströmend helfende Heilige, in allen Händen dann Rath und That und zuthunliche Liebe.

Diese Mutter konnte nur lesen, nicht schreiben, und kannte von wissenswürdigen Dingen nichts, als die nächste Sphäre ihres Lebens und einen kleinen Hausschatz von Kinderliedern, mit denen sie ihre Lieben zu wahren Paradiesesträumen einzusummen wußte. Je weniger sie auf dem Wissen ausruhte, je weniger sie für ihren Verstand konnte die Schule eintreten lassen, desto ureigner mußte auch ihr Geist wirken. Bei begabten Naturen ist das Wissen eine Waffe, bei minderbegabten oft ein niedergerissener Wall. Begabte, die nichts wissen, verschanzen sich mit sich selbst. Ihr Horizont ist eng, aber klar und rund übersehen. Diese Mutter hatte keine Vorstellung von der Größe der Welt und der Verschiedenartigkeit der Menschen 72 und Sitten. Sie ging auf Fernes, Fremdes nie besonders wagsam ein und fragte in aller Gelassenheit: „Ob doch in Wien auch eine Spree wäre?“ Das aber, was ihr scharfes Auge erreichen konnte, lag ihr dann auch um so klarer und offener vor. Sie war des Gatten unmittelbarer Gegensatz. Der immer schweifend, sich sehnend, unruhig, wie ein Strichvogel hin- und herschießend, voll Enthusiasmus, voll Liebe, voll Zorn, je nachdem; sie die Maaßhaltende, Besonnene, Vernünftige, Zügelnde und Lenkende. Es fehlten die heftigsten Conflicte nicht. Die Gutmüthigkeit und die Gewöhnung lösten sie immer glücklich wieder auf.

In einer solchen Welt, umgeben von so bunten Eindrücken erwachte des Kindes Bewußtsein mit jener Unbestimmtheit, die die Natur des Traumlebens ist. Das Wirkliche und Unwirkliche rinnt in erster Kindheit zusammen. Eine logische Aufeinanderfolge des allmäligen Erwachens aus dem vegetativen Leben wird sich Niemand nachrechnen können. Nur so einzelne Lichtstreifen fahren in der Erinnerung, oft bis zum Greisenalter bewahrt, über diese erste Nacht des schlummernden Bewußtseins. Es sind Erinnerungen das vom Zufälligsten und für die allmälige Menschwerdung vielleicht Unwesentlichsten. Oder bedingten grade diese unwesentlich scheinenden Lichtblitze doch die ganze spätere Hellung? Wer in seine erste Jugend 73 zurückgreift, Momente festhalten will, was hält ihm Stand? Nichts von dem, was ihm vielleicht Andre erzählen von seiner Art oder Unart, er hascht nur kleine fliegende blaue, rothe, grüne Flecken, wie Einer, der in die Sonne gesehen. Wie summt und singt das im Ohr von den Liedern, die man auf dem Mutterschooß vernahm! Wie gegenwärtig ist der Glaube an den „Reiter zu Pferd,“ den „Hobermann,“ den man „mit blanken Stiefeln“ auf dem Mutterknie spielen durfte! Wie heimisch ist man in dem baum-nest-vogel-eierreichen Zauberlande, das sich ankündigte: „Muhme Reelen hat ’en Garten, hier ’en Garten, dort ’en Garten, und das war ’en runder Garten!“ Ein gewaltiges Erlebniß wird sich freilich festhalten. Daß den Knaben eine Schwester auf ihrem Nacken reiten ließ, der Reiter aber niederstürzte, im Blute schwamm, lebenslang davon Narben behielt, steht selbst nach dem Orte noch, wo der Unfall geschah, vor dem Auge des damals Dreijährigen. Aber sonst sind die Erinnerungen bunt durcheinandergewürfelt und knüpfen sich an Spiele, Natureindrücke, Geschenke, Ueberraschungen, Besuche, heftige Strafen, besonders die ungerecht erlittenen, an. Zwischendurch tönt eine eigne Melodie, wie ein ewiges Klingen. Es ist das eine so eigne Musik, die uns aus der Jugend herübertönt, wie wenn man große Meer-74muscheln ans Ohr hält und ein räthselhaftes Brausen hört, das von fernen Welten zu kommen scheint.

In stillen wehmüthigen Stunden des Alters ziehen die zitternden Klänge der ersten Jugend an uns vorüber. Es sind so glückliche, traumselige Klänge und Empfindungen, wenn sie auch von Dingen herkommen, für deren Aeußerung unsere Sinne jetzt sich völlig abgestumpft haben. Das Liegen im Grase! Haben unsre Geruchsnerven noch den Reiz, die Düfte nachzuempfinden, die dem Knaben die langen Blätter der Grashalme ausströmten, die gelben Butter- und Kuhblumen, die zarten Gespinnste des Löwenzahns, dessen Kronen man im Alter nur noch abbläst, um die Lungenkraft zu prüfen, in der Kindheit aber, um einfach zu zeigen, daß man „Lichter ausblasen“ könne und aus dessen weißsaftigen Stengeln man sich Ringelkränze windet? Hat man noch Appetit für jenes Kraut, dessen abgewirbelte Saamenstengel man wie die Ziegen selber zerknirschte und vor allen für jene wie Salep schmeckenden abgeschälten Fruchtknoten, die die Kinder, unter Schafgarbe und Camillen suchend, „Käse“ nannten? Hat unser Ohr noch einen Reiz für das Rascheln von welkem Laub, mit dem man im October und November sich Hütten, Stuben, Kammern baute und traulich sich einnistend in ihnen lagerte, bis die Pedelle der Universität kamen und die Vor-75steller dieser Jung-Iffland’schen Familiengemälde unter den entlaubten Bäumen des Kastanienwaldes mit dem kritischen Stock verjagten? Alle Reize unsrer jetzigen Sinne würden diesen Scenen keinen Genuß mehr abgewinnen. Was hört nicht alles das Ohr des Kindes mit Behagen, ja mit Wollust! Das einsame Sägen in einer Holzkammer, wie dringt das zum lauschenden Kinde so feierlich sicher und majestätisch consequent herüber! Alle Lehrworte, zum Fleiß ermahnend, wirken nicht soviel wie ein solches stilles Beispiel von hin- und herfahrender, treuer Ebenmäßigkeit, wie z. B. auch vom Heckselschnitt auf dem Stallboden. Man erinnere sich: Das Bersten des ersten Wintereises auf den Straßen unter dem vorsichtig prüfenden Fuße! Das Knirschen des gefrornen Schnees! Das Aechzen der Lastwägen über ihm her! Wie seligen Sinnenreiz gewährt das Ausschütten und Rütteln von Wallnüssen zur Weihnachtszeit! Die Vorstellungen, die sich mit diesen Lauten verbinden, sind es nicht allein, die uns wohlthaten, es sind die Laute selbst. Zu grelle Töne verwundeten das Ohr; fast physisch. Der musikliebende Mann konnte als Kind die Violine nicht streichen hören, ohne vor Schmerz zu weinen, aber vor wirklichem physischem Schmerz. Der langgehaltene Strich der Geige schien so sehr eine Resonanz im Unterleib zu suchen und 76 zu finden, daß dieser sich ordentlich krümmte und die Eltern von jedem Tanzorte, wo sie gern zusahen, fern hielt. Alle Sinne des Kindes sind noch im reizbarsten jungfräulichen Zustande. Alles Blitzende und wären es zertretene Glasscherbenatome auf dem Straßenpflaster, reizt sie wie Diamanten. Eine Zeichnung gefällt dem Kind an sich schon. Es ist ein Luxus, sie zu illuminiren. Die bunten Bilderbücher, so gar grell ausgemalt, stumpfen den Farbensinn des Kindes eher ab, als sie ihn heben. Welche Phantasie weckt auch ein unausgetuschter Bilderbogen! Der getuschte übersättigt. Man lasse dem Auge seine Lust und gestatte dem Kinde, aus dem bunten Kasten die Farben zu wählen, die ihm die wohlthuendsten sind und malte es den Soldaten auch grüne Stiefeln und den Rittern rothe Helme; die Welt, die der Wirklichkeit entspricht, findet sich schon. Man lasse sie, ohne pedantische Belehrung, durch diejenigen Anschauungen hindurch sich entwickeln, die dem Kinde die liebsten sind. Des Kindes Ohr findet mehr Wohllaut im Spatzenlärm, als im Gesang der Nachtigall. Es liebt die rüstige, rührige Welt, die sich rüstig und rührig austönt. Eine Wassernachtigall von Porzellan, die mit aufgegossenem Wasser beim Blasen einen schmetternden Ton giebt, war dem Knaben Anfangs noch lieber, als die wirklichen Sprosser, die sich die Nachbarn hielten, 77 oder die eigne Lerche, die in einem dunkelverhangenen Käfig ihre Sehnsucht nach dem Felde auswirbelte. Für Lerche und Nachtigall kommt das Ohr erst aus dem reifenden Herzen. Das Kind wälzt sich im Heu und Stroh mit einer Lust, die nicht blos ihre Quelle in der Ausgelassenheit selbst hat. Es strömen ihm aus Heu und Stroh Düfte entgegen, die das wahre Doppel-Patschouli und Luxus-Arom der Jugend sind. Das Naschen, das wir aus moralischen Gründen bestrafen, entspringt beim Kind meist aus physischen. Es liegen in Nüssen, Aepfeln, Birnen, in gedörrtem Obst so namenlose himmel- und höllenverlockende Wohlgeschmäcke, wie unsre Gaumen gar nicht mehr empfinden, während wir andrerseits jetzt Gefallen an Speisen haben, die dem Kinde immer widerstanden, besonders alles Schlüpfrige, Glatte, Gleitende, Molluskenartige, wozu gewiß bei den meisten Kindern der Kohlrabi und die in Fleischbrühe erweichten Kartoffeln gehören.

Und du, heilige Einsamkeit! Wie wiegst du die Kindesseele in überirdische Träume; nein in irdische; denn das Kind denkt sich grade hier, hier auf Erden noch Alles möglich. Der Erzähler war ein Virtuose im Alleinsein. Der Bruder Soldat geworden, die Schwester in der Schule, der Vater im Dienst, die Mutter zu Aller Nutzen auf dem Markt. Was 78 grübelt da nicht, eingeschlossen im Zimmer, einen hohen Fenstertritt erkletternd, hinausblickend auf eine nicht allzubelebte Straße, hinter dem Käfig der Lerche, hinter Blumenstöcken und an Fäden rankender türkischer Kresse, ein Kinderherz! Durch ein verpapptes Fenster schnoberten dabei die Rosse und rissen an ihren Ketten oder im großen Säulenstall lärmte die Trommel und gewöhnte die Thiere an kriegerische Welt. Wo ließ sich schauerlicher träumen, als innerhalb der großen Gebäulichkeit der Akademie, dicht unter dem Präparirtische der Anatomie, wo auf einer grünen kleinen Rundung die zu lüftenden Betten oder die trocknende Wäsche der einsamen Hut des Knaben taglang überlassen blieben! Die Cürassier- und Uhlanenrosse wieherten zwar dicht in der Nähe oder tummelten sich dicht daneben auf dem Sande im Kreise, aber Mittags wurde es doch still und gegen Abend traten die Sagen deutlich genug vor die Phantasie des Wächters, die Sagen von manchem dort oben noch wimmernden Selbstmörder, von manchem nächtlichen Hülferuf aus den großen, jetzt so vom Abendlicht durchblitzten Fenstern des Schlachtsaales, von manchem, der wieder erwacht war, an Stricken sich herabgelassen hatte, stürzte und doch geopfert blieb! Dort krächzten die Raben auf Bodes Sternwarte, wo die golden blinkende Himmelskugel ihrer Pracht-79liebe eine willkommene Behausung schien. Oder auf den jetzt mit Neubauten ganz verdrängten großen umzäunten Wiesen der Georgenstraße – früher Katzenstieg genannt – und des „Bauhofs“ fanden sich stille Plätze zum hingestreckten Dämmern an einem moosbewachsenen, umgestürzten und defecten, hieher verirrten Garten-Amor, hinter Remisen und Schobern, unter Kraut- und Lattich- und Brennnesselnumwachsenen Brettern und Balken, überall wo es nur etwas zu kauern, zu bauen, zu spielen, den Großen nachzuahmen gab. Das Winkelleben der Jugend weckt die ersten Regungen des Bewußtseins, die ersten Regungen der Sehnsucht nach künftigen Zielen. Wer stets das Auge auf seine Kinder oder seine Zöglinge wachend und sie immer und immer beschäftigend gerichtet hat, wird Maschienen erziehen. Die Jugend muß ihre Heimath kennen, wo sie zu Hause gehört. Aber die kleinen Nester, die sie sich da und dort in der Stille selbst schon aufbaut, darf man ihr nicht zerstören. Sie brütet dort ihr selbständiges Leben, ihr Bewußtsein, ihre Zukunft aus.

O kennt ihr die heiligen Schauer, die zuweilen plötzlich, Ihr wißt nicht wie, Eure Seele durchrieseln? Kommen sie Euch in den Jahren der Reife, so sind es, gewiß nicht anders zu deuten, die Vorahnungen des Todes, die entschleierten Geheimnisse der über-80sinnlichen Welt. Kommen sie aber in den Jahren der Kindheit, so sind es die entschleierten Geheimnisse des Lebens, die Vorahnungen von der Größe der Welt. Das Kinderherz sinnt und träumt. Es schafft aus Sonnenstäubchen sich zauberische Welten. Wie genügt ein kleines Spielzeug seiner Phantasie, wie ergänzt der verschönerndste Gestaltensinn, ein bergeversetzender Glaube, in den großartigsten Umrissen das Kleinste, Häßlichste, Unbedeutendste! Des Kindes Auge sieht nicht wie das Auge des Erwachsenen. Was ein Stäbchen mit einem Lappen ist und eine Fahne sein soll, ist ihm eine wirkliche Fahne, die prächtigste, die etwa dem Heere des Propheten nur je von Gold und Seide vorangetragen wurde. Ein ausgestopfter häßlicher Balg ist dem Kinde kein Surrogat für das Schöne, sondern selbst etwas Madonnenschönes. So reich weiß es aus sich zu borgen, aus seiner Einbildungskraft, seinem Herzen zu entlehnen. Unendlich weit ist der Blick ins Leben von der kleinen Warte der ersten Umsicht aus. Redet dem Kinde von Gott, dem Himmel voll seiner Englein; es mag doch nicht gern sterben. Die Furcht vor dem Tode erfüllte wenigstens unsern Knaben oft quälend wie einen Verbrecher. Wie kam ihm nur diese entsetzliche Angst vor dem zu frühen Uebergang in ein himmlisches Leben, das er doch so gut kannte! Er kannte doch den Eingang 81 des Himmels, wo Petrus mit dem Schlüssel stand. Wie oft klopfte er im Geiste schon an das Wolkenthor und dachte sich das Haupt des Apostels durch die Pforte lugend. Wer ist da? Ein kleines Kind! Er wußte, wie sich das Thor öffnet, wie die Wege links und rechts so verklärt, so lichtumflossen aufwärts gingen und eine wunderherrliche Musik den Kommenden begrüßte. Er sah den dreieinigen Gott, so schön, wie ihn drüben die Malersäle zeigten, er fühlte sich angeredet und geliebkost von dem in blauen und rothen Gewändern strahlenden Heiland und doch ängstigte ihn der Tod. Die Furcht vor der Hölle und vor der doch immer ungewissen möglichen schlimmen Entscheidung drückte vielleicht, aber noch beklemmender war das Gefühl der Entsagung. Diese Erde, so groß und so schön! Diese Welt, so rauschend, so herausfordernd zur That, so reizend zur Bewährung! Bei jedem Krankenlager bat der doch im Himmel wie in den Berliner Kirchen gleich heimische Knabe: Nur nicht sterben!

Es zittert als wehmüthige Ahnung im Alter nach, was dem Knaben Dinge bedeuteten, die ihm jetzt die gleichgültigsten sind. Muscheln! Diese schlanken hohlen Ovale mit den blanken Perlmutterrändern! Paßten sie gar aufeinander, welch ein seliges Zusammenklappen! Kastanien! Grüne Dornenhülsen und der braunglän-82zende „scheckige“ Kern! Schmetterlinge! Unter den Fichten der Hasenhaide, auf dem dürren, glattgetretenen Sand- und Nadelboden gab es herrliche Trauermäntel und Todtenköpfe. Selbst der Fang der gemeinen, einfachen, gelbweißen „Kalitte“ mit den abfärbenden Flügeln machte schon glücklich. Schilfrohrblätter: lang, scharf, schneidend durch die prüfenden Finger gezogen! Fische, daumengroß, am Spreeufer mit freier Hand gefangen, scharfbewehrt mit zwei Stacheln, Ikleie oder Steckerlinge genannt, einen Moment in der Hand zappelnd, lustig, fast gefährlich, dann todt und dann sogleich reizlos! Ein Vogel, gefangen nach tagelanger, wochenlanger Fallen-List! Endlich das warme, unter den Federn klopfende zarte Leben in der Hand, ein Königreich gewonnen; aber wie elektrisch unruhig ist das Thier, wie den Kopf um sich werfend, wie die Krallen rund einziehend, wie zermartert durch Rathschlagen über seine gefangene Zukunft, wie durch die Wärme der liebenden und doch gewaltthätigen Hand schon abgemattet und zuletzt nach tausend Plänen die Freiheit gewinnend, da – neue Kostgänger von der Mutter verbeten werden! Und ein Lamm, irgendwo durch ein Gitter blöckend, eine Ziege an Nesseln nagend, ein Kaninchen, wühlend unter Kohlstrünken in einer Küche! Diese Welt, nur noch einmal nachempfunden in den Schicksalen Robinsons, noch einmal aufblitzend aus den Augen seines ge-83liebten Lama’s! Das erste gehörte Märchen vollends war dann gradezu die ganze Weltgeschichte.

Und du stillbeseligtes Aufblicken zum Sternenhimmel! Da glitzern dem Kinde die Tausende von Himmelsleuchten im weißen funkelnden Zitterschimmer, glitzern wie Thautropfen im Sonnenschein, und oft ist es, als bewegten sie sich wie Lichter im Zugwinde. Daß diese Sterne Welten sind, faßt der an diese Erde gebannte Kindessinn nicht gern. Wie könnte außer dieser großen Erde mit ihren Millionen von Menschen, mit ihren Strömen, Gebirgen und Meeren noch eine Existenz vorhanden sein, in der das Erdenleben wie ein Tropfen verschwände! Nein, dem Kinde ist die Erde der liebste Aufenthalt Gottes, der Schemel seiner Füße. Jene Strahlenpracht des Himmels ist ihm nur die äußere Zier und Herrlichkeit des im Freien schwebenden Wolkenthrones. Unter allen Sternen sucht sich das Kindesauge den funkelndsten aus und nennt ihn den Stern des Morgenlandes. Das ist der Wegweiser, der die Weisen einst nach Bethlehem geleitete und über der Krippe mit dem Jesuskinde stille stand. Dies Wandeln und Stillestehn eines Sternes, dies Führen und Leiten, dies Wissen von einem Sterne um eine Begebenheit der Erde und der Himmel übertrug sich bald auf alle diese stillen Wächter der Nacht und niemals glaubte der Knabe allein zu sein, wenn er auch einsam stand und 84 ging und nur die Sterne auf ihn niedersahen. Im Monde vollends suchte er die Züge jenes Mannes, der aus ihm niederschauen sollte und von dem man früh genug Dinge hört, die fast glauben machen könnten, er hätte es auf jeden Einzelnen der Menschen ganz allein abgesehen. Die Nacht lehrt uns den Tag verstehen, wie später das Denken über das Nichts das Denken über das Sein. Früh schon zitterten durch den Knaben die plötzlichen Schrecken von einem möglichen Nichtvorhandensein aller Dinge. Wenn diese Erde einmal nicht wäre! Wenn diese Sterne erlöschten, diese Fackel des Mondes verglimmte, die Sonne im Meere auf ewig unterginge und alles, alles verschwände und nur Gott bliebe, nur Gott, der Herr, der Schöpfer allein für sich. – Was wäre das? Was wäre dann? Wer wäre Gott? Der Gedanke war furchtbar, schwindelerregend, die Hand mußte sich aufstemmen, halten am Nächsten, das absolute Nichts zog den Boden unter den Füßen weg, es war ein Gedanke, der auch wenig über eine Terzie lang sich festhalten ließ.

Wie stark des Kindes Heimathstrieb ist, sieht man an der behutsamen Erweiterung der Kreise, die sich um den Mittelpunkt des häuslichen Heerdes ziehen. Ein größerer Umweg, den sich ein Kind erlaubt, um in seine Schule zu kommen, ist ein Ereigniß für seine ganze Entwickelung. Es dünkt ihn dieser Umweg sicher eine 85 große That, ja nicht selten ein Wagniß, fast ein Verbrechen. Lange glaubte der Tropf, der Ausdruck: „hinter die Schule gehen,“ bedeutete so viel, als wenn man, um in die Mittelstraße nach der Dorotheenstädtischen Kirche zu kommen, hinten herum durch die Linden und die jetzige Schadowstraße gehen wollte. Denn wie neu sind nicht die Eindrücke, die ein solcher Umweg zur Folge hat! Ganz andre Häuser, andre Menschen, andre Straßen werden erblickt und im Anstaunen und Angaffen verspätet sich wohl der kühne Columbus, der neue Welten sucht. Es entspricht diese Beklommenheit unsrer gezähmten sittlichen Natur. Das Thier des Waldes schweift quer über alle Stege und Wege hin, der Wolf mit eingeklemmtem Schweife rennend schlägt überall sein Lager auf, aber das Hausthier ängstigt sich ab, wenn es die gewohnte Welt nicht sieht. Diese allmälige Welterweiterung des Kindes geht so subtil von Statten. Da war das große Gebäude mit seinen Höfen allen. Aber es war ein Argonautenzug, wenn der Knabe einmal wagte, nur in die akademischen Hofräume zu treten und in die Fenster zu lugen, wo die Gipsabgüsse standen oder die Bücher der Akademiker. Der Garten der Universität, damals eingefriedigt von einer oft erkletterten Mauer, war ein erlaubter Tummelplatz, aber nur einige Schritte vorwärts an die Fenster, wo die Schleiermacherschen Vorlesungen gehalten wurden 86 und eine große Uhr die Stunden ohrennervenzerreißend ankündigte, wagte sich der Knabe nur wie in einen verbotenen Hesperidengarten. Da, wo jetzt die Singakademie steht, floß früher ein Spreearm, bedeckt mit Floßhölzern, die die gemeinen Leute „Carinen“ nannten, als hätte ihnen ein Professor den Namen gegeben. Welche herrliche, lange „Tafelbirnen“ hingen in den jetzt Magnus’schen Gärten und links und rechts in denen des Finanzministers Kleewitz! Wer da hinaus sich wagte über die „Carinen“! Und in der That wurden die Spreearme „geschützt“, d. h. des Fischfanges und der Reinigung wegen ohne Wasser gelassen, so watete man wohl wie im Nilschlamm über die „Carinen“ hinweg zu dem Abfall jener Gärten; gefahrvolle Unternehmungen, die meist mit Strafgerichten endeten. Die Welt wurde immer größer, immer weiter, immer reicher. Wußte man doch, daß der Regenbogen, der sich über dem Zeughause und dem neuerbauten Dome und den Pappeln des „Lustgartens“ hindehnte, an seinen beiden zur Erde sich neigenden Enden Gold auffinden ließ. Warum nicht streben, hinauszukommen über die so enge Gränze der „Letzten“ und der Mittelstraße! Aber jenseits der Dorotheenstädtischen Kirche, wo die neun Pathen im Kometenjahr Gevatter gestanden hatten, jenseits dieser Heimath wurde es schon höchst schauerlich. Da verbreitete gleich dicht an die Frei-87maurerloge Royal-York ein eigenthümlich düstres mystisches Wesen. Der große Garten dieses von Schlüter im idealsten Kommoden-Styl gebauten Hauses zog sich zur Spree bis an den unheimlichen Katzenstieg wie ein Mysterium. Hier war noch alles unangebaut, nichts als lange, einsame Strecken von Holzhöfen, nichts als Wiesen zum Bleichen und Trocknen der Wäsche… Die äußerste bekannte Gränze seines Horizontes nach Norden wurde dem Knaben die Kaserne der Artillerie, wo der Bruder, ein sogenannter Freiwilliger, in Hoffnung auf die doch wohl bald losbrechende Kriegsfurie kanonirte, bombardirte und feuerwerkerte… Dies Kasernenleben war dem Knaben das erste selbstständig sich regende „Anderssein“ außerhalb der Prinzenställe. Die langen dunklen Gänge der Kaserne mit den numerirten Thüren, in der Küche unten Soldaten in Kitteln, Rüben schabend, Kartoffeln schälend; der Pommer, der Polack, der Schlesier, Westphale durcheinander. (Die Garde rekrutirte sich überall.) In den nicht allzugroßen Zimmern immer ein Unteroffizier mit acht bis zehn Mann, deren Betten am Tage übereinander aufgethürmt bis an die Decke reichten; dicht an den Wänden entlang für jeden Gemeinen ein Plätzchen für Uniform, Gewehr, (damals trug die Artillerie noch Gewehre) Riemzeug, Schuhwerk und ein Schränkchen für seine nächsten Habseligkeiten und die Löhnung und sein Commisbrod; am Fenster ein 88 freundlicherer Platz für den Unteroffizier. Unten im großen Hofe die Kanonen, meist abgeprotzt, zum Exercieren eingerichtet. Stundenlanges Bewundern des „Man so Thuns“ im Richten, Auswischen, Laden, Zünden, Bewundern der Donnerwetter, die dabei mit Stentorstimme geschnarrt wurden und desto lauter ertönten, je näher die Offiziere standen. Dies Kasernenleben erzeugt in seinen Theilnehmern eine Gemeinschaftlichkeit der Stimmung, die auf den Geist schließen läßt, dessen Offenbarungen wir in unsrer Prätorianerzeit kennen gelernt haben. Der Gemeine blickt auf den Sergeanten, der Sergeant auf den Leutenant, der Leutenant auf den Hauptmann, der Hauptmann auf den Major. Da von oben herab nur Fanatismus niederwärts strömt, so breitet sich dieser auch behaglich in den untern Schichten, so wie er gewünscht wird, aus. Die kleine Chronik des Appells, der Wache, des Exercierens, der Parade, des Kirchenbesuchs, des Manövers, der Revision der Armatur und Kleidungsstücke, die Ankunft von Rekruten, das Avancement erfüllen hunderttausend Seelen wie die alleinigen Fragen der Welt und des ganzen Lebens.

Durch den Bruder erschloß sich manches Kasernenzimmer. Da fanden sich Stätten, wo auch die Familie ihren Heerd aufgeschlagen hatte. Ein Unteroffizier hatte sogar wieder die Nadel ergriffen und war für das Wohl 89 seines Weibs und seiner Kinder wieder ein Schneider geworden. Es war ein eigner Anblick, die Heldengestalt, die man oft vor der Haubitze mit kräftiger Stimme hatte commandiren hören, so nun mit untergeschlagenen Beinen an einer feinen Interimsuniform für irgend einen mit Mutterpfennigen gesegneten Fähnrich sticheln und Zwirn wichsen zu sehen. Der Unteroffizier würde ohne die Liebe zu den Seinen sich wohl gehütet haben, zu einem Handwerk zurückzukehren, das er haßte und dem er hatte entfliehen wollen, als er in den Soldatenstand trat. Wie hatte er den Ziegenbock, auf dem er als Knabe reiten mußte, verwünscht und nun zwingt ihn das weinende Geständniß einer armen, ehrlichen Nätherin, die er liebte, sie zum Weibe zu nehmen und um sie und seinen gesegneten Nachwuchs von Kindern zu erhalten, wieder seinen garstigen Bock zu besteigen. Des Armen Leben wechselte zwischen Kartätschen und Nähnadeln ab, zwischen Bomben und besponnenen Knöpfen. Das war wirklich Prometheus an den Felsen geschmiedet! Zum Unglück wurde dem Armen, Richter hieß er, noch die geliebte Mutter seiner Kinder krank. Eine Entzündung der Brust bekam eine gefährliche Wendung. Schon setzten die Chirurgen ihre Messer an, um die zartesten Theile, die edelsten Werkstätten der Natur, auf Leben oder Tod wegzuschneiden, als sich ein Wunderdoktor meldet, ein ehemaliger Schäfer, der in der Vorstadt die Armen kurirt und 90 die Brust zu heilen verspricht. Die Chirurgen lächeln und entfernen sich. Glück schon genug, daß sie nicht die Sanitätspolizei von dem Nebenbuhler in Kenntniß setzten. Und der Schäfer beginnt sein Werk, er heilt die Brust. Womit? Mit welchem Balsam? Mit dem Balsam der Geduld und Liebe. Wohl strich er kräuterreiche Salben auf die eiternden Wunden, aber sein wirksamstes Kraut war das treue Kommen, Gehen, Wiederkommen, Abwarten, Pflegen, Sorgen, Mühen und das ein ganzes Jahr hindurch. Die Chirurgie ist nur zu oft jene Heilkunde, der die Geduld gebricht. Sie schneidet weg, was sie zu heilen sich keine Zeit nimmt. Richter konnte nicht anders, als diesem wirklich „treuen Schäfer“ für eine Pflege, die über ein Jahr gedauert hatte, zwanzig Thaler geben. Zwanzig Thaler! Ein Krösus-Kapital! Ein unerschwingliches, wenn der arme Held nicht ein Schneider blieb. Seinen frohen Sinn, seinen witzigen Verstand, seinen aufstrebenden glühenden Ehrgeiz, alles mußte der Arme hingeben und Westen und Uniformen nähen und Buchführen über seine schlimmen Kunden, die sich von der Löhnung nur wenig abziehen lassen konnten. Richter trieb diese Doppelexistenz lange Jahre bis er Gensdarm wurde. Er hat der Sicherheit des Staates durch unermüdliches Ausjäten von allerlei Menschenunkraut treu gedient, vortreffliche Kinder erzogen und harrt nun, da das Licht der Augen von seinem mühevollen Jugend-91leben fast erloschen ist, auf eine Anerkennung der Großen, die ihm wohl in Ehrenzeichen und einem Wartegeld zu Theil wurde, aber in keinem ruhigen, sein Alter fristenden Amte. Der Staat könnte aber auch seine Dienste als Krieger und Gensdarm reicher belohnen, als er that; dafür, daß er den feurigsten Jugendehrgeiz und seinen soldatischen Kastendünkel überwand, einem kranken Weibe und der Bildung seiner Kinder zu Liebe im Waffenrock noch ein Schneider blieb, dafür kann ihn nur eine jener Kronen lohnen, die auf Erden bekanntlich nicht zu finden sind.

Vom Soldatenleben wurde die Poesie mehr verstanden als die Prosa. Der Wachtdienst, die Ablösung, das geheimnißvolle Mittheilen einer Parole oder der betreffenden Dienstanweisung für das zu bewachende Lokal, das weiß und schwarz gestreifte Schilderhaus mit seinem darin aufbewahrten Nachtmantel, das ewige Forschen und Umblicken des Postens nach militärischen Honoratioren, die durch Geradestehen oder gar ein Präsentiren geehrt werden mußten, das Alles war Gegenstand stiller andächtiger Forschung, als wenn es sich dabei um das Wohl der Welt handelte. Von manchen Wachtlokalen erfuhr der Knabe, daß es auf ihnen spuke oder spüke, wie man im Volke sagt. Das Spüken in den Berliner Schloßgängen ist bekanntlich historisch bedeutsam und 92 traditionell bei allen Schildwachen. Aber es spükte noch an vielen andern Orten, wo Schilderhäuser einsam standen und die Wachen mitten in Novembernächten, unter sausendem Sturm und stürzendem Regen, von ihren Bretterhäuschen aus in „pechdunkle“ Nacht hinauslugen mußten. Diese Schilderhäuser vererbten ihre Spük-Tradition ebenso wie die Regel ihres Wachdienstes. So waren fast alle Wachen in der einsamen Gegend an der untern Spree spukhaft. Am Artillerie-Laboratorium, der Pulvermühle, den Pulvermagazinen, den Train- und Wagenhäusern, die jetzt alle die Hamburger Eisenbahn rasirt hat, lauerte nicht nur der Tod, dem ein einziger glimmender Funke hier eine furchtbare Feuerhochzeit bereiten konnte, sondern auch der Begleiter des Todes, das Gespenst. Mancher junge Rekrut schnürte gern aus seinem Beutelchen einen Mutterpfennig heraus und bezahlte ältere beherztere Kameraden, um nur nicht auf einem der äußersten einsamen Posten am Laboratorium Wache zu stehen. Die Posten hatten Nummern und wurden von der Hauptwache aus nach den Nummern besetzt. Auf Nummer sieben und Nummer dreizehn spükte es gewiß. Auf Nummer dreizehn „schilderte“ einst der Bruder. Für sieben und einen halben Silbergroschen erbot sich ein älterer Kamerad, ihm diesen Dienst, der grade auf die Geisterstunde fiel, abzunehmen. Meine Mittel erlauben mir das nicht, sagte der junge Rekrut 93 und ging auf Nummer dreizehn. Er stammte aus der rationalistischen Zeit Berlins und wollte es getrost mit den Geistern wagen. Rings tiefe Stille. Der junge Artillerist stützt sich auf sein Gewehr; die Nacht „stichdunkel.“ Fern herüber rauschten zuweilen die Tannen. Birken schimmern geisterhaft. Ein Erdwall umgiebt das pulvergefüllte Magazin. Einige Rundgänge auf ihm hin und her … Der rationalistische Zweifler sieht, hört nichts, geht in sein Schilderhaus, schläft ein. Ein Schlaf im Stehen währt nicht lange. Eben summen von den Kirchthürmen der Stadt die Glockenschläge Zwölf herüber, als der Artillerist erwacht. Die Angst des Dienstvergehens vergrößert die Vorstellung möglicher Gefahr. Der Zweifler sieht in der That, erwachend, ein langes riesiges Gespenst. Wer da! ruft donnernd die Furcht, die bekanntlich immer lauter schreit, als der Muth – Alles still. Die lange schmale Gestalt bleibt unbeweglich. Mit gefälltem Bajonett rückt der Zweifler aus dem Schilderhause vorwärts. Einige beherzte Schritte und das Gespenst ist entflohen. Es war nicht etwa jener mit einem Laken verhüllte Kamerad, der seine sieben und einen halben Silbergroschen zu Ehren bringen wollte, sondern es war ein schmaler, langer sandiger Fußsteig, der sich zwischen dem grünen Rasen hinzog und vom Schilderhause aus gesehen leicht eine perspektivische Täuschung möglich machen konnte.

94 Im Soldatenleben scheint Alles von Außen wie über einen Kamm geschoren. Nach Innen aber giebt es keine buntere Mannichfaltigkeit der Charaktere, der Sitten, der Lebensweisen. Man hält diese gewaffneten, geschmückten Menschen für mechanisch abgerichtete willenlose Wesen zum Verwechseln und in der Kaserne, im geheimen Getriebe des Dienstes treten alle Temperamente und alle Philosophieen in lebendigst nüançirten Exemplaren zum Vorschein. Geizhälse, Stoiker, Epicuräer, Melancholiker, Alles durcheinander. Früh machte es dem Knaben einen eignen Eindruck zu wissen, daß dieser dort so steif und todt mechanisch marschierende Soldat gestern erst von einem Arrest aus der Linienstraße kam, jener hübsche Junge mit dem silbernen Portepee ein Junker war, dessen Eltern Niemand nennen wollte, weil wenigstens sein Vater ein Prinz sein sollte, jener Leutenant, der so heiter seinen Degen schwang, voller Schulden steckte, jener Capitän, der so martialisch kommandirte, zu Hause unter dem Pantoffel seiner Frau stand, und jener Oberst zu Pferde gar, der den runden blitzenden Hut voller Federn trug, daheim ein Liebhaber der Hühnerzucht, der türkischen Enten, der Tauben und der Pfauen war. Das Negligée aller dieser so kerzengrad zusammenhaltenden Menschen gab von Jedem ein anderes Bild, als er jetzt exercirte oder mit klingendem Spiel vorüberzog an dem Könige, hinter dem man, an 95 den Pfeilern des Opernhauses sich anklammernd, wie einer von der „Suite“ die Parade mitvorbeidefiliren ließ. Das da ist der tolle, lustige Langheinrich, von dem noch mancher Schwank erzählt werden soll! Das da ist der verhaßte und gehässige Fähnrich von Haase! Das da ist der treffliche, liebenswürdige, dem gemeinen Soldaten gegen die kleinen Offiziere immer beistehende Major! Wißt Ihr Alle, die Ihr hier herum„drängelt“ auf den Stiegen des Opernhauses, unter den Larven und Bildsäulen der Musen, Ihr, die Ihr hier Skizzen aufnehmt zu den in jenen Jahren so beliebten Paradebildern, die von Saarlouis bis St. Petersburg mit Gold, rothen Adlerorden und Wladimirs bezahlt wurden, wißt Ihr Alle wohl so wie der Knabe, daß vor drei Tagen beim Manöver zu jener goldgelbglänzenden Kanone hinter Rixdorf die jungen Prinzen, die Söhne des Königs, herangeritten kamen und den Fähnrich von Haase gar arg in’s Gebet nahmen? Was bedeuten, spricht zu ihm der jetzige Prinz von Preußen, was bedeuten die beiden Buchstaben C. F. da vorn am Mundstück Ihres Kanons? Fähnrich von Haase, über und über erröthend, erwiederte nach längerem Besinnen: Ich weiß es nicht, Königliche Hoheit! Der Prinz von Preußen will mit seinen Brüdern weiter, da sagt der Unteroffizier Langheinrich: „C. F., Königliche Hoheit, bedeutet Canon Français. Dies Geschütz war eine zeitlang in 96 französischer Gewalt.“ Die Prinzen lobten die Auskunft. Aber wer hier ringsum kennt nun des dort marschierenden Herrn von Haases böse Rache? Das Manöver ist vorüber. Jene selben dahinreitenden Pferde, Langheinrichs treuer Rinaldo an der Spitze, sollen den Staub abspühlen und in die Schwemme reiten, sich auch erquicken am klar rinnenden Wasser des – lieblichfluthenden, schilfumrandeten Schaafgrabens. Der Fähnrich von Haase commandirt vom Ufer aus: Da! Dort! Zum Himmeldonnerwetter, reiten Sie da, wo ich sage! Aber der Schaafgraben hat seine schwarzen Stellen. Er ist nicht immer, wie Rückert von der Spree am Oberbaum singt, rein wie ein Schwan, sondern nicht selten auch, wie Hafis, selbst doch aus Schweinfurt gebürtig, von der Spree am Unterbaum sagt, schmutzig wie ein u. s. w. Genug! Langheinrich will weder sein Geschütz, noch sein Gespann, noch seinen eignen treuen Rinaldo in den Morast führen. Er biegt von der kommandirten Stelle ab, sucht jenes klare Rückert’sche Schwanenwasser, findet’s, ruft allen Kameraden ihm zu folgen. Aber den aus dem Wasser mit den triefenden erquickten Pferden nun zurückkehrenden, herrscht der für den erkrankten Leutenant Dienst thuende Fähnrich von Haase an: Langheinrich! Dafür sollen Sie Arrest besehen! Er meldet die Insubordination dem Capitän. Der Fall kommt an den Major. Jener brave, dort eben 97 den Degen zum Präsentiren schwenkende Herr auf dem Apfelschimmel sagt: Herr von Haase, woher kommandirten denn Sie? Vom Ufer aus? Sie waren also nicht mit im Wasser? Künftig, wenn wir wieder manövriren werden, soll jeder Capitän seine Batterie vom Kirchthurm aus kommandiren.

Aber die Parade ist noch nicht zu Ende. Dort beim vierten Geschütz reitet unser braver Richter. In spätern Jahren würde der Knabe sich vorgestellt haben, es hinge ihm trotz seines martialischen Königl. Preußischen Aussehens hinten eine Zwirnrolle aus der Tasche, jetzt ist es ihm nur, als wäre bei dem herrlichsten Sonnenschein ein Regenschirm über ihm ausgespannt. Denn er kennt von ihm folgende Geschichte: Der Quälgeist der Compagnie, Fähnrich von Haase, läßt sich einfallen, eine Revision der Kasernenzimmer zu unternehmen. Er kommt in Richters Zimmer und findet unter dessen Geräthschaften einen Regenschirm. Wem gehört dies Mobilar? frägt der junge Stutzer. Vorläufig mir, sagt Richter. Von Haase öffnet das Fenster und will einen Act im Style Blüchers von Wahlstatt ausführen. Er will den Regenschirm zum Fenster hinauswerfen. Halt da! ruft Richter. Der Schirm gehört meiner Braut. Von Haase, durch die kräftig zugreifende Hand des Unteroffiziers an der Ausführung eines „genialen“ Einfalls 98 verhindert, der bei Josty unter der Stechbahn würde Furore gemacht haben, beschließt Richter zu strafen. Er ergreift dessen Gewehr, untersucht es, findet die Reste der letzten Schüsse noch nicht getilgt. Richter mußte schweigen. Von Haase stürmt, als wenn er eine Fahne erbeutet hätte, hinunter in den Kasernenhof; dem gerade anwesenden Major wird die Meldung gemacht. Richter mußte folgen. Mit dem Gewehr bei Fuß steht der Arme seines Urtheils gewärtig. Aber wiederum unser herrlicher, trefflicher Major, der dort eben auf seinem Apfelschimmel zur Sonnenseite der Linden abbiegt! Wie lange ist es her, Herr von Haase, daß die Leute geschossen haben? Vierzehn Tage, Herr Oberstwachtmeister, antwortet ein Nahestehender statt von Haase’s, der erblaßt. Und seit diesem Zeitraum haben Sie die Gewehre nicht revidirt? sagt der Major. Hm! Hm! Das könnte leicht die französische Comödie stören, in der Sie bei Perponchers mitspielen, wenn ich Sie dafür mit drei Tagen Stubenarrest … doch genug – Morgen früh um 8 Uhr ist die ganze Compagnie hier zur Stelle. Nun werd’ ich selbst revidiren.

O du von Haase! Schreite nicht so kühn, dilettirender Bühnenkünstler! Stolpre nicht! Deine Thaten sind aufgeschrieben noch in andern, als nur in den Parolebüchern! Unsern braven Langheinrich wolltest du für das, trotz der Comödie bei Perponchers, nicht er-99klärte Canon français gradezu verderben! Einem Schneider unter den Linden, dem du, beim Prinzen von Preußen ewig Verlorner, schuldetest, schuldete auch der freiwillige und auf Avancement dienende Langheinrich. Herr, sagtest du zu dem Verfertiger deiner eignen reizenden Taille, Herr, wozu haben Sie die Langmuth mit solchem Volk, das es wagt, bei einem Schneider für den hohen Adel arbeiten zu lassen? Ehrgeizig ist der Hund! Machen Sie ihm irgendwo unter seinen Kameraden eine Scene und er wird Sie bezahlen. Der vornehme Schneider bildet sich ein, eine Scene würde nirgends auffallender wirken, als irgendwo auf der Wache. Langheinrich hat die Wache am Oranienburger Thor mit acht Mann und dicht in der Nähe der „reitenden Artillerie-Kaserne“. Der elegante Adelsschneider von unter den Linden tritt ein, beginnt seine Rechnung vorzulegen, mahnt. Langheinrich thut, als wär’ er taub. Aber, ich muß Ihnen sagen, länger halt’ ich es nicht aus; ich verklage Sie. Langheinrich schweigt. Der Schneider erhitzt sich, lärmt. Langheinrich trommelt auf den Fensterscheiben. Der Schneider kennt keine Gränzen, sein Zorn wächst, er schlägt auf die hölzernen Tische. Langheinrich giebt den Kanonieren einen Wink. Der Schneider flucht. Er hatte Eile. Er wollte in feinster Toilette jetzt noch ins Opernhaus, um die Milder und die Seidler im Wettkampfe zu hören. Ich muß in die 100 Olympia, Herr, wann bezahlen Sie mich oder hier die Uniform… Langheinrich schwankt jetzt, ergreift den ihm die allerdings noch nicht ganz bezahlte Uniform angreifenden Ruhestörer, öffnet eine Thür, öffnet noch eine, drückt den Schneider in ein dunkles Loch und bedeutet ihn, dort so lange zu warten, bis die dienstthuende Ronde käme, die den Störer eines öffentlichen Wachtpostens auf die Hauptwache führen solle. Der Schneider wehrt sich, kratzt, donnert an der Thüre, ruft, droht; vergebens. Langheinrich hat den Buchstaben des Gesetzes für sich. Es schlägt sechs Uhr. Olympia beginnt. Bader hat seine erste Arie. Der vornehmste Adels- und hohe Militär-Schneider sitzt in der dunklen Wachtstube des Oranienburger Thores und zerknittert vor Wuth und Verzweiflung sein Sperrsitzbillet. Um acht Uhr kommt die Ronde, aber ohne Leutenant. Der Schneider hat nur die Wahl zu warten oder sich zu entschließen, mit diesen Leuten über die Straße zu gehen. Zu letzterem kann er sich nicht bestimmen. Man reicht ihm Wasser und Brod. All sein Bitten erlöst ihn nicht. Erst um zehn Uhr rettet ihn der Ronden-Offizier, der ihm die Freiheit giebt, ohne jedoch Langheinrich irgendwie für seine vollkommen erlaubte Selbsthülfe zu tadeln. Am folgenden Morgen kündigte aber der so schmerzlich um die Olympia und den Wetteifer der Milder und 101 der Seidler betrogene vornehme „Civil- und Militär-Kleidermacher“ auch dem schlechtesten aller Zahler, dem Fähnrich von Haase, den Credit.

Die Compagnie ist vorüber. Das Rollen der Kanonen nimmt kein Ende. Reißen wir uns los von diesen Schwänken, die allein in ihrer ganzen militärischen Einseitigkeit von dem Knaben aufgefaßt wurden. Denn in der Jugend wiegt man im Urtheil nichts ab. Die ganze schöne Parteilichkeit der Liebe und des Hasses steht für Jedes und Alles ein, was sie einmal erfaßt hat, was sie einmal bewundert oder verabscheut.

Die geographischen Gränzen des Kinderhorizontes dehnte nicht allein das neugierige Gelüst, sondern allmälig auch schon mancher glückliche Zufall oder eine besondere Gunst der Eltern aus. Da wurde wohl ein neues aus Aken oder Trakehnen gekommenes Pferd eingeschirrt, ein andres für die Cabrioletfahrt eingeschult. Da jagte man wohl einmal um alle Thore und sahe Felder und Hügel, riesengroße Windmühlen, einsame gräberbedeckte Kirchhöfe, ja in einiger Entfernung schoß man sogar an dem Galgen vorbei … Dieser Galgen ist jetzt von einer Eisenbahn wegrasirt. Ein Spielgenosse lockte einst den Knaben, als er schon zur Schule und mit ihm etwas in’s „Bubenhafte“ ging, zum Rosen-102thalerthor hinauszuwandern. Beide kommen zuerst in die Gegend, wo sich einer ausmündenden Straße gegenüber ein niedriges altes Haus mit einem Thürmchen erhebt. Dies Haus selbst, das Thürmchen genannt, stand in jener geheimnißvollen Wechselbeziehung mit dem westlichen Quadratflügel der Akademie. Zwischen dem Thürmchen und der Anatomie ging in stillem Abenddunkel regelmäßig ein polternder, dumpfhallender Karren hin und her. Da bringen sie schon wieder Einen! sagte der Vater, wenn unterm Fenster um die neunte Stunde das Rollen des schauerlichen Karrens erklang. Es war dann ein Selbstmörder, der gefahren kam, entweder zur Anatomie vom Thürmchen oder von dorther, geöffnet, zerschnitten, stückweise zurück zum Thürmchen, um dort sein stilles Grab zu finden. Wer in Berlin Hand an sein Leben legte, wurde damals zum Thürmchen gebracht. Wohl dem müden Leichnam, wenn die Prosektoren und der alte Knape aus der Charlottenstraße gemeldet hatten, sie hätten noch Material genug! Diese Art Verzeichniß von Menschen, die sich selber tödten konnten, diese laufende, unterm Fenster so hinrollende Chronik von stillen, lebensmüden oder verzweifelnden Entfernungen aus dem täglichen heitern Sonnen-Dasein prägte sich tief und schmerzenvoll in dem Kinderherzen ein. Der Vater „richtete“ beim Rollen des Karrens 103 immer streng, die Mutter seufzte milde. Jener sah den Teufel selbst hohnlachend vor dem Karren als lustigen Fuhrmann peitschen, diese blickte gen Himmel und sprach von der Gnade Gottes. Nun stand aber das Kind selbst einmal vor dem Kirchhof der Mörder am eignen Leben, vor dem grauenvollen Thürmchen. Der vorwitzige viel ältere Kamerad behauptete, man könnte Einlaß finden, wenn man nur sagte, man wollte die „Leichen“ sehen. An einem großen, mit Nägeln beschlagenen Holzthor klingelte auch schon der Muthige. Schlorrende Tritte ließen sich vernehmen. Eine Alte, anzusehen wie eine Hexe, öffnete und musterte die Jungen mit unheimlichem Auge. Als der Führer sein Begehren nach den „Leichen“ stotterte, schnarrte die Alte die vorwitzige junge Brut an, sagte, „die Leichen“ wären nur für die Herrschaften zu sehen und würde die Uebermüthigen nicht weiter eingelassen haben, wenn nicht eine unterirdische Stimme gerufen hätte: Den Kirchhof könnt Ihr sehen! Die Stimme kam aus einem Keller im Hofe. Die Knaben schossen wie der Blitz auf den großen grünen Anger, der sich sogleich hinter einer halboffenen Thür frei und breit darbot. Hier auf dem baum- und blüthenlosen Kirchhof hing allerlei Wäsche, wurde Linnen gebleicht. Zur Rechten lagen aber die Gräber. Sie waren wohl hie und da mit dünnem verbranntem Rasen bedeckt, aber namenlos alle, ohne Kreuze, ohne den Schatten eines Baumes, ohne 104 den Schmuck einer Blume. Vergiftet, erhängt, ersäuft alle diese Opfer der Verzweiflung. Eine offne Grube erwartete einen neuen Ankömmling, der vielleicht eben noch auf der Berliner „Morgue“, der Stadtvogtei, oder schon auf dem Sezirtische der Anatomie lag. Die Knaben hätten nun über die Mauer in die Linienstraße springen können. Sie sahen aber in dem alten Vorderhause, das nach Art eines von der noch unangebauten Stadt entlegenen Hospitals, eines klösterlichen Siechenhauses oder „Gutleuthofs“, wie man im südlichen Deutschland ähnliche Herbergen der geistig und körperlich Aussätzigen nannte, errichtet war, Welche von jenen Herrschaften eintreten, für die allein die „Leichen“ des Thürmchens da sein sollten. Sie kehrten um, schlichen sich näher und wagten es, dem inzwischen aus dem Keller hervorgekrochenen freundlichen Todtengräber und den Fremden sich anzuschließen. Es hieß, diese wollten die „Muhmen“ sehen. Die Kinder staunten nicht wenig, daß die weltbekannten „Leichen“ des Thürmchens die Muhmen dieser Fremden sein sollten. Sie wußten noch nichts von den Mumien, weder den ägyptischen, noch denen der Hospitalstraße. Mumien aber, d. h. ausgedörrte, nicht verweste alte Leichname waren die von den Fremden besichtigten und von den Knaben an der Thür eines Kellergewölbes belauschten Merkwürdigkeiten des Thürmchens. Der Todtengräber öffnete einen alten Sarg und 105 zeigte auf zwei braunlederne, wie von Wäscherinnenhand zusammen „gewrungene“ große Lappen, die sicher Menschen gewesen waren. Die Kinder faßten die Sache fast so, als wenn diese ehemaligen Stiftsverwalter des Thürmchens noch so so, noch halb vielleicht lebten, ob sie doch gleich seit viel über hundert Jahren schon gestorben waren. Beklommen und doch neugierig traten sie näher und schüttelten sich vor Entsetzen über Menschen, die man wie gefrorne große Waschlappen hätte aufgreifen und sich damit ordentlich jagen können. Der Todtengräber versicherte wenigstens, diese „Muhmen“ wären leicht wie „Flederwische“. Nach Entrichtung eines Trinkgeldes von Seiten der Fremden wurde der Rückzug angetreten. Die Knaben schossen pfeilschnell und halb bösen Gewissens voraus und wurden von der am großen düstern Holzthor wartenden Sibylle mit etwas gemilderteren Scheltworten entlassen, als anfangs begrüßt. Wie rannten sie über die Hospitalstraße zum Rosenthaler Thor hinaus! Wie übermüthig waren sie, als ihnen dieser „kühne Wurf“ gelungen! Wie ging es an ein Ausmalen des Gesehenen! Die Mumien wurden jetzt die schönsten und gefälligsten Gestalten von der Welt und noch wie lebend! Der Schauer, sie gesehen zu haben, wurde ins Großartigste übertrieben und so war man denn, wie unwissentlich, gut vorbereitet, plötzlich auch an dem Galgen angekommen, auf dem noch erst kürzlich 106 der Mörder Jakobi „gerichtet“ war. Nun rieselten vollends erst Schrecken über die Rücken der jungen Melodramenliebhaber. Links lag die niedrige Scharfrichterei, rechts erhoben sich auf einem steinernen Unterbau drei hohe Balken, die oben in einem Dreieck verbunden waren. Ringsum die Korn- und Kartoffelfelder mit frohen jubilirenden Lerchen und blauen und rothen Blumen, nichts von Raben oder anderm unheimlichen Galgengeflügel. Der Kamerad war vorwitzig. Er forderte seinen jüngern Gefährten auf, mit ihm die steinerne Plattform zu besteigen. Zu groß war dessen Zagen, zu schreckend die Erinnerung an den geräderten Jacobi. Er blieb in der Ferne und bat den Freund himmelhoch, solchen Uebermuth zu unterlassen. Ha! Ha! rief dieser, ich gehe hinauf! Der Kleinere hielt den Freund zurück, sah die Vorbedeutung eines Unglücks, flehte mit ängstlich sich anklammernder Hand. Vergebens! Louis war wie Macbeth, als er sich vor den Zauberinnen nicht mehr fürchtete, seit er „mit Geistern zu Nacht gespeist.“ Er verlachte alle Bedenken, sprang auf die steinernen Stufen und rief, wie aus seiner Schornsteinluke ein Essenkehrer, ein prahlendes lautschallendes Hoho! mitten auf dem Galgen, an derselben Stelle, wo Jakobi gerädert war. Dann aber plötzlich hinunterspringend von der Plattform, mußte ihn, wenn nicht das ominöse Wagniß, doch der volle, gewaltige Rundblick über alle diese Felder, 107 Windmühlen, Häuser, Thürme hinweg doch erschreckt und plötzlich wie mit unsichtbaren Armen gefaßt, gepackt, emporgehalten haben. Es war ihm, als hätte er wirklich etwas geschaut. Es war ohne Zweifel nur das eigenthümliche Gefühl, das Jeden, der zum Reden auf eine Erhöhung tritt, die von unten hinauf gesehene Umgebung in ganz anderm Lichte erscheinen läßt. Louis wurde im Heimweg einsylbig. Lange hat sein zaghafter Gefährte das Gefühl nicht bewältigen können, daß sein Freund von dieser Versuchung noch sicher etwas Schlimmes würde zu befahren haben und Louis gerieth in der That auf irrende Bahnen, wurde wild, frech, trotzte seinen Eltern, schlug sie sogar. Immer dachte sein früherer Kumpan an das herausfordernde Hoho! auf dem Galgen und wagte nicht, Andern, die dem Wildling ein schlimmes Ende prophezeiten, davon zu erzählen. Aber die Orakel lügen zuweilen. Louis trat in die Königliche Eisengießerei vorm Oranienburger Thor als Maschinenarbeiter und brachte es durch Fleiß und Talent bis zum Ciseleur. Leider verhob er sich einst an einem schweren Eisenblock und fing trotz seiner Riesennatur an zu kränkeln. Dennoch erwarben ihm seine allgemein anerkannten Verdienste eine ehrenvolle Berufung nach Schlesien auf die Zinkwerke des Grafen Henckel von Donnersmark. Louis war dort einer der zuverlässigsten, bravsten Werkführer, heirathete, that Gutes auch seinen 108 früher geschlagenen, jetzt ausgesöhnten armen Eltern, siechte dahin und starb in der Blüthe seiner Jahre.

Wir übersprangen einen längeren Zeitraum und im ersten Kindesleben zählt doch ein Jahr für zehn, im Jüngling ein Jahr für fünf, im Mann eins nur für Eins, im Greise ein Jahr kaum noch für drei Monate … zurück zu der ersten noch halb bewußtlosen Altersstufe! … Die Gegend vor dem Oranienburger Thor war die früheste sichre Eroberung des schweifenden Entdeckers. Vom unheimlichen Voigtland, den Höhlen des Pauperismus, zogen sich damals einsame, wie endlos scheinende Sandflächen bis nach Tegel, wo die Geister der Wöllnerschen Zeit „dem dicken König“ den Muth zu religiöser Reaction eingespielt hatten, bis zum Gesundbrunnen und einer Saharawüste, die man den Wedding nennt, auf dessen tief im Sande angelegten Laufgräben, Schanzen und kleinen Belagerungsforts die Artillerie zu exerciren pflegte und jährlich an jedem dritten August oder „Königsgeburtstage“ ein Feuerwerk abbrannte, bei dessen Licht- und Farbenzaubern, Kanonenschlägen und Transparent-Inschriften der Bruder des Bombardiers nicht fehlen konnte, so sehr ihm vor Müdigkeit fast die Glieder zusammenbrachen. Auch die Nordwestseite Berlins wurde erforscht. Dort, wo jetzt neue Straßen und ganze Stadtviertel angebaut sind, lagen sonst Wiesen, Hecken, Kornfelder, Holzhöfe und theilweise mitten in den Ring-109mauern der Stadt. Da gab es einen Apollosaal, das schwache erste Vorbild jetziger Tempel bacchanalischer Lust, da erhob sich die erste Anlage jener königlichen Eisengießerei an der kleinen Panke und ihren sumpfigen, mit Birken bepflanzten Ufern; da lag in stiller Zurückgezogenheit das dem Laeso, sed invicto militi gewidmete Haus, wo Friedrich des Großen Invaliden ihre hölzernen Beine im Sonnenschein ausstreckten oder auf ihnen von einigen Gewerben heimkehrten, die sie, als im Handel mit Binsen zum Ausräumen der Pfeifen, in der Stadt, wenn auch blind oder einarmig, betrieben. Da lag die schreckenerregende Charité, das große von Friedrichs des Großen Vater so schon benannte Krankenhaus, das, wie dem Volke alle Krankenhäuser, gleichbedeutend mit dem Vorzimmer des Todes war und dem Kinde auch darum so schreckhaft erschien, weil es gehört hatte, daß seine Todten in „Nasenquetschern“ begraben wurden. So nannte das Volk Todtenladen, denen kein Maaß nach der Beschaffenheit der Leiche genommen wurde, sondern die passen mußten, ob auch die Nase dabei zu Grunde ging. Der Kindeslogik schien freilich den Nasenquetschern ein ganz absichtlicher Angriff grade auf die Nasen der Armen zum Grunde zu liegen. In den Garten der Narren wagte der Knabe zuweilen von der Thierarzneischule aus einzublicken. Diese großen Gartenanlagen existiren nicht 110 mehr. Links von der Friedrichsstraße abseits betrat man ein Thor, das in eine anmuthige Wiesengegend führte, durch die sich eine Allee von Kastanienbäumen zog. Da wo jetzt die Couplets des Friedrich Wilhelmstädtischen Theaters gesungen werden, wurden sonst kranke Pferde obducirt, thierische Mißgeburten ausgebälgt, sogar einst ein großer, in voller Verwesung begriffener Wallfisch zur Schau gestellt. Diese geheimnißvolle, den kranken Thieren gewidmete Gegend gränzte an einen Garten, wo zum Thiere herabgesunkene Menschen wahnsinnig hin- und herrannten, aus Büchern laut predigten, boshaft auflachten, schnöde sich einander begrinzten und maßen oder auch still mit dem Spaten im Boden gruben und dabei weltliche und geistliche Lieder sangen. Die Astlöcher der Bretterwand erlaubten dem Knaben den Durchblick; aber die Bosheit manches Tollen, der die Lauscher bemerkte, hatte schon arge Verwundungen herbeigeführt. Die Narren lauerten mit Nadelspitzen, Holzsplittern, mit Sand, um die neugierigen Augen der übermüthigen Vernünftigen zu strafen.

Nun wuchs auch die Kenntniß der lärmenden, menschengedrängten innern Stadt. Heu und Stroh holen zu helfen vom Königlichen Magazin an der Waisenhausbrücke, welche Lust! Dies schwankende und doch sichre Thronen auf dem hochbeladenen Wagen mit vier stattlichen Rossen! Oder ein Ausflug nach der Alexan-111derstraße, an dem unheimlichen „Ochsenkopf“, dem Arbeitshause der Bettler, Vagabunden und rettungslos Verarmten vorüber, in die große Brodbäckerei, wo die Commis-Brod-Laibe wie Mauersteine aufgeschichtet standen und auch wie Mauersteine beim Bauen von Mann zu Mann geworfen und eben so aufgeladen wurden. Die innere stoßende und drängende Stadt, die handelsreiche Königsstraße, das alterthümliche Rathhaus mit dem Prangerhalseisen, die düstre Stadtvogtei, der Mühlendamm mit seinen mehlstaubbestreuten Colonaden, die alten ehrwürdigen Kirchen, der freundlichheitre Spittelmarkt mit seinen Obstverkäufern, runden Fischfässern, Buden, Vögelverkäufern, Kaninchenfütterern und seiner Bürgerschützenwache, den sogenannten „Rauhbeinigen“, deren Hauptquartier der Schützenplatz, eine Art Jahrmarkt von Plundersweilern war, wo gewürfelt, gezecht, gesungen, georgelt und manche Mordthat von der bemalten Leinewand erklärt und dicht über den Todten der ringsumliegenden Kirchhöfe hinweg nach dem „Vogel“ geschossen wurde; der Dönhofsplatz mit seinen langen exercierenden Soldatenreihen, die Jakobsstraße und der Durchgang über den pappelbepflanzten, hollunderbuschreichen Friedhof der Louisenkirche hinüber in das gelobte Land der damaligen Jugend, die Hasenhaide der Jahnschen Turner, … das Rondeel am Hallischen Thore mit seinem Echo, die 112 schweigsamehrwürdige Lindenstraße mit ihrem mystischen Kammergericht, das Köpenicker Thor mit seiner einsamen, gewiß recht das Schweizerheimweh der früheren Bewohner weckenden Neufchatellerkaserne, das jenseitige Spreeufer mit seinen endlosen Gassen, wenn man den Stralower Fischzugtummelplatz erreichen wollte … und alle diese breiten Flächen, durchzogen von so vielen geheimnißvollen Gärten mit hohen Mauern oder Zäunen, durch die blinzelnd allerlei vornehme poetische Idylle sich in dieser schwatzhaften Stadt als möglich erwies, so viel Wasser, so viel kleine Brückchen, so viel grau Alterthümliches, so viel Rokoko-Geschnörkeltes mit Hermensäulen, Karyatiden, steinernen Helmen und Medusenköpfen, so viel Winkelwerk, so viel Unbenennbares, so viel dem Kindessinn tiefinnerlichst Anonymes, selbst wenn es einen Namen hatte … Alles, Alles das war grade deshalb eine so reiche, so vielbewegte Welt, weil diese Hauptstadt in ihrer gewaltigen bequemen Ausdehnung damals eigentlich nirgend etwas so eigentlich imposant Großstädtisches hatte, wie Paris oder London oder auch seine jetzige Uebervölkerung, sondern sich in dieser reichen Mannichfaltigkeit selbst von einem Kinde allmälig traulich und gemüthlich übersehen ließ.

Mit ganz besondern reizenden Schauern erfüllten das Knabenherz drei schon entlegenere Oertlichkeiten, 113 das Dorf Schönhausen, die Residenz Charlottenburg, die Festung Spandau. Die Umstände, unter denen diese Orte gesehen wurden, waren keine gewöhnlichen und führen den Demokraten wieder in die Sphäre der Hohenzollern zurück.

114 IV.#

Sommerlich wohnte in Schönhausen jener Prinz, in dessen Diensten nun sogar beide Schulmeisterwaisen aus Pommerland standen, der Maurer und auch der ehemalige Schneider. Letztrer sogar in einer den hohen Herrschaften unmittelbarsten Nähe. Dies kleine hinter Pankow gelegene Schloß Schönhausen war von einem Parke eingefriedigt, der seine Alleen, Boulingreens, Blumenterrassen, Wasserfälle, kleinen Springbrunnen, seine künstlichen Felsen und von Birkenholz gezimmerten Brückchen hatte wie nur im größeren Style ein Park von Kassel, von Stuttgart oder Versailles. Dem Schlosse gegenüber lagen zwei Reihen Wirthschaftshäuser, die zur Hofhaltung gehörten. Ringsum Felder, Wiesen, Dörfer wie eben die märkischen sind, mit Stroh- und Schindeldächern, großen Wassertümpeln in der Mitte für die Gänse und die Dorfjugend, einer freund-115lichen, gewiß uralten Kirche, aber sonst wenig Rührsamkeit oder Geist oder Geschmack der Bewohner verrathend … In diese prinzliche Herrlichkeit ging es schon des Morgens in aller Frühe. Von einem Wirthschaftswagen mitgenommen zu werden und unter den Blüthen und Zweigen der Pankower Landstraße so hinfahren, daß die Hand Blüthen und Zweige im raschen Fluge haschen, abstreifen konnte; so schon des Morgens, wenn alle Glocken läuteten, hinaus aus der staubigen Stadt in die Welt der Lerchen und Schmetterlinge – das gab einen unvergeßlichen Tag der Freude! Alles so still, so feierlich, so morgenfrüh und sonntagsgeweiht in der Natur. In Pankow links schnurrte die Orgel in der kleinen Kirche. Man fuhr vorüber nach Schönhausen, dessen Park mit seinen alten Linden- und Buchenbäumen zur Rechten sich öffnete. Der Onkel in der Livree empfing die Ankommenden unter einem Heck von weißem Flieder, das sich an den Wänden der Dienstwohnungen hinzog und die Aussicht nach den Kirschenbäumen von Französisch Buchholz bot. Wie brannte da die Sonne! Wie summten die Käfer! Wie klopfte das Herz, als der Tisch im Freien gedeckt wurde und es aus blendweißem Prinzen-Porzellan mit den gemalten goldenen Wappen des gebietenden Herrn drüben im Schlosse, Reis in Milch oder gar eine Tafelreliquie zu verzehren gab! Hier waltete ein Arka-116dien. Hier sollte der Mensch mit dem Menschen gehen. Wie lieblich diese Niederlassung! Ein poetischer Schmerz hatte sie geschaffen, die Entsagung gepflegt. Die Gattin Friedrichs des Großen, ohne Anspruch auf Liebe, suchte Trost hier in der Natur. Das von dem intriguanten Eosander von Göthe einst gebaute Schloß wurde von der schon bei Lebzeiten ihres Gatten wie Wittwe gewordenen Königin von Grund aus verändert, die Umgebung wie neu geschaffen. Sonst gab es hier Orangerieen, Fasanen, sogar Seidenbau. Von dieser Herrlichkeit hatte sich nur, was reine freie Natur, erhalten. Uralte Eichenbäume, Akazien mit wilden Rosen umrankt, muntre Bäche durch Schilf und an Vergißmeinnichtufern sich hinschlängelnd. Vom Seidenbau blieben die Maulbeerbäume. Welche paradiesische Welt! Bienen, Käfer, Blumen! Und daß man halb hierher gehörte, halb hier heimisch war, mehr als geduldet! Die Fürstin Marianne lud alles was jung und frisch, besonders die Dorfkinder von Schönhausen, zu sich ein und ließ sie mit den eignen Söhnen und Töchtern, – unter ihnen jetzt eine Königin – auf einige Stunden Kameradschaft schließen. Die Lakaien putzten natürlich erst den Bauernjungen die Nasen und die Kammerjungfern untersuchten die Mädchen, ob sie ordentlich gewaschen und gekämmt waren. Dann durfte der ganze Troß mit den größeren und kleineren Hoheiten an langgedeckten Tischen frischgestrichene But-117tersemmeln schmausen, Milch trinken oder Kirschen und Birnen essen. Arme Täuschung einer gewiß wohlgemeinten Absicht! In dieser Form kann allerdings die künftige vornehme Herablassung angebahnt werden, aber ob auch die wahre Demuth und die Bescheidenheit der Großen? Es wurde gespielt zwischen Arm und Reich, Gering und Vornehm. Aber nur der wilde Necksinn und Haschegeist tobt sich doch wohl allein da bei dem vornehmen Blute aus. Es wird ihm die erste Gelegenheit geboten, seine Kraft, sein Vorrecht zu üben. Die Unbill der jungen Löwen muß schon sehr wild und übermüthig werden, wenn die zuschauende Brille des Hofgelehrten bei einer Gewaltthat den Ausschlag nach der leidenden Seite hin giebt. Die jungen Herrscher im Wüstenreich üben in diesem Spiel mit kleinen Hunden und Katzen doch nur ihre erste Kraft, erhalten ihre erste Ahnung von der Allmacht des künftigen Riesen, nicht von seiner Schwäche und seiner oft so nothwendigen Demuth. Im fünfzehnten Jahre hört doch all diese angebahnte „Popularität“, all dieser Umgang mit Menschenspielzeug auf. Dann bekommen die jungen Göttersöhne „ebenbürtige“ Gesellschaft und grade umgekehrt – wäre besser gewesen. Bei erwachender Kraft sogleich Aufforderung zur Selbstbeschränkung, im ersten Vollgefühl gleich der Bruch durch feinere Spielkameradschaft, die sich nicht unbedingt ergiebt, sondern zu wehren weiß, und dem gereiften 118 Jüngling dann immerhin Bauernknaben und die Armuth, nicht aber zum Spiel und Umgang, sondern zum Studium!

In Prinzessin Marianne wohnte ein wirklich idyllisch-poetischer gemüthvoller Sinn. Diese hohe Dame hätte am liebsten immer im Freien gelebt unter blauem Himmelszelt und wäre auf grünem Wiesenteppich am liebsten durchs Leben gewandelt. Ihre Tafel wurde, wenn irgend möglich, unter einigen Orangebäumen und Blumenterrassen an der Gartenfronte des kleinen, dumpfdüstern und etwas feuchten Schlosses aufgeschlagen. Ihr hoheitsvoller Schritt wandte sich gern mit werkthätiger Theilnahme mitten ins Leben der Armen. Sie suchte da auch für die christliche Wiedergeburt zu wirken, die damals den Pietismus in Preußen zu so hoher Geltung brachte. Daß aber ein freigewordenes Bewußtsein auch hier wieder von den wohlmeinenden Menschen leider abweichen muß! Die Gottseligkeit trat in dieser Sphäre nicht als das dürre Skelett auf, wie sich der Pietismus schon in einigen Kirchen und den Conventikeln zeigte oder mit jenem Cynismus, wie bei unserm apokalyptischen Vetter Wilhelm. Die Bedürfnisse des Luxus verschönerten ja das Prinzip der weltlichen Entsagung und hauchten auch darüber eine Grazie, die ihren eigenen speziellen Reiz hat. Der Erlöser wird hier nicht nur im Herzen getragen, sondern auch auf ihm, und ist dieß in Gestalt einer 119 Mosaik-Broche nach Carlo Dolce, was ist da groß Entsagung? Es schwebt dem gläubigen Blick nicht nur das Kreuz unsichtbar im Gehen und Wandeln vorm Auge, sondern an der Wand vermittelt ein Gemälde von Wach oder Begas, in schwerem goldnen Rahmen, das innere Bedürfniß des Herzens auch mit dem äußern des Auges. Die Großen haben gut ausrufen: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ Der Herr schmückt ihnen ihr Haus mit Crucifixen von Silber, Breviarien voll reizender Miniaturen, Bibeln voll Handzeichnungen von Cornelius, mit bunten gebrannten Fensterscheiben nach Werken von Overbeck, mit geschnitzten Betstühlen aus Jacarandenholz. Sammetpolster erleichtern das Knieen. Franzen spielen um die zum Beten gekreuzten Hände. Der vornehme Pietismus kann an Pascal, an Paul Gerhard, an Angelus Silesius ein allgemein-literarisches, ein poetisch-geistreiches Interesse wie an Göthe und Jean Paul nehmen, während Schmolke und Arndts wahres Christenthum für die geistige und leibliche Armuth spezifisch völlig anders wirken, als Pascal, Paul Gerhard, Angelus Silesius für die vornehme Bildung wirken. Ein bekannter Monarch unter seinen Kupferstichmappen, unter seinen Grundrissen zu byzantinischen Bauten, unter seinem Studium des Puseyismus und der anglikanischen Kirche befriedigt mit diesem exclusiven Geschmack in sich ein spezifisch andres Bedürfniß, als sein Volk mit 120 dem Oberkirchenrath, der Gemeindezucht und der Sonntagsfeier oder der Arme mit seinem Porstenschen Gesangbuch befriedigen soll. Die grünen Pfingstmaien, die das Haus des Armen schmücken sollen, werden nicht von jenem Cedernbaum gebrochen, unter dessen heiligen Schatten sich die exclusive Bildung in reizendster Geistigkeit gehoben fühlt. Euch tischt der Pietismus goldne Früchte in silbernen Schalen auf, dem Armen aber auf kahlem Sandboden nur die ewig dürren Tannenzapfen der Entsagung!

Die Heuchelei und der Fanatismus beißen freilich auch auf diese Tannenzapfen an. Was wird nicht in der Nähe der Großen geheuchelt und schaamlos gelogen! Diese edle Fürstin mahnte überall zur Bekehrung. Die Sünder schlugen die lügenden Augen nieder, andre Wiedergeborne hoben sie verzückt empor. Und leider läßt sich eine gute Seite selbst der Heuchelei nicht absprechen. Die äußern Sitten mildern sich; wenigstens scheinbar kehrt man einen Menschen heraus, der seine Leidenschaften bekämpft. Wie lange es währt, wie lange man den innern morschen Schwamm verbirgt, wie lange sich die Großen ihre Umgebung künstlich wie eine grüne stille Vegetation erschaffen, endlich wird doch die Wahrheit an den Tag kommen und die grüne Fläche sind dann Wasserlinsen auf einem Sumpf gewesen. Sie wollen es aber nicht hören, sie suchen keine Aufklärung, sie lassen 121 Alles ununtersucht hingehen, wenn nur nicht die Täuschung sich von selber aufdeckt und die Heuchler, denen Güte und Vertrauen die meisten Wohlthaten zuwandte, sich zuletzt auch zu scheußlich undankbar und grauenvoll unwürdig zeigen. An Beispielen für diese bittere Erfahrung fehlte es nicht in jenem hohen, von einem Kinde beobachteten Kreise.

Der Apokalyptiker hatte auch hierin den rechten Maaßstab. Er machte kein Wesens von der Frömmigkeit der Großen. Wenn die Carossen an der Spittel- oder Georgen- oder Böhmischen Kirche so dicht gedrängt standen, daß die Armen kaum zur Thüre einkonnten, lächelte er über die geputzte Herrlichkeit und kam meistentheils auf die Pharisäer zurück und den Spruch vom Nadelöhr, durch das eher ein Kameel hindurch käme, als daß ein Reicher ins Himmelreich käme. Er erklärte, den Wahn der Großen wohl zu kennen, die sich einbildeten, auch dermaleinst im Himmel, wie in der Spittelkirche, die ersten Plätze, wie der Kanzel so dem Throne Gottes gegenüber, zu erhalten. Sehr verdächtig war ihm die neue Hof- und Dom-Agende mit ihrer katholischen Liturgie. Er witterte auch darin etwas von den geheimen Künsten seiner „Propriande“, die nicht eher ruhen würde, als bis in Berlin ein römischer Bischof säße. Sind die apokalyptischen Zeiten nun nicht da?

Charlottenburg und die Veste Spandau wurden dem Bruder zu Lieb besucht, der alle zwei Jahre dort 122 in Garnison stand. Diese Reisewanderungen mit allem Reiz der buntesten Abwechselung begannen Sonntags in erster geheimster Morgenfrühe. Grau und leichenfahl lag noch Dämmerung auf allen Straßen; sogar der weltberühmte Berliner Staub war noch vom Thau befeuchtet niedergeschlagen. Durch den grünen Kastanienwald der Universität schimmerte ein lichter Streifen purpurgelber Frühröthe. Schlimme Vorbedeutung, wenn auf dem nahen „Hühnerhof“ die Hähne krähten und es Regen geben konnte! Unter den Linden, in den Palästen der Vornehmen alles noch im tiefsten Schlummer, selbst diejenigen Läden noch geschlossen, die sich am ersten zu öffnen pflegen, die der Bäcker. Im Thiergarten dann, wie zwitscherte es von allen Zweigen! An der breiten, wohlgepflegten Kunststraße entlang rechts und links ziehen sich niedere Wege, die in frohem Gleichschritt erwartungsvoll glückselig durchmessen wurden. Durch die Säulen des Brandenburger Thores mehrte sich schon die Gluth der erwachenden Sonne. Die Hähne hatten Unrecht. Es giebt das herrlichste Wetter. Der Thiergarten, damals noch so wild, so verworren, so sumpfigüppig. Noch herrschte hier Herr Fintelmann, nicht der Parkologe Lenné. Hinter dem früheren „Venusbassin“, späteren prosaischeren Karpfenteich, linker Hand vom Wege, wucherte es von Schaafgarben, Winden, Farrenkräutern, Schirling und 123 Wolfsmilch. Eidechsen huschen in die hohen Gräser. Rechts der Blick nach dem sogar von Delille besungenen Bellevüe und der vielbewunderten bronzenen Kanone, die Prinz August, ein berühmter Held (in der Prusse galante), eigenhändig von Franzosen erobert haben soll. Nun kam das freundliche Rondeel, das mit einigen finger- und nasenlosen Sandsteinfiguren geziert war und vom Volke ohne besondere Kunstneigung: „Die Puppen“, („hochdeutsch“: „Die Pupfen“) genannt wurde, sonst aber, zu Knobelsdorfs Zeiten, auch poetischer, der „große Stern“ hieß. Rings geschnittene Hecken. Die Gränze Bellevües mit einem erhöhten chinesischen Pavillon. Weiter schreitend mehrte sich die wilde Sumpfvegetation. Lazerten und Frösche huschen erschreckend vor den Frühwanderern in das bergende Dickicht, wo auf moorigem Boden die fächerpalmenartigen Farrenkräuter sich strecken, die lockenden Blüthen der giftigen Aaronswurzel auf schwarzbraunem Stengel sich wiegen, gelbweiße große Pilze sich von einem inzwischen abgebrochenen grünen Wanderstecken eine rasche Zerstörung gefallen lassen müssen. Endlich war der Schlagbaum der Wegegeldabgabe erreicht, wo ein Wagenlenker des Königs noch kürzlich, an den Säulen anstreifend, den Hals bricht. Der Unfall wird vom Vater in den kleinsten Details erzählt, ganz so, wie die Mutter seine schauerliche Ausführlichkeit und allzulebhafte Phantasie „in 124 den Tod“ nicht leiden konnte. Schon blitzten die Sonnenstrahlen inzwischen in voller Kraft und vergoldeten die Fasanerie, das Crelingerberühmte „Knie“ und vor dem Blicke liegend nun Charlottenburg, wo es schon lebendig geworden. Rüstete sich hier Sonntags doch alles auf die Gäste der großen Residenz. Da öffneten sich die Jalousieen der Sommerwohnungen, Blumen, besonders die Lieblinge jener Epoche, die Hortensien, wurden erfrischt, die Wege vorm Hause gegen den drohenden Sonntagsstaub im Voraus benetzt. Links belebte sich schon der große Platz, wo der berühmte Kolter seine halsbrechenden Seiltänzerkünste zeigte. Und die Bäckerläden sind offen! Vorräthe für Spandau werden frisch vom heißen Brett gekauft! Wie knistert das warme gelbe Brod! Wie wird die Waare von Charlottenburg gerühmt, mit der Berliner verglichen, wie wird die großstädtische Bäckerinnung als die selbstsüchtigste, hochmüthigste und „bredalste“ (brutalste) aller Berliner Gilden attakirt! Das stolze Schloß zur Rechten mit seinem grünen Kupferdach und der goldnen Krone unterbricht diese Vergleiche. Jetzt würde sich der Blick an dem Wetteifer laben, der in diesem stattlichen Gebäude zwischen seinen beiden sich so feindlichen Erbauern, Schlüter und Eosander von Göthe, erkennbar ist; damals lag die ganze Herrlichkeit dieses Schlosses nur in einer großen Gartenglocke, die im Parkteiche uralte be-125mooste Karpfenhäupter auf den obern Wasserspiegel lockt. Das Ohr lauschte dem Wiehern und Kettenrasseln an den linksliegenden Ställen der helmbebuschten Eisenreiter. Diese gewaltigen Reisige ruft eben die Trompete zum Füttern der Pferde. Wie solche Morgenreveilletöne, ob nun in Kirchenvigilien oder im zweiten Akt von Mehuls Joseph in Egypten oder wie hier bei Kriegern, so liebevoll beredsam zum Leben aufrufen! Die Reveillecadenz der Berliner Signalhörner, aufsteigend erst, dann sich senkend, dann so lang hingezogen und in den Sonnenaufgang hinein melancholisch verhallend, ist des Knaben süßeste erste musikalische Erinnerung. Hier bei den Reitern hatte die schmetternde Trompete nicht den schönen Tonfall wie das Signalhorn von der Königswache in Berlin herüber durch den Kastanienwald, aber mit frohem Muthe ging es doch hinter den Magazinen der Gardes du Corps jetzt der steigenden Sandebene zu, die damals ein mühseliger Weg nach Spandau durchschnitt. Jetzt braust hier die Locomotive; damals war noch nicht einmal jene Kunststraße gebaut, von der man erzählte, daß sie ein gewaltthätiger bürgerlicher Gutsbesitzer, der im Jähzorn einen Knecht erschlagen, zur Ablösung der Todesstrafe hatte erbauen müssen. Diese mühselige Wanderung über die sandige Steppe, die dünngesäeten Kornfelder und die allein nur hier ganz gedeihenden, blühenden Kartoffeln! Dennoch sang die Lerche hier so gut, 126 wie sie nur auf der goldnen Aue singen mag, sie hob sich, sie schwebte, sie wirbelte nieder und machte Muth, tapfer auszuharren. Kam doch hinter einer großen einsamen Windmühle bald eine Waldstrecke, die gegen den nun schon immer heißeren Sonnenstrahl Schatten bot. Es waren nur Tannen, nur Birken, aber sie standen dichtgeschaart. Ueber ihre knorrigen aus der Erde starrenden Wurzeln hinweg schritt sich’s wohlig und heiter und oft betrachteten wir die Stelle, wo in dieser verrufenen, bis nach Potsdam sich hinziehenden Waldwildniß bei nächtlicher Rückkehr von Berlin der Bruder von „Räubern“ angefallen war und mit seinem Säbel sich erst hatte Weg bahnen müssen. Endlich öffneten sich die Niederungen, die zur rechtsherum mit gefälligster Waldumkränzung sich ziehenden Spree führten. Der Weg ging abwärts und bot in den sich niedersenkenden Baumgruppen, durch die die Sonnenlichter, die grünen Wiesen, die Wogen des Flusses und schon die Thürme Spandau’s mit ihren goldnen Zifferblättern blitzten, während links der Wald an Dichtigkeit zunehmend, emporstieg zu der „Gebirgskette“ der Pichelsberge, einen malerischen Anblick. Nun quer um Heck und Zaun herum über die Wiesen. An einem langen Erdwall wurde still gehalten. Hier unter hunderttausenden weißer Sternblümchen lagen die gefallenen jungen Freiwilligen, die 1813 Spandau von den 127 Franzosen zurückerobern wollten. Es läuteten schon die Glocken der nahen Stadt herüber zur Kirche. Rechts lag schon die wasserumgürtete uralte, von Italienern unter Leitung des Florentinischen Grafen von Lynar erbaute Festung mit der schwarzweißen Fahne. Der von der Jungfernheide malerisch umkränzte Fluß belebte sich oder „Schifferkähne“ hielten Sonntagsrast an seinen Ufern. Eine schwarzweiß bemalte Zugbrücke führte endlich in die Stadt, deren Thor ein gewaltiger Thurm schützte, den sich die Knaben-Phantasie nur als über und über mit Pulver angefüllt dachte. Der Vater öffnete den Deckel seiner Pfeife, schüttete die Asche in den Zusammenfluß der Spree mit der Havel, steckte den noch heißen Pfeifenkopf in die Tasche, wünschte dem Brückenmeister einen guten Morgen! Man war in Spandau.

Diese mühselige dreistündige Wanderung mit Weib und Kind, mit Verwandten und liebendem Anhang! Und Abends zu Fuß zurück mit gleichem Muthe! Die Belohnung, den Bruder mit dem stolzen schwankenden Federbusch auf dem Appell zu sehen, seine kommandirende Stimme bei der Kirchenparade zu hören, sein Quartier hinterm Kinkel-berühmten Zuchthause zu besuchen, Nachmittags in die innere Festung zu wandern, den Juliusthurm, die Baukünste der Italiener und jenes poetischen, abenteuerlichen Lynar, der am Tassohofe von Ferrara erzogen, die Mark mit Italien vermit-128telte, zu bestaunen, sich dort wiegen und im uralten Wagebuch notiren zu lassen, dann auf dem Schützenhause die Philister kegeln zu sehen, welche Reisebelohnung! Zu fragen und zu träumen, zu gaffen und zu hören gab es da Unermeßliches. Nicht nur die großartigen Thatsachen vom Glaçis, von den Laufgräben, von Pallisaden, Schanzkörben, den Ueberschwemmungsschleusen, den Kasematten, den Mörsern, den Bomben – die Festung hat mit ihrem Wasser, ihren Bauholzplätzen, pappelgeschmückten Eingangsthoren etwas Holländisches und würde sich mit Winterstaffage ganz wie ein Vandervelde ausnehmen – nicht nur die Chronik des Zuchthauses, die von den galgenwürdigsten Verbrechern, die Chronik der Festung, die von Studenten mit langen Haaren und Bärten erzählte, sondern auch die kleine Bürgerwelt nahm den gaffenden, horchenden, lauernden Kindersinn gefangen und wär’ es nur eine Spandauer Tischler- oder Schusterwerkstatt gewesen, durch deren sonntägliche Ruhe man hindurchschreiten mußte, um in’s Quartier des Bruders zu kommen, oder ein Kamerad, der von seiner schlesischen Heimath erzählte, oder die Frau des Feldwebels, die die Großartige spielen wollte und die fremden Gäste lukullisch zu bewirthen sich tummelte. Wie wurde inzwischen wieder das Brod von Spandau gerühmt! Wie wurden diese schlichten kleinstädtischen Bäcker wieder den Berlinern 129 zum Muster empfohlen! Wie wurden Fleisch, Mehl, Hülsenfrüchte in ihren laufenden Preisen und ihrer unverfälschten, quellenreinen Güte mit der Theurung in der sündenverlornen, lug- und trugergebenen Hauptstadt verglichen! Die halbe Welt der Kleinen dreht sich ja um nichts, als um die nächste Existenz und die Chronik des Marktes. Man reichte sich wonnevoll das Weißbrod im Kreise, pries die Krume, wie locker, wie ausgebacken sie war. Man bewunderte den Reichthum an kleinen, weißen, rothflossigen Fischen, den die zur Havel gewordene Spree wohlfeil abwarf. Konnte man einen so glücklichen Ort verlassen, ohne sich noch einen Sack voll gedörrten Obstes mitzunehmen? Wie glücklich wurde der gepriesen, der hier im Bunde mit vier oder fünf Nachbarn ein Schwein sich mästen, für sich allein drei Gänse im Koben „nudeln“ konnte! Welch ein unerschöpfliches Thema dieser Kampf der geringen Mittel mit dem großen Bedürfniß des Lebens! Und wie weiß es Einer immer besser, als der Andre! Wie reich sind diese Erfahrungen, wie mannichfach diese Methoden zum Leben! Sparen, zu Etwas kommen, sich einrichten, das sind die gemeinsamen Ziele des gemeinsamen Wettlaufes, wo es aber die kleine runde Frau des Einen so, die magere lange des Andern ganz anders anfängt. O die Männer müssen denken und sollen auch denken, sie hätten Hennen mit goldnen Eiern geheirathet. Die 130 Männer schweigen zu all den Frauenprahlereien, blicken nur ernst, hören den Zungenherrlichkeiten mit holländischer Geduld zu, rauchen gläubig oder lächelnd ungläubig aus den kurzen thönernen Staatspfeifen, trinken ihr leckeres Spandauer Bier und erfahren jetzt erst, was ihnen eigentlich in ihren Ehehälften für eine wunderbare Bescheerung wurde. Manche schäkern wohl auch mit den fremden Weibsen, verlassen die Parthie ihrer Frau, schmunzeln mit der redseligen Spandauer Frau Meisterin, die ein so windschnelles Mundwerk hat. Das setzt dann hintennach tragische Heimgangsdialoge, schmollende, ohnehin prickelnde Ermüdungsvorwürfe, zankende Gardinenpredigten … und die sonnenhellsten Tage endeten dann wohl gar, wie die Hähne prophezeit hatten, wirklich mit Blitz und Donner … und „kein Mensch mehr brächte Einen dahinüber nach Spandau …“ und um das Unglück voll zu machen, kochen sich hintennach die mitgebrachten gebackenen Dürrfrüchte ganz erbärmlich, sind steinhart und reichen nicht im Entferntesten an die Waare, die man von dem großstädtischen Vorkosthändler an der Friedrichs- und Dorotheenstraßenecke geliefert bekommt. Durchzieht diese Staffage mit einigen wunderlichen Lebensverwickelungen, so habt Ihr die ganze Welt des norddeutschen kleinen Bürgers und seines Lebens einzige bescheidene Romantik!

131 Wohin horcht nicht alles ein Kinderohr und schleicht sich leise in die Menschenzustände ein! Es ahnt so früh, so früh schon auch die zerreißende Dissonanz des Lebens. Das Kind schreit auf, wenn der Druck des rauhen Daseins und der Unbildung auf die zarte Seele auch zu hart, zu plump gewaltthätig wird. Es möchte so gern in Liebe alles verbinden, jeden Zwiespalt versöhnen, überall nur Glück und Freude sehen. Die Vögel können aber im Sturm nicht ängstlicher flattern, wie ein Kinderherz zittert, wenn nur schon die Wolken heraufziehen, die Leidenschaften so im Voraus erst plänkeln, erst schußfertig sind, noch gar nicht pelotonweise losstürmen. Aber kommen dann die Salven, kommen dann die rechten Kreuzfeuer, Ladung auf Ladung, wie fliegen die jammernden Friedensstifter hin und her und beschwören die Partheien bei allen Himmeln, allen Paradiesen, abzulassen von der schnöden, wilden Menschennatur! Und immer schwerer wird das Weh in der Kinderbrust. Es ballt sich beim Anblick so vieler Wildheit die Wolke zusammen, die nun gleich regnen muß. Sie kann sich nicht mehr halten in der freien Luftschwebe, sie muß hernieder, muß weinen. Armer Narr! Gewöhne dich nur an den Einblick in die bewußte Thatkraft des mündigen Lebens, an dies Unglück, an jenes Verbrechen, an tausend Rechnungen, die nicht mehr so aufgehen, wie deine ersten Exempel auf der schwarzen Schiefertafel! Da kommt ein Haufe Men-132schen. Ein Reiter stürzte, wird getragen, das Pferd zerschlug ihm mit dem Huf die Brust; er sieht noch etwas wie irr im Kreise um sich, das Auge bricht, er ist todt. Ein lieber Gespiele legt sich aufs Krankenlager, sie fahren ihn im Sarge hinaus auf den Friedhof. Die Erfüllung eines Wunsches, die ein Großer den Eltern verspricht, schlägt fehl. Der Vater kommt händeringend, er hat einen Brief mit Geld verloren, der nicht ihm gehörte. Bei einem Verwandten wird gestohlen, eingebrochen, der Armuth noch ihre Dürftigkeit geraubt. Der Druck schlechter Zeiten, das Zurückgehen der Geschäfte sind Dämonen, die sich mit kummervoller Miene, das Haupt aufstützend in einem Winkel der Stube wie der jüdische Dalles hocken, keine Antwort geben, wenn man sie anredet, starr zur Erde niederblicken und im Kinde die ersten Zweifel an Gottes liebendem Vaterherzen wecken. O wie verdunkelt sich immer mehr der blaue Wolkengrund, in dem sich das Kind leibhaftig thronend auf goldnen Sonnenstreifen den Herrn der Erde, den Vater im Himmel dachte! So leibhaftig, so wie gemalt im Bilde schwebt im Abendsonnenlicht der ernste Patriarch mit ehrwürdigem Bart, der die Welt geschaffen hat, vor dem vertrauenden Auge des Kindes. Aber Satans Macht wächst, wächst immer höher, immer weiter rückt das Gute hinweg und das Böse siegt zu oft. Die Sorge klopft an die Thür. Sie kommt auch ohne unser Herein! Sie wird Gast im 133 Hause, täglicher, sie bläst alle Kartenhäuser des Kindes um, wirft alles Spielzeug in die Ecke, rauft alle Blumen aus, beirrt den Wuchs, den freiaufstrebenden Wuchs des jungen Lebensmuthes, legt Bleigewicht an jede zu weit ausholende Pendelschwingung, verkümmert, verringert, beängstigt alle Athemzüge. Die Sorge kann sogar den Trieb der Freiheit für immer auslöschen wie ein Licht.

Der große sichtbare Gottvater in farbestrahlenden Wolken verschwindet auch dem rationellen Glauben des Kindes allmälig. Die innere Offenbarung regt sich. Es fangen Stimmen mit uns zu reden an, die nur von Geistern kommen können. Gott ist ein Geist und Unsichtbares auch umweht den jungen Keim, der sich vielmehr als Durchgang des Erdengeheimnisses noch fühlt, als der erstarkte künftige Stamm. Die räthselhafte unerklärliche Wehmuth des Kinderherzens überschleicht den Einsamen. Das Ziel des Lebens ist so hoch, die Welt so weit und du bist allein und hülflos! Wer wird deine Hand ergreifen, wer dich führen durch dies dunkle Labyrinth! Diese Kinderwehmuth … ist sie ein unerklärtes Heimweh zurück zum räthselhaften Lande des Nichts oder eine Vorahnung zukünftigen Lebens? Debetur puero reverentia! Wir schulden heilige Scheu dem Kinde! Darin liegt mehr, als nur die Aufforderung, dem Kinde sich nicht zu zeigen, wie Noah sich seinen Töchtern zeigte, mehr als die Aufforderung zu 134 moralischer Schicklichkeit. Ein sinniges Kind nimmt jeden Schmerz wie mit seinem ganzen offnen Nervengeflecht der Empfindung hin. Es geht ihm tief ins Leben, wenn es leidet. Eine Kinderkränkung wirkt nicht etwa blos äußerlich auf den Stolz und duckt etwa nur ein Stehaufmännchen in seine Schachtel nieder; nein, sie erzeugt eine so tiefe Verlassenheit des Gemüthes, eine solche Wehmuth aller Stimmungen, daß es mehr als Rohheit ist, wenn man glaubt, durch Spott oder lachende Zurede den innern Brand des doch großgeglaubten Unglücks zu kühlen. Die Armuth, die bürgerliche Armuth eines Strebsamen weckt Klagetöne der Seele, die sich in Worten nicht aussprechen lassen. Die Schwere des allgemeinen, so endlichen, so halben Menschenlooses fällt schon beim Kinde so gewaltsam oft ins Herz nieder, daß der Erzieher nicht sanft und mitleidsvoll genug die zagende Seele zu sich emporrichten kann.

Wie ist ein Kind so rührend, wenn es krank wird! Der leise Ton der Stimme dann, die lächelnde Ergebung und dieser zehrende, liebesuchende Blick! Sonst der wilde frohe Uebermuth und nun diese Bändigung! In Krankheiten entwickelt sich das Gemüth der Kinder. Sie erstehen reifer, innerlicher vom Lager, als sie sich legten. Die Entwickelung des Körpers steht fast still und läßt dem Wachsen der Seele Zeit. Wie dem Knaben schon das Klingen im Ohr eine wunderbare Wir-135kung war! Dies von Erkältung plötzlich eintretende Singen und Summen war ihm wie das Rauschen eines unsichtbaren Meeres, das halb dem Leben, halb der Geisterwelt angehört. Es weckte Melodie und Farbe, Sehnsucht ins Unendliche, etwas so Ideales, etwa wie bei späteren klareren Vorstellungen ein Anblick der Laokoongruppe in der Akademie als der berauschendste Vorzauber Italiens empfunden wurde. Die grünen, blauen, rothen Flecken vor einem Auge, das zu lange in die Sonne geblickt hatte, verzauberten die ganze Welt und schon früh reizte es den Träumer, sich absichtlich die Augen zuzudrücken und an jenen wunderbaren kaleidoskopischen Bildungen sich zu weiden, die die Sehnerven sich im Dunkeln selber schufen. Das war eine Pracht von bunten Formen und Lichtern, wie gestickte Teppiche oder gemalte Fensterscheiben, in den reichsten symmetrischen Mustern, viel schöner als die zum Sticken bestimmten, die am Wittich’schen Laden in der Jägerstraße hingen. Bei Erkältungsfiebern begann sogleich jenes „Phantasieren“, das bis in die Jünglingszeit eine ängstliche Plage der Eltern blieb. Dann schien dem Erkrankten Abends das Bett umzingelt wie von lauter kleinen dicken Männern mit langen gräulichen Nasen, wo einer den andern wegdrängte, oder es begann jenes Gefühl des Schwebens, Aufsteigens in die Luft, das jammernde Hülferufen um Rettung vor dem Niederstürzen. Dies 136 Schweben in den Lüften und Niederfallen aus allen Wolken wiederholte sich regelmäßig bei jedem Unwohlsein. Der Knabe wußte dabei mit offnem Auge, daß ihn Vater und Mutter in den Armen hielten und doch jammerte er, daß er stürzen, stürzen müsse ins Unendliche und sich nicht halten könne hoch in allen Lüften. Ein pommersches Gegenmittel: Ein Kübel Wasser über den Kopf! wurde von der Mutter zurückgewiesen. Sie tröstete und sprach so lange dem fiebernden Knaben zu, bis dieser sich sammelte und erschöpft einschlief … Alles höhere, geistige, innerlichste Wachsen des Menschen ist halbe Krankheit.

Die Vermittelung mit dem Arzte ist bei manchen Lebenslagen dann ohnehin die einzige, die eine ganze Schicht der Gesellschaft überhaupt einmal in unmittelbare Bildungsnähe bringen kann. Es kann so arme Existenzen geben, daß der Arzt der Einzige ist, der jemals aus der Welt des Fracks und der Handschuhe mit ihnen in Berührung kommt, der Einzige, der in gewählter Sprache nach ihrem Wohl und Wehe frägt. So sehr Paria war der Knabe nicht; aber in dem Vorfahren und dem Eintreten jenes kleinen, strengen, kurzangebundenen, scharfblickenden, raschbefehlenden Hofrath K. lag etwas so unendlich Vornehmes und Erschreckendes, daß darin allein schon jeder Krankheit ein momentanes Halt! geboten wurde. Hofrath K. wurde bei jedem Uebel angegangen, aber die Eltern gehörten, wie alle Men-137schen aus dem Volke, weniger der lateinischen Heilkunde, als der traditionellen Hausmittellehre an. Sie hörten am liebsten von alten Frauen, die Drüsen heilten und Kindern den Zapfen hoben, von alten Schäfern, die die Rose besprachen, und, wie jener Schäfer in der Kaserne, schlimme Entzündungen mit Salben sanft auflösen konnten. Die liebsten Formen des Heilmittels sind dem Volke der Kräutertrank und die Salbe. In Salben besonders liegt ihm ein Auszug aller feinen Kräfte der Natur. Einfache Kräutermischungen und gewisse Fetttheile des Thieres, Biebergeil, zerriebene Gallensteine oder ähnliche Mischungen scheinen ihm allein bestimmt, den Heil-Segen Gottes zu tragen. Und das Allerheilsamste bleibt dem Volk das Wunder. Die Sympathie entfernt die Rose, die Warzen, die Ausschläge und greift in den Organismus der Schöpfung selbst ein. Die medizinische Polizei ist beständig auf der Jagd gegen die Volksärzte, aber sie entstehen doch immer wieder in den Winkeln und Hinterhöfen und einsamen Vorwerken vor den Thoren. Man tritt bei solchen unzünftigen Aerzten ein. Sie sitzen bei ihrer sonst üblichen Gewerbesarbeit und fahren uns rauh und hart an, wenn wir von ihnen Bewährung ihrer Heilkraft erbitten. Theils ist dies die Furcht vor Verrath, theils aber auch der alte schon in Delphi bekanntgewesene Drang der sträubenden Ablehnung jeder übernatürlichen Zumuthung von Seiten 138 solcher Uebernatürlichbegabten. Allmälig beschwichtigt man die Polternden und sie rücken mit ihren Künsten hervor. So lernte der Knabe einst eine Art von Hexe kennen und sogar eine, die dicht im Schatten des Domes und des Königlichen Schlosses wohnte.

Die altergraue, von Bäumen beschattete Hofapotheke liegt in dem mittelalterlichen Flügelreste des Schlosses. Neben dieser Werkstatt Aeskulaps, wo mit scheuer Ehrerbietung die ausgestopften Vögel des Vorgemachs bewundert wurden, bis die Arzeneien durch das Fenster des Provisors abgeliefert waren, lag die bescheidene Hütte einer Heilkundigen, die sich geradezu als eine Zauberin dem Kinde darbot. An derselben Stelle, wo jetzt die Grundmauern des Campo Santo sich erheben und die kleine „Laufbrücke“ nach der Burgstraße noch nicht geschlagen war, stand im Schutze des neugebauten Domes ein Durcheinander kleiner Hütten und Baracken und dicht hier am Schlosse, dicht an einer zünftigen Werkstatt Aeskulaps, dicht an der Hof- und Domkirche vertrieb eine alte, lange, hagre Frau, der man sich nur nach vielem Bitten und Betteln um Hülfe nähern durfte, den Kindern die Drüsen, drehte ihnen die steifen Hälse um, „hob die Zapfen“, wahrsagte aus Karten oder Kaffeesatz, lehrte Sympathie mit rohem Fleisch, das in die Erde unter eine tröpfelnde Dachrinne begraben werden mußte und trieb ähnliche wunderbare Abacadabras der Volks-139heilkunde. An derselben Stelle, wo Cornelius die Heilwunder Christi malen wird, nahm diese finstre, unfreundliche Alte vier Groschen für einen „eingerenkten“ steifen Kinder-Hals. Auf dem lichthellen Lustgarten, jenseits der so morsch und mürbe gewordenen, jetzt entfernten Pappeln, über den alten, nun auch dislocirten Dessauer Zopf hinweg lag dieser stille mystische Winkel ohnehin wie ein schauerliches Geheimniß, welches sich dem damals vielleicht sechsjährigen Knaben so eingeprägt hat, daß er nicht nur den Besuch im kleinen düstren Zimmer der Hexe selbst bis in’s kleinste Detail der wachstuchumhüllten Vogelbauer, des Bettes im Zimmer, der Schränke, des Stuhls, auf den er sich setzen mußte, beschreiben könnte, sondern auch noch deutlich jene braunglänzenden ausgeplatzten Kastanien vor sich sieht, die er auf dem Heimwege an der Universität in die Taschen steckte, da sein steifer Hals, gedreht, bestrichen, gedrückt von der schnarrenden griesgrämlichen Wunderthäterin sich in der That wieder bücken konnte. Denn was auch in der Erinnerung aus der Kinderzeit im Gedächtniß Alles parallel läuft, (Kastanien und ein steifer Hals) das könnte allenfalls nur von der Logik eines Straußenmagens verdaut werden.

Dem innern Drängen des Geistes, der endlich über die dämonische Macht des Körpers einige nach-140haltigere Kraft gewinnt, kommt die Schule, die Kirche und die Bücherwelt mit kräftig helfenden Armen entgegen. Das sind denn so gewaltige Liebkosungen, so lang sich ausstreckende Hülfeleistungen der bereits bestehenden Welt, daß sie bald das ganze Jugendleben allein gefangen nehmen.

141 V.#

Als der siebenjährige Knabe zum ersten Male in die Schule sollte, erhob er das kläglichste Geschrei. Die Schwester sollte ihn zu einem Meister Schubert führen, der an der Dorotheenstädtischen Kirche eine achtbare „Klippschule“ unterhielt. Weiter aber, als hundert Schritte vom Hause, brachte den Schulrefractär die Schwester nicht. Dicht hinter der Eingangspforte zur Astronomie, fast schon an den düstern Fenstern der Anatomie, da, wo einst Maupertuis oder Voltaire die Sternwarte besteigen wollte und mit einer Leiche carambolirte, so daß ein für allemal die Akademiker einen eignen Eingang zum Sternenhimmel und die Anatomen einen eignen Eingang zu ihren Obductionen von Friedrich dem Großen angewiesen erhielten; an derselben Stelle warf sich ein widerspenstiger junger Rekrut des Lernens auf die Erde, schrie, schlug mit Händen 142 und Füßen um sich und schien unter keinerlei Umständen etwas vom Wissen wissen zu wollen. Der Junge schien als Ignorantiner überhaupt eine Ahnung der Gefahr alles Wissens zu haben. Seine eigentliche Marotte war die, zu Jedem, der ihn um seinen künftigen Beruf fragte, zu sagen: „Ich werde ein Bildhauer.“ Was brauchte ein Bildhauer in die Schule zu gehen? Auf die Frage der Vorübergehenden, die zahlreich still standen, was der Junge da so gezerrt würde, hieß es: Er will nicht in die Schule. Da gab es Verwünschungen und Spottreden genug. Keiner hörte aber auf den wahren Grund der Weigerung. Es war dies kein andrer, als das ihn noch heute in furchtbarer Todesangst sehr oft anwehende Wort: „Er wisse Nichts!“ Die Schwester wagte kaum den Leuten diesen dummen Grund mitzutheilen. „Ich weiß nichts!“ sagte der Bruder, jammerte, erhob sich nur auf sanftes allmäliges Zureden, faßte die Hände der Schwester und folgte weinend. Du ehrgeiziger Jugendtropf! Du wußtest noch nichts! Dies Leergefühl, diese Nichtswissens-Wehmuth war hoffentlich nur eine von den Durchgangsstationen jener räthselhaften Seelenstimmungen, die Kinder dem Geheimniß des Lebens eben so nahe stellen, wie den alternden Greis. Wie dieser den Ballast des Wissens aus seinem morschen Lebenskahn mit unbewußter Vergeßlichkeit nach und nach hinauswirft, nimmt ihn das Kind auch nur mit Zagen ein … Der 143 Knabe folgte zuletzt. Kameraden mit Pennal und Schiefertafel näherten sich voll Zutrauen. Meister Schubert, ein stattlicher Herr, bei dem sich Mildes oft mit dem Strengsten paarte, redete dem Kinde sanft zu. Es setzt sich. Aber bald zeigt sich’s, es hatte nur zu wahr gefühlt, daß es noch nichts wisse. Die A-B-C-Schützen buchstabiren aus einem Buche mit großgedruckten Lettern. Einer nach dem Andern kommt an die Reihe. Je näher die Fortfahrenden dem Neuling rücken, desto unruhiger wird dieser. Man merkt noch nichts. Aber immer näher, immer näher rückt das Buchstabiren, wieder der Folgende, immer der Folgende und jetzt nur noch zwei oder drei Zwischenmänner; da schreit der seine Bildhauerlaufbahn Verfehlende auf, heult, jammert und erklärt auf erstauntes Befragen: Es käme ihm ja da immer näher und er wisse Nichts! Auf sanftes Zureden begriff der Narr, daß er noch als ein völlig unbeschriebenes Blatt hier säße und in der Schule erst zu lernen hätte.

Ein guter Lehrer wird wohl nicht fehlgreifen, wenn er ein Kind zunächst von diesem Gefühl des gänzlichen Verlassenseins und einer totalen geistigen Hülflosigkeit anfäßt. Die Vorstellung von einer schüchternen und bebend haltlosen Kinderseele wird ihm zuvörderst schon im Ton die rechte Liebe geben. Das rauhe Wort, das mit Recht dem unbändigen Massengeiste gilt, muß dem Einzelnen gegenüber sich mildern. Bleibt der Lehrer immer 144 bei der Vorstellung von einer wilden, zuchtlosen Heerde, tobt und droht er immer im Ganzen und im Einzelnen, so kann sich auf eine solche Schule kein Segen niedersenken. Meister Schubert war im Allgemeinen streng, sogar etwas vornehm kalt, aber beim Einzelnen stieg er zu milder Freundlichkeit herab und ließ sich’s viel Mühe kosten, ein Kind auch über die Schule hinweg wieder mit seinen Angehörigen zurück zu vermitteln. Wollte ein Zögling den Geburtstag seiner Eltern feiern, so zeichnete, malte und schrieb der brave Mann mit dem Gratulanten voll emsigster Geduld. Er scherzte auch zuweilen mit den Kindern, aber es war immer etwas Königliches in seinem Scherz. Er scherzte nie mit der Masse. Die Masse nahm er diktatorisch, den Einzelnen liebevoll. Von dem Thron, auf dem er Federn schnitt und sie nummerweise in’s Federbrett steckte, erfolgte zum Allgemeinen nur dann eine Herablassung, wenn er milde rührende Geschichten vorlas, den Robinson und Gumal und Lina. Seine biblische Geschichte war weniger auf Glaubensstärkung als auf das Herz gerichtet. Alles weinte, wenn Meister Schubert von Joseph und seinen Brüdern sprach. Er strich die Geige zu den Chorälen, die gesungen wurden, er betete andachtsvoll, aber ohne Muckerei. Die Stimme war dafür schon viel zu voll und bestimmt .… ein schönes volles Männerorgan kann gar nicht muckerisch winseln; dazu gehören Fistelstimmen, hektische Stoß-145seufzer, schartige Kratzorgane. Meister Schubert hatte ein scharfes Auge, einen raschen Ueberblick der Klasse, besonders mußten ihm die Hände aller Jungen klar und offen darliegen. Es gab oft seltsame Untersuchungen, wo die Mehrzahl der Kinder selbst nicht wußte, um Was es sich eigentlich handelte, wo aber regelmäßig einige als räudige Schaafe erkannt und unter spezielle Aufsicht gestellt wurden. Am liebevollsten erschien Schubert in schwüler Sommerzeit. Dann wurde ein Eimer Wasser von zwei Auserwählten heraufgetragen und aus einem blechernen Becher bankweise die ganze Kinderheerde getränkt. Zu Weihnachten, wo der Beginn des Weihnachtsspruchlernens eine unendliche, namenlose Vorseligkeit in alle Gemüther ergoß und kurz vor dem Feste, wenn die gedruckten, mit bunten blanken Umschlägen, auf denen ein grober Holzschnitt eine Scene der Bibel vergegenwärtigte, versehenen „Wünsche“ ausgetheilt wurden, war Schubert ganz Liebe, ganz Väterlichkeit. Er fühlte die Wonne seiner Kinder nach, wenn ein solches: Lasset die Kindlein zu mir kommen! oder ein „Christus als Kind im Tempel lehrend“ im Bilde ausgetheilt, bescheiden entgegengenommen, mit fast katholischer Andacht verehrt wurde. Die Kinder nahmen diese Weihnachtsbilder, wie Katholiken ihre Heiligen hin, oder wie der Knabe sah, daß Muttergottesbilder aus bemaltem Gyps verehrt wurden, bei katholischen Jugend-146gespielen, unter Gläsern und Tassen auf der „Kommode“, den Rücken an den Spiegel gelehnt, überragt von einer großen schwankenden Pfauenfeder … Meister Schubert konnte wohl mit seinem Rohre oder der viereckten „Kantel“ auf der ausgestreckten Hand bitterbös strafen, aber eben so väterlich gab er wieder an der Hausthür jedem Zögling die Hand, wenn die Klasse zu Ende war und der Ordnung wegen Alles an ihm vorüberdefiliren mußte. Es war ein Lehrer wie er sein soll.

Was lernt man in solchen „Klippschulen“? Damals nach alter Methode lesen, in liegenderem antisächsischen Ductus nach Heinrigs schreiben, nach dem Schwiegersohn des Meisters, dem vielberühmten „Ferbitz“ rechnen, sogar zeichnen, sogar von einem alten Franzosen, Monsieur Horré, französisch, lateinisch sogar von einem alten cynischen und höchst schmutzigen Sonderling. Fand bei diesen Lehrgängen wohl ein System statt? Ein Kind weiß davon nichts. Es lernt geistig schwimmen und sieht die Leine nicht. Was da über ein Kind conferenzelt und theoretisirt wird, das ist ihm wie die geheime Kramerei des Christkindes. Der Knabe lebt nur in den Wirkungen und weiß von den Ursachen nichts. Nur die Festtage, die Ferien, das Kommen von neuen, das Gehen von alten Lehrern, das sind so einzelne Einschnitte des ersten Schullebens, wo man zur Noth schon sich selbst an Anderen allmälig vergleichen lernt. Dieses hingegebene, 147 das ganze Herz anbietende Begrüßen eines neuen Lehrers! Dieser oft eine ganze Klasse in Weinen versetzende Abschied von einem alten! Es sind das schon die ersten Ringe, die ein wachsendes Bäumchen ansetzt. Wie herzzerreißend weh thun dem Kinde diese ersten Abschiede! Ein milder, ein wenig frömmelnder Lehrer, er hieß Gädike, erklärte eines Tages, er wäre Missionär geworden, würde den Kindern bald Lebewohl sagen, würde hinüber zu den blinden Heiden über’s weite Meer gehen. Ach, und er ging! In der Klasse mußte beim Abschied, als er Jedem wirklich die Hand gab und dabei betete und schon heidenpredigte, Ordnung walten; als sie aber geschlossen war, als unten auf der Straße sich Alles noch einmal an „Herrn Gädike“ andrängen konnte … welche Thränen, welche Küsse, welche Aufforderungen, für ihn zu beten, und welche Versicherungen, es auch zu thun! Gädike, Du zogst in die Welt von Gumal und Lina! Finde so edle, so gütige Mohren, wie Gumal fand! Gädike, und sollte Robinsons guter Freitag eine Fabel seyn?

Ohne Mechanismus prägt sich in die erste geistige Empfänglichkeit des Kindes nichts ein. Die falsche Aufklärung hat uns zu manchem Blendwerke neuer Methoden verholfen, aber die Gefahr, die sich mit ihrer Anwendung für die Einwurzelung des Wissensstoffes ergibt, ist keine geringe. Das erste Lernen in der Schule soll 148 ein mechanisches Exercieren des Verstandes sein. Alle Individualisirung, das sogenannte „Eingehen“ auf die Kinder und ihre spezielle „Natur“ erzeugt das gefährlichste Dilettiren und versetzt die ohnehin noch weiche Gehirnmasse in einen Brei von Geschwätz und unbestimmter Halbheit. Wie will man einem halben Hundert Kindern mit Demonstrationen beikommen? Wenn man Kinder von heute rechnen sieht, so wird man eine fortgeschrittene Klarheit in der Analyse nicht verkennen, aber es scheint uns fast, als wär’ es nur diejenige Klarheit, die dem Lehrer nöthig ist zur Prüfung der Exempel, selten die, die das Kind bedarf, um sie zu machen. Man findet in diesen jetzigen Rechnenmethoden viel Worte. Das Kind fußt nicht auf einem mechanisch sichern Einmaleins, sondern wirft und wälzt sich umher in einer improvisirten Rechnungslogik, die nur im allerglücklichsten Falle bei einem anschlägigen Kopfe zur Klarheit kommt. Der offenbarste Mangel an Seelenkunde zeigt sich darin, daß man beim Kopfrechnen nicht nur gestattet, sondern verlangt, das Kind wiederhole wörtlich das aufgegebene Exempel. Man muß die auf Worten ausruhende Trägheit des Auffassens der Kinder sehr wenig kennen, wenn man eine Operation gestattet, wo der lebhafte, unruhige oder zerstreute Lehrer sich fast immer von dem denkfaulen Kinde täuschen läßt, das statt schon zu rechnen durch das auseinandergezerrte und altklugwich-149tig vorgetragene Wiederholen der Aufgabe den Schein Wunder einer Präcision, die doch nicht stattfindet, annimmt. Im Kopfrechnen ist weniger auf algebraisch-richtige Analyse, als auf Intuition der Phantasie zu sehen. Das Kind muß nicht den abstract-logischen Prozeß der Rechnung durchmachen, sondern es muß vor den halbgeschlossenen Augen die schwarze Tafel sehen, an der Dasjenige gleichsam geschrieben steht, was es sich nur durch den Gedanken vergegenwärtigen soll. Das Auge muß rechnen, nicht der Verstand, der noch nicht beim Kinde durchgebildet genug ist. Vollends verlangt der erste Elementarunterricht Mechanik. Die Kinder sollen massenweise und im einzelnen Aufruf dem Lehrer die Demonstrationen nachmachen, und zwar lange und oft. Das ungeduldige Hin- und Herspringen in der Denkmethode kommt von Lehrern, die für die Erziehung nicht geschaffen sind. Ein Kranker, der Langeweile empfindet, ist auf dem Wege der Genesung.*) Ein Lehrer, der die Langeweile von Lesen, Schreiben und Rechnen nicht ertragen kann, paßt für seinen Beruf nicht. Ich finde Schulpläne, die so bunt wie die Theaterbenefizzettel aussehen. Ich würde zufrieden sein, für ein gewisses Kindesalter nichts als stündlich Rechnen, Lesen und 150 Schreiben darauf zu sehen … Und was soll man gar erst von den Kindergärten, vom Fröbel’schen Papperlapap des Denkspielens und Spieldenkens sagen?

In Rücksicht des Masselernens und des geistigen Gesammtexercierens geht nichts über den Schulbesuch. Der Schulbesuch ist aber auch die unschuldigste und nützlichste Form des ersten Eintritts in die Welt. Ein Schritt aus dem Hause in ein kleines begrenztes Leben und aus diesem kleinen neuen Leben sogleich wieder in’s Haus zurück. Der gesteigerte Trieb zum Lernen, der Sporn des Ehrgeizes liegt da auf der Hand. Und auch schon von diesem Vortheil abgesehen, wie harmlos erweitert sich der Einblick in das Leben andrer Menschen! Das Wissen ist für Alle, und wie mannichfach sind alle diese kleinen Wettläufe nach demselben Ziele! Arm und Reich, Vornehm und Gering, Sauber und Schmutzig, Sanft und Zornig durcheinander. Es regt sich das erste Bedürfniß der Liebe und Freundschaft. Man nimmt nicht nur die zu der Familie daheim einmal gegebenen Menschen, sondern man wählt sich schon neue. Ein gewonnener Freund führt das Kind in sein Haus. Wie ist da alles so anders, als daheim! Wieviel Brüder, wieviel Schwestern hat der! Wieviel Lärm oft und an andern Orten wieviel Einsamkeit, Stille, Pedanterei! Man hat noch kein Urtheil über die alten Tanten des Gespielen, die über ihre Stuben-151diele keinen fremden Schuh lassen wollen, aber es bilden sich Stimmungen und Ahnungen über die Mannichfaltigkeit des Lebens. Der Horizont erweitert sich und der Schulbesuch regelt den Sinn für die Ordnung und das Gesetz. Das Kind lernt sich selbst bestimmen. Es lernt, sein Schicksal in eigner Hand haben. Was man an sich selbst nicht fühlt, entdeckt man an Andern. An schlechten Heloten, die einst dem jungen Spartaner die Erziehung des Sklaven zeigen sollten, bietet die moderne Schule freiwillige Exemplare genug.

Der Heimgang aus der Schule! Wie belehrend, seelenerfüllend, charakterbildend dies Schlendern zur Häuslichkeit zurück! An sittlichen Gefahren für den Wanderer fehlt es freilich nicht. Ein Umweg rächt sich nicht selten. So fand der Knabe einst mit einem Troß Kameraden ein Hufeisen, das eben einem Pferde mußte entfallen sein. Er fand es nicht auf der geraden Straße zur Schule, sondern auf einem Umwege. Schon durch diesen Umweg kam in den Fund ein schlimmer Charakter, eine teuflische Versuchung, die die ganze Seele in eine noch jetzt deutlich empfundene Gewissensangst versetzte. Ein Glück auf einem bösen Wege! Was mit solchem Glück, von der Hölle geschenkt, anfangen? Das Hufeisen war eine mit gieriger Lust festgehaltene Trophäe für den ganzen Schwarm und sogleich begann flüsternd und tuschelnd die zweite Versuchung: man will das Huf-152eisen an einen Schmied verkaufen. In Masse, schweigsam, lauernd, wendet man sich einer bekannten Schmiede zu. Aber je näher von dorther die arbeitenden Hämmer erklingen, desto zager der Vorsatz. Das Gefühl, man ist auf unrechten Wegen, spricht sich schon nur noch in der übertreibenden Keckheit einzelner Tonangeber aus. Endlich dicht an der Schmiede berathschlagt man, wie Spitzbuben so heimlich, was sich für das Hufeisen erwarten ließe. Ein Ausweg, etwa einen Tauschhandel mit Nägeln einzugehen, fiel Niemanden ein, nur Geld wollte man haben und mit dem Gelde dann irgend einen Genuß. Mit einem schon sehr kleinlauten Ton tritt man in die Schmiede, bringt sein Begehr an; der Gesell nimmt das Hufeisen, wirft es in eine Ecke, schwingt den Hammer und jagt die ganze „Bande“ zum Tempel hinaus. Auf fünfzig Schritt halten die Flüchtigen Stand und rufen ein Halloh mit dem Muth, der Ausreißern eigen ist, wenn sie über die Schußweite weg sind. Das Hufeisen war fort, aber auch – eine Centnerlast vom Herzen. Das Abenteuer, wenn es gelungen wäre, hätte leicht eine Klippe für’s ganze Leben werden können. Die Seligkeit des wieder frei und erlöst aufathmenden reinen Gewissens wurde bei jedem scheuen Einblick in die Schmiede Monate lang in Wonnezügen empfunden.

153 Lesen, Bücherlesen, Märchenluxus, Thatsachenschwelgerei, das kommt später. Aber studieren! Das erste Buch, das gekannt sein will, vorn und hinten, rasch aufgeschlagen, wie das Gedächtniß selbst, heimisch dem Auge, wie ein Spielplatz, bekannt dem mächtigsten Ortssinn selbst in seinen Druckfehlern und confus verbundenen Alphabeten! Es ist noch nicht die Bibel. Das Bibelaufschlagen ist erst eine spätere Meisterschaft, in der es bis zur Hexerei eines Rabbi Hirsch Dänemark gebracht werden muß. Bibelaufschlagen ist ein Wettrennen, wie in Epsom zwischen Pferden, so in den kleinen Schulen zwischen Ohren, Händen, Augen, Mund und bei dem, der kurzsichtig ist, auch der Nase. Welche Listen, welche Handgriffe gewinnt man sich ab, um in diesem heiligen Bäumchenverwechselspiel der Erste bald bei den großen, bald bei den kleinen Propheten zu sein und die fünf Bücher Mosis am Schnürchen zu haben! Aber das erste Studium galt doch dem ersten Lesebuch, dem brandenburgischen Kinderfreund. Dieses Buch, später als ganz künstlich von einem Prediger Namens Wilmsen zusammengestellt erkannt, erschien dem Kinde wie etwas rein Uranfängliches. Gott schuf die Welt und gleich nach ihr den brandenburgischen Kinderfreund. Dreihundert zerrissene, beschmutzte Seiten mit einer Fülle von unumstößlichen Grundwahrheiten des jungen Lebens, als da sind: „Dieses Buch ist mein! Es be-154steht aus Blättern. Auf diesen Blättern sind Buchstaben. Diese Buchstaben verstehen nennt man lesen u.s.w…“ Diese dreihundert Seiten sind die Encyklopädie des ganzen Wissens, die wahren Diderot, d’Alembert und Bayle der Kinderweisheit. So wird selbst die Bibel in späterer Zeit dem Kinde nicht mehr heimisch, wie der brandenburgische Kinderfreund mit seinen Klexen, eingekritzelten Namen, Eselsohren und sich mehrenden Defecten, Resten mancher kriegerischen Abwehr oder wohl gar eines sonnabendlichen Zwölf-Uhr-Mittagsangriffes, wenn die morgende Sonntagsfreude schon in allen Gliedern rumorte. O brandenburgischer Kinderfreund, wie liegst du so offen da der Erinnerung! Wie durchblättert sie dich in deinen ersten metaphysisch-juristischen Denkübungen („Dies Buch ist mein!“) bis zu den Wanderungen durch die Thier- und Pflanzenwelt! „Pastinak“ hieß eines deiner aufgezählten Gemüse. Der Knabe kannte Schoten und Erbsen, Linsen und Bohnen, aber „Pastinak“! Pastinak und „Artischocken“! Welche Wunderwelt der Küche! Und die Geräthschaften der Gewerbe, die großen Denkwürdigkeiten der Geschichte, des Weltalls, Deutschlands und Preußens, und endlich die in lateinischen Lettern erzählten gereimten Anekdoten von Hanns Taps, der sich „vor Gespenstern fürchtete“! Gespenster und Fenster reimte sich nicht nur in dem Buche, sondern von nun an durch’s ganze Leben. 155 Lieder beschlossen das Buch. „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank“! (Preußsch Courant! sang einst ein getaufter Jude beim ersten Kirchenbesuch) und am Schluß, hinweg über das liebliche: „Da hab’ ich es, das Hänflingsnest!“ das majestätische, wie mit Pauken und Trompeten am Auferstehungsmorgen gesungene: „Lobet den Herrn, den mächtigen König der Erde!“ Wahrlich! Die Schreibtafel unterm Arm und den Kinderfreund im Kopf – kommt der junge Pflanzenkeim cedernstolz zum Bewußtsein seines Wachsthums.

Von Kirchen wurden alle besucht und fast alle ihre Geistliche gehört. Das Kind kennt alle Winkel der Chöre, alle Schiffe vom großen theatralischen Dome an bis zur kleinen Spittelkirche, die in ihrer Demuth später noch sogar ihren Thurm abgelegt hat. Die Kirche, wo der Täufling mit neun Pathen in das unsichtbare Gottesreich eintrat, umgiebt ein stiller Friedhof mit verfallenen Gräbern und steinernen Monumenten. Die Kirche ist klein, niedrig, stellenweise dunkel, in Form eines Malteserkreuzes gebaut. Schadow’s Parzen, die dem jungen Grafen von der Mark so früh den Lebensfaden abschnitten, umgiebt ein Gitter, an das sich lehnend so schön sich träumen ließ, wenn die Predigt des alten Superintendenten Küster nicht fesselte. Die Garnisonkirche – die ist lang und leer und ausdruckslos wie eine Kaserne. Die Marienkirche aber, alt und ehrwürdig, 156 an Nürnberger Bauart erinnernd, kunstlos freilich und märkisch kahl, aber sagenreich und in dem Kreuz, das an den vom Volk erschlagenen Probst von Bernau erinnert, allein schon eine ganze Pforte alter erschlossener Ritterzeit. Die Nicolaikirche mit ihren hohen Wölbungen, dunkeln vergitterten Grabmälern und dem nadelspitzen Thurm, ihr ehrwürdiger Doppelgänger. Beide liegen in schrägen Dimensionen an kleinen Plätzen, wie der Straßburger Münster. Freilich sind sie arm und gering an architektonischem Schmuck, haben nichts zur Zierde als ihr Alter und ihre majestätischen Pfeiler, von denen Schlüter den Muth hatte, einen in der Marienkirche mitten durchzuschneiden, um vier freilich hierher nicht gehörende antike Säulen zu einer Kanzel anzubringen. Der Dom war eben neu gebaut, von innen reich geschmückt mit Sammtdecken, mit Bildern, mit zwölf Aposteln, die das Altargitter zieren, aber fesselnd war doch nur das eherne doppelte Kurfürstengrab, vom Knaben in seiner gothischen Umschrift oft mühsam entziffert, während Sack oder Ehrenberg mit wenig Kunst und viel Behagen predigten. Die Werdersche Kirche, noch die alte, simultan mit einer französischen verbunden, aber in einem Style, so schaal, so ledern, wie ein altes Porstensches Gesangbuch oder eine Pastor Hermessche Hauspostille von Anno 1740. Der äußern Pracht der „neuen“ Kirche entsprach die innere Armuth nicht. Dürf-157tiger, hölzerner, armenhausmäßiger kann man sich keinen Gottestempel denken, als diese von Friedrich dem Großen an die stattlichen Gensdarmenmarktthürme gebauten Schwalbennester. Auch die Jerusalemerkirche, wie arm, wie dürftig, wie hölzern! Der einzige Glanz, die glänzend glattgesessenen Bänke! Etwas frischer machten sich die runden Wölbungen der Dreifaltigkeits- und böhmischen Kirche. Jene trug am Altar, der Kanzel und der Orgel Spuren ihrer fashionableren Bestimmung für Schleiermachers vornehmere Gemeinde. Der schönste Schmuck der Louisenkirche, wo Koblank, ein cynischer Epikuräer predigte, war ein stiller, mit hohen feierlichen Pappeln und Blüthenbüschen geschmückter Kirchhof, über den jener „Diener am Wort“ oft zu seiner Wohnung hin schritt, während ihm vom Talar herab das Wasser von dem in die Tasche gesteckten nassen Taufbeckengroschen tröpfelte. Ein solcher inschriftenreicher Kirchhof schmückte auch die entlegene hellfreundliche Sophien- und die Georgenkirche. Das Glockenspiel der Parochialkirche war für den Knaben eines der mehreren Weltwunder, das erst bei später gebildeterem Geschmack der nebenan befindlichen uralten Kirche zum wahrhaft sagenduftumzogenen grauen Kloster wich. Von dieser kirchlichen Topographie darf selbst der versteckte Judentempel mit seinen Lichtern auf bronzenen im eigenthümlichsten Rokoko gewundenen Leuchtern, dem Tabernakel, den ge-158schriebenen Thoratafeln, den aufbehaltenen Hüten, dem beklemmenden Singsang von hundert Stimmen durcheinander und draußen dem Vorhofe, wo geschächtet wurde, nicht ausgeschlossen bleiben; am wenigsten aber die katholische St. Hedwigskirche, die am Palmensonntag oder an einem Tage der Leidenswoche nicht unbesucht blieb, freilich immer mit dem Gefühl der Beklemmung, beim Unterlassen der von der Gemeinde gemachten Ceremonien als ein Ketzer entdeckt und wohl gar ausgewiesen zu werden. Die Pracht des Hochaltars, die Kleidung der Geistlichen, das Klingeln der Chorknaben, der Duft des Weihrauchs, das Opfer am Altar, wo der Priester für Alle trank, die gebrochene Hostie aber an der Balüstrade wie ein Manna austheilte, nach dem die heiligste Sehnsucht sich drängte, das Ausbieten und Darreichen des Kruzifixes zum Küssen, alles das war ebenso ergreifend und doch wieder zur stolzlutherischen Prüfung mahnend, wie auf der Freitreppe draußen, unter dem vom Cardinal Quirini auf eigne Kosten erbauten Portal und den drei steinernen Aposteln das Eintauchen der „Palmen“, der jungen Ruthen mit sammetweichen Frühlingskeimen, in Weihwasser. Sich aus diesem Weihrauchsdufte und dem nachtönenden In Saecula Saeculorum wieder in eine Königlich Preußische Wachtparade zu finden, in die Janitschaarenmusik der Garde oder eine aus den Fenstern des Opernhauses schmetternde Sponti-159nische Opernprobe, währte lange und konnte eine gewisse Stimmung im Kinde nicht unterdrücken, die, durch die Akademie genährt, gradezu italienische Sehnsucht war.

Die neueste Waarenliste kann der Kaufmann, den Börsencourszettel der Capitalist nicht aufmerksamer durchlesen, als wöchentlich an jedem Sonnabend in großen Städten das unverdorbene stille und gottergebene Volk die Liste der Geistlichen liest, die am nächsten Sonntage predigen werden. Diese Menschen suchen sich da nicht nur den Lieblingsredner, den sie hören wollen, heraus, sondern sie erläutern auch die vorkommenden Gast- und Antritts- und Communionreden, die Probeversuche von Candidaten, das lange Schweigen bekannter Namen und das zu häufige Auftreten Anderer. Vetter Apokalyptiker wußte noch eine schärfere Kritik zu halten. Er sah auch unter diesen „berufenen und verordneten“ Dienern am Worte seine drei Menschheitsgattungen, die Wiedergebornen, die noch Christum erkennen werdenden Halbwüchsigen und die Dahinfahrenden. Die Letzteren waren ihm die Irrlehrer der reinen Vernunft, deren Zahl jedoch bei dem immer mehr heraustretenden kirchlichen Systeme der Regierung nicht besonders groß sein konnte. Der Wiedergebornen gab es schon so viele, daß die Wahl schwer wurde und oft an einem Sonntage zwei Kirchen besucht wurden ohne die Wochenerbauungen. Die beliebtesten waren auch beim Vater diejenigen Redner, die 160 offen und frei mit der Sprache herausrückten und bekannten, daß wir allzumal Sünder wären und des Ruhmes ermangelten, den wir vor Gott haben sollten. Die Selbstgerechtigkeit, hieß es, wäre der alte Adam, der ausgezogen werden müsse. Keine „Rechtfertigung“ ohne Christi Dazwischenkunft. Die Gnade Gottes wußte der in allen Dingen, so auch hier wieder feurige, bildergewaltige und aufbrausende Sinn des Vaters als einen Akt der erhabensten und großartigsten Willkür darzustellen. Wen Gott selig machen wolle, den nehme er sich schon heraus und über alle Andre ließe er den Teufel schalten. Die hohe königliche Frau im Schlosse hatte dem Vater gesagt: Hat nicht der Heiland für uns Alle sein Blut dahingegeben? Und von Stund’ an waren alle Sprüche der Bibel wieder im Vater erwacht, alle Lehren seiner kranken, bettsiechen Mutter standen wie gefaltete Kinderhände vor ihm und unter den heißesten Thränen wußte er stundenlang nun Nichts mehr von Paris, der galanten Sattlermeisterin und dem Cirque Franconi, sondern nur noch von Golgatha und dem Oelberge zu erzählen. Die grübelnde Genugthuungslehre des herrnhutherischen Vetters in ihrem Seelenläuterungs-Calvarienberge blieb dem Vater allerdings verschlossen; aber die Geschichte, die Chronik des alten und neuen Bundes ging ihm in dem ganzen phantastischen Reize auf, dessen seine lebhafte Einbildungskraft 161 auch hier wieder bedurfte. Der Neu-Erweckte erzählte von den Juden und den Pharisäern so lebendig, daß die kritischere Mutter, die auch hier wieder das Maaß verletzt sah, oft einwandte: Du bist nicht dabei gewesen! Jene lebhaften feurigen Redner, die mit dem „heiligen Bibelbuch“ unaufhörlich auf den Kanzelrand schlugen, waren dem Vater und dem Vetter die liebsten. Sie rannten zu diesen kräftigen Nierenprüfern und Zuchtmeistern im Herrn und in deren immer volle Kirchen, wie Ihr in ein Gastspiel von Sängern und Tänzerinnen rennt! Sie verlangten vom geistlichen Redner die Gabe des Geistes fast sichtbar anzuschauen wie am Pfingsttage, als die feurigen Zungen auf die Apostel niederfuhren. An den Wundern durfte nicht gedeutelt werden. Dem Vater kam es, wenn einmal Christus Gott der Herr selber war, auf ein paar Unglaublichkeiten mehr oder weniger nicht an. Sein Glaube war cavaliermäßig, in Bausch und Bogen. Entweder Christus ist Gottes Sohn oder nicht, und ist er es, so ist ihm ein Lazaruswunder Kleinigkeit. Die Mutter seufzte kritisch zu Manchem, was sie glauben sollte und tröstete ihre immer flügge Vernunft mit Gottes einmal nicht zu ergründender Allmacht. Der Vater aber bedurfte des Wunders. Steine in Brod, Wasser in Wein verwandelt, Todte auferweckt, Kranke geheilt, das gehörte ihm von Rechtswegen zu einer reputirlichen Reli-162gion, die den Menschen scharf zusammenreiten, mit Sporen tüchtig kitzeln und ihm die Zügel so kurz halten sollte, daß man auf den Kandaren der Zucht sich die Leidenschaften zerbiß. Luther war der Held des Hauses. Luther, der Mann des Volkes, auf dem wiederum sichtbar Gottes Hand ruhte. Luther faßte alles zusammen, was diese deutsche Volksbildung von einem Propheten verlangt. Luther kam von der Armuth, hatte Muth, trotzte den Fürsten, schimpfte Kaiser und Reich wacker zusammen, erlebte bunte, romantische Abenteuer, sprach kernige, kurze Schlagworte und war mit der Bibel, die er übersetzt hatte, fast identisch. Elias, Paulus, Luther standen ganz auf derselben Linie. Es waren das die wilden Feuer- und Hitzköpfe der Religion, wie der deutsche gemeine Mann seine Helden in allen Fragen, auch im Staat, in der Schule, in Kunst und Poesie, einmal haben will.

Wie sehr das deutsche Volk geneigt ist, im Geistlichen dann auch seine ganze Vermittelung mit der Oeffentlichkeit wiederzufinden, beweist die Nachsicht, die man eigenthümlichen und wunderlichen, aber frischwegredenden Predigern zollt. Es wurde doch von der Familie keine Nachmittagspredigt in der Böhmischen Kirche versäumt, so lange sie ein seltsamer Geistlicher der mährischen Brüder hielt, der bekannte, von Weltkindern vielbelachte Jänicke. Dieser greise Sonderling 163 vertrat anfangs ziemlich allein die pietistische Richtung Berlins. Nach den Befreiungskriegen währte es geraume Zeit, bis sich die plötzlich aufgeregte Kirchlichkeit aus ihrem Zusammenhang noch mit den großen Erlebnissen der Epoche, aus ihrem Verbande mit der Philosophie und Poesie, der Romantik und von Herder, Fichte, Schleiermacher loswand und ganz in jenes ausschließlich „Evangelische“ überfloß, das bald darauf Alles, selbst das Unkirchliche, allein verklären sollte. Jänicke, lange der einzige Pietist auf Berlins Kanzeln, wußte seine Zuhörer zu fesseln, trotzdem, daß seine Predigten Conversationen waren, bei denen es ihm wohl geschah, Diesen oder Jenen in der Gemeinde geradezu selbst anzureden oder auf Stühle zu verweisen, wo er Menschen erblickte, die nicht aufmerksam genug oder wohl gar nur gekommen waren, um hinter den Hüten ihr Lachen zu verbergen. Seinem Publikum gefiel diese Natürlichkeit. Diese Schuhmacher, diese Weber, diese „Raschmacher“, besonders aus dem obern Theil der Wilhelmsstraße, den man der mährischen Einwanderer wegen spottweise die „Wallachei“ nannte, fanden es ganz im Style der Volksberedsamkeit, wenn Jänicke sagte: „Der Geist Gottes fuhr auf die Jünger herab nicht im Sturmgebraus, wie ein Donnerwetter, sondern sanft und lieblich wie eine Taube, … zirp, … zirp, … zirp!“ Jänicke, Vorstand des Missionsvereins, vermittelte 164 auch die Phantasie seiner Gemeinde mit den fernsten Völkern der Wildniß. Er wußte insofern die eigentliche und beste Wirkung alles Missionswesens zu treffen, die Erhebung und Erregung derer, die die Missionen versenden.

An seinen geliebten Lehrer Gädicke, den die Wilden schon längst verzehrt haben konnten – nach Robinson und Gumal und Lina war schon grausamere Lectüre gefolgt – dachte der Knabe mit Wehmuth, wenn er an des Vaters Hand in eines jener Conventikel getreten war, die damals sich überall eröffneten; Betstunden hießen sie beim gemeinen Mann. Meist in dem entlegenen Klassenzimmer einer Winkelschule versammelten sich Abends einige fünfzig Gläubige beim Schein eines einzigen Talglichts und hörten die Rede oder das Gebet eines Inspirirten an, der seinen Vortrag zuletzt mit „Nachrichten aus dem Reiche Gottes“, die über Nürnberg und Basel kamen, und mit Sammlungen für die fernen Heidenbekehrer endete. Diese Betstunden wurden anfangs untersagt oder nur dann geduldet, wenn der Erleuchtete, der auftrat, (meist ein Schullehrer, nicht selten auch ein Handwerker) einen gedruckten Vortrag ablas oder aus dem Stegreif nur ein Gebet hielt. Die Redner wollten aber lieber ihre eignen Gaben zeigen und frei vom Herzen sprechen. So blieb ihnen nichts übrig, als der Rede die Form 165 eines Gebetes zu geben. Welche ergreifende Form der Rede, welcher rhetorische Schwung des Vortrags dann! Man betete sich förmlich von der Erde weg. Man begann mit einer einfachen Apostrophe an den Heiland, der hier überhaupt ganz die Stelle des ziemlich fernentrückten „Vaters“, des gleichsam abgesetzten und nur den Schatz verwaltenden „Alten vom Berge“ vertrat, und strömte sich dann in eine solche herzzerreißende, dringendinnerliche Unterhaltung mit dem Angerufenen aus, daß das Gebet den Umfang einer Predigt gewann. Unstreitig liegt in einer solchen Anrede an den Heiland, die fast eine Stunde dauerte, eine alle Weltlichkeit rein zerbröckelnde und auflösende Wirkung. In der engen Stube, unter den ernsten, dunkelgekleideten Männern, bei dem einzigen Talglicht, das oft am Erlöschen war, in fahlem Dunkel eine solche Unterhaltung mit dem Bräutigam der Seele … es mußte sich aller „Brüder“ ein heiliger Schauer und allerdings auch jene so gefährliche Selbstzufriedenheit, die den Pietisten eigen ist, wenn sie von ihrer Gottfreundschaftshöhe auf andre Menschen niederblicken, bemächtigen. Bei diesen langgezogenen Tönen eines einstündigen Gebetes, die so aus der Tiefe des innersten Elends kamen, „wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser“, mußte der angerufene Erlöser wohl dem geistigen Auge wie persönlich erfaßbar entgegentreten. Es war in diesen 166 dumpfen Stuben, wie wenn der „Herr“ plötzlich den Zween auf dem Wege nach Emaus erschien oder wie wenn er durch verschlossene Thüren trat und den zagenden Jüngern die Nägelmaale zeigte. Wer wird in diesem seltsamen Gottesdienst allein nur eine Heuchelei sehen wollen? Er war bei der Mehrzahl dieser Menschen eine wirkliche Erquickung ihrer zagenden Seele. Ein guter Redner wußte in dies einzige Gebet das ganze Leiden der Armuth hineinzuziehen. Schlechte Zeiten, Arbeitslosigkeit, die drückenden Abgaben, Krankheiten und Unglücksfälle, alles sprach sich hier in diesem Hülferufe des Herzens aus. Hätten sich die Vornehmen nicht hineingemischt, hätte der Staat nicht verrathen, daß er für diese Auffassung des Himmels eine Menge Belohnungen schon auf Erden in Bereitschaft hätte, diese Gottverehrung hätte sich nicht sobald getrübt, wie es später geschah. Und wer könnte läugnen, daß die freien Gemeinden und der Deutschkatholicismus auf ganz ähnlichen und gleichen Seelenstimmungen beruhen, auf diesem deutschen Reize des Separatismus, der richtig organisirt die Quelle einer neuen Menschwerdung der Generation und einer tiefgreifenden Erlösung unsres Jahrhunderts werden könnte?

Schon war die Ausartung über diesen Isolirungstrieb des religiösen Bedürfnisses gekommen, als der Knabe zu einem langen, hageren Studenten geführt 167 wurde, der in einem Hinterhofe auf seiner „Kneipe“, wie weltlichere Musensöhne sagen würden, eine Gemeinde von vielleicht sechs Erwachsenen und eben so vielen Kindern zu „erbauen“ suchte. Für dies kleine Auditorium gab es mindestens vier Lichter, lange, schlanke, neue Wachskerzen. Ein Klavier stand unter einem Spiegel. Ein Tisch war theatralisch als Altar aufgestellt und mit einer grünen Decke belegt. Dieser junge Gottselige mit gescheiteltem Haar und feuchten Händen empfing die armen Narren, die er sich als Gemeinde gepreßt hatte, mit feierlichem Gruße und zählte wie ein Taschenspieler auf seiner Uhr die Minuten, bis sich hinlänglich viel Auditorium zu seiner Komödie versammelt hatte. Dann schlug er auf seinem Klimperkasten eine Kirchenmelodie an, ließ die Menschen in einem dichtbevölkerten Hinterhofe rücksichtslos laut einen Choral singen und trat nun feierlich an den Altar, um seinen Text zu lesen und ihn möglichst frei zu paraphrasiren. Es war der Bibelspruch vom verglimmenden Docht und vom zerstoßenen Rohr, dessen breitgetretener inhaltsloser Anwendung der Knabe sich noch wie heute erinnert. War das Ganze eine homiletische Uebung des jungen Mannes? Oder war der laute Gesang und das Aufsehen, das diese Feier im Hofe machen mußte, für einen im Vorderhause der Kurstraße wohnenden Geheimerath bestimmt? Oder lag dem 168 Allem wirklich ein innerliches Bedürfniß der Schwärmerei zu Grunde, wie es auch ohne irdischen Nebenzweck in einer feierlich angeregten Jünglingsseele leben kann? Für dieses jungen Prädikanten reine Absicht möchte man kaum einstehen, aber erwiesen ist es, daß die religiöse Stimmung des Jugendgemüthes ihm doch zuweilen kommt, wie die erste Regung der Liebe. Es ist diese Religionsschwärmerei ein fast physisches Erlebniß, ein Wachsen, ein krankes Wachsen der Seele, ein neues Bedingtwerden und Umstimmen des krankreizbaren Nervensystems. Es ist mit dieser jungen Himmelssehnsucht wie mit dem Frühlingstrieb der Bäume, wo ihre Rinde harzige Tropfen ausläßt oder die Birke einen hellen Saft verspritzen kann. Die poetischen Mitbedingungen unsrer christlichen Offenbarung werden unter diesen Umständen wie die neuerschlossene poetische Welt des geistigen Auges und des jungen ringenden Studiums selbst ergriffen und so nachgefühlt, daß nur das Schöne und Tiefe an dem geoffenbarten Glauben, nichts mehr von seiner Entstellung im Gemüthe haften bleibt. Und manche Traumselige – bleiben sie nicht ewig in diesem jugendlichen Religionswahne und können nie wieder aus dem Bann des einseitigsten Verschönerns und Zerflossenseins zur besonnenen Prüfung sich herausfinden?

Eine Erziehung von so viel Religiosität konnte als erste Außerschullectüre auch nur religiöse darbieten. 169 Die Bibel, das Gesangbuch und eine alte Hauspostille, wirklich eine solche Hanstein’sche von 1740, waren die ersten Nahrungsquellen des Wissenstriebes. In der Bibel stand auch, wie in allen deutschen Hütten, die Chronik des Hauses geschrieben, der Vermählungstag der Eltern, die Geburt der Kinder mit allen Zeugen, allen Taufpathen. Im untern Volke hat man Regungen, wie sie nur der Adel kennt. Man stemmt sich da auch gegen die Woge der Allgemeinheit, man will nicht so mitfortgespühlt werden von der Masse des Nichtsbedeutenden. Man führt Buch über den festen Grund und Boden, auf dem man in der Welt steht und wäre das Fleckchen Erde noch so klein. In der Bibel selbst fesselte Alles, auch der rothe Druck des Titels, auch das Privilegium des Königs Friedrichs des Ersten von Preußen mit allen seinen Würden und Besitzungen, auch die kleinen Vignetten zwischen den einzelnen Hauptstücken und die kunstvoll verschnörkelte Arabeske am Ende mit dem geheimnißvollen vor- und rückwärtsgelesenen Anagramm des Wortes E. N. D. E., lautend: Er Nahm Das Ei – (rückwärts) Er Darfs Nicht Essen, (vorwärts) Eine Nonne Darfs Essen! Dieser radikale Unsinn, ein vollkommener Hexenwiderspruch „gleichbedeutsam für Weise und für Thoren“ schien aus irgend einer Faustischen Küche zu kommen und bedeutete dem Kinde ohne Zweifel ein Abracadabra der Art, wie auch 170 wirkliche Zauberei mit der Bibel getrieben worden ist. Den Finger in die Bibel bohren, eine Stelle festhalten und nach ihrem Wortlaute handeln, das haben selbst große Geister gethan, die als Atheisten vom Zufall nichts wissen wollten. Die Bibel ist dem Volke das ganze Menschenleben von seiner kindlichen Märchenzeit an bis zur grübelnden theosophischen Zukunftsforschung. Die Bibel ist leider aber auch die erste Anlehnung des Gelüstes und der Leidenschaft. Die Bibel ist das Paradies, aber auch der Baum der Erkenntniß und die Schlange der Verführung. Ehe noch der Knabe von bösen Leidenschaften der Sinne weiß, pflanzt die Bibel schon die Versuchung in sein Herz. Es werden gewisse Kapitel beim Lesen in der Schule überschlagen, die lüsternste Neugier wird gereizt und bald zeigen sich Buben und Mädchen die grellen Verse im Ezechiel, wo in orientalischer Rücksichtslosigkeit die Bilder der Unzucht und Buhlerei beschrieben werden. Es gehören diese und ähnliche Momente unserer Erziehung zu dem großen Pathengeschenk, das uns einmal die Geschichte für unsre Geburt auf dieser Erde mit eingebunden hat. Es ist das Christenthum in seiner ganzen historischen Erscheinung, mit dem wir stehen, gehen, laufen, denken, fühlen, handeln, unterlassen lernen. Mit dieser ebenso heilsamen wie gefährlichen Tinctura aurea ist unser ganzes Blut durchzogen. Sie aus-171zuscheiden würde eine Revolution der Erde kosten, die noch über die Völkerwanderung hinausgehen könnte.

Aus der großen „Postille“ wurde jeden Sonntag Nachmittags eine endlos lange Predigt laut und deutlich vorgetragen. Diese Aufgabe war wenigstens die gesundeste Stärkung, nicht etwa der Seele, sondern der Lunge, sie hob die physische Stimme, gab ihr Kraft und Nachdruck. Die Mutter nickte dabei ein und entschlummerte, aber am Schluß wachte sie auf und hörte die Nutzanwendungen dieser Sammlung von Berliner Musterpredigten aus den ersten Regierungsjahren Friedrichs des Großen (Propst Hanstein, Rath Hecker, Consistorialrath Silberschlag u. s. w.) doch noch mit einem kräftigen Amen! und einem erhebenden Lobe des Vortrags. Nebenbei hatte der Knabe eine geheime christliche Lieblingslectüre. Es war dies ein einzelner Band eigenthümlichgedruckter Predigten. Dieß Buch übte von Innen und Außen einen wunderbaren Zauber auf den jungen Leser aus. Es war gut gebunden, inwendig mit einem Wappen der Familie Steiner aus Winterthur in der Schweiz, zwei Arme hielten aus einem Helme einen Stein empor. Das Buch selbst war 1782 in der Schweiz verlegt und von Häfeli, einem Geistlichen aus Lavaters Schule verfaßt. „Predigten und Predigtfragmente“ hießen diese Betrachtungen, die in einem völlig andern 172 Style geschrieben waren, als die alten Sermone von Propst Hanstein, aber auch völlig anders lauteten, als man noch jetzt in sämmtlichen Berliner Kirchen predigt. Diese Predigten waren in einem Schwunge gehalten, dem selbst der Vetter nicht folgen mochte, obgleich dies Buch doch wohl nur ihm gehörte und auch im Interesse der strengsten Orthodoxie geschrieben war. Aber die Bilder des Verfassers, die aphoristische, phantasievolle Schreibweise, die plötzlich im Uebermaaße der Rhetorik abbrechend oft Wort nur an Wort stellte, aber so bedeutungsvoll mit Schwabacher Schrift gedruckt, daß man erkennen mußte, hier sollten Centnergewichte liegen, die Bilderpracht, die Fingerzeige auf die allgemeine Weltgeschichte, die Einmischung von Polemik gegen die Voltaire-Zeit: das alles war so eigenthümlich, so neu, daß es auch zunächst schon einen eignen Vortrag bedingte, in dem sich der Knabe in stiller Einsamkeit übte. Der durchgehende Ton dieser Predigten war: „Ob Jesus von Nazareth lebender Retter und König, Souverain der Schöpfung, Erlöser von Sünd und Tod oder ein hingerichteter Rabbi aus Galiläa sei? Das ist die Frage!“ Und diese Gegensätze standen sich poetisch schroff gegenüber, in dem Styl, der später erst aus der Schweiz und dem deutschen Süden über Westphalen und Bremen nach Norddeutschland gekommen ist. Lavater und Klopstock sprachen ganz vernehmlich aus diesem Buche, dessen 173 Motto auch lautete: „Gesäet dem Tage der Garben.“ Hier war von Betrachtungen zu lesen über die heilige „Einsamkeit,“ über den Christ als „neue Kreatur,“ über Jesus, als die „Auferstehung und das Leben,“ über die Erwartung „des neuen Himmels und der neuen Erde,“ über „die Nahrungsmittel des himmlischen Lebens“ und ähnliches Ueberschwängliche, das mit poetischem Feuer bilderreich und blendend ausgemalt wurde. Hier hieß es: „Wer ihn gefühlt hat den Fluch des dornigten Ackers und Adams auf all seinen Söhnen ruhende Strafe; wer gesehen hat Mammons Ehre und Trug und den blinden, tauben Götzen Baal mit dem Schwarm seiner Anbeter – sich müde gehört hat an stolzen Worten, da nichts hinter ist und an dem Freiheitspreis der Sklaven des Verderbens, an dem Seufzen der mißbrauchten Kreatur und an dem tieferen Seufzen des mißbrauchten Brudergeschlechts und dem stolzen Gewühl ihrer Tyrannen – – wie flieht der so gern in die Einöde ohne Menschen, unverspottet seine Thränen zu weinen, in der leblosen Natur zu suchen, was ihm die lebendige so oft versagt – Einfalt, Harmonie, Größe, Adel, Gottesstrahl und ungekränkt sich mit dem Trost einer bessern, wenn auch fernen, Zukunft zu trösten! Siehe, der Herr verließ das Gewirr seiner ihn mißkennenden, hassenden Welt, wandelte am einsamen Gestade, im Schatten der Oelbäume, und schöpfte – was ihm keiner seiner Jünger, 174 auch sein Johannes nicht geben konnte – aus seinem Vaterland Stärkung und Muth auf Gethsemane, Gabbatha und Golgatha.“

Schon in diesen letzten Namen der Bibel ein majestätischer Schwung! Diese Oelbäume, ihr Schatten und dieser Gottesstrahl! „Endlich, endlich kommt doch Ein Wort Erklärung der harten Rede,“ heißt es in einer Textauslegung, „aber ein wie andres Wort, als man erwartet hatte! So kurz! So abgebrochen! So hingeworfen!“ … In diesem Tone ging das ganze, noch vorliegende Buch fort. Es ist der erste geistige grüne Anger gewesen, auf den sich die Knabenseele aus dem dürren häuslichen Leben endlich flüchtete. Es war wohl das Lamm Christi, das auch hier wieder weidete, aber die dumpfe, erstickende Stubenluft schnürte nicht mehr die Brust zusammen. Dieser zerrissene, einzelne Theil einer Schweizerischen Predigtsammlung von 1782 mit den angehängten Aphorismen über Christus, den „Weltenheiland,“ wurde dem Kinde die Eingangspforte in neue und reinere Anschauungen. Es war des Knaben liebstes Buch. Die Feder kritzelte auf dem innern Einband unter dem Wappen von Winterthur ihre ersten Schreibversuche. Immer wurde einsam dies Buch gelesen, laut gelesen, in der Einsamkeit so laut, daß man’s ein Predigen nennen konnte. Hier thronte Gott über allen Wolken und Wassern und Christus unter ihm schwang die „Blut-175fahne“ mit dem Wappen des Lamms. Der Gekreuzigte stand über allen Thronen und richtete Majestäten und Verbrecher, die Reichen und die Armen, die Adler in den Lüften und den Wurm im Staube. Sein Kreuz stand riesenhoch und im Erdbeben zitterte Jerusalem. Düstre Wolken rauschten über die Häupter der Welt und die Vorhänge des Tempels zerrissen. Dies war kein leidender, nur redender Christus, sondern ein handelnder, selbst im Leiden triumphirender. Und unser Buch stellte ihn der Geschichte gegenüber, rief: „Sesostris, Cyrus, Pythagoras, Aristoteles – Copernicus und Luther – Cartesius und Grotius – Gustav Adolph und Friedrich!“ Sie sollten zeugen, daß „kleine ohnmächtige Kinder“ Männer werden könnten, wieviel mehr dieser Christus, der „Zimmermannssohn“ und doch in Gott Purpurgeborne! Das Kind kannte nur wenige von jenen Helden, aber die Vorstellungen erweiterten sich, die Geschichte rollte sich auf, diese Christusauffassung ging über die Spittelkirche und die Sonntags-Nachmittags-Postille hinaus.

„Können wir uns einen anmuthigeren, traulicheren Auftritt denken, als Jesus – unter der Mütter- und Kinderschaar? Alle Herrlichkeit des Eingebornen vom Vater, allen Ernst des Lehrers, alle Majestät des Wunderthäters, zur mildesten Huld, zur zartesten Liebe, zur trautesten Einfalt gemildert – voll 176 einladender Zärtlichkeit sein Blick, sein Mund Allen freundlich zulächelnd, seine Hände nach Allen sich ausstreckend. Und um Ihn die Mütter mit ihren Lieblingen – auf den Armen die Einen, auf der Hand die Andern – drängen sich zu Ihm, berühren seine Knie, blicken schüchtern erst, dann froh lächelnd an Ihm auf, mit jedem Blicke zutraulicher, froher, gesprächiger – und von Jesus aufgehoben, geherzet, gesegnet, mit einem liebreichen Glückwunsch, mit einer väterlichen Lehre den Müttern wiedergegeben! Können wir uns einen lieblicheren, wehmüthig erquickenderen Auftritt denken! Einen lieblicheren und erquickenderen für Mütter, für Kinder, für englische und menschliche Zuschauer! Seelig sind die Kinder, die Jesus also segnete, die auf seinem Schooße saßen, seine Wange berührten, mit seinen Haarlocken spielten! Ja, selig wird er uns zurufen, wenn Ihr werdet, wie die Kinder.“

Du herrliches Buch! Was hast du die Seele des Kindes wie mit Engelsfittichen und in Himmel unendlicher Entzückung gehoben! Du Schweizermund voll Pracht und Hoheit, voll Lieblichkeit und Poesie! War’s das Alpenglühen der schneebedeckten Firnen, das aus deinen wurmstichigen Blättern in die ahnungsvolle Einsamkeit des träumenden Kindes blitzte? Waren es die Heerdenglocken von Zürich, die den armen Sohn der nordischen Steppe wie auf grüne Bergeshalden lockten 177 und ihm die Schauer einer Welt voll heiligeren Schwunges und reinerer Schönheit zauberten? O du erstes, frühstes, einzigstes Buch! Labsal einer nachtumhüllten Sehnsucht! Ein Schatz! Ganze Bibliothek eines Kindes! Ein einziger in eine Herberge der Armuth verlorner „dritter Band“ und doch so vollständig, so groß, so umfassend, wie alle Bücherschätze der Weltweisen! Braucht das Auge lange zu wählen und weilt nicht voll Thränen auf einer Stelle, wie dieser:

„In der lieblichen Abenddämmerung der Einsamkeit erscheinen sie wieder die Rosen unter der Morgenröthe – die seeligen Tage der Kindheit und Unschuld, wo unser Leben hinfloß, wie durch Blumenauen der klare Bach, wo keine Wolke den reinen, lachenden Himmel trübte, kein feindseliger Sturm unser Inneres zerriß – wo wir im Schooß unsrer Mutter frohlockten und mit den jugendlichen Gespielen um den blühenden Baum unsres mildgepflegten Gartens Eines Herzens jauchzten. Da kommen sie wieder hervor aus dem verschlingenden Strome der Zeit alle die Stunden genossener Freuden – und die dunklern Stunden der Trauer, die durchkämpften Nächte, die Thränen, die noch die Morgenröthe beschien – das ungezählte Heer der Sünden, bereut und unbereut, verziehen und unverziehen – vom ersten Lustgenuß am Baum der Erkenntniß bis zur Untreu im letzten Tagwerk. Alles zieht im namen-178losen Schauer unsrer Seele vorüber – ein Vorschmack des Weltgerichts – wir genießen wieder und leiden wieder, frohlocken und trauern wieder. Und aus diesem Bilde des Vergangenen geht das Bild unsrer Zukunft hervor, die Pfade öffnen sich, die wir noch wandeln sollen, die Kämpfe, die uns fürgelegt sind – wir trinken itzt schon aus dem Becher der fernsten Freuden und Leiden und unsre Seele faßt in lebendiger Hoffnung und Furcht das Unsichtbare, wie wenn es sichtbar wäre.“

Mit diesem wunderbaren Buche brachen in die religiöse Nacht des Kindes Strahlen der Morgenröthe.

179 VI.#

Das fünfte und sechste der Bücher, die dem Knaben von Bedeutung werden mußten, waren Göthes Faust und Don-Quixote.

Daß sich Göthes Faust in die bescheidenste Welt der Armuth verlieren konnte, war ein Wunder. Bei einem Spielkameraden, der in demselben Thurmpavillon wohnte, dem Sohne eines Dienstangehörigen des Königs, fand sich ein nie wieder so kostbar gesehenes, rundum in hellgelbes feinstes Leder gebundenes, auf stärkstem Velinpapier gedrucktes Exemplar des Faust, eine Prachtausgabe. Und wie, wenn dieser Faust Sr. Majestät selbst gehört hätte? Das kostbare Buch war ohne Zweifel in irgend einem der königlichen Wägen liegen geblieben und hatte (nach doch wohl erfolgter Anmeldung) keinen Herrn gefunden. Magnus hieß des Königs Rosselenker, bei dem der Knabe diesen Faust 180 entdeckte. Von Potsdam nach Berlin, von Berlin nach Charlottenburg fahrend, hatte der König oder die Königin vielleicht in diesem Prachtexemplar geblättert. Es war im Wagen vergessen worden, die Königin war todt, der König liebte bekanntlich weder den Faust noch den Geheimerath von Göthe; so blieb unser Buch dem Kutscher Magnus und wurde das Lieblingsbuch seiner Kinder und deren Gespielen. Natürlich zwingt die Wahrheit sogleich zu dem Geständniß, daß dem Kind das einzig Gefällige und Verständliche im Faust sein rein Unverständliches war. Die Hexenküche, da war man heimisch. Da sah man die Töpfe und Kessel, den Blasebalg, den Rührlöffel und die Meerkatzen. Und diese Meerkatzen interessirten um so mehr, als eine Treppe höher, fast unterm Dache, noch ein unmittelbarer Dienstmann der Hohenzollern wohnte, der seinerseits Meerkatz hieß. Was sich in einem Kindskopfe aus so zusammentreffenden Umständen für ein logisches Ungeheuer bildet, ist nicht wiederzugeben. Ein Kind verknüpft das Fremdartigste mit einem Parallelismus, der selbst in späteren Jahren immer an der selben Stelle wieder auftaucht und bei gewissen Vorstellungen immer wieder dieselben tollen Unzusammengehörigkeiten vor dem Auge tanzen läßt, wie z. B. auch die, daß der Knabe den bekannten Preußischen Königsnamenszug Friedrich Wilhelm Rex, in drei verschlun-181genen Buchstaben dargestellt, immer nur mit einem vielgenannten Berliner Schullehrer und Cantor Namens Rex in Verbindung bringen konnte und noch ehe er etwas von dem schwäbischen Ursprung der Hohenzollern erfuhr, sich in demokratischer Vorahnung auch bei Königen einen ursprünglichen Familiennamen als nothwendig dachte und dabei nicht übel Lust verspürte, jenen Cantor Rex für einen irgendwie anzuerkennenden Seitenverwandten der majestätischen Herrschaften zu nehmen, die sonderbarerweise alle nur nach ihrem Vor- und nicht nach ihrem eigentlichen Familien-Namen Rex gerufen wurden … Kehren nicht noch im Alter, wo doch diese Irrthümer alle amputirt sind, wie in Gliedmaßen, die man nicht mehr besitzt, dieselben tollen Empfindungen wieder, falls der correlate Nerv der Seele berührt wird? Und haben nicht unsre Träume noch bis zu jenem letzten, aus dem man nicht wieder erwacht, ihre ganz eigne, immer und immer mit gleichen Bedingungen wiederkehrende Topographie, dieselben nicht existirenden Straßen, Plätze, Gärten, und kann man sich der regelmäßigen Wiederkehr einer und derselben Traumvorstellung erwehren, z. B. der wahrhaft folternden, daß man noch einst einmal ein großes Abiturientenexamen zu bestehen hat? Diese Traum- und Kinderlogik brauchte lange, bis sich der alte hüstelnde Meerkatz in der Dachstube mit den 182 sprechenden Meerkatzen des Faust allmälig auseinander fand. Die Thiere, die mit Kronen spielten, wie mit Glasscherben, die den Brei am Feuer rührten und zuletzt von einer durch den Schornstein fahrenden Hexe für ihr Ueberlaufenlassen der Töpfe gezüchtigt wurden, traten endlich unabhängig von dem Kutscher Meerkatz und in solcher Lebendigkeit vor die Augen, daß nach Anschauung regelmäßiger Puppenspiele in der Mittelstraße mit Göthes Faust eine dramatische Darstellung versucht wurde. Es that dabei nichts, daß ein aufgestürzter Stuhl, ein Fußschemel, ein paar Fensterkissen das Theater und anderweitig eroberte Figuren, die an sich Ritter oder Neufchateller Jäger darstellten, diesmal Hexen und Meerkatzen bedeuten mußten. Die Auslegung macht nicht blos beim Kinde das wahre Sein. Der reine Glaube ist das absolute Wissen. Die Vollendung der dargestellten Hexenküche, die dem jungen Dramaturgen als vollkommen erreicht vorschwebte, hat spätere Bühnenanschauung im Opernhause nie wiedergegeben. Die an sich vergebliche Mühewaltung der wirklichen Reproduction verschwand gegen das Ideal einer Inscenirung, das so gut wie die Wirklichkeit selbst war. Wie sich die mit Kattunschürzen verhangenen Stühle vor dem Auge zu so mächtigen Rundbögen wölbten! Wie die Küche so schwarzberußt wirklich gesehen wurde! Wie diese den Neufchateller Jägern substituirten Meer-183katzen sich balgten und mit dem Besen stäupten, weil „die Frau“ nicht zu Hause war! Und dann jener Brei, den sie rührten, diese bekannten breiten „Bettelsuppen“, die die Kinder nur auf Mehlbrei, nicht grade ihr Leibgericht, beziehen konnten. Jetzt läuft der Kessel über, die Hexe, vom Schornstein herabfahrend, verbrennt sich und schreit: „Au, au, au, au! Verdammtes Thier, verfluchte Sau!“ … Diese cynische Stelle, sei es nur gestanden, wurde als die classischste in allen Tonarten, in Dur, Moll, in Grunz- und Fisteltönen nachmodulirt. Diese Stelle war die sprechendste Anmuthung an die trunkene Freude, so schauderhaft Natürliches, so rein der eignen unmittelbarsten Gegenwart und dem Selbsterlebniß Angehöriges gedruckt zu lesen! Das beschämendste Geständniß muß einräumen, daß vom ganzen Faust nur diese Salva-Venien als das erste Material der Poesie bis zur Ueberseligkeit durchgekostet wurden. Nächstdem das Hexen-Einmaleins, das dem Schul-Einmaleins so nahe stand und dabei wie die tiefste Anfangsahnung der Metaphysik lautete und feierlich, ja mit einem gewissen Respect vor der – man konnte nicht wissen, ob doch nicht hoch erhabenen – Hexenweisheit vorgetragen wurde. Schließlich erwarb sich noch der Prolog der Dichtung, der Herr unter den himmlischen Heerschaaren, ein eignes Interesse. Das Drama selbst, wo Mephistopheles dem Kinde lange nicht bocksfüßig 184 und hörnermäßig genug auftrat, mundete nicht. Aber „der Himmel schließt, die Erzengel vertheilen sich“ … Das klang so selig und weckte goldensonnige Bilder! Dies Vorspiel war eine der Phantasieen, in deren lichtreine Sphären aus der Hexenküche man sich eben so flüchtete, wie der Knabe selbst in das Vordergebäude des Akademie-Quadrates schlich, wenn sein Gespiele, der Sohn des Kastellans, ihm eine geheime Thür öffnete und er zu einer Stunde, wo nur Maler, nur Kunsteingeweihte die Ausstellung der Gemälde besuchten, sich durch die goldrahmige bunte Farbenpracht, diese heilenden und lehrenden Jünger, diese Christuswunder, diese bunten Scenen der patriarchalischen Urzeit, die Abrahamsopfer und kanaanitischen Brunnengrüße hinschleichen durfte.

Die allmälige Erlösung von dem gewaltigen Druck einer dumpfen überreligiösen Stimmung förderte auch eine alte zerrissene Uebersetzung des Don-Quixote, die dem Oheim gehörte, der in der nächsten Umgebung des Prinzen lebte. Die Schwänke des sinnreichen Junkers von La Mancha wurden Abends von der Cousine und dem Vetter vorgelesen, noch öfter vom heitern und von aller christlichen Selbstqual entfernten Oheim unter Lachen wieder erzählt. Das Barbierbecken als Helm, die Windmühlen als berittene Feinde, eine Bauernmagd als Prinzessin und Sancho Pansa, der ebensogut 185 ein Bauerlümmel aus Pommern oder der Uckermark hätte sein können, als Knappe, das waren Spässe, die zwar nicht so greifbar auf der Hand lagen, wie die Hexenküche und die Meerkatzen im Faust, im Gegentheil Spässe, die schon Sinn für Contrast, Ironie und Satyre erforderten, aber bei allem Kopfschütteln und starrem Gaffen eines im Grunde schon nur für sublimere Dinge empfänglichen Gemüthes verfehlten die Anpreisungen des Buches ihre Wirkung nicht und voll Emsigkeit wurde der Don-Quixote nicht ein, sondern mehre Male durchgelesen. Der Vater verlegte dabei die Scene wirklich nach Pommern. Diese Amtleute, Wirthe, Fuhrmannsausspannungen, diese Windmühlen, bebrillten Pastoren, steifen und nasehochtragenden Gutsherrschaften, alle spanischen Figuren des Cervantes fanden sich ebensogut auch in dem Andalusien Preußens wieder und wieviel wirkliche Don-Quixotes noch jetzt in Pommerns löblicher Ritterschaft leben, beweisen hinlänglich die Geschichten des Tages.

Die Zahl der gelesenen Bücher mehrte sich nun schon von Tage zu Tage. Sie zogen die Seele nach zwei Richtungen, dem Märchenlande der Poesie und der Welt der geschichtlichen Thaten und muthigen Unternehmungen. Das einfache Wissen von todtaufzuspeichernden Fakten schmeichelt sich dem Gedächtniß des 186 Kindes nicht ein. Zwischen die wunderthätigen Feen, die Siebenmeilenstiefel des kleinen Däumlings und die Wilmsen’schen Heldensäle, Bardenhaine und die Abenteuer Robinson-Crusoes drängte sich allmälig noch eine dritte Gattung, man möchte sie die pädagogische Romanenwelt nennen. Es sind dieß die ländlichen Idyllen, die Pfarrersbesuche in Friedheim, die Familienabenteuer einer Reise des Amtsmanns Gutmann und seiner Kinder, Campes durch glückliche Zufälle eroberte Jugendbibliothek. Letztere bot noch den reizendsten Genuß durch seine dramatisirten Familiengeschichten. Der bei Campe auftretende arme Thüringer Bergmannsknabe, der mit seinem ländlichen Dialekt und seiner Kunstfertigkeit auf der Geige sich die Freundschaft und Liebe eines vornehmen Hauses erwirbt und seinen ihm dargereichten Teller mit Kuchen und Wein erst nach einem Dank an Gott in die Hand nimmt, wird jedes gutgeartete Kind rühren. Bald wird sich zeigen, wohin die junge Seelenschwinge sich vorzugsweise getragen fühlt. Zu Aladdins Wunderlampe und den verschlossenen Bergen, die auf des Zauberers Geheiß sich öffnen, zum lieben Tischlein deck’ dich! Oder zu den Thaten Herrmanns des Cheruskers, den Siegen der Deutschen über die Hunnen, der Heldenbahn Luthers, dem Tode Gustav Adolphs und dem ebenso lieblichen wie rührenden Ende Theodor Körners. Oder in der 187 That zu dem kleinen Bergmannsknaben, dessen naive Treuherzigkeit dialektisch auf einem später eroberten Antheil an einem Theater nach Kräften bis zur nie ausbleibenden Selbstrührung wiedergegeben wurde .… Die pädagogische Unterhaltungsliteratur des Tages tastet hin und her und bringt uns in jeder Weihnachtszeit neue Experimente mit dem Kindergemüth. Immer mehr aber greift die Sucht um sich, mit der Kinderkost weit mehr die Alten zu sättigen. Die Neigung der Großen, sich zuweilen von ihren Mühen auszuspannen und zum Scherz ein wenig läppisch zu werden, verwechselt sich nur zu oft jetzt mit dem Unterhaltungsbedürfniß des Kindes, dem allerdings auch das Läppische, wenn es bunt gemalt ist, gefällt, wie Alles, was ihm geschenkt wird, aber die Nachwirkung auf die Seele wird doch die leerste und die flachste. Das Kind bedarf Thatsachen und diese Thatsachen nicht todt und nur aufgespeichert, sondern in Bewegung gebracht durch irgend eine Handlung, irgend ein Lebensschicksal. Das Märchen sei ohne Ironie, ohne zuweitausgesponnene Zwecklosigkeit und romantische Träumerei, es lehre den Glauben an gute und böse Kräfte des Lebens, große gewaltige Elementarwirkungen und die Ausgleichung einer ewigen Gerechtigkeit! Die Thatsachenliteratur für Kinder schildre Männer, die Einziges wollten und Großes zu dulden verstanden, Helden des Geistes, die sich von unten 188 herauf durch tausend Hindernisse emporarbeiteten, Forscher, die wie Columbus, keine Gefahr scheuten, ihr gläubigstes Ahnen zu verwirklichen! Das Familiengenre endlich hüte sich vor der Nachahmung fremder Erziehungstöne, wie sie besonders jetzt aus Frankreich herüberklingen! Diese geleckten übermalten Berliner Lithographieen mit den nach dem Pariser Modejournal geputzten jungen Herrchen und Dämchen, mit Knaben in Sammtgilets und Spitzenmanschetten, in englischen Lovely-Mützen und eng am Halse schließenden gebrannten Spitzenkrausen sind eine arge Vervornehmung der alten gemüthlichen bürgerlichen Jugend-Romantik Campes, Löhrs und Andrer, die zur deutschen Kinderwelt vielleicht etwas philisterhaft, aber in der einmal vorausgesetzten herrschenden deutschen Art und Sitte redeten.

Die Freuden der Natur und die alten Kriegs-Erinnerungen waren es, die gegen eine allzudüstre, gefährlich drohende Bigotterie auch im Hause selbst zuweilen fröhlichen Einspruch thaten. Selbst der apokalyptische Vetter konnte dem Reize einer Sonntagswanderung nach dem Dorfe Lichtenberg nicht widerstehen. Kornblumen und Lichtenberg waren dem Knaben ein und derselbe Begriff, und fast möchte man an die neue Lehre von einer materiell sich abdrückenden Einsammlung der geistigen Erfahrungen glauben; denn bei jeder Kornblume wird noch dem Manne Lichtenberg, wie 189 bei jeder Heuschrecke, die in den Herbstesstoppeln singt, das Dörfchen Tempelhof einfallen. Eine Wanderung nach Lichtenberg begann um die Mittagszeit und zog sich durch die entferntesten Stadttheile. Unterwegs stieß zu der frohbewegten Karavane dieser oder jener Verwandte: Der Vetter Christian mit dem Lederwamms aus Ungarn, der inzwischen schon einen Buckel nach dem andern hatte auftrennen müssen und freudvoll und leidvoll eine sonderbare Heirath schloß, die im Zusammenhange mit dem ihm wirklich tieftragischen Weh, daß die Filzhutmacherei plötzlich von den Seidenfelbelhüten, das zünftige gründlich erlernte Handwerk von Seidenhutnätherinnen und Papparbeitern verdrängt wurde, durch eigenthümliche Umstände den Griffel eines städtischen Dorfgeschichten-Dichters herausfordern müßte; der Vetter Wilhelm, der heute schon zwei Kirchen und die Rechtgläubigkeit ihrer Kanzeln geprüft hatte und mancher Andre. Vorüber ging es dann regelmäßig an einem Erdgeschoß in den Vorstädten, in dem eine andre unheimliche Jugenderinnerung und wieder etwas Seltsames aus der Sphäre des schönen Geschlechtes hauste. Es war dieß die gespenstersehende sogenannte „alte Cichorien-Liese.“

Diese lange hagre „alte Cichorien-Liese“ hatte noch einen imposanteren Wuchs, als die Hexe am Königlichen Schloß. Knochig, spitznasig, langfingrig, mit Habicht-190augen, scharfredend und dabei stocktaub. Sie war vermögend diese holde Dame und wollte durch einen Handel mit Cichorien, den sie in einem kleinen Kreise von regelmäßigen Abnehmern mit Hülfe einer sie begleitenden Dolmetscherin, die ihr den Korb tragen mußte, trieb, sich nur zerstreuen und unterhalten. Diese Cichorien-Liese schritt wie eine Königin so stolz, schnupfte wie ein Minister und beschäftigte sich nur mit den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens, mit der großen europäischen Politik und mit den Gespenstern. Die Cichorien-Liese konnte in der That die Göttin des Jahrhunderts vorstellen; denn stocktaub und lautkreischend hielt sie gewöhnlich eine großmächtige Messingtrompete wie Frau Fama in der Hand. Diese Trompete setzte sie aber nicht an den Mund, sondern ans Ohr. Es war eine Schalltrompete, durch die sie ihre Taubheit mit einer Welt vermittelte, deren sichtbare und unsichtbare Dinge ihr leidenschaftlichstes Interesse erregten. Die Cichorien-Liese kam nicht zu oft zu den Eltern des Knaben, denn ihr Handelsartikel diente diesen nur zur angenehmeren „Färbung“ des Kaffées und zur Herstellung jenes pikanten Geruches, der der gebrannten radix cichorea selbst von halben Türken im Mokkagenuß nicht abzusprechen ist. So oft sie aber kam, war es immer ein wirkungsvolles Ereigniß. Ihre dienende Famula trug den verdeckten Korb, sie selbst schritt stolz voran, setzte sich feierlich und begann, 191 wenn sie eine Priese zur Nase und dann die Trompete zum Ohr genommen hatte, regelmäßig eine Conversation über die höchsten Interessen der Menschheit. Entweder war es „Boneparte“, über dessen Pläne auf St. Helena sie die genauesten Mittheilungen besaß, oder sie hatte, als gebornes Sonntagskind, wieder Geister gesehen. Die Politik und die Geister waren ihr Steckenpferd. Sie näselte im Sprechen, sprach aber so stark, daß es fast dasselbe Schreien war, mit dem in die Trompete die Fragen oder Antworten gerufen werden mußten. Die Erhebung der Griechen erfüllte die Cichorien-Liese mit einem Interesse, das ihr Handel mit Caffee-Surrogaten doch sonst an der Levante nicht nehmen konnte. Ihre Phantasie sah nur türkische Kriegsschiffe unter Brandern in die Luft springen und griechische Kinderköpfe, von den Türken zu Tausenden abgesäbelt. Es schien ihr unwiderleglich, daß „Boneparte“ jetzt ebenso die Griechen gegen die Türken commandirte, wie er späterhin bei Varna und Schumla die Türken gegen die Russen commandirte. Die Cichorien-Liese sprach von den Congressen in Carlsbad und Verona, vom Fürsten Hardenberg und, auf innere Angelegenheiten übergehend, von der Erhöhung der Miethsabgaben mit derselben Gewißheit, wie sie regelmäßig unter einem seufzend abwehrenden „Ach lieber Gott!“ der Mutter auf ein Hereinragen der Geisterwelt in die 192 unsrige so ruhig und glaubenfest überging, daß Justinus Kerner seine Freude daran gehabt hätte. Die Cichorien-Liese bewohnte eine anständig eingerichtete comfortable Kellerwohnung, von der sie behauptete, daß es in ihr „spüke“. Es war dabei seltsam, daß sie stocktaub doch Geister immer deutlich hörte, auch ohne ihre Trompete. Mit überzeugungstreuer Sicherheit erzählte sie, daß es erst vorgestern wieder in der Nacht, wo sie nicht hätte schlafen können, ganz deutlich und vernehmlich hinter, in oder an der Wand gerufen hätte: „Wilhelm! Wilhelm! Ach Wilhelm!“ Sie erzählte, daß sie zwar gegen das „Spüken“ ein Bannungskraut, die „Spieke“, in ihre Betten verstecke, aber da sie ein Sonntagskind wäre, hülfe es nicht viel. Es kämen ihr die Gesichter wie über den Weg. Wenn sie allein säße und sich nur umdrehte, so könnte sie Köpfe mit langen Bärten sehen, die sie um Erlösung anbettelten. Sie ging ohne alle Metaphysik rein durch Erfahrung von der Idee des Zwischenreiches aus, in dem eine Menge von Seelen haltlos umherirrte und ihre Stunde oder passende Unterkunft suchte. Längst verstorbene Verwandte nicht nur, sondern auch noch lebende, nur nicht grade anwesende, sah die Cichorien-Liese sehr deutlich hinter ihrem Kachelofen sitzen, andre beim Aufblicken vom Studium ihrer Vossischen Zeitung „justement in die Kammer“ gehen. Die Geisterseherin schritt nach ihrer Erzählung gewöhnlich auf 193 die Erscheinungen herzhaft zu und verjagte sie eben nur durch diese Herzhaftigkeit. Es stand ihr fest, daß die Seelen der Todten die unglaublichste Unruhe hätten und sich um jeden Preis gern wieder in dieser Welt zu schaffen machten. Auch könnte man überzeugt sein, es lägen so viel geheime Schätze in der Erde vergraben, so viele Verbrechen blieben unentdeckt, daß es schon darum keinen Menschen Wunder nehmen könnte, wenn es des Nachts an ihrer Wand raschelte und mit herzzerreißendem Jammer riefe: „Wilhelm, Wilhelm, ach Wilhelm!“ Unser Apokalyptiker, der wirkliche Vetter Wilhelm, wenn er „arbeitslos“ war, traf oft mit der geistersehenden Cichorien-Liese zusammen und es entspannen sich dann die schauerlichsten Gespräche über das dunkle Dießseits und das allerklarste Jenseits. Beide hatten die gleiche Neigung für die Politik, für „Boneparte“, die Griechen, die Türken, den Papst und die Miethsabgaben, allein in ihren Prinzipien wichen sie von einander ab. Die Cichorien-Liese war durchaus weltlich und beinahe heidnisch. Der Apokalyptiker dagegen ließ die Geister nur unter gewissen Umständen gelten – kannte er doch Swedenborg und sprach mit Ehrfurcht von ihm! Er verlangte eine religiöse Färbung dieses Geisterglaubens. Er unterschied die Selbsttäuschung und die Offenbarung. Vetter Wilhelm erklärte, es gehörte zum Geistersehen mehr als nur 194 Taubheit oder ein Geburtstag am Sonntage oder der narkotisch betäubende Duft der gebrannten Cichorie; es gehörte ein reines Herz dazu und gottseliger Wandel und Gottes besondere Geneigtheit und spezielle Vorliebe für irgend einen zum Geistersehen erwählten Menschen. Ihm war das Geistersehen eine pure Gottesgnade. Die Cichorien-Liese pflegte solche Einwendungen im schnarrendsten Schreitone abzuweisen und blieb bei ihren Visionen, die ihr auch ohne Kirchenbesuch und Bibel kämen und nur destomehr kämen, je mehr sie „Spieke“ legte. Die Spieke und das „Spüken“ blieben seither dem Knaben wieder so Eins, daß ihm noch in allen Stunden, wenn er ein Gartenbeet mit Lavendel eingefaßt sieht, die Dämonologie der Cichorien-Liese einfällt, ebenso wie beim Namenszuge der Preußischen Könige auf Kanonen und Patrontaschen, wie schon erzählt, der alte Cantor Rex.

Bei den Wanderungen nach Lichtenberg wurde in den Geisterkeller der Cichorien-Liese ein rascher Blick geworfen; aber nur flüchtig; denn ihre Lebhaftigkeit, ihre Abgeschlossenheit von der Welt durch die Taubheit hätte zu langen Aufenthalt gekostet. Man wanderte weiter. Zum Landsberger Thor hinaus. Flach, flach, kahl, kahl ist der Weg nach Lichtenberg! Und doch lebt er im Jugendgedächtniß nur als eitel wogendes, sonnenbeglänztes Kornfeld, als Schmetterlingstummelplatz, als 195 blauer Cyanen- und rother Mohnblumengarten. Dies Durchschreiten durch hohe Aehren, die sich in der Sonne wiegen und schwadenweise bald auf diese oder auf jene Seite sich im Winde senken, wie wonnevoll dem Knaben, der noch so klein, daß er in ihrem Schatten wandelt, nur blauen Himmel über sich sieht und neben sich die Kornblumen mit ihrem blauen Johanniterkreuz auf der grünen Basthülle der Knospe, die rothen Flatterrosen, die Mohnblüthen, die er pflückt und dabei über die Löcher der Maulwürfe stolpert. Rings die wogende gelbe Saat. Dies freundliche Grüßen der Vorübergehenden, diese schallende höfliche Erwiederung der ganzen Karavane. Die Männer ziehen die Röcke aus und tragen sie auf Stöcken. Die Frauen drängen zur Eile, um bei einem Bauern noch einen guten Gartentisch oder einen Sitz dicht unter seinem strohgedeckten Giebeldache zu erobern. Endlich sieht man das Dorf mit seinem Kirchthurm und dem seit Jahren bekannten großen Storchennest, das so unvordenkliche Rechte und Erbpachtsansprüche der dorthausenden Storchenfamilie zu haben scheint, wie einst der alte General Möllendorf hier in seinem Schloßparke am Ende des Dorfes hatte, oder jener Liebhaber von Pfauen und türkischen Enten, die linker Hand einen großen hellen Wirthschaftsraum und ein stattliches Anwesen zieren. Eine spröde Opposition des märkischen Bauern gegen Berlin und Ber-196linerthum macht sich auch darin geltend, daß fast bis dicht unter die Thore der Stadt der Landbewohner seine allgemeine bäuerliche Art behalten hat und daß man sich auf eine halbe Meile von Berlin schon wie mitten in die Altmark oder die Priegnitz versetzt glaubt. Kleine niedrige Lehmhäuser mit dichten Strohdächern, eine düsterschattende Linde vor dem Thor, Räder, Deichseln, Latten den Eingang hemmend. Die Tracht ganz ländlich, kurze Jacken, lederne Hosen, bunte Nachtmützen, die Sprache plattdeutsch, frei von dem scheußlichsten aller deutschen Dialekte, dem der Hauptstadt, auf dessen nicht unmögliche Ausrottung eine Regierung, die wahre Volksgröße liebt, Prämien setzen sollte. Was gab es bei einer solchen Wanderung nicht zu behorchen, zu belauschen! Der Knabe steckte die Nase in alle düngerduftenden Ställe, in alle so eigenthümlich trockenluftigen Scheunen, kletterte auf die würzigathmenden Heuböden, sammelte im Garten an den Kirschbäumen vergessene gedörrte, von Vögeln angepickte Reste, sammelte Harz, das man mit den Fingern zu kunstvollen Geweben abspann, ging auf die Raupenjagd im Kohl- und Rübenfeld und dämmerte so hin in jener traumseligen Gedankenlosigkeit der Kinder, die das Große und Wichtige übersieht und sich an einer kleinen aus Steingerüll hervorgesuchten Blume oder einem Brombeerheckengewirr, durch das sich blaßrothe oder 197 blaue Winden schlängeln, oder einem Marienkäfer, den man sich in irrender Emsigkeit über die Hand laufen läßt, die größten und beneidenswerthesten Welten ausspinnt.

Die Kraft der geistigen Sinne wächst. Sechs Jahre war der Knabe alt, als ihn schon ein Weltereigniß aus dem dumpfen Chaos des kindischen Ichs wachrief. Es war dies die Jubelfeier der Reformation. Die Bedeutung dieses Festes wurde vollkommen verstanden. Der lebhafte Sinn des Vaters wußte das Verbrennen des Tezelschen Ablasses, das Anschlagen der freien Glaubenssätze an die Wittenberger Kirchenthür und alle Fingerzeige Gottes in dem Leben des großen und deutschesten Volksmanns so anschaulich zu machen, daß diese Glockentöne, die drei Tage lang wie ein bewegtes Meer der Lüfte zu wogen und zu brausen nicht aufhören wollten, auch die ganze Seele ergriffen und zum protestantischen höchsten Hochgefühl hoben. Voll eitel Sonnenschein und wie ein einziger dreitägiger Glockenton ist diese erste historische Erinnerung. Ihr folgte die Kunde von Napoleons Tod, der auf den Straßen nicht eben mit Siegergroßmuth ausgerufen wurde. Dann der Kampf der Griechen und Türken, nachgeahmt in allen Kinder-Spielen, wo Jeder Grieche, Niemand Türke sein wollte und zuletzt das Abzählen entscheiden mußte. Sand’s Ermordung Kotzebues fand dann schon 198 im Knaben die ganze parteiische Würdigung, der selbst berühmte und ernste Männer wie De Wette nicht widerstehen konnten. An allen Bilderläden, hinter Fenstern und auf offener Straße hingen die Darstellungen der Ermordung Kotzebues, wiedergegeben in allen Einzelheiten, bald im Moment der Anmeldung Sand’s, bald im Ueberfall und Niederwerfen des Schlachtopfers oder in der Gefangennehmung des Mörders, wo dieser vergebens sich zu tödten suchte. Dann noch gesellten sich später alle Momente der Urtheilsverkündigung, die Fahrt zum Hochgericht und des „Richtens“ hinzu. Ueberall hing Sand’s Bildniß. Von hundert Rauchern hatten fünfzig gewiß einen Pfeifenkopf mit dem Abbilde des Mörders, der vom Vater mit unbedingtem Abscheu verurtheilt, von der Mutter mit den Worten bemitleidet wurde: „Der schöne junge Mensch!“ Die Nähe der Universität brachte mit der damaligen Studentenschaft in die unmittelbarste Berührung. Der Vater nahm an der altdeutschen Tracht den entschiedensten Anstoß, verspottete mit der bittersten Abneigung Jahn, den Turnlehrer, und erstickte die heißeste Neigung des Knaben, sich im Zwillichkittel für die Hasenhaide anwerben zu lassen, unbedingt. Der Altpommer that dies mit einer Fluth von Verwünschungen so gottlosen, hochmüthigen „Narrentreibens“. Es stellte sich schon allmälig in der Zeit der Bruch zwischen Stillstand und 199 Bewegung heraus, ein Bruch, der einem nun in die Nähe von hohen Stabsoffizieren gerückten Manne früher zum Bewußtsein kommen mußte, als der Masse, die erst durch die Einkerkerungen der akademischen Jugend stutzig wurde. Auch die bis zum neuesten Datum so angewachsene Verachtung der Volkswehr durch die disciplinirte Armee gab sich in den Worten kund, daß diese jungen Boxer und Balger in der Hasenhaide, mit ihrem „Hansnarrn“, dem Professor Jahn, an der Spitze, beim ersten Kanonenschuß, den sie von den Franzosen hören würden, alle davonliefen. Das Turnen wurde für die überflüssigste Spielerei erklärt, die noch dazu die Gefahr der Verwilderung brächte, wofür es freilich Beispiele genug gab. Der Kriegstaumel spukte noch so in allen Köpfen nach, daß von der Schuljugend in den Straßen die wildesten Scharmützel geliefert wurden. Vor dem eignen Hausthor erlebte man eine dieser Schlachten, die von einem Turner mit einem grünen italienischen Fischernetze auf dem langbehaarten Haupte masanielloartig befehligt wurde und einige blutende Opfer zur Folge hatte. Dem militärischen Sinne des Vaters waren schon diese langen Haare ein Gräuel. Er nannte diese neue Mode Lichtstecken, Talglichte, Besenreiser, Flachswocken – Junker Tobias von Rülp konnte von Junker Christoph von Bleichenwangs Perrücke nicht anzüglicher reden. Die grauen Kittel und 200 Hosen der Turner wurden mit den Zwillichkitteln der Festungssträflinge verglichen. Von Jahn hieß es, dieser Mann „sollte sich der Sünden schämen, so niederträchtige Narrenstreiche mit den Kindern aufzuführen.“ Ein einziger „Bauerjunge aus Klempenow oder Löcknitz bräche diesen Taugenichtsen in der Hasenhaide alle Rippen entzwei.“ Stangenklettern, Reckspringen, Boxen und Ringen waren diesem Zuchtprediger „brodlose“ Künste. Und als dann Kotzebue von einem solchen Turner, von einem solchen Studenten in altdeutschem Rock und langen „Lichtstecken“ wirklich ermordet wurde, da „hatte man die Bescheerung.“ Die Hasenhaide wurde geschlossen, Jahn gefänglich eingezogen, die Turnerei als staatsgefährlich für lange Jahre verbannt.

Ein Weltereigniß war ferner der Brand des Schauspielhauses. Wie sich das Reformationsfest eingeprägt hat als ein ewiges von den Linden abwärts herübersummendes frommes Läuten und Brausen im glücklichsten Sonnenschein, so zwei Jahre später der schwarze wieder von den Linden abwärts wallende den ganzen Himmel schwärzende Rauch, der Tagelang nicht weichen wollte. „Ihr bleibt zu Hause!“ Dieß mächtige Mutterwort steht wie in Erz geschrieben aus dem Getümmel noch jetzt im Gedächtniß. Das war ein Trommeln, ein Blasen, ein Fahren, ein Lärmen, ein Sturmläuten und diese Flammen, diese knisternden tausend Funken, diese 201 verwehten angebrannten Papierstreifen, Ifflands alte Rollen, Kotzebues beliebteste Stücke, alle herumfahrend, diese Zindelschnitzelchen, die der Knabe weit vom Schauplatze des Brandes entfernt noch auf dem Boden glitzernd fand, diese ihm noch unbekannte „wirkliche Welt“ der Bühne, diese Wunder des Geheimnisses so ausgestreut und verzettelt über alle Straßen im Tageslicht … es war eine Begebenheit, die sich noch in ihren Folgen lange durch die Knabenzeit hinzog, denn auf den Brand folgte das Besichtigen der Brandstätte und der Schinkelsche Wiederaufbau, der zwei Jahre die Straßen versperrte. Beide Eltern, uneinig über die Turner und Kotzebues Ermordung, waren in der Abneigung gegen die „Komödie“ einiger. In den Kirchen predigte der immer mehr um sich greifende Pietismus gegen die Bühne und nahm den Brand der Stätte, wo der sündige Iffland gehaust hatte, für ein Zeichen der endlich einmal erschöpften göttlichen Geduld und Langmuth.

Der in der größeren Welt noch völlig blinden Umsicht ging für die kleinere doch immer mehr das Auge auf. Es wird eine entsetzliche Erfahrung des Kindes, daß die Welt so voll schlimmer Elemente ist! Diese Erfahrung wird nicht auf einmal gemacht, sie kommt langsam, sie schleicht sich erst allmälig in das gläubige, überall nur gute Menschen voraussetzende Gemüth. Man fürchtet wohl Böses, aber erst sind es doch nur 202 Hunde oder Katzen oder Schornsteinfeger, von denen man Schlimmes gewärtigen kann. Dann hört man aber von wirklichen Uebelthätern, sieht sie sogar im nächsten Kreise, wird gewarnt, soll sich vor ihnen hüten. Und nun bei erwachender größerer Denkkraft werden Neid, Mißgunst, Verläumdung, Hinterlist, Verstellung, Schmeichelei, Geiz und Habgier an den täglichen Begegnungen unverkennbar. Welche Scenen, wenn böse, lügnerische Ankläger zur Rede gestellt werden! Die väterlichen Dienstverhältnisse zeigten eine Menge Menschen im Wettlauf nach demselben Ziele der Anerkennung und Auszeichnung. Einer sucht den Andern zu überflügeln und nicht selten wird nach schlechten Mitteln gegriffen. Schmeichelei gegen Vorgesetzte verfehlt selten ihren Zweck. Liebedienerische Unterwürfigkeit wird willkommener geheißen als biedre Gradheit und eine dem Vater eigne humoristische Vertraulichkeit selbst mit den vornehmsten Personen, mit Excellenzen und Hoheiten. Den Meisten der Untergebenen geht der Blick für das Menschliche auch an den Vornehmen gänzlich ab und die Vornehmen sehen es gern, sehen es lieber, daß sie als Begriffe, nicht als Menschen genommen werden. Wie liebte und rühmte man die wenigen gemüthlichen Ausnahmen! Und wieviel Wunderkraft, glücklich zu machen, besitzen doch die Großen! Sie brauchen Nichts 203 zu thun, als sich würdevoll menschlich zu geben. Da schon gewinnen und beseligen sie.

Das Beklemmendste war, daß aus dem Bann der überlieferten Ordnung und der Leidenschaften der Existenzförderung heraustretend der Mensch sogleich auf klippenreicher Schwindelbahn erblickt wurde. Die grübelnden, brummischen, geizigen, gehässigen Berufsmenschen zogen den Knaben nicht an; aber von denen, die immer Lachen, immer Freude verbreiteten, stellte sich nur zu bald heraus, daß doch alle ihre Lust eine schlimme Kehrseite hatte. Der warf blanke Thaler auf den Tisch und rief nach Geigen und Flöten; der kam mit blitzenden Geschenken und gewann sich jedes Herz allein schon durch seine blitzenden, frohgemuthen Augen. Aber wehe! Bald ergab sich, daß der liebenswürdige Schelm ein Spieler, ein Schlemmer war. Seine Heiterkeit wurde frostiger, sein Auge matter, seine Hand magrer, seine Rede zerstreuter, sein Kleid ärmlicher. Der, der sonst gab, nimmt nun. Der, der sonst lustig tanzte, sitzt nun grübelnd hinterm Ofen, glücklich, wenn man ihn duldet und Niemand ihn um sein Befinden anredet. Das Volksleben ist so reich an diesen traurigen Gegensätzen. In jener Hauptstadt zumal, wo die Mehrzahl der Bewohner aus Armen und Unbemittelten besteht, giebt es die reichste Chronik verkommener Menschenschicksale. Der Strudel des Elends, der diese Menschen verschlingt, ist 204 vorzugsweise die allgemeine Gewerbefreiheit, das viel zu leicht erworbene Meister- und Bürgerrecht. Der Trieb der Isolirung, der auf dem Lande auch Halt und Zusammenhang schon in einzelnes Elend aufgelöst hat, reizt auch hier zum selbstständigen Lebensversuch die schwächsten Kräfte. Der Gesell, nach Freiheit, Besitzstand trachtend „etablirt“ sich und wirft den Köder seiner am Hause angeschlagenen Stiefeln oder Kämme oder Nägel wie in ein großes Meer aus. Oft beißt der Zufall an, noch öfter strömt aber nur die große Woge vorüber. Die erste Meisterschaft wird nicht ohne Selbstgefühl empfunden. Man hat ein Mädchen, eine Wittwe geheirathet, die einige hundert Thaler einbrachte. Gesellen arbeiten nun sogleich statt des Meisters. Dieser genießt seine Freiheit, lebt unter dem Vorwande des Kundenbesuches außer dem Hause und geräth in die Unsumme der kleinen Verführungen, die aus Kellern und Spelunken heraus ihre verderbenbringenden Arme strecken. Und Gott, was sind diese Verführungen! Wie unschuldig scheinen sie! Wie erlaubt dünkt ihr Genuß! Eine in einer Pfanne schmorende brenzliche übersalzene Bratwurst … warlich, in einer Stadt, wo man um zwölf Uhr zu Mittag ißt, kann eine um eilf Uhr genossene Bratwurst der Ruin eines ganzen Lebens werden. Ihr lacht? Aber der Stufengang ist einfach. Der „kundenbesuchende“ junge Meister tritt in eine jener „Früh-205stücksstuben,“ wo die Bratwurst in der Pfanne so verlockend schmort. Er wird sich ein „zweites Frühstück“ geben lassen. Mit diesem „zweiten Frühstück“ beginnt sein Verderben. Das scharfe Salz und der Pfeffer weckt den Durst. Der Trunk und der halb schon gesättigte Appetit hebt die Kraft und Unternehmungslust des sonst so genügsam dahinschlendernden Gesellen. Auf einen Exceß folgt der andre. Die Mittagszeit, wird sie nicht versäumt, kommt nun zu früh, der häusliche Tisch mundet nicht. Nichts verletzt die Gattin mehr, als das Verschmähen ihrer Kost. Vielleicht auch überbietet sie ihre Kraft. Im günstigsten Falle löst der Nachmittagsschlaf die Verstimmung. Der Meister erwacht gegen Abend, wo die angezündeten Straßenlichter zu neuem Leben außer dem Hause reizen. Wer in dieser Stufenfolge den allmäligen Ruin eines Handwerkers schildern und diese Schilderung mit den einfachen Worten: „Das zweite Frühstück“ überschreiben wollte, würde das Elend von Tausenden treffen und ein Volksbuch liefern.

Es ist so wohlthuend und so erschreckend zu gleicher Zeit, daß unter diesen wildwachsen aufschießenden Meistern der wahre Stachel des Fleißes und der guten Sitten so oft entweder nur die Umsicht der Frau oder die Religion oder nur der Geldgeiz ist. Der letztere Trieb muß in der Natur des Betreffenden angeboren liegen und findet sich, in diesem Falle glücklicherweise, 206 oft genug. Die Religion aber stirbt immer mehr als Bindemittel des Hauses ab und schlimm genug ist es, daß man die Form, in der man von Oben her jetzt diese so bedeutungsvolle Stütze des Volkslebens vor dem Wanken und dem Zusammenbrechen sichern will, als Freund des Bildungsfortschrittes nicht im Geringsten billigen kann. An die Stelle dieses schwankenden Haltes der positiven Religion sollte man entweder das tiefreligiöse Gemeinschaftsgefühl des Deutschkatholicismus und der freien Gemeinden, oder die politische Emancipation, das Bewußtsein bürgerlicher Rechte, das veredelnde, den ganzen Menschen hebende Gefühl einer unmittelbaren Beziehung zum großen Ganzen setzen. Das freie unverkümmerte Stimmrecht, das Stimmrecht, das uns die Reaction verkürzte, das Stimmrecht in einem wahrhaft neugebornen Staatsleben wird auch eine rückwirkende Kraft auf die religiöse und sittliche Weihe des Volkes üben. Denn unwiderleglich ist es, daß die unverkümmerte gesetzlich organisirte Theilnahme am Staat die untern Stände hebt, läutert, zur innern Sammlung führt, den Wetteifer in allem Guten fördert. Die Proletarier des Handwerks, zu denen man die kleinen Meister zählen muß, hat man sich zu unversöhnlichen Feinden gemacht, als man ihnen das eine Zeitlang genossene Stimmrecht wieder nahm. Es ist nicht das beleidigte Ehrgefühl allein, das in ihnen auf 207 Rache sinnt, sondern das Gefühl der weggezogenen Stütze ihrer sittlichen Erhebung. Sie ahnten, daß sie leichter entbehren, leichter arm sein konnten, wenn doch irgend etwas an ihnen geachtet wurde, ihr Name, ihr Gewerbe, ihr Miethzins, ihre Miethsteuer, ihre Gewerbsteuer. Sie ahnten, daß durch das erst so glückliche, dann unterbrochene Experiment an ihrem sittlichen Menschen gerüttelt wurde, und werden noch lange unversöhnte Feinde unsrer jetzigen Ordnung bleiben, während die Intelligenz sich längst in ihre Verstimmung gefunden und in andern Erleichterungen für das, was auch in ihr verletzt wurde, Trostgründe gesucht hat.

So ist denn nur der einzige wahre Halt des kleinen Handwerkers noch seine häusliche Ordnung, sein Heerd, seine Familie, sein Weib. Die königliche und priesterliche Kraft des Weibes, einst so heilig gehalten von den alten Celten und Germanen, hat sich wohl in der Hysterie, der Nervenschwäche und der Salonbildung des modernen Frauenthums, aber doch noch nicht ganz im Strickstrumpf und dem Nähzeug verloren. Zum Glück findet der Handwerker, wenn er ein Weib nimmt und dazu entweder eine dienende Magd oder eine Nätherin wählt, in den meisten Fällen ein Wesen, das ihm den gewagten Schritt, ihr zu Liebe sein Gesellen- mit dem Meisterthume zu vertauschen, nicht bis zum Untergang gefahrvoll macht. Diese Frau nimmt sich der 208 Küche, der Ordnung und Reinlichkeit des Hauses, der Wäsche ebenso an, wie des Geschäftes. Sie drängt zum Fleiß, sie spekulirt auf Kundschaft, sie kauft Vorräthe und hat ihr Auge überall. Der Mann, oft ein Simpel, steht verlegen da, wenn sein Weib Kunden zu gewinnen, zu vertrösten, ihnen zu „flattiren“ sucht. Ihr Mundwerk hilft da ebenso nach wie ihre rührige Hand. Diese Frauen sind die Musterbilder ihres Geschlechts. Sie tragen alle Tugenden und alle Fehler der Gattung an sich. Sie erzürnen sich in dem Grade rasch, wie sie nur langsam zu gewinnen sind. Sie sind der Verstand und die Leidenschaft des Mannes, der nur in einzelnen Fällen wild, dann bis zum Thiere wird, sonst aber weit mehr, als das Weib, das Herz des Hauses darstellt. Mildthätig sind diese Frauen mit vorsichtiger Prüfung. Geben sie, so rührt sie das allgemeine Loos menschlichen Elends, das sie überhaupt mehr zu fürchten haben, als der Mann. Dem allgemeinen Fluch des Menschengeschickes steht das Weib näher, als der Mann, der nur das Einzelne sieht. Die Paradieseserinnerung lebt in dieser Sphäre lebendiger, als in der Region der Bildung. Bei dem Arbeiter ist die Frau wirklich die „Gehülfin“ des Gatten und hält am Baume der Erkenntniß wirklich die Wache. Sie kann des Mannes Glück, sie kann sein Verderben werden.

209 Nur einzelne, glücklicherweise seltene Ausnahmen sind diejenigen Frauen im Volke, die sich in die Lage ihres arbeitenden Mannes nicht finden können. Putzsucht und die Näscherei bleiben glücklicherweise seltne Klippen. Die Frau des Armen spreche immerhin viel und nütze ihr Mundwerk! Sie besitzt oft nicht mehr an Bildung, als eben diese Sprache, deren Worte sie sich als einzigen Luxus nun auch recht zu Statten kommen läßt. Ueberschreitet sie aber auch hier das Maaß, so fängt mit der Schwätzerin der Ruin des Hauswesens an. Die Schwätzerinnen reden ein „Loch in die Wand“. Der Mann muß ihnen oft drohen, ihnen „das Mundwerk zunähen“ zu lassen. Sie verschwätzen die Zeit auf dem Markt, am Brunnen, mit der Nachbarschaft. Sie überrühmen sich selbst, ihr Hauswesen, ihre Ordnung, und doch geht alles „hinter sich“. Die allzu lebhafte Phantasie, die solche ungebundene Zunge oft allein entfesselt, bricht „Rand und Band“. Nicht selten hilft schon der Trunk den erschlaffenden Geistern nach, die das Bedürfniß haben, so immer außer sich zu sein. Dann ergiebt sich das jammervollste Bild des Volkslebens. Ein ehrsamer, friedlich-still arbeitender Mann und ein Weib, das ihm Schande bringt, das er züchtigen muß, das ihm das „Bett unterm Leibe“ verkauft, versetzt und überall Unsegen stiftet. Im glücklichsten Falle wird ein solches Weib zuletzt geistesschwach, kindisch, 210 verkehrt und erlischt wie ein Licht unter ihren Kindern, die mit dem Vater gegen die eigne Mutter wie in einer angebornen Verschwörung aufwachsen müssen. Scheidung von einer unglücklichen Wahl durch die Gerichte? Wie kostspielig das! Der spätere Aushalt einer Geschiedenen ist gar nicht zu erschwingen. Nicht selten erbittern sich zwei ungleiche Ehegatten zu solchem Haß, daß Einer des Andern überdrüssig wird und ein Verbrechen sich entweder leise in die Seele einschleicht oder rasch einmal die verzweifelnde Leidenschaft überkommt. Und wie tief liegt dann meist im Volke das Bewußtsein des ewigen Unrechtes und der nie zu vergebenden Schuld! Selten, daß der Mörder eines Weibes, das ihm zur Lebensplage geworden, von seiner unerträglichen Qual, seinem tiefsten und sich von Gott zum Richteramt berufenglaubenden Abscheu vor dem Opfer seiner Wuth spricht. Er giebt seine Schuld ruhig zu, bietet sein Leben zur Sühne, hält sich an sonstige Fehle seines Innern, die wohl auf sein Armensünderbild passen und erst das stille Forschen des Menschenfreundes kommt auf die Spur, wie grauenhafte Thaten so allmälig wachsen und in der Vorstellung wurzeln konnten von dem angebornen, „von Gott eingesetzten“ Richteramt der Familie unter sich selbst.

Oft führt der Dämon der Eitelkeit und des Vergnügens, der nun auch den Mann ergreift, dann zum 211 Bettelstab. Die Zwischenstationen dieser Wanderschaft sind mannigfach und nicht alle sind sogleich von zerrissenen Lumpen behangen. Da schmettert die Trompete zu einem Ball, da klimpert ein geschniegeltes Töchterchen am Klavier, da bricht bei einem Gastgebot fast der Tisch von Speisen und den rauchenden Punschbowlen. Die kleinen Meister, die es leidlich „zu etwas gebracht“ haben, werden meist durch ihre Weiber zur Theilnahme an einem Grundverderb des Volkslebens geführt, den „geschlossenen Gesellschaften“. Diese unschuldigen „Kränzchen“ sind Ketten, die in’s Armenhaus zerren. Irgend ein verdorbener Gelegenheitspoet, irgend ein Privatschreiber, ein Winkeladvokat, ein leichtsinniger Schulmeister, der seine Stelle verlor und Groschenweise bei diesen Volksklassen Stunden im Französischen und im Klavier ertheilt, giebt den Namen zu diesen Kränzchen, die zehn, zwölf, zwanzig armselige Familien von eingebildet wohlhabenden Handwerkern (eingebildet, weil momentan ihre Gesellen zu thun haben) zu Sommer- und Wintervergnügungen vereinen. Lebte hier die unschuldige Freude und die harmlose Erholung, wer würde diese „Uranias“, „Thalias“, „Odeons“, „Museums“, „Erheiterungen“, „Erholungen“, „Eintrachten“ u. s. w. verpönen! Aber sie werden die traurigen Tummelplätze des allmäligen sittlichen und gesellschaftlichen Verderbens. Da werden die Läden eines ein-212samen Tanzbodens geschlossen, um acht Uhr finden sich aufgeputzt die Familien ein, Mann und Weib und Kind, die Geige lockt, der Brummbaß schnurrt, die Trompete schmettert, der Tanz beginnt. Noch jetzt wären die Wirbel und Strudel zu passiren, noch hat das Fahrzeug keinen zu großen Leck. Aber der tolle verdorbene Sprachmeister oder Winkeladvokat, der den herrlichen Namen dieser Freuden erfunden hat, ohne ihn richtig aussprechen zu können, ruht nicht. Sein Genius will noch eine ganz andre freie Zeche haben. Er macht den Petitmaitre, den Tanzmeister des Clubbs, den Kuppler. Er bringt die Gesundheiten aus, läßt die Subscriptionsbögen wandern zu einem Extraball, an dem auch andre „Anständige“ für Entree Theil nehmen können. Die Ansprüche der Rivalität steigern sich. Die Frauen, ihre Töchter, überbieten sich in Ausschmückung ihrer welkenden oder knospenden Reize, die Männer zechen nicht mit jenem Maaß, das ihnen die Börse oder der Durst mißt, sondern in dem erwachenden altdeutschen Trinkmaaß des Uebermuthes, der Wettlust und der leeren hirntollen Prahlerei. Diese Ressource, dies Kränzchen, dies Casino, das als eine „Erholung“ von zwölf ehrbaren Schlosser-, Tischler- und Schneidermeisterfamilien anfing, hat nach drei Jahren kein einziges Mitglied der ersten Stifter mehr, sondern wuchs über die entweder zur Erkenntniß Gekommenen oder 213 die bürgerlich Gescheiterten zu einem immer üppigeren Gelage empor, das ganz in die Hände der Gesellen, der Schwindler, der Lustigmacher, der Friseure, Barbiere gerieth und in Berlin meist mit Errichtung eines Liebhabertheaters endet. Dies Unwesen duldet man in Berlin seit fünfzig Jahren und zählt jetzt mindestens dreißig solcher erschlossenen Spelunken der komischen Muse … Wie würdig ernst wollte doch auch da die neueste Zeit aufräumen! Wie hatten die Handwerkervereine auch das Familienleben des Arbeiterstandes zu veredeln gesucht! Die Männer vereinigten Weib und Kind nicht nur zu Vergnügungen, sondern auch zu einer mit der geselligen Erholung verbundenen geistigen Anregung. In den neuesten Revolutionszeiten brachten die „Bezirksversammlungen“ den gemeinen und gebildeten Mann zusammen; der Handwerker sah in seinen Reihen den Gelehrten, den Beamten, den Kaufmann und eine Stimme nur herrscht darüber, wie veredelnd für den Niedrigen, wie anregend für den Höhergestellten diese harmlosen, oft wissenschaftlich eingeleiteten „Bezirks-Kränzchen“ der Handwerker und kleinen Leute wirkten. Die Gewehrkolben der Reaction haben aber auch mit diesem Fortschritt der Volksbildung den bekannten staatsrettenden Kehraus gespielt und die alte Bettelwirthschaft der Ueppigkeit ist wieder in solcher Blüthe aufgeschossen, daß wir aus innerster Ueberzeu-214gung erklären müssen, Religion und Christenthum im Volk sind nur noch durch die sinnigste Cultur der freien Gemeinden, Bürgertugend und Volkssittlichkeit nur durch die staatsrechtlich begründete Demokratie zu retten.

Der Ruin der um ihren innern sittlichen Halt gekommenen Handwerkerfamilien ist kein plötzlicher Bankerott, wie bei dem Kaufmann. Der schleppt sich eine Reihe von Jahren in bald ab- bald aufsteigender Linie so hin. Die aufsteigende Linie ist zuweilen ein plötzlicher Credit, ein Lotteriegewinn, eine Lieferungsarbeit mit eroberten Vorschüssen, ein vermietheter Halbtheil der Wohnung, eine zweideutige Hausfreundschaft, eine unzweideutige Bekanntschaft des inzwischen aufgeschossenen „Fräulein Tochter“. Die absteigende Linie ist das Mißverhältniß zwischen der Einnahme von den Kunden und der Abzahlung an die Lieferanten des Materials und des Handwerkzeuges, ein Zusammenstürmen der Forderungen von allen Seiten, ein sittlicher Eclat, den entweder die Eifersucht des Ehegatten oder ein andres Urrecht der Natur bei der Tochter herbeiführt. Dann sieht man plötzlich Handwerker ihre ganze arbeitende Existenz aufgeben. Sie springen in die zweideutige Gesellschaftsklasse der kleinen Spekulanten und Krämer und werden entweder „Restaurateurs“ oder „Kafetiers“, Gastwirthe oder Händler mit täglichen und gemeinen Lebensbedürfnissen; meist eröffnen sie 215 Läden mit Cigarren. Der Taback ist nicht nur in seiner Consumtion ein neuer Culturhebel geworden und hat in der Denkungsart der Zeitgenossen Revolutionen hervorgerufen, sondern auch seine Production, sein Betrieb wenigstens in den großen Städten, ist da, wo die Gewerbefreiheit herrscht, der gewöhnliche Uebergang zur sozialen Misere geworden. Einige Jahre schleppt sich so ein neuer „Kaufmann“ durch das Mißverhältniß von Kundschaft, baarer Auslage, Credit, Kündigungsfrist der auf Accord gelieferten Waaren hin, bis sich sein Lädchen schließt, ihm einige Kisten Cigarren von seinem Bankerott zu eignem Consumo noch übrigbleiben und er auf der Wanderschaft durch’s Leben eine neue Station betritt, nicht selten die des bewußten Schwindlers, des Spielers, des Gauners in feineren Umrissen, worauf sich bald auch die gröberen einstellen und all der Müh und Sorge das Zucht-, im glücklichsten Falle das Arbeitshaus ein Ende macht.

Das großstädtische feinere Gewerb- und Handelsproletariat ist besonders deßhalb so schwer zu bekämpfen, weil seine vorzüglichste Eigenschaft in dem Heldenthum besteht, das im Volke gemeiniglich „das große Maul“ genannt wird. Dies feine Proletariat klagt nicht. Es geht nicht in Lumpen, blickt nicht hohläugig, schleicht sich nicht furchtsam an den Häusern entlang. Dies Proletariat des Schwindels und des „großen Mauls“ trägt 216 Siegelringe an den Fingern, goldne Ketten über rothe Sammetwesten, schnurbesetzte Paletots über dem wohlgenährten Embonpoint. Es ist überall zugegen, im Theater, in den Weinstuben, auf den Promenaden, es führt das große Wort und war das eigentliche Verderben auch der Märzbewegung. Die Gesinnungslosigkeit dieser Menschenklasse ließ sie das, was grade die Ordnung des Tages war, gleich „großmäulig“ proklamiren, ob es sich nun um die Demokratie oder die Reaction handelte. Dies lasterhafte, freche Menschengeschmeiß von existenzlosen Schwindlern, halben Bankerottirern, Goldarbeitergesellen, die sich Juweliere nennen und Läden mit erborgtem Krame eröffnen, verdorbenen Bäckern, die sich zu Kornmäklern aufwerfen, Schreibern, die Häuser administriren, Pflastertretern aller Art vom „bummelnden“ Geheimsekretär an, der seine eigne Frau zu den vortragenden Räthen schickt, wenn er um eine Gratification eingekommen ist, bis zum wirklich begüterten, wirklich verdienenden Maurer-, Steinmetzen-, Bäcker-, Fleischermeister, der aber aus Eitelkeit seine Kräfte überspannt, wenn er sich Pferde, Wagen, Bediente hält, dies ganze feine Proletariat der Großstädte griff ebenso rasch nach den Büchsen der Bürgerwehr, wie sie sie wieder wegwarf, gab Adhäsionsadressen den Advokaten oder den Soldaten, den 217 Märzministern oder den Novemberministern, fügte sich in Alles, was ihm nur erlaubte, sich mit seinem hohlen, übergoldeten Elend immer in den Vordergrund zu drängen und durch sein im Volke bekanntes „großes Maul“ den tiefinnern Schaden der ächten Bürgertugend und des häuslichen stillen Wirkens zu verdecken.

Das Wühlen und Ringen um Existenz auf diesem Gebiete erschien selbst dem Kindesauge schon wie etwas Ungeheuerliches und dem Leben alle Farbe und allen Duft Abstreifendes. Ein schwerer, furchtbarer Druck, der auf dem ganzen Dasein ruht, wurde bis zum Jammer gefühlt. Ein naturwüchsiges Walten des Fleißes verbirgt sich still in seiner friedlichen Werkstatt. Die Rouerie aber lärmt auf dem Schauplatz und schneidet den Blick ins ächte Leben ab. Am Staate nun vollends will eines jeden Scheiternden Hand zur Rettung sich klammern. Dem Staate und seiner Aemterfülle trägt sich diese Menschheit mit ihrer ganzen Käuflichkeit und um jeden Preis zu habenden Gesinnung an. Da wird nicht untersucht, wer da giebt, in welchem Sinne gegeben wird, in welcher Voraussetzung; man nimmt nur, langt nur zu und beschwört Alles, thut Alles, was der „Brodgeber“ fordert. Was sollen auch die Sprossen jenes goldenen Proletariats thun, wenn auch sie nicht untersinken wollen? Der Vater lügt und heuchelt für den 218 Sohn. Der Sohn, im glücklichsten Falle, quält sich ab, die Verheißungen des Vaters wahr zu machen. Ein ungeheurer Jammer stöhnt sich so leise ächzend aus der Brust von Tausenden aus, wenn sie diesen Jammer nur noch fühlen, aber die Meisten haben schon den Fluch eines solchen Lebens für seinen Segen hingenommen, spielen mit den Ketten, klirren sich mit ihnen eine angenehme Musik, denken total nur nach dem allgemeinen Nonsens, fühlen in Selbstabtödtung nur nach dem herrschenden Kanon der öffentlichen Moral und bringen Urtheile zu Tage, die alle Menschenwürde in Frage stellen.

Der Knabe entdeckte mehr Servilismus bei den Gebildeten, die er bald kennen lernen sollte, als bei den Armen, die ihm charaktervoller schienen. Die dienenden Volksklassen besonders sind auf ein frühes Herausstellen wirklichen inneren Werthes angewiesen. Eines Handwerkers Tochter, die nicht zu dienen nöthig hat, scheidet sich ihre sittlichen Momente nicht so früh und selten so rein aus, wie es die zu thun vom Leben gezwungen wird, die dienen muß. Fleiß, Güte, Treue, gehorsame Charaktererforschung, Fügen in fremde Art erfordert eine höhere sittliche Kraft, als das einfache Vegetiren selbst des noch Aermeren, der aber zufällig für sich freier dasteht. Ein Handwerker, der eine Die-219nende heirathet, sorgt besser für sich, als wenn er die Tochter eines Meisters gewinnt. Ein guter Diener ist besser, als ein schlechter Freiherr. Wir sind mehr in den Händen Derer, die uns leiblich bedienen, als Derer, denen wir geistig gehorchen. Daß aber Kleider Leute machen, sieht man am ersten an Dienenden. Je schmucker die Uniform, desto leerer der Inhalt. Je mehr der Herr verräth, daß sein geputzter Diener eine Erfindung seiner Eitelkeit ist, desto mehr wird sich auch der Diener als bloßer Statist zeigen. Wer Diener wie Herren kleidet wird des Dieners Diener, wenigstens muß er ihm noch geringere Kräfte miethen, die das thun, was der geputzte Hallunk selber thun sollte. Jede blanke Tresse am Rock ist ein gereinigtes Tischmesser weniger. Köchinnen sind komische Figuren der dienenden Welt. Sie ersparen in kleinem Betrug und werden im Großen selbst betrogen. Schwarz am Heerde, glänzen sie gern bei Licht. Sie haben die kostbarsten Kleider, tanzen am eifrigsten, müssen aber, je älter sie werden, für ihre Liebenswürdigkeit desto stärkere Ausgaben machen. So mancher Soldat, so mancher junge Handwerker betrügt sie um ihre Ersparnisse. Eine dem Knaben fast unverständliche Klasse von Dienstboten waren die Ammen. Es gab ihrer von allen Sorten. Ammen, die wie scheue Tauben ängstlich auf einem Hofe schlichen, 220 Andre, die wie aufgeblähte Kalekuten einhertraten. Wie es möglich war, daß diese geputzten, in den besten Zimmern verweilenden Wesen außer dem vornehmen Kinde noch ein eignes daheim haben konnten, war vom Kinde schwer begriffen, aber manches Weinen wurde doch beobachtet, wenn ein junges Wesen, das „als Amme diente,“ irgend in einem dunklen Dachstübchen erschien und rasch ein gleichsam im vornehmen Hause Erspartes an Nahrung ihrem eignen verschmachtenden, bei ärmsten Leuten oder Verwandten „auf die Ziehe“ gegebenen Kinde darreichte.

Vom Volke kann man nicht sprechen, ohne die Juden zu erwähnen. Man hat sie für den Landbewohner recht als die Boten der Hölle geschildert, die mit Mephistopheles, dem Seelenfänger, in nächstem Accord stünden. Von seiner Vaterstadt kann der Knabe so grelle Jugendbilder nicht heraufbeschwören. Der Jude ist wohl dem Kinde früh ein Wort des Schreckens; nähert er sich aber, selbst im Barte, der früher noch öfter getragen wurde, und das Kind hält Stand und wechselt die Hand und einige Worte des Vertrauens mit dem Juden, so gewinnen die blitzenden Augen, die scharfen bestimmten Mienen des Antlitzes, die wohlklingenden Accorde der Betonung jedes Kind für den seltsamen Freund. Der bärtige Mann steht, das ist wahr, dem 221 Kinde in unmittelbarer Descendenz von den „Jüden“, die den Heiland kreuzigten und des Guten möchte man sich von dem lauernden scharfen Blicke nicht eben viel versehen, noch weniger in seiner Christen-Herrlichkeit begreifen können, daß ein Getaufter mit solchem Völkerüberbleibsel auf einer und derselben Menschheitsstufe stünde. Aber ein freundlicher Gast wird der Jude doch. Er bringt Schalkhaftigkeit im Gespräche mit, Neuigkeiten, Wunder aus der Welt, er frägt so beflissen nach den Fortschritten in der Schule und spricht so liebevoll von seinem eignen Jungen, der grade so groß wäre wie der da und das nächste Mal woll’ er ihn mitbringen. Freilich wenn er ihn mitbringt, ist die Art doch eine sehr andre. Der kleine Moses ist gar verstimmt, gar verdrießlich, frägt vorwitzig, fäßt Alles an, kennt keinen Respekt und macht dem Vater zu schaffen, der an seinem Moses Etwas zu tadeln oder zu strafen niemals in Versuchung kommt und doch auch will, daß Moses bei den Leuten, wo der Vater handelt, einen guten Eindruck hinterläßt. Früh bemerkt der Christen-Knabe, daß sich die Juden, selbst die ärmsten und ihre Kinder vollends, für vornehmer halten, als die Christen, selbst wenn sie den Christen schmeicheln. Es ist keine Täuschung, wenn die Christen klagen, daß sich die Juden für das auserwählte Volk Gottes halten. Es liegt ein Stolz selbst im niedrigsten Juden, ein Stolz auf seinen einigen 222 Gott, seine lebensweise Religion, sein, man möchte sagen, diätetisch-kosmetisches Ceremonialgesetz. Der ärmste Trödeljude hat etwas vom Gefühl seiner Verwandtschaft mit den Erzvätern. Das Blut Abrahams rollt in ihm, sein erweislicher Stammbaum macht ihn nach Christensitte zum Adligen. Aber noch mehr, der ärmste Jude hat einen Zusammenhang mit seinem Volke, der nicht blos im Allgemeinen, sondern auch durch die Familie im engeren Verbande für ihn erhebend ist. Es sind „Leute“ seiner Verwandtschaft, seines Namens wohlhabend, oft reich. Sein Moses hat Vettern und Onkel, die ihn vielleicht einst in ihr Geschäft nehmen. Diese Rückwand, wenn auch ohne Vortheile für den Augenblick, giebt eine Anlehnung für die Fälle des Unglücks. So treibt der Jude denn ganz vertrauensvoll sein Geschäft von Haus zu Haus, von Thür zu Thür. Er kauft Kleider, altes Geräth, er leiht auf Pfand, er giebt Vorschüsse auf Theilnahme am Gewinn, er bringt Loose zur Lotterie. Der weise Vater des kleinen vorwitzigen Moses kann mit der Zeit ein wichtiges Moment eines armen Christenlebens werden. Er klappert mit den „harten Thalern“ und gebehrdet sich freilich oft genug als eine Art Seelenverkäufer, wenn er auch den Mund voll herrlicher Sprüche über seine Mäßigung, seine Liebe zu ehrlichen Leuten und seine enthaltsamen Zinsen hat. Aber zwingt ihn nicht wirklich der eigene Vortheil zur 223 Mäßigung? Was hilft ihm der Ruin einer Familie, die zuletzt das Hemd vom Leibe versetzen müßte? Käme es zum völligen Bruche, was hätte er? Was sagten die Gerichte zu seinen „Zetteln“? Freilich sind diese Zettel klug abgefaßt. Wer zehn Thaler entleiht, schreibt nicht selten zwölf, wohl auch fünfzehn. Er nimmt statt der gesetzlichen Prozente der Fünf vom Hundert, Sieben, Zehn vom Hundert. Aber was konnte der Vater des kleinen Moses dafür? Hat er denn das Geld selbst? Ist er nicht auch ein „armer Mann“? Er bringt wohl das Darlehn, aber von Freunden, von „guten Freunden“, von denen er selbst borgen muß! Was ist zu thun? Der Bedürftige giebt dem Schelme nach, weil er muß, verschreibt Fünfzehn und erhält nicht einmal Zehn, sondern nur Neun, denn auch sogleich der Zins muß im Voraus abgezogen werden. Nun freilich, am nächsten „Ersten“ beginnen die Rückzahlungstermine von Zins und Kapital.… Das heitergeschlossene Geschäft nimmt, wie Shylock sagt, „zu oftermalen“, eine tragische Wendung, aber es giebt auch weise Daniels und freundliche Levis. Sie mäßigen sich und spielen, wenigstens sagen sies, ein Stückchen göttliche Vorsehung bei ihren Freunden. Sie lieben, wenigstens sagen sies, die braven, redlichen Arbeiter, die zuverlässigen Kunden, die ehrlichen, wenn auch zuweilen rauhen Familienväter, die schmucken Hausfrauen, die reinlichen Kinder, 224 die dem kleinen Moses kürzlich ihr Spielzeug mittheilten, und die braven und sorgsamen Hausstände. Und über Alles geht ihnen das Glück, das goldne Glück, Fortuna, die holdlächelnde, die blinde Gunst des Nummerrades und das große Loos! Denn gespielt muß doch werden, Menschen müssen doch da sein, die das Glück versuchen. Was hülfen ihnen, wenn sie sie auch allein spielen wollten, alle Loose ihrer Collection, was hülfe ihnen der Versuch? Sie kommen nicht heraus, sie haben kein Glück, sie sind nicht geboren unter dem und dem wunderthätigen Sterne, bei der und der Constellation des Himmels; denn ohne Aberglaube keine Lotterie. Einen blinden Zufall giebt es in einer Volkscollecte nicht. So „zieht“ denn eine reine Jungfrau oder ein dummer Knabe oder ein alter Großvater oder man träumt das zu spielende Loos, eine Nummer mit drei Sieben nebeneinander oder nicht nebeneinander, je nach den Neckereien des Gottes Morpheus. Ist der Jude wohl jemals Atheist? Glaubt der Sohn der Erzväter nicht am gläubigsten an Gotteswunder und an himmlische Rathschlüsse? Das Lotto bindet was der Wucher trennen würde. Geduld, Sanftmuth, Nachsicht dürfen nicht fehlen. Die Wechsel werden prolongirt und die Ziehungen der Lotterie schweben über dem dunklen Lebenshorizont der Armuth und Entbehrung wie siebenfarbige Hoffnungsbogen, zerstiebend oft in Nieten und doch 225 wieder neu sich bunt zusammenziehend, bis einmal ein wirklicher Gewinn aus den Wolken niederfällt, ein Gewinn, von dem zehn Menschen ein Jahr in Wirklichkeit leben, tausend Menschen aber, die nicht gewannen, doch den Gewinn sahen, geistig zehren, denn alle zünden ihre Hoffnungslämpchen an diesem Phosphorscheine an. Die Lotterie! Man bekämpft sie, nennt ihre Einwirkung verderblich. Möglich beim Uebermaaß der Leidenschaft. Mäßig aber angerufen scheint diese Versuchung des Glücks in der That im Leben der modernen Menschheit etwas auszudrücken, was sie sonst nicht besitzt und doch so innig bedarf. Bei aller Mühe, allem Trachten nach dem vom Auge festgehaltenen, von der arbeitenden Pflicht nothwendig erstrebten Ziele doch eine einzige Hoffnung auf die aus den Wolken langende Hand des Geschicks! Bei allem Nothwendigen, dem der Arme nicht entgehen kann, ein Zufälliges, das in sein Leben so reizend hineinspielt, wie in das Leben des Gebildeten nur seine Hoffnungen auf die Liebe eines schönen Weibes, die Gunst eines Großen, die Berechnungen öffentlicher Umstände! Mit der Abschaffung des Lottos, zumal bei der Verbesserung desselben und der Abdämpfung der allzugespannten Erwartung durch das Klassensystem, stirbt selbst dem bessern Theile des Volkes ein letzter Rest von Poesie, eine letzte Vergoldung seines dunklen Erdenlooses. Man muß sich aus Erfahrung 226 überzeugt haben, wie das im Schrank verwahrte Loos, an dem vielleicht drei, vier Nachbarn spielen, gehütet wird, wie sorgfältig die Einsätze gespart, aufgesammelt, berichtigt werden, wie erwartungsvoll die Ziehungsliste in der Hand des Juden begrüßt wird, der selbst wenn er die Niete bringt, seine ganze angeborne Geisteselastizität zu unverzagtem Glauben an künftiges besseres Geschick in Thätigkeit zu setzen weiß. Und bringt er endlich wirklich einen Gewinn, wie kann man die seltnen Beispiele toller Anwendung des großen Looses bei den Armen für einen Beweis der Verwerflichkeit eines mit Besonnenheit überwachten Lottos nehmen? Wohl, das große Loos fällt in zwanzig Parcellen auf kleine Leute. Seine Wirkungen sind wundersam. Der Eine wird Verschwender, der Andre Geizhals, der Eine läßt sich von seiner Frau scheiden, der Andre, eben im Begriff, sich von ihr scheiden zu lassen, versöhnt sich mit ihr (durch das Glück! Denn das Glück macht die Menschen der Liebe und Güte zugänglicher); ein Letzter erhängt sich wohl gar, weil er vergessen hatte, die fünfte Klasse zu berichtigen. Das ist Alles vorgekommen. Aber diese seltenen Fälle entscheiden nichts. Der kleine Gewinn kann heben und wirklich fördern. Der Knabe sieht noch jetzt jenen Tisch, der einst mit einigen Doppelfriedrichsdoren belegt war, die die Eltern gewonnen hatten. Er war so geblendet von dem Glanz, so über-227rascht davon, daß ein einziges dieser kleinen Stücke mehr als eilf „harten“ Thalern gleichkommen sollte, daß er eines davon nahm und genauer betrachten wollte. Der Vater des kleinen Moses, aufgeregt von der Erwartung seines Gewinn-Antheils, verwies die Neugier mit dem kurzen scharfen epigrammatischen Wort: „Nun? Sind sie nicht ächt?“ Die Mutter bekräftigte diese Goldprobe des Vertrauens durch einen gewaltigen Schlag auf die Hand des vorwitzigen jungen Kritikers, bei dem man wie später im Leben oft Kritik voraussetzte, wo er nur harmlos und glücklich sein wollte. Diese Aufwallung des Augenblicks war die einzige Unbill, die jener Gewinn ins Haus brachte. Sonst ging alles seinen geraden Weg fort, wie immer. Nur die Hoffnung auf jene himmlischen Mächte, die doch vielleicht unser Erdenloos so eigen führen, hatte zugenommen.

Damals wurden die Sparkassen eröffnet. Sie erregten unter den von Hause aus zum Geiz geneigten Gemüthern nicht geringen Antheil. Unter den minder Geldbegierigen, nur Sparsamseinwollenden, ließ aber der Eifer bald nach. Man bringt, man holt wieder. Das geht einige Male, bis die Lust erkaltet. Könnte man in den Einfluß der Juden auf die untern Volksklassen eine gewisse Ordnung, eine Regel, eine Art Organisation bringen! Die Bilder von Juden, die die Treppe heraufschleichen und an die Küchenthüren pochen 228 mit freundlichem Gruß und auch wie Sendboten einer schöneren Weltordnung von den Armen empfangen werden, wollen dem Knaben nicht vom Auge weg. Er sah zu oft, daß diese Auserwählten Witz, Laune, Heiterkeit, goldne Lebensfarben mit sich brachten und wie Kuppler des Glücks die Armuth aus ihrer aschgrauen Welt in eine schöne leuchtende der Feen versetzten! Oder bleibt ihr, die ihr das Bild von „blutsaugenden Wucherern“ festhalten zu müssen glaubt, doch bei dem Spruche: „Sie lispeln englisch wenn sie lügen?“

Sie lispeln englisch, wenn sie lügen! Ein Engländer übersetzte den Vers: They lisp in English, when they lie. Das führt den Erzähler auf die Freihändler. In den städtischen untern Volksschichten ist vom Freihandel schwerlich eine gute Meinung verbreitet. Das Seufzen über „die englischen Waaren“ verband sich beim apokalyptischen Vetter nicht selten mit seinen Weherufen über die eigne sündige Brust. Er war sehr ergeben in Gottes Fügungen, der Vetter; aber zu eifrig las er doch in den Büchern der Geschichte, um zuzugeben, daß Gottesverfügungen und Ministerverfügungen gleiche Verehrung verdienten. Die Lieblosigkeit des Staates gegen seine Kinder entsprang ihm aus dem allgemein herrschenden Unglauben, der nach ihm nirgends finstrer waltete als in den Köpfen der Staatsmänner. Und nicht nur die kleine Zahl der Musselin-229weber klagte über die Politik der Hardenberge und Kleewitze, sondern durch alle Stände der Arbeitenden ging dies Seufzen und Jammern und Trauern über die „hereinkommenden“ Waaren. Wenn diese Menschen sich auf der andern Seite selbst gern ein wohlfeiles Pfund Fleisch vom Lande hereinschmuggelten und die Zollstätten und die Metzger betrogen, so kamen sie unbewußt auf den reinen politischen Naturzustand zurück: Schütze die Arbeit, erleichtre die Nahrung! Freilich sagen unsre Nationalökonomen, daß hierin ein sich selbst auflösender Gegensatz läge, aber der Volksverstand könnte erwiedern: Diese Selbstauflösung verschuldet nur das Budget des Staates. Und diese Schlußfolgerung bleibt auch im Volke selbst nicht aus. Das Volk sagt ganz einfach: Die Soldaten und die Beamten kosten zu viel. Und um dieser auf der Hand liegenden Wahrheit zu entgehen, erfindet man so viel nationalökonomische Systeme, die der Lüge a posteriori den Schein der Wahrheit a priori geben! Die Consumenten, die Bauern und Rittergutsbesitzer sollten dem Staatsbudget die Polemik widmen, die sie dem Produzenten widmen. Man lehrt uns das Evangelium von der Ausgleichung und freilich, der apokalyptische Vetter starb nicht Hungers, er hatte keine Familie und hätte von Wasser und Brod leben können, da ihn weit mehr nach himmlischer Speise hungerte und dürstete. Aber ganze 230 Vorstädte verschmachteten doch im Elend. Man sagt: Setzt die Zölle herab im Interesse der Consumenten! Allein man vergißt, daß im Staatsleben es nicht darauf ankommen sollte, wer zuletzt lacht, sondern auf den, wer zuerst weint. Oder beruht der moderne Staat nicht auf einer solchen Gesittung, daß man den Satz aufstellen könnte: Im Leben leidet immer der am meisten, der den ersten Stoß empfindet –? Die Avantgarde ist immer am übelsten daran. Die spätere Ausgleichung kommt allerdings, aber sie kommt auf dem Kirchhof. Dem gesitteten Staate muß erst an der Arbeit und dann erst am Genuß gelegen sein. Wo Werthe geschaffen werden, wo Menschenhände thätig sind, da ist es Pflicht des Staatsmannes, so behutsam und zart aufzutreten, wie in der Nähe von Kranken, die geschont sein wollen. Ferner: Es ist nicht nur grausam, auf die Ausgleichung der sozialen Kirchhöfe, Hunger und Elend zu verweisen; es ist auch höchst prekär mit dieser Lehre für dasjenige selbst beschaffen, was sie anstrebt. Die Consumtion und die Production gehen nicht mit gleichem Schritt. Sie marschieren, wenn es also auch über Leichen gehen soll, nicht in gleichem Takte. Die Production hat ein rasches Tempo, sie schafft, um zu leben. Die Consumtion geht unendlich langsamer, träger. Man kann tausend Produzenten getödtet haben, ehe ein Consument sich entschließt, den Vortheil, den der Tod Jener 231 ihm eintrug, wirklich zu genießen. Denn wie sich der Mensch gewisse Dinge, und wenn sie noch so theuer sind, dennoch kauft, so versagt er sich wiederum andere und wenn sie noch so wohlfeil werden. Ihr bietet dem sterbenden Arbeiter wohlfeile Kleiderstoffe. Gütiger Himmel, ist das Eure Ausgleichung? Er kann von wohlfeilerem Kattun nicht leben, wenn seine Hand überhaupt nichts verdient. Freihändlerische Gutsbesitzer thun, als wenn sich ein Fabrikarbeiter mit Baumwollenzeug nähren könnte. Aber das Handwerkszeug wird wohlfeiler, sagt man dem Arbeiter, der eiserne Geräthschaften braucht. Ihr Lieben, das Handwerkszeug ist für einen Arbeiter meistentheils eine Ausgabe, wie wenn Ihr alle fünf Jahre einmal Euch eine Badereise gestattet! Alle Tage schafft sich der Tischler keine Stemmeisen und Sägen an. Die Lehre von der Ausgleichung macht sich auf dem Papiere so richtig wie ein mathematisches Exempel, aber in der Wirklichkeit geht sie nicht auf; denn der, der den ersten Stoß einer Neuerung empfindet, soll und muß im gesitteten Gesellschaftsleben so viel voraus haben, als hätte er statt eines Stoßes deren so viele erhalten, als ihm fast den Tod bringen. Es ist leider sehr betrübend, daß man, wenn man gegen die Freihändler schreibt, in die Lage kommt, scheinbar jenes Schutzsystem zu vertheidigen, das nur für unsre Heere von Soldaten und Beamten erfunden ist.

232 In alle diese Schauer einer nun schon immer bewußter hindämmernden Jugend, in diese oft physischschmerzende Sehnsucht nach einem Leben voll reinerer und höherer Anschauungen, in diese gebundene ohnmächtige Knechtschaft eines schon früh mit seinen gegebenen Lebensbedingungen zerfallenden Jugendmuthes fiel endlich ein Sonnenstrahl, der Licht, Erlösung, Freiheit brachte. Die Geschichten von Feen und mildthätigen Zauberern, die der Knabe aus entliehenen Märchenbüchern der Mitschüler las, schienen sich plötzlich zu verwirklichen. Es rauschten Pforten einer bunten Zauberwelt auf, goldne Pforten eines Lebens, wo man die Armuth, die Leidenschaft, den Fluch der ewigen Mühe nicht kannte. Wohl hatte das zitternde Verlangen des Kindes schon oft wie durch Thürritzen aus seinem Dunkel in die Regionen des Lichtes und der Schönheit geblickt. Da und dort zeigten sich leise Schimmer, daß das immer mehr im tiefsten Innern aufrauschende Singen und Klingen von einer gewählteren Welt kein Traum, sondern ein durch das Leben wirklich zu ermöglichendes Ahnen sein konnte. Die zerstreuten Glasscherben auf der Straße, die in der Sonne oder Nachts im Sternenlicht schimmerten, mußten irgendwo sich zu ganzen Krystallen vereinigen. Wahre Columbushoffnungen weckt ein buntes Glas, durch das sich das Kind die Bäume und Häuser in gelbem oder blauem Lichte ansieht. 233 Diese bunten Flimmer sogar, die angebrannt vom alten Schauspielhause herüberflogen, mußten Sendboten einer andern Weltpracht sein. Ja einmal war es dem Knaben geschehen, daß er am Opernhause in ein Fenster lugte und er entdeckte wunderschöne Männer in Harnischen und andre mit schwankenden bunten Feder-Kronen auf dem Haupte. An dem Eingang des Opernhauses las er fiebernd über diesen Götter-Anblick aufgeregt: Heute: Ferdinand Cortez. Aber nicht nur die Welt des Scheines blitzte zuweilen wie durch eine rasch sich öffnende Thür, sondern auch die wirkliche der Größe, des Reichthums und der Bildung sollte sich erschließen. Es war die Knospe zum Zerspringen reif, um aus der Dumpfheit der Kirche, der Betstunden, der schweizerischen Mystik und des zitterndbeängstigten Kleinlebens im armen niedrigen Volke erlöst zu werden zu endlicher Freiheit. Diese Erlösung kam wunderbar.

234 VII.#

Dem hohen rundgewölbten, mit Blumen die morsche Zerbröckelung der Mauer verbergenden Fenster der Wohnung des Knaben lagen stattlichere Häuser gegenüber. Da wohnten Bode, der Astronom, Osann, der Arzt, Hufeland, Osanns Schwiegervater, der Generalstaabsarzt der Armee, der alte greise Göhrke, (der den Knaben gern in seinen Zimmern duldete, falls er sich die über einer großen befestigten Schuhbürste geschriebene Weisung „Merks“ gründlichst gemerkt hatte) und des Königs Zahnarzt, Lautenschläger. Alle diese gelehrten Herren besaßen Gärten. Göhrke einen bescheidenen, der mehr nur seinem Bedienten genügen konnte, von dem der sich einbürgernde und fragsame Knabe die Lazarethzettel der Garnison zu lesen bekam und auf sein unausgesetztes Erstaunen, daß an einer lateinischen Krankheit, von der er nie gehört hatte, fast 235 eben so viel Gemeine und „Spielleute“ krank waren, wie an allen andern Krankheiten der Welt zusammengenommen, die regelmäßige Vertröstung einer lichtbringenden Zukunft erhielt … Hufelands Garten war düster, mit hoher Mauer umgränzt; die Beete sehr zierlich abgesteckt und mit Buchsbaum eingefaßt. Die ganze Wohnung hatte etwas Schweigsamfeierliches und entsprach der Antwort, die Hufeland einst seinem Bedienten gegeben hatte, als dieser ihn zu seinem Befremden nicht mehr mit Guten Morgen, Herr Geheimerath! begrüßte. Sie antworten ja nicht, Herr Geheimerath! hatte der alte Bediente erwiedert. Das thut nichts, antwortete Hufeland, sag’ er nur immer guten Morgen! Die Antwort denk’ ich mir!.. Die Gärten der andern Gelehrten lagen nach dem Katzenstieg hinaus hinter Höfen, deren gepflegte fast holländische Sauberkeit bei gewissen geschlossenen Häusern in Berlin Demjenigen besonders erinnerlich sein muß, der sich damit eine pedantische Eigenheit und fast einsiedlerische Menschenfeindlichkeit der Bewohner in Einklang zu bringen weiß. Es giebt in Berlin kleine geschlossene von außen sehr gepflegte Häuser, die den Eindruck machen, als hätte nie ein menschliches Auge in sie eingeblickt, außer dem Bewohner, der dann sicher zur französischen Kolonie gehört … Von jenen Katzenstieg-Gärten war der eine besonders geheimnißvoll. Ueber seine hohe Mauer hinweg rankte 236 der Weinstock. An Stäben hochgezogen sah man die braunen Trauben an der Sonne reifen. Die Obstbäume neigten sich unter so schwerer Last, daß der Besitzer, der Zahnarzt des Königs, die Gaumen und Zähne der benachbart einkasernirten Uhlanen fürchtete und die Mauer noch höher zog, als sie schon war, ja sie am obersten Rande noch mit zerschlagenen Flaschen wie verkitten und verzahnen ließ. Nun glitzerte wohl auch noch immer eine hochstrebende Traube über die Mauer hinweg, aber auch die grüngläserne Pallisadirung und Mauer-Plombirung des Zahnarztes, der sich indessen doch gefallen lassen mußte, daß die Uhlanen nächtlich mit ihren Lanzen an dem Glase pickten und stocherten und stellenweise den Diebeskitt wieder losbröckelten. Wie hätte der Knabe ahnen können, daß er in diese hermetisch verschlossene Herrlichkeit jemals würde eintreten, an diesen Rosen, Lilien, Maiblumenbeeten, später an dieser Obstesernte wenigstens in unmittelbarer Nähe den Blick würde erlaben können!

Dies Heil widerfuhr ihm nicht von dem Zahnarzte des Königs, sondern von einem bei ihm einwohnenden Hausmiether, einem reichen, vornehmen Manne, der ursprünglich ein Maler war, aber die Malerei mehr nur noch als Dilettant trieb. Der Sohn des Malers wurde des Knaben Gespiele, wie des Knaben Schwester die Gespielin der Tochter. Ein neuer seltsamer Lebens-237kreis öffnete sich für Kinder, die diese auffallende Bevorzugung nur der über ihre Lebensverhältnisse hinaus sichtbaren Ordnungsliebe und dem gewählten Kleidergeschmack der Eltern verdankten. Das Haus des Malers wurde zur neuen Heimath. In ein Doppeldasein verspannen sich nun alle Lebensfäden. Eine Alltags- und eine Sonntagsexistenz begann. Beide kämpften mit einander und die reine, schöne, blaue Luft der letzteren stieg über die erste wie über trübe Nebel empor. Statt Blei sah das Auge nun Silber, die Hand faßte nicht mehr das Rauhe allein, sondern auch das Weiche, Seide und Sammt, das Ohr hörte nicht mehr das Wiehern der Rosse allein und die rauhen Laute der zankenden Leidenschaften, sondern Musik, wirkliche Musik und die Musik der feineren Sitte und der anstandsvollen Selbstbeherrschung. Ein wunderbar neues Dasein brach an. Und wenn auch die Hülle der gewöhnlichen Existenz nicht ganz abgestreift werden konnte, die freie Psyche versuchte doch ihre wachsenden Schwingen oder, wenn die Schlacken des angebornen Looses auch wohl noch lange den Körper niederzogen, der Silberblick war dem Geist gewonnen, das reinere Metall schied sich vom Groben. Dieser Gegensatz war märchenhaft.

Der Maler und seine Gattin seltsamerweise auch Pommern.… Das allein schon ein Band des wohlwollendsten Zufalls. Der Sohn führte denselben Namen, 238 wie der Gespiele. Die Tochter denselben Namen, wie die Gespielin. Das traf so überraschend zu, daß nun vier Kinder fast dem Maler zu eigen gehörten. Es war dieser Mann einer der eigenthümlichsten Menschen, die aus der Zeit älterer Charakterbildung sich noch in der Gegenwart bewegen mochten. Es war der wiedergeborne, höher potenzirte Vater, mit derselben Lebhaftigkeit, derselben ehrgeizigen Unruhe, demselben rastlosen Streben und denselben Auffassungen vom Leben, von der Zeit und den Pflichten des Menschen und Staatsbürgers. Sehr vermögend durch seine freundliche, gute, wohlwollende Gattin, die im Talent der behaglichen Lebenseinrichtung eine Meisterin war, hatte er sich glücklicherweise gestehen dürfen, daß die Malerkunst in ihrer höheren Bedeutung nicht für seinen Beruf gelten konnte. Er porträtirte mit Geschick, gab aber nichts in die Ausstellungen und ergriff vielmehr vorzugsweise nur die untergeordneten Branchen der Malerei, besonders die eben neuentdeckte, von München gekommene Lithographie. Sein schaffender Trieb ging auf das Nützliche im Schönen. Reine Idealität ohne Zweck konnte ihn nicht erwärmen; ein Nutzen aber, der durch die Kunst oder Wissenschaft für das praktische Leben gewonnen wurde, erfüllte sein Auge mit blitzendem Feuer. Herr Cleanth, wie wir ihn nennen wollen, war ein Mann des Systems. Wenn die Malerei allein in der 239 Anwendung der Albrecht Dürer’schen Meßkunst bestanden hätte, wäre Herr Cleanth ein großer Meister geworden. Der Cirkel, das Richtmaaß, der Zollstock waren ihm geläufiger, als die Palette und der Pinsel, welche letztere er in späteren Jahren auch ganz niederlegte. Immer allmälig näher kam ihm die große umsichgreifende polytechnische Strömung des Zeitalters und riß ihn zuletzt mit all seinen Bildern und Bossierversuchen so fort, daß sich aus ihm der gewandteste technische Fabrikant entwickelte. Herrn Cleanths Bildung wurzelte in der neologischen, starkgeistigen Richtung des endenden vorigen Jahrhunderts. Er war Freimaurer und reizte durch seine große Vorliebe für diesen Bund und die vertrauliche geheimnißvolle Freundschaft mit einem kleinen Kreise von engverbundenen Brüdern die Neugier der Knaben nicht wenig, die vor Royal York immer mit dem Schauer vorübergingen, daß sich hier in dem seltsamen Gebäude, auf der grünen mit Kastanien und Ulmen bepflanzten schönen Wiese Menschen versammelten, deren erstes Lernprobestück darin bestünde, in einen großen, ausgehöhlten, mit Spinnen und Würmern angefüllten Apfel zu beißen. Herr Cleanth war ein Freigeist, unterhielt nicht die geringste Verbindung mit der Kirche und ängstigte dadurch nicht wenig die Glaubenstreue der erstberechtigten Eltern des Kindes. Religion war hier die Wohlanständigkeit und das all-240gemeine moralische Verhalten. Diesen „Mangel“ mußte man nun so hinnehmen, sich auch sonst alle Eigenheiten des strengen Herrn gefallen lassen. Er duldete keinen Widerspruch, war Erzieher nach Grundsätzen und gab durch eine unvergeßliche Ohrfeige dem neuen Gespielen seines Sohnes sogleich beim Beginn ihrer Freundschaft einen Vorschmack, wie sich die Charaktere nach ihm zu entwickeln hatten. Diese Ohrfeige erzeugte eine Art von Revolution. Erst eine wilde, stürmische nach Außen hin. Der passive Held derselben, der sich nur von angebornen Eltern handgreiflich strafen lassen wollte, schrie, tobte, stieß mit den Füßen aus, rannte davon und wollte von dem glänzenden Parquet, von der Welt der Teppiche, Consolen, Bronzeleuchter, Spieluhren, Gemälde, wenn man davon Ohrfeigen bekäme, nichts wissen. Solche Früchte des erschlossenen neuen Paradieses hatte das bei aller Zerflossenheit oft böse und trotzige und widerhaarige Kind von außen auf den Bäumen des Gartens am Katzenstieg nicht blühen sehen. Es hätte die Hand, die ihm diese unerwartete Frucht geboten, fast gebissen und wollte vorerst, davon gerannt, nie wieder kommen. Lange Verhandlungen, vielfache Congresse, stillangestellte Vergleiche mit den doch so reichen häuslichen Kopfnüssen, zutraulichste Anreden führten den Gedenkzettelten endlich in sein Paradies zurück. Er folgte von Herzen gern, aber die Lehre war für beide Theile 241 von Nutzen gewesen, für den armen „Geduldeten“ und den reichen „Duldenden“.

Herr Cleanth hatte in seiner Wohnung kein gutes Malerlicht – er malte eine geraume Zeit „oben“ auf dem Schlosse. Sein Vermögen erlaubte ihm, sich in der Behrenstraße ein eignes Haus zu kaufen. Diese Trennung von der „Stallstraße“ störte den Verkehr der Kinder keinesweges. In der Behrenstraße wurde mit beginnendem Frühjahr ein Versuch gemacht, dem Hofraum einen Garten abzugewinnen; Spaten, Rechen, Egge waren schon zu Weihnachten dafür erobert worden. Kaum ließen sich die grünen Halme der Sämereien auf der frischumzäunten Erdfläche erblicken, so wurde das Haus mit Gewinn verkauft und ein neues erstanden. Es regte sich Herrn Cleanths spekulative Unruhe. An das verlassene Haus knüpfte sich dem Knaben eine romantische Erinnerung, die auf die Einbildungskraft wirkte. Im untern Stockwerk war einem Offizier – dem spätern Commandeur der „Reichsarmee“, General von Peucker – seine junge Frau gestorben. Der Wittwer war von diesem Unglück so erschüttert, daß er sich zum Andenken an die theure Geschiedene ein Zimmer mit schwarzem Flor ausschlagen ließ. Auf einer Art von bleibendem Katafalk und vor dem mit Wachskerzen erleuchteten Bilde der schönen jungen Gattin, sagte man, sprach er täglich knieend 242 seinen Schmerz aus. Diese Situation eines betenden jungen Officiers, diese schwarzen Flöre, diese Kerzen, dieses Bild, dies Knieen; das alles lebte noch lange in der aufgeregten Einbildungskraft, lebte selbst da noch, als der poetischgestimmte Wittwer schon längst eine neue Gattin genommen hatte.

Herrn Cleanths neues Haus war nun ein Pallast, fast die Wohnung eines Fürsten. Eine große freie Treppe mit eisernem Geländer führte von zwei Seiten zu einem zwar nur zweistöckigen, aber in der Länge imposanten und einen ganzen Schenkel des „Achtecks“ am Potsdam-Leipziger Thore einnehmenden Gebäude. Ein geräumiger Hof mit Stallungen trennte dies Wohnhaus von einem Garten, der sich bis an die Besitzungen des Fürsten Radziwill in der Wilhelmsstraße zog. Hier ließ sich schwelgen in Glückseligkeit. Trotz der weiten Entfernung von der Universität über die Linden, den Wilhelmsplatz, die Leipzigerstraße hinaus, wurde doch in der doppelten Existenz fortgelebt und die trübselige Hülle der Armuth immer mehr abgestreift. Der reiche Gespiele erhielt seinen Unterricht daheim. Herr Cleanth selbst übte sich im Lehren, im Anwenden pädagogischer Systeme. Mittelbar floß dabei vieles, was der Sohn lernte, auf dessen Genossen über. Kinder tauschen gern ihr erstes Wissen. Erst der vom Ehrgeiz gestachelte ältere Jüngling behält sein Wissen für sich und ist eher 243 versteckt und heimlich damit. Sonntags wurden die Frühstunden nicht mehr in den Kirchen, sondern im sonnigen Zimmer des Gönners zugebracht, wo unter Blumen und Gemälden die beiden Freunde von ihm im Zeichnen unterrichtet wurden. Es war dabei eine strenge Methode, die Herr Cleanth befolgte. Jeder Aufblick von der Arbeit wurde gerügt, jedes Versehen durch irgend eine Ehrenstrafe wettgemacht. Während die Knaben Augen, Nasen, Lippen, Ohren, Köpfe, später auch „allerlei Vieh“ zusammenzeichneten, schritt Herr Cleanth mit knarrenden Hausschuhen durchs Zimmer, las polytechnische Zeitungen und beaufsichtigte die Zöglinge zwei Stunden lang mit einer Strenge, die der endlichen Erlösung und dem Sichtummelndürfen im Garten einen doppelten Reiz verlieh … Kinder der Armen wachsen viel natürlicher und freier auf, als Kinder der Reichen. Diese sollen um jeden Preis eine vorzügliche Bildung erhalten und sind das stündliche Augenmerk ihrer Eltern und Erzieher. Jene, den Eltern oft eine Last, müssen für sich selbst sorgen und lernen dabei leichter, sich ihr Leben frei bestimmen.

Immer mehr lockerte sich nun die Brücke der Rückkehr zu der Existenz der Eltern. Die häusliche Lage wurde dem Knaben gegenständlich, er urtheilte, seitdem er vergleichen konnte. Von dem Naturgeheimniß der Liebe und kindlichen Anhänglichkeit an das Vaterhaus 244 wurde nichts eingebüßt, aber der grelle Reiz früherer Eindrücke dämpfte sich ab. Man lauschte nicht mehr so aufmerksam, wenn Vetter Wilhelm von der Selbstgerechtigkeit und der Gnadenwahl, Vetter Christian von seinem Ehewirrsal und den neuen Seidenhüten sprach. Man lachte nicht mehr über einen lustigen Verwandten, der zu Hause ein kranker Hypochonder, in Gesellschaft ein ausgelassener Schnurrenreißer war und nichts lieber that, als sich einen Besen kommen lassen, ihn verkehrt zwischen die Beine klemmen, als Spinnrocken gleichsam abspinnen und dazu ausgelassene Lieder singen. Die neue Lebenssphäre stand unter andern Bedingungen. Da kamen Besuche von allerlei Hofräthen, Hofräthinnen, Hofraths-, Geheimerathstöchtern, Professoren, Künstlern, Offizieren, jungen Studierenden, die aus Stettin ihre Empfehlungsbriefe brachten und wöchentlich an einem bestimmten Tage zu Tisch erscheinen durften. Herr Cleanth übersah rasch seine Leute. Romantik und Altdeutschthum waren ihm nicht minder verhaßt, wie dem Vater. Chimärische Träumerei erschien dem Manne der praktischen Nützlichkeit als verderblicher Mehlthau jeder Jugendentwickelung. Die Lectüre von Märchen duldete er nicht. Raffs Naturgeschichte und die Kupfer zum Büffon standen ihm höher, als Tausend und eine Nacht. Die einzige Beschäftigung der Phantasie, die Herr Cleanth zuließ, war die mit der Geschichte, zu der 245 seine Knaben durch Beckers damalige zehn Bände und dessen Erzählungen aus der alten Welt frühzeitig angeleitet wurden. Herr Cleanth haßte die gewöhnliche Methodik der Schulen und zog seinen Sohn nur durch Privatunterricht auf, dem er meistentheils selbst beiwohnte. In der Musik mußte ihm die damalige neue Logier’sche, von Stöpel angewandte militärische Methode ganz nach Wunsch kommen. Herr Cleanth war dabei ein Aeolus. Er hatte rauhe und sanfte Winde zugleich. Er konnte sich in furchtbar dunkle Gewitterwolken hüllen, oft aber auch sanft und milde wie eitel Sonnenschein aufgehen.

Welch ein Reiz liegt in der traulichen Geselligkeit eines gebildeten Hauses! Kein Patschouli oder Moschus und doch ein eigner Duft, keine strahlenden Lüstres und doch ein heller Glanz! Die Ordnung und die Pflege verbreiten überall eine Wärme und Behaglichkeit, die neben den äußern Sinnen auch das Gemüth ergreift. Die kleinen Arbeitstische der Frauen am Fenster, die Nähkörbchen mit den kleinen Zwirnrollen, mit den blauen englischen Nadelpapieren, den buntlakirten Sternchen zum Aufwickeln der Seide, die Fingerhüte, die Scheeren, das aufgeschlagene Nähkissen des Tischchens, nebenan das Piano mit den Noten, Hyacinthen in Treibgläsern am Fenster, ein Vogel in schönem Messingbauer, ein Teppich im Zimmer, der jedes Auftreten 246 abmildert, an den Wänden die Kupferstiche, die Beseitigung alles nur vorübergehend Nothwendigen auf entfernte Räume, die Begegnungen der Familie unter sich voll Maaß und Ehrerbietung, kein Schreien, kein Rennen und Laufen, die Besuche mit Sammlung empfangen, Abends der runde, von der Lampe erhellte Tisch, das siedende Theewasser, die Ordnung des Gebens und Nehmens, das Bedürfniß der geistigen Mittheilung … im Zusammenklang aller dieser Akkorde liegt eine Harmonie, ein sittliches Etwas, das jeden Menschen ergreift, bildet und veredelt.

Die Gartenlust wurde wie von Bienen genossen. Aber bei der Freude am Laufen und Rennen in den symmetrischen Wegen, unter hohen Rosenbüschen, Stachelbeer- und Himbeerhecken hin durfte auch die wirkliche Pflege der Blumen und Beete nicht fehlen. Man pflanzte und säete, man führte die Gießkanne, wenn die Sonne sich senkte, man half ernten und arbeitete nach bestimmten, von dem mathematischen Herrn Cleanth gestellten Aufgaben. Da war ein Salatbeet von Unkraut auszujäten, da waren Stöcke für die Nelken zu schneiden und aufzustecken, da waren die zerstreuten Blätter der abgeblühten Centifolien zu sammeln, eine Arbeit, die dadurch belohnt wurde, daß man diese Rosenblätter den Apothekern und korbweise verkaufen durfte. Lange Weinspaliere wurden nach den neuen Kechtschen Grund-247sätzen gezogen. Ein Gärtner führte die Oberaufsicht, mußte aber den jungen Freunden immer etwas von seiner leichteren Arbeit zuweisen; denn Herr Cleanth duldete keine gedankenlosen Spiele. Wie frucht- und blumenreich war dieser Garten! Wie malerische Sträuße von weißen und rothen Lilien, von Rosen und Nelken, von Hollunder und Maiblumen in erster Frühlingszeit wurden zusammengestellt! Und dies Leben mit den Fröschen in einem kleinen Bewässerungstümpel, mit den Maikäfern, die je nach der Farbe der Halsschienen und der Fühlfäden in mehr Gattungen eingetheilt wurden, als Buffon klassificirt hat, mit den Goldkäfern, die so träg und duftberauscht in der Mittagssonnenhitze auf Blumenkelchen in allen Regenbogenfarben schillerten! Das Kind horcht auf alles, was nur in der Natur wispert und knuspert und raschelt. Es ist auf einer ewigen Schleichjagd nach Allem, was sich im Grase und auf und unter der Erde regt. Ausgerüstet nun gar mit einem scharfstechenden Spaten ist der Knabe ein König der Natur. Er legt den Spaten über die Schulter wie ein heimkehrender beutestolzer Nimrod seine ruhende Waffe, ißt nach der Arbeit sein Obst, sein Butterbrod, trinkt sein Glas Wasser mit einer Zufriedenheit, als hätte er seinen Lohn heute um die ganze Ordnung der Welt verdient.

248 Die Blume und der Sonnenschein sind Geschwisterkinder. Sie ähneln sich zum Verwechseln, gehören zusammen, spielen miteinander. Und doch gewinnt die Blumenwelt einen so eignen Ausdruck durch den Regen. Nach einem Gewitter in den Garten treten, dessen sandige Wege rasch die herabgestürzten Güsse aufgesaugt hatten, und nun diese Rosen, diese Nelken, diese Levkoien in ihren nassen Gewändern wie gebadet! Der Staub ist niedergeworfen, die Blumen sind neugeboren und durchwürzen die gereinigte Luft. Jetzt erst haben sie Kraft, durch alle Räume ihren Werth zu zeigen! Die Käfer schweigen, die schwüle Luft ist erstickt, nun duftet alles mit doppelter Macht. Tritt dann die Sonne hervor, so kommt nichts den nassen Blumen gleich. Am Jasmin hängen die Tropfen wie gebannt. Sie müssen lange ihre Kraft sammeln, bis sie schwer genug sind auf die grünen Blätter niederzurollen. Je ölhaltiger die Blume, desto länger glitzert das Naß in solchen Einzeltropfen auf ihrem Kelche. Eine hundertblättrige Rose, sich eben entfaltend aus der stachligten grünen Hülle, besäet von kleinen Regentropfen, die nicht weichen wollen und in der wolkenfrei wieder heraustretenden Sonne blitzen, das ist wohl das lieblichste Bild der Blumenwelt, dessen Schmelz kein Mignon, kein Redouté wiedergeben kann.

249 Die heilige, herrliche, schnee- und frostpoetische Winterzeit bewegt sich zumeist um die Weihnachtsfreude. Das Hoffen vorher und das Genießen nachher. Die Weisheit des Herrn Cleanth duldete um Weihnacht kein rasches Zerpflücken des Genusses. Er gab reichlich, aber seine Gaben waren nicht für flüchtige Zerstreuung bestimmt, die ein Kind sobald ermüdet. Die Spiele, die er gestattete, waren solche, die entweder das Nachdenken oder den Fleiß anregten. Er gab Bauhölzer und ließ nach bestimmten Vorschriften bauen. Er gab Kirchen, die sehr prächtig durch gläserne Fenster und ein inwendig aufgestelltes Licht erleuchtet werden konnten, aber man mußte sie aus einzelnen Stücken erst selbst behutsam zusammensetzen. Er ließ aus Thon allerliebste Steine brennen, um der Bibernatur der Kinder noch gefälligere Nahrung zu geben. Soldatenspiele gestattete er nicht. Sie waren ihm leer, nichtssagend. Alles Schreien, Toben, Lärmen um Nichts war ihm verhaßt. Das Theaterspiel gestattete er, vielleicht eine Conzession der Liebe, da seine Gattin die Bühne liebte. Die Figuren hatten die Knaben sich meist selber zu coloriren, aufzukleben, mit Dräthen zu versehen. Ein chinesisches Schattenspiel hinter einem ölgetränkten Rahmen wurde Sonntagsabendlich aufgeführt. Der „König von Kinderland“ hieß das barocke Drama, zu dem die Knaben Text und Figuren geliefert erhielten und im Komödien-250spielen das Mögliche leisteten. Bei diesen ästhetischen Spielen ließ der Freund die Initiative seinem Gespielen, während dieser, wenn Häuser oder Kirchen gebaut werden sollten oder sogenannte Geduldspiele zusammengesetzt wurden, dann dem Andern die Vorhand gestattete. Kartenspiel und Damenbrett gestattete Herr Cleanth als eine Uebung des Verstandes, als eine Anreizung zur Behauptung seiner persönlichen Vortheile. Er ging in allen seinen Theorieen von dem Gedanken aus, daß das Leben uns zum Fortkommen die Nothwehr bedinge. Sein Lieblingsspruch war von den Tauben, die gebraten Keinem in den Mund flögen. Das grade damals erwachende Regen und Ringen für die materiellen Interessen, die Erfindungen, die vielen Bauten der Regierung, die neuen Anlehen, die Hoffnungen eines dauernd befestigten Friedens zeigten ihm überall Gewinne und Vortheile, die man durch Fleiß, Eifer und resolutes Zugreifen sich erobern könnte. Das war ein Spornen, Stacheln, Lehren, Strafen, Ermuntern! Beispiele von großen Erfolgen, die eine kluge Berechnung der Umstände, ein scharfes Aufpassen auf Constellationen erzielt hatte, wurden mit fast leckrer, schlauer und eulenspiegelhafter Behaglichkeit erzählt, als Triumphe der Klugheit dargestellt. Dem Gespielen des Sohnes ging meistens davon die Erzählung ins eine Ohr hinein und zum andern hinaus. War ihm selbst die Existenz in diesem 251 Hause doch ein Märchen, wie sollte er nicht an Märchen glauben! Ihm waren diese große Tischtafeln mit den blendenden Servietten, den silbernen Löffeln, den gestickten Serviettenbändern, den mehrfachen Gängen der Speisen und den Desserttorten ebenso wunderbar, wie die hellen Lampen mit Gaçeschirmen, die Klingelzüge, die Krystallcaraffen, die Teppiche, die Gemälde, das Pianoforte, die Besuche, die Conversationen.… wie sollte ihm dies verzauberte Haus den Realismus predigen? Alle Lehren des Herrn Cleanth weckten ihm nur die Phantasie. Ein Beweis, wie jede Theorie in der Erziehung von den Grundlagen abhängt, auf die man sein System baut. Es giebt keine absoluten Methoden, sondern nur solche, die relativ auf die Umstände anzupassen sind.

Die frühe Neigung für die Bühne fand in diesem Hause die volle Nahrung. Sonst hatte sich der Knabe mit den Puppenspielen begnügt, die bald in dieser, bald jener „Tabagie“ von zu drittel lebensgroßen Figuren auf einem mannshohen Theater aufgeführt wurden. Nach langem Schmeicheln und Bitten erst pflegte der Junge sich die Licenz, ja die kirchliche Absolution zu erobern, diesen „gottlosen“ Spielereien, die noch dazu zwei Groschen Eintrittsgeld kosteten, sonst beizuwohnen. Sicher war er der Erste, der in dem noch dunkeln Saale erschien und sich dicht an der Brüstung des noch stillen, 252 gespenstigen Gerüstes auf der ersten Bank postirte. Allmälig gesellten sich dann andre Freunde der Puppenkomödie hinzu und darunter Viele, die nicht der Jugend angehörten. Ehrbare Alte, Männer und Frauen, erwarteten mit ernsthaftester Spannung die heutige gute Laune Caspars, des Lustigmachers. Inzwischen wurde der Saal durch einige Blendlampen erhellt und schon hörte man ein Klopfen und Hämmern auf der Bühne, deren belebende Kräfte hinten ihren eignen Eingang hatten. Zuweilen plumpste irgend etwas Schwerfälliges nieder. Es war das einer der Acteurs, der eben seine Garderobe vervollständigt bekam. Ein lautes Sprechen hinter dem Vorhange störte keinesweges, sondern reizte nur die Spannung desto mehr. Denn es wurde nun immer regsamer und heitrer ringsum; die Zahl des Parterres mehrte sich, in der Ferne begann eine Musik und durch die Ritzen des Vorhangs schimmerten schon die Lichter. Der Vorhang rauschte, zuweilen nicht ohne Verwickelungen, endlich auf und die Scene begann meist mit dem Exordium Caspars, der Stimmung ins Publikum und wohl auch hinten in die Darsteller bringen mußte. Es wurden dann die herrlichen Trau-, Schau- und Rührspiele vom bayrischen Hiesel, von den Kreuzfahrern, vom Abällino, besonders aber das Zug- und Modestück des Tages, der Freischütz, sogar mit Gesang und sicher nie ohne Feuerwerk, 253 in etwa zwei Stunden kurz und bündig abgespielt. Der bayrische Hiesel war besonders deßhalb des Knaben Lieblingsstück, weil in ihm ein sanfter, zarter, mit Noth zum Räuber gepreßter Knabe, das liebe Anderle, vorkam, das sich der besonderen Zuneigung des grimmen Hiesels erfreute und nur mit Thränen im Auge an Mord, Raub, Brand und Ueberfall Theil nahm. Anderle sang einen Schnaderhüpfer von seiner Feder auf dem Hut, seiner Büchse zum Schießen, seinem Straußring zum Schlagen, von seiner jugendfrohen Waidmannslust. Dies Lied wurde die Lieblingsarie des Knaben und oft dem lieben Anderle nachgejodelt. Der Brand der Mühle, wo die Soldaten den Hiesel endlich einfiengen, wurde auf dem Theater im Cleanthschen Hause mit Hülfe von Kolophonium oder Bärlapp nicht ohne Feuersgefahr zuweilen nachgeahmt. Auch der Freischütz mit dem Samiel und der Wolfsschlucht war für die Geschichte der deutschen Marionettenbühne epochemachend. Kaspars, des Unvermeidlichen, Dialekt bestand dabei aus einem Gemisch von Sächsisch, Oesterreichisch und Berlinisch. Auch Faust kehrte hier wieder, und eigenthümlicher als bei Goethe, obgleich ohne Meerkatzen. Es war der alte deutsche Puppenspiel-Faust mit den Geistern Vitzliputzli und Auerhahn, die auf ein Halippe! des Zauberers ebenso rasch aus der Luft geflogen kamen, wie sie auf ein Haluppe! wieder verschwanden. 254 Caspar, Faustens Diener, hat diese allmächtige Zauberformel seinem Herrn abgelauscht und wendet sie erst mit glücklichem Erfolge an. Das Erscheinen und Verschwinden macht ihm aber zuletzt so viel Spaß, daß er die Teufel auf Halippe und Haluppe in athemlose Bewegung setzt, sie bald kommen, bald verschwinden läßt und sie dadurch so erzürnt, daß sie sich grimmig auf ihn werfen und ihn unter Hülfeschreien halb zu Tode massakriren. Der Vorhang fällt. Ohne Zweifel ein sehr wirksamer Aktschluß. Melancholisch war das Ende des Faust. Faust hat alle Wunder verrichtet, in denen ihn der Teufel nur unterstützen konnte. Seine Stunde rückt heran. Man hört gespenstisch die Uhr schlagen. Caspar ist Nachtwächter geworden und singt im Mondenschein auf nächtlichstiller Straße sein Hört ihr Herren! Da kommt Faust seufzend und wehklagend. Es entspinnt sich ein Dialog, der etwas mit dem des Valentin und Flottwell im letzten Akt des Verschwenders Aehnlichkeit hat. Aber hier helfen alle guten Grundsätze, alle reuigen Entschließungen nichts mehr. Die Uhr wiederholt ihre Schläge, halb, drei Viertel. Es liegt eine unvergeßliche, herzzerreißende Oede auf den Straßen. So einsam ist es zwischen der gemalten Leinwand! Ach, so still, so unglücklich, so schauerlich! Man glaubt die Brunnen nächtlich rieseln zu hören; nur die Sterne leben, Caspar, Faust und die Strafe des Him-255mels. Endlich schlägt es zwölf und die Hölle öffnet sich und ein Feuerregen verschlingt den weltstürmenden und wunderthätigen Doctor und Caspar kann froh sein, mit ein paar versengten Haaren davon zu kommen und für den nächsten Dienstag noch das Repertoir ankündigen zu können.

Der Sohn des Gärtners im Cleanthschen Hause spielte auch Komödie. Mit vielem Geschick hatte der junge Mann sich eine kleine Bühne gebaut, Figuren geschnitzelt, sie artig costümirt. Es war eine hohe Vergünstigung für die Knaben und auch für ihn, daß sie seinem Debüt in einem Hause an der Potsdamer Mauer unter ein paar Dutzend Arbeiterkindern beiwohnen durften. Auch hier wurde der unvermeidliche Faust gegeben. Die Abweichungen von dem Faust Göthes wie von dem der Herren Linde und Freudenberg waren nicht unerheblich. Des Gärtners Sohn hatte mehr Geschmack als die gewöhnlichen Puppenspieler der Tabagieen. Seine Beschwörung der Helena und anderer außerordentlicher Staatsgeister gerieth wundervoll. Die Ausstattung mußte aus einer Menge geschenktbekommener kleiner seidener Lappen bei den zierlichen Figuren reicher ausfallen, als bei den Puppenspielern von Profession, die wie die großen Theaterdirektoren in der Garderobe knauserten und lange nicht so brillante Erleuchtung boten, wie der Gärtnersohn, dessen Lichter 256 und Feuerwerke opernhaft waren. Aber nur für Einmal litt Herr Cleanth die Theilnahme an den sinnigen und mit Takt arrangirten Leistungen des Gärtnerburschen, in dem ein Regisseur steckte. Der Theatersehnsucht gab er bald einen bedeutenderen Ausdruck. Er nahm die Knaben in die große Komödie mit, die seit dem Brande des Schauspielhauses immer im Opernhause gegeben wurde. Die beiden Vorgeschmäcke wirklicher „lebendiger“ Bühnenkunst, die Jungfrau von Orleans und Iphigenia von Gluck, wirkten so großartig, so mächtig auf den Erzähler, daß er von Stund an eine Gleichgültigkeit, ja einen förmlichen Haß gegen alles Puppenspielwesen bekam.

Der erste Theaterabend! Eine neue Welt! Und nicht die Welt des Scheines. Denn welches Kind verstünde, was an Eurer wirklichen Welt die Wirklichkeit ist? Nicht Schein, nicht Lüge sind jene Wälder und Kirchen und Städte und Festungswälle; nicht Schein, nicht Lüge sind jene Harnische und Fahnen und Schwerter und Krummstäbe; es ist das die wirkliche Welt, die das Kind als solche nur im Theater anschaut. Das war, das ist Alles und wird sein und bleiben! Eure Leidenschaften, die sich austoben, Eure Thränen, die um Nichts geweint werden, versteht das Kind erst allmälig. Was ist ihm Eure Wirklichkeit! Aber die gewaltige Bewegung dort auf den Brettern, dies Gehen und Kommen, 257 dies Siegen oder Sterben, dies Rufen und Handeln und Wagen ist der erste Einblick in die Größe unsrer Bestimmung, die erste Ahnung des Gewinnes, um den es sich verlohnt ein Mensch zu sein. Die Kirche nicht, nicht die Schule, nicht die ersten Bilderbücher erschließen das Reich der Wahrheit, sondern die unwahre Bühne thut es, sie, eine Halle der Kunst, die dem Kinde das wahre Leben scheint.

Wer ist dieser Dünois im glänzenden rasselnden Harnisch? Ein Schauspieler etwa, der „sich spreizt und ächzt bis sein Stündchen abgelaufen?“ wie Shakespeare sagt? Ein Schauspieler, der sich Rebenstein nennt? Wer ist dem Kinde Rebenstein? Rebenstein kann sichs zur Ehre rechnen, daß ihm Dünois gestattet, Dünois zu sein. Ihm ist Dünois Dünois, die Jungfrau nicht Frau Stich, die damals auf und von den Brettern so vielbesprochene große und bewunderte Stich, sondern Jeanne d’Arc, die Jungfrau! Der Krönungszug ist ihm kein Statisten-Mummenschanz, sondern das wirkliche Fest von Rheims. Des Kindes liebste Erinnerung außer dem jedesmaligen Blechgerassel beim Auftreten und Gehen der Helden war der Kampf der Jungfrau mit Lionel, der schwarze Ritter, vor allem aber die irrende Jungfrau im Walde, wo ihm der Köhlerbube noch jetzt in seiner ganzen frischen Kinderstimme im Ohre lebt. Von der großen, nur halbverstandenen 258 Tragödie ruhte sich das Ohr des Kindes im Munde des Kindes, in den herzigen Worten des Köhlerbuben aus, in dem Hereinragen seiner eignen Welt in diese fast handgreiflich wirkliche Welt. Die Schlacht, die der Soldat auf dem Walle des Gefängnisses der Jungfrau nur beschreibt, war dem Auge sichtbar wie eine wirklich gelieferte. Der „Wüthende auf einem Berberroß“ war Dünois, man sah ihn. „Am Graben ist ein fürchterlich Gedräng.“ Es wimmelte vorm Auge. „Ein schwer Verwundeter wird dort geführt!“ Man sieht den Zusammensinkenden. Und jetzt zerreißt die Jungfrau ihre Ketten! Es sind nicht Zwirnsfäden, die diese Theaterketten zusammenhalten, es ist das wirkliche Wunder, das ein Gebet an Gott geschehen läßt. Johanna stemmt die Arme an, zerreißt die eisernen Bande und stürzt hinaus, das Vaterland zu retten.

Um die Wirkung dieser bunten Bilder auf die Phantasie zu erhöhen war das alte, später dann auch abgebrannte Opernhaus mehr als die neuen Theater geeignet. Die Beleuchtung war so düster, so ölig, so qualmig. Man befand sich in einem großen, an sich königlichen Saale mit Stukkaturarbeiten, Karyatiden, Plafondmalereien, Goldverzierungen; aber verräuchert war alles, „angeblaakt“ vom Lampenruß, die Holzsessel mit den Jahren glatt zersessen, die Eingänge in die Logen wie in eine ägyptische Finsterniß; tasten mußte man, 259 um sich nur irgend zurecht zu finden, hülfreiche Hände mußten zugreifen, um uns zu zeigen: hier ist noch ein Platz, da oder dort! Und hatte man endlich seinen Sitz erobert, wie lange währte es, bis das Auge sich an diese Dämmerung gewöhnte und die Logen und Sperrsitze unterschied! In diesen Nebeln war, wie es eben sein soll, die Bühne der einzige lichte Punkt. Von der Beleuchtung des Podiums brach unterm Vorhang hinweg ein dichter Strahl über das Orchester und Parkett und erweckte die zaubervollsten Ahnungen. Auf dem Vorhang wurde schon die Malerei wie ein halbes Schauspiel, wie eine Einleitung zum erwarteten Genuß betrachtet. Wie würdig und im Grunde nothwendig, daß dieser Vorhang dem noch nicht abgestumpften Beschauer die hohe Bedeutung der Musen vergegenwärtigte! Ein Altar des Apollo, mit opfernden Verehrern des Gottes, eine sinnige Scene der Mythologie in einfachen architektonischen Umrissen gehalten, weckte die Stimmung, wie sie sein sollte. Geht in solcher Dämmerung die Gardine in die Höhe, so tritt das Bild der Bühne mit seiner helleren Beleuchtung siegreich über die Umgebung hervor. Sinkt sie nieder, so fällt das in Dunkel eingehüllte Publikum in sein Nichts zurück. Wie anders damals als jetzt! Wie dem Glauben an die Kunst und die Poesie förderlicher als heute, wo die Scene nicht mehr weiß, wie sie gegen den Glanz, das Licht und die Pracht der 260 Auditorien und demzufolge gegen die Selbstgenügsamkeit des Publikums aufkommen soll.

Schinkel hat später durch sein kleines, winkliges Schauspielhaus den Sinn für eine große theatralische Massenwirkung der Tragödie in Berlin fast gänzlich untergraben. Sein neues Schauspielhaus war für Blum, Töpfer, Raupach, nicht mehr für Schiller, Göthe und Shakspeare gebaut. Der Verfasser verweist auf seine frühere Anklage in: Vermischte Schriften, Band IV. S. 151 flg. Die Jungfrau von Orleans, Macbeth, Egmont, Tell, Wallenstein irren in Berlin ohne Obdach hin und her. Das Schinkelsche Schauspielhaus läßt sie für seine Zwecke zu groß, das neue Opernhaus für die seinen zu klein erscheinen. Wenn einst ein Nationaltheater in Berlin sollte eröffnet werden, ein würdiger Tempel der Tragödie, so verweist der Verfasser auf einen Platz, den schon Schlüter für eine Verschönerung Berlins im Auge hatte. Schlüter rieth, die Häuser von der Langenbrücke bis zur breiten Straße abbrechen und den königlichen Marstall hier mit einer prächtigen antiken Façade, die linke zur Spree gehende Seite mit einem Quai verschönern zu lassen.*) Für die gewöhnlichen Pferde wähle man den Pegasus und errichte hier 261 einen würdigen Musentempel! Unter Friedrich dem Ersten schon sangen die Italiener in diesen alten Gebäuden. Jetzt siedle sich dem Schlosse gegenüber die in Berlin unterkunftlose tragische Muse an!

Glucks Iphigenia, zu der dem Knaben wohl nur durch Zufall der Einlaß geschenkt wurde, war ihm leider unverständlicher, als die blechrasselnde Jungfrau. Es war diese Wahl vielleicht ein gutes Abschreckungsmittel der für die Bühne zu lebhaft erwachenden Leidenschaft. Die Jungfrau ließ kaum noch schlafen. Sie wurde zunächst in ihrem Personal bei allen Buchbindern als „Bilderbogen“ erstanden, ausgetuscht, aufgeklebt, ausgeschnitten und im Papp-Theater bei Herrn Cleanth nach Kräften gespielt. Auf diesen Enthusiasmus goß dann eine Oper und noch dazu diese ein abkühlendes Sturzbad. Das Haus war leer. Diese Zelte der Griechen am Aulisstrand, diese nur halbe Rüstung des Achill, diese Priestertoga des Kalchas weckte lange nicht die romantischen Schauer des bunten Schiller. Da sangen Helden, – was kümmerte den Knaben Bader! – da gurgelten, trillerten Heldinnen, – was waren ihm die Milder und die Seidler! – Iphigenia sollte den Göttern geopfert werden, Agamemnon, ihr Vater, war bereit dazu, Achill nur leistete Widerstand, Kalchas drohte mit Bann und Interdikt, und zuletzt legte sich aus den Wolken über dem schon entzündeten 262 Holzstoß Diana in’s Mittel. Es wurde diese Geschichte wohl allmälig verstanden, aber wie langsam entwickelte sich’s, wie umständlich, wie unnatürlich durch den Gesang und die weichen Violinen, die zum Glück dem Zwerchfell des Knaben nicht mehr wehe thaten. Eine Oper, eine klassische, eine in reiferen Jahren mit Entzücken gehörte, wurde Schuld, daß die raschaufgeschossene Neigung für die Bühne verflog, in die Puppenspiele von Linde oder Freudenberg zwar nicht mehr zurück mochte, sich aber auch beruhigte, als die Bühne viele Jahre ganz aus des Knaben Gesichtskreise verschwand und erst mit neuem Reiz vor’s Auge trat, als die Königstädter Bühne ihre epochemachende Entwickelung begann und sich fast in die Straßen und Plätze Berlins die gemalte Theaterkoulisse, das Lampenlicht und die Chronik der Ankleidezimmer drängte.

Herr Cleanth war ein sehr weiser Mann. Er lenkte die beiden Knaben an Fäden, die sie selbst nicht sahen. So abgemessen seine Grundsätze in der Frage des Lernens und der Vorbereitung zu einem künftigen Berufe waren, so viel Freiheit gestattete er für das Leben selbst, die Formen der Geselligkeit, besonders aber den Umgang mit dem schönen Geschlecht. Es ist Zeit, etwas von den Frauen zu beichten.

263 VIII.#

Die erste Aussaat der Liebe schon im Kinderherzen geht so geheimnißvoll vor sich, wie sich der Thau auf Blumen senkt. Spielend und scherzend tastet die Unschuld im Gebiete der Nacht. Worte, Empfindungen, Begriffe, die dem Erwachsenen voll gefährlichster Widerhaken scheinen, fäßt das Kind mit sorgloser Sicherheit an und nimmt das geschlechtliche Doppelleben der Menschheit wie ein Urewiges, mit ihm selbstredend auf die Welt Gekommenes, das keiner Erklärung bedarf. Aus dem Schooß der Mutter geboren ist dem Kind die Mutter die sichre Brücke über alle Räthsel des Weibes hin. Das Kind ahmt die Liebe des Vaters zur Mutter nach, spielt Familie, spielt Vater, Mutter, spielt sich selbst als Kind. Aus raschelndem Herbstlaub, aus zerlassenen Strohbündeln werden Hütten und Nester gebaut und halbstundenlang kann ein völlig unschuldiger 264 Knabe neben seiner Gespielin stumm und wie von Liebesahnung magnetisirt daliegen. Die Gefahr steht einem solchen Bilde kindlicher Naivetät freilich nicht fern, sie lauert wohl und sucht sich die Gelegenheit der Verführung. Aber niemals versteht ein Kind ganz die Bedeutung der harten Strafe, die es oft für sein nachgeahmtes Ifflandsches Familienleben trifft. Das Liebesleben der Erwachsenen erst bricht auf die Phantasie des Kindes und sein stilles Grübeln wie mit der Thür ins Haus. Man schont so wenig die Unschuld, man zeigt sich leidenschaftlich, man kos’t in Kindernähe. Das Kind stutzt, es grübelt, horcht. Gewisse Hieroglyphen erschrecken es, Erzählungen werden belacht, Erzählungen, die plötzlich über ganz befreundete Menschen ein wunderlich fremdartiges Licht werfen. Der Knabe wird bemerken, daß seine ältere Schwester irgend eine Freude oder ein Leid hat, das er ganz nicht fassen kann. Ein älterer Bruder nimmt geschwellt von Lebensübermuth, Jugendlust, Abenteuerdrang kein Blatt vor den Mund. Früh sah der Knabe um Liebe weinen, früh aber auch wurden Geschichten gehört, wie folgende, die erst bei häufigerer Wiederholung in späteren Jahren sich etwa so gestaltete:

Das Roß des Königs.#

Gestern ist ein Duell gewesen, erzählte der Bruder. Auf einem Zimmer der Kaserne war’s. In Nro. 39. 265 Blanke Säbel, geschliffen, im Hemd, nur die Pulsadern verbunden und unten die Redouten maskirt. Tolle Geschichte gewesen. Dem Chargirten Hartmann zwei Finger lädirt. Werden steif bleiben. An sich ist’s zum Todtlachen. Hartmann will zu Jung-Christianis, er erwartet da das Murmelthier. Es ist neun Uhr Abends, der Civilfrack wird gebürstet, durchs Fenster auf und davon, ohne Urlaub. Bei Jung-Christianis in der Zimmerstraße ist Ball und Louise Waldmann, von ihrer Schläfrigkeit das Murmelthier genannt, ein schönes, im Wachen doppellustiges Wesen, wollte sich einfinden. Es wird eilf. Murmelthier schläft entweder oder sie ist untreu … kommt zum Apollosaal! heißt es. Die Kameraden brechen auf und marschieren von der Zimmerstraße zum Oranienburger Thor, wo Murmelthier hoffentlich in ihrer Wohnung in den Federn liegt. Aber halt! An den Linden! Welche Ueberraschung! Murmelthier am Arm des Chargirten Langheinrich, unsres Don-Juans unter den jungen Freiwilligen der Mörser- und Bombenwelt! Lustwandeln Beide im Mondenschein, unter den Linden, Louise Waldmann und Langheinrich! Einen Stein her! Fünfzig Schritt Distanz Kartätschen! Auf Korn und Visier, ich treffe! ruft Hartmann außer sich. Die Andern halten ihn zurück. Hallunken! bricht Hartmann aus dem Dunkel hervor. Die Scene wird ernst. Langheinrich zündet sich eine Cigarre an, verlangt Sa-266tisfaction. Morgen um vier Uhr Nachmittags! In der Kaserne! Ihr sorgt, daß die Gemeinen auswärts sind. Und richtig! Hartmann und Langheinrich schlagen sich. Hartmann wie rasend. Langheinrich mit majestätischer Ruhe. Jener immer nur nach dem Gesicht ausfallend, auf das er neidisch ist. Dieser parirt nur. Blut! rufen endlich die Sekundanten. Hartmanns Arm ist rothgefärbt. Er wirft die Waffe aus der Rechten in die Linke, fällt wieder aus, attakirt mit Wuth, es konnte Mord geben. Langheinrich, kalt und gefaßt, hat bei dem Rufe Blut! den Schläger weggeworfen und tritt ihn mit dem Fuß. Hartmann konnte ihn durchrennen, wenn die Sekundanten ihn nicht mit Gewalt entwaffneten. Pistolen! ächzte Hartmann. Pistolen! Aber schon gestand er zu, es kitzle ihn Etwas kühl an der linken Rippe. Es war das herabrieselnde Blut des verwundeten rechten Unterarms. Leise quoll es hinterm Rücken auf die linke Hüfte herab. Der Schläger war vier Zoll tief bis an die Knochen eingedrungen. Ein Klafterhieb! sagte der Chirurgus, den man herbeiruft. Hieb? Hieb? rufen alle Anwesenden. Hier ist von keinem Hieb die Rede! Was reden Sie, „Gregorio?“ Der Chirurgus lachte. Nun denn! Ein Glas, in das man fällt, kann immerhin vier Zoll tief schneiden. Zähneknirschend geht Hartmann ins Lazareth und kommt in die summarische Uebersicht der Commandantur als unvorsichtige Verwun-267dung. Das Murmelthier will ihn im Lazareth trösten. Hartmann sieht sie nicht wieder an.

Aber Langheinrich muß uns noch bekannter werden. Diese jungen lebens- und liebestollen Landsknechte stehen in Spandauer Garnison. Die Zeit ist lang und nirgends länger als in Spandau. Man verliebt sich; aber noch öfter muß man nehmen, was sich ohne Liebe findet. Eine Wittwe, wohlhabend, Besitzerin eines eignen Hauses, verschwenderisch an die, die sie begünstigt, verschwenderisch an Liebesgaben, nicht mehr an Reizen; denn die Wittwe ist reich, war nie schön. Sie begünstigte die Armee, bis es sich ereignet, daß Schauspieler nach Spandau kommen. Man denke sich Spandauer Schauspieler! Liebhaber, die man auf Hoftheatern nur ansehen mag, sind schon selten. Aber ein „Liebhaber“ in Spandau! Dennoch wird die Wittwe der Armee untreu und geht zur Fahne Thaliens über. Ohne Zweifel fand sich unter diesen Musenjüngern ein heißblütiger, ein werdender Romeo, ein Anfänger, dem nur die Rollen und die Gage fehlten, um aus ihm einen Künstler ersten Ranges zu machen. Die Wittwe wenigstens erkannte ihres Romeos Zukunft und schenkte ihm ihr soldatenmüdes Herz. Unglückliche Wittwe, diese Fahnenflucht wird dir theuer zu stehen kommen! Wenigstens die Artillerie hat dir geschworen, sich zu rächen. Es ist tiefe, stille Mitternacht. Alles schweigt in Spandau, 268 nur im Zuchthause hört man zuweilen den Anruf der Wachen. Die Wittwe scheint noch nicht zu schlummern. Die Chargirten, Langheinrich an der Spitze, schleichen sich an den Häusern entlang, sie sehen Gardinen schimmern, hinter ihnen zwei ombres chinoises. Romeo ist bei der Wittwe! Nun werden unten die Laufgräben eröffnet werden. Man schleicht an die Hausthür. Sie ist verschlossen; sie soll auch verschlossen bleiben. Man hat die Absicht, die Wittwe einzunageln, Romeo zu einem Fenstersprung zu zwingen, man will ihm den gewöhnlichen bürgerlichen Rückzug abschneiden. Die Artillerie hat sich mit einem Bohrer und einem langen Draht versehen. Oberhalb des Hausthürdrückers setzt Langheinrich den Bohrer an, der Bohrer dringt ohne das mindeste Geräusch in die Thür, bleibt fest, felsenfest, und nun wird der Draht so um den Bohrer und die Thürklinke geschlungen, daß letztere von Innen jeden Dienst versagen muß. Man kann drücken, man kann zerren, rütteln, der Drücker geht nicht nieder und das Haus ist nicht zu öffnen. Kaum hat Langheinrich seine Belagerungsfinte ausgeführt, als Schritte durch die Nacht dröhnen. Die Patrouille! Husch! Ins Dunkel der Häuser.… „Guten Abend, Schwarzkrägen!“ ruft der Gefreite der Patrouille. „Warum so spät auf der Straße?“ „Bester Rothkragen! wir haben Arbeit auf dem Pulvermagazin und sammeln uns hier! Nehmt 269 künftig eine Laterne mit, daß ihr die Litzen seht!“ Der Gefreite erschrickt vor den Litzen, entschuldigt sich. Die Patrouille geht weiter. Endlich, es war zwei Uhr, wandelndes Licht im Hause der Wittwe. Romeo ist nicht in Verona, sondern in Spandau, er springt nicht vom Balkon, sondern geht durch die Thür nach Hause. Schon hört man seine Schritte, schon schließt er die Thür auf. Jetzt klinkt es. Baff! Sie geht nicht auf. Was ist das? ruft es drinnen. Man hört zwei Stimmen, Romeos und Juliens. Beide wetteifernd in Vermuthungen, Ahnungen, Verwünschungen. Es ist noch nicht die Balkonscene, die sie aufführen, sondern erst eine Hausflur-Vorscene bedenklichster Art. Endlich zwingt die Situation, sich mit Gewalt der Poesie Boccazios in die Arme zu werfen. Die schlimmste Intrigue der Eifersucht zwingt den Spandauer Romeo zu einer Parodie der mehrfachen Garten- und Mauersprünge des liebenswürdigsten aller Montagues. Das Fenster öffnet sich. Ein niedriger erster Stock. Oben noch ein Abschied in allen philomelischen Akkorden. „Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche.“ Er aber, Romeo: „Es war die Lerche, nicht die Nachtigall.“ Und Plumps! Da lag er! Unten! Wohlbehalten an sich, ohne eine Spur von Verletzung, aber über ihm auch schon die rauhe Hand des Schicksals in Gestalt eines Nachtwäch-270ters. Ein Nachtwächter von Spandau! Die Instructionen dieser Nachtwächter sind schon seit dem berühmten hier residirenden Minister Schwarzenberg etwas schärfer als in gewöhnlichen Städten; die Romantik wird in Spandau wohl von der Liebe anerkannt, aber nimmermehr von der Polizei. Romeo sträubt sich, protestirt, wird aber als Dieb verhaftet. Er bietet seine „Gage“, er bietet seine eben erhaltenen Liebespfänder, er beruft sich auf seine Künstlerehre, appellirt an das ewige Recht der Liebe und der Poesie, aber was ist in Spandau das Recht der Poesie! Die muß dort Wolle kratzen, wie jedes andre Verbrechen am Philisterthum auch. Der Nachtwächter ruft Hülfe. Langheinrich bekommt Mitleid … alle Liebenden haben ein solidarisches Gefühl, wenn sie sich gegen die schnöde Welt einander beizustehen haben. Aber was thun? Aus der Seitengasse herausspringen, den unglücklichen Montague mit Mercutioaufopferung entsetzen? Es würde ihnen allen einen Mittel-Arrest von wenigstens drei Tagen gekostet haben. Da hilft sich der kluge Musensohn selbst. Angekommen an dem Marktplatz und seinem nächtlich schlummernden Gerümpel reißt er sich aus Nachtwächtershänden los, stürzt in die dort aufgeschlagene bretterne Budenwelt und ist spurlos verschwunden. Der Häscher ruht nicht. Hülfe! Hülfe! Diebe! Die Wache am Rathhaus ruft: Heraus! Der Wächter pfeift. Am liebsten hätt’ er Feuer geblasen. 271 Die Wache schickt ihm drei Mann Succurs. An das Haus der Wittwe! Die Wittwe! Die Wittwe! Der Nachtwächter will den Einbruch, das geöffnete Fenster constatiren. Die Rothkrägen folgen, Menschen sehen in Schlafmützen aus den Fenstern. Licht! Licht! Es wird lebendig in ganz Spandau. Die Schwarzkrägen können sich unter die allgemein erwachende Neugier mischen. Man untersucht das Haus der Wittwe. Alles dort still, alle Läden geschlossen. Aber Halt! Die Thür! Seht! Ein Bohrer, ein Drath in der Thür! Diebe! Diebe! Julia Capulet oben am Fenster im Nachtgewand. „Was ist? Mein Gott!“ „Madame! Diebe haben Ihr Haus angebohrt! Einer sprang aus dem Fenster! Er ist entwischt.“ „Ist er entwischt? Gott sei Dank!“ „Wie? Was? Schließen Sie von Innen auf!“ Die Wittwe kommt. Halb Spandau umzingelt das Haus. Laternen eröffneten den Zusammenhang der unfähig gemachten Thür. Räthselvolle Thaten konnten nicht geläugnet werden. Man entbohrte das Haus und bog den Drath ab. Am andern Morgen stand ein Steckbrief auf den Entsprungenen am Thor angeschlagen. Romeo nahm aber rasch ein Engagement zwei Meilen weiter in Nauen an, die Wittwe reiste „ins Bad“ nach Berlin und die Chargirten der Artillerie waren großmüthig genug, Langheinrichs Schwank, der allmälig sich von selbst lich-272tete, nicht noch mit schadenfrohen Zündern und artilleristischen Leuchtkugeln weiter zu erhellen.

Das militärische Dekamerone ist aufgeschlagen. Wir müssen zum „Roß des Königs“ kommen.

Beim Prinzen August in der Wilhelmsstraße ist große „Abfütterung“ der Offiziere. Die Waffe des Prinzen, der Feuerschlund, wurde auch in ihrer Bedienung von diesem hohen Herrn besonders werthgehalten. Der Prinz befahl heute zur Tafel, was nur ein silbernes Portépée und am Rock des Königs einen schwarzen Kragen trug.… Wohlan! sagte von den Chargirten Einer, als die Batteriepferde zu Mittag geputzt waren, heute dächten wir, sind wir vollkommen sicher. Der Oberst, der Capitain, die Leutenants essen in der Wilhelmsstraße geschmorte Cubik- und Quadratwurzeln und höchstens unser kleiner Fähnrich von Haase studirt im Zimmermann, wie wirs hätten anstellen sollen, mit a2 x b2 neulich das Geschütz aus dem Graben zu holen, das uns beim Manöver umschlug.… Diese Rede kam wieder von Langheinrich, der endlich den Murmelthieren und Spandauer Wittwen entsagt hatte und von den Banden einer reinen, edlen, tugendhaften Liebe gefesselt war. Die schöne Pauline, Tochter eines Wirthes in der Heide am Plötzensee, war eine bewunderte Liebenswürdigkeit auf der ganzen Nordseite der Hauptstadt. Man glaubte, daß Langheinrich ihr Herz nicht ungetheilt besaß. We-273nigstens widmete der Fähnrich von Haase, der ihn wegen seines umgeschlagenen Kanons wieder mit einer Menge von Vorwürfen überhäuft hatte, trotz seiner unreifen Jugendlichkeit dem Plötzensee eine solche Naturliebe, daß man von ihm annehmen mußte, er wäre Langheinrichs Nebenbuhler in der Gunst der schönen Wirthstochter. Einstweilen erregte aber die Erinnerung an den Professor Zimmermann allgemeines Behagen. Wer je „auf Artillerieschule“ gewesen, kannte Zimmermann sogleich, der neben dem Rektorat eines Berliner Gymnasiums die jungen avancementfähigen Krieger in seiner speziellen Branche, der Mathematik, unterrichtete. Zimmermann, ein Original in Berlins pädagogischer Welt, hatte noch kürzlich von Langheinrich, der zu seinem Fähnrichsexamen sich rüstete, erfahren müssen, daß dieser unter den Linden an die schwarze Tafel im Auditorium ein Wurzelzeichen malte, des Examinators Bild darunter und die Worte: „Mathematisch war sein ganzer Lebenslauf; drum hing er sich an einem Wurzelzeichen auf.“ Ein Prognostikon, das Zimmermann sehr ruhig aufnahm. Er ergriff den Schwamm, las die Verse, löschte sie und sein Bild und sagte nur von dem Wurzelzeichen, das er stehen ließ: „Dieses hier können wir brauchen! Herr Langheinrich, sagen Sie mir …“ und nun rächte sich der Examinator nur durch einige Fragen, in deren Be-274antwortung der Aspirant des silbernen Portepées stecken blieb. Langheinrich war das erste Mal durchgefallen und hatte seine Hoffnung auf ein Offiziersavancement fast schon aufgegeben … Sein Unglück waren die Frauen und das Vergnügen. Leichtsinnig raffte er sich auch heute aus seinen Träumereien auf und stimmte in den allgemeinen Wunsch ein, die Freiheit und das herrlichste Wetter zu einem massenhaften Spazierritte zu benutzen. Man nahm dazu „die Pferde des Königs!“

Das war ein gewagtes, gefährliches Unterfangen! Ein Spazierritt mit „Staatsgut“, mit den „Rossen des Königs“! Bah! rief der versöhnte Hartmann. In der Wilhelmsstraße wird getafelt! Fähnrich von Haase hat die Stallwache, aber er wird erst gegen Abend kommen! Gesattelt! In die Bügel! Auf! Und müssen wir in der Lindenstraße „Prison besehen“, so haben wir ohnehin Nächte nachzuholen und ruhen uns einmal auf der Pritsche gemüthlich aus … Gesagt, gethan! Zwei Feuerwerker, fünf Unteroffiziere, drei Bombardiere satteln „die Rosse des Königs“ zu ihrem Privatvergnügen.

Wohin nun? hieß es, als man den Fuß schon in den Steigbügeln hielt. Auf den Gesundbrunnen! riefen die Einen. Zur schönen Pauline! die Anderen. Und: In die Jungfernheide! fielen Alle ein, noch ehe 275 Langheinrich widerrathen konnte. Man giebt die Sporen, sprengt zur Pforte des Stallgebäudes hinaus und schwenkt links ab zum Oranienburgerthor, an den Kirchhöfen, Gärten, Landhäuschen, dem Apollosaal vorüber, zum Jägerhaus an der Panke und dann in die sandige Kiefern- und Eichenwaldung zum Plötzensee … Unterwegs gab es um so lustigere Gespräche, je mehr es im Gewissen rumorte. Die Menschennatur betrügt sich so gern. Die Erinnerung an ein Abenteuer mit dem englischen Gesandten lebte noch in allen diesen wilden Köpfen. Ihrer vierzig Mann stark, waren die Avancirten kürzlich nach Cüstrin marschirt, um dort Rekruten einzuüben. Auf der Frankfurter Chaussée, dicht bei der „neuen Welt“, begegnet der englische Gesandte der Truppe zu Pferde. Die Marschierenden wollen ebensowenig ausweichen, wie Mylord. Mylord hält sein Vollblut an, hebt die Peitsche, giebt die Sporen und reitet mitten in den Kriegerschwarm. Dieser, statt auseinander zu stieben, verengert sich. Mylord schlägt mit der Gerte links und rechts unter die Drängenden. Es war die Zeit, wo Codrington bei Navarin gesiegt hatte und schon der Name Wellingtons allein die alte Welt regierte. Dennoch gab es hier an der „neuen“ ein Scharmützel. Mylord wurde an seinen langen großbritannischen Beinen gefaßt, bügellos gemacht, herabgezogen und so übel von den 276 Truppen der heiligen Allianz zugerichtet, daß die Erfahrenen und Aeltesten des Corps, als es hieß: „Goddam! Very well! Ich bin der englische Gesandte!“ von dem verletzten Völkerrechte und dem Bruch des politischen Gleichgewichts in Europa eine Ahnung bekamen. Der Gesandte sah den plötzlichen Schrecken, verläugnete aber seinen britischen Humor nicht. Er zog die Börse, reichte mit den Worten: Soldaten, Ihr habt mich sehr gut geschlagen! Guineen rundherum Jedem hin, der etwa zugreifen wollte. Niemand griff zu. Mylord bestieg sein Pferd, klemmte die Lorgnette in’s linke Auge, ritt lachend von dannen. Die bestürzte Mannschaft schließt einen Kreis, leistet einen feierlichen Schwur, um alle „Europäischen Verwickelungen“ zu vermeiden, den Vorfall hier an der „neuen Welt“ innerhalb der alten völlig ersterben zu lassen und wie ernst dieser Schwur genommen wurde, bewies Langheinrich dadurch, daß er Jedem, der beim Ehrenwortgeben im Rauchen fortfuhr, die Cigarre vom Munde wegschlug … Mit diesen Erinnerungen trabte die Gesellschaft auf den Rossen des Königs in die Tegeler Heide. Jetzt erzählten sich die Staatsfrevler von Kraft- und Kernausdrücken der Kameraden. Wieder muß floriren der alte Feuerwerker Trimm, den alle in Cüstrin kennen gelernt hatten. Trimm! Trimm! Du Stichblatt jeder lustigen Laune! 277 Du unerschöpflicher Vorrath von Unterhaltung! Um einen plötzlichen Schreck zu bezeichnen, sagte der alte Feuerwerker Trimm in Cüstrin regelmäßig: „Donner! Mich krepirt im Leibe eine siebenpfündige Granate.“ Ein ander Mal, als ein ehemals „Napoleonischer Deutscher“, ein Major in Cüstrin, den Trimm denn doch auch zu oft „Corporal“ geheißen hatte, krepirte dem Feuerwerker wieder eine Granate im Leib und er sagte: „Herr Oberst-Wachtmeister, ich diene der Königlich-Preußischen Fahne zwanzig Jahre, aber noch keine Minute als so ein Ding, wie ein Corporal.“ Eine Lieblingswendung Trimms war der fast homerische Kernspruch: „Da möchte Einem ja die pure Seele vom Leibe faulen!“ Drohte Trimm mit dem Messer oder der Säbelklinge, so sagte er: „Hund, ich mache dir Was zwischen Lunge und Leber.“ Um einen Menschen zu bezeichnen, der kaum etwas mehr als ein Kalb war, pflegte Trimm zu sagen: „Wenn ein Ochse gebären könnte, wüßt’ ich wer dem seine Mutter wäre.“ Auf einen ausrangirten alten, ihm zu eigen gewordenen Säbel hatte Trimm sich die Worte ätzen lassen: „Recht zu thun ist Jedermanns Pflicht! Anders wenigstens will es mein König nicht!“ … Unter solchen und ähnlichen Gesprächen war man endlich bis zur Jungfernheide gekommen und lenkte im Sande zum Plötzensee ein. Pauline empfing die Gäste mit nicht minderer Aufmerk-278samkeit für sie selbst, als für die „Rosse des Königs.“ Die starken kräftigen Thiere wurden in den Stall gelenkt. Es war drückend heiß. Der harzige Duft des Tannenwaldes lockte im Freien zu bleiben, aber das niedrige, still im Grünen gelegene Häuschen bot kühleren Schatten. Man bewirthete die Gäste nach Verlangen, nur Langheinrich schien mehr zu erhalten, als er begehrte. Er war offenbar der Bevorzugte und mußte sich die Neckereien der Kameraden gefallen lassen. Langheinrich forschte nach dem Fähnrich. Lachend gestand Pauline, daß er sie oft heimsuche und schon vorgegeben hätte, er wollte nächstens im Plötzensee angeln. Man lachte, schraubte den jungen Chargirten mit den Fischen, die anbeißen würden, wenn silbernes Portepée der Köder wäre. Da war es wohl an der Zeit, daß Langheinrich einen Beweis der Liebe gab, deren Pauline für ihn fähig war. Es kam die Rede auf das letzte dreitägige Manöver. Langheinrich erzählte, er wäre in der letzten Nacht auf seinem treuen Thiere eingeschlafen. Die Kameraden wußten die Position, auf der man bei einer Reserve-Batterie unter fernem Kanonendonner als Wachtposten einschlafen konnte. Hinter dem Wedding hatte sich der Kampf zwischen den beiden von Tauentzien und dem Herzog Karl von Mecklenburg gegeneinander operirenden Corps eröffnet und war durch einen forcirten Marsch nach Südost plötz-279lich in die Rollberge hinübergeworfen. Die Reserve des Tauentzienschen Corps folgte langsam und kam nicht ins Feuer. Nichts abmattender als eine solche Wacht in der Sonnenhitze des Tages und unter der Furcht der Allarmirung in der Nacht. Die Bivouacs konnten nicht aufgeschlagen werden, denn von Spandau aus durch die Tegeler Heide hatte die Reserve immer langsam vorwärts zu rücken und dabei eine Umgehung über den Kreuzberg von Süden her zu gewärtigen. Langheinrich schlief ein. Er hatte sich den Zügel zur Vorsicht um den Fuß geschlungen, aber die Windung mußte sich gelöst haben, er war vom Pferd geglitten und schlafend im Walde liegen geblieben. Sein gutes Thier ist plötzlich ohne Reiter. Schon beginnt in der Ferne wieder die Kanonade. Es ist früh um Morgendämmerung. Langheinrich fehlt an der Batterie. Sein Pferd, Rinaldo, irrt hin und her im Walde und im Sande. Der treue Fuchswallach scheint zu ahnen, wie groß die Verantwortlichkeit war, der sich sein leichtsinniger Herr aussetzte; denn nicht wenig Wochen Arrest standen auf eine solche Vernachlässigung des Dienstes. Der irrende Rinaldo mit leeren fliegenden Steigbügeln sucht und sucht und entschließt sich endlich – denn fast mochte man hier Vernunft voraussetzen – des schlummernden Reiters Unfall da zu melden, wo er seit Mona-280ten fast täglich zu finden war. Rinaldo, der nicht sagen kann: Langheinrich, steh’ auf, man schießt! trabt durch Busch und Baum zur schönen Pauline. Die hört am Fenster in aller Morgenfrühe das Wiehern und Stampfen eines Rosses, öffnet und erblickt den guten Rinaldo, gesattelt, herrenlos, wie auf der Flucht. Sie schreit vor Entsetzen auf. Man öffnet das Thor, läßt den Renner ein, bringt ihn in den Stall und möchte fast das gute Thier fragen, wo sein Herr geblieben. Da kommt das Schießen immer näher. Die Reserve Tauentziens soll vorrücken. Pauline, kriegskundig wie jede Soldatenbraut, ahnt die dienstliche Gefahr des Freundes, selbst wenn ihn kein weiteres persönliches Unglück getroffen hätte und der Gaul ihm nur durch Zufall entflohen wäre. Aufgemacht mit Knechten, Mägden, mit Vater und Mutter, in den Wald und Rinaldos Herrn gesucht! Man findet ihn; er liegt im tiefsten Sande, unter abgefallenen Eicheln und Blättern, die er von einer alten Eichenkrone gestreift haben mußte, als er von seinem Gaule niederglitt. Noch schnarcht Langheinrich in glückseligster Vergessenheit. Man weckt ihn. Er sieht sich um, hört das Schießen. Mein Pferd! Mein Pferd! Mein Pferd! Es ist geborgen, heißt es, im Stall am Plötzensee. Wie athmete der Schläfer auf! In einer Viertelstunde hatte er seinen braven Gaul wieder. In 281 einer halben rief das Signal zur Sammlung aller Mannschaften und zum Rückzug. Hätte Langheinrich gefehlt oder er wäre unberitten am Posten erschienen, es würde ihm mehrere Wochen Gelegenheit zu einsamen Monologen in der Linienstraße gegeben haben.… Bravo! riefen die Kameraden nach dieser Erzählung. Paulinen wurde ein Hoch gebracht, die Gläser wurden ausgetrunken und allmälig der Heimritt angetreten. Wie streichelte Pauline den braven Rinaldo, der damals die Fürsorge und Obhut der Geliebten wach gerufen hatte! Noch brach sie Haselnußzweige und steckte sie da und dort unter das Riemzeug und die Sattelgurte des guten Braunen, um ihm die stechenden Fliegen abzuhalten.… Rinaldo schlägt den Schweif wie dankend und scharrt mit dem Vorderfuß. Man steigt auf, giebt die Sporen und scheidet.… Ein halbgelungenes Wagniß giebt für die zweite Hälfte des Frevels doppelten Muth. Den Herren Geschützführern war ihr dienstwidriger Spazierausritt mit den „Rossen des Königs“ zur Hälfte gelungen, der Heimritt stimmte sie übermüthig. Batterietrab! hieß es. So fliegen sie erst durch die engeren Wege hin. Sie biegen in die Kunststraße ein in zwei Zügen und nun auf Commando: Batteriegallop! Es kitzelt der linke Fuß die Weichen und die Thiere sprengen rechts an zu einem Ritt, der den Staub der Straße aufwir-282belt. Aber hilf Himmel! Bei einem Ausbiegenmüssen an schweren belasteten Wägen vorüber stürzen drei Reiter, unter ihnen Langheinrich. Der junge Don Juan im Doppeltuch ist für sich glücklich und bleibt unversehrt, aber sein treues Roß! Rinaldo, das Pferd des Königs, prallt mit dem Kopf an einen Chausséestein und bleibt augenblicklich für todt liegen. Alles hält erschrocken an, springt ab. Ein Roß, das sich von einem Sturz nicht gleich erhebt, muß todt oder zum Tod verwundet sein. Da tröpfelt Blut! zeigt man. Rinaldo ist todt! Leichenblaß und rathlos stehen die übermüthigen jungen Krieger, an den Zügeln die dampfenden Pferde haltend. Langheinrich will noch einen Scherz über Geographie, Längenmaße, numerirte Chausséesteine mit so und so viel Quadratfüßen wagen, aber das Wort stockt schon im Munde. Sein Rinaldo regt sich nicht. Er fäßt des Rosses Puls, ruft: es ist nicht todt! aber auch eben so rasch antworteten die Andern: Seht nur das Auge! Das Auge! Langheinrich starrt. Der Anblick, der sich ihm darbot, war entsetzlich. Dem guten, treuen, lieben Rinaldo war sein schönes, schwarzes, glänzendes Augenoval aus der Höhle gedrängt; furchtbar anzuschauen blutete es. Langheinrich fühlt ein Zucken, als sollt’ er zusammensinken oder wie „Corporal“ Trimm gesagt haben würde, als „crepirte ihm in der innersten Leber eine sieben-283pfündige Granate.“ Er beherrscht seinen Todesschreck, greift nach der Kandare, nimmt sie sanft vom Haupt des Thieres, lüftet zart den Sattelgurt … Man sieht und wartet, man zittert um Rinaldo, das „Roß des Königs“, und um die allgemeine Schuld. Da springt das Thier auf, aber das Auge bleibt an der Höhle hängen, blutet. Jede Hülfe scheint unmöglich. Man muß das unendlich rührende Schweigen eines duldenden Pferdes kennen, um zu begreifen, wie dem so bitter Bestraften dieser Anblick die Seele zerriß. Langheinrich ist der erste, der sich sammelt. Er streichelt sein Thier, spricht kosende, liebevolle Worte. „Rinaldo! Mein alter Hanns, was machst du mir!“ Menschen umstanden schon die Scene. Alles Aufsehen war zu vermeiden. Zurück, zurück zu Paulinen! Die Andern wandten die Rosse, Langheinrich führte Rinaldo am Zügel. Langsam und halb lahm ging es in den Wald zurück. Die Freunde dort sehen von ferne den Trauerzug, stürzen den Rückkehrenden schon entgegen. Pauline findet ihr mit Reisern geschmücktes, geliebtes Roß so mit gesenktem Haupte im Sande schleichend wieder. Was ist geschehen? Rinaldo –! Ruhig! Ruhig!… Langheinrich weist jede Berührung des Thieres zurück, verlangt Leinen, Essig, Wasser, schüssel- und eimerweise. Man bringt das Verlangte. Langheinrich ersucht die Kameraden des Thieres Kopf zu halten. Andre heben den 284 Vorderfuß. Er nimmt das befeuchtete Leinen, reinigt das Thier rings um das entquollene Auge vom Blut und beginnt nun sanft und milde und gelassen das Auge in die Höhle zurückzudrängen. Rinaldo hält aus mit der himmlischen Geduld, die dem Thiere eigen ist, wenn es leidet. Alles steht starr und schweigsam. Laßt los! ruft Langheinrich jetzt mit Entschlossenheit. Die Kameraden springen zurück, Rinaldo schüttelt sich. Die Operation war gelungen. Das Bluten hörte auf, aber … fügte Langheinrich, dessen Veterinärkenntnisse bewundert wurden, hinzu: Mein armer Rinaldo, für immer wirst du blind werden! Pauline weinte. Die Zeit zur Klage war gemessen. Das Diner in der Wilhelmsstraße konnte zu Ende sein. Man ritt zurück; nicht im Batterietrab, nicht im Batteriegalopp; man ritt, wie Entdeckung fürchtende Sünder scheinbar ruhig am Hochgericht reiten mögen. Im Stall angelangt, trifft man schon den jungen Fähnrich von Haase, den Angler vom Plötzensee. Die kleine Cadetten-Autorität mit der Fistelstimme tobt und rast, schreit Hochverrath am „Königsgut!“ überschreit sich und droht mit allen Schrecken der Linienstraße. Man mußte vorerst ruhig seinen Grimm hinnehmen und auf zwei Dinge sinnen, einmal, ihm den Zustand Rinaldos zu verbergen und zweitens ihn auf irgend eine Art zum Mitschuldigen zu machen. Daß er schon beim Ausritt trotz der Stallwache gefehlt hatte, war ein Umstand, der 285 sein sichres Auftreten milderte. Dem armen Rinaldo ward der Gurt aufgeschnallt, der Sattel abgenommen, die Halfter aufgelegt. Man giebt sich ein leichtes, gewissenruhiges Ansehen, trällert, spricht vom Diner in der Wilhelmsstraße, von gekochten Cubikwurzeln mit Fischkottelets, von den Ikleien, Steckerlingen und Stinten im Plötzensee. Fähnrich von Haase stutzt. Er mußte in die reizende schlanke Pauline mit dem ganzen Feuer verliebt gewesen sein, das bisher in den Mauern des Cadettenhauses in der Klosterstraße sich hatte nur in Phantasieen auslodern können. Es galt nun einen Thierarzt zu rufen; denn Rinaldo stand still und traurig vor der Krippe, fraß nichts, senkte den Kopf und legte ihn zuweilen nur leise, wie ermüdet, wie von Hitze gequält an die Wand, als suchte er Kühlung für die tief unterm Auge geheim brennende Wunde. Nun mußte sich Langheinrich, ohnehin für sein ganzes Leben erschüttert, sammeln und zu einem Opfer entschließen. Er trat zum Fähnrich von Haase, der eben einen Roman aus der Tasche gezogen hatte und sich auf der Stallpritsche zu strecken und zu langweilen begann. Herr von Haase, sagte Langheinrich, wenn Sie wollen, will ich die Stallwache für Sie übernehmen und die Nacht statt Ihrer hierbleiben. Der Fähnrich fixirte ihn, schlug sein Buch zu, besann sich, ob hier eine Falle, sah über die kleinen hohen Fenster hinaus die schöne 286 goldne Abendsonne draußen so lockend blitzen, dachte an die schlanke Pauline, an einen Besuch bei der Angebeteten … Langheinrich wußte, welch’ ein Opfer er „dem Rosse des Königs“ brachte. Und richtig, Fähnrich von Haase verwünschte das verdammte Odeur der Ställe, dankte für die Bereitwilligkeit Langheinrichs und schlüpfte mit seinem seidnen Taschentuche, dem Roman, der Anzeige des Stallfrevels und seinem liebetollen jungen Herzen davon. Er wird sich die Leimruthe holen! lachten die Kameraden hinter ihm her und schienen in der Freude, ihren heutigen Chef nun zum Mitschuldigen zu haben, nicht übel Lust zu bezeugen, Langheinrich damit zu schrauben, daß am Plötzensee heute im Trüben würde gefischt werden. Langheinrich aber verließ sich auf die Liebe seines Mädchens und lebte nur für seinen Rinaldo. Der Thierarzt wird gerufen, kommt, besieht den Schaden, schüttelt sehr den Kopf, spricht sehr von Anmeldung, verdorbenem Gut des Königs, Unheilbarkeit … Man bittet, fleht, man schmeichelt … Der Thierarzt holt Balsam zu Einreibungen und schreibt ein Attest: Der Fuchs des Geschützführers Langheinrich müßte auf einige Zeit vom Dienste dispensirt werden, er litte an „verschlagener Druse.“ … Nach einigen Wochen war Rinaldo blind. Langheinrich verlor für immer den Leichtsinn seiner ersten Jugend. Pauline wurde sein Weib. Er gab die Carriere auf, nahm den Abschied, 287 legte sich auf dem Lande eine Oekonomie zu und kaufte, als eines Tages mehre schadhafte „ausrangirte“ Pferde der Artillerie verkauft wurden, sich seinen treuen Rinaldo, den er erblindet bis in sein hohes Alter pflegte.

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Solche und ähnliche, zahllos vorgekommene und umständlich berichtete Geschichten wurden ihrer Abenteuerlichkeit wegen mit gierigem Ohr belauscht. Der rothe, durch sie sich hinziehende Faden von Liebe und vom Reiz schöner Frauen entschlüpfte der Kindeshand und doch fehlte eine gewisse geheimnißvolle Wirkung nicht.

Herr Cleanth ging von der Ansicht aus, ein Knabe müßte früh den ganzen Reiz der Weiblichkeit empfinden. Und hatte der Weise nicht Recht? Worin liegen die Gefahren der späteren Irrung mehr, als in diesem bisher noch nicht gekannten Zauber weiblicher Natur? Ein früh an anmuthige Geselligkeit, an schöne Lebensformen, ja selbst an rauschende seidne Kleider und malerische Trachten gewöhnter Knabe stumpft den Reiz ab, den ihm das Anstreifen an Frauenwesen verursacht, wenn er solches erst in späteren Jahren erfährt. Ein wilder, blindlings den Frauen nachrasender Freund gestand dem Erzähler einst mit tiefer Wehmuth: „O mein Freund, ich bejammere, was ich von Phantasie, Glauben, Lebensmuth und Lebenskraft an die Frauen verlor! 288 Ich hatte nie in der Nähe zarter, schöner, froher Mädchen gestanden, ich hatte nie diese zauberische Berührung von Atlas, Sammet und Seide empfunden, nie mich gestreift an einem schönen Arm oder an einem Handschuh, der zierliche Finger umschloß. Endlich erwachte im Jüngling diese glühende zurückgehaltene Sehnsucht zum Weibe. Ich hatte das Wissen in seinem schweren und nur halbbelohnenden Erwerbe hinter mir, nun wollt’ ich ein höheres Licht, das wahre Leben, wollte die Schönheit und das Herz … wohin führte mich der Taumel dieser Sehnsucht? Es mag unglaublich klingen, aber es ist wahr, ich suchte überall, wo nur ein Weib mir begegnete, mein tiefstes Bedürfen nach weicher, schmiegsamer Hingebung, mein tiefstes Hangen und Bangen nach dem Geheimniß der glücklichen Liebe zu befriedigen. Ich liebte edle Mädchen, aber der Roman des Hoffens und Werbens entnervte, tödtete mich. Ich wollte besitzen. Nicht besitzen um des flüchtigen Genusses willen, nein, ich wollte den Edelstein des Frauenzaubers selbst im Schutte suchen, vor dem mich schauderte. Putz, selbst da, wo keine Schönheit war, reizte ein Auge, das in schönen Formen nie Kunde und Uebung hatte. Ich fühlte das Bedürfen, irgendwie dem Weibe nahe zu sein, irgendwie in diese Existenz einer andern Welt einzublicken, irgendwie an diesem so glücklichen, neutralen Prinzipe in allen Alternativen des Denkens 289 und des Lebens mich anzusiedeln. Wie ruht es sich so still an einem Haupte aus, das allein nur an dich denkt, in diesem Augenblicke wenigstens auch ihr Vergessen in dir nur findet! Im Doppelleben der Menschheit als Mann und als Weib liegt eines der Zauberworte, das uns die Thür des Jenseits entriegelt. Dies wollt’ ich hören, belauschen, selbst aus wilden und rohen Klängen abhorchen. Wen liebt’ ich nicht! Himmel, und doch schlug selbst aus der Asche bemitleidenswerther Frauen noch manchmal eine reine Flamme auf, rührte mich und konnte mich und sie auf Augenblicke heben. Ein an Liebe reiches Herz bedarf der Liebe. Nein! Hätt’ ich als Knabe den schönen Frauen und ihrem Sinne, der sich zu schmücken liebt, näher gestanden, ich wäre vor den trübsten Erfahrungen bewahrter geblieben.“

Herr Cleanth schien ähnlich zu denken. Sein Malertalent mochte zweifelhaft sein; Lebenskünstler war er gewiß. Er verlangte gefällige Tracht, gewandtes Benehmen, conventionelles Entgegenkommen, Artigkeit gegen alle Frauen. Er selbst gab das Beispiel der erlaubten Galanterie. Er hielt seine Zöglinge an, die Worte zu wählen, den Körper in Schick zu richten, Damen die Hände zu küssen, gewandte Formeln der Höflichkeit zu sprechen. Es wurden Gesellschaften gegeben, wo die Mädchen mit den Knaben zum Spiele sich vereinigten. Er beförderte die Besuche grade bei solchen 290 Familien, wo junge ausgelassene Mädchen den Ton angaben. Ganz gegen die neue Lehre der Erziehung war Herr Cleanth für die Kinderbälle. Ihm schien bei diesen jungen Stutzern und kleinen Koketten hinlänglich gesorgt, daß doch Niemand die Gefahr eines Ueberreizes lief. Zur Liebe waren ihm die beiden Geschlechter der Menschheit einmal bestimmt, die Eitelkeit und die Galanterie waren ihm Erbschaften unsrer Natur, wozu sich den Vortheil entgehen lassen, daß ein Knabe bei Zeiten sich an den Reiz der Weiblichkeit gewöhnt? Cleanth ließ seinen Sohn tanzen, französisch sprechen, Damen die Hände küssen, die Kinderbälle besuchen und hat einen vortrefflichen, tugendhaften Jüngling, einen sittenreinen, noch jetzt jugendlichen Mann aus ihm erzogen.

Der Gespiele, der nur dann und wann sein Lebensparadies betreten durfte, sah in so viel Herrlichkeit meist doch mit entsagendem Blicke ein. Wie konnt’ er sich ganz aus seiner häuslichen Erde entwurzeln! Das Tanzen war ohnehin den Eltern ein eben so arger Teufels-Gräuel, wie die Komödie. Der Gespiele sah den Freund über die geglättete Diele schweben und sich anmuthig im Kreise drehen. Sein Auge füllte sich darüber oft mit Thränen. Wie gewandt entschlüpfte dem Freunde die französische Phrase: A vot’ santé, chère tante! Er sollte sie nachsprechen, sollte auch die Reihe herum gehen beim Dessert und jedem Erwachsenen die 291 Hand küssen, wie es Herrn Cleanths Erziehungsmethode verlangte. Er versuchte es. Eine alte Tante schalt, eine andre lachte, der Knabe wurde eines Mittags verwirrt, erzürnte sich, trotzte, brüskirte die Gesellschaft, stürzte in ein Nebenzimmer und schlug unter Thränen die Thür zu, um sich zu entfernen. Es war Gelegenheit wieder zu einer Ohrfeige, wie sie Herr Cleanth dem Knaben schon einmal gegeben. Herr Cleanth verlegte sich aber diesmal auf ein vernünftiges Zureden. Er schien etwas von der wahren Ursache der Verzweiflung des rebellischen Jungen zu ahnen. Es war nicht allein das aristokratische Lachen über sein Mißgeschick, das den Knaben reizte, es war dessen angeborne plebejische, schon deutschthümelnde Abneigung gegen das damals sogenannte „Franzenthum“. Die beiden Tanten waren vornehme Polinnen, die sich in der ganzen bekannten Förmlichkeit russisch-polnischer Etikette gaben.

An der zunehmenden Blickschärfung für menschliches Thun und Treiben konnte es nicht fehlen. Die Charaktere wurden durch die Contraste erkannt und manche belauschte Kritik der Einen erleichterte die Auffassung der Andern. Das sah der Knabe wohl schon früh, wie sich alles dem Mächtigen zudrängte, dem Glänzenden unterordnete, die tiefste Ergebenheit nach der Sonne der Gunst sich neigte. Der Vortheil stand da als Reg-292ler aller Lebensverhältnisse. Mancher Stachel der Zurücksetzung oder des erlittenen Unrechtes blieb lange in der verwundeten Kindesseele haften. Beklemmend war das Durcheinander der Interessen, das Laufen und Rennen der Menschen scheinbar um Nichts und dabei eine Geschwätzigkeit, die für jene Kreise durch etwas speziell Lokales noch eine besondere Färbung erhielt. Die Berliner hofräthliche Emsigkeit, die innere Leere des windigsten charakterisirten Nichts, die Abhängigkeit von einigen aufgerafften und auch gar zu sicher vorgetragenen Phrasen, eine blindlings angenommene Tradition, eine süße Unterwürfigkeit gegen Obere, ein ekelhaftes Zum-Mund-Reden von einer Gesellschaftsstufe zur andern, Sucht nach Auszeichnungen und leeren Titeln, jene Ordensverleihungen, die im Januar wie Schulprüfungen und Zeugnißertheilungen erwartet wurden … alles das gestaltete sich schon früh dem Knaben wie das Wüsteste und Leerste und erfüllte ihn mit einer um so größeren Angst vor der Welt, als seine ursprüngliche Lebensheimath zwar die Armuth, aber eine frische, gesinnungsvolle, lebendige Ehrlichkeit gewesen war. Der biblische Vetter Wilhelm schwebte so hoch über dieser Lüge und Narrheit, er wußte so treffend die Endlichkeit dieses glänzenden Jammers zu belächeln, er wußte so die wahre Wahrheit und das wahre Leben nur an die ewige Quelle des Lichtes und der Erlösung zurückzulei-293ten, daß der Knabe in die vornehme Welt zwar mit mächtigstem Reiz, aber doch wie gegen Lug und Trug von unsichtbaren Händen gefeit eintrat und bei allem Durcheinander der glatten Schmeichelei und leeren Vergnügungslust sein Inneres wie in einer harten Schaale gegen den gewaltigen Druck der Außenwelt barg. Eine Abenderzählung des Vaters vom Wintersturm auf der pommerschen Heide, von dem Prallschuß bei Leipzig, von einem Bivouac im Ardennerwalde erkräftigte den Knaben, daß er nicht zagte und bangte in dem Getändel von Formen, die ihm ungeschickt gelangen oder die man ihm als Fallen legte, um sich über seinen Sturz zu belustigen. Ja auch der mit Liebe und kindlicher Inbrunst erfaßte Gottesgedanke half ihm oft hinweg über solche Unbill und gab ihm beim einsamen stillen Nachhausegehen von so vielen nur halbverstandenen rauschenden Gesellschaftsleerheiten einen Trost und eine innere Erhebung, so voll, so mächtig, daß nach dem betrübtesten Weinen immer wieder die Kraft zurückkam und der Muth des frohen Selbstvertrauens sich stählte.

Und lag auch darin nicht eine Erhebung, daß der Knabe mitten in dem prächtigen Gewebe vom Cirkel-Laufen, Blind-Rennen, devotesten Grüßen, Schmeicheln, Speichellecken so vielerlei schwarzen Schicksalseinschlag bemerkte? Es ist ein schaudervoll grausames Wort, das den über die geraubte Tochter jammernden und über 294 die von der Tochter vergeudeten Reichthümer schier verzweifelnden Shylock tröstet, wenn er zu Tubal von des Antonio untergegangenen Schiffen sagen kann: „Ha, andre Leute haben auch Unglück!“ Aber es giebt Lebenscompensationen, die man sich nicht gesteht, die aber das Schicksal spendet. Man fühlt diese Ausgleichungen der ewigen Nemesis, ohne sie herzlos anzurufen oder rachelechzend zu bejubeln, wie Shylock. Andre Leute haben auch Unglück! Andre Leute entbehren auch, auch die Reichen haben kummervolle Nächte, auch sie müssen sich wieder Größeren unterwerfen, noch Mächtigeren dienen, auch sie werden gezerrt von den zitternden Armen ärmerer Verwandtschaft, die sich an sie klettet und Hülfe für ihren Ruin verlangt. Da waren ehrenvollgenannte Namen. Jedes Geschäft wurde ihnen zugewiesen, jede Vermittelung ihnen anvertraut. Plötzlich ein Flüstern, wenn man sie nannte. Es waren Kaufleute, die eben fallirt hatten. Sie entflohen oder wanderten in Gefängnisse. Das Wort: Bankrott! weckte dem Knaben erschütternde Vorstellungen wie vom namenlosesten Menschenweh. Andre Namen wurden plötzlich ganz verschwiegen. Bald klärte sich’s auf, daß ihr Stand, ihr Ehrgefühl, ja ihre Liebenswürdigkeit sogar nicht gehindert hatte, daß sie Verbrecher wurden. Von unglücklichen Ehen wurde gesprochen, von Scheidungen, von mißrathenen Kindern. O diese Welt war immer 295 im Fluß, immer in schwatzhafter Bewegung, immer charmant und liebenswürdig, aber plötzlich stockte sie. Es war etwas geschehen, was alle erschütterte, eine That oder ein Schicksal war dazwischen gefahren und schmerzlich genug fühlt schon ein Kind, daß jener Schlag, der die Pause am längsten andauern ließ, nicht einmal der Tod war. Ach, der Tod! Man sah Thränen, hörte Klagen. Aber für die rothen Gewänder rauschten schwarze auf. Die Geschwätzigkeit des Glücks wurde abgelöst von der Geschwätzigkeit des Unglücks. Man hörte prahlende Reden wie man ertragen, wie man heilen, dulden, sich einrichten wollte. Und das Kind sah, welch’ ein Behagen aus dem neuen Zustand floß. Die Erbschaften wurden besprochen. Oft entwickelte sich aus dem Tode eine noch größere Pracht, eine noch größere Freude. „Lachende Erben“ waren dem Kinde ein Wort, so häßlich wie das Lachen der Lachtauben, das er nie hören mochte. Lachende Erben! Er hatte ein Bild an allen Buchbinderläden gesehen, wie ein berüchtigtes reiches sogenanntes „Hundefräulein“ einen geliebten verstorbenen Favorit-Mops begraben läßt und den eingeladenen, mitleidbezeugenden Pöbel mit Kuchen und Wein traktirt. So kamen ihm alle lachenden Erben vor. Ein Hund auf einem Katafalk mit Lichtern und ringsum lachende Heuchler, die zu weinen vorgaben und Kuchen aßen und Wein tranken. Ein Todter war in der vornehmen Welt oft längst vergessen und nur das 296 Kind, das ihm völlig fern stand, trauerte noch um den alten Herrn, der immer dort am Fenster bei den Hyazinthen gesessen, so luftig den Hut gehalten, so lächelnd gescherzt, so präcis nach der Uhr gesehen hatte, an deren Kette man spielen durfte, dann so gegangen war und einst ging, um nicht wiederzukommen.

Je stärker die Angriffe werden, die das Leben auf die Kinderseele richtet, desto besorgter wird sie um sich blicken nach Schutz und Beistand. Das Gefühl, daß diese Welt von Haß und Feindschaft wimmelt, weckt das Bedürfniß der Liebe. Die noch schwache Haltlosigkeit des ersten bewußt- und klarwerdenden Gemüthslebens sieht sich überall um nach treuen Armen, an die es sich lehnen, sich schmiegen, mit denen es sich verschlingen möchte. Wer gedächte nicht dieses sehnsüchtigen ersten Liebegefühls! Der Jüngling stößt das Nächste zurück und will die Welt umfassen, das Kind umfäßt das Nächste wie die Welt. Sein erstes Spielzeug ist sein Freund und Gefährte. Der todte hölzerne Hund, das bärtige Kätzchen von papier maché gewinnen des kaum lallenden Kindes erste Zärtlichkeit. Bald zertrümmert die wilde Menschennatur, wie auch in spätern Jahren oft grausam genug, ihr erstes Spiel der Liebe. Die süßen Himmel werden gestürzt, die stumme Gegenliebe wird zerrissen, immer Neues will sich der flatternde Sinn gewinnen, um es, ausgekostet und genossen, 297 für wieder Neues auszutauschen. So wird der Arm um einen Gespielen, so um eine Nachbarin geschlungen und wie bald sind sie vergessen … Der Knabe empfand sogar zwei Neigungen zu gleicher Zeit; ein Fall, der seinem Doppelleben entsprach. Die Liebe in der Armuth galt einer Tochter Dorichs, des Selbstmörders in der Sattelkammer; die Liebe im Reichthum war ein lebhaftes, witziges, ausgelassenes Mädchen, eines Rathes Tochter. Beide Phantasieen ähnelten sich zum Verwechseln. Sie wurden mit demselben Herzen, mit demselben Munde verehrt, die Eine auf den dunklen Schleichwegen des akademischen Thurmes und im Wiesengras der Alltagswelt, die Andre sonntäglich auf dem Teppich ihres väterlichen Salons. Beide hatten dasselbe krause, schwarze, weiche Haar, beide kurz geschnittene Schwedenköpfe, beide hatten feurige braune Augen, beide dieselben weißen Zähne, dieselben kleinen Stumpfnäschen, beide waren behend wie Gazellen, älter als der Knabe, der in beiden Körpern auch nur die eine Seele liebte. Oder er liebte in ihnen nur sich selbst, wie ja jede Liebe damit beginnt, daß man ein Wesen findet, in dem wir die Hoffnung haben, mit unserm Ich unterzugehen, aber auch mit dem ganzen Ich, gestiefelt und gespornt! Liebe ist der verklärte Egoismus. Wenigstens ließ sich jene Doppelliebe kaum anders deuten. Von beiden Wesen fand sich der Knabe bevorzugt … 298 zum Necken, zum Gehänseltwerden; denn was ist wiederum Liebe anders, als das treuste Dienen und Apportiren? Diese beiden Mädchen, reifer, älter, als ihr Freund, schenkten im Spiele nur diesem ihre Gunst oder wußten, wenn sie grausam genug Andre wählten, vollkommen, wie sie ihn verletzten. Und auch der Haß, wenigstens Zorn und Schmollen, ist eine liebende Form bei so junger Neigung. Wenn Eines auf den Andern in wilde Wuth geräth, wird man seine Püffe da, wo man liebt, viel kräftiger einsetzen, als sie zwischen Wesen fallen, die sich gleichgültig sind. Mit der Tochter des Erhenkten schwärmte der Knabe unter den Sternen und mit der Tochter des Rathes unter duftenden Blumen. Beiden Freundinnen gehörte ein Herz mit demselben Pulsschlag und, wenn auch fast unmöglich, doch mit derselben Treue.

Wo Liebe ist, ist Leid. Und das Leid der Liebe kommt nicht allein. Wo die einen Blüthen welken, sinken ungeahnt ihnen die andern nach. Das erste große schmerzliche Weh sollte jetzt den Knaben treffen, der Verlust seines Paradieses. Nicht durch eigne Schuld traf ihn dieser Schicksalsschlag. Das Wetter fuhr aus den Wolken nieder, nachdem schon lange selbst im lichten Sonnenschein ferne Donner das Nahen eines Sturmes verkündet hatten. Ach diese Zeichen kamen weither, vom fernen Lande des Ostens. Im Reich des Czaaren lebte Herrn Cleanth ein Bruder, ein Kriegsoberster des Kai-299sers Alexander. Schon lange hatte es geheißen, der spekulative Maler sollte ganz mit der deutschen Romantik brechen, sollte die Freimaurerei, die reine Humanität, Alles aufgeben und nach Rußland ziehen, dort das neue Wunder der Zeit, die Lithographie, lehren, Karten des Czaaren-Reiches zeichnen, der Regierung in ihren militärisch organisirten Culturspekulationen zur Hand sein. Noch sträubte sich das deutsche Gemüth gegen die polnischen Wälder, auf die es zunächst abgesehen war. Aber der Kriegsoberste des Czaaren schickte seine Gattin, seine Schwägerin; es kamen Neffen der Brüder, die schon in Warschau erzogen waren und polnische Sitte, polnischen Ehrgeiz mitbrachten.… Cleanths Hausstand erweiterte und vergrößerte sich durch diesen Zuwachs wunderbar. Polinnen, adlige, stolze, anspruchsvolle Wesen brachten Wägen, Rosse, Bediente und jene den Sarmaten eigne luxuriöse Umständlichkeit mit, die daheim alles das, was man nicht gerade in der Fremde kauft, viel besser hat. Das bauschte sich, das rauschte, das mäkelte, das flanirte durch die „Boutiken“, die Gold- und Silberläden, die Modemagazine. O, hieß es, in Deutschland kann man nicht heizen, in Deutschland kann man nicht kochen, in Deutschland kann man nicht waschen, ja auch nicht singen, nicht tanzen, nicht gehen und stehen. In Warschau und Petersburg war allein nur noch die Cultur zu finden. Wer hätte nicht 300 von den vielen beurlaubt reisenden Titular- und Collegienräthen auch noch jetzt selbst in Italien die Ueberzeugung gewonnen, daß nur in Petersburg die Goldorangen glühen! … Man hatte dies russische Selbstgefühl in den Damen, das polnische in den Kindern und Bedienten. Bei beiden Partheien gab es sich in solcher Lebendigkeit, daß das ohnehin damals zurückgehende Deutschland wie in Nichts verschwand. Willusch, ein Spielgenosse, Neffe Cleanths, ergriff einst bei Tische eine Gabel und rief, als von den Polen und ihrem „verschuldeten“ Geschick die Rede war, mit Verzweiflung: „O ich mir möchte stechen diese Gabel in die Brust, wenn Ihr beschimpft mein Vaterland!“ Die Andern lachten und wehrten dem Knaben, der später bei Ostrolenka kämpfte. Herr Cleanth bestrafte sogar den jungen Polen. Dem deutschen Gespielen aber blieb Willuschs Drohung unvergeßlich. Sich erstechen um sein Vaterland! Untergehen um eine Idee! Heilighalten etwas Verspottetes!.. Dies Wort eröffnete ihm einen Blick auf Gebiete, die von Herrn Cleanths Hause so entfernt lagen, wie die Turnerei der Haasenheide von dem Salon eines Ministers. Schauer der glühendsten Ideen-Ahnungen überrieselten das Herz. Diese heroische Hingebung eines Kindes an das Schicksal Polens schloß einen geheimen Bund mit der wachsenden eignen Erregung für öffentliche Dinge.

301 Herr Cleanth widerstand den Reizungen des Czaaren nicht. Der Czaar übertrug ihm vorläufig die Direction einer neuzustechenden Karte Polens und gab ihm außerdem die bestimmte Zusicherung weiterer Unterstützung, wenn er im Fache der praktischen Kunstanwendungen in Warschau Etablissements errichten wollte. Der Drang nach Bewährung seiner Umsicht und Regsamkeit lebte zu mächtig in dem seltnen Manne. Berlin bot, seine Kenntnisse geltend zu machen, keine Gelegenheit ohne das Risiko, das er fürchtete. So siegte denn der Entschluß, den verwandten russischen Damen und dem kleinen polnischen Willusch zu folgen. Das schöne große Palais am Leipziger Achteck wurde der Regierung verkauft, noch ein märchenhaft schöner Winter wurde genossen mit seinen Zeichnenstunden, seinen geselligen Spielen, seinen Weihnachtsfreuden, seinen strengen, aber unverstandenen Anleitungen zu einer „immer nur praktischen“ Lebensphilosophie, seinen Mißverständnissen zwischen strengem mathematischen Conservatismus und sich schon meldender ungebundener Romantik, seinen Neckereien durch die ausgelassensten Mädchen und der geduldig hingegebenen Schwärmerei für seine Doppelliebe … dann nahte der Frühling, im nahen Thiergarten sproßte und keimte es über dem vermoderten Laub, auf der Louisen-Insel lagen Schneeglöckchen und Krokus wie von Künstlerhand unter düstere Blut-Tannen und 302 Trauerweiden ausgestreut … die Stunde des Abschieds rückte heran.

Der furchtbarste Schmerz zerriß des Knaben Brust. Er sah nicht etwa nur die Herbigkeit des Verlustes allein, wenn sich ihm die Thür seines Paradieses plötzlich zuschlug und die Wonnen dieses Umgangs nicht mehr waren, er sah weit mehr nur die Trennung von seinem geliebtesten Freunde und Gespielen selbst. Von diesem zu lassen, von seinem halben Bruder, von diesem fröhlichen Gesellen, der nie den Kopf hängen ließ, immer lachte, immer strebte, immer mit blitzendem Auge ins Leben sah, von diesem Namensbruder mit den frischen Wangen, dem braunen Auge, dem dunklen Haar, seinem eignen Widerspiel in allen Dingen … scheiden.… Der Verlust war herzzerreißend. Noch hielt die Kraft an, als Briefe versprochen wurden, baldige Rückkehr, Besuch; als aber der Reisewagen wirklich hochbepackt vor der Thür stand, als das Horn des Postillons aus der Leipziger Straße sich meldete, die Rosse einlenkten zum frühlingsgrünen Achteck und nun vom gemüthlich pfeifenden Postillon sie eingespannt wurden, als es dann zum Abschied ging, zur letzten Umarmung … da brachen alle Schleusen der zurückgedämmten Wehmuth und so unaufhaltsam flossen die Thränen der innigsten Liebe, daß Herr Cleanth über die Heftigkeit dieses Schmerzes selbst erschüttert wurde und seine üblichen Seneca-303Regeln vom Beherrschen der Leidenschaften und alle stoischen Phrasen aus der Loge Royal-York diesmal voll Güte unterließ und in wirklicher Bewegung von seinem Halbsohne Abschied nahm.… Der Wagen rollte von dannen, der Postillon blies, Tücher wehten.… Der Knabe sah um sich … er war allein mit seiner weinenden Schwester.… Da lagen wohl Geschenke genug von Dingen, die man nicht hatte mitnehmen können, Spiegel, sogar Bilder, goldne Rahmen für die Eltern, auch Bücher, sogar die prächtige Beckersche Weltgeschichte, die der loyale, auf die russischen Voraussetzungen schnell eingehende Herr Cleanth als ein vom Czaaren verbotenes Buch zurückgelassen hatte … Konnte ihn davon etwas trösten? Er hatte, zehn Jahre alt, den ersten wahren Schmerz empfunden.

Daheim erwartete ihn sein altes, angebornes Loos. Die Eltern führten keine Scene auf, aber sie fühlten das, was die Bildung durch eine Scene ausdrückt. Die Bildung würde die trauernden Kinder an ihr Herz gezogen und geliebkost haben. Diese Eltern aus dem Volke zogen ihre Kinder nicht an ihr Herz, liebkosten sie auch nicht mit Worten; aber das Weh fühlten sie doch und ihr Mitleiden sprach sich in Thaten ohne Worte aus. Sie wagten den Umzug aus einer engen unerträglich gewordenen Wohnung in eine neue und größere, die sie 304 bezahlen mußten. Sie wagten das Unglaubliche, sie gaben den Knaben sogar in eine lateinische Schule.

Eine neue Welt öffnete sich. Ein neues Leben begann.

In der Osterwoche wurde der düstre Thurm in der Akademie verlassen und dicht an den alten Schadow’schen Ziethen gezogen. Nach Ostern führte der Vater seinen Sohn zu jenem Zimmermann, dem mit dem Wurzelzeichen. Er war Rector eines blühenden Gymnasiums am Friedrichs-Werder. Nach dem Abschied von seinem geliebten Freunde war der Knabe noch in allen Nerven so erschüttert, so im Innersten wie erweicht, daß er die Ermahnungen des kleinen, runden, wohlgenährten, seltsamen, komischberufenen, aber warm empfindenden Mannes, des eigenthümlichsten Pedanten mit der großen Nase und dem verwickelten Periodenbau gleich beim ersten seiner sanften Worte mit ausbrechendem Weinen aufnahm. Die gute Sitte, die ihm die polnisch-russische Salonherrschaft zwangsweise beigebracht hatte, wirkte noch so in ihm nach, daß er auf Zimmermanns Wort: „Und nun, mein Sohn, gieb mir auf dies Versprechen hiermit feierlichst deine Hand!“ nicht die Hand bot, sondern die zarte, weiche, wohlgepflegte des liebevollen Schulmonarchen ergriff und sie voll Inbrunst an seine Lippen drückte. Zimmermann lächelte 305 über diese seltsame Ausnahme von der Regel. Aber der bald genug wieder verwildernde und in neuen Eindrücken sich zu besserer geistiger Gesundheit sammelnde Knabe hatte sich für immer seine Liebe gewonnen. Er konnte einen zweiten Abschnitt seines Lebens voll labyrinthischer Irrgänge auf jenen Handkuß hin getrost beginnen.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung #

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Gutzkows Werk Aus der Knabenzeit liegt in zwei Fassungen vor, die im Abstand von zwanzig Jahren entstanden sind: Die Erstausgabe 1852 und eine Ausgabe letzter Hand 1873.

Es gibt keine Vorabdrucke zur Erstausgabe. Allerdings gibt es eine Reihe von Nachdrucken in Tageszeitungen und Zeitschriften, die unmittelbar nach Erscheinen des Werkes herauskamen. Die Vorlage für diese Nachdrucke einzelner Episoden oder Binnenerzählungen ist ausnahmslos die Buchausgabe. Von Gutzkow wurden diese Publikationen im einzelnen nicht autorisiert. Für die Druckgeschichte spielen sie keine Rolle.

Nach der ersten Ausgabe wurde das Buch zu Lebzeiten Gutzkows nicht mehr als eigenständiges Werk herausgebracht. Es erschien 1873 im Rahmen der zweiten größeren Werkausgabe bei Hermann Costenoble in Jena. Die Kindheitserinnerungen leiten den ersten Band der Gesammelten Werke ein und werden hier um einen Abschnitt mit vier Unterkapiteln erweitert, der zeitlich unmittelbar an das ursprüngliche Werk anschließt und die Jahre von 1821 bis 1829, Gutzkows Gymnasialzeit, schildert. Der übrige Teil des ersten Bandes der Werke enthält keine weiteren autobiographischen Arbeiten, sondern eine Sammlung von Gutzkows Lyrik, Versdichtung und Epigrammen, gefolgt von seinem frühen Lesedrama Hamlet in Wittenberg sowie zwei Prosaarbeiten, den nachdenklichen Winterphantasien und dem satirischen Märchen Was sich der Buchladen erzählt.

Gutzkow selbst hat 1873 von einer gänzlich umgearbeiteten neuen Auflage des Buches gesprochen (A2, S. 10) und dem Text ein Vorwort Zur zweiten Auflage beigegeben. Der Terminus Auflage ist jedoch irreführend. Wir haben es nicht nur mit einem kompletten Neusatz in einer anderen Offizin zu tun (Buchdruckerei von Gottfried Pätz in Naumburg). Die Textabweichungen, die sich zur ersten Ausgabe ergeben, sind so gravierend, dass man von einer neuen Ausgabe bzw. von einer neuen Fassung des Werkes sprechen muss.

Der ursprüngliche Wortlaut wurde von Gutzkow einer intensiven stilistischen und sprachlichen Überarbeitung unterzogen, bei der – um es salopp auszudrücken – über weite Strecken kein Stein auf dem andern blieb. Er hat nicht nur zahlreiche Wortstreichungen oder -zusätze, Wortumstellungen oder -ersetzungen vorgenommen, Satzkonstruktionen modifiziert, Sätze oder Satzteile umgestellt. Er hat vor allem in erheblichem Umfang Streichungen und Neuformulierungen durchgeführt, zahlreiche alte Textpassagen durch neue ersetzt. Davon sind in einer Reihe von Fällen auch inhaltliche Aussagen betroffen, die entweder wegfallen, verkürzt dargestellt oder breiter ausgearbeitet werden. So sind beispielsweise die historisch-genealogischen Voraussetzungen der Familie seines Vaters, die sich mit einem Grafengeschlecht der Gutzkows in graue Vorzeit verlieren, 1873 viel eingehender und ausführlicher dargelegt worden als 1852. Die zehn Zeilen der Erstausgabe (33,11-33,21) werden 1873 auf 43 Zeilen (A2, S. 35, 6. Z. v. o. bis S. 36, 11. Z. v. o.) ausgedehnt.

Textstreichungen und neu hinzugefügte Passagen halten sich 1873 quantitativ in etwa die Waage. Das Textvolumen der Ausgabe letzter Hand hat sich im Vergleich zur Erstausgabe nicht wesentlich verändert. Nur durch den Fortsetzungsteil 1821-1829 hat der Umfang der Neuedition von 1873 um etwa 20 Prozent zugenommen.

Auch in die Werkstruktur hat der Autor 1873 eingegriffen. Die ursprüngliche Ausgabe zählt acht, die Neuedition neun Kapitel. Gutzkow hat 1873 jedoch kein neues Kapitel geschrieben, sondern den Stoff an einer Stelle anders verteilt: Aus den Schlussepisoden des dritten Kapitels (73,23 bis 81,8), den etwas unheimlich anmutenden Abenteuern am Koppeschen Armenhaus mit seinen Mumien, die Erkundung der nördlichen Vorstadt, des Weddings mit der Berliner Hinrichtungsstätte, hat er 1873 ein eigenes, viertes Kapitel geschaffen. Auf diese Weise verschieben sich alle folgenden Kapitel um eine Ziffer, so dass die Ausgabe von 1873 auf insgesamt neun kommt.

Gutzkow hat 1873 vereinzelt die Namengebung modifiziert. Der Freund, Kriegskamerad, Arbeitskollege und Nachbar seines Vaters Dorich (vgl. 24,13-31,34) bekommt 1873 den Namen Lorenz (vgl. A2, S. 26-33). Dass es sich dabei nicht um einen Vor- sondern um einen Nachnamen handelt, wird aus einer Stelle deutlich, wo von Frau Lorenz die Rede ist (A2, S. 27, 6. Zeile v. u.). Hatte sich Gutzkow 1852 mit Rücksicht auf vielleicht noch lebende Bekannte, Verwandte, Freunde der Familie eines falschen Namens bedient? War Lorenz der wirkliche Name? Den Berliner Adressbüchern zufolge ist der Name Lorenz (auch Lorentz) in Berlin zwischen 1819 und den ersten 1820er Jahren verbreitet gewesen, während der Name Dorich nicht nachzuweisen ist. Gutzkow ließ dagegen auch in der zweiten Ausgabe seines Werkes die Namensmystifikation Cleanth für Karl Friedrich Minter und dessen Familie stehen, da ja dessen Sohn Karl Julius Minter, Gutzkows Jugendfreund, noch lebte. In einem Fall hat Gutzkow 1873 ein in der Erstausgabe verwendetes Namenskürzel aufgelöst und Hofrath K. (96,25) mit Hofrath Kunzmann (A2, S. 98) ausgeschrieben. An einigen anderen Stellen wurden von ihm 1873 aus Verständnisgründen Namen hinzugefügt. So wird etwa bürgerlicher Gutsbesitzer (89,17) mit dem Zusatz der vielberufene Grützmacher (A2, S. 91) versehen und den beiden weltberühmten Schustern von Nürnberg und Görlitz (48,32) fügt er 1873 ihre Namen Hans Sachs und Jakob Böhme (A2, S. 52) hinzu.

Komplett weggelassen wurde 1873 das detaillierte Inhaltsverzeichniß der ersten Ausgabe. Dagegen kommt ein kurzes Vorwort Zur zweiten Auflage hinzu, in dem sich Gutzkow vornehmlich mit den Reaktionen auf seine Fortsetzung der Jugenderinnerungen befasst, die zuerst in der Berliner „National-Zeitung“ vorabgedruckt wurde.

Während die Absatzgestaltung beider Ausgaben nur geringfügig modifiziert wurde, weisen Orthographie und Interpunktion Differenzen auf. Diese Abweichungen (einschließlich jeweiliger Inkonsequenzen der Rechtschreibung) sind jedoch irrelevant, da man zu diesem Zeitpunkt von einer verbindlichen Einheitsorthographie im deutschsprachigen Raum noch weit entfernt war und der Autor sich mit orthographischen Eigenheiten einer Offizin gewöhnlich abfand. Auf den Autor geht jedoch eine Modifikation der Zeichensetzung zurück: 1873 verschwinden weitestgehend die drei oder mehr Auslassungspünktchen und weichen in der Regel einem Gedankenstrich. Die Erstausgabe hatte an 118 Stellen Auslassungspunkte, in der Ausgabe letzter Hand sind es nur noch neun. Der Gedankenstrich wird bei Gutzkow dann gerne auch mit einem weiteren Satzzeichen kombiniert, so dass aus ich will dich führen!… Wohin?… (13,3) in der Ausgabe von 1873 eine optisch eher starr wirkende Zeichenfolge Ich will dich führen –! Wohin –? wird (A2, S. 15).

So liegt alles in allem im Jahr 1873 eine von der Erstausgabe gründlich abweichende zweite Fassung des Werkes vor. Die Unterschiede sind im Detail so verwirrend komplex, umfassend und zahlreich, dass ein vollständiger Variantenapparat am Ende für die Forschung kaum hilfreich wäre. Unseren Editionsrichtlinien gemäß soll daher neben der Erstausgabe auch die vollständige Fassung letzter Hand separat im Internetteil der Ausgabe von „Gutzkows Werken und Briefen“ veröffentlicht werden.

Die Sigle ›Rasch‹ verweist auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow. (1829-1880.) Bd. 1: Primärliteratur. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1998. Eine bibliographische Kennziffer mit dem Zusatz N bezieht sich auf die „Nachträge zur Bibliographie“.

E Aus der Knabenzeit. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1852. (Rasch 2.30)
A2 Aus der Knabenzeit. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 1. Jena: Costenoble, [1873]. S. 5-248. (Rasch 1.5.1.1)

Nachdrucke aus E:

J1 Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Constitutionelle Zeitung. Berlin. Nr. 180, 2. Mai 1852, S. 2. (Rasch 3.52.05.02)
J2 Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Dresdner Journal. Dresden. Nr. 106, 5. Mai 1852, S. 453-454; Nr. 107, 6. Mai 1852, S. 457-459. (Rasch 3.52.05.05N)
J3 K[arl] Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 129, 8. Mai 1852, S. 2057-2059; Nr. 130, 9. Mai 1852, S. 2073-2075. (Rasch 3.52.05.08)
J4 Karl Gutzkow: Die Geschichte vom schönen Dorich und der kleinen Marianne. In: Sächsische Constitutionelle Zeitung. Dresden. Nr. 112, 16. Mai 1852, S. 445-447. (Rasch 3.52.05.16N)
J5 Carl Gutzkow: Die Geschichte vom schönen Dorich und der kleinen Marianne. In: Frauen-Zeitung. Ein Organ für die höheren weiblichen Interessen. Gera. Nr. 20, 23. Mai 1852, S. 158-160; Nr. 21, 30. Mai 1852, S. 166-167. (Rasch 3.52.05.23N)
J6 Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Dresdner Journal. Dresden. Nr. 126, 28. Mai 1852, S. 543-544; Nr. 127, 29. Mai 1852, S. 547-548. (Rasch 3.52.05.28N)
J7 Bilder aus der neuen Literatur. Die Geschichte von den Frauen der zwei Freunde. In: Novellen-Zeitung. Leipzig. Nr. 30, 23. Juli 1852, S. 55-58. (Rasch 3.52.07.23)
J8 Gutzkows Knabenzeit. Die Geschichte vom Ring. In: Novellen-Zeitung. Leipzig. Nr. 32, 6. August 1852, S. 85-86. (Rasch 3.52.08.06)
J9 Die Geschichte von den Frauen der zwei Freunde. In: Carinthia. Klagenfurt. Nr. 8, 25. Januar 1853, S. 29-30. (Rasch 3.53.01.25N)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit eckigen Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Inkonsequenzen der Orthographie werden beibehalten, wenn die Varianz historisch belegt ist; das betrifft etwa unterschiedliche Schreibungen für Act / Akt, Draht / Drath, ergibt / ergiebt, Frankoni / Franconi, Haasenheide / Hasenheide, Heide / Haide, Probst / Propst, Respect / Respekt, Schafgraben / Schaafgraben, selbständig / selbstständig.

Drei Punkte als verbindliches Auslassungszeichen sind bei dem hier vorliegenden historischen Druck noch nicht gängig. Mehrfach finden sich vier Punkte, die mitunter direkt an das Satzende anschließen, ein Schlusspunkt, dem getrennt durch ein Spatium drei Punkte folgen, oder Auslassungspunkte kombiniert mit Ausrufe- oder Fragezeichen. In allen Fällen folgen wir der Druckvorlage.

Die Seiten- und Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Bandes: Aus der Knabenzeit. Mit der Fortsetzung zur zweiten Ausgabe von 1873 hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2023. (Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 1.)

2.1.1. Texteingriffe#

19,3 drüben das drübendas

39,23 dankten danktem

43,20 Menschenentwürdigung Menschenentwürdignng

46,30 Lebensverhältnisse Lebens verhältnisse

46,32 Wohnung Wohnuug

48,18 gegen den gegenden

80,13 Louisenkirche Jakobikirche korrigiert nach den Berichtigungen in E

96,5 wiederholte widerholte

109,17 Louisenkirche Jacobikirche korrigiert nach den Berichtigungen in E

112,2 volle vollen korrigiert nach den Berichtigungen in E

113,30 Gädicke Jädicke

117,20 Abracadabra Abacadabra korrigiert nach den Berichtigungen in E

118,22 wunderbaren wahren sonderbaren korrigiert nach den Berichtigungen in E

135,20 unbedingt unbediegt

156,21 das daß

162,4 erschlossenen erschlossene

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#

Bei den maschinenschriftlichen Abschriften (maschA) Heinrich Hubert Houbens ist zu berücksichtigen, dass Houben zeitweise mit einer Schreibmaschine arbeitete, die keine „ß“-Type hatte. Houben gab das „ß“ der Handschrift in diesem Fall mit „ss“ wieder. Vermutlich verfügte dieses Schreibmaschinenmodell auch nicht über Großbuchstaben für Umlaute.

1. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, 2. Januar 1852#

4.1.1. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, Frankfurt/M., 2. Januar 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 1791 (H).

Ich bin im Ganzen mit Deinem Vorschlage wegen des Honorars einverstanden, da ich Dir von Herzen gern einen größern Genuß der Früchte Deines Schaffens gönne. Nur hat Dein Vorschlag einen großen Nachtheil u. zwar für Dich selbst nicht weniger als für mich. Denn

1) wirst Du selbst schon erfahren haben, wie schwer sich ein Verleger entschließt, von einem Buche eine neue Auflage zu machen, wenn die Nothwendigkeit dazu nicht auf flacher Hand liegt; indem solche neue Auflage in den meisten Fällen den ganzen Gewinn früherer Auflage u. oft noch mehr vernichten. Du bist also, um von dem vorliegenden Falle zu sprechen, in dem Nachtheile, für die weiteren 100 Thlr. so lange warten zu müssen, bis ich eine neue Auflage für unbedingt nothwendig u. unriskirt halten würde. Sodann

2) Hat Dein Vorschlag auch für mich das Mißliche, bei einem solchen weiteren Abdruck von 1000 Ex. die ziemlich hohen Druckkosten für nichts u. wieder nichts auf[wenden(?) Verb nicht ganz lesbar] zu müssen, indem ich, wenn ich gleich Anfangs 3000 Ex. drucke, bei dem 3ten Tausend natürlich die Satzkosten sparen würde.

Ich modificire daher Deinen Vorschlag in Deinem u. meinem Interesse zugleich auf folgende Fassung:

Ich drucke gleich Anfangs 3000 Ex. – dafür erhältst Du bei Ablieferung des Manuscripts (im Januar d. J.) 400 Thlr. Sobald der Absatz von 2000 Ex. gesichert erscheint, erhälst Du weitere 100 Thlr. Hier hast Du Deine verlangten 500 Thlr. bei 3000 Ex., ohne daß wir erst ängstlich die unbedingte Nothwendigkeit einer neuen Auflage (das 3te Tausend) abzuwarten hätten! Da Du also, nach Deinem Vorschlage, vielleicht ein ganzes Jahr warten müßtest, ist durch meinen Vorschlag die Möglichkeit gegeben, Dir die 100 Thlr. vielleicht schon nach 2–3 Monaten zu verschaffen. Von dem Gange des Absatzes würden wir Dich monatlich benachrichtigen, u. Dir die Möglichkeit geben, den Absatz selbst zu kontrolliren – wenn Du uns gegenüber es für nöthig halten solltest – (woran ich jedoch weit entfernt bin zu denken!) –

[…]

Im Übrigen bin ich mit Dir einverstanden, daß die ersten 3000 Ex. als ein besonderes, für sich bestehendes, hübsch ausgestattetes Büchlein erscheinen, u. daß erst die folgenden Auflagen als 14ter Band der Gesam. Werke gedruckt werden.

Ebenso bleibt das Honorar für jedes nach den ersten 3000 Exemplaren zu druckende weitere 1000 Exemplare 250. –

[…]

Ich sehe nun Deiner definitiven Zusage entgegen u. werde Dir alsdann die Verträge zusenden.

2. Gutzkow an Zacharias Löwenthal, 5. Januar 1852#

4.1.2. Gutzkow an Zacharias Löwenthal, Dresden, 5. Januar 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,5 (maschA).

Es ist nun wirklich die höchste Zeit, lieber Löwenthal, dss wir ins Reine kommen. Mein Buch wird täglich druckfertig, es muss im Februar heraus, ich muss die günstigen persönlichen Chancen u die Windstille u neuerwachende literarische Empfänglichkeit benutzen.

Deine Vorschläge kommen dem Definitivum entgegen. Du gewöhnst Dich an den Gedanken 500 Thaler an mein Buch zuwagen. Auf das „Wenn“, das Du vorschlägst, kann ich nicht eingehen. Ein in 2000 Exemplaren versandtes Werk bietet so schnell noch keine Resultate für den Rest von 1000. Wie eigenthümlich ist das Schicksal der Bücher! Wie lange währte es, bis meine Ritter einschlugen! Nun ist zwar jetzt die Erwartung u Empfänglichkeit für etwas Neues da, aber jene Nachzahlung von einem Möglich, Hoffentlich, Ganz gewiss abhängen zu lassen, das setzt Missverständnisse, Unbehaglichkeiten.

Willst Du 3000 drucken, willst Du sogar einen illimitirten Preis bedingen, so zahlst Du mir 500 Thaler. Dann magst Du Dir meinetwegen einen Kronenthaler für das Buch zahlen lassen, obgleich ich fürchte, dss Du dann dem Absatz schadest.

Lass uns nun zu Ende kommen! Es drängt mich die äusseren Bedingungen dieser mir sehr am Herzen liegenden Publikation abgemacht zu haben. Ich bin, wenn Du mir umgehend einen Contrakt wie ich ihn in den Hauptpunkten andeutete schickst, im Stande, Dir sogleich Manuskpt zu geben, damit wir über Druck u Format uns verständigen. Beiläufig: für dies Buch widerrathe ich das starke Papier wie Bd. 13.

Meine Bedingungen sind ausser jener Honorarsumme für 3000 Exemplare 12 Freiex. (die ich für Recensionen anwende) 150 Thaler pro Mille der neuen Ausgabe, Eigenthumsrecht für Dich nach Analogie unter andern Bestimmungen (ich bitte dabei um die geringsten u billigsten Ansätze, um keinen neuen Aufschub zu machen), eine schöne Ausstattung in handlicher, gefälliger Form und die Uebersendung der letzten Correkturen von Inhalt und Umschlag.

Auf dem Gebiete der Lektüre ist so wenig da. Ich bin mir bewusst, ein wie ein Roman so amüsantes Buch zu geben; stell’ alles in Bereitschaft, dss täglich vom 15 ten d.M. an ein Bogen gesetzt u gedruckt werden kann.

[…]

Mit bestem Gruss an Rütten, in Hoffnung, dss Ihr nun die Contrakte schickt und weiteres Verhandeln nicht stattfindet.

3. Gutzkow an Feodor Wehl, 19. Januar 1852#
4.1.3. Gutzkow an Feodor Wehl, Dresden, 19. Januar 1852. In: Feodor Wehl: Das Junge Deutschland. Ein kleiner Beitrag zur Literaturgeschichte unserer Zeit. Hamburg: J. F. Richter, 1886, S. 228-229.

Theurer Freund, ich komme wieder recht in meine alte Briefsaumseligkeit. Ich bin oft unpäßlich; auch beschäftigt mich die Ausarbeitung eines Buches, das schon im Februar erscheinen soll. Unter dem Titel: Aus der Knabenzeit geb’ ich meine ersten Lebenseindrücke aus den Jahren 1811–1821, gleichsam den ersten Band meiner Memoiren. Ich sah nicht ein, warum ich etwas, was Andersen that, nicht auch thun konnte. Ein Beitrag zu der von Ihnen so freundlich adoptirten Lovely-Literatur soll das Buch nicht werden, noch weniger à la Dichtung und Wahrheit emphatisch von meinem Ich sprechen; ich wollte nur beweisen, daß Berlin nicht so unpoetisch ist, als man es darstellt. Für den Erzieher, den Psychologen, für das Studium der Gesellschaftswissenschaft werd’ ich manches brauchbare bringen, und am Rand muß sich verstehen, daß die Darstellung eines von Preußischen Lebensbedingungen allmälig freiwerdenden Bewußtseins der Kern dieses Buches ist, das gewissermaßen als ein Farben-Palettenrest meines Romans angesehen werden kann.

4. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, um den 30. Januar 1852 #

4.1.4. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, Frankfurt/M., um den 30. Januar 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,30a (maschA).

Lieber Gutzkow, ich beeile mich Dir zu sagen, dass ich gestern von der hiesigen Polizei die Weisung bekam, Frft binnen 14 Tagen zu verlassen. Es ist dies eine pure politische Massregel […]. [...] Mein Geschäft leidet nicht die mindeste Unterbrechung, denn abgesehen davon, dass ich hoffe noch den ganzen Winter hier bleiben zu können, werde ich auch stets in der Lage sein, an dem Geschäfte handelnd u. überwachend thätig sein zu können. Du kannst also ausser aller Sorge für Dein Interesse sein; in jedem Falle werde ich den Druck Deines neuen Werkes selbst leiten, sodass dies neue Unternehmen in keinerlei Weise durch meine Ausweisung vernachlässigt werden wird. –

[…]

Dein gestern erhaltenes Manuscript ist bereits in der Druckerei. Der Druck wird nicht so weitläufig wie gewöhnlicher Romandruck u. auch nicht so eng wie Band 13. Das neue Buch wird sich sicher gut ausnehmen. Ich ersuche Dich übrigens, dein Manuscript nicht in kleinen Parthien, sondern wo möglich das Ganze auf einmal zu senden, da es nicht so dringend damit pressirt, indem das Papier erst in 14 Tagen hier anlangen kann.

Eine Vignette von so grossen Kosten, wie Du sie in Aussicht stellst, würde wohl nicht nöthig sein; ich dachte mehr an eine kleine Verzierung des Titelblattes, als an eine umfangreiche u. bedeutende Zeichnung. Da bei solchen Büchern der Art Sachen überhaupt ungewöhnlich sind, so, denke ich, lassen wir die Idee wieder fallen u. sparen unser Geld – denn unter 3 – 4 Louisd’ors wäre nichts zu Stande zu bringen u. bei den sonst schon so bedeutenden Verlagskosten würde eine solche neue Ausgabe nur die Nothwendigkeit einer Preiserhöhung herbeiführen, ohne dem Buche selbst eine praktisch grössere Anziehungskraft zu verleihen. Wir wollen also lieber die Sache fallen lassen.

Der Titel: „Aus der Knabenzeit“ gefällt mir vorderhand am besten; „Berliner Knabenzeit“ scheint mir sowohl dem Ohre als der Sprachrichtigkeit nicht recht zu entsprechen.

Dein Honorar wirst Du in Empfang nehmen können, sobald Du es wünschest; wir werden Dir wieder einen Wechsel auf Leipzig senden. Wenn es Dir jedoch nicht pressirt, so würden wir vorziehen, Dir das Geld etwas später zu zahlen, da wir gegen Frühjahr hin grössere Summen in Leipzig disponibel haben. Doch kommt es dabei ganz allein nur auf Deinen Willen an. –

5. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, 6. März 1852 #

4.1.5. Zacharias Löwenthal an Gutzkow, [Ort unbekannt], 6. März 1852 (Poststempel Frankfurt/M., 8. März 1852). Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 II, Nr. 1792 (H).

Lieber Gutzkow, der Druck Deines Buches wird nun in raschester Weise vorangehen, nachdem das Papier endlich vor 3 Tagen angekommen ist. Die Verzögerung war freilich nicht ganz die Schuld des Fabrikanten, wir haben letzterem jedoch die Kundschaft darauf hin gekündigt. Der 6te Bogen wird wohl schon übermorgen (den 8tn März) von hier an Dich abgehen können, da an den 5 bereits gesetzten Bogen seit gestern morgen unaufhörlich gedruckt wird. In einigen (2–3) Wochen wird das Buch versendet sein. -

6. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 11. März 1852#

4.1.6. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 11. März 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,71 (maschA).

Einer verehrlichen

Literarischen Anstalt übersend’ ich in der Anlage noch ein Supplement, das ich an der mit Rothstift bezeichneten Stelle eingeschaltet wünsche.

Ueber das gänzliche Scheitern der zwischen uns bestandenen Verabredung u Ihrer eignen Zusicherungen will ich schweigen. Seit dem Tage, wo ich die letzte Correktur in Hoffnung einer Unterbrechung von höchstens 8-12 Tagen las, verflossen sechs Wochen, die ich in der unglücklichsten Stimmung und mit Verlust einer heitern Arbeitsmusse, die ich verlornen 500 Thalern – in dieser Jahreszeit! – gleichschätzen kann, hinbrachte. Ein Buch, das mir so Gemüthsfrage ist, wie dieses, konnte ich nicht mit kaltem Gleichmuth in seinem allmäligen Entstehen betrachten. An diesem Missgeschick hab’ ich wahrhaft gelitten und sprech’ ich in der obigen Taxation meines Verlustes an heitrer, concentrirter Arbeitsstimmung keine Uebertreibung aus.

Jeden im Druck fertigen Bogen ersuch’ ich Sie, wenn er die Glättpresse verlassen hat, sous bande, wie dies in Leipzig üblich ist, sofort an mich abgehen zu lassen.

7. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 11. März 1852#

4.1.7. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 11. März 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,71 I (maschA).

Von einer verehrlichen

Literarischen Anstalt erhalte soeben Bogen 6. bedaure aber sehr, auf ihm die Stelle zu finden, wo S. 91 die heute früh abgesandte Ergänzung eintreten soll. Leider wird diese Aenderung Umstand u Aufenthalt machen. Dennoch bin ich nicht im Stande davon abzugehen. Die übersandte Ergänzung ist so ursprünglich und spezifisch Preussisch, dss ich sie nicht missen kann u eine andre Stelle, sie unterzubringen, find’ ich nicht.

Ich will die Correktur von Bogen 6. lesen u überlasse Ihnen die Beaufsichtigung der genausten Einfügung des Supplementes, das ich sogleich abzusetzen bitte, damit ich davon Revision lese.

8. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 16. März 1852#

4.1.8. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 16. März 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,76 (maschA).

Einer verehrlichen Literarischen Anstalt

zeig’ ich den Empfang von 5 Aushängebogen an […]. […]

Während einer ganzen Woche empfing ich 3 Bogen. Darin liegt keine Beschleunigung.

Die Correktur meines leider nothwendig gewordenen Supplementes kommt wohl morgen an.

9. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 28. März 1852#

4.1.9. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 28. März 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,88 I (maschA).

Eine verehrliche Literarische Anstalt

wolle meinem Antheil an dem endlichen Hervortreten dieses Buches zu Gute halten, wenn ich an das Versprechen erinnere, dss ich mit Eintreffen des Papiers

täglich 1 – 2 Bogen

erhalten sollte. Hiemit erfolgt Bog. 12. zurück. In drei Wochen wurden also 7 Bogen gesetzt. Nur mit Mühe unterdrück’ ich die Empfindungen, die ich über diesen Widerspruch haben muss.

Ferner bitt’ ich um Aushängebogen!

Endlich wünscht’ ich, dss die Vorrede früher abgesetzt würde; da sie aus einer andern Schriftgattung gesetzt werden muss, kann im Fall Setzer vorhanden sind, darin keine Schwierigkeit liegen.

Binnen acht Tagen war es meine Absicht zu verreisen u Deutschland auf einige Monate zu verlassen. Wenn ich auch in Geduld bis zur letzten Correktur aushalten will, so thut es mir doch weh, dss ich für ein Buch, dessen Erscheinen ich am 15 ten Februar erbeten u fast bedungen hatte, in seiner Förderung nun nichts mehr thun kann.

10. Gutzkow an Levin Schücking, 31. März 1852#

4.1.10. Gutzkow an Levin Schücking, Dresden, 31. März 1852. In: Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Levin Schücking. Hg., eingeleitet u. kommentiert von Wolfgang Rasch. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1998, S. 103.

Ich werde in 14 Tagen mich auf Reisen begeben und wahrscheinlich irgendwo am Genfersee still für mich arbeiten. Vorher schick’ ich Ihnen noch mein „Aus der Knabenzeit“, ein Buch, worin ich versucht habe, über meine mich in jeder Art verfolgende Vaterstadt einen Duft reinerer Volksthümlichkeit zu verbreiten, als man sie bisher aus der Berliner Jargonliteratur gekannt hat.

11. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 7. April 1852#

4.1.11. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 7. April 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,97 (maschA).

Eine verehrliche Lit. Anstalt

erhält in der Anlage die Vorrede zurück mit einigen Auslassungen und Zusätzen, die mir die delikate Aufgabe des Buches leider zur Nothwendigkeit macht.

Da mir dabei an der korrektesten Wiedergabe jedes Commas, jeder Sylbe liegen muss, so bitt’ ich um vorherige nochmalige Zusendung der Revision.

Die Entfernung bedenklicher Censurstellen S. IV u V. wird Ihnen selbst lieb sein.

12. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 13. April 1852#

4.1.12. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 13. April 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,102 I (maschA).

Eine verehrl Lit. Anstalt

wird die Rücksendung der letzten Revision des Vorworts erhalten haben.

Ich möchte Sie nun, nach Beendigung des Drucks, um Folgendes bitten:

Schicken Sie mir gef. einen Separatabdruck des Vorworts und des Inhaltsverzeichnisses, aber umgehend, damit ich solches an Springer in Berlin schicke u ihn bitte, daraufhin eine ordentliche Anzahl an Exemplaren zu übernehmen u stark zu verbreiten.

[…]

Springer wird erwiedern, dss er ohne einen gewöhnlichen Mittelpreis nicht viel wird machen können. 1 Thaler das Exemplar, höchstens 1 rx 10 Slgr. Kostet das Buch 1 rx 15 Slgr. so entzieht es sich schon der Kauflust des Privatmannes und geht in die Leihbibliotheken. Ich glaube mich verlassen zu können, dass die Brochur fest und haltbar ist?

Die 15 Exemplare, um die ich Sie bat, denk’ ich sofort an folgende Adressen zu versenden:

1) Kolb 2) Riehl 3) Schücking. 4) Wehl. 5) R. Heller. 6) E. Kossak, 7) Zabel 8) C. A. Schlönbach (Nürnberg. Corresp.) 9) Kurnik (Schlesische Zeitg. 10) Kühne (Europa) 11) Wiener Wanderer 12) hier Hammer Sachs. Const. Ztg. 13) Banck (Dresdener Journal) 14) Brockhaus für die D.A.Z.

Sie sehen ich behalte dann 1 Exemplar für mich übrig!

Stellen Sie mir noch einige Exemplare zu Gebote, so würd’ ich noch einige zweckmässige Adressen besorgen können z. B. Vossische Zeitg., Berliner Correspondenzbureau, Hamburger Corr. Weserzeitg. (Bodenstedt).

Jedenfalls bitt’ ich um die ersten fertigen Exemplare, die Sie mir noch vor der Versendung direkt durch die Post hieher zusenden wollen, damit ich unter Andern auch dem bösen Willen der gegen mich in Leipzig erstandenen Grenzbotenclique zuvorkommen und durch Alleinbesitz des Buches andern Berichterstattern das Mittel an die Hand gebe, ihre eigne Meinung rasch zu sagen.

Nach dieser meiner Versendung reis’ ich dann nach der Schweiz und will hoffen, dss sich das Buch seinen Weg von selbst mache. Wohlwollendes Entgegenkommen gehört dazu. Unfreundliche Aufnahme würde mich hier doppelt betrüben und desshalb zieh’ ich vor, mich lieber auf ein paar Monate den Erörterungen ganz zu entziehen.

13. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 17. April 1852#

4.1.13. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 17. April 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,107 (maschA).

Eine verehrliche Lit. Anstalt

übersendet mir den gewünschten Bogen; doch find’ ich S. XII meine am Montag dringend bezeichneten Druckfehler nicht. Ich setze voraus, dss sie im Druck angegeben sind, vorzugsweise der eine ganze Stimmung in der Lektüre störende u mir unerklärliche S. 171. Z. 8. v. u. lies wunderbaren statt: wahren sonderbaren.

[…]

Das Buch hat doch einen Schmutztitel?

14. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), 20. April 1852#

4.1.14. Gutzkow an die Literarische Anstalt (J. Rütten), Dresden, 20. April 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,110 (maschA).

Eine geehrte Literarische Anstalt

lässt mich hoffentlich in diesen Tagen zu den Exemplaren kommen, die ich versenden will. Meine auf morgen angesetzt gewesene Reise will ich um einige Tage verschieben, in der Hoffnung, dss spätenstens Sonnabend die Ex. eintreffen.

[…]

An H. Springer schrieb ich, glaube jedoch nicht, dss er mit einem belletristischen Buche, das 1 rx 20 Sgr. kostet, Geschäfte machen kann. Durch diesen Preis haben Sie das Buch für die Leihbibliotheken allein herausgegeben. Sie berufen sich auf das Honorar als Ursache, beachten aber meiner Meinung dann die Auflage nicht. Ein Buch, das man in 3000 Auflage druckt, muss einen Absatz von mindestens 1000 Ex. zur Deckung der Kosten als eine sich von selbst verstehende Annahme voraussetzen. Sie behandeln das Geschäft wie an einer Auflage von 1500 Ex gemacht und reserviren die in der Signatur bekreuzten oder punktirten Exemplare für einen zu 1 fl. 30 xr später vielleicht zugebenden 14 ten Band. Ich wiederhole, was ich schon früher aussprach, nämlich meinen entschiedensten Protest gegen diesen Plan.

Find’ ich leider den Preis und die Zeit des Erscheinens verfehlt, so bin ich bei der Voraussetzung einer Gehässigkeit des Hn von Hinckeldey nur von einer durch nichts, als allgemeine und auf Vermuthungen beruhende Besorgniss ausgegangen. Hoffentlich sieht er das Buch so harmlos an, als es ist.

Schicken Sie aber in der That dem Hn. Alex. Duncker seine Exemplare erst um einen Posttag später. Um die öffentl. Meinung zu gewinnen ist es diesmal nicht zu umgehen, dss man getrost ein paar Berichterstattern in Berlin (ohnehin Tropfen im Meere) 3-4 Exemplare vorausgiebt, ehe sie im Publikum zu haben sind.

15. Gutzkow an Willibald Alexis, 21. April 1852#

4.1.15. Gutzkow an Willibald Alexis, Dresden, 21. April 1852. In: Heinrich Hubert Houben: Gutzkow-Funde. Beiträge zur Litteratur- und Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin: Wolff, 1901. S. 505-506.

Die Anlage bitt’ ich von demselben Gesichtspunkte zu betrachten, wie meine Ritter. Sie ist auf Berlin gerichtet und kann Ihnen nicht unverständlich sein. Sie haben Ihr ganzes Dichten der Erweckung eines kräftigen Bewußtseins im Märker und Berliner gewidmet. Auch diese Jugenderinnerungen werden dem Verfasser des Cabanis als eine Appellation an ein poetisches Gefühl im Berliner erscheinen, als in dem Kladderadatsch-Wesen und dergleichen ausgedrückt ist. Könnten Sie vielleicht mit ein paar Worten in der „Vossischen Zeitung“ diesen Gesichtspunkt meiner Knaben-Erinnerungen vor dem Berlinertume feststellen, würd’ ich Ihnen sehr dankbar sein. Im Buchhandel ist die Schrift erst in acht Tagen zu haben. Ich bitte, das Exemplar geheim zu halten.

16. Gutzkow an Heinrich Brockhaus, 22. April 1852#

4.1.16. Gutzkow an Heinrich Brockhaus, Dresden, 22. April 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,112 I (maschA).

Ich warte nur auf das endliche Eintreffen meines Buches „Aus der Knabenzeit“ um endlich abzureisen. Dies im Preis, in der Ausstattung, in der Zeit des Erscheinens ganz verfehlte Werkchen kann jeden Tag eintreffen, falls ich nicht wieder ungebührlich damit hingezogen werde.

17. Gutzkow an Friedrich Zabel, 25. April 1852#

4.1.17. Gutzkow an Friedrich Zabel, Dresden, 25. April 1852. In: Heinr[ich] Hub[ert] Houben: Aus Karl Gutzkows Briefwechsel. In: Deutschland. Berlin. Nr. 15, Heft 3, Dezember 1903, S. 358.

Vielleicht finden Sie Zeit, das anliegende Buch zu lesen. Es ist geschrieben, um dem Berliner Lokalgeiste und spezifischen Spreetum mehr Glauben an sich selbst, weniger Zweifel, Selbstironie zu geben. Zwischen den Zeilen wird ein Wohlwollender finden, was ich eigentlich bezweckte. An Anfeindung wird es nicht fehlen. In der löblichen Literatenschaft wühlt und regt sich’s schon von allen Seiten wieder gegen mich. […]

[…]

Das anliegende Buch ist erst in acht Tagen in Berlin zu haben. Ich bitte, es geheim zu halten.

18. Gutzkow an Feodor Wehl, 25. April 1852#

4.1.18. Gutzkow an Feodor Wehl, Dresden, 25. April 1852. In: Feodor Wehl: Das Junge Deutschland. Ein kleiner Beitrag zur Literaturgeschichte unserer Zeit. Hamburg: J. F. Richter, 1886, S. 232.

Ihr Urtheil über das anliegende Buch hört’ ich gerne. Es wird einen schweren Stand haben, da soviel des alten Neides und der alten Bosheit wieder gegen mich aus allen möglichen Löchern kriecht.

4.3. Entstehungsgeschichte#

[In Arbeit]

5. Rezeption#

Die (zum Teil auszugsweise) Textwiedergabe der Rezeptionsdokumente folgt zeichen- und buchstabengetreu der Vorlage; anders als in den edierten Texten Gutzkow werden eindeutige Druckfehler hier stillschweigend berichtigt (kein Nachweis von Texteingriffen).

5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.1.1. Ankündigungen des Buches#
1. Deutsche Allgemeine Zeitung, 26. Januar 1852#

5.1.1.1. [Anon.:] Feuilleton. [Darin:] * Von Gutzkow erscheint dieser Tage […]. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 42, 2. Ausgabe, 26. Januar 1852, S. 174.

Unter der Feder hat der Verfasser gegenwärtig ein eigenthümliches, neues Werk, das den Titel: „Aus der Knabenzeit“ führen soll.

2. [Feodor Wehl], Neue Publikationen von Karl Gutzkow, 29. Januar 1852#

5.1.1.2. [Feodor Wehl:] Neue Publikationen von Karl Gutzkow. In: Jahreszeiten. Hamburg. Nr. 5, 29. Januar 1852, Sp. 146-147. (Rasch 14/30.52.01.29)

Von diesem geistreichen, interessanten und rastlos thätigen Autor wird im Februar ein Buch erscheinen, das den Titel führt: „Aus der Knabenzeit“ und die ersten Lebenseindrücke des Verfassers, aus den Jahren achtzehnhundert und elf bis achtzehnhundert und einundzwanzig, also gleichsam den ersten Band seiner Memoiren liefern soll. „Gutzkow“, schreibt man uns von einsichtiger Seite darüber, „Gutzkow sah nicht ein, warum er etwas, was Andersen that, nicht auch thun sollte. Gedenkt er dadurch doch keineswegs einen Beitrag zu der Lovely-Literatur zu geben, noch weniger à la Dichtung und Wahrheit emphatisch von seinem eigenen Ich zu sprechen. Was er zunächst in diesem Werke beabsichtigte, war der Beweis: daß Berlin nicht so unpoetisch sei, als man es gewöhnlich darstelle.“ Für den Erzieher, den Psychologen, für das Studium der Lebenswissenschaften soll manches sehr Brauchbare darin gegeben und als selbstverstanden anzunehmen sein, daß die Darstellung eines von Preußischen Lebensbedingungen allmälig freiwerdenden Bewußtseins den Kern dieses Buches bildet, das gewissermaßen als ein Farben-Palettenrest des so eben vollendeten Romanes Die Ritter vom Geiste anzusehen sein dürfte.
3. [Hermann Hettner], Deutsche Allgemeine Zeitung, 28. Februar 1852#

5.1.1.3. [Hermann Hettner:] Feuilleton. Es erweckt seltsame Gedanken […]. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 99, 2. Ausgabe, 28. Februar 1852, S. 416. (Rasch 14/30.52.02.28N)

Von demselben Dichter [Gottfried Keller] liegt uns auch seit einiger Zeit der erste Band eines dreibändigen Romans vor: „Der grüne Heinrich.“ Soweit sich aus diesem ersten Bande schließen läßt, so wird auch dieses Dichterwerk besonders wieder anziehend durch diese tiefe Innerlichkeit und Lebenswahrheit. Es ist eine Bildungsgeschichte, und offenbar hat der Dichter das Innerste seines eigenen Jugendlebens hineingearbeitet. Es wird von großem Interesse sein, die hier vorliegende Jugendgeschichte mit dem zu erwartenden neuen Buche von Gutzkow: „Aus der Knabenzeit“, vergleichen zu können. Hier das stille idyllische Thal des Zürichersees, dort das geräuschvolle Leben einer allgemein als prosaisch verschrieenen Residenzstadt. Diese biographischen Mittheilungen Gutzkow’s, wenn sie in ihrer Fortsetzung über die Knabenzeit hinausgehen, werden in Wahrheit von höchster Wichtigkeit werden. Kein Anderer hat so wie Gutzkow alle Strömungen, d. h. alle guten und schlechten Tendenzen des Zeitgeistes in sich durchgelebt; eine wirkliche Biographie Gutzkow’s ist in der That eine Zeitgeschichte in der vollsten Bedeutung des Worts. Deshalb konnte auch gar kein Anderer ein solches Zeitgemälde entwerfen wie Gutzkow in den „Rittern vom Geiste“. Hrn. Freytag und Consorten kann man daher nur die Worte des Perikles im Thucydides zurufen: „Wer um das Höchste sich dem Neide aussetzt, der hat das Rechte gewählt.“

5.1.2. Rezensionen#
1. Hamburger Nachrichten, 30. April 1852#

5.1.2.1. [Anon.:] Kleine Mittheilungen. [Darin:] „Aus der Knabenzeit“ heißt das neueste … In: Hamburger Nachrichten. Hamburg. Nr. 103, 30. April 1852, [S. 1]. (Rasch 14/30.52.04.30N)

„Aus der Knabenzeit“ heißt das neueste so eben […] erschienene Werk Karl Gutzkow’s, welches die Lebensgeschichte des 1811 im März zu Berlin geborenen Verfassers bis zu dessen Eintritt in das Friedrich-Werdersche Gymnasium schildert. […] Gutzkow’s Mittheilung von all den großen und kleinen Dingen, die in seine Kindheit hineinspielten, namentlich aber seine Schilderung der unmittelbaren Umgebung, der Persönlichkeiten, Verhältnisse, Begegnungen ist von der unumwundensten Aufrichtigkeit und im liebenswürdigsten Tone gehalten. Das Buch enthüllt eine neue Seite seines vielbeweglichen literarischen Charakters, es zeigt, daß ihm auch die gemüthlich scherzende Laune, der harmlos sich ausplaudernde Humor des Lebens zu Gebote stehen. Das freundlichste Behagen ist’s, in das uns die Lectüre des „Aus der Knabenzeit“ versetzt und der Verfasser hat ganz Recht, wenn er hofft mit dem Buche einem allgemein in Deutschland gültigen Vorurtheile entgegen zu arbeiten, welches Berlin als jedes Gemüthslebens baar als den ausschließlichen Sitz des gesuchten Witzes, der nackten Gefühllosigkeit, des kalten Verstandes darstellt.

2. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, 9. Mai 1852#

5.1.2.2. [Zahlenchiffre] 29.: Berlin. So eben ist … In: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. [Spenersche Zeitung.] Berlin. Nr. 108, 9. Mai 1852, [S. 9]. (Rasch 14/30.52.05.09) - Nachgedruckt in: Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten. Hamburg. Nr. 114, 13. Mai 1852, [S. 3] (Sparte: Literarische Notizen, mit dem Quellennachweis B. N. = Berlinische Nachrichten.)

So eben ist in Frankfurt a. M. eine neue Schrift von Karl Gutzkow erschienen. Sie heißt: „Aus der Knabenzeit.“ […] Wir können derselben besonders hier an Ort und Stelle viele Leser versprechen, da Gutzkow Berlin in den Jahren 1811 bis 1821 darin schildert, und viele Personen und Anekdoten darzustellen und zu erzählen versteht. Er selbst ist am 17. März 1811 im großen Akademie-Gebäude als Sohn eines Bereiters in der Dienerschaft des verstorbenen Prinzen Wilhelm geboren, und knüpft nun an seine Knabenzeit neben manchen Redseligkeiten, die nicht überall interessiren und zu Zeiten mit demokratischen und freigemeindlichen Tendenzen coquettiren, eine Schilderung jener Zeit. Wer Berlin und dessen innere wie äußere Entwickelung kennen lernen mag, kann die Schrift nicht ungelesen lassen: es zeigt sich übrigens in ihr, wie überhaupt in des Verfassers Werken, deutlich genug der geborne Berliner, den abzulegen er trotz aller anderslautenden Aeußerungen nicht vermocht hat. Eine Portion Phrasen weniger hätte dem Buche schon deshalb genutzt, weil es sich dadurch noch mehr Leser gewonnen hätte: je breiter man wird, desto mehr Bogen füllt man, ohne den inneren Werth zu heben. So ist z. B. Alles, was S. 118-120 steht, ohne Kenntniß der Dinge niedergeschrieben, namentlich ist Paul Gerhard von dem, welcher so schreiben kann, offenbar nicht gelesen worden, und Zustände, denen man fern steht, zu kritisiren, führt oft zur Oberflächlichkeit.

3. [Ferdinand Gustav Kühne], Karl Gutzkow und seine Berliner Knabenzeit, 13. Mai 1852#

5.1.2.3. [Ferdinand Gustav Kühne:] Karl Gutzkow und seine Berliner Knabenzeit. In: Europa. Leipzig. Nr. 40, 13. Mai 1852, S. 316-319. (Rasch 14/30.52.05.13.1)

– Gutzkow’s Memoiren aus den Jahren seiner Kindheit tragen an ihrer Stirn einen Spruch von Bogumil Goltz: „Wer die Menschheit nicht in ihren niedrigen Sphären erkannt hat, der begreift sie nimmer in ihren Höhen.“ Bogumil Goltz, der Mann von der preußischen Ostseeküste, der in der Sahara und an der Wiege der Menschheit den Ursprung des Lebens erforschte, hat „Bücher der Kindheit“ geschrieben, die jäh und gewaltsam, aber imposant und voll geheimer Urkraft wie Kaktuspflanzen aus sandigem Boden schießen. Was Bogumil Goltz vorherrschend an Phantastik hat, besitzt Karl Gutzkow an kühner, oft verwegener Combination des Geistes. – Gutzkow will uns eine Idylle schildern, die Idylle seiner Berliner Kindheit, und er macht auf das was Idylle ist leidenschaftlich Jagd. Die kritischen Vorbereitungen stören, wo wir poetische Eindrücke gewinnen könnten, wenn der Darsteller lediglich die Sache selbst walten und wirken ließe. Die Apparate zum Thema sind freilich bei Gutzkow schon so geistvoll wie bei vielen Andern kaum die Arbeit selber. Aber zwischen dem speculativen Scharfsinn seiner Auffassungen und der jähen Hast seiner Darstellungen liegt nicht selten ein Widerstreit, den ein reiferes Ausgleichen der in ihm wogenden Kräfte noch immer nicht schlichten zu wollen scheint. Es ist etwas Gezwungenes im Ton der Erzählung, die uns hier eine Idylle der Kindheit vorführt; gesuchte Bezüge, auserlesen neue, wählerische Wendungen und Wörter, selbst die gehäuften Superlative die der Autor hier liebt, all das spannt und steigert die Stimmung in jene kritische Höhe, wo man gereizt, allerwärts wachsam, aber nicht mehr harmlos ist. Wo dem Darsteller das Herz exotisch zum Durchbruch kommt, da haben wir nicht jenes Behagen das wohlthuend wirkt; Gutzkow ist gleich feurig wo er warm wird; mit Einem: er besitzt weniger die Farben zur Idylle als vielmehr eine heiße Sehnsucht zum Idyllischen. So wundersam und gegen Erwartung geartet ist dieser Autor, daß während wir ihm bei dem scharfen Glanz seiner Darstellung die Beleuchtung öffentlicher Charaktere unbedingt zutrauen möchten, er sich abseits in stille Heimlichkeiten des kleinen Gemüthslebens verliert, sich gleichsam hinter den Coulissen gefällt und in die lauschigen Winkel hinter der Scene verliebt ist.

Hinter den Coulissen steckt vom öffentlich gewordenen Charakter der Familienmensch, das Ei aus dem das Küchlein kriecht. Sobald dem Küchlein der Schnabel hinreichend gewachsen ist, zerstößt es seine Schaale und entwindet sich mit diesem ersten Zerstörungs- und Befreiungsact dem blos vegetativen Dasein. Dieser Entpuppungsproceß hat etwas Traumhaftes, wie aller [347] Übergang aus der Dämmerung zum Bewußtsein. Nun gibt es aber Küchlein mit so scharfem Schnabel daß sie, bereits ausgekrochen, auch nachträglich noch der Eierschaale ganz den Rest geben möchten. Es sind das die metaphysischen Küchlein, die hyperkritischen vom Mutterleibe an. Man zählte Gutzkow bisher gern zu solchen, und nun ergibt sich daß er am Traumleben erster Kindheit mit mehr Liebhaberei sich weidet als sich erwarten ließ. Die Sehnsucht zur Poesie ist noch stärker in ihm als das Instrument der denkenden Kraft des Geistes. Das metaphysische Küchlein in ihm räsonnirt mit der halben Eierschaale auf dem Kopfe, aber es fühlt sich doch wohl unter der ersten kargen Hülle die es barg.

Traumleben harmloser Kindernatur auf Berliner Grund und Boden! Mit diesem Widerstreit der Empfindung nimmt mancher das Buch zur Hand; und dieser Widerspruch den wir uns so fest eingebildet, ist doch nur Vorurtheil. Man bestreitet dem Berliner selbst die Möglichkeit eines gemüthlichen Familienlebens; – mit schreiendem Unrecht. Weil der Verstand dort allezeit gerüstet und oft genug, vor der Zeit flügge, auf den Straßen des Lebens so leicht und keck flaniren geht, in der Moquerie des nüchternen Übermuthes sich über alles herwirft, alle Tiefen, alle Höhen planirend, sich mundrecht machend, so lebt man in Deutschland der Ansicht, dahinter stecke eine Öde der Gemüthswelt, jener Sandfläche der Physis dort entsprechend. Nirgends aber sitzt das Familienleben mit allen seinen Idiosynkrasien so fest als in Berlin. Nirgends wie dort findet man Häuser, ganz äußerlich betrachtet, die mit geschlossenen Jalousien eifersüchtig ihr eigentliches Leben aller Welt entziehen, stumme Zeugen des im Innern waltenden, aber streng abgeschlossenen Geistes sind. Ganze Familiengruppen leben dort so in sich verwachsen auf Geschlecht zu Geschlecht, daß uns nur aus diesem Zustande der eigenthümlich und zäh festgehaltene Typus des Berlinerthums erklärlich wird. Dieser unverwüstlich schlagfertige Verstand, davon abgesehen daß er in seiner naiven Frische, in seiner freien, allezeit wachsam kecken Kraft auch äußerst liebenswürdig sein kann, ist oft genug nur eine Waffe gegen außen; nach Aufopferung und Preisgebung vieler Dinge sucht dieser Hang zur Abwehr ein Letztes und Liebstes, das geheim geblieben, zu vertheidigen. Dieser Witz der so vieles benagt, unterwühlt, verhöhnt, ist doch ein kostbarer Mutterpfennig der sich nicht veräußert, ein Kleinod das in schlechten Zeiten wunderbar vorhält, jedenfalls ein Zeugniß von der unverwüstlichen Naturkraft des Geistes, der tausendfach bankerott, als ,,Männecken Stehauf“ doch immer wieder auf dem Platze sein kann. Wo das süddeutsche Gemüth tief und auf lange Zeit im Schlamme steckt, regungslos, taub und todt darniederliegt, da hält den norddeutschen Verstand eine frische Zugluft noch immer, wenn auch oft nothdürftig, munter.

Gutzkow ist im Buche seiner Berliner Kindheit nicht witzig, wenigstens nicht vorherrschend, er ist eher sentimental und nachdenklich, wo nicht melancholisch; er grübelt über das Proletariat seiner Herkunft nach. Trotzdem gibt er Figuren und Scenen ächter niederländischer Komik, die ihm Zeit und Welt dort fast wider Willen aufnöthigen, und für die er, wie er sattsam auch in den Rittern vom Geiste bewies, Pinsel und Farben reichlich zur Hand hat. Das alte Vorurtheil gegen die Stadt seiner Heimath macht ihn beklommen. Er möchte sich gern säubern gegen die banalen Vorwürfe die Berlin treffen, sich gern sicherstellen gegen die Voreingenommenheit der deutschen Lesewelt, wenn er uns jetzt einen specifischen Berliner Jungen vorführt. Ich meine, Gutzkow hätte diesem Leumund entschieden trotzen sollen, und er würde mehr triumphirt, den Begriff des Berlinerthums sichrer gerettet haben. Aber er ist weich, als trüge er schwer an der Eierschaale auf dem Kopfe, die er mit seinem scharfen Schnabel leicht zerstoßen könnte, und doch nicht möchte. Ein Zug wehmüthiger Wahrheitsliebe geht fast rührend durch all die Schilderungen seiner Familienmitmenschen aus dem Bereich eines eigenthümlichen Proletariats, welches hohen Herrschaften und höchsten Sphären so nah ist, daß es Gefahr läuft von ihnen auf die Füße getreten zu werden. Gutzkow spricht im Vorwort von dem „übeln Windel- und Wiegenruf“ Berlins. Er sagt schmerzlich: „Die Stadt gilt dafür […] Bedingungen der Mark glauben sollte.“ [Zitat Seite 3,14-4,17 dieser Ausgabe.]

[318] Diese Vertheidigung im Supplicantenton ist fast eines wahren Berliner cockney würdig. Der Berliner, vielfordernd gegen Andere, ist nämlich bescheiden wo er sich vertheidigen soll; er schont sich nicht daheim, während er draußen alle Welt geringschätzt. Eine Vertheidigung anderer Art wäre es, soviel Schlagkraft des Witzes unaufhörlich sprudelnd zu häufen, daß vor dieser überwältigenden scharfen Kraft des Geistes kein Mensch mit seiner Forderung von Landschaftnatur und Gemüthseligkeit auftauchen könnte. Aber Gutzkow hat Recht; Berlin kann sich mit Maria Stuart trösten, es ist viel besser als sein Ruf, auch nach der Seite der Natur und der Gemüthseligkeit. Strömt doch, was Gefühl und Gemüth angeht, die beste Kraft der Provinzen in jenem allerdings vielverbrauchenden Centrum unaufhörlich zusammen, die sanguinische, aber derbe und offene Grazie des Rheinlandes, die gemüthliche Redseligkeit Schlesiens, die ehrsam biderbe Kraft Westfalens, die zähe Halsstarrigkeit der königischen Haltefeste aus Pommern. Hier sind wir angelangt, wo auch Gutzkow’s Berlinerthum von der Natur einer Provinz durchwachsen ist; Gutzkow stammt nach Vaterfamilie aus dem Pommerlande. Ein interessanter Zug an ihm. Man wird nun, was er im langen öffentlichen Leben vielfach hin und wider gesündigt, nicht immer dem Berliner Pflaster aufhalsen; man wird hinfort auch sagen können: Da steckt der Pommer in ihm! Zu dieser täppigen, hartnäckigen Kraft die hinterrücks so unerschöpflich, so unüberwindlich ist wie die Vendée in Frankreich, gesellt sich aber bei Gutzkow eine fast sanguinische Reizbarkeit, die sich bald als eroberungssüchtiger hochfliegender Ehrgeiz, bald als höchst nervenzarte Empfindlichkeit äußert. Solch Verein von nachhaltiger Kraft und reizbarer Hitze ist psychologisch interessant. Der Knabe Karl offenbart beides früh, und wie weiland Goethe – um an Kleines Großes zu reihen – von sich sagte, er habe vom Vater „die Statur“, vom Mütterchen „die Frohnatur“ gehabt, so vertheilt sich auch auf diesen Epigonen eine Doppelerbschaft von zwei Seiten her. Gutzkow schildert Vater und Mutter, den Pommer und die Berlinerin sehr ansprechend. Nur will er in jenem fast mehr die Beweglichkeit, in dieser die Stabilität sehen. „Dem sanguinischen, leidenschaftlichen, abenteuerlich bewegten […] achtzehn Kinder“ [Zitat Seite 46,16-46,26 dieser Ausgabe] etc. Zuckersieden und achtzehn Kinder haben macht nun freilich nicht absolut stabil. Der Knabe wächst in einem bewegten Gewühl von Onkeln, Vettern und Basen auf; fast Alle sind Handwerker die weit ’rumkamen, sich durchschlugen und dem harten Leben in Schweiß und Mühe Tribut abrangen. Zugleich aber läßt der Dienst des Vaters in der traulichen Nähe zum Bedürfniß eines Prinzen den Glanz der Welt in die halbe Hütte seines Kindheitslebens schimmern. Damit wird früh die Sehnsucht nach Pracht und Glück, aber auch der Geist des Widerspruches gegen die Bevorzugung des Zufalls im jungen Kopfe rege. Mich dünkt, man könnte des Schriftstellers Gutzkow Satyre auf die im Glück gewiegten Classen sehr wohl aus seiner ersten Lebensstellung erklärlich finden. Hochgestellte werden mit Kälte, mit Vorurtheil, mit Hang zur Parodie von ihm geschildert; ein leiser Beigeschmack von Rachgefühl stört wohl gar mitunter den behaglichen Humor der Auffassung. Die Personen aus den untern Volksschichten schildert Gutzkow mit dem entschiedenen guten Willen, ihrer Bedeutsamkeit nichts zu rauben; der Onkel aus der Walachei, der apokalyptische Vetter, die alte Cichorienlise sind ergötzliche Figuren dieser Art in seinen Kindheitsmemoiren.

Auch der Schauplatz der Gutzkow’schen Kindheit trägt diesen Typus der Contraste. Man kennt die Akademie unter den Linden; ihre hinteren Hofräume dienen zu Ställen und Stallwohnungen für königliche und prinzliche Pferde. In dieser Sphäre erblickte der Knabe Karl das Licht der Welt. Die Stallknechte fegten da den Parfüm der Rosse zusammen, die Jockei aber mit den glänzenden Jacken, Käppchen und Stiefeletten saßen gewichst und geputzt auf; und wenn linker Hand Hörsäle der Mediciner mit den Secirtischen der Anatomen sich öffneten, vorn die Säle der Kunstschule die Abgüsse der Gebilde Griechenlands durch die breiten Fensterscheiben durchblicken ließen, ragte Bode’s Sternwarte hoch hinweg über all dies Widersprechende mit ihrem Fingerzeig in die weite Luft. Mich dünkt, solche Welt voll Beziehungen entgegengesetzter Art, solch Revier voll Contraste, voll kühner Reiter und fluchender Stallbuben, voll Anatomirkünstler mit Messern für den todten Menschenleib, solche Welt voll nächster schärfster Wirklichkeit und voll landweiter und himmelhoher Sehnsucht, das sei für ein reizbares Knabengemüth ein wunderbar stachelnder Lebenskreis. Ein älterer Bruder des Knaben war Artillerist. Dies gab Veranlassung auch in das Kasernenleben der Residenz Blicke zu thun. Ein alter Feuerwerker aus Cüstrin ist hier eine besonders ergötzliche preußische Commißfigur. Der alte Trimm war das Stichblatt der jungen Leute; er strapazirte sich wahrhaft in Kraftausdrücken wie „Donner! mich crepirt im Leibe eine siebenpfündige Granate!“ Eine seiner Lieblingswendungen war der, wie Gutzkow sagt, fast Homerische Kernspruch: „Da möchte Einem ja die pure Seele vom Leibe faulen!“ Drohte Trimm mit dem Messer oder der Säbelklinge, so sagte er: „Hund, ich mach Dir Was zwischen Lunge und Leber!“ Um einen Menschen zu bezeichnen, der kaum etwas mehr als ein Kalb war, pflegte Trimm zu sagen: „Wenn ein Ochse gebären könnte, wüßt’ ich wer Dem seine Mutter wäre!“ Auf einen ausrangirten alten, ihm zu eigen gewordenen Säbel hatte Trimm sich die Worte ätzen lassen: „Recht zu thun ist Jedermanns Pflicht! Anders wenigstens will es mein König nicht!“ – Fast [319] thut sich Gutzkow in der Neigung für Gestalten aus dem Volk des Guten zu viel an. Das Volk das er schildert ist ja doch nur Proletariat auf dem Pflaster einer Residenz, und der Werth und die Eigentümlichkeit dieser Residenz besteht lediglich in der Strebsamkeit von unten nach oben. Das feinere, halb gebildete Proletariat, das die Gewerbefreiheit mit der Leichtigkeit, sich auf eigenem Fuße einzurichten, hervorruft oder unbezweckt zur Folge hat, schildert Gutzkow mit sehr wahren eindringlichen Farben. An der Moralität der Figuren aus dieser Sphäre macht er dabei gar nicht irre; im Gegentheil, es thut wohl wie seine Darstellung den ewig tüchtigen gesunden Sinn der kleinen Handwerksgenossen, die ächt lutherische Religiosität in seiner nächsten elterlichen Behausung ausmalt. Die Frömmigkeit war damals – Gutzkow’s Buch schildert Berlin von 1811 bis 1821 – noch einfach, schlicht und bürgerlich, noch nicht aristokrätelnde Mode, noch nicht Sache der vervornehmten Bildung. Pastor Jänicke, der Geistliche der mährischen Brüder in der böhmischen Kirche, war die erste einfache Schwalbe im großen Zugvögelschwarm pietistischer Kanzelredner. Jener greise Sonderling war Anfangs der einzige Pietist auf der Kanzel, und sein Publicum in jener obern Wilhelmsstraße, die wegen der Einwanderung aus Mähren spottweise die Wallachei genannt ward, bestand aus armen Webern, Raschmachern und Schustern. Es war damals noch fast die einzige öffentliche Sprache des Pietismus, wenn der alte Jänicke, der von den Weltkindern verlachte Liebling der Proletarier, in seinen Missionspredigten die Sendung des heiligen Geistes sinnlich schilderte, wie selbiger nicht „mit Bumbumbum wie ein Donnerwetter, sondern zirp-zirp-zirp als eine Taube“ auf die Jünger sich herabgesenkt. Im untern Theil der Wilhelmsstraße, im Bereiche der Paläste, tauchte die Frömmigkeit damals noch ganz schüchtern auf. Selbst die Frömmigkeit des dritten Friedrich Wilhelm hatte eine bürgerliche, phantasielose Strenge und Einfachheit. Noch gab es in der untern Wilhelmsstraße keinen Vorbeter wie Henrich Steffens; Schleiermacher beschäftigte mit seinen Problemen die denkende Bildung, der Pietismus hatte noch nicht die Intelligenz inficirt, der Staat war noch zu gleichen Theilen blos Militärstaat und Staat der schulmäßigen Intelligenz, auf den Universitäten herrschte noch die Philosophie. Doch schildert uns Gutzkow bei seinen Ausflügen auf Küchen- und Kellerwagen des prinzlichen Marstalls bereits in Schönhausen, dem angenehmen Landsitze über Pankow hinaus, die fromme, im Wohlthun sich gefallende Gestalt jener Prinzessin, welche dort die Villeggiatur mit ländlich frommen Festen sich schmückte und dann in der Wilhelmsstraße jene Conventikel zu pflegen begann, die später mit so geistreichem Luxus umsichgriffen. – Gutzkow’s Vater gab in Anregung der frommen Dame sein Geschäft als Rossebändiger auf und erhielt im Kriegsministerium einen kleinen Dienst. Damit kam der Knabe aus der Sphäre der Linden in jene Wilhelmsstraße, deren Doppelexistenz, oben die Weber, Schuster und Raschmacher, unten die Paläste mit den Equipagen und Lakaien auf den breiten Treppenrampen, einen so scharfen Contrast bietet. Wie denn Berlin damals mit seinem Glanz und seinem Proletariat, ohne gleich starke Vermittelung eines tüchtig consolidirten Bürgerthums, recht eigentlich eine Stadt der Gegensätze war. – Der „Knabe Karl“ der später in der Literatur „so fürchterlich“ zu werden anfing, ward zunächst Gymnasiast auf dem Friedrichs-Werder. Er wird uns nach Darlegung seiner Berliner Kindheit seine weitere Berliner Jugend nicht schuldig bleiben.

5.1.2.4. [Feodor Wehl:] Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Jahreszeiten. Hamburg. No. 20, 13. Mai 1852, Sp. 663-668. (Rasch 14/30.52.05.13.2)

[In Arbeit]

5. A[dolf] St[ahr], National-Zeitung, 14. Mai 1852#

5.1.2.5. A[dolf] St[ahr]: Kleine Literatur-Zeitung. [Darin:] 3. Aus der Knabenzeit von Gutzkow. In: National-Zeitung. Berlin. Nr. 224, Abend-Ausgabe, 14. Mai 1852, [S. 2]. (Rasch 14/30.52.05.14)

Was aber im Innern [Preußens] Noth thut, das hat neulich Karl Gutzkow in seinen autobiographischen Anfängen, deren Titel lautet:

3. Aus der Knabenzeit von Karl Gutzkow.

Frankfurt a. M. 1852.

sehr gut und treffend ausgesprochen. Dieser Autor, der sonst nicht immer das Gradheraus der Rede kultivirt, nimmt doch keinen Anstand, in diesem seinem neusten Buche offen zu erklären, daß nur „durch die Zurückführung des unverkümmerten allgemeinen Stimmrechts,“ nur „durch die staatsrechtlich begründete Demokratie“ Bürgertugend und Volkssittlichkeit und mit ihnen das Preußen des großen Friedrich zu retten ist. Was das erstere, das allgemeine Stimmrecht, betrifft, so läßt er sich darüber folgendermaßen vernehmen: „Das freie, unverkümmerte Stimmrecht, das Stimmrecht, das uns die Reaktion verkürzte, wird in einem wahrhaft neugebornen Staatsleben auch eine rückwirkende Kraft auf die religiöse und sittliche Weihe des Volks üben. Denn unwiderleglich ist es, daß die unverkümmerte, gesetzlich organisirte Theilnahme am Staat die untern Stände hebt, läutert, zur innern Sammlung führt, den Wetteifer zu allem Guten fördert. Die Proletarier des Handwerks, zu denen man die kleinen Meister zählen muß, hat man sich zu unversöhnlichen Feinden gemacht, als man ihnen das eine Zeit lang genossene Stimmrecht wieder nahm. Es ist nicht das beleidigte Ehrgefühl allein, sondern das Gefühl der weggezogenen Stütze ihrer sittlichen Erhebung. Sie ahnten, daß sie leichter entbehren, leichter arm sein konnten, wenn doch irgend etwas an ihnen geachtet wurde, ihr Name, ihr Gewerbe, ihr Miethzins, ihre Gewerbesteuer. Sie ahnten, daß durch das erst so glückliche, dann unterbrochene Experiment an ihrem sittlichen Menschen gerüttelt werde, und werden noch lange unversöhnliche Feinde der jetzigen Ordnung bleiben, während die Intelligenz sich längst in ihre Verstimmung gefunden – haben wird.“ Mit noch dürreren Worten legt Gutzkow S. 313-314 sein demokratisches Glaubensbekenntniß ab. „Wie würdig und ernst, sagt er, legte auch zur Veredlung des Familienlebens im Arbeiterstande die neueste Zeit (d. h. die Zeit von 1848) Hand ans Werk.“ Er spricht dann von dem heilsamen Einflusse, den in dieser Beziehung die „Handwerkervereine“ und „Bezirksversammlungen“ geübt, die „in den Revolutionszeiten den gemeinen und den gebildeten Mann zusammenbrachten: der Handwerker sah in seinen Reihen den Gelehrten, den Kaufmann, den Beamten, und nur eine Stimme herrscht darüber, wie veredelnd für den Geringen, wie anregend für den höher Gestellten die so harmlosen, oft wissenschaftlich eingeleiteten „Bezirk-Kränzchen“ der Handwerker und kleinen Leute wirkten. Die Reaktion hat aber auch mit diesem Fortschritt der Volksbildung den bekannten staatsrettenden Kehraus gespielt, und die alte Wirthschaft der Ueppigkeit ist wieder in solcher Blüthe aufgeschossen, daß wir aus innerster Ueberzeugung erklären müssen: Bürgertugend und Volkssittlichkeit ist nur durch die staatsrechtlich begründete Demokratie zu retten.“ – Wenn ein so vorsichtiger Schriftsteller, wie Gutzkow, sich zu solchen Erklärungen herbeiläßt, so ist davon als von einem Zeichen der Zeit Akt zu nehmen.

6. Literarisches Centralblatt für Deutschland, 15. Mai 1852#

5.1.2.6. [Anon.:] Poesie. Gutzkow, Karl, aus der Knabenzeit. In: Literarisches Centralblatt für Deutschland. Leipzig. Nr. 20, 15. Mai 1852, Sp. 318-319. (Rasch 14/30.52.05.15)

Bei der Massenhaftigkeit seiner Productionen ist es nicht zu verwundern, daß Gutzkow in der Qualität seiner Leistungen immer schwächer wird. Das vorliegende Buch ist entschieden das schwächste, das er geschrieben hat. Seitdem Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ auch die Erinnerungen aus seiner Knabenzeit mit aufgezeichnet hat, hält sich jeder irgendwie renommirte Schriftsteller für berechtigt und gewissermaßen für verpflichtet, das Publikum in die Mysterien seiner frühesten Kindheit einzuführen. Es ist aber ein altes Sprichwort, daß, was Jupiter ansteht, nicht Jedermann ansteht. Was wir von einem Schriftsteller gern erfahren, ist die Entwickelung seiner Bildung. Auf diese haben aber die ersten Lebensjahre wenig Einfluß, so groß auch ihr Einfluß auf die Entwickelung des Charakters und des Herzens sein mag. Außerdem sind die Reminiscenzen aus jener Zeit so mit den Idealen, die man sich später von dem Wesen der Kindheit bildet, zersetzt, daß man sie wohl zu einem Roman, der mit der Kindheit anfängt, verwerthen kann, aber nicht zu einer Biographie. Der Inhalt dieses Bandes ist daher sehr dürftig. Wir erfahren daraus nur, daß Gutzkow im März 1811 in Berlin geboren, und daß sein Vater Bereiter beim Prinzen Wilhelm gewesen ist. Alles Uebrige sind entweder Anekdoten, die wohl für den, der sie erlebt hat, großes Interesse haben mögen, aber nicht [319] für das Publikum, oder Empfindungen und Reflexionen, die einer spätern Zeit angehören. Gutzkow redet sich in eine beständige Begeisterung hinein. Die Ausrufungszeichen und die Form der Apostrophe nehmen kein Ende, und um die einfachsten Dinge zu referiren, wird ein Esprit und ein Pathos aufgeboten, die einer bessern Sache würdig wären. Bei der Dürftigkeit des Inhalts ist es erklärlich, daß die Sprache forcirter und daher incorrecter ist, als gewöhnlich. Je weniger Gutzkow von jenem sprachbildnerischen Genie besitzt, welches wir bei Goethe in so hohem Grade finden, und welches bei diesem viele Kühnheiten entschuldigt, desto ängstlicher strengt er sich an, durch unzweckmäßige Combinationen diesen Mangel zu ersetzen, z. B. ,,botanischer Garten zu Universitäts-Taschenhandgebrauch“, wo ihm wohl das Taschenbuchformat vorschwebte; oder ,,man müßte Unmögliches dem Unkundigen als die rosigste, sauberste Aquarellfarben-Möglichkeit darstellen“; oder „die Kibitze, deren beinunterschlagenes Wie-der-Windlaufen der Vater dem Sohne vormachte“; oder „ein Vogel, gefangen nach tagelanger, wochenlanger Fallen-List“; oder „das könnte allenfalls nur von der Logik eines Straußenmagens verdaut werden“, und vieles Aehnliche. Am unangenehmsten aber ist in dem Buch das fortwährende Ueberspringen aus erzwungener Salbung in erzwungene Lustigkeit. Der Verf. rechtfertigt übrigens in der Vorrede diese Mischungen: ,,weil eine innere Besorgniß den in der Würdigung seiner Herzensmotive selten glücklich gewesenen Verf. bestimmte, überall da, wo seine eigene Person zu sehr hervortrat, lieber sogleich selbst Gelegenheit zu einem Lächeln zu bieten“. Der Verf. hätte sich lieber bemühen sollen, sich selber klar zu machen, warum wohl seine Herzensmotive so selten richtig verstanden sind; vielleicht würde ihn das nicht blos in stylistischer Beziehung gefördert haben. – Einzelne interessante Bemerkungen kommen übrigens vor, aber der Verf. hätte sie lieber gelegentlich anbringen sollen, statt sie zu einem unberechtigten Ganzen zu „verquicken“.

7. Julius Hammer, Sächsische Constitutionelle Zeitung, 15. Mai 1852#

5.1.2.7. Julius Hammer: Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Sächsische Constitutionelle Zeitung. Dresden. Nr. 111, 15. Mai 1852, S. 441-442. (Rasch 14/30.52.05.15.2N)

Unter obigem Titel ist kürzlich ein in mancher Beziehung liebenswürdiges Buch erschienen. Mit diesem Lobe bezeichnet man am besten einen wesentlichen Theil seines Werthes. Der Verfasser des bedeutendsten Romans unserer Zeit, eines Romans von großer Bedeutung überhaupt, kehrt hier in seine eigene Kindheit zurück, um seine frühen Erinnerungen an Erlebnisse, Eindrücke und Erzählungen zu einem interessanten und lebhaften Bilde zu sammeln. Aus demselben tritt uns weniger seine eigene Persönlichkeit, als vielmehr der Schauplatz entgegen, dem Gutzkow seine erste Entwickelung nach den Freiheitskriegen – der Dichter ist im März des feurigen Weinjahres 1811 geboren – zu verdanken hat. Im Vorwort verwahrt er sich ausdrücklich gegen die Auslegung, als sei sein Buch zur Nachahmung der großen Muster in der Autobiographie geschrieben worden, als habe er ein Entwickelungsbild von sich selbst entwerfen wollen.

[…] Wie man sieht, war es also vor Allem eine den Dichter ehrende Pietät gegen seinen Heimathsort, welche ihm die Feder in die Hand nöthigte, eine Pietät, die ihn zugleich die Quellen des allgemeinen deutschen Gemüthslebens in seiner Vaterstadt aufsuchen ließ. Schon das Bedürfniß danach hat etwas Rührendes, und die Wahl des Weges, die Gutzkow getroffen, um es zu befriedigen, verdient als ein rühmliches Zeugniß der inneren Wahrheit dieses Bedürfnisses hervorgehoben zu werden, welche ihre wohlthuende Kraft für den Leser nicht verliert, wenn derselbe auch öfter eine einfachere Darstellung wünschen muß. Wer indessen gewohnt ist, die Persönlichkeit eines Autors und seiner literarischen Thätigkeit im Ganzen aufzufassen, und wer insbesondere Gutzkow’s bisherige Wirksamkeit mit ihrem rastlosen Entwickelungsdrange, ihren Kämpfen und Experimenten, ihrer reichen kritischen und poetischen Production als eine Totalität betrachtet, und zwar im Hinblick auf die Bedingungen der Zeit seit 1830 betrachtet, der wird, gerade Gutzkow gegenüber, den starken Herzschlag, wie er sich in dem vorliegenden Buche kund giebt, im eigenen Herzen mit so tiefer Theilnahme nachempfinden, daß er auf denselben ein Hauptgewicht legen wird; er wird dies sehr natürlicherweise thun, auch wenn er das Selbstbekenntniß des Verfassers im Schlußwort der Vorrede während der Lectüre vergessen hätte.

„Der bekannte aufgebauschte Ausdruck des komischen Heldenepos“ – heißt es daselbst – „schlich sich hie und da nur deshalb zuweilen in die Prosa ein, weil eine innere Besorgniß den in der Würdigung seiner Herzensmotive selten [442] glücklich gewesenen Verfasser bestimmte, überall da, wo seine eigne Person zu sehr hervortrat, lieber sogleich selbst Gelegenheit zu einem Lächeln zu bieten, das er allerdings in diesem Buche dann und wann auch bei Wohlwollenden wird voraussetzen müssen.“ Wird es so der Kritik zur ganz besondern Pflicht, den Gemüthsgehalt dieser Erinnerungen aus der Knabenzeit nachdrücklich hervorzuheben, so wird sie diese Pflicht zugleich in Uebereinstimmung mit dem Eindruck erfüllen, den das Buch gerade auf die harmlosen und vorutheilsfreien Leser machen muß. Daß der patriotische Zweck, welchen der Verfasser bei der Darstellung jener Zeit, in die seine Kindheit fällt, das Interesse, das wir an seinen Mittheilungen nehmen, wesentlich erhöht, bedarf kaum der Erwähnung. Diese letzteren sind außerdem schon durch ihren stofflichen Reichthum und die poetische Auffassung der Thatsachen sehr anziehend, deren Erzählungen sich oft wie von selbst zu kleinen Kunstwerken abrunden und aufs Neue Gutzkow’s Sinn für künstlerische Gestaltung und für eine plastische Characteristik, der er in den „Ritten vom Geiste“ mit so großer Kraft documentirt hat, bethätigen. Wir erinnern z. B. an die „Geschichte vom schönen Dorich und der schönen Marianne“, welche, wie sehr sie auch den Stempel des wirklich Vorgefallenen trägt, von einer so poetischen Wirkung ist, als die besten und gerühmtesten Novellen unserer Literatur.

Nach der großen Reise, welche Gutzkow in seinem neunbändigen Roman durch fast alle Gebiete des deutschen Lebens der Gegenwart zurückgelegt, hat die idyllische Selbstbegrenzung, welche diesen kleinen Wanderzügen zu Grunde liegt, einen besonderen Reiz für uns, und es würde geradezu eine Ungerechtigkeit gegen den Verfasser – ’αυδϱα ηολνιϱοηου der modernen Literatur – sein, wenn wir den Ton naiver Ursprünglichkeit etwa eines Bogumil Goltz von ihm verlangen wollten. Daß aber eben der Letztere nicht ohne Anregung für ihn geblieben, eine Anregung, die er selbst durch das dem Buche auf dem Titel vorgesetzte Motto andeutet – müssen wir ihm als einen Beweis des starken und lebhaften Dranges nach den Quellen des Reinmenschlichen anrechnen, der nicht selten als ein heißer, nach Befriedigung lechzender Durst erscheint. So läßt er uns bei dem sehnsüchtigen Verlangen nach Einkehr in sein eigenstes Leben, oft unwillkürlich, tiefe Blicke in seinen innersten Menschen thun, die unsre innige Theilnahme in Anspruch nehmen und die uns zugleich eine Bürgschaft dafür sind, daß der Dualismus der Reflexion und des Gemüths, der mehr oder weniger uns Alle bewegt, die wir mit unserer deutschen Hamletnatur die schwere Aufgabe unserer Zeit zu erkennen haben, bei Gutzkow mehr und mehr einer befriedigenden Harmonie weichen werde, die ihm nach den vielen Kämpfen eines reichbewegten, unermüdlich thätigen, arbeitsvollen Lebens wahrlich zu gönnen ist. „Wenn der Verfasser“, sagt er im Vorwort, „zeigen könnte, daß man bei erkannten Irrthümern doch liebende Pietät und strenge Beurtheilung in ein Gleichgewicht bringen kann, „„das der Empfindung nicht schenkt, was dem Verstande gehört““, so hätt’ er noch einen geheimen und von ihm mit vertrauendem Herzen angestrebten Zweck dieser Blätter erreicht.“ Diese Worte, obwohl mit Beziehung auf eine besondere Aufgabe gesagt, bezeichnen zugleich die allgemeine Richtung, die unsern Autor in seinem Buche characterisirt, dessen Erzählungen bis zum Eintritt des Knaben in das Gymnasium reichen. Mit dem Beginn dieses „zweiten Abschnitts seines Lebens voll labyrinthischer Irrgänge“, deren Schilderung einer künftigen Zeit vorbehalten bleibt, schließt der Verfasser seine Darstellung. Sei dieselbe der Theilnahme der gebildeten Lesewelt angelegentlich empfohlen!

8. Wiener Zeitung, 18. Mai 1852#

5.1.2.8. [Anon.:] Karl Gutzkow. (Aus der Knabenzeit. – Fremdes Glück.) In: Wiener Zeitung. Wien. [Beiblatt:] Abendblatt der Oesterreichisch-kaiserlichen Wiener Zeitung. Nr. 114, 18. Mai 1852, S. 453-454. (Rasch 14/30.52.05.18N)

Früher jedoch sei noch eines andern Werkes gedacht, das, ebenfalls in diesem abgelaufenen Winter geschrieben, seine erstaunliche Produktivität bezeichnet und unter dem Titel „Aus der Knabenzeit“ so eben aus der literarischen Anstalt in Frankfurt a. M. hervorging. Es sind Kindermemoiren, doch haben sie nicht wie die Autobiographien von Andersen, Holtei, neuerdings Rosenkranz u. A. die Person des Verfassers, wie sie sich als Kind darstellte, zur Aufgabe, noch weniger wollen sie wie die in dieser Beziehung einzigen Schriften von Bogumil Goltz mit Tiefsinn und einem psychologischen Liebesblick für die Seele des Kindes überhaupt dessen geheimnißvolle innere Welt ans Licht ziehen. Der Mittelpunkt in Gutzkow’s „Knabenzeit“ ist nicht der Held, sondern der Schauplatz, und dem Ort seines Jugendlebens, nicht diesem selbst hat der Verfasser die denkwürdigen Seiten abgelauscht.

Gutzkow ist bekanntlich in Berlin geboren, einer Stadt, von welcher der traditionell sich fortpflanzende Ruf mehr vielleicht als eine gegründete Erfahrung allen Schimmer jener Poesie wegläugnet, die wir mit den Begriffen Gemüthlichkeit und schöne Natur verbinden. Dort soll nichts herrschen als gesuchter Witz und kalter Verstand und was wir sonst in Eckenstehern, Weißbier u. s. w. als das spezifisch Berlinerische anerkennen. Zu beweisen nun, daß Berlin nicht so verlassen von einer gewissen Ursprünglichst ist, wie es sich in seiner Neigung zur Selbstpersiflage darstellt, selbst seine Natur minder kahl, sandig und farblos zu zeigen, wie man nach den allgemeinen topographischen Bedingungen der Mark annimmt, das ist der Zweck des interessanten Buches, der nicht besser erreicht werden konnte, als indem der Verfasser in die eigene Kindheit zurückgriff. Jede Kindheit hat an sich die reichsten Farben der Poesie, auch wenn der Ort, an dem sie verlebt wurde, deren gänzlich entbehrte. Wer im Kerker geboren wäre und dort seine ersten Jahre verlebt hätte, dem würde die spätere Rückerinnerung selbst diesen Kerker als einen heimlichen Winkel erscheinen lassen, in dem es süß und traulich ist wie sonst nirgends auf Erden.

Wir wollen damit jedoch keineswegs behaupten, daß Gutzkow in einer optischen Täuschung befangen wäre, indem er die poetischen Farben seiner Kindheit und ihre reizenden Lichter für die wesentlichen Eigenschaften des Ortes halten würde, an dem er Kind gewesen ist. Ohne hierin vollkommen zu unterscheiden, schildert er doch Berlin, wie es in den ersten Jahren nach den Befreiungskriegen war und mit den Elementen, die sich für immer darin erhalten werden, so anschaulich und lebendig, daß uns jeder Gedanke an einen Betrug der Phantasie ferne liegt, indem uns sogleich die Poesie jeder gesunden Wirklichkeit ergreift.

Da sehn wir vorerst, wenn nicht den schönsten doch einen der schönsten Plätze Europa’s, wo jetzt das Standbild Friedrich II. aufgestellt wurde, vor dem Palais des Prinzen von Preußen. Dies ist das Centrum des Buches, wie es das von Berlin ist. Von hier aus tritt der Knabe seine Exkursionen in die nahe, fernere und endlich ihm damals weiteste einer höhern Gesellschaft an. Die nächste Umgegend zeigt ihm den Ausdruck mißmuthiger weil erzwungener Ruhe auf den Gesichtern der königlichen Rossebändiger, die eben nach dem zweiten Pariser Frieden aus den Strapazen und Gefahren des Feldzuges heimkehrten. Da ergeben sich denn soldatische Anekdoten von selbst, welche das erste gespannte Aufhorchen des Kindes erregten. Am gespanntesten jedoch ist es, wenn der Vater selbst erzählt, der phantasiebegabt und darstellungslustig, seine Heimath, Pommerland, dem Kinde so tief in die Seele prägt, daß es das auch später niegesehne Pommern wie eine eigene Heimath in der Erinnerung behält. Die weitere Umgebung führt das lebensfreudige Kind dem Genuß an der Natur zu, so weit der Thiergarten, Charlottenburg, Lichtenberg davon sehen lassen wollen. Die entfernteste Welt endlich ist die des Malers Cleanth, in dessen Kreisen der Knabe die feinen Sitten, versteckten Beziehungen, die im Halbdunkel bleibenden Schicksale der vornehmen Welt kennen lernt. Bis zu seiner „ersten Liebe“ liegt das Kindesleben vor uns ausgebreitet, den Knaben erfaßt eine „Doppelliebe“ eine plebejische und eine patrizische Phantasie und vielleicht hat dieser frühe Widerstreit des Gefühles etwas Bezeichnendes für die spätere geistige Entwicklung des Verfassers, der sich zuweilen auch „hier und dort nicht heim“ fühlte und oft Versuche machte „an beiden Tafeln zu schwelgen.“

Dies führt uns auf die absichtlich so wenigen Beziehungen, die der Verfasser zu sich selbst nimmt, damit Berlin als Hauptzweck des Buches um so erkennbarer hervortrete. Die Betrachtungen, die er seinem ersten kindlichen Traumleben widmet, sind zart und wahr und greifen dem Leser oft rührend an das eigene Bewußtsein aus jener Zeit. Zumeist freuen uns jedoch die Resultate, die wir für Erziehungswesen im Allgemeinen daraus entnehmen können. Der Verfasser eifert mit größtem Rechte gegen die Blendwerke neuer Methoden, zu welchen uns die falsche Aufklärung verhalf. Er besteht darauf, daß sich ohne Mechanismus nichts in die erste, geistige Empfänglichkeit des Kindes einpräge und alles sogenannte „Eingehen“ auf die Kinder und ihre spezielle „Natur“ das gefährlichste Dilettiren erzeuge und die ohnehin noch weiche Gehirnmasse in einen Brei von Geschwätz und unbestimmter Halbheit versetze. „Und was soll man gar erst von [454] den Kindergärten, vom Fröbel’schen Papperlapap des Denkspielens und Spieldenkens sagen?“

Auch über Familienzustände im Volke, über Dienstbotenverhältnisse und andere soziale Erscheinungen begegnen wir trefflich ausgesprochenen Wahrheiten, welche nach dem Lesen des eben so angenehmen als vernünftigen Buches ein Gefühl von wahrhaftem Gewinn in der Seele zurücklassen.

9. L. F., Hamburger literarische und kritische Blätter, 19. Mai 1852#

5.1.2.9. L. F.: Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Hamburger literarische und kritische Blätter. Hamburg. Nr. 40, 19. Mai 1852, S. 313. (Rasch 14/30.52.05.19.1N)

Herr Karl Gutzkow hat schon wieder ein neues Buch geschrieben, – wir wiederholen – geschrieben. Ein Kopf, der nie rastet, stets nur immer vorwärts drängt, in dem es ewig gährt, der nicht einmal gleich dem Olympier Zeus, sondern unaufhörlich mit Kopfschmerzen schwanger geht, dem leider aber der Hammer des Hephästos fehlt, daß eine Schöpfung wie Pallas Athene daraus hervorgehe, von einem solchen Kopfe ein abgerundetes, fertiges, gewürfeltes Werk zu verlangen, wäre unverantwortlich. Die Kritiker von Fach, die meist aber nur selbst Gutzkow’s Schatten, verwechseln dieses ruhe- und rastlose Schaffen mit großem Talent, Beweglichkeit des Geistes, mit der Fülle und dem Reichthum eines weltbezwingenden Gemüths. Und sie haben Recht, diese Herren; nur ihr Auge ist etwas kurzsichtig, ihrer Kunstforderung leicht Genüge gethan. – Eine Hand wäscht die andere. – Und auf welchem Gebiete hätte sich Herrn Gutzkow’s Muse nicht schon überall herumgetummelt? – bald auf Socken – bald auf hohem Kothurn – bald auf dem Felde der Politik – bald im Roman im großen und kleinen Stil – bis sie zuletzt auf 10 Jahre ihrer Kindheit etwas zur Ruh sich gesetzt. Wird Herr Gutzkow hier rasten und ruhen, um ein Werk von literaturhistorischer Bedeutung, mit der ewigen Signatur Gottes an der Stirn, so eine Freude und Stolz deutschen Geistes in sich reifen und gestalten zu lassen? Ja vielleicht – wenn nur der Recensent in den „Jahreszeiten“ ihn nicht schon wieder in seinem Zeugungsproceß gestört hätte. Ob Schadenfreude oder ein anderes Motiv der Taktlosigkeit dieses Recensenten zu Grunde lag, wollen wir dahin gestellt sein lassen. Wir gehen zur Sache selbst.

Das Buch „aus der Knabenzeit“ umfaßt einen Zeitraum von zehn Jahren (1811–1821). Für die Entwickelungsgeschichte Berlins ist dieses Buch von einiger Wichtigkeit. Der Knabe Gutzkow ist hier Nebensache; der Mann gewordene Gutzkow reflektirt über die damalige Zeit und den wahrscheinlichen Einfluß jener Zeitverhältnisse und Bestrebungen auf das wache, reizbare, empfängliche Gemüth seiner Knabenzeit. Herr Gutzkow ist aber hier nicht stehen geblieben. Statt uns ein objectives, scharfbegrenztes und dabei doch vollständiges Bild jener Zeit zu geben, werden Seiten mit Reflexionen gefüllt, die bis in’s Heut hereinragen. Und wozu? Der Jammer und das Elend des heutigen Proletariats, die „königliche und priesterliche“ Macht des Weibes beim Nähkörbchen oder siedenden Theewasser kommen hier nicht zu kurz. Hin und wieder steigen Raketen social demokratischer Ideen auf. Wozu dieser Aufwand, diese Verschwendung, dieses Feuer, das doch nur blenden, nicht erwärmen will. Man kann mit seinem Herzblut schreiben und doch kaum eine Wärme von 28° Reaumur ausströmen lassen.

Diesem Buche fehlt eine edle Gleichmäßigkeit, Rundung, Plastik. Die Gedanken sollen nicht nackt herumlaufen, aber auch nur so viel Worte zur Einkleidung haben als nöthig ist. Allerdings würde dieses Buch bedeutend an Bogenzahl verlieren. Der Verfasser wird seinem Gegenstande immer selbst untreu, um seinen Geist nur überall glänzen zu lassen. Sich regeneriren können im großen Stil, männlich und kräftig, und es werden Werke entstehen, daß einem das Herz aufgeht.

10. [Levin Schücking], Kölnische Zeitung, 19. Mai 1852#

5.1.2.10. [Chiffre, Levin Schücking:] Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 120, 19. Mai 1852, [S. 1-3]; Nr. 121, 20. Mai 1852, [S. 1-2]. (Rasch 14/30.52.05.19.2N)

„Alle Menschen, von welchem Stande sie auch seien, die etwas Tugendsames oder Tugendähnliches vollbracht haben, sollten, wenn sie sich wahrhaft guter Absichten bewußt sind, eigenhändig ihr Leben aufsetzen, jedoch nicht eher zu einer so schönen Unternehmung schreiten, als bis sie das Alter von vierzig Jahren erreicht haben.“

Mit diesen Worten beginnt Meister Benvenuto seine Denkwürdigkeiten. Karl Gutzkow hat sich seine Lehre zu Herzen genommen. Er ist vierzig Jahre alt geworden und hat die Feder ergriffen, um sein Leben aufzuzeichnen; zuerst freilich nur die Knabenzeit, aber es liegt in der Natur der Sache, daß sie ihn weiter und zu den Fortsetzungen verlockt. Es muß in der That einem so fruchtbaren, so vielseitig, nach so verschiedenen Richtungen hin thätigen Schriftsteller ein Bedürfniß sein, sich durch einen Rückblick auf seine Lebensbahn zu concentriren: ein Bedürfniß, zu allem dem, was er der Welt geboten, der Welt auch einen Schlüssel zu reichen – denn der eigentliche Schlüssel zu den Werken eines Autors bildet doch nur sein Leben; ein Bedürfniß endlich, seine Geschöpfe, die Gestalten seiner Dramen und Romane, die er nun seit so langer Zeit dem Publicum vorgeführt hat, bei Seite zu schieben und hinter dem Vorhang hervorzutreten, um unmittelbar zu seinen Hörern zu reden. So erst kommt er ihnen menschlich nahe, so erst kann er ihnen sagen: Seht, das ist von allem, was ich verfochten und vertreten, der innerste Kern, das ist von dem, was in meinen Geschöpfen in den Mund gelegt, meine innerste Herzensmeinung, das sind die rothen Adern meines Lebensblutes, die durch die Erscheinungen pulsiren, welche Ihr vielleicht nur zu oft für die Gebilde spielender Einbildungskraft und bloße dichterische Phantasieen gehalten.

Zu dem allem freilich gibt K. Gutzkow in seinem neuesten Buche erst die Einleitung, ja, er verwahrt sich ausdrücklich gegen die Deutung seines Buches als einer Autobiographie. Er will nur ein Bild geben von den Umgebungen seiner Kindheit, von der Königsstadt im Norden, die sich zuerst in seinen Kinderaugen spiegelt; der Knabe, welcher den Mittelpunct des Gemäldes bildet, ist immer mit ängstlicher Sorgfalt in den Hintergrund gerückt; ja, er spielt vollständig Versteckens mit dem Leser, der ihn fortwährend suchen muß, damit er ihm nicht ganz entkomme. Wir meinen, Gutzkow hätte da weniger Bescheidenheit üben können; es liegt in der Natur der Sache, daß wir trotz aller Verwahrungen unser Haupt-Interesse an den lebenden Menschen, durch dessen Medium wir hier sehen, heften, mehr als an die Sachen und Gestalten, die er uns zeigt, und daß wir ihm eine Theilnahme aufdringen, der er sich nicht entziehen sollte.

Ein Bruchstück, das wir folgen lassen, dient am besten, die geistreiche Weise zu charakterisiren, mit welcher Gutzkow schildert; wir wählen ein Fragment, worin er von den Erlebnissen seines Vaters spricht:

[...] [Es folgt ein stellenweise minimal modifizierter Textauszug von Seite 35,23 bis 48,17 dieser Ausgabe.]

11. Deutsche Allgemeine Zeitung, 22. Mai 1852#

5.1.2.11. [Anon.:] Feuilleton. ** Berlin, 20. Mai. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Leipzig. Nr. 238, 22. Mai 1852, S. 987. (Rasch 14/30.52.05.22)

** Berlin, 20. Mai. Karl Gutzkow’s neuestes Buch „Aus der Knabenzeit“ […] wird hier allgemein eifrigst gelesen. Das Interesse, welches allein schon der Name Gutzkow erregt, ist immer schon im Publicum sehr groß gewesen, nach dem glänzenden Succeß aber, den die „Ritter vom Geiste“, in denen sich unsere ganze Gegenwart spiegelt, hier wie überall gehabt hat, ist es natürlich, daß Jeder nur um so eifriger etwas Näheres über die persönlichen Verhältnisse und Erlebnisse ihres Verfassers zu erfahren verlangt. Da kommt denn sehr erwünscht die anregende und interessante Schilderung seiner Kinderjahre, welche der uns vorliegende Band enthält. Es ist in der That die Entwickelung eines Menschenlebens, die er uns vorführt, verflochten mit einer Reihe von Bildern, Scenen, Charakteristiken, die uns in ehemalige preußische Zustände und in das ehemalige Berlin versetzen. Das Darstellungstalent Gutzkow’s, sein feiner, zersetzender, tiefer und überschauender Geist sind zu bekannt, als daß wir hier noch Rühmendes hinzuzufügen brauchten. Nur Das müssen wir hier noch sagen, daß ein warmer, weicher Hauch durch sein Buch geht, daß man in ihm die ersten Herzschläge des Kindes belauscht, die ersten Herzschläge des Mannes, dem man überrascht und geblendet von der kritischen Schärfe seines glänzenden Verstandes mit Unrecht vorgeworfen hat, daß ihm die Empfindungen des Herzens fremd seien. Es wäre sehr zu wünschen, daß Gutzkow diesem ersten Bande einen zweiten folgen ließe.

12. Didaskalia, 1. Juni 1852#

5.1.2.12. [Anon.:] Bücherschau. 9. Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Didaskalia. Frankfurt a.M. Nr. 130, 1. Juni 1852, [S. 2-3]. (Rasch 14/30.52.06.01N)

Es ist zugleich ein interessantes und werthvolles Geschenk, welches ein denkender und vielseitiger Schriftsteller seiner Nation macht, wenn er an einem bedeutungsvollen Abschnitte seines Lebens angelangt, die durchlebte Zeit noch einmal geistig deducirt und sie im klaren und treuen Spiegel der allgemeinen Zeit- und Volksgeschichte vor uns entwickelt. Das individuelle [3] Leben erweitert sich so, getragen von dem großen, umfassenden Weltleben, zu einem nicht weniger historischen Bilde, als es die Darstellung eines Abschnittes der politischen Geschichte selbst ist. Denn das Ganze und Allgemeine ist ja doch nur die Zusammensetzung vieler kleiner und einzelner Theile, und die wahre Erkenntniß dieser einzelnen Bestandtheile macht erst die richtige Auffassung des großen, geschichtlichen Lebens möglich. So hat uns Gutzkow ein Bild seiner Knabenzeit entworfen, das nicht etwa die an und für sich unerhebliche Jugendgeschichte des Verfassers selbst, sondern die ganze bewegte und geistig rührige und schaffende Zeit umfaßt, in welche diese erste Jugend des Verfassers fällt. Ohne auch nur einen Augenblick seinen Standpunkt als Darsteller seiner ihm allerdings mit Recht werthvollen Jugenderinnerungen aus dem Auge zu verlieren, weiß er uns fortwährend für diese seine eigene Jugend durch Vorführung der großen und bedeutenden Elemente zu fesseln, welche seine erste Lebenszeit zum Theil umgaben, zum Theil anregend trugen; so verschmilzt er in aller Bescheidenheit, ohne geringste Prätension, sein eigenes Daseyn und seine eigene Entwickelung mit dem Walten einer höheren historischen Gegenwart und bewirkt zugleich eine für die Phantasie des Lesers höchst angenehme und anregende Abwechslung, indem er mit scheinbarer Kunstlosigkeit, aber nach gründlich durchdachter Anlage, alle Verhältnisse des höheren und bürgerlichen Lebens, gleichsam wie an seinen Stoff gebunden, an uns vorüberführt und uns mit einer Masse interessanter und abwechselnder Bilder aus allen Schichten des Lebens erfreut und zum Nachdenken anregt. Das Resultat des Buches, das geistige Capital, das der Leser aus ihm zieht, ist für die nationalen Bestrebungen unserer Zeit von Bedeutung; wir fühlen uns um so lebhafter von dem Wunsche, von dem Bedürfnisse erfüllt, bei unserm Interesse für das Wohl der Menschheit nicht in allgemeinen Theorien zu verharren, sondern in das innere, eigenthümliche, wirkliche Leben und Daseyn der einzelnen Volksschichten selbst forschend hinabzusteigen und dort an der Quelle selbst alle die Leiden und (seltenen) Freuden kennen zu lernen, womit die Menschheit in ihrer Gesammtheit so reichlich vom Schicksale bedacht worden ist!

13. [Willibald Alexis], Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, 8. Juni 1852#

5.1.2.13. –g. [d.i. Georg Wilhelm Häring (Willibald Alexis)]: Literarisches. Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. [Vossische Zeitung.] Berlin. Nr. 131, 8. Juni 1852, 2. Beilage, S. 4. (Rasch 14/30.52.06.08N)

Nach einem Roman, der so wunderbar auf das deutsche Publikum gewirkt hat, wie seine Ritter vom Geist, hielt es Gutzkow vielleicht für seine Pflicht, sich diesem selben Publikum selbst zu zeigen, wie er ist, oder vielmehr wie er wurde; gleichwie, wenn ein Virtuos eine Stadt entzückt hat, sein Portrait an den Schaufenstern erscheint. Das Publikum will gern sehen, wie der aussieht, der so gewirkt hat. Gerade das suche man aber nicht in dem Buche: Aus der Knabenzeit. Es sind keine Confessions, weder wie Rousseau, noch wie Holtei sie schrieb, auch ist er kein psychologisch aus dem Dichter herausgesponnener Faden, sondern es ist ein großes und feines Guckkastenbild alles dessen, was der Knabe gesehen u. der Mann sorgfältig und mit Geschmack gesammelt, geordnet und gesichtet hat. Da es Bilder aus Berlin sind, und aus einer Zeit, welche die Hälfte unsrer Lesewelt aus eigner Erfahrung noch kennt, können sie, von der Hand eines meisterhaften Darstellers entworfen, nur das Interesse anregen. Aber es hat mit dieser Aufgabe, aus der Kindheit halb erlöschende Eindrücke wieder hervorzurufen, etwas Eigenes. Es muß die Erinnerung selbst schon im Erlöschen sein, und das ist hier nicht der Fall, da, was hier Gutzkow, der an den Vierzigen ist, schon wie Dämmerschein schwebt, denen in den Funfzigen und Sechzigen noch sehr deutlich und klar vor Augen steht. Dann verlangen wir grade in diesem Genre mehr Glauben und Phantasie als Kritik. Wie die Jung Stilling, Moriz, Göthe, die Eindrücke ihrer Knabenzeit auffaßten, mit Glauben und Phantasie, das vermag Gutzkow nicht, er ist zu sehr durchgebildeter Bewußtseinsmensch, und die Kritik, von der er nicht lassen kann, erhellt wohl und mißt die dunkeln Winkel, aber die Zaubergestalten, die daraus hervortreten sollten, üben keinen Zauber mehr, wenn wir fühlen, daß des Erzählers klarer Geist sie schon chemisch auf ihre Bestandtheile zersetzt hat, und sich nur Mühe giebt, vermöge seiner Kunst sie dem Leser zu der Erscheinung wieder zurückzugestalten, wie er selbst – vielleicht als Kind, sie ansah. Er spielt nicht mehr unbefangen mit dem Spielzeug, was er uns schildert, wie es der angehende Greis Göthe that als er seine Wahrheit und Dichtung anfing, er sieht sehr genau das Lindenholz, das Zink, Blei, die Stifte und den Lack, woraus alle diese Sachen bestehen, und der Ueberguß, den er hinzuthut, ist selbst wieder ein schöner Firnis, nur nicht der Märchen-Duft, in dem auch das Unbedeutende bedeutend wird. Aber das konnte und wollte zugleich Gutzkow nicht. Ihm ist es jedenfalls gelungen die Illusionen wegzuwischen und uns zu zeigen, welchen Werth und Größe das in Wahrheit hatte, was uns einst so wichtig und ungeheuer bedünkt, und wie dort als Dichter ist es hier als Autobiograph sein Bestreben seine Mitbürger aus Täuschungen, süßen Illusionen und Taumel, zur richtigen Würdigung der erlebten Verhältnisse und zum Selbstbewußtsein zurückzuführen. Das Büchlein ist so reich an interessantem Stoff, als man nach seinem geringen Umfang nicht glaubt, weil der Verf. eben nicht fabuliren will, sondern zu seinem Zwecke comprimirt, und wenn wir vieles wissen, so doch lange nicht Alles; auch werden viele anekdotenartige Reminiscenzen der Mehrzahl der Leser neu sein. So z. B. war uns der humoristisch pietistische Weber, sein Oheim, eine im heutigen Berlin unerwartete Erscheinung, und wir freuen uns von ihm zu hören, daß er in den untern Schichten des Lebens der Residenz im Großen und Breiten weit mehr Grundstoff und echte Bodenkraft unseres Lebens angetroffen, als wir erwarten zu dürfen glaubten.

14. Illustrirte Zeitung, 12. Juni 1852#

5.1.2.14. 6839.: Literatur und Bücher. [Darin:] Aus der Knabenzeit, von C. Gutzkow. In: Illustrirte Zeitung. Leipzig. Nr. 467, 12. Juni 1852, S. 375. (Rasch 14/30.52.06.12N)

Aus der Knabenzeit“, von C. Gutzkow. Der Schauplatz dieses Buches ist Berlin, in den Jahren 1811–1821, den ersten zehn Jahren des Verfassers, und trägt das bedeutungsvolle Motto aus Bogumil Goltz: „Wer die Menschheit nicht in ihren niedrigen Sphären erkannt, der begreift sie nimmer in ihren Höhen.“ – Der Verfasser will in diesem Buche kein Entwickelungsbild von sich selbst geben, sondern einestheils einen Beitrag oder eigentlich den Anfang zu einer Schilderung des Berlins, was man bisher noch nicht gekannt hat, am wenigsten in Berlin selbst: des ursprünglichen, entwickelungsfähigen, poetischen und – schönen Berlins; anderntheils eine Schilderung von Seelen- und Lebenszuständen, die für den Erzieher und Freund des Volkes von Interesse sein könnten; verbunden mit Beiträgen zur Gesellschaftskunde, eine Wissenschaft, die durch W. H. Riehl so vortrefflich angebaut ist. Endlich soll das Buch, namentlich in Hinweis auf einen zweiten Theil, ein allmäliges sich Entwinden aus dem tiefeingeimpften specifischen Local-Patriotismus darstellen und zwar in solcher Weise, daß dabei liebende Pietät und strenge Beurtheilung sich ein Gleichgewicht geben, ,,das der Empfindung nicht schenkt, was dem Verstande gehört.“ – Das ist die viel bedeutungsvolle Aufgabe des Buches und der Verfasser hat sie gelöst. Gelöst mit der ganzen Kraft seiner scharfen, durchdringenden und überschauenden, wir möchten sagen historischen, Beobachtung. Mit der vollen Wucht seiner tiefeinschneidenden Dialectik. Mit der sinnvollen Schönheit seines Gefühls für das Allgemeine im Einzelnen und für das Einzelne im Allgemeinen. Mit der ihm so ganz eigenthümlichen Begabung feiner und frappanter Charakterisirung oft nur in wenigen raschen Zügen. Außerdem noch finden wir in diesem Werke, wie in keinem andern des Verfassers, ein entschiedenes, klar ausgesprochenes politisches Glaubensbekenntniß; erkennen wir eine innige, zarte, liebenswürdige Natur und thun Blicke in das heilige Mysterium der Kinderseele, wie bisher wenige Dichter sie uns thun ließen. Das Buch steht zwischen Immermann’s Memorabilien und Goethe’s Dichtung und Wahrheit; man erkennt zwischen den Zeilen heraus im Kinde schon vieles vom Manne und seinen Werken, und namentlich ist es sein berühmter Roman, der uns an das Motto des Buches erinnert; Gutzkow hatte die Menschen in ihrer niedern Sphäre erkannt und konnte sie deshalb auch in ihren Höhen begreifen. – Möge dem ersten Theile bald ein zweiter folgen.

15. Alexander Jung, Königsberger Hartungsche Zeitung, 20. Juli 1852#

5.1.2.15. Alexander Jung: Karl Gutzkow. („Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. […] Frankfurt am Main. Literarische Anstalt. [J. Rütten.] 1852.“ 305 S.) In: Königsberger Hartungsche Zeitung. Königsberg. No. 167, 20. Juli 1852, S. 819-820. (Rasch 14/30.52.07.20N)

Die deutsche Kritik hat schon vor langer Zeit wieder und wieder in nicht wenigen ihrer Organe auf die ungewöhnliche Bedeutung Gutzkow’s hingewiesen. Sie hat ihm schon in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts ein überaus günstiges Prognostikon gestellt. Sie ist zwar, wie das so in Deutschland geht, von den Kleinmeistern, den Neidern, den schwerfälligen Doktrinären wie windigen Phrasenhelden, von Leuten welchen die Literatur verhaßt ist, oder die sie doch nur zu trocknen Excerpten wie zur Kurzweil betreiben, verlacht worden, aber wo sind diese Lacher, diese Helden von Versicherungen ohne That geblieben, und wo steht Gutzkow jetzt? –

[…]

Es ist sehr bedenklich, auch nur den Versuch zu machen, Gutzkow’s Eigenthümlichkeit, die Weise, wie den Bereich seines Wirkens in den Hauptumrissen zu entwerfen, und doch auch wieder ist es nicht zu umgehen, da Gutzkow für unsere Zeit von zu großer Bedeutung ist, und um unsern Lesern den Werth des Buches vorzuführen, welches wir hiemit zur Anzeige bringen. Daß Gutzkow ein Berliner von Geburt, daß er unmittelbar aus dem Volk hervorgegangen ist, daß er aber schnell aus beengenden Verhältnissen hinausstrebt, und in einer gebildeten Umgebung eine zweite Heimath durch sich selbst zu finden weiß, ohne je die Pietät gegen seinen Ursprung zu verläugnen, daß er rasch in Kenntnissen wächst, daß die Schönheit aber auch das Geheimnißvolle der Menschenexistenz ihn schnell für sich einnehmen, und ein gedankenreiches Leben schon früh in ihm erzeugen; das alles ist wohl zu beherzigen. Schnelligkeit der Entwickelung, unermüdete Beweglichkeit, die rasch von einem zum andern fortgeht, nichts unbeachtet und von dem Gedanken unerwogen läßt, ist ein charakteristischer Zug in Gutzkow dem Knaben wie dem Manne.

[…]

Einem Knaben von so lebhaftem, überall hinlauschendem Naturell, der sich früh außer der elterlichen Häuslichkeit auch in den Kreis einer sehr ausgewählten Bildung Eingang verschaffte, hier sogar die Herzen gewann, mußte auch die geistige Atmosphäre seiner Vaterstadt in ihren Grundtönen sehr bald vernehmbar werden. Schon an den Ort seiner Geburt, das alte Akademiegebäude, knüpfen sich, man kann es nicht läugnen, außerordentliche Vortheile, die ihm schon allein eine günstige Nativität stellen. Von der schlichtbürgerlichen Seite, von der Seite des biedern, arbeitstüchtigen Volkes her – da seine Eltern und Verwandten dem Volke angehören, jene zugleich einem Prinzen nahe stehen – werden ihm aus Krieg und Frieden, aus Religion und Gewerbe, aus dem Stadt-, Soldaten- und Hofleben manche Mittheilungen und die fruchtbarsten Anschauungen zu Theil. Aber auch die Hallen der Kunst, die Säle, welche wissenschaftlicher Thätigkeit gewidmet sind, öffnen sich ihm ganz in der Nähe. Kommt hiezu noch die bereits erwähnte Familiensphäre, außerhalb des elterlichen Hauses, in welcher der feinste Ton der Geselligkeit herrscht, deren Vertreter jedoch immer auf das Exakte, Praktische der wissenschaftlichen, wie künstlerischen Bildung hinlenkt, und schließt sich dem eine Schule an, deren origineller Vorsteher sogleich für den Knaben die vortheilhafteste Meinung gewinnt; so können wir uns schon denken, auch ohne daß es uns bereits in dem Vorliegenden mitgetheilt wird, wie sich die Umgebungen stets günstiger erweitern, und der Knabe in eine Welt der Bildung hineinwächst, die wir aus den Schriften des Jünglings, des Mannes in seltener Gediegenheit herauslesen.

[…] [820] […]

Wenn ein Autor von solcher Eigenthümlichkeit und Höhe der Bildung uns, wie in dem vorliegenden Buche, seine Biographie eröffnet, so muß man ein Barbar an Empfänglichkeit sein […] wenn man nicht von vorn herein mit Spannung einer solchen Gabe entgegenlauscht. Die Biographie eines jeden Menschen kann möglicherweise interessant sein, denn in jeder menschlichen Individualität existirt vom Geiste Gottes her, der sich in ihr offenbart, eine durch keinen Andern zu ersetzende Einzigkeit. Sind Biographien oft unendlich leer und wie über einen Kamm geschoren, so liegt das fast nie an dem, was in dem Individuum angelegt war, sondern immer nur in der Art, wie seine Anlage verwaltet worden ist. Nun aber gar das Leben eines bevorzugten Menschen, und gar eines schöpferischen! Hier vernehmen wir sicher Unzähliges, was uns, auch die wir unter ihm stehen, beruhigt und wobei wir uns im Labyrinthe des Lebens zurechtfinden, was uns belehrt und erfrischt, in die tiefsten Geheimnisse der Menschennatur und zu den Höhen ihrer Verklärung blicken läßt, ja wir erhalten einen Einblick in das Werden einer neuen Zeit, in die verborgene Werkstätte dieses Werdens, denn jeder Genius führt eine neue Zeit herauf.

Aus dem neuesten Buche Gutzkow’s: „Aus der Knabenzeit“ kann man es wieder einmal recht ersehen, wie der Geist, wo er in außergewöhnlicher Weise vorhanden ist, die Dinge, die Ereignisse und die Personen der Umgebung erst wahrhaft beredt macht, so daß sie ihm ein Leben offenbaren, welches sie vielen andern Beobachtern vorenthielten. Wir unterscheiden in der so anmuthig wie klar gehaltenen Erzählung deutlich, was spätere Reflexion des Erzählenden und was ursprünglicher Eindruck des Knabenalters ist. Ueberall umwebt den immer stärker hervortretenden Sinn scharfer Verständigkeit die doch auch stets durch Mittheilungen des Vaters genährte Phantasie des Knaben, welche immer weiter hinausdringt, von den Gebäuden und Gärten der Nachbarschaft bis zu den entferntesten Theilen der Stadt, und die aus all’ dem Gewühl von Tageshergang in Familie und Residenz, bis zu der Umgegend von Charlottenburg und Spandau und anderen Ortschaften hin Schwänke und Abenteuer, Volksromantik und Idylle von so ächt poetischem Gehalt zu gewinnen weiß, wie man sie der Berlinerwelt gar nicht zutrauen sollte. In dem Erlebniß des Vaters in Paris während der Freiheitskriege, in den Begegnissen aus der Artilleriekaserne, namentlich in der so unterhaltenden Erzählung vom „Roß des Königs“, in der tragisch gefärbten und doch nur den täglichen Hader der Frauen zu Grunde legenden Mittheilung über das Schmollen zweier weiblichen Wesen an einem und demselben Kochheerd, ein Schmollen, welches der Tod eines geliebten Kindes versöhnt, wird der Kundige den sich ankündigenden Dichter belauschen, und wird darin die edelsten Stoffe zu ächten Volksliedern sich ankündigen hören, während solche Schilderungen, wie die vom Vetter Christian, dem Hutmacher, mit den Thalerstücken am Leibe, und Vetter Wilhelm, dem Musselinweber und Theosophen zugleich, uns so lebenswahre Gestalten der tiefsinnigsten Art aus dem deutschen Volke vorführen, wie wir sie nur selten, unter andern in Göthe’s „Dichtung und Wahrheit“, in jenem ehrenwerthen Schuster mit seiner humoristisch unversiegbaren Bibelfestigkeit in Dresden, zu großer Ergötzlichkeit kennen gelernt haben.

Ueber die verschiedenartigsten Lebensbeziehungen werden wir in dem Gutzkowschen Buche belehrt, theils wie sie das damalige und jetzige Berlin zur Erscheinung bringt, theils wie sie das Grundgewerbe des deutschen Wesens überhaupt ausmachen, mit sehr interessanten, mit reicher Lebensphilosophie ausgestatteten Zeichnungen von Volkszuständen, nur daß seit Göthe kein anderer Dichter es verstanden hat, mit so gebildeter Sprachgewalt das alles wiederzugeben, wie der Verfasser des Vorliegenden. Wir wollen nur des Berliner Pietismus hier erwähnen. Man muß dieses bis zum Extrem ausgeartete Konventikelwesen in Berlin noch miterlebt haben, wie es sich bis zum Ende der zwanziger Jahre im vollen Flor erhielt, wo stark noch den Studenten verrathende Kandidaten der Theologie mit schwerer Salbung, nicht geringem Dünkel und langem Haar kleine Gemeinden auf ihrem Zimmer versammelt hatten, sich in eigener Redebegabtheit höchlich sonnten, und heilige Gesänge mit weltlicher Eitelkeit dirigirten, um Gutzkow’s Darstellungen der Art durchaus nach dem Leben gezeichnet zu finden, und einen tiefen Schaden des Protestantismus in solcher Willkürseelsorge zu gewahren.

Wie tief und für wahrhafte Schönheit jeder Zeit unparteiisch-empfänglich das Gemüth Gutzkow’s ist, das beweist er da, wo er eines erbaulichen Buches gedenkt aus der Lavaterschen Schule, welches er, wie es uns mit Büchern geht, zufällig in jenen Tagen in die Hand bekam, und in welches er sich bald so innig hineinlas, daß es ein Lieblingsbuch für ihn wurde; es führt den Titel: „Predigten und Predigtfragmente von Häfeli.“ Wer Phantasie besitzt und sich auf inneres Leben versteht, der wird wissen, wie geisterhaft nachhaltig und bis in’s Unendliche befruchtend Schriften auf uns wirkten, welche wir in der Jugend zu lesen Gelegenheit hatten, wie da gewisse Anschauungen, gewisse Stylweisen uns elektrisirten, und selbst die Art des Druckes, das Papier, bis auf die Stelle der einzelnen Seite, magisch an uns wirkte, wie wir es später bei den geschmackvollsten und prunkendsten Illustrationen nicht mehr empfanden. Jenes Buch aus der Lavaterschen Schule war noch dazu ein gutes Buch. Indem Gutzkow noch jetzt sich begeistert fühlt, da er uns eine Stelle aus jener Schrift citirt, so legt er zugleich damit dar, daß die Wahrheit, die Schönheit, das Göttliche von keiner Zeit abhängig sind; es steigert sich uns bei dieser Gelegenheit aber auch zur Gewißheit, daß die moderne Aufklärung und zumal ein ganz bestimmter, altkluger Rationalismus eine Trockenheit der Lebensansichten, eine Dürre des Gemüths und Dürftigkeit des Geistes hervorgebracht haben, welche nach vielen andern Seiten hin höchst nachtheilig auf die Kultur wirken mußten.

Fährt der Dichter so fort, wie er in seinem Buche „Aus der Knabenzeit“ angefangen hat, uns sein Leben zu beschreiben – wozu wir ihn hiemit auf’s Dringendste auffordern – so erhalten wir eine Bildungsgeschichte, welche sich dem Werthvollsten, Anziehendsten ebenbürtig anreiht, was wir nur je auf solchem Gebiete empfangen haben. Wer so viellebig nach allen Richtungen hin ist, wie Gutzkow, wer so reich ausgestattet und unabhängig ist, seine Existenz auf die Unerschöpflichkeit geistigen Hervorbringens zu gründen, der wird uns in seiner Biographie ein Gemälde aufrollen, welches uns zugleich das Jahrhundert vorführt, ohne die Verengungen der Auffassung, welche Einseitigkeit und amtliche Stellung bei solchen Darstellungen nicht selten veranlassen.

16. Ernst Fritze (Luise Reinhardt), Abend-Zeitung, 22. Juli 1852#

5.1.2.16. Ernst Fritze [d.i. Luise Reinhardt]: Aus der Knabenzeit von K. Gutzkow. In: Abend-Zeitung. Dresden, Leipzig. Nr. 4, 22. Juli 1852, S. 58. (Rasch 14/30.52.07.22N)

Von einem gewissen Standpunkte aus betrachtet müssen wir dies Buch für ein Meisterwerk erklären, denn der Verfasser hat unstreitig consequent und ganz vortrefflich das durchgeführt, was Vorsatz bei dem Entwurfe des Werkes war. Der Charakter des Ganzen – in dem Schwankenden und Mysteriösen traumhafter Reminiscenzen sich verlierend – ist durchweg ausgeführt. Die Tagesereignisse, mit unsichtbarem Zusammenhange, wie Ringe in einander gerollt, nehmen den Leser nach und nach gefangen, daß er sich gleichsam in weichen Träumereien der Jugend versenkt fühlt. Wir führen als Beispiel dafür nur: pag. 44–49 an. Und in wie feinen Nüancirungen gibt er die dem Knaben eingeprägten Erlebnisse wieder, wenn gleich durch spätere Berichtigungen geklärt und ergänzt, wie schön führt er ohne Gespreiztheit und Eigenliebe seine eigene Persönlichkeit an dem Faden großer Ereignisse gelegentlich fort! Eben so trefflich schienen uns die einzelnen Episoden eingewebt, die periodisch in diese Knabenzeit fallen, und die Manier, womit die rauhe verletzende Wirklichkeit rohen Uebermuthes überkleidet und idealisirt wird, ist befriedigend und versöhnend, ganz dem Sinne des Knaben gemäß, welcher geneigt ist, Ausbrüche von Muthwillen für Heroismus gelten zu lassen. Daß in dem Werke manche auf spätere Beobachtungen gestützte Wahrheiten z. B. p. 210–218 enthalten sind, gereicht ihm, obwohl dem Titel etwas abnorm, mehr zum Lobe, als zum Tadel.

Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß flüchtigen Lesern der Faden schattenhaft und verschwimmend erscheinen muß, allein es ist nicht Schuld des Autors, wenn es dem Leser einfällt, ohne die richtige Sammlung des Geistes und des Gemüths ein Buch zu durchfliegen, das der Kategorie jener Belletristik, die von romanhaften, voraussichtlich langweiligen Situationen strotzen, gänzlich fern steht. Wir empfehlen zu einer richtigen Würdigung und zu einem wahrhaften Genusse für diese Lectüre eine Stunde stiller Sammlung.

5.1.2.17. M[ax] K[urnik]: Literarische Streifzüge. Karl Gutzkow. – Karl Beck. – Max Waldau. In: Schlesische Zeitung. Breslau. Nr. 204, 28.07.1852, [S. 2]. (Rasch 14/30.52.07.28N)

[In Arbeit]

18. The Westminster Review and Foreign Quarterly Review, July 1852#

5.1.2.18. [Anon.:] Contemporary Literature of Germany. [Darin „Recollections of Boyish Days“ („Aus der Knabenzeit“).] In: The Westminster Review and Foreign Quarterly Review. London. New Series, Vol. II, No. 1, July 1852, S. 304. (Rasch 14/30.52.07.1N)

We are indebted to Mr. Gutzkow for a pleasant book, his „Recollections of Boyish Days“, but we cannot but wish he had not thought it necessary to hang round these recollections so many fanciful garlands and arabesques, that it is sometimes almost as difficult to make out what they actually are, as to unriddle the story of one of Mr. Dickens’s novels from the allegorical illustrations of the frontispiece. His sentences, too, are often so encumbered with epithets, that it is not easy to assign to subject, object, and predicate, their due share – and it becomes necessary to stop and clear away some of them before we can ascertain which way we are going. In describing the scenes in which his childhood was passed, the author has found occasion to afford us some valuable glimpses into the character and mode of life of the working classes of his native city, Berlin, and the interest of the picture would have been still stronger had he felt sufficient confidence in its attraction to have left it in the unadorned simplicity of truth.

19. B., The Literary Gazette and Journal of the Belles Lettres, Science, and Art, 28. August 1852#

5.1.2.19. B.: Dr. Carl Gutzkow. (From a Correspondent in Munich.) In: The Literary Gazette and Journal of the Belles Lettres, Science, and Art. London. Nr. 1858, 28. August 1852, S. 657-658. (Rasch 14/30.52.08.28N)

Autobiography and memoirs are not prevalent in German literature, and but rarely an author has adopted that style of writing to give us particulars of his life or that of others. Goethe, to our recollection, was the first man who wrote his biography, but his ‘Dichtung und Wahrheit’ is, what the title denotes, truth and fiction interwoven, such as at his time of life he was perhaps unable to sift. His example was followed in some way by Varnhagen von Ense, who has published several volumes of his ‘Denkwürdigkeiten’ – the German word for Memoirs, which, as foreign, he scorns to adopt. What more he has to say of his eventful life will appear after his death, when those contemporaries [658] who could be hurt by his communication will likewise no longer exist. In the same track as his two renowned predecessors we now see Dr. Karl Gutzkow, the greatest author Germany can boast at this moment. He has published the first volume of his autobiography, which comprises the years from 1811 to 1821, the boyhood of the author, which he passed at Berlin, his native town, the description of which he gives us with graphic definiteness and artistic skill. In the manner of dissolving views, we see every place and every building pass before our mind’s eyes; the palace and the cottage follow each other; the hero and the artisan, and life in its various phases, we meet here. Perfect truth is the pervading tone of the book; nothing is added, nothing omitted; his origin, his parents, the little room where he saw the light of day, the humble condition in which he was born. Gutzkow is now a man of about forty, in the prime of his life; the recollection of the past is still vivid in his mind, and he sees the scene of his early youth with perfect distinctness. The style and the colouring are therefore all the man and the poet had to bestow on it, to make it valuable as a masterpiece of art of its kind, and valuable too as setting an example to other men of talent to induce them to tell us their tale of sorrow and of pleasure, and to teach us by their experience to suffer and endure as they probably have done. Though this is Gutzkow’s first autobiography, it is not the first biography he has written. This singularly gifted man has distinguished himself in every branch of literature, and the poet, the critic, and the novel-writer have met with equal approbation from the public. The complete collection of his works, however, contains some biographical sketches, which belong to the best we ever met with, and amongst them is a life of Börne, which is as good a picture of the man as Thomas Carlyle could draw. He has written besides most valuable essays, contained in the ninth and tenth volumes of his works, and these excellent disquisitions on literature, art, politics, and education prove amply that Gutzkow the poet might as well be Gutzkow the statesman, and in a free country would certainly have risen to fill a place under government, where he might have been most useful to his country.

The following passages may give an idea of the style of the book before us, ‘Gutzkow’s Knabenjahre’. He introduces himself thus: –

“The child seizes confidently the hand of the reader. Come with me, it says; I will lead you. Where? It could answer, thirty or forty years back; but it says, I will lead you straight on to the beginning of eternity and of everything, which you must know if you will but listen to the soft beatings of your own heart. I will lead you back to the time of childhood.

“The scene of my tale, which is a truer one than any history can give, is a dark little chamber. You know the place where the Christmas tree is carried, when its lights are extinguished.”

In this small room Gutzkow was born. His father held an office in the royal stables; his mother was a nice, kind-hearted woman, and the aspect of a family life in that sphere must be a very interesting picture to an English reader, particularly with regard to its religion, which formed the mainspring of all their actions. We will give a passage from that chapter:

“A home education of that religious tendency very naturally offered only religious books by way of recreation. The Bible and the Prayer-book were my first reading, to satisfy my craving after knowledge. In the Bible was written, according to the habit of the lower classes, the ‘chronik’ of the house, the marriage-day of my parents, the birth of the children, and their godfathers and godmothers. The people feel in some respects like the nobility. They dislike to be lost amongst the many, and to be forgotten as if they never had existed. They keep an account of all their property, however small its compass may be. In this Bible everything had an attraction for me, even the red print of the titlepage.”

And again he says: –

“The Bible is to the people the whole of human life, from the fabulous time of childhood until the theosophical inquisitiveness into our future state. But the Bible, too, gives him the first idea of sin and passion. The Bible is the Paradise, but also the tree of knowledge and the tempting serpent. Before the boy becomes aware of the impulse of his sensual nature, the Bible has thrown temptation into his heart. When reading at school certain chapters are omitted; his curiosity is thus excited, and his companions point out to him those passages where the picture of depravity and lewdness is drawn with oriental colouring. Moments like these in our education we must regard as intended by nature to form a leaf in the book of our life. It is Christianity, with its whole historical development, that teaches us to stand, to go, to run, to think, to feel, to act, to do, and not to do. With this salubrious and again dangerous tintura aurea our whole blood is mingled. To part here would cause a revolution which might reach farther than the migration of nations has done.

“Out of the great family Prayer-book every Sunday afternoon a long sermon was distinctly read. Besides this the little boy had a favourite reading-book of his own. This was a single volume of sermons printed in a particular fashion. This book had a singular charm for the juvenile reader. It was well bound, and the inside of the covering bore a crest of the family of Steiner, from Winterthur, in Switzerland, on which two arms held up a stone. This book was edited by Hafeli, in Switzerland, 1782, and written by a clergyman of Lavater’s school. It was called ‘Sermons and Extracts from Sermons.’ Excellent book! which raised the soul of the child as on angels’ wings to heaven! Such power and loftiness of thought, with poetry and love interwoven!”

20. hhr., Deutsches Museum, 1. September 1852#

5.1.2.20. hhr.: Literatur und Kunst. [„Aus der Knabenzeit“ von Karl Gutzkow und „Ein Jugendleben“ von Bogumil Goltz.] In: Deutsches Museum. Leipzig. 1852, Bd. 2, [Heft 17, 1. September], S. 379-382. (Rasch 14/30.52.09.01)

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit

Tönt ein Lied mir immerdar“ –

Wer kennt es nicht, das ursprüngliche, das urewige, das Schwalbenlied der Jugend, das Lied der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese der Kindheit?! Durch alle Zeiten und bei allen Völkern tönt es fort und findet seinen Wiederhall in jedem Herzen; selbst in einer Zeit, welche den materiellen Interessen so hingegeben, und in einer Literatur, in welcher die verstandesmäßige Tendenz dermaßen vorwaltet, wie es bei uns der Fall ist, bricht es plötzlich, unerwartet hervor, wie ein Nothschrei, mit dem die verirrte, die heimathlos umhergetriebene Welt sich selbst zurecht zu finden sucht. Vor wenigen Monaten, fast in derselben Woche, sind bei uns zwei Werke erschienen, welche, völlig unabhängig von einander und bei einer Verschiedenheit der Autoren, die gar nicht größer gedacht werden kann, doch beide dasselbe Thema behandeln und in demselben Gefühl der Sehnsucht nach dem Glück der Jugend und ihren verlorenen Seligkeiten ihren Ursprung haben: Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. Frankfurt a. Main, Literarische Anstalt. (J. Rütten.) 1852. und Ein Jugendleben. Biographisches Idyll aus Westpreußen. Von Bogumil Goltz. Drei Bände. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1852.

Wenn wir freilich die Versicherungen des Herrn Gutzkow wörtlich nehmen [380] wollten, so wäre es ihm in diesem neuesten Werke seiner Muse gar nicht um die Geschichte seiner Jugend zu thun gewesen; seine eigene Person, versichert er uns, sei ihm bei Abfassung des Buches so gleichgiltig gewesen, daß er sich ausdrücklich gegen die Auslegung verwahrt, als hätte er ein Entwicklungsbild von sich selbst entwerfen wollen. Nicht sein Jugendleben habe er zu schildern beabsichtigt, sondern nur den Schauplatz dieses Jugendlebens; es sollen, nach der Absicht des Verfassers, Beiträge sein zur Charakteristik Berlins, zunächst desjenigen Berlins, wie dasselbe sich vom Schluß der Freiheitskriege bis zum Jahre zwanzig gestaltet hatte. Der Verfasser will mit seinem Buche dem üblen Ruf entgegentreten, dessen Berlin im übrigen Deutschland genießt; in der Geschichte seines eigenen kleinen Jugendlebens will er den Beweis liefern, daß das Innere des Berliner Lebens keineswegs so kalt verständig, so gemüthlos und ohne Ursprünglichkeit ist, wie man gemeiniglich glaubt und wie die Berliner sich wohl selbst zu geben lieben, sondern daß auch hier, wenigstens in der bescheidenen Stille des häuslichen Lebens, ein frischer Quell echter und wahrhafter Gemüthlichkeit sprudelt, dessen wohlthätige Spuren sich auch späterhin niemals ganz abwaschen oder entstellen lassen, auch nicht einmal von denen, die es selber wünschen.

Wir glauben gern, daß dies der nächste Ursprung des Buches und daß es dem Verfasser wirklich mehr um den guten Ruf seiner Vaterstadt als um eine Verklärung seiner eigenen Jugendgeschichte zu thun gewesen ist. Wirklich ist diese letztere so einfach, so arm an Abenteuern und Ereignissen im gewöhnlichen Sinne des Wortes und dabei auch äußerlich so eng begrenzt, daß es der ganzen Kunst des Erzählers und der vielfach eingelegten Episoden und Reflexionen bedurft hat, unser Interesse in Thätigkeit zu erhalten. Selbst mit dem Auge des Kindes gesehen, das bekanntlich wie das Schmetterlingsauge Alles, was es erblickt, ins Wunderbare vergrößert, würde diese Welt der Gutzkow’schen Kindheit noch immer ziemlich klein und unbedeutend erscheinen; wir dürfen dem Verfasser daher auch keinen Vorwurf daraus machen, daß er, besorgt um die Unterhaltung seiner Leser, Standpunkte und Anschauungen mehrfach vertauscht und seiner eigenen Kindheit nicht selten Wahrnehmungen und Betrachtungen unterschiebt, in denen wir ohne Weiteres die scharfe Beobachtungsgabe des gereiften, vielerfahrenen Mannes erkennen.

Allein so bereitwillig wir dies zugestehen, so unzweifelhaft erscheint es uns auch, daß das Buch wenigstens nicht aus dieser Absicht allein hervorgegangen ist, sondern daß der Verfasser, bewußt oder unbewußt, damit zugleich auch ein sentimentales Bedürfniß seines eigenen Herzens hat befriedigen wollen. Hat doch auch kaum ein anderer moderner Schriftsteller die – wahren oder vermeintlichen – Eigenthümlichkeiten und Gebrechen seiner Heimath sich müssen so häufig vorrücken lassen, als Gutzkow seine Berliner Herkunft, und spricht er doch am Schlusse seines Vorwortes selbst mit schlechtverhehlter Wehmuth von dem geringen Glück, das er gemeiniglich in der Würdigung seiner Herzensmotive gehabt habe! Auch übrigens tritt diese sentimentale, wehmüthige Stimmung in dem Buche ziemlich deutlich hervor; es ist darin, wenigstens an manchen Stellen, eine Innigkeit des Gemüths und eine Wärme der Empfindung, der Verfasser vertieft sich in die kleinen Leiden und Freuden seiner Jugend mit einer Unbefangenheit und Innigkeit, wie man sie ihm, diesem angeblichen „Berliner als solchem“ kaum zugetraut hätte. Wir müssen sogar bedauern, daß er sich diesem Zuge seines Herzens nicht noch unbefangener und mit noch größerer Freiheit überlassen hat. Auf uns wenigstens macht jener Ton der Selbstverspottung, [381] den er statt dessen zuweilen anschlägt, mit seinen absichtlichen scherzhaften Uebertreibungen, oder wie der Verfasser es bezeichnet, jener bekannte aufgebauschte Ausdruck des komischen Heldengedichtes, welcher sich hier und da eingeschlichen hat, keine ganz glückliche Wirkung. Poet oder Geschichtschreiber, gleichviel, jeder Autor muß zunächst Ehrfurcht vor seinem eigenen Gegenstande bezeigen, wenn derselbe vom Leser respectirt werden soll; wie sollen wir beim Lesen warm werden, wenn wir sehen, daß der Verfasser selbst sich seiner eigenen Wärme schämt, sich und uns, mitten in unserer besten Begeisterung, absichtlich das kalte Wasser der Persiflage über den Kopf gießt?! – Vortrefflich dagegen sind die zahlreichen Partien des Buches, in denen uns der Verfasser mit scharfem Griffel einzelne bestimmte Personen und Zustände seiner Umgebungen zeichnet; wir können vielleicht bedauern, daß die Kunst des Malers hier zum Theil an so kleine Objecte verschwendet ist, diese Kunst selbst aber müssen wir anerkennen. Auch ist vielleicht wenig kindliches Gefühl darin, aber desto mehr männliche Sicherheit; es wird uns aus diesen Studien begreiflich, woher der Verfasser jene Schlurke, jene Melanien, jene Hackert u. s. w. entnommen und wie er überhaupt zu jener Lebendigkeit und Vielseitigkeit der Charakterzeichnung gelangt ist, die wir an den Rittern vom Geist bewundern müssen, – selbst wenn wir die Aufgabe, die der Dichter sich in diesem Romane gestellt hat, nicht für ganz gelöst erachten sollten.

Ganz anders das Buch von Bogumil Goltz. Der Verfasser desselben trat bereits vor fünf oder sechs Jahren mit Schilderungen aus dem Leben und Weben der Kindheit auf, die, so wenig sie auch ins größere Publikum gedrungen zu sein scheinen, doch die Bewunderung und das Entzücken aller Kenner bildeten und noch bis auf diese Stunde bilden. Eine Sonderlingsnatur, schroff, eckig, abenteuerlich, unbekannt mit dem Leben der Wirklichkeit, so viel er sich auch selbst darin umgetummelt und mit so bitteren Enttäuschungen er seine Unkenntniß auch bereits gebüßt, hat Bogumil Goltz sich in den Erinnerungen der Kindheit eine eigene neue Welt geschaffen, deren innerste Geheimnisse er nicht nur mit aufmerksamem Ohr belauscht, sondern uns auch mit seltener Treue und Lebendigkeit wiederzugeben weiß.

Aber wie wir nun einmal alle Geschöpfe unserer Zeit sind und wie der allgemeine Bruch des Jahrhunderts auch durch das reinste, das kindlichste Herz hindurchgeht, so vermag auch dieser Mann, bei all seiner Innigkeit, all seiner Gemüthstiefe, all seinem erbitterten Haß gegen dies verstandeskalte, reflexionssüchtige Zeitalter, gleichwohl sich selbst von diesem Hange zur Reflexion und nüchternen Verständigkeit nicht frei zu halten; im Gegentheil hat derselbe, wie das vorliegende Buch beweist, auf eine höchst bedenkliche Weise die Oberhand bei ihm gewonnen. Seltsamer Gegensatz und noch seltsamere Ergänzung! Der verstandesklare, scharfsinnige Verfasser der Ritter vom Geiste kann sich der Sentimentalität, Bogumil Goltz, dieser begeisterte Lobredner des Gemüths und der kindlichen Unmittelbarkeit, kann sich der Reflexion nicht erwehren! – Auch Bogumil Goltz schildert uns sein eigenes Jugendleben, wiewohl in größerer Ausdehnung als Gutzkow, indem er das Idyll seiner Jugend bis zu seiner allerdings sehr frühzeitigen Verheirathung fortführt. Der Schauplatz ist Ostpreußen; wer aus den frühern Schriften des Verfassers die außerordentliche Stärke kennt, welche er gerade in der Schilderung von Naturscenen und ländlichen Zuständen besitzt, wird sich leicht vorstellen können, welchen Reichthum der überraschendsten und lebensvollsten Gemälde er uns auf diesem fremdartigen und doch so charakteristischen Boden entfaltet.

[382] Aber gerade diese überströmende Fülle seines Talents wird ihm andrerseits auch zum Verderben; er fühlt sich als reicher Mann und wirthschaftet nun frisch darauf los, unbekümmert ob seine Verschwendung einen guten Geschmack zeigt oder einen schlechten. Und leider bilden die Fälle der letzteren Art die Mehrzahl. Bogumil Goltz’ Talent ist bei allem Reichthum roh; es entbehrt der gleichmäßigen Bildung, die nur durch Selbstbeschränkung und ein ernstes, gewissenhaftes Studium der besten Muster gewonnen werden kann. Aber Goltz hat sichtlich nicht einmal den Willen sich zu bilden; von dem ganzen Stolz und Eigensinn besessen, der derartigen Autodidakten anzukleben pflegt, fühlt er sich offenbar wohl in dieser Verspottung aller künstlerischen Einheit und Anordnung, ja er ist stolz darauf und würde es für einen Rückschritt halten, wollte er sich von dieser subjectiven Willkür, diesem geschmacklosen Durcheinandermengen des Hundertsten ins Tausendste zu einer einfach begrenzten Darstellung gewöhnen. Daher begegnet es ihm auch, daß er regelmäßig in dieselben Fehler verfällt, die ihm an Andern so unleidlich sind und um derenwillen er auf unsere ganze Gegenwart so schlecht zu sprechen ist: er haßt die Reflexion – und jedes zweite Wort bei ihm ist Reflexion; er verspottet die Willkür unserer modernen Schriftsteller – und er selbst ist manierirt durch und durch, bis in die Sprache hinein, die sich bei ihm zum Theil die gewaltsamsten und häßlichsten Verrenkungen gefallen lassen muß; er schwärmt für Ursprünglichkeit und Naturwüchsigkeit und verachtet Jeden, der nicht frisch aus vollem Holze gewachsen ist – und bietet selbst, in der Unreife und Disharmonie seines ganzen Wesens, ein Bild unserer zerrissenen, zwitterhaften Cultur, so deutlich und so erschöpfend, wie man nur immer wünschen kann. Seltsamer Gegensatz auch darin! Gutzkow repräsentirt, sowohl nach seinem Gedankeninhalt als wie nach seiner künstlerischen Ausbildung, den Gipfel dessen, wozu unsere heutige Cultur es bringen kann – und siehe da, von dem Gipfel dieser Cultur steigt er absichtlich herab zu der Einfachheit und Einfalt seiner ersten kindlichen Erinnerungen, er wehrt sich ordentlich gegen die öffentliche Meinung, die seine schriftstellerische Thätigkeit vornämlich als ein Product der Cultur erkennt, und hängt sentimentalen Gedanken nach, die ihren Reiz heutzutage eigentlich nur noch aus der Kraft des Gegensatzes schöpfen. Und auf der anderen Seite dieser Bogumil Goltz, der in dem Wahne lebt ein geistiger Autochthone zu sein in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Welt die Kindheit und der ein Kind in der Welt, weichmüthig, träumerisch, Verächter der Cultur – und gleichwohl überwuchert von den bedenklichsten Entartungen derselben, reflectirt, wo er sich selbst für naiv, zerrissen und verbittert, wo er sich selbst für harmonisch und in sich befriedigt hält, ein karrikirter Ausdruck derselben Epoche und derselben Bildungszustände, die er übrigens so tief verachtet!

Was indeß die beiden vorliegenden Werke betrifft, so hat wenigstens für diesmal die Cultur über die Ursprünglichkeit den Sieg davon getragen. Das Gutzkow’sche Buch läßt sich, trotz mancher Längen, doch im Ganzen recht angenehm lesen, während das Buch von Goltz, trotz der prächtigen Goldkörner, die uns im Einzelnen daraus anblinken, doch den schlimmsten Fehler hat, den ein Buch haben kann: es ist langweilig. Auf die Hälfte oder ein Drittel seines Umfangs gebracht und dabei auch innerlich zu größerer Einheit zusammengerückt, hätte es ein höchst bedeutendes Buch werden können: denn der Stoff dazu ist jedenfalls darin –; wie es dagegen jetzt vorliegt, müssen wir zweifeln, daß es dem Ruhme des Verfassers viel verdienten Zuwachs bringen wird.

21. Neue Preußische [Kreuz-] Zeitung, 4. September 1852#

5.1.2.21. [Anon.:] Aus der Knabenzeit von Karl Gutzkow. In: Neue Preußische [Kreuz-] Zeitung. Berlin. Nr. 205, 4. September 1852, [S. 3-4]. (Rasch 14/30.52.09.04)

Der Verfasser der Vally [sic], der Schöpfer des Bandwurms, genannt „die Ritter vom Geist“, hat es nicht über’s Herz bringen können, das für ihn begeisterte Deutsche Publicum im Unklaren über seine Herkunft zu lassen. Der Vater des berühmten Karl Gutzkow war Bereiter bei den Pferden Sr. Kgl. Hoh. unseres unvergeßlichen Prinzen Wilhelm von Preußen, er folgte seinem Prinzen in den Feldzügen der drei großen Jahre und scheint ein braver, wiewohl etwas wunderlicher Mann gewesen zu sein, den noch Viele als Kanzleidiener im Königl. Kriegsministerium gekannt haben, was der Vater des großen Gutzkow in seinen spätern Jahren war. In einzelnen Räumen des Königlichen Akademie-Gebäudes befanden sich früher die Ställe des Prinzen Wilhelm, dort ist Karl Gutzkow geboren. Es ist nun wohl Einiges ganz interessant, was Herr Gutzkow aus seiner Jugend erzählt, aber er erzählt es mit einer so unausstehlichen Suffisance und ersäuft es dergestalt in widerwärtig lauwarmem Geschwätz, daß es kaum möglich ist, das Buch zu Ende zu lesen. Schmachvoll erscheint uns besonders die frivole Art und Weise, in der dieser berühmte Demokrat von dem unvergeßlichen Prinzen Wilhelm und der frommen Prinzessin Marianne Wilhelm spricht, er wundert sich selbst an einer Stelle über den Mangel an Dankbarkeit, der allerdings bei jeder Erwähnung des Prinzen hervortritt. Wir haben längst aufgehört, uns über irgend etwas an Herrn Gutzkow zu wundern. Die Ausfälle auf die Kreuzzeitung sind das Einzige, wofür wir Herrn Gutzkow dankbar sind. – Die eitelste und flachste Selbstgenügsamkeit bedroht uns noch mit einem „Aus der Jünglingszeit“. Wir hoffen, daß Herr Gutzkow noch aus der Zeit her, wo man ihn für einen passabel geistreichen Schriftsteller zu halten pflegte, einige Freunde hat, die ihn abhalten, weiter zu schreiben. Die demokratischen Broschüren aus dem Jahre 1848 waren besser als die armen Ritter vom Geist, und diese Don Quixotes ohne Humor waren noch immer Riesen gegen den Knaben Gutzkow: er geht immer abwärts; uns graut vor dem Jüngling.

22. Adolf Zeising, Gutzkow und Koenig, Blätter für literarische Unterhaltung, 2. Juli 1853#

5.1.2.22. Adolf Zeising: Gutzkow und Koenig. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Nr. 27, 2. Juli 1853, S. 625-638. (Rasch 14/30.53.07.02)

1. Aus der Knabenzeit. Von Karl Gutzkow. Frankfurt a. M., Literarische Anstalt. 1852. 1 Thlr. 20 Ngr.

2. Auch eine Jugend. Von Heinrich Koenig. Leipzig, Brockhaus. 1852. 8. 1 Thlr. 22 Ngr.

Selbstbiographien werden von Vielen mit Mistrauen, mit Widerstreben aufgenommen. Daß ein Dichter viele Jahre hindurch aus der Schatzkammer seiner Phantasie dem Volke goldene Spenden zuwirft, daß er für dasselbe alle Regionen der Natur, alle Sphären der Gesellschaft, alle Zeiträume der Geschichte auszubeuten und das glücklich Gefundene im Gewande der Schönheit ihm vorzuführen sucht, daß er im Wunderquell seiner Poesie, aus dem Alles verjüngt, verklärt, idealisirt hervorgeht, mit beharrlicher Selbstverleugnung den größten Theil seines Lebens hindurch nur fremde Gestalten, nur fremde Lebensbilder sich baden läßt: das läßt sich das Publicum wie etwas das sich von selbst versteht ruhig gefallen und fühlt sich dafür wol kaum zu einem Danke, zu einer Anerkennung gemüßigt. Wenn aber der Dichter endlich auch einmal daran denkt jenes verjüngende Band seinem eigenen Leben zugutekommen zu lassen und denselben Lesern, die er so oft mit fremden Geschichten unterhalten und ergötzt hat, von seiner eigenen Entwickelung, seinen eigenen Erfahrungen zu erzählen, dann bringen ihm gar viele derselben taube Ohren und verschlossene Herzen entgegen und nehmen dieselben Stoffe, dieselben Schilderungen, die in einem Roman, in einem Schauspiel vielleicht ihr lebhaftestes Interesse in Anspruch genommen hätten, mit Lauheit, ja mit Kälte auf. Und warum das? Welche Vorstellungen mögen dabei zugrundeliegen? Ich glaube daß dieselben gar verschiedener Art sind. Der Eine mag die Selbstbiographien nicht, weil er Dichtung, aber keine Wahrheit will; ein Anderer, weil er darin nur Dichtung und keine Wahrheit erwartet; ein Dritter, weil er fürchtet in ihr ein schillerndes Gewebe von Wahrheit und Dichtung oder ein Zwittergeschöpf das weder Wahrheit noch Dichtung ist zu erhalten. Ein Vierter verschmäht sie wol, weil er meint: was kann ein einfaches Dichterleben, das sich wenigstens heutzutage in der Regel nicht weit von seinen Schulbänken, seinen Lesezimmern, seinem Schreibtisch verläuft, viel des Interessanten, des Spannenden bieten? Ein Fünfter kommt ihnen wol auch mit einem Vorurtheil moralischer Art entgegen, er wittert dahinter eine Eitelkeit, Selbstgefälligkeit, Selbstüberschätzung und möchte dieselbe gern mit einer Nichtachtung von seiner Seite bestrafen, oder erblickt darin wenigstens ein ihn in Schatten stellendes Selbstgefühl, die Herausfoderung einer Anerkennung, die der Autobiograph dem freien Ermessen des Lesers, dem kritischen Urtheil eines Literarhistorikers hätte überlassen sollen.

Gewiß liegt in allen diesen Vorstellungen etwas Wahres, und in nicht wenigen Fällen wird das Publicum Recht haben, für ein solches Geschenk à la Aeschines, der bekanntlich dem Sokrates in Ermangelung anderer Gaben sich selbst schenkte, bestens zu danken. Trotzdem ist das weitverbreitete Vorurtheil gegen die ganze Gattung der Selbstbiographie ein ungerechtes und beruht mehr auf einer Seichtigkeit oder Verwöhntheit des Geschmacks als auf irgendwie triftigen Gründen. Ist die Selbstbiographie und insbesondere die eines Dichters Das [626] was sie sein soll, eine zugleich treue und erklärende Darlegung der innern und äußern Lebensentwickelung, dann vereinigt gerade sie in sich eine Masse von Vorzügen und Reizen die sich nicht leicht in einer andern Darstellungsform beisammen finden; denn es verschmelzen sich in ihr auf die natürlichste und ungezwungenste Weise die anziehendsten Eigenschaften der historischen und der poetischen Darstellung und sie bietet überdies reichlich Gelegenheit dar, mit diesen noch die Lichtseiten der philosophischen Anschauungsweise zu verbinden. Wenn es nämlich Aufgabe der Geschichte ist einen größern oder kleinern Ausschnitt des Geschehenen streng der Wahrheit gemäß nach dem innern und äußern Zusammenhange darzustellen, so vermag dies keiner besser zu leisten als der Selbstbiograph, da er im Verhältniß zu seinem Object natürlich weit besser unterrichtet ist als irgend ein anderer Geschichtschreiber zu dem seinigen, indem er nicht blos im Besitze der äußern Thatsachen und Ereignisse ist, sondern auch die innern Motive und die zarten Fäden wodurch dieselben in Bewegung gesetzt werden kennt. Freilich muß der Biograph auch wahr sein wollen; er muß Aufrichtigkeit, Unbefangenheit und Selbstkenntniß genug besitzen, um nicht, statt wahr zu sein, mit sich schön thun, sich als wichtig und interessant hinstellen zu wollen; besitzt er aber diese Eigenschaften und steht sonst nicht an Qualification hinter andern Geschichtschreibern zurück, so ist er dadurch daß er es zunächst und vorzugsweise mit sich selbst und seinem eigenen Leben zu thun hat, entschieden vor den übrigen im Vortheil und wird verhältnißmäßig etwas Gediegeneres und Zuverlässigeres als sie liefern können. Besteht aber andererseits die Aufgabe des Dichters darin, einen Kreis von Erscheinungen oder Begebenheiten als schön und interessant darzustellen, so ist auch dies dem Selbstbiographen im Ganzen weit leichter gemacht als dem mit andern Objecten beschäftigten Dichter. Ein mal hat er von vornherein ein concretes, aus der unmittelbarsten Wirklichkeit geschöpftes, selbst erlebtes Lebensbild vor sich und braucht sich also nicht in misliche Erfindungen, die so leicht in das Gebiet der innern Widersprüche und Unwahrheit gerathen, einzulassen; sodann leitet ihn durch all die labyrinthischen Verschlingungen der Lebenswege von Anfang bis zu Ende ein sicherer Faden und läßt ihn sich so leicht nicht auf jene Irrwege verlieren, denen der Dichter bei freiern Schöpfungen so leicht ausgesetzt ist, und endlich fehlt es seiner Vorlage von Anbeginn nicht an der nöthigen Begrenzung, welche die wesentlichste, aber auch am schwersten zu erfüllende Bedingung jedes Kunstwerks ist. Dabei ist ihm, ohne daß er darum der Wahrheit zu nahe zu treten brauchte, gestattet, Alles im Lichte der verklärenden und verschönenden Idee, gleichsam im vergoldenden Abendsonnenglanz der Erinnerung erscheinen zu lassen, die ohnehin das schlechthin Geringfügige und Gemeine mit ihren Schatten und Nebeln bedeckt, um das Wesentliche und Bedeutsame desto effectvoller daraus hervorzuheben. Freilich muß der Selbstbiograph hierzu die Gabe der poetischen Darstellung im vollsten Maße besitzen, er muß namentlich im Stande sein, nicht blos das Große, Augenfällige, Imposante, sondern auch das Kleine, Unscheinbare, Uebersehene als interessant, bedeutsam und von dem Zauber der Schönheit durchdrungen hinzustellen, er muß wie ein geschickter Maler aus verachteten Kräutern, die der profane Wanderer mit Füßen tritt, einen üppigen, reichen Vordergrund, aus einigen blauen Bergen mit schmalem Durchblick in die unendliche Weite der Welt einen Sehnsucht erweckenden Hintergrund schaffen können und einer schlichten Hütte mit ein paar Bäumen und einem spielenden Knaben darunter die Bedeutung eines fesselnden Mittelpunkts zu geben vermögen. Kann er aber dies, besitzt der Selbstbiograph diese dem Dichter überhaupt unentbehrlichen Eigenschaften, dann bedarf er, um etwas wirklich Schönes zu liefern, keiner glänzenden Herkunft, keiner Beziehungen zu berühmten Thatsachen oder Persönlichkeiten, keiner großartigen Lebensschicksale, keiner haarsträubenden Katastrophen, er braucht keine Städte umgerissen, keine Drachen erlegt, keinem Menschenfresser das Handwerk gelegt zu haben, sondern es genügt dazu ein schlichtes, einfaches, dem gewöhnlichen Auge als gewöhnlich erscheinendes Leben; denn ein jedes Menschenleben birgt in sich so viel des Bedeutsamen und Interessanten, so viel innere und äußere Kämpfe, so viel Räthsel und Lösungen, so viel Hoffnungen und Enttäuschungen, so viel Leiden und Freuden daß es eben nur ein Dichter mit der Camera obscura, dem innern Auge seiner poetischen Erinnerung aufzufangen und mit seinem künstlerisch geübten Griffel wiederzugeben braucht, um es zu einem reichhaltigen, bedeutungsvollen, fesselnden Bilde umzuschaffen. Hat sich daher ein Dichter bereits durch anderweitige Productionen als solcher bewährt, sich bereits durch seine Verarbeitungen fremder Stoffe die Liebe und Theilnahme des Volks gewonnen, dann sollte man auch seinen Selbstbekenntnissen mit gleichem Vertrauen, mit gleicher Hingebung entgegenkommen; denn es wird sich in den meisten Fällen die Erwartung rechtfertigen daß der Schöpfer im Bilde seiner selbst nicht hinter seinen sonstigen Schöpfungen zurückbleiben werde.

In diesem Vertrauen bin ich auch an die beiden uns hier vorliegenden Werke gegangen, und ich muß von vornherein erklären daß sie mich nicht getäuscht haben; denn so verschiedenartig sie auch beide sind, soweit sie auch im Stoff wie in der Behandlung desselben auseinander gehen, so haben sie doch das miteinander gemein daß sich beide den frühern Erzeugnissen beider Dichter naturgemäß und entsprechend anreihen und ganz diejenigen Hoffnungen erfüllen, zu denen einerseits die vorangegangenen Arbeiten Gutzkow’s, andererseits die bisherigen Leistungen Koenig’s berechtigen. […] [627] [...]

[628] […]

Wenden wir uns nun vom Allgemeinen zur speciellern Betrachtung der vor uns liegenden beiden Dichterleben oder, um uns genauer auszudrücken, Dichterjugenden, so werden wir nicht umhin können, zunächst das Verhältniß beider zueinander zu bestimmen; denn da sie beide Erzeugnisse eines und desselben Jahres sind und das Werk von Koenig als das ein wenig später erschienene in seinem Titel selbst eine Beziehung auf das ihm eben vorangegangene zu nehmen scheint, so kann es nicht ausbleiben daß sie trotz ihrer sonstigen Verschiedenheit doch miteinander verglichen und gegenseitig abgewogen werden. Außer denjenigen Unterschieden nun, die sich ohne weiteres aus dem oben bezeichneten verschiedenen Grundcharakter beider Autoren ergeben, scheint sich mir ihre wesentlichste Differenz schon in den Titeln beider Bücher auszudrücken. Gutzkow benennt das seinige „Aus der Knabenzeit“ und deutet damit an daß es sich eben nur auf das Knabenalter bezieht, ja dieses nicht einmal ganz umfaßt, sondern eben nur einen Ausschnitt aus demselben und zwar das erste Decennium, seine Kindheit bis zum Eintritt in die lateinische Schule behandelt. Koenig hingegen nennt das seinige „Auch eine Jugend“, er bietet uns also nicht blos einen Abschnitt aus seiner Kindheit noch auch die Kindheit allein, sondern sein ganzes Jugendleben bis zu seinem einundzwanzigsten Jahre, dem Abschlusse seiner drei ersten Lebensstufen, seinem Eintritt in die Schule des Lebens, d. i. in die Ehe. Außer diesen äußern, jedoch auch als solchen wesentlichen und bedeutungsvollen Unterschieden deuten aber die beiden Titel auch noch einen innern, tieferliegenden an. Gutzkow bezeichnet Das was er liefert nur als etwas „aus“ der Knabenzeit, verspricht uns also nicht geradezu die Entwickelung des Knaben selbst, sondern nur etwas mit dieser Entwickelung Zusammenfallendes, Gleichzeitiges, in Beziehung Stehendes, und er spricht dies noch entschiedener und unzweideutiger in seinem Vorwort aus, wenn er darin sagt: nicht zur Nachahmung der großen Muster in der Autobiographie habe er sein Buch geschrieben; des Verfassers Person sei ihm bei dessen Abfassung in dem Grade gleichgültig gewesen daß er ausdrücklich sich gegen die Auslegung verwahren müsse, als hätte er ein Entwickelungsbild von sich selbst entwerfen wollen. Vielmehr habe er seine früheste Jugend ihrer Thatsachen wegen geschildert und zunächst sei ihm namentlich seines Jugendlebens Schauplatz, Berlin, merkwürdig genug dazu erschienen; dann aber habe er auch Manches von Seelen- und Lebenszuständen darzustellen gehabt was den Erzieher und den Freund des Volks beschäftigen und als ein Beitrag zur „Gesellschaftkunde“ aufgenommen werden könne. Ganz anders Koenig. Dieser bietet uns laut des seinem Buche gegebenen Titels seine Jugend selbst, also gerade Das an wogegen sich Gutzkow ausdrücklich verwahrt, und auch er spricht sich in seinem Vorworte specieller hierüber aus, indem er einerseits die Bedeutung biographischer und namentlich autobiographischer Werke überhaupt hervorhebt, andererseits die besondern Antriebe mittheilt, die auch ihn zur Mittheilung seiner Jugendgeschichte veranlaßt und über alle Rücksicht auf ängstliche, misgestimmte oder gar übelwollende Leser hinweggesetzt hätten. [...] [629] [...]

So also kündigt sich Koenig’s Buch offen und rückhaltslos als ein wirkliches Lebensbild des Autors und zwar zunächst als ein idyllisches Gemälde seiner individuellen, aber von höherer Hand geleiteten Jugendentwickelung an, während uns Gutzkow das seinige nur als eine Darstellung der örtlichen und zeitlichen Zustände sowie der socialen Verhältnisse unter denen er aufgewachsen, also eigentlich als einen Beitrag zur Charakteristik sowie zur Cultur- und Sittengeschichte Berlins bezeichnet. Und hierin besteht nun auch in der That der Hauptunterschied beider Bücher. Zwar ist dies nicht in der Ausdehnung zu verstehen als ob Gutzkow in seiner Schrift durchaus nicht von sich und seiner Entwickelung spräche und Koenig ganz und gar die äußern Umstände und zeitlichen Verhältnisse unberücksichtigt ließe. Vielmehr theilt Jener auch über sich und seine eigene Entfaltung, über sein kindisches Treiben und Gebahren, über seine Spiele, sein erstes Schulleben, seine ersten kindischen Liebesregungen und Freundschaftsbeziehungen Manches von allgemeinerm oder speciellerm Interesse mit, und schon dadurch daß er bei der Schilderung der außer ihm liegenden Verhältnisse zunächst von der Anschauung des Knaben ausgeht und sie gewissermaßen auf seinen Lebensfaden aufreiht, erhält seine Schrift neben der beabsichtigten allgemeinern auch eine biographische, die Subjectivität des Autors betreffende Bedeutung. Und andererseits webt auch Koenig seinem Lebensbilde sehr interessante Schilderungen seines Jugendschauplatzes, der Stadt und des Bisthums Fulda, sowie der damaligen Zeit, der in ihr herrschenden Sitten und der mit dem Knaben in irgenwelche Beziehung tretenden Persönlichkeiten ein, welche Schilderungen umsomehr Beachtung verdienen als sie einerseits viel Eigenthümliches, vom Gewöhnlichen Abweichendes und bisher Unbekanntes bieten, andererseits sich auf eine historisch besonders merkwürdige Zeit, auf die Jahre von 1790–1810 beziehen. Aber trotzdem besteht und bleibt der obenerwähnte Unterschied beider Bücher; denn in dem von Koenig erweist sich stets der individuelle Mittelpunkt, in dem von Gutzkow stets die elementarische Sphäre als Dasjenige was vom Autor als Hauptsache behandelt und wovon der Leser am meisten angezogen wird. In Koenig’s Gemälde erscheint der Knabe, der Jüngling als das eigentliche Bild, alles Uebrige nur als der zwar bedeutsame, aber doch nur dem Hauptzweck dienende Hintergrund; in Gutzkow’s Tableau hingegen machen die Gebäude, die Plätze, die Straßen, sowie die nächsten Umgebungen Berlins mit dem daselbst herrschenden Leben und Treiben das eigentliche Bild aus, und der im Vordergrund befindliche, sich alles Das anschauende Knabe macht nur den Eindruck einer zwar zur Beachtung auffodernden, aber doch immer nur untergeordneten Staffage. Ein Buch wie das Gutzkow’sche, sofern es sich vorzugsweise auf Objecte bezieht, die mehr oder weniger Jedem zugänglich sind, hätte daher seinem größten Theile nach wol auch von einem Andern geschrieben werden können, freilich nicht in der Art und Weise wie es geschrieben ist, aber doch in Rücksicht Dessen was darin beschrieben wird. Das Buch von Koenig hingegen ist durch und durch, seinem Inhalt wie seiner Form nach, einziges und ausschließliches Eigenthum seines Verfassers, und kein Anderer wäre im Stande gewesen, uns gerade dieses Lebensbild zu liefern, auch Der nicht welcher mit den äußern Thatsachen in diesem Leben bekannt gewesen wäre; denn obgleich auch diese für sich schon viel Besonderes und eigenthümlich Anziehendes haben, so erhalten sie doch erst durch die innern Motive, durch die geheimen Fäden die sie zusammenhalten die wahre und volle Bedeutung oder es gibt, wie Koenig selbst sich ausdrückt, die Mittheilung der Motive zugleich die Hälfte der Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Erlebten, und das Bewußtsein des Erzählenden wird dem Erzählten zur Folie, zum untergelegten Glanzblatt, das den vorübergerauschten Tagen ihre ewige Bedeutung verleiht.

Gehen wir nun zur nähern Betrachtung des Gutzkow’schen Werks insbesondere über, so muß uns natürlich der ausdrücklichen Tendenz desselben gemäß vorzugsweise die Frage beschäftigen, wie sich Berlin mit seinen Zuständen in der Gutzkow’schen Zeichnung darstellt und welchen Genuß und welche Belehrung uns diese Zeichnung zu bieten vermag; und hieran erst wird sich die zweite Frage schließen, welcher Rückschluß sich aus dieser Zeichnung auf Gutzkow’s Persönlichkeit und namentlich auf seine früheste Jugendentwickelung machen läßt.

Im Vorworte klagt der Verfasser selbst darüber daß Berlin Denen die in ihm geboren werden den übelsten Windeln- und Wiegenruf erwerbe, indem die Meinung herrsche, es könne nur gesuchten Witz, kalten Verstand, barste Gemüthsleere hervorbringen; und er gibt zu daß allerdings Berlin neben den tiefern Regungen und gehaltvollern Schöpfungen der übrigen Gebiete Deutschlands immer nur als specifisch Berlinisches seine Eckensteherwitze, seine Kreuzzeitungsfeuilletons, seine Weißbiergemüthlichkeit und die Schusterjungencouplets aus der Friedrich-Wilhelmsstadt gebracht habe. Trotzdem erklärt er daß Berlin nicht ganz so flach sei als es sich gebe und genommen werde, daß es in sich selbst eine weit bessere Entwickelungsfähigkeit besitze, als die speciellen Interessen welche jetzt dort herrschend seien gestatten wollten, daß es nicht so verlassen sei von einer gewissen Ursprünglichkeit, wie es sich in seiner Neigung zur Selbstpersifflage darstelle, ja nicht einmal so kahl, so sandig, so farblos in seiner Natur, wie man nach den allgemeinen topographischen Bedingungen der Mark glauben sollte. Er wünscht daher zur Beseitigung dieses Vorurtheils beizutragen und hofft es werde sein Buch einem bessern Studium nützen und – wenn zunächst auch nur unter den Berlinern selbst – die Ueberzeugung wecken daß Berlin nicht so total unpoetisch, so verstandesnüchtern sei als man glaube.

Eine Apologie, eine Art Rechtfertigung Berlins gegen den herrschenden Ruf ist also der speciellere Zweck [630] des Gutzkow’schen Buchs, und es fragt sich nun wie es diese Aufgabe gelöst hat. Zwar könnte vorher erst noch die Frage aufgeworfen werden, ob denn wirklich Berlin bisher nur in dem einen Lichte gezeichnet und angeschaut sei, ob nicht unter Andern in früherer Zeit durch E. T. A. Hoffmann, in neuerer Zeit durch Wilibald Alexis Berlin nicht nur, sondern auch die ganze sandige Mark Brandenburg bereits eine poetische Verklärung erfahren habe; allein da trotzdem die allgemeine Ansicht über Berlin keine andere geworden ist, so kann wol von jener Frage abgesehen und das Unternehmen des Verfassers als ein zwar nicht neues, aber darum immer noch verdienstliches und keineswegs überflüssiges angesehen werden. Was aber die Ausführung desselben betrifft, so glaube ich zwar nicht daß sie im Stande sein wird, in dem Urtheil über Berlin wirklich einen Umschwung zu erzeugen, ein mal weil ein solches Urtheil, selbst wenn es zum großen Theil Vorurtheil sein sollte, doch viel zu tief in wirklichen, nicht wegzuleugnenden Thatsachen wurzelt als daß es durch eine noch so poetische Schilderung Berlins umgestürzt werden könnte; sodann weil sich gerade in der Art und Weise der Gutzkow’schen Ausmalung das specifische Berlinerthum, namentlich die vom Verfasser selbst als berlinisch bezeichnete Neigung zur Selbstpersifflage nicht undeutlich wieder bemerklich macht und so gewissermaßen allen poetischen Effecten wieder den prosaischen Zopf anhängt; aber dennoch muß die Ausführung im Ganzen als eine gelungene, dem Zwecke entsprechende anerkannt werden, indem es wirklich dem Verfasser geglückt ist, uns den Schauplatz seiner Kindheit und insbesondere die nächsten Umgebungen seiner väterlichen Wohnung, die innerhalb des von außen als Musensitz, im Innern als Pferdestall sich erweisenden Akademiegebäudes lag, mit einer so sinnlichen Frische, mit einem so lebendigen Eingehen in ein reiches und buntes Detail und mit so vielen Gemüth und Geist beschäftigenden Nebenbezügen vor unserer Phantasie vorüberzuführen, daß man sich beim Lesen in der That verwundern muß, so oft an jenen Gebäuden und Räumlichkeiten vorübergegangen zu sein, ohne von dem poetischen Zauber, der nach Gutzkow’s Schilderung darin steckt, auch nur eine entfernte Ahnung gehabt zu haben. Freilich wird Mancher ungläubig die Frage aufwerfen, ob denn jener Zauber auch wirklich darin stecke, ja ob ihn auch nur der Knabe Gutzkow, als dessen Anschauung doch Alles dargestellt werde, darin gefunden habe, oder ob nicht vielmehr das Ganze weiter Nichts sei als ein erst jetzt von Gutzkow, dem Vierziger, in die Luft geblasenes Schaum- und Traumbild der Häcksel in Gold umschaffenden Erinnerung oder gar nur ein Specimen von des Verfassers Virtuosität, eine brillante Etude, die ein paar nichtssagende Noten zu einem reichhaltigen und effectvollen Musikstück ausbeutet, ein poetisches Kunststück, das sich die Aufgabe stellt zu zeigen wie man auch aus Nichts Etwas, aus Schwarz Weiß, aus Fünf Grade, aus einem gemüthlosen Conglomerat von akademischen Sammlungen, Sanskritdruckereien, anatomischen Hörsälen und Cavaleriepferdeställen ein poesiereiches Idyll machen könne. Aber wie dem auch sein möge, mag das Gemälde eine objective oder blos subjective, eine poetische oder blos technische Wahrheit besitzen, der Effect desselben läßt sich nicht wegleugnen, und wer nicht ungerecht sein will, wird zugestehen müssen daß ihm wirklich Berlin durch das Gutzkow’sche Diorama, wenigstens inmitten des Anschauens, in ein ganz anderes Licht gerückt ist und daß er dadurch für eine Masse von Elementen und Momenten desselben eine poetische Anschauung gewonnen hat, die ihm vorher aller Poesie bar und ledig erschienen; und wessen Herz irgend eines poetischen Widerhalls fähig ist, der wird die unverhoffterweise hier entdeckte Poesie auch auf sein eigenes, wenn an sich vielleicht auch noch so dürftiges Jugendleben übertragen und so in objectiver und subjectiver Beziehung dem Buche einen nicht geringen Genuß danken. Daß dabei übrigens nicht Alles von gleichem Werthe, von gleicher Wirkung ist, darauf muß man gefaßt sein. Da denn doch das eigentliche Object nicht immer ausreichend erscheinen mochte, faßt der Autor jede wenn auch noch so fern und flüchtig vorüberhuschende Erscheinung beim Zipfel, um darüber oft recht lange und breite Betrachtungen anzustellen. Was aber bietet sich in einer Stadt wie Berlin nicht Alles dar, was konnte also auf diese Weise nicht Alles in den Bereich des Buchs hineingezogen werden! Allerdings wird es dadurch in Vieler Augen den Charakter der Vielseitigkeit, der Reichhaltigkeit erhalten und namentlich Denen willkommen sein die über Alles und Jedes nur gelegentlich zu sprechen lieben und die daraus für ihre Conversation manche neue Anschauung, manches treffende Raisonnement, manches geistreiche Aperçu mit in die Gesellschaft nehmen können; aber dem gediegenen Geschmack wird jene Vielseitigkeit leicht als Buntscheckigkeit, jene Reichhaltigkeit leicht als Ueberladung erscheinen, und Vieles von dem Besprochenen und Geschilderten wird ihm, wenn auch an sich gut, doch hier gesucht und gemacht vorkommen. Dies gilt namentlich von denjenigen Partien die er in der Vorrede als Beiträge zur Gesellschaftskunde bezeichnet und ziemlich reichlich in allen Abschnitten, ganz besonders aber im sechsten aufgespeichert hat. Was wird hier nicht Alles abgehandelt! Die Jugendlecture, pädagogische Poesie, das Geistersehen, märkische Bauern, die Jubelfeier der Reformation, Napoleon’s Tod, die Erhebung der Griechen, Kotzebue’s Ermordung, altdeutsche Tracht, die Turnerei, die Reize des Guten und Bösen, die Gewerbefreiheit und der daraus sich entwickelnde Leichtsinn im Unternehmen, die Religiosität als sittlicher Hebel, das allgemeine Stimmrecht, die innern Familienverhältnisse, die geschlossenen Gesellschaften, die Liebhabertheater, das feinere Proletariat, das Maulheldenthum, die Gesinnungslosigkeit, die dienenden Classen, namentlich die Bedienten, Köchinnen, Ammen, die Juden, der Wucher, die Lotterie, die Sparkassen, das Schutzsystem und die Freihändlertheorie – manches kürzer Berührten gar nicht zu gedenken! Ich selbst habe das Meiste hier-[631]von mit Interesse, ja mit Beifall gelesen, zumal ich, wenn auch nicht überall die Ansicht, doch fast durchweg die ihr zugrundeliegende Gesinnung theile; aber trotzdem ist es mir an dieser Stelle, in diesem Zusammenhange als störend erschienen, ich fühlte mich aus der Welt einer kindlichen, naiven Anschauung plötzlich in ein politisch-publicistisches Lesecabinet versetzt und fühlte mich versucht zu glauben, der Verfasser habe mit seinem Titel „Aus der Knabenwelt“ auch jenen Kinderwitz verbinden wollen, der, mit dem Doppelsinne des Worts „von“ spielend, das Messingene für etwas von Gold ausgibt.

Wie der Stoff, so verliert sich nicht selten auch die Darstellung, die Diction in ein fremdartiges, mehr für Zeitungen und Broschüren als für Jugenderinnerungen passendes Gebiet; ja Gutzkow der Große muß nicht blos bei Reflexionen und rückblickenden Betrachtungen, sondern auch da, wo es gilt die kindlichen Anschauungen und Erlebnisse selbst zu schildern, für Gutzkow den Kleinen die Rolle des Vormunds übernehmen. Lese man unter Anderm nur folgende Stelle über das Terrain seiner Kindheit.

Dies abenteuerliche, seltsame, lichte und dunkle […] wie ein krystallheller, najadenbegeisterter Ruysdael. [Zitat Seite 15,30-18,2 dieser Ausgabe.]

In dieser bunten lebensvollen Schilderung wie viel des Echtkindlichen, Naiven, Idyllischen, wie viel aber auch des Altklugen, Berechneten, aus späterm Bewußtsein Herbeigezogenen sowol in den Vorstellungen wie in den Wortbildungen! Der Verfasser kann freilich sagen daß ja das letztere nur des Gegensatzes, des Contrastes wegen da sei, daß die monströsen Wortgebilde eben nur den Zweck hätten das Prosaische dem Poetischen, das Altverständige dem Kindlichen gegenüber als nichtig und lächerlich hinzustellen. Aber liegt nicht auch hierin schon eine Berechnung? Ist die in sich poetische Schilderung eines solchen Fingerzeigs in die Leere und Nüchternheit der Alltagsanschauung bedürftig? Nimmt man zu einem apagogischen Beweise seine Zuflucht, wenn uns ein directer zu befriedigen vermag? Liegt nicht in dem Bedürfniß, durch ironische Abfertigung des Gegentheils zu wirken, das sich versteckende Eingeständniß daß uns die Sache selbst nicht inhaltsvoll und reich genug erscheint, um allein und für sich zu wirken? Doch wir wollen darum mit dem Verfasser nicht weiter rechten, umsoweniger als man von andern Seiten um dieser Schlagschatten willen gar nicht zur Anerkennung der Lichtpartien gekommen ist, an denen doch dieses Buch nicht minder reich ist. Wie viel Schönes, Wahres und Tiefergreifendes liegt nicht in der Geschichte vom schönen Dorich und der kleinen Marianne, in der Freundschaft der beiden Väter, in der Feindschaft der beiden Mütter und in der endlichen Versöhnung derselben über dem Sarge des Kindes! Wie reich an theils ergötzlichen, theils rührenden Zü-[632]gen, wie lebendig und farbenfrisch sind die Erzählungen über und von seinem Vater, die Schilderungen der mütterlichen Anverwandten, namentlich des Hutmachers mit dem golddurchnähten Lederkoller und des apokalyptischen Webers, das Gemälde vom ersten Träumen und Treiben der Kinder, die Schilderungen der ersten weitern Ausflüge, namentlich nach dem Park von Schönhausen und nach Spandau, die Geschichten aus den Kasernen vom Lieutenant Haase, vom schneidernden Unteroffizier, vom tollen Langheinrich, die Schilderungen von des Knaben erstem Schulleben, seiner ersten geistigen Nahrung und seinem ersten Gebahren in den Sphären der feinern Gesellschaft.

Doch hiermit haben wir bereits Partien berührt die mehr die subjective als objective Seite des Buchs, mehr die Entwickelung des Knaben selbst als die Schilderung seiner Umgebungen betreffen. Obgleich nun diese Partien sowol der Intention wie dem Umfange nach die untergeordneten sind, so dürften sie doch vielleicht für Manchen ein größeres Interesse haben als die bereits besprochenen. Wie Berlin beschaffen ist, welch Leben und Treiben in ihm herrscht, darüber meinen die Meisten schon unterrichtet zu sein, und wenn auch ein Reiz darin liegt, gerade am Bekannten noch geheime, bisher unbekannt gebliebene Winkel und Verstecke mit neuen Menschen, neuen Sitten und neuen Lebensverwickelungen kennenzulernen, so dürfte doch ein größerer Reiz noch darin liegen, einzudringen in das innere Wachsthum einer Menschenseele, ihre ersten Regungen und Neigungen kennenzulernen, ihre Irrthümer, Enttäuschungen, innern und äußern Kämpfe zu beobachten, sie Schritt für Schritt in ihrem Entwickelungs- und Bildungsgange zu begleiten und so einen Aufschluß über die Genesis aller derjenigen Erscheinungen zu erhalten, durch die sie im Stadium einer höhern Entwickelung mit uns in Beziehung tritt. Dieser Reiz muß sich aber noch bedeutend erhöhen, wenn es sich um die nähere Kenntniß eines Dichters handelt, der, wie Gutzkow, durch eine Reihe von Geistesproducten unsere besondere Theilnahme in Anspruch genommen und sich im Gebiete der Literatur sowie im Bewußtsein seiner Nation überhaupt einen nicht unbedeutenden Platz errungen hat. Fragen wir nun, inwieweit dieses Interesse am Autor durch das vorliegende Buch befriedigt wird, oder welches Bild wir durch dasselbe von Gutzkow dem Knaben erhalten, so ist die Antwort darum einigermaßen mislich, ein mal weil die Mittheilung individueller Charakterzüge im Ganzen nur eine spärliche ist, sodann weil, wie schon erwähnt, die ganze Schrift ein wenig gar zu sehr aus der gegenwärtigen Anschauungsweise des Verfassers herausgeschrieben ist und somit nicht die Bürgschaft einer möglichst objectiven Darstellung gewährt, obschon sie andererseits durchaus nicht zu dem Argwohne Anlaß gibt als habe der Verfasser mit der Haupttendenz einen Mohren weißwaschen zu wollen noch die kleine Nebentendenz einer Selbstpurification verbunden.

Sucht man sich jedoch aus dem Mitgetheilten, von welchem Umfange und von welcher Zuverlässigkeit es auch sein möge, ein Bild von Gutzkow’s Knabennatur zu entwerfen und darin ein Prototyp für sein späteres Wesen zu erkennen, so scheint man eben daraus daß sich ihm selbst seine Rückblicke in die ersten Entfaltungen der Psyche als „Erinnerungen vom Zufälligsten und für die allmälige Menschwerdung vielleicht Unwesentlichsten“, als „Momente die nicht Stand halten“, als „kleine fliegende blaue, rothe, grüne Flecken, wie sie Dem erscheinen der in die Sonne gesehen“, kurz als rein allgemeine, jeder Eigentümlichkeit entbehrende Nebelbilder darstellen, den Schluß ziehen zu dürfen daß der ursprüngliche Kern und Keim Gutzkow’s von keinem vorherrschend individuellen Charakter mit ureigenthümlicher, repulsiver, activer Kraft, sondern vielmehr umgekehrt von überwiegend genereller Beschaffenheit mit mehr universeller, attractiver und passiver Kraft gewesen sei, und daß daher seine später hervortretende Persönlichkeit mehr die Concentration der in eigentümlicher Weise auf ihn einwirkenden Umgebungen als die Emanation seines eigentlichen Selbst zu sein scheint. Erklärt sich auf diese Weise wie ihm die Selbstbiographie zu einer Schilderung des Schauplatzes und der Zeitumstände umschlagen konnte, so geht daraus zugleich hervor daß wir diese Schilderung als die Hauptquelle für die Erkenntniß seiner Persönlichkeit betrachten, uns also deren Entfaltung vorzugsweise aus dem Einfluß seiner Umgebungen erklären müssen. Je beschränkter nun diese Umgebungen einerseits waren, d. h. zunächst nur aus dem in sich abgeschlossenen Viereck des Akademiegebäudes und einem kleinen Kreise von Menschen ohne höhere Bildung und von untergeordneter Stellung bestanden; andererseits aber innerhalb dieser Beschränktheit wieder die größte Mannichfaltigkeit und Vielseitigkeit, das bunteste und verschiedenartigste Leben und Treiben herrschte und den Knaben frühzeitig mit dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst wie mit dem des Kriegs, der Politik, der höchsten Gesellschaftssphären in wenn zunächst auch nur reinäußerliche Wechselbeziehung brachte: um so früher und energischer mußten in des Knaben empfänglicher Seele, die als eine Art tabula rasa dies Alles mit den durstigsten Saugfasern in sich aufnahm, die schroffen Gegensätze des Weiten und Engen, des Großen und Kleinen, des Hohen und Niedrigen, sowie auch des Geistigen und Sinnlichen, des Wissens und Nichtwissens, der Bildung und Ungebildetheit Platz greifen und sich ihm einerseits als auf das engste miteinander verschlungen, auf das innigste zusammenhängend, andererseits als durch eine ungeheuere Kluft getrennt, als unnatürlich und gewaltsam geschieden darstellen. Sofern er nun selbst als Sohn eines prinzlichen Bereiters der engen, kleinen, niedrigen Sphäre, nicht den mehr ätherischen Regionen der Kunst und Wissenschaft angehörte, mußte sich in ihm früh ein dunkler Drang nach der aus so unmittelbarer Nähe winkenden, über ihm gelegenen Sphäre entwickeln; denn wie sehr ihn auch zunächst das bunte Treiben der die Erde mit sicherm Huf stampfenden Rosse und ihrer Reisigen anziehen mochte, die größere Anziehungskraft [633] lag doch für ihn in dem seiner Ahnung dunkel vorschwebenden Flügelrosse der Akademie, was sich unverkennbar in der beharrlich wiederholten Erklärung des siebenjährigen Knaben Bildhauer werden zu wollen kundgibt. Neben diesem Drange nach einem Höhern mußte sich aber auch frühzeitig in ihm ein drückendes Bewußtsein von der Niedrigkeit und Unzulänglichkeit seines Standpunkts einfinden, und es muß daher als ein charakteristischer, vorbedeutungsvoller Zug seines Wesens angesehen werden daß er sich, als er zum ersten Mal in die Schule gehen sollte, mit Händen und Füßen dagegen sträubte, mit dem entschuldigenden Angstgeschrei daß er ja „Nichts wisse“. Galt ihm hier die Schule gleichsam als Symbol der höhern Bildung überhaupt und drückt sich also in seinem Sträuben das Gefühl der Verzweiflung aus, von seiner Sphäre in die der Bildung hinüberzugelangen, so wiederholt sich ein ähnliches Mistrauen gegen die höhern Regionen in seinen spätern Jahren, da wo er im Hause des Malers Kleanth, zu dem er doch gleichfalls von einem unwiderstehlichen Drange hingezogen wird, anfangs sich mit banausischem und doch von edelm Selbstgefühl durchdrungenem Trotz gegen die Annahme der socialen Formen sträubt. Fügen wir zu diesen Zügen, in denen sich auf das unzweideutigste der Doppeleinfluß seiner verschiedenartigen Umgebungen erkennen läßt, noch die gleichzeitige Liebe des Knaben einerseits zur Tochter Dorich’s, des „Selbstmörders in der Sattelkammer“, andererseits zur Tochter eines Raths, einem lebhaften, witzigen, ausgelassenen Mädchen aus der feinern Gesellschaft, so läßt sich auch aus diesem Wenigen unschwer erkennen daß auch schon im ersten Decennium seines Lebens der Grundzug des Gutzkow’schen Charakters kein anderer gewesen ist als derjenige welcher sich als der rothe Faden durch seine ganze spätere Entwickelung hindurchzieht, nämlich ein unwiderstehlicher Trieb, die Kluft zwischen dem ihm angeborenen und dem von ihm erstrebten Elemente, zwischen dem Sinnlichen, Derben, Naturwüchsigen, Volksthümlichen einerseits und dem Geistigen, Feinen, Conventionellen, Aristokratischen andererseits auszufüllen und beide Sphären des Daseins und der Gesellschaft gewissermaßen in eine ebenso enge und nahe Beziehung miteinander zu bringen, als diejenige war in der seinem Kinderauge Pferdestall und Musensitz, Wagenremise und Sanskritdruckerei, Cavaleriewache und Sternwarte zu stehen schienen. Von dieser Grundrichtung seines Wesens aus lassen sich all seine Entwickelungsmomente, die Triebfedern und leitenden Ideen seiner literarischen Productionen, die Grundsätze seiner politischen Gesinnung, die Licht- und Schattenseiten seiner Darstellung, ganz besonders aber auch das Unabgeschlossene, Unbefriedigte und Unbefriedigende seiner Bestrebungen und Leistungen erklären; und so dürfen wir das Gutzkow’sche Buch, obschon vorzugsweise der Darstellung von Aeußerlichkeiten gewidmet, doch auch als einen nicht unwichtigen Beitrag zur Erkenntniß seiner Persönlichkeit willkommen heißen.

Ganz anders freilich stellt sich in dieser Hinsicht die Selbstbiographie Koenig’s dar. Sie ist nicht blos in einzelnen zwischendurchlaufenden Fäden, sondern in ihrer ganzen Anlage und Ausführung von Anfang bis zu Ende ein aus einer Individualität geflossenes, selbst individualisirtes und eine Individualität in ihrer ersten Entwickelung klar abspiegelndes Lebensbild. Zwar fehlt es auch hier, wie schon gesagt, nicht an einer bunten Reihe von Schilderungen des äußern Zubehörs, ohne das sich einmal kein Leben zu entfalten vermag, und diese Schilderungen sind, wenn auch nicht so en detail, nicht so studienartig ausgeführt, doch in ihrer Wirkung ganz ebenso sinnlich und farbenfrisch wie die Gutzkow’schen; aber sie sind nie blos um ihrer selbstwillen da, sondern drücken immer zugleich eine bedeutsame Beziehung zum Innern, zum Ich aus, um dessen Entwickelung es sich hier handelt. Und gerade so wie in der Darstellung Koenig’s das Verhältniß zwischen Innerm und Aeußerm ein umgekehrtes ist als bei Gutzkow, so auch im dargestellten Leben selbst. Zeigte sich Gutzkow’s Leben als ein Product aus der Verbindung des Multiplicators Schale mit dem Multiplicandus Kern, so erweist sich hingegen das Leben Koenig’s als ein Product aus der Verbindung des Multiplicators Kern mit dem Multiplicandus Schale. Konnten wir daher von Gutzkow sagen, sein ursprünglicher Kern sei von überwiegend-genereller Beschaffenheit mit mehr universeller, attractiver und passiver Kraft gewesen und seine spätere Persönlichkeit stelle sich daher vorzugsweise als eine Concentration der auf ihn einwirkenden Umgebungen dar, so müssen wir uns hingegen über Koenig dahin aussprechen daß sein eigentlicher Kern von vorherrschend-individuellem Charakter mit ureigenthümlicher, repulsiver, activer Kraft gewesen ist und daß daher seine spätere Persönlichkeit vorzugsweise als eine Emanation seines eigentlichen Selbst angesehen werden muß.

5.1.3. Dokumente zur Rezeption aus dem privaten Umfeld#
1. Feodor Wehl an Gutzkow, 7. Mai 1852#

5.1.3.1. Feodor Wehl an Karl Gutzkow, Hamburg, 7. Mai 1852. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 52,127 (hA).

Es ängstigt mich, Sie verdüstert zu wissen. Zur künstlerischen Schöpfung, zur Grösse des Charakters gehört eine gewisse Heiterkeit, eine Heiterkeit wie die Alten sie hatten und auch Goethe sie besessen haben muss. Dass sie auch Ihnen inne wohnt, beweist Ihr neuestes Buch, das ich sogleich gelesen und sofort für die nächste Nummer der „Jahreszeiten“ besprochen habe. Wie sehr es mich interessirt und angeregt hat, werden Sie daraus wahrzunehmen im Stande sein. Es ist ein durchweg liebenswürdiges Buch, gegen das niemand, wie ich hoffe sich versündigen wird. Die Kindheit und erste Jugend haben etwas Heiliges, das jedermann respektirt, um so mehr, wo es sich so schön ausprägt wie in Ihrem Buche. Geben Sie uns bald ein zweites; auch schon darum, weil ich denke diese Art von Produktion muß Ihnen eine angenehme Genugthuung verschaffen und Sie gegen äussere Unannehmlichkeiten festigen, deren Sie sich oft mehr vorstellen, als da in der That sind.

2. Friedrich Hebbel an Gutzkow, 25. November 1855#

5.1.3.2. Friedrich Hebbel an Karl Gutzkow, Wien, 25. November 1855. In: Friedrich Hebbel: Briefwechsel 1829-1863. Historisch-kritische Ausg. in fünf Bänden. Hrsg. von Otfrid Ehrismann, U. Henry Gerlach, Günter Häntzschel, Hermann Knebel, Hargen Thomsen. Wesselburener Ausgabe. Bd. 3: 1854-1859. München: Iudicium Verl., 1999. S. 252.

Ich weiß nicht, ob ich schon über Ihre „Knabenzeit“ mit Ihnen gesprochen habe. Ein ganz vortreffliches Buch, durch dessen Fortsetzung Sie ohne Zweifel ganz Deutschland eine große Freude bereiten würden. Mein Exemplar wandert hier in Wien von Hand zu Hand – und noch habe ich Niemand gefunden, der nicht mit mir übereinstimmte. Mein Urtheil werden meine „vermischten Schriften“ bringen, deren Herausgabe nahe bevor steht. […] Ich bewundere zunächst den Muth, den Sie, Deutscher Misére gegenüber, beweisen, als Sie Ihre Bekenntnisse schrieben. Es gehört etwas dazu, seine eigenen Wurzeln bloß zu legen, überall, und besonders bei uns! Und wie reizend ist das Detail. Die Unverträglichkeit der beiden Mütter z. B. und die am Sarge des Kindes in der Küche gefeierte Versöhnung gehört zum Rührendsten, was ich kenne und erschüttert mich jedes Mal von Neuem.

3. Emil Kuh an Gutzkow, 7. Mai 1857#

5.1.3.3. Emil Kuh an Karl Gutzkow, Troppau, 7. Mai 1857. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 57,127 (maschA).

Neulich lernte ich Ihr Buch „Aus der Knabenzeit“ kennen und empfing davon einen wirklichen poetischen Eindruck.

4. Gutzkow an Heinrich Brockhaus, 26. September 1857#

5.1.3.4. Karl Gutzkow an Heinrich Brockhaus, Frankfurt/M., 26. September 1857. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 57,266 (maschA).

Mit der Literarischen Anstalt hab’ ich hier abgeschlossen u bin mit 1000 Thalern Herr meiner sämmtlichen im Verlage derselben befindlichen Schriften geworden. […]

[…]

Sehr schlecht ist „Aus der Knabenzeit“ gegangen. 3000 wurden gedruckt, was freilich höchst unüberlegt war. Es giengen nur 900. Rest: 2100.

Kommentar#

Der weitere wissenschaftliche Apparat wird hier sukzessive zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Stellenerläuterungen#