Novellen. Zweiter Band#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Gert Vonhoff
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
03.10.2018

Text#

Novellen von Karl Gutzkow.#

Zweiter Band.#

Inhalt.

Chevalier Clement.

Die Singekränzchen.

Der Prinz von Madagaskar.

1 Chevalier Clement *)#

Novelle.#

3 Europa beweinte den Tod eines Fürsten, dem es mit gleicher Theilnahme auf den Gipfel seines Glücks, wie später auf die sinkende Bahn seines Gestirns gefolgt war. Die Trauerbotschaft, die sich aus den Laufgräben vor Friedrichshall mit Blitzes­schnelle verbreitete, erschütterte die Fürsten, selbst wenn sie den Frühgefallenen zu ihren unversöhnlichsten Feinden rechnen mußten, und die Völker, deren Wohlstande die Entwürfe seines Ehrgeizes nur Verderben bringen konnten. Man feierte dennoch mit Bewunderung das Andenken eines Fürsten, den man einen Abentheurer hätte nennen dürfen, wenn ihn seine Thaten nicht unter die größten Helden der Jahrhunderte gestellt hätten. Die Könige, sonst gewohnt, 4 kriegerische Evolutionen, Fanfaren und Kanonendonner nur zum Ausdruck ihrer Freude zu machen, hielten es für angemessen, dießmal auch der Trauer durch ein militair­isches Schauspiel Worte zu geben, weil sie einem eben so ausgezeichneten Feldherrn, als tapfern Krieger galt.

So war es auch der preußische König, der Zweite dieser Würde, der den jungen Helden feierte. Friedrich Wilhelm, obschon in der beständigen Erwartung, einem baldigen, hartnäckigen Angriffe Karls XII. ausgesetzt zu sein, der kalte, pedan­tische Vater des großen Friedrich, konnte die Thränen nicht zurück­halten, als ihm das Schicksal des schwedischen Monarchen bekannt wurde, und er ließ an die Besatzung der Residenz den Befehl zu einer großen Trauerparade ergehen. Die Ordonnanzen flogen in geschäftiger Eile an einander vorüber, die Friseurs hatten alle Hände voll zu thun, um die Zöpfe der Offiziere zu einer unglaublichen Steife zu bringen, die Soldaten brachen sich Hunderte von Ziegeln aus den Dächern, um mit dem zerriebenen Roth derselben ihre Granaten, die Blechschilde an ihren spitzen Hüten, die Knöpfe auf den bunten Rabatten zu poliren. Alles war in reger Hast, die 5 Einen vor Erwartung, die Andern vor Begierde, diese zu befriedigen.

Wie schwer fällt es mir, dem Vergnügen widerstehen zu müssen, hier die Skizze einer Parade vom Jahre 1718 zu geben! Man denke sich die patagonischen Gestalten von sechs Fuß rhein­ländischen Maaßes zu Riesenkolonnen vereinigt: hier ein Regiment, das unter der heldenmüthigen Anführung des Fürsten von Anhalt-Dessau die Schanzen bei Turin erstürmte und dem Prinzen Eugen die Lorbeern dieses ruhmwürdigen Tages auf die Stirn drückte; dort jene Kerntruppen, noch von dem frischen Andenken der glorreichen Kämpfe auf der Insel Rügen gegen den heut Gefeierten gehoben. Aber jene gelbschwarzen Musketiere, warum mögen sie vor Allen so wehmüthig auf ihren beflorten linken Arm sehen? Es sind Schweden, die unter dem Todten selbst noch gedient hatten, bei der Kapitulation von Stralsund aber kriegsgefangen und zu einem Regimente formirt wurden, das jetzt dem Feldmarschall angewiesen ist. Die Mannigfaltigkeit der Charaktere, die sich auf diesen tausend Gesichtern ausprägt, ist fast das Anziehendste von Allem. Wie eine lebendige Völkerkarte schattiren sich hier die auf-6fallendsten Nüancir­ungen der nationalen Gesichtsbildung und des Kolorits. Italiener, Ungarn, Franzosen, Holländer und Norweger stecken hier friedlich neben einander in gleichen Uniformen, wenn sie nur acht bis zehn Zoll über das ordinäre Menschenmaaß haben.

Ist es aber nicht, als wäre die Kavallerie gegen den Fußgänger vernachlässigt? Allerdings; das war eine Marotte des Fürsten von Dessau, der Friedrich Wilhelm I. sonderbarerweise beipflich­tete. Man gab damals auf den Säbel des Husaren wenig, und hielt eine Muskete für besser als drei Kürasse. Nur ein Regiment Dragoner will sich ein besseres Ansehn geben und seinem glänzenden Namen entsprechen; es sind zierliche Kinder aus Leipzig und Meißen, das sogenannte Porzellanregiment. Der König hatte dasselbe von der Majestät in Polen erstanden und dafür nicht mehr gegeben, als ein Dutzend Vasen von chines­ischem Porzellan; daher das Beiwort.

Eine Parade von 1718 dauerte nicht lange. Die Könige waren damals noch nicht in die traurige Nothwendigkeit versetzt, an jeden Gardisten heranzureiten und ihm mit ihrem Daumen die Versicherung 7 ihrer bürgerthümlichen Empfindungen zu geben. Die Suite war damals auch nicht so lang, wie ein Kometenschweif, sondern in wenig Augenblicken war Friedrich Wilhelm I. an den Regimentern entlang defilirt, und nichts konnte schneller abgemacht sein, als die Revue, die er die Truppen hernach passiren ließ. Dabei schmetterten die Trompeten der Porzellandragoner die neueste Komposition, die die Erstürmung Belgrads veranlaßt hatte und damals in der besten Gesellschaft Furore machte, das bekannte: Prinz Eugen, der edle Ritter; und um der tragischen Bestimmung der heutigen Festlichkeit mehr zu entsprechen, bliesen sie darauf noch eines, nämlich das Lied: Deutschland, ich muß dich lassen! in klagenden, hinsterbenden Klängen.

Nach dem Schlusse dieser militairischen Todtenmesse rief ein junger, noch von Kameraden umringter Offizier, den man vorhin an der Spitze eines Zuges der königlichen Garde hatte sehen können, einem Grenadiere, seinem Diener, zu, zeigte ihm einen mehrtägigen Urlaub an und übergab ihm mehrere seiner lästigen Effecten, mit der Anweisung, sich in der kürzesten Zeit zur Abreise auf das nahe gelegene Familiengut seines Herrn bereit zu halten.

8 Der Hauptmann Borck war eine jener anziehenden Erscheinungen, die die Natur so selten hervorbringt, um den Besitz und die Nähe eines solchen Wesens zu dem beneidenswer­thesten Glücke zu machen. Gefällig in seinen Formen, zuvorkommend in seinem Benehmen, war er eben so sehr der geliebte und geachtete Gefährte seiner militairischen Freunde, als der ausgezeichnete Schützling seiner höhern Chefs, bei denen er durch seine Fähigkeiten, seinen Diensteifer und seinen Ruf erreichte, was ihm durch seine Geburt (er war der Erhalter eines der geachtetsten Namen unter dem Adel des Vaterlandes) nicht hätte schwer fallen können.

„Sie werden heut nicht in der italienischen Oper sein?“ hieß es von dieser Seite. „Sie werden morgen die Gesellschaft beim sächsischen Gesandten versäumen?“ von der andern. „Sie wollen in der That nicht die schöne Diana und die noch reizendere Juno in Augenschein nehmen?” fragte sonderbar genug ein ältlicher Major, und erregte damit ein Gelächter der Verwunderung.

Es war nur von einem schönen Solosänger und einer braunen Stute die Rede. Während der Major anfing, sich über diesen interessanten Gegen-9stand zu verbreiten, trat der Hauptmann zurück und befand sich bald mit seinem Diener auf dem Wege zum Sitze seiner Familie.

Die Sonne war schon tief vom Scheitelpuncte herabgestiegen, als die beiden Reiter sich den freiherrlich Borckschen Besitzungen näherten.

Die Mark, so öde und traurig sonst der Anblick ist, den ihr Boden gewährt, überrascht dennoch an häufigen Stellen durch eine plötzlich reichere und üppigere Vegetation, wie aus den unermeßlichen Sandwogen der Wüste blühende Oasen hervor­tauchen. Leider konnte man an den Gartenanlagen und Baumparthien, die den Hauptmann und seinen Diener jetzt auf­nahmen, eine mehr als sorgfältige, eine künstlich nachhelfende Hand wahrnehmen, die oft mit recht barockem Geschmack die üppigen, freiausgeschlagenen Triebe der Bäume und niedern Hecken beschnitten hatte, und durch die sonderbaren Grundsätze der damaligen Sitte und Mode entschuldigt wurde. Es war ein luftig und freigelegenes Wohngebäude, umgeben von einer reichen Anzahl von Wirthschaftshäusern, von Pappelalleen und einem spiegelklaren, durch buntes Geflügel aller Art belebten See, das der Hauptmann endlich er-10reicht hatte. Viele geschäftige und bewillkommende Hände und Füße umringten ihn, er sprang schnell vom Pferde und entzog sich diesem Wetteifer von freundlichen Gesichtern, der dem Vornehmen auf die Länge so zuwider werden muß.

Der Garten, in den sich jetzt Aemilius (mit diesem zutrau­lichen Vornamen wagten die ältern Diener den jungen Mann, den sie als Knaben oft auf den Beinen geschaukelt hatten, zu benennen) mit eilendem Schritte begab, war ein Prachtstück für die damaligen Anforderungen. Dieser Garten konnte für eine Musterkarte aller Schnörkeleien und Phantasien gelten, mit denen le Nôtre die alte Gartenkunst revolutionirt hatte. Der alte Freiherr Borck, der in seinen jungen Tagen Versailles gesehen, hatte seinem Gartenkünstler selbst die Zeichnungen für dieß märkische Wunderwerk angegeben.

Der Freiherr, einer der hundert Kammerherrn, die Se. regierende Majestät als ein höchst unnützes und zugleich kostspieliges Stück der Hinterlassenschaft ihres höchstseligen Herrn Vaters verabschiedet, saß mit seiner Gattin und Tochter in einem kleinen chinesischen Tempel, dessen Seitenwände durch ter-11rassenförmig aufeinandergestellte Prachtexemplare von harlemer Tulpen und Aurikeln gebildet wurden.

Es ist sehr nothwendig, zu wissen, wie sie bekleidet waren, und wir gehen mit Vergnügen an diese Mittheilung.

Von einem Negligé, einem leichten Hauskleide, wußte diese gute Zeit unserer Urgroßväter noch nichts. Wo sie gingen und standen, waren sie in einem Aufzuge, als könnten sie stündlich zur Cour oder zu einem Jeu de patience mit der ältesten Hofdame berufen werden. Um des Herrn Kammerherrn strahlendes Haupt wallten die Fluthen einer unendlichen Allongeperrücke, das Ueberkleid, dieß merkwürdige Justemilieu zwischen Frack und Oberrock, zierten mehrere einheimische und fremde Orden, von denen diese in Kriegsläuften immer so häufig waren, als jene im Frieden selten; mächtige Stickereien rieselten durch das lange, seidene Gilet, ungeheure Manschetten flossen aus den kurzen Aermeln des theegrünen Oberkleides und funkelnd glänzten an den Schuhen die goldenen Schnallen.

Und Sophiens und des Hauptmanns Mutter! die anmuthige, liebe, kleine Frau! Das lange, 12 seidene Kleid, pfirsichblüthfarben, mit eingewirkten Blumen von derselben Farbe, stand ihr allerliebst. Das etwas in’s Gelbliche gepuderte, wundersam verschlungene Haar war von einer flornen Flügelhaube, die aber nur auf ihm zu schweben schien, bedeckt, einer Haube, deren Fittiche unter dem Kinn unvermerkt zusammenflogen und diesem eine noch immer anziehende Rundung gaben. Ueber ihre ganze kleine Figur floß von den Schultern herab ein weißes Mäntelchen, dessen Zipfel, sorgfältig unter der Brust zusammengesteckt, zuletzt ganz schmal den enggeschnürten Latz herabhingen.

Allerdings war dieser Anzug auch für Sophiens Erscheinung die gesetzgebende Analogie. Doch fielen bei ihr die Hacken an den Schuhen weg, die lange Schleppe incommodirte sie nicht und der Puder lag nicht so dick auf ihrem schönen Haupte. Und bleibt es nicht unbestritten, daß sich die Reize der Natur von keinem, selbst dem albernsten Geschmacke verdrängen lassen? Ueber jede Caprice der Mode muß die Göttergestalt einer Hebe den Sieg davontragen.

„Hat Euch der Kanonendonner die Thränen aus den Drüsen gepreßt?“ rief der Kammerherr dem eintretenden, von den Seinen freudig begrüßten 13 Sohne und Bruder entgegen. „Sonderbare Feierlichkeit!“ fuhr er darauf nach der Bewillkommnung fort. „Ich habe den Seligen immer für einen Fürsten gehalten, wie der Potentat nicht sein muß, und doch trage ich seit gestern schwarz angelaufene Trauerknöpfe.“

Das war ein Steckenpferd des alten Herrn, auf Karl XII. Satyren zu machen. Es hatte ihm nie an diesem Monarchen gefallen wollen, daß er die civilisirteste Nation der Welt verachtete, eine Nation, die kennen zu lernen der Kammerherr noch immer für das größte Glück eines Menschen, geschweige eines nordischen Menschen hielt.

Sophie war stets so bescheiden, auf die Ideen ihres Vaters einzugehen. Sie fuhr also zum einsylbigen Bruder fort: „Auch wir dürfen trauern, aber in unserer Weise. Die nächste Anglaise, die Du tanzen darfst, wird Dir schon für morgen gestattet. Der Trauerrost, von dem heute noch die Galanteriedegen der Herren angelaufen sind, wird vor den strahlenden Kerzen des morgenden Festes verschwinden.“

Und dabei sah sie lächelnd in das zerstreute Auge des Bruders, und schmeichelte ihm mit aller Zärt-14lichkeit, die eine Schwester ihrem Bruder nur schenken kann. Dieser aber antwortete mit kurzen Lakonismen, bis er Zeit gewann, nach dem unter den Versammelten fehlenden Gaste, seinem neuen Freunde, zu fragen.

Der Kammerherr erklärte, daß sich Chevalier Clement heute nur auf einen Augenblick habe sehen lassen, und die Mutter setzte geheimnißvoll hinzu, er habe sich eingeschlossen, er müsse tief in Geschäften sein, sie finde übrigens in ihm einen gar anziehenden Mann, und Sophie meinte, dieß sei recht sonderbar, und erröthtete leise. Alle aber drangen in den Hauptmann, die Art, wie er diese interessante, mysteriöse Bekanntschaft gemacht, zu erzählen, weil er es noch nicht gethan und doch versprochen.

Allein er lehnte es auch heute ab, was jedoch kein Grund ist, daß wir es nicht wissen sollten. Es ist eine Geschichte, wie sie heute ein junger Mann in Paris, London oder Wien täglich erlebt und sie doch nicht in der Familie erzählen kann.

Der junge Freiherr hatte sich in Dresden mehrerer diplomatischen Aufträge zum Theil entledigt, und fing jetzt an, aus dem großen Freudenbecher, 15 den eine so glänzende und volkreiche Stadt der Jugend an den Mund setzt, einige mäßige Züge zu thun. Signora Palazesi bezauberte das Publicum durch die Klänge ihrer Kehle und die noch herrlichern Reize ihrer hesperischen Formen. Borck hatte sie die Mirza in Moses singen hören, er war ihrem Wagen gefolgt, ihr zu Füßen gesunken; sie lächelte und zog ihn sanft auf das seidene Polster. Von nun an konnte man, wenn die Glocken der Stadt sich anschickten, die vorletzte Stunde vor Mitternacht zu schlagen, immer eine verhüllte Gestalt aus der Wohnung der gefeierten Sängerin schleichen sehen, ehe sie ihre marmornen Glieder auf das weiche Pfühl warf. Mit dieser letztern Annahme schmeichelte sich wenigstens der märkische Ritter, bis ihm ein vermummtes Mysterium eines Abends, als die Stundenhämmer der Stadt eilfmal auf die Metallstäbe schlugen, auf die Achsel klopfte und ihn ersuchte, nur noch fünf Minuten vor dem Tempel seiner Göttin die Sterne flimmern oder ein Johannis­würmchen vorüberleuchten zu sehen. Sie mochten kaum vorüber sein, als Borck einen Doppelgänger zu erblicken glaubte, nur mit dem Unterschied, daß dieser dorthin ging, wo er her kam. 16 Das war Verrath, schnöde Untreue; es erfolgte eine Verabredung zwischen dem Getäuschten und seinem Nachfolger, zu Ehren der edlen Dame sich wechselseitig ihr purpurrothes Kavaliersblut abzuzapfen. Der Vermummte mit seinen Sternen und Johanniswürmchen war verschwunden und erschien auch nicht eher wieder, als bis er freilich sehr nöthig war. Er bat die jungen Neben­buhler, die er schon in schußgerechter Entfernung überraschte, ihrem Zorne die Wassertaufe zu geben, zu einer bestimmten Stunde sich wieder an der Eingangspforte ihrer Wonne zu postiren, dann aber auch kein Auge von ihr zu verwenden. Und das geschah; man sah einen dritten Doppelgänger, blies lachend das Pulver von der Pfanne und trennte sich, dem Unbekannten danksagend, der inzwischen in Nacht zerflossen war.

Als sich aber der Hauptmann zum letzten Male beim Marschall Flemming, dem ministeriellen Cerebrum des großen und riesenstarken August von Polen und Sachsen, befand und sich für den preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, den Herrn von Illgen, von Seiner Excellenz die gnädigsten Aufträge erbat, da ging ihm ein Flor über 17 die Augen und er sah verlegen auf die erhaltenen Depeschen; denn es war in das Audienz­zimmer ein Mann getreten, den er schon gesehen und der ihn seinerseits zweimal schon auf etwas aufmerksam gemacht hatte, was er noch nicht vergessen.

Von diesem Augenblicke, oder vielmehr von der ersten freien Stunde an, wo er den im Hause des Marschalls so vertrauten Fremden aufsuchen und ihn allein begrüßen konnte, entspann sich die Freundschaft zwischen dem Bruder Sophiens und dem Chevalier Clement, der Jenen schon oft in den Cirkeln Dresdens gesehen und eine Theilnahme für ihn gefaßt hatte, wie sie der junge Mann verdiente. Eine andere Absicht durfte man kaum annehmen.

Dieß alles, wie er Clement, einen ungarischen Edeln, für den sonderbarsten, aber achtungswürdigsten Mann erkannt, wie er ihn auf den Sitz seiner Eltern eingeladen und ihn hieher gebracht habe, und wie dieser sich jetzt einschließe und nichts als Briefe nach allen Gegenden der Windrose zu schreiben scheine, und wie er ihn nach dem morgenden Feste gen Berlin, wo er unzweifel­haft eine sehr hohe Sendung habe, geleiten werde, das alles erwog der Hauptmann, und beugte sich zu seiner 18 Mutter herab, und führte sie zum Schlosse hinauf, wie der Vater eben mit Sophien that.

Man war vor hundert Jahren weit höflicher, als jetzt, und behandelte sich selbst in der Familie mit einer gewissen zurückhaltenden, fremdthuenden Achtung.

Die hundert von Friedrich Wilhelm I. in Gnaden entlassenen Kammerherrn hatten mit ihren goldnen Schlüsseln auch die Salonsfreuden aus der Residenz auf ihre Landsitze genommen und zugleich, wie sie meinten, den Glanz und den Ruhm dieser noch jungen Monarchie, deren Begründer so glücklich mit Ludwig XIV. gewetteifert.

Seither pflegten die edeln und tonangebenden Familien statt der eingestellten Festlichkeiten, die sonst das jetzt wieder so einförmige Leben der Residenz verherrlichten, die glänzenden Versammlungen zu besuchen, welche abwechselnd in der Umgegend von den Standespersonen mit eben so viel Geschmack als Freigebigkeit veranstaltet wurden. Herr von Borck war in Versailles gewesen, er verstand es ausnehmend, wie man den Ton, die Sitte und den Stand ehren müsse, und die zahlreichen Nobilitä-19ten, die seine Bälle besuchten, gaben ihm mit Vergnügen das Zeugniß, daß er sie alle übertreffe, wenn die Reihe der Festivitäten an ihn komme. Und so hatten ihn auch heute die Lobeserhebungen bereit befunden, von ihm empfangen zu werden, und je rauschender die strahlenden Salons wiedertönten, je glühender die Tänzerinnen sich auf die Ottomannen warfen und je tiefer die Tausende von Wachskerzen niederbrannten, desto verklärter strahlte sein Angesicht, desto jugendlicher schienen sich die weggeschminkten Falten desselben in der That auszuglätten. Und in seiner Ehefrau (sie war eine geborne von Köckeritz) stiegen Erinnerungen schönerer, d. h. jüngerer Tage auf, wo ihre blendende Erscheinung in den Sälen des könig­lichen Schlosses oder des Ritterschaftsgebäudes in der Klosterstraße die Augen der Bewunderung und die Zungen des Neides bannten, und wo unter ihrem gelbem Puder sich noch blondes Haar und kein graues fand. Das empfanden Alle, die jetzt ihre Töchter die bedeutsamen Menuets mit derselben Grazie tanzen sahen, mit der sie selbst vor zwanzig Jahren die Elite des Ucker­märkischen Adels bezaubert. Sophie 20 aber, die Schönste unter den Schönen, hing am Arm ihres Bruders und an den Lippen des stolzen, schönen Mannes, der sie Beide begleitete.

Es war Clement; ein Ideal von Männlichkeit, nicht verzerrt durch die sclavische Anhänglichkeit an alle die sonderbaren Launen der damaligen Mode, eine herrliche Gestalt mit einem Haupte wie Mars und einer Taille wie Apollo. In seinen blitzenden Augen spiegelte sich eine Welt von Entwürfen, großen Entschlüssen und hohen Tugenden, auf seiner Zunge lagen tausend Erfahrungen, die aber die lächelnden Lippen wie ein berechnetes Geheimniß verschlossen hielten.

Dieß sind die Männer, die den Jüngling begeistern und zu Thaten spornen, und das Weib entwaffnen, um von ihm mit heiliger Gluth geliebt zu werden.

Kann es schneidendere Kontraste geben? Hier standen Clement mit seinem geistvollen, durchdringenden Blick und der leis gerunzelten Stirn, der hingebende Aemilius und seine wonne­bebende Schwester, und sprachen mit einer Dame, die weniger durch ihren Sohn, als durch ihren zweiten Mann 21 berühmt geworden ist, und Sohn und Mann standen daneben.

Canitz, der deutsche Poet Canitz, ahnete da wohl nicht, als er seiner Frau Mutter den Fächer aus vergoldetem Elfenbein hielt, daß ihn einst Friedrich der Große, der Verächter deutscher Kunst und Literatur, den Pope der Deutschen nennen würde; aber die stolze, kokette Dame ist seine Mutter und die menschenähnliche Gestalt neben ihr sein Stiefvater, der Herr von Brinbock, den sich, wie weltbekannt, Frau von Canitz aus Paris als Ehgemahl verschrieben hatte. Diese lächerliche Geschichte war damals nicht mehr neu, aber doch anstößig genug, wenn man die beiden Personen sah.

Diese Dame hatte Frankreich in neuen Moden erschöpft, und um vor den Berlinerinnen noch immer Etwas voraus zu haben, gab sie einem Kaufmann den Auftrag, wie sonst Bêtises oder Bonbons, so jetzt ihr einen jungen, schönen, lebhaften, gewandten, geistreichen und adligen Mann zu schicken. Man schickte ihr den Herrn von Brinbock, sie entsetzte sich, heirathete ihn aber. Und doch besitzt er Grazie, wenn er ihr die Hand küßt!

22 Kaum hatte sich der Chevalier und seine Begleitung von dieser Gruppe abgewandt, als sich diesem etwas in den Weg zu stellen schien, das ihn heftig bewegte. Seine stechenden, dunkeln Augen wollten unzweifelhaft einen aus der Menge herausge­tretenen Fremden vermeiden, fielen aber doch immer wieder auf diesen zurück, der den Verlegenen mit einem auffallenden Lächeln begrüßte.

Don Hernandez, dieser bleichgelbe, dunkellockige Castilianer, war erst vor Kurzem in den Cirkeln der Hauptstadt und heut zum ersten Male im Schlosse des Freiherrn erschienen. Man mußte es sogleich errathen, daß der fremde Chevalier und dieser nicht bekanntere Spanier sich schon begegnet waren; denn Einer faßte jetzt den Andern scharf, und in ihren Blicken wechselten Ueberraschung, Ingrimm, Verachtung. Sie wollten sich vermeiden, und doch traten sie instinktartig immer näher und standen zuletzt in einem entlegenen, minder hellen Saale sich allein gegenüber.

„Einen Gruß von Isabellens Grabe!“ begann Hernandez in einem Tone, der höhnend mit dem heiligen Auftrage, den er zu verrichten schien, im Widerspruch war; und wie wahnsinnig fuhr er fort: 23 „die Silbersterne der bräutlichen Myrthe winken Dir schon seit drei Lenzen, und an sandigen Flüssen des Nordens muß man den Freier suchen, den man am Ufer des Tajo verloren?“

Der Chevalier hatte bald in seine erblaßte Miene den ruhigen, siegreichen Ernst wieder aufgenommen und erwiderte in einem Tone, der schmerzlichmild und nachgebend klang. „Hernandez, Du verwaltest als ein schlechter Erbe das Vermächtniß von Betheurungen, das eine sterbende Schwester Dir zurückließ. Warum folgst Du der Spur, die ich mit meinem Schmerz und meiner Klage zeichne, wo ich wandle, und lässest mich überall aus Deinem Mantel den verrätherischen Dolch blicken?“

Hernandez zeigte die leeren Hände und eine Narbe, die quer über sein unschönes Gesicht fuhr, und sagte, indem er den Chevalier mit kaltem Auge fixirte: „Die Manen, die erzürnt aus den Gräbern meiner Eltern stiegen, und auf Dich, den treulosen Fremdling, zeigten und mir das Schwert zur Rache für die beleidigte Unschuld und Ehre in die Hand drückten, sind gesühnt. Ich muß den Schimpf, den Du meiner verblendeten Schwester und dem Andenken ihrer Ahnen und mir anthatest, durch dieses 24 Mahl, das auch Dein lügnerisches Antlitz hätte treffen können, für getilgt halten. Aber gegen den Verräther des spanischen Vaterlands, den feilen Diener eines fremden, herrschsüchtigen Priesters, den schleichenden Vollstrecker unheilvoller, ehrloser Aufträge wird die Spitze meines Schwerdtes und der Stachel meiner Zunge immer gezückt bleiben. Du ahnst es nicht, daß neben Alberonis Emissären auch das unglückliche Spanien seine Anwälte in fremden Ländern findet, die das vernichten können, was jene listig zusammengefügt.“ –

„Und die fallen werden,“ fiel der Chevalier ruhig ein, „wenn man den Gesandten der gesetzlichen Autorität glauben muß, weil sie nur Wahrheit berichten. Hernandez, ich beklage Dein Vaterland, auf dessen Altar Dein Jugendmuth würdigere Opfer legen könnte, ich beklage, daß Dein verblendeter Haß mir das Herz des theuersten Verwandten meiner seligen Isabelle raubt. Ihrem brechenden Auge entzogst Du den tröstenden Anblick, daß Du Deine versöhnte Hand in meine dargebotene Rechte legtest, und willst ihn auch jetzt der Seele, die flehend uns umweht, noch nicht gewähren.“ –

Hernandez wandte sich schweigend gegen das 25 hohe Saalfenster, an dem sie standen, und blickte in den Frieden der Sterne, die am wolkenlosen Himmel auftauchten. „Clement,“ sagte er dann leise und sehr bestimmt, „ich handle in Keines Auftrage, auch nicht im Auftrage meines Hasses. Meine Gesetze will ich von dem Augenblicke nehmen, und nur das thun, was mir dieser gebietet. Die Spitze meines Schwerdtes ist nach allen Seiten gezückt, aber den Griff wird nur das beleidigte Vaterland handhaben.“ –

Der Chevalier hatte ihn schon verlassen und war sinnend in die rauschende Gesellschaft zurückgekehrt. Hernandez blieb an seinem dunkeln Standorte, von den Olivenwäldern der Heimath träumend und dem Frieden, der um das duftige Grab seiner Schwester wehte.

Isabelle hatte den Chevalier mit der Gluth einer südlichen Liebe umfangen. Clement stand eine Zeitlang im österreichischen Dienste. Durch den Prinzen Eugen war er später seiner Talente und seines festen Charakters wegen an den Kardinal Alberoni, diesen geistvollen Emporkömmling, der in der That das spanische Scepter trug, empfohlen worden. Wie Alberoni, ein Italiener, von dem stolzen Spanier 26 gehaßt wurde, so auch seine Umgebung, zu der Clement gehörte.

Don Hernandez, einer der exaltirtesten Feinde des fremden Einflusses, fand in diesem nicht nur die rechte Hand des Kardinals, sondern auch den Freund seiner Schwester, an dem sie mit ungezügelter Hingebung hing. Von einer neuen Zurücksetzung seiner Parthei eben auf ’s Höchste gereizt, überraschte er einst die Liebenden; es kam zu einem heftigen Auftritte, wobei die vermittelnde Isabella durch die unvorsichtige Hand ihres Bruders so verletzt wurde, wie einst die schöne Poppäa von ihrem kaiserlichen Anbeter Nero, worauf sie starb. Sie hatte verscheidend von ihrem Bruder das Versprechen des Friedens mit dem Chevalier nicht erhalten, und starb zweifach freudenlos, eine geknickte und entblätterte Rose.

Im Zweikampf zog Hernandez den Kürzern. Er hatte nach seiner Heilung das Grab der Schwester mit frischen Blumen beflanzt, war die Pyrenäen herabgestiegen und fand jetzt nach langem Irren den Gegenstand seines Hasses, ohne Plan und Zweck, wie er ihn befriedigen sollte.

Der Castilianer stieg durch Seitengemächer in 27 das Erdgeschoß, ließ sich seinen weiten Mantel umwerfen und verließ das hellerleuchtete Schloß, dessen Tänze mit seinem Pulse keinen Schritt hielten, und dessen Geigen mit seinem Schmerze noch schlechter zusammenklangen.

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Zur Nachtzeit möchte man in großen Städten glauben, sie seien nur von Gaunern und Spitzbuben bevölkert. Das Pfeifen der Wächter, das Anrufen der Patrouillen würde auf jeden honetten Mann einen recht widerlichen, ehrenrührigen Eindruck machen, wenn die Kommune nicht annähme, daß ein Jeder dieser Qualität um die nachtschlafenden Stunden in den Federn liege. Dazu kam in jenen Zeiten noch, daß es weit früher in den Städten Nacht wurde, obschon die Sonne schwerlich zu einer andern Stunde als heute untergegangen ist. Der ewigen Desertionen wegen wurden nämlich schon sehr früh die Thore geschlossen, und die Patrouillen scheuchten die ehrsamen Leute in ihre Häuser, da Niemand doch riskiren will, für einen Ausreißer gehalten zu werden.

28 Es war einige Nächte nach jener auf vierzehn Tage für die ganze Umgegend unvergeßlichen Nacht beim Freiherrn Borck, als sich eine lange, vermummte Gestalt durch die hundert Quer- und Nebengassen der innern Stadt bewegte und endlich vor einem ansehnlichen Gebäude in der alten Friedrichsstraße stillstand.

Es war das Hotel des spanischen Gesandten. Auf ein leises Klopfen öffnete sich die Thür und der Chevalier schlug auf der hellen Hausflur seine Umhüllung zurück. Geschäftige Diener kamen ihm wie einer langerwarteten Erscheinung entgegen und geleiteten ihn die Treppe hinauf in einen Salon, wo der Ein­tretende von einer Anzahl versammelter Personen begrüßt wurde.

Der Gesandte kam ihm mit sehr gemilderter Grandezza entgegen und stellte ihn den Herren als den außerordentlichen Bevollmächtigten Sr. Eminenz des Kardinals von Spanien vor und drückte sich dabei mit vieler Vertraulichkeit aus. Diese Versammelten selbst waren theils Mitglieder der spanischen Gesandtschaft, theils die Beauftragten solcher kleinen Höfe, die unter dem spanischen Einflusse standen, namentlich italienischer.

29 „Meine Herrn,“ begann jetzt der Chevalier, sichtlich bemüht, durch eine gewisse Nachläßigkeit dem Tone seiner Rede das Feierliche zu nehmen, „Sie wissen, welche Interessen Sie zu vertheidigen haben, und wie diese mit denen Sr. katholischen Majestät verbunden sind. Sie wissen, daß alle Ihre Rücksichten auf das Gesetz der Verschwiegenheit zurückkommen. Ich darf Ihnen keine Aufklärungen geben über den gegenwärtigen Stand der politischen Verhältnisse, weil Sie diese kennen, keine Aufklärungen über die Stellung unseres Hofes zu Ihnen, weil ich damit meine Vollmacht überschreiten würde; es genüge, daß meiner nirgends als eines diplomatischen Agenten gedacht werden darf, daß ich Ihnen unbekannt bin und zu Ihren Geschäftskreisen kein größeres Recht des Zutritts habe, als jede Privatperson.“

Das war eine Ceremonie, die Niemanden befriedigen konnte. Doch nahmen die Herren in ihren listigen, südlichen Gesichtern alle die Miene an, als seien sie tief in die Geheimnisse eingedrungen und jetzt so unterrichtet, wie es ihre Würde nur verlangte.

Die Vorhänge der Hinterwand rauschten auf 30 und luden die Versammelten zu einem Bankette ein, an dem sie alle nach südlicher Sitte stehenden oder wandelnden Fußes Theil nahmen.

Man konnte die Charaktere unterscheiden: während die Einen über den Weinen, deren Trauben in den glühenden Thälern von Xeres de la Frontera gereift waren, Alles vergaßen, begannen die Andern den Königen und Völkern nach den gegenwärtigen politischen Constellationen die Nativität zu stellen. Der Chevalier und der Gesandte hatten sich in eine Nische und in ein Gespräch vertieft.

In einer Gruppe hieß es: „Die Sequestrationen sind bei den Deutschen so selten geworden, und ich fürchte, der Kaiser wird durch seine Fulminationen gegen den Herzog Karl Leopold die Stände des Reichs nur zum Widerstande reizen.“ –

„Keineswegs,“ antwortete ein hochgeschminkter, kleiner, runder Mann, „man muß die Schwäche dieser Menschen kennen, um ihre Anstrengungen zu beurtheilen. Nur die Eifersucht des Königs, an dessen ödem, langweiligem Hofe wir leben, könnte das Signal zu einem bewaffneten Widerspruche geben.“ –

„Meine Herrn, schon soll der König Protest 31 gegen dieses Sequester eingelegt haben, weil er als Chef des niedersäch­sischen Kreises vor Allen das Recht habe, gegen einen Herzog von Mecklenburg zu verfahren,“ sagte ein besser Unterrichteter, den aber wieder ein Anderer so berichtigte: „dem Kaiser wird es von dieser Seite an Entschuldigung nicht fehlen, denn die Krone Preußen hat eine Exspectative auf das executirte Land. Aber Rußland! bedenken Sie, Rußland! dessen Czar den jungen Herzog, trotz seiner tollen, unüberlegten Streiche, in seine Familie aufnehmen will und keine Beleidigung seines Schützlings dulden wird.“

Alle die staatsklugen Berechnungen wurden jetzt durch eine übermäßig laut gewordene Debatte übertäubt. In einer zweiten Gruppe hatte man seinen Standpunct höher genommen, und war über die Sympathien und Antipathien der Kabinette in lebhaften Zwist gerathen. Es waren über Spaniens Verhältnisse Sätze laut geworden, welche ein junger Mann von einem fast auffallend frischen Ansehen und einem sonderbar über die rothen Wangen streichenden Barte mit Feuer und Energie bestritt. Er sprach stürmisch und grauenhaft, denn seine Lippen bewegten sich dabei nicht.

32 „Die Politik des Gleichgewichts,“ rief er, „zerstört den innern und äußern Frieden der Staaten. Ist es nicht lächerlich, wenn sich Frankreich am Rheine für Verluste entschädigen will, die es in Westindien erlitten? Was bestimmt das Madrider Kabinet, mit den Höfen des entlegensten Nordens so weitberechnete Verbindungen anzuknüpfen, die das Vaterland nur in gefährliche Verwicklungen reißen können? Von jenem fernen Winkel Europens stellt man nach allen Seiten Netze aus, um die Raubthiere zu fangen, die man in ihrer wahren Schädlichkeit nur im Innern des Landes zu suchen hat. Spanien seufzt unter dem unglücklichen Joch –“

Hier brach der Redner plötzlich ab, offenbar über seine kühnen Worte erschrocken. Die ihn umringten, waren schon längst scheu zurückgetreten und hatten sich verwundert Winke gegeben. Jetzt kam der Chevalier, längst auf dieß Gespräch aufmerksam, hastig herbei, schlug dem Sprecher auf die Schulter und sah erschrocken in ein gemaltes Gesicht, in dem nur die Augen lebten.

„Hernandez, Du wagst Dein Leben!“ rief der Chevalier, aber die Maske war schon entschlüpft, 33 ehe man sich ihrer bemächtigen konnte. Durch eine Hinterthür war sie entkommen.

Man staunte, lief mit Lichtern nach, besetzte die Treppen des Vorderhauses und fand den Portier in seiner Loge zwar schlafend, aber als ein treuer Diener den Thürzug so fest in der Hand haltend, daß Niemand hätte hinein oder herauskommen können. Man staunte noch immer, aber der Chevalier sagte, es sei Nichts, und der Gesandte befahl, einen Transport Capwein zu bringen. Jetzt sprach man wieder von Sequestrationen und von den Tänzerinnen der italienischen Oper, Alles, wie die Diplomatie es mit sich bringt.

Hernandez schien an das, was er die Entlarvung des Chevalier nannte, Alles setzen zu wollen. An Verbindungen konnte es ihm nicht fehlen, ein diplomatisches Souper beginnt niemals mit der Frage: wer sind Sie? und eine Maske machte ihn unkenntlich.

Er hatte gesehen, in welcher Eigenschaft Clement auftrat, die Debatten der Unterhaltung regten seinen Widerspruch auf, und sein unberufener Eifer verrieth ihn. Er war mit einem leichten Sprunge in dem Hofe 34 des Hotels, stieg über eine Gartenmauer und war in wenig Augenblicken an dem Strome, der von dieser Seite eine Reihe von Besitzungen bespülte.

„Ihr seid verrathen? man verfolgt Euch?“ fragte eine lange, hagere Gestalt, die auf einem Kahne den Flüchtling erwartete. Hernandez riß die lästige Maske herunter und erzählte sein Abentheuer. Der Ruderer stieß ab, schwieg eine Zeitlang, bis der erschöpfte Spanier sich gesammelt hatte, und sagte dann: „Solcher Nächte habe ich in Paris mit Don Zea mehrere erlebt; nur endeten sie fröhlicher, als diese. Wenn Ihr wieder heimkehrt und den gelehrten Mann unter seinen Folianten in Salamanka aufsucht, so mögt Ihr ihm sagen, wie frisch noch in meinem alten Kopfe die Erinnerungen leben, und wie in mir die Wintersaat des Erlebten noch immer mit jungen Keimen aufschießt. Alles trifft zusammen: der spiegelglatte Strom, die vom Ruderschlag überraschten und entgleitenden Fische, die Nachtigall in den dunkeln Ulmen, die ihre säuselnden Schatten in den Strom werfen, die Sterne als einzige Vertraute über uns. Wenn wir dann den Kahn an einen Pfahl befestigt hatten, so betraten wir die friedlichen Räume unserer gemein-35schaftlichen Wohnung, wo in dem Ofen des Laboratoriums schon die glühenden Kohlen angeschürt waren und das Prodium über den siedenden Pfannen dampfte; denn wir trieben die Chemie mit würdigem Eifer. Nur sagte ich schon, wir kamen von süßeren Spielen, als zwei Brüder, die zweien Schwestern huldigten, Don Zea, jetzt der weltberühmte Lehrer in Salamanka, und Albertus Eckard, Sr. königl. preußischen Majestät erster Leibchemikus.“ Dieser Letztere, der in spätern Jahren durch seine Goldmacherei so unglückliche Eckard war Hernandez einzige Bekanntschaft, der er sich anvertraut hatte in dem fremden Treiben der Stadt. Don Zea von Salamanka hatte ihn an diesen, seinen alten pariser Studien­genossen, empfohlen, an einen Mann, dessen Stellung nach damaliger Sitte beim Hofe nicht ohne Einfluß und den Plänen des Spaniers darum nur willkommen war.

Hernandez hörte aber jetzt wenig auf die Reminiscenzen seines Begleiters, und der sanft gleitende Kahn wiegte ihn in solche Ruhe ein, daß er ungestört seinen trüben Gedanken nachhängen konnte.

Eckard sah dabei heiter in die sternhelle Nacht 36 und mochte wohl nicht ahnen, daß seine Blicke auf Orte fielen, wo hundert Jahre später eine Sontag ihre Triumphe feiern und ein russischer Kaiser ein Grenadierregiment haben würde.

Eckard wohnte nach alten Privilegien in einem Erkerthurme des cöllnischen Rathhauses, wohin er jetzt seinen brütenden Gastfreund führte. Hernandez warf sich auf sein Lager und der Leibchemikus benutzte noch einen Theil der Nacht, um im Cornelius Agrippa und Rosenkreuzers chemischer Hochzeit zu studiren, nach seinen Säuren und Extracten zu sehen, die Destillir­kolben zu befestigen, kurz sich auf jene, für den ehrlichen Mann so traurige Zeit vorzubereiten, wo er Gold für seinen Monarchen machen wollte, und zu dem Ende mehr Ducaten verbrauchte, als er produzirte.

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Wenige Zeiten gleichen der allgemeinen Unruhe und Aufregung, die den Anfang des vorigen Jahrhunderts bezeichnen. Es war die Zeit der Abentheurer, der Verschwörungen, der religiösen und wissenschaftlichen Thorheiten. Länder, deren Namen 37 bis jetzt unbekannt gewesen waren, bekamen plötzlich einen König, wie Korsika; Schweden, Rußland, Frankreich waren von innern Factionen zerrissen; der Aberglaube war von einem Könige, wie Ludwig XIV., auf den Thron erhoben worden, der Gemüther bemächtigte sich eine Aengstlichkeit, die die Einen immer geschickt macht, zu betrügen, und die Andern, sich betrügen zu lassen.

Männer von dunkler Herkunft, aber begabt mit Gewandtheit und körperlichen Vorzügen, wußten sich in Stellungen zu bringen, die ihnen unbeschränkte Macht über den Willen der Könige und den Gehorsam der Völker gaben. Die Lüge der Wissenschaft hatte auch die Geister und die äußern Verhältnisse ergriffen. Man konnte durch Kühnheit und die Gunst einer Prinzessin zu Allem gelangen. Und wie man Goldmacher, die ihr Versprechen nicht lösten, mit dem Leben bedrohte, bis sie vor Angst das Porzellan erfanden, so schreckte man sich gegenseitig mit erdichteten Verschwörungen, und die Furcht verursachte, daß man sich in wirkliche einließ.

An den Höfen erschienen Menschen, die heute noch im offiziellen Auftrage handelten, und mor-38gen schon nur Glücksritter waren; so arbeiteten die Feigheit der Politik und die Entschlossenheit dreister Charaktere einander in die Hände.

Zwischen dem Chevalier und seinem jungen Freunde, dem Hauptmann, war diese Lage der Dinge schon ein Gegenstand der Unterhaltung gewesen. Der Erstere schien nie anders, als ohne Absicht darauf zu kommen; doch konnte er dabei eine Tactik beobachten, die dem jungen, unerfahrnen Baron nie auffiel.

Ihre Herzen waren sich näher getreten, der Zauber des Räthselhaften, der den Hauptmann vom Chevalier sonst entfernter gehalten, hatte sich gelöst, seitdem zumal der Letztere kein Geheimniß mehr daraus machte, daß er in gewissen politischen Aufträgen in der Nähe des Hofes verkehre.

Der österreichische Gesandte gab einen Ball. Die beiden Freunde wollten in einer Stunde sich in dessen Hotel begeben und saßen noch im vertraulichen Gespräche beisammen.

Die Preußen politisirten schon vor hundert Jahren so, wie sie es noch thun: sie bilden sich nämlich immer ein, die ganze Welt beneide sie.

„Die Gesinnungen,“ sagte der junge Freiherr, 39 „welche das österreichische Kaiserhaus gegen unsere noch junge Königskrone an den Tag legt, sind dem Könige verdächtig, und müssen es bei so vielen Anzeichen bleiben. Man blickt mißgünstig auf diesen einst so schwachen Staat, der durch eine weise Berechnung seiner Kräfte, durch ein ansehnliches Capital von militairischem Ruhm, durch die besten Einrichtungen seiner innern Verwaltung zu einem Einflusse gelangt ist, der schon deßhalb gefährlich ist, weil er mehr zu vermögen scheint, als ehemals. Das in der europäischen Politik bisher unerhörte System der Ersparnisse hat eine Wahrheit für sich, die unwiderstehlich ist; der Aufschwung der Gewerbe, die Begünstigung der Einwanderungen, der systematische Berechnungsgeist, der die Finanzen des Königreichs durchdringt und in Alles einen Werth zu legen weiß, das sind Dinge, die die Eifersucht eines Nebenbuhlers eben so sehr, als die Besorgniß des Stärkeren erregen müssen.“

Der Chevalier schien ungemein zufrieden und hob die Unterlippe. Aber um wie Vieles praktischer sah dieser feine Kopf das Verhältniß an, als er fortfuhr: „Sie müssen sich in die gerade bestehenden Verhältnisse versetzen, und werden finden, 40 wie die zunehmende Macht und Größe eines Staats dem Einen nur immer um so viel unwillkommen ist, als sie einem dritten Andern erwünscht kommt. Hier spalten sich die Interessen, hier ergeben sich jene Hülfsmittel, die dem Bedrängten zufließen, weil zuletzt Alles in der Politik auf das Ueber- und Gegen­gewicht hinausläuft. Eine Politik ohne Allianzen ist ein Kleid ohne Aermel, wenn man es nicht als Mantel gebrauchen will. Ein Staat, der sich entweder von Allen nur geachtet, oder von Allen nur gehaßt denkt, geht unter, weil er aufhört, seine Interessen zu denen Anderer zu machen.“

Hier hielt der Chevalier inne, aber sein junger Freund hatte ihn verstanden und suchte seine Gedankenreihe fortzuführen.

„Lassen Sie uns auf Oesterreich zurückkommen,“ sagte er, „auf einen Staat, der Preußens natürlicher Rival ist, wie es auch Rußland immer bleiben muß. In den Differenzen, die die Gegner veruneinen, liegt unsere Kraft. Wir müssen uns nach Staaten umsehen, denen an Dem, was wir ihnen durch unsere zunehmende Größe gewähren können, Alles gelegen ist und die von uns benutzt werden, indem sie uns zu benutzen glauben.“ –

41 „Und diese Staaten sollen für Preußen wohl am Eismeer liegen?“ rief hastig aufstehend der Chevalier, ohne zu bedenken, daß sein Freund diese Frage unmöglich verstehen konnte. Dieser drückte den Aufgestandenen wieder neben sich und sagte: „Ehe wir Preußens Föderirte suchen, wird man fragen, welche gegen uns entstandene Gefahren bedrohen auch Andere?“

Der Chevalier schwieg, dann ergriff er Borcks Rechte und sagte mit geheimnißvoller Vertraulichkeit: „Mein Freund, wir sprechen von keinen Unmöglichkeiten, sondern von Ereignissen, deren Folgen in jedem Augenblicke zu erwarten stehen.“

Der Hauptmann verwunderte sich, aber Jener fuhr fort: „Es ist Wenigen bekannt, und es Ihnen mitzutheilen, zwingt mich meine Freundschaft, daß das Haus Oesterreich mit einem Fürsten, der einen Churhut und eine fremde Königskrone trägt, eine Verbindung eingegangen hat, die sich gegen einen uns Beiden theuren Staat richtet. Ja, noch mehr –“

Hier unterbrach ihn ein Bedienter, der den Wunsch seiner Herrin, Sophie, überbrachte, jetzt den schon lange vorgefahrenen Wagen zu besteigen. 42 Beide Freunde drückten sich die Hände und begrüßten das reizende Wesen, das ihnen auf halbem Wege aus einer geöffneten Flügelthür in unerhörter Pracht entgegenrauschte.

Der österreichische Gesandte war ein Ahn des später so berühmten Fürsten Kaunitz, dieses großen Feindes der Revolution, den die Jacobiner Gevatter Kaunitz nannten, und der der größte Tapezierer seines Jahrhunderts war. Geschmack konnte man diesem seinem ältern Verwandten vielleicht nicht absprechen, obschon bei ihm die Pracht größer war, als die sinnige Verwendung derselben.

Man mußte sich damals vor dem Gesetze der Mode beugen, und selbst den Gang eines Festes, den Verlauf einer Zusammenkunft, die auf das Vergnügen berechnet war, schrieb jene unerbittliche Richterin vor, ohne daß sie Improvisationen zuließ.

Den Grafen Kaunitz sah man an diesem Abend wenig; entweder hatte er sich zurückgezogen, oder er konnte unter dieser unzählichen Menge, die sich mit jedem neuen vorrasselnden Wagen vermehrte, nicht zum Vorschein kommen, weil er sehr klein war.

Sophie, der Chevalier und ihr Bruder bildeten 43 ein Kleeblatt, das ein schöner Geist, wären wir in Paris, würde ich gesagt haben, ein Abbé, den Solitär auf dem Cirkel der Gesellschaft, als dem Goldreifen, nannte. Man beklatschte diesen Einfall, während der Chevalier seine Tänzerin an dem Arm nahm und die Kühlung spendenden, einsamen Zimmer aufsuchte.

Clement war heut ausnehmend beweglich, seine Zunge war in einer ewigen Unruhe, und die Augen schien er nur aufzuschlagen, um sie vor den Reizen seiner liebenswürdigen Dame sogleich wieder zu senken.

O ihr verblendeten Weiber, die ihr triumphirt, wenn die Gegenstände eurer stillen Gunst einmal nur Auge, Ohr und Lippe für euch zu haben scheinen! Was bei den Männern so oft nur die Folge eines anderweitig empfangenen, angenehmen Eindrucks ist, was sie in eure holdselige Nähe schon mitbringen, das legt ihr als die Wirkungen eurer Anmuth, eurer Koketterie, eurer verrathenen Leidenschaft aus!

Der Chevalier hielt Sophiens Fächer und ließ wider seine Gewohnheit auf den Flügeln des küh-44lenden Zugwindes, den er ihr zuwehte, tausend Schmeicheleien mitziehen, die bei Sophien ein trunkenes und entzücktes Ohr fanden.

Die Sprache der Liebe ist dem Einen so wortarm, als sie reich an Synonymen für den Andern ist. Der stumme Ausdruck ist nicht immer an demselben Orte gleich passend angebracht, wie der beredte.

Der Chevalier, der sonst so schweigsame Grübler, erschöpfte heute das Wörterbuch und nahm selbst von den Malereien auf dem elfenbeinernen Fächer so mannichfache Ge­legen­heit zu schmeichelhaften Uebergängen, daß Sophie freudig zitterte und mit den Augenwimpern, diesem einzigen Theile des Kopfes, dem die damalige Mode mit keiner Farbe oder Puder beikommen konnte, ihre freudeglänzenden blauen Augen be­deck­te.

Der Wettlauf der Atalanta, der Apfel des Paris, die Liebe Semele’s und Danae’s Entzücken waren auf verschiedenen Feldern dieses Fächers mit sauberer Kunst gemalt, und der Chevalier citirte dazu den Ovid und preßte Sophiens Hand an seine Lippen.

„Halt! Gewehr ab!“

45 Was war das? Militairische Kommandoworte! Welche Bewegung! welch Drängen zu den Thüren! Himmel, es wehren baumlange Grenadiere den Ausgang.

Der Chevalier will mit der erblaßten Sophie vortreten, da hält sie eine vorgelegte Muskete zurück, sie sehen, daß in allen Zimmern diese mörderischen Stahlbarrieren funkeln. Offiziere gehen durch die Sperrlinien und ersuchen hier und dort einen in Ordensband und Stern glänzenden Staatsmann, einen angesehenen Krieger, ihnen hinaus zu folgen.

Auch vor den Chevalier tritt ein Offizier, fragt nach seinem Namen, sucht in einer Liste, die er in den Händen hält, und erklärt zur großen Beruhigung Sophiens, daß seinem Ein- und Ausgange Nichts entgegenstehe.

Clement tritt jetzt in den großen Salon, der wie ausgestorben ist, Alles drängt die Stiegen hinunter, und athemlos kommen den beiden Nachzüglern der verabschiedete Kammerherr, Sophiens kleine, feenartig geputzte Mutter, neben deren rother Schminke die Blässe des Schreckens einen unheimlichen Contrast bildete, und darauf der bestürzte Bruder entgegen.

46 „Man hat die ausgezeichnetsten Generale und mehrere Staatsmänner verhaftet,“ sagte der Hauptmann, als der Chevalier mehr zur Beruhigung Sophies als zu seiner eigenen Aufklärung den Bruder nach diesen sonderbaren Dingen gefragt hatte.

„Man ist mit Grenadieren in die Salons gedrungen!“ rief der alte Freiherr aus und schlug die Hände über dem Kopf zusammen; „man hat die heiligen, völkerrechtlichen Penaten eines Gesandten umgestürzt und mich beinahe für einen Kammerherrn gehalten, der seines verlornen Schlüssels wegen zu den Un­zu­­friedenen gehört!“

Sophie flüchtete sich an die Seite des Chevalier, weil er ihr gestanden hatte, daß er sie liebe, sie also auch beschützen mußte; die Mutter faßte den Arm ihres Aemilius, weil er ja unter die Garde gehörte und man ihn doch vor Allen zu respectiren habe, und der alte Freiherr seufzte mit einem schmerzhaften Blick gen oben: „Das ist die Herrschaft der Dessauer Hundekoppler und Nimrode! Das ist das Prinzip der Kamaschen und der sechsfüßigen Riesen! Das sind die Erfolge einer Regierung, deren erste That die Entlassung von hundert Kammerherrn war!“

47 Der Morgen nach dem gewaltsam unterbrochenen Feste beim Gesandten tagte mit auffallenden Erscheinungen. Die ein Feld draußen vor’m Thor hatten, oder die frische Morgenluft und den Gesang der Vögel im Thiergarten genießen wollten, erschracken nicht wenig, als ihnen die verstärkte Wache am Thore mit scharfen Worten und mit eben so scharfen Musketen zu verstehen gab, jeder Versuch, die Stadt zu verlassen, werde mit dem Tode geahndet. Die Bäckerlehrlinge, die den Kunden die Waare austrugen, konnten vor Patrouillen und Examinationen keine zehen Schritt ungehindert gehen, weil man jetzt in jedem Pastetenbäcker einen Menzikoff sehen wollte. Die ehrlichen Bürger tobten mit ihren Hausfrauen, daß sie keine Sahne zum Kaffee bekamen, aber die Milchweiber waren alle am Thore abgewiesen worden. Damals geschah es, daß eine gescheite Frau den Vorschlag machte, die Milch in die Spree zu schütten, weil sie ja so den Kunden ungehindert zuflösse. Und als nun gar die Gevatter Schneider und Handschuhmacher die Fensterladen zurücklehnten und jeden Pflasterstein mit einem Soldaten bepflanzt sahen, da blickten sie erschrocken ihre Ehehälften an und dachten an den Kometen 48 und den Türken, und es schauderte ihnen die Haut. Wäre damals die Haude- und Spenersche Zeitung erschienen, so hätte man um acht Uhr auch noch nicht gewußt, was im Staate­ eigentlich vorging. Allmählig brachten aber die Friseurs, die Tanzmeister, die Barbiere ein Gerücht in Umlauf, das gar gefährlich lautete. „Das ist eine Verschwörung!“ wagte Einer zu lispeln, und bald hieß es in der ganzen Stadt, eine ungeheure Verschwörung sei ausgebrochen. Dem war auch so.

Chevalier Clement war öffentlich vor den angesehensten Männern im Staate, ja im Kabinette des Königs selbst als der Gewährsmann einer ihm bekannten geheimen Allianz zwischen Oesterreich und Sachsen aufgetreten und hatte nachgewiesen, daß Viele unter den höhern Militairs und Civilbeamten von jenen Mächten gewonnen und zu einer höchst gefährlichen Verbindung zusammengetreten seien. Daher der rasche, ent­scheidende Schlag des gestrigen Abends, der zwar viele zarte Rücksichten verletzt hatte, doch von dieser Seite gar nicht weiter erwogen wurde, weil die Beleidigung nur den Repräsentanten einer jetzt so verdächtigen Macht getroffen hatte, und zuletzt mit der Nothwendigkeit einer 49 raschen Benutzung des Augenblicks entschuldigt werden konnte. Diesen Beschuldigungen eine größere Wahrscheinlichkeit zu geben, gesellte sich dazu die eben eingetroffene Nachricht von einer in Frankreich entdeckten Verschwörung, der unter dem Namen der Verschwörung von Cellamare in der Geschichte bekannten Katastrophe. Man setzte in die Eröffnungen des Chevaliers um so weniger Zweifel, als sich alle von ihm angegebenen Umstände mit erstaunlicher Wahrheit zu ergeben schienen, und seine eigene Vertrautheit mit den einflußreichsten Staatsmännern der angeschuldigten Mächte durch briefliche Documente erwiesen war.

Der Zustand der Stadt, der einer Belagerung glich, verlor zwar allmählig sein kriegerisches Ansehen, doch jetzt rollten unzählige Carossen durch die mit Neugierigen besetzten Straßen. Es war eine Eile, eine Aengstlichkeit in diesen Bemühungen der Großen, baldmöglichst das Schloß zu erreichen, die jeden Patrioten mit Trauer erfüllen mußte. Ohne Läufer, ohne Mohren, ohne Pagen, die sich an langen wollenen Gurten auf dem Tritt am Kutschenschlag hielten, flogen die besorgten, dem Könige nahe stehenden Räthe und seine Verwandten vor das Portal 50 des Schlosses, stürmten, mit verschobener Perrücke, tausendmal in Gefahr, über ihre brillantenen Prachtdegen zu stolpern, die Stiegen zu dem Audienzsaal hinauf, um vor Sr. Majestät ihr Erstaunen und ihre in Treue ersterbenden Gesinnungen an den Tag zu legen.

Friedrich Wilhelm I., in seinem einfachen Kleide, seiner majestätischen Haltung, mit seinem strengen, unerbittlichen Blicke, hörte die Dinge, die man ihm vortrug, mit einer seltsamen Mischung von Unwillen, Unglauben und Mißtrauen an. Hier fixirte er einen Rath, und dieser hielt sich für gerechtfertigt, dort einen Kammerherrn, und dieser Arme mußte glauben, verdächtig zu scheinen; so wechselten in dem Könige die Gefühle und die Aeußerungen derselben, die eine so unerträgliche Lage der Dinge in ihm veranlassen mußte.

Endlich öffnete sich eine hohe Seitenthür und Clement, in dem Kleide des Hofmannes, doch mit der ganzen Einfachheit, die dasselbe zuließ, trat in den Audienzsaal. In seinen Mienen lag ein Triumph, den man unter andern Umständen für einen leisen Anflug von Spott hätte halten können, der aber den Versammelten imponirte. Selbst auf den König 51 schien er zu wirken, weil er ihn für den Ausdruck der siegenden Wahrheit hielt.

Der Chevalier trat mit einer ehrerbietigen Verbeugung vor den Thron, und Serenissimus geruhten, ihm die Hand zum Kusse darzureichen.

„Die Affaires,“ begann der König in seinem originellen Style, „so von Ihm zu meiner Wissenschaft parvenirt sind, haben meine Noblesse an selbigen Ort getrieben, um ihren Respect mit schuldiger Devotion zu vermelden. Sie vermessen sich auf leibliche Eide, daß sie keine Spitzbuben sind, und Keiner annoch Lust verspüret, an den Galgen zu kommen. Zeige man nun denen ungläubigen Thomaskindern, was mir hätte arriviren können, wie es sich conveniret.“

Mit einem Lächeln, das da aufhörte, wo es die Grenze der Achtung berührte, trat Clement zurück und sagte: „Monseigneur, meine Freiheit und mein Leben sind in Ihrer Hand! Doch wird mir dieses Land, dessen Scepter Ihre weise Mäßigung führt, einen ewigen Dank wissen, daß ich Gefahren hinderte, in deren Kenntniß mich ein glücklicher Zufall setzte. Meine Stellung zu den entlarvten Verräthern war so vertraut, daß sie mich zum Mitwisser 52 ihrer verderblichen Plane machten, und dennoch wieder nicht so nahe, daß sie mich hätten zwingen können, ihnen Folge zu leisten. Selbst das theure Leben Ew. Majestät, dieses Unterpfand des Friedens für Europa und des Wohlstandes Ihrer eigenen Unterthanen, drohten jene Ohnmächtigen zu gefährden. Der Sitz, den Sie der Ruhe und der Erholung geweiht wissen wollten, sollte der Schauplatz einer in den Annalen der Geschichte unerhörten That werden. Man wollte den ersten Augenblick, wo Sie in Wusterhausen eingetroffen wären, wahr­nehmen, um Sie aufzu­heben und durch sächsische Kavallerie über die nur vier Stunden entlegene Grenze wegführen zu lassen.“

Der König sprang bei dieser hochverrätherischen Nachricht von seinem Sitze auf, die ganze Versammlung war von Entsetzen befallen, und der Chevalier, diese Stimmung benutzend, fuhr nach einer Pause fort: „Sire, die Stunden sind gezählt, die zwischen diesem gerechten Schrecken und der verdienten Strafe verstreichen dürfen. Erheben Sie Ihre siegreichen Fahnen und sammeln Sie Ihre treuen Armeen, um den im Hinterhalt lauernden Feind zu überraschen. Europa wird seine Wünsche mit seinen 53 Anstrengungen vereinigen, um einem Könige beizu­stehen, der für sein Leben, für seinen Thron, ja für die gefährdete Ruhe aller Länder das Panier erhebt.“

Eine peinliche Pause folgte auf diese berechnete Apostrophe, bis sie die Stimme einer gedrungenen, kräftigen, alles äußern Schmuckes entledigten Gestalt unterbrach.

„Er hat uns die Hände abgehauen,“ sagte der Feldmarschall Leopold von Dessau, „Er hat meine kapabelsten Offiziere ins Loch stecken lassen, da werden Se. königliche Majestät schlech­te Bataillen liefern.“

Clement entgegnete mit einer leisen Anspielung auf das Gerücht, das selbst den erprobten Marschall in die Verschwörung verwickelte: „Seine treuen Diener werden Serenissimus nicht nur an ihren Werken erkennen, sondern noch mehr an dem Eifer, mit dem sie sich ihnen unterziehen.“

Es lag so viel Imponirendes in diesen Worten des Chevaliers, daß der gute Feldmarschall scheu zurücktrat und vielleicht an sich selbst irre wurde.

Inzwischen war zum Könige eine Person herangetreten, in der alle Welt den Bewohner des Cöllner Thurms, den Leib­­­­chemikus, erkannte.

54 Was konnte Herr Eckard von Sr. Majestät wollen? Hatte er eine Methode erfunden, den Tabak für die berühmten Tabakscollegien des Königs besser zu präpariren? Hatte sich an den Rand seiner Schmelztiegel endlich das ersehnte Gold gesetzt, wofür ihm der König eine Prämie und den Adelstand versprochen?

Sonderbar, der König verläßt den Saal und der Chemikus folgt ihm mit einer geheimnißvollen Miene.

Die Versammelten traten jetzt zu vertrautem und ängstlichem Gespräch zusammen; der spanische Gesandte stürzte aber mit blassem Angesichte auf den triumphirenden Chevalier zu, riß ihn in eine Fensterbrüstung und flüsterte ihm mit der ängstlichsten Miene zu: „Unglücklicher, Sie müssen Ihre Rolle auf Ihre eigene Verantwortung ausspielen! Ich erhalte in diesem Augenblicke Depeschen, die uns Alle vernichten. Die Pariser Verschwö­rung hat den spanischen Hof compromittirt, ein ansehn­liches Heer hat mit Blitzesschnelle die Pyrenäen überstiegen, es ist zu Demonstrationen gekommen, bei denen der Kardinal und die Königin den Kürzern ziehen müssen. Ich höre, daß sich Einige aus 55 den Umgebungen des Königs ein Geschäft daraus machen, Ihre Schritte zu beobachten, daß man Beweise haben will, Sie von Ihren Erfindungen zu überführen; die nationale Parthei in Spanien hat auch am hiesigen Hofe ihre Emissäre, sie haben sich an den König gedrängt, und ich zittere, wenn es zu nähern Erläuterungen kommen sollte. Alles hängt von den Nachrichten ab, die der Kurier des heutigen Abends bringt. Hat sich der Kampf im Vaterlande zu Gunsten des Ministers entschieden, so wage ich es, Sie unter meinen Schutz zu nehmen, wo nicht – Unglücklicher, ich beschwöre Sie, warten Sie diese Entscheidung nicht ab, fliehen Sie auf der Stelle.“

Der Chevalier biß die Lippen zusammen, als ein Kammerdiener, dessen Rock ganz mit schwarzen Adlern durchwirkt war, sich nahte und ihn ehrerbietigst in die Zimmer abrief, in die sich der König vorhin begeben hatte.

Der Gesandte stand auf glühenden Kohlen. Das Schicksal des Chevaliers mußte ihn höchlich interessiren, weil es ihn selbst betraf. Obschon er sich auf Clements Discretion selbst im äußersten Falle verlassen durfte, so konnte sich doch Vieles ergeben, 56 was den Vertreter eines der angesehensten Throne hier ebenso erröthen ließ, wie es vor Kurzem in Paris geschehen war. Die an ihn attachirten Herrn drängten sich fragend und zweifelnd heran; doch vermochte er keinem die Beruhigung zu geben, die ihm selbst fehlte.

Der Fürst Leopold strich seinen Knebelbart und stampfte mit den Sporenstiefeln, und die Räthe und Kammerherrn warfen sich Blicke zu, in denen sich bald Furcht, bald Erstaunen, in allen aber steigende Erwartung ausdrückten. Da öffnete sich die Thür.

Ein junger Mann mit bleichem Gesicht, aber sicherem und selbstzufriedenem Schritte trat heraus. Wenn man in ihm Hernandez erkennt, so kann man annehmen, daß Clements Schicksal entschieden war. Der Spanier ging keck auf den Gesandten zu und sagte höhnisch: „Nun, Excellenza, wollt Ihr mir nicht noch einen Auftrag über die Pyrenäen mitgeben? Habt Ihr am Manzanares noch ein Landhaus liegen, dessen Verwalter Euch den Pacht schuldig geblieben ist? Liegt irgendwo Geld von Euch vergraben? soll ich es Euch in den Tornistern der französischen Grenadiere über die Berge 57 herschicken? Oder kann ich Euch sonst noch in einer kleinen Liebschaft, oder mit einem Gericht Fische aus dem Tajo dienen, so sagt nur, wo Ihr Eure Verbannung wählen wollt. Dafür verlange ich Nichts, als einen freundlichen Gruß an Se. Eminenz zu bestellen und ihn meines Beileids wegen seiner übeln Zufälle zu versichern. Gehabt Euch wohl!“

Damit trat Hernandez hinter die übrigen Herrn und verschwand.

Endlich kam der König zurück. Sein Ausdruck war strenger, aber beruhigt. Er ließ sich auf seinen erhöhten Sessel nieder und nahm das Wort: „Meine Vielgetreuen, muß ich Euch vermelden, daß sothane Conspiration eine infame Lüge ist, mich sehr alte­rirt, aber nunmehr kontentirt hat, weil einem Calumnianten das Maul verstopfet, so wie auch Alles als eitel Lug und Trug erfunden, woran ich jetzo mein Gefallen hab’ von wegen meiner getreuen Unter­­­­thanen.“

Diese Erklärung, eine allgemeine Freudigkeit und ein rührender Ausdruck derselben auf den Gesichtern der Anwesenden beendigten diese merkwürdige Audienz.

58 Der spanische Gesandte eilte, seine Abreise vorzubereiten, weil er stündlich von dem Repräsentanten des neuen Regimes abgelöst zu werden gewärtigen mußte.

Wem ist es in Leiden nicht oft so ergangen? Wo man zwei Ursachen zur Trauer hatte, da konnte man sich beruhigen, wenn auch nur eine derselben gehoben wurde; denn es giebt in der Freude keine Grenze.

Als Sophie ihren Bruder, der wegen seines vertrauten Umgangs mit dem Chevalier eine kurze Zeit gefänglich eingezogen war, wieder umarmen konnte, da schwand der Name des ihr einst so theuern und dann so unglücklichen Mannes allmählig aus ihren Klagen, dann aus ihren Träumen und zuletzt auch aus ihrem Gedächtnisse.

Der alte Freiherr athmete auf; denn er war von einer Verlegenheit, die ihn geängstigt hatte, befreit, er konnte nun den Chevalier öffentlich verdammen, ohne in den Verdacht zu gerathen, er tadle ihn nur, um sich selbst zu entschuldigen. Die Möglichkeit, daß man an seinem Patriotismus zweifelte, stachelte ihn, seine Seele ganz damit zu erfüllen. Er hätte die Majestät zu beleidigen 59 geglaubt, wenn er sich nicht zum Lobredner alles dessen, was die alte Sitte und die Tage von Versailles verdrängte, aufgeworfen hätte.

Clement starb den Tod des Hochverräthers. Die Confronta­tion mit seinem spanischen Feinde hatte ihn verwirrt und der Scharfsinn des Leibchemikus, mit dem sich dieser in spätern Jahren selbst eine Falle legte, einen Theil seiner Behauptungen vernichtet. Man hatte ihm Briefe, die vom Prinzen Eugen geschrieben waren, vorgezeigt, und von ihm, dem angeblichen Vertrauten dieses Feldherrn, die Angabe verlangt, wessen die Handschrift sei. Clement fehlte, und die Strafe ereilte ihn, bevor man ihn zu einem Geständnisse seiner Plane bewegen konnte.

Dieß Ereigniß gehört der Geschichte an, und es bleibt dem Scharfsinn überlassen, es nach gewissen Combinationen zu beurtheilen. Es ist über allen Zweifel gewiß, daß sich Talente und Verschlagenheit auf der einen Seite, und die ehrgeizigen Entwürfe eines der größten Staatsmänner der damaligen Welt verbanden, um dieß gefährliche Spiel zu wagen, das zuletzt Beide verloren.

Der Kardinal Alberoni, ein geistvoller Em-60por­köm­m­ling, setzte alle seine Anstrengungen daran, den Einfluß der österreichischen und französischen Politik zu vernichten. Selbst zu schwach, bekämpfte er die Macht des Herzogs von Orleans durch Englands und Hollands Waffen und durch Begünstigung der Factionen. Ebenso wollte er Oesterreich lähmen, indem er Preußen und Rußland zum Kriege gegen diese Macht um jeden Preis zu veranlassen suchte. Auch hier diente ihm eine Verschwörung, in Frankreich eine eingeleitete, in Preußen eine entdeckte. Aber diese Pläne scheiterten ebenso an der falschen Berechnung des Terrains, als an dem Unglück, das den Kardinal durch die französischen Waffen traf.

Chevalier Clement konnte hoffen, wenn ihm seine Machination, die Anreizung zum Kriege, glückte, an den glänzendsten Früchten derselben Theil zu nehmen; als sie fehlschlug, mußte er ihr Opfer sein.

Das sind die Nieten des Schicksals, auf die man gefaßt sein muß, wenn man den Einsatz wagt und sich mit der Möglichkeit eines glücklichen Treffers schmeichelt.

61 Die Singekränzchen.#

Bambocciade.#

63 Asmodi bückte sich, schnallte sein Bein fester und sprach:

„Was bleibt uns noch zu sehn übrig? Wir standen hinter dem Thronhimmel des Fürsten, dem Beichtstuhle des Priesters, hinter der Tapetenwand der diplomatischen Kabinette und den Thee­tischen der gesellschaftgebenden Damen; wir hatten den Schlüssel zu allen Hinterthüren und Geheimnissen, und wir benuzten ihn; Ihr müßt gestehn, daß ich ein Meister in der Deschiffrirkunst des Lebens bin. Was kann Euch noch verborgen sein? Ihr wißt, was es ist, das so eben im Pallaste hinter dem seidnen Vorhange wegrauschte; Ihr könnt die Geschichte eines Abends entziffern, wenn Ihr am Mor-64gen die Fensterjalousien früher oder später geöffnet seht, als sonst; Ihr versteht die Gefühle, die die Kammerpräsidentin durchstürmen, wenn sie an der heutigen Toilette mehr Weiß als Karmin oder umgekehrt aufträgt. Man kann nicht anders, als meine Lehrgabe bewundern.“

Ich hörte auf diese Anrede nur mit halbem Ohr: denn mein Begleiter war in den Zug gekommen, sich selbst zu loben. Mein Blick senkte sich zum Fenster hinaus, der thauige Duft des Morgens erfrischte die Augen, die sich diese Nacht nicht geschlossen hatten, und ich musterte die rothwangigen Gestalten, die in großen Städten nur am frühen Morgen die Straßen bevölkern. Mein hinkender Freund war überall zugegen, seine Gedanken liefen meinen Blicken parallel, und ich hörte bald seine mono­tone Stimme in folgenden Worten an meine Ohrtrommel schla­gen:

„Ich errathe einen Wunsch, dem Ihr so eben eine halbe Tertie lang nachgehangen seid. Wahrhaftig, Ihr habt einen artigen Geschmack: die Hüften antik, der Gang sylphidenartig; sie hatte braunes Haar und ihr kleines Ohr schimmerte rosenfarb. Bedarf es mehr, Euch den Verstand zu berücken? Ihr wollt in den Laden gehn, den der Engel 65 da betreten hat, wollt ein Uhrband kaufen, das die Kleine vielleicht häkelte, wollt den Moment zu einem Blicke benutzen, den sie möglicherweise gar nicht bemerkt. Was ist zu thun? Ihr sollt sie kennen lernen.“

Es gab Augenblicke, wo mein lahmer Freund sehr liebenswürdig sein konnte.

So hätte ich ihn auch jetzt umhalsen, an mein Herz drücken und mit meinen Küssen bedecken mögen; denn die junge Schönheit hatte in der That den Eindruck auf mich gemacht, dem er so beredte Worte zu geben wußte. Er trat an mein Schreibpult, beschnitt einen Bogen Papier, ergriff die Feder und kritzelte einige Hieroglyphen darauf, die er zu einem Brief zusammenschlug, mit einer Adresse versah und mir geheimnißvoll lächelnd einhändigte. Dann sagte er:

„Bester, die Minister von ganz Deutschland lassen ihre Reisewagen packen, sie halten in Carlsbad einen Kongreß. Ich muß dabei das Protokoll führen und in vier Wochen sehen wir uns wieder.“

Asmodi hatte eine sehr zarte Hand, er drückte die meinige und verließ mich.

Ich glaubte nicht anders, als einen direct an 66 meine Zauberin gerichteten Brief in der Hand zu haben. Wie erstaunte ich aber, die sonderbarste Adresse zu finden, lautend:

„Sr. Wohlgeboren, dem Herrn Weber, Vorsteher des Sing­instituts hinter der Parochialkirche.“

Daß ich an eine Person adressirt wurde, die hinter einer Kirche wohnte, sah meinem Freunde ähnlich; aber was sollte mir Herr Weber? wann hatte ich den Wunsch geäußert mich für das Theater zu bilden? ich, dem von den Göttern die Kehle nur zu einer Stufenleiter der Disharmonie gemacht war! Welcher Zusammenhang mit meinen Wünschen und dem Versprechen, sie zu befriedigen! Doch verzweifelte ich nicht, ich beschied mich auf den Nachmittag und nahm mir vor, um diese Zeit meinen Mann aufzusuchen.

Herr Weber schien jenes Urbild gewesen zu sein, das unserm Tieck zu seinem unsterblichen Eulenböck gesessen. Warum ihn schildern, da ich ihn nur zu citiren brauche? Dieselbe in allen Nüancen der rothen Farbe spielende Burgundernase, dasselbe Spiel des Dämonischen und Schalkhaften um die zusammengekniffenen Mundwinkel, derselbe Vexirgeist auf den Augenbraunen, die er bald zu einem betrüge-67rischen Ernst herab-, bald zu einer Eulenspiegelmiene hinaufzog; nur traf ich einen fixirteren Blick, den sogenannten satanischen, der an gutmüthigen Schauspielern so lächerlich ist, und bei unserm Musikdirector die Folge seiner Lehrstunden und der für sie nothwendigen Gravität war.

Uebrigens lehrte mich die Umgebung des Mannes, daß die Kunst meist vergeblich nach Brod geht und sich mit ihrer himmlischen Nahrung begnügen muß. Man hatte mehrere Höfe zu durchwandern, ehe man im entlegensten Hinterhause auf einen Gang stieß, dessen letzte Thür mit einem geschriebenen Aviso auf den musikalischen Namensverwandten des ausgezeichnetsten deutschen Komponisten wies. Herr Weber trug einen grünen Rock, der eben so kahl war, wie die Wände seines einzigen Zimmers. Ein zerrissenes Kanapee, ein Porträt Mozart’s, ein Notenpult und zwei Blechlampen hingen und standen rings an ihnen entlang, der Plafond der Decke war von Lampenruß so schwarz gefärbt, daß man nur mit Mühe die Grundfarbe des Zimmers wiedererkannte.

Aber ein Klavier prangte in der Mitte desselben, auf dem Hunderte von Notenblättern ebenso 68 freundlich schimmerten, als die darauf gezeichneten mystischen Kreuze und schwarzen Nadelköpfe jedem Uneingeweihten abschreckend erscheinen mußten.

Herr Weber öffnete meinen Brief und sagte mit der freundlichsten Miene von der Welt:

„Mein alter Freund schreibt mir da, daß Sie in unser Kränzchen eintreten werden, um es mit Ihrer sonoren Stimme zu unterstützen? Was singen Sie? Tenor? Nein, nein, Sie haben zu viel Bart am Kinn, Ihr Adamsapfel ist stark, es ist Blei in Ihrer Stimme: Sie müssen das tiefe C trefflich hervorbringen. Gott, Gott, die Tenore werden rar! Nichts als Bässe, Kopfstimmen und Fisteln! Ich bitte jetzt um die Skala.“

Was Skala! Ich wußte nicht, wie mir geschah. Das war ein schlechter Streich, den mir der Lahme spielte. Mich zu einem Sänger zu machen, meine Stimme dem Gelächter preiszugeben und mich in eine Lage zu bringen, in der ich nicht anders konnte, als die mir übertragne Rolle zu Ende spielen! Herr Weber schlug auf dem Klavier an, ich flüsterte die Töne, die er vorspielte, in einer ungefähren Annäherung nach, mußte mir einige Male sagen lassen, doch gefälligst den Mund auf-69zusperren, und erstaunte nicht wenig, als der Examinator in die Hände klatschte, meinen Baß bald mit der Reinheit einer Glocke, bald der Stärke eines Bären verglich, und mich feierlich als Mitglied seines Instituts aufnahm. Ich machte meinem Aerger durch einige halbe Fragen nach Werth, Sinn und Bedeutung der sogenannten Singkränzchen Luft; Herr Weber fing sie entzückt auf und gab mir folgende Auseinandersetzung:

„Wir emanzipiren uns. Die alten Riegel springen ab, und ein verschlossenes Thor rauscht nach dem andern auf. Der Genius dieser Zeit, ein muthwilliger Knabe, kennt keine Regel, keine Straße; alle Wege stehen ihm offen. Er greift nach tausend Dingen, die sonst unberührt lagen, er wirft sie durch einander und stört den Staub auf, den Jahrhunderte auf sie gesammelt haben. Er jagt die alten Gluckhennen der Wissenschaft von ihren philosophischen Windeiern, auf denen sie mit ebenso viel Pathos als Ingrimm seit Menschengedenken brüten; er fährt den Träumern, die in den Banden der Phantasie gefangen schlafen, mit Federdaunen in die sinnenden Nasen; ja, mein Herr, was soll ich es läugnen, er hat auch in der Musik 70 Alles über den Haufen geworfen. Darin seh’ ich aber einen Fortschritt. Was war diese göttliche Kunst vor funfzig Jahren? Einige wenige Geister hatten die Notenschlüssel in ihren Gewahrsam gebracht; die freieste Kunst, so frei wie der Waldgesang der Vögel, war einer sklavischen Zuchtform unterworfen, sie war kein Werk der Begeisterung und konnte Niemanden begeistern. Junger Mann, wie strich man vor funfzig Jahren die Geige? wie blies man auf der Flöte? wie schlug man die zauberischen Tasten des Klaviers an? und, gerechter Himmel! wie sang man? Das war eine Familienfrage, wenn der jüngste Bube die Violine lernen sollte. Man rief die Verwandten, die Pathen, die Nachbarn zusammen, wenn man über die große Frage abstimmen wollte, ob Rosinchen bei einem Maitre das Klavier, und eine zweite Versammlung, wenn sie nach einigen Jahren wohl gar den Gesang lernen sollte. Da lagen auf den Instrumenten die Reichardtschen Schäferspiele, die Liederchen von Schulz, in denen nichts als die gemüthlichen Phrasen: „Die Morgenröthe steigt empor!“ oder: „Die liebe Lerche singt schon wieder!“ variirt waren. Kam es hoch, so verstieg man sich in eine Kom-71position von Feska oder Benda. Das war die Musik noch vor dreißig Jahren. Seitdem haben wir glänzende Fortschritte gemacht. Was die Gewerbefreiheit für die Industrie war, das wurde der Dilettantismus für die Kunst. Die Musik ist in mannigfache Wahlverwandtschaften getreten. Was haben Gips und Salz mit der Erde gemein? Und doch säet man jene um die Erde fruchtbarer zu machen. Ebenso ist eine Notensaat über alle Länder ausgegangen; um welches Feld zu bebauen? den Patriotismus, die Unschuld, die Erziehung. Ich rede nur von der Verbindung, die die Musik mit dem Ton der Gesellschaft eingegangen hat. Leichtbeschwingte Arien und Cavatinen machen den Lauf um die Welt. Wo fänden Sie eine gebildete Dame, die Kellers Sonaten, oder die Variationen von Rode nicht zu singen wüßte? Die Musik ist ein Lebenselement geworden, sie hat die Fadaisen der Unterhaltung verdrängt, sie hat die ewig tanzlustigen Füße der Gesellschaft endlich zur Ruhe gebracht. Die musikalischen Akademien waren eine Folge dieses Aufschwunges, und die Singkränzchen wieder eine Folge der Akademien. Begeisterte Freunde und Freundinnen der Kunst treten zusammen, um sich 72 von den Entbehrungen und Anstrengungen, die ihnen ihr Beruf des Tages auflegt, in einigen heiteren, aber so angenehm als nützlich verbrachten Stunden des Abends zu erheben. Bald sind es die erhabenen Schöpfungen eines Graun, Haydn, Händel, bald die fröhlichen, gaukelnden Jubeltöne der Komponisten des Tages, die von ihren Lippen schwellen und sich zu jauchzenden, klagenden, bittenden, spottenden Harmonien vereinigen. Ein solcher Verein, junger Mann, hat sich unter die leitende Aegide meiner Direction gestellt. Wir treffen uns Montags und Donnerstags präcis sieben Uhr, wir beobachten einen ungezwungenen Ton und ich erhalte von der Person ein monatliches Honorar von zwölf Groschen, nebst vier Groschen für Beleuchtungs-, Feuerungs-, Klavierstimmungs- und Notencopialkosten, macht Summa summarum sechszehn Groschen.“

Ich mußte lachen, gab ihm sein Geld und versprach, mich zur bestimmten Stunde einzufinden.

In einer großen Stadt ist der Stundenschlag sieben die Theaterklingel, welche eine neue Veränderung der Scene ankündigt. Der Lärm der öffentlichen Bauten ist im Nu verhallt, die Wechs­ler 73 schließen ihre Komptoire, die Waarenläden werden mit langen eisernen Stäben verriegelt, die arbeitende Welt wirft ihre Nähnadel, ihren Hobel, ihren Hammer von sich, die Ladendiener und Grisetten machen ihre Toilette und eilen, die Oerter zu verlassen, die den Tag über der Schauplatz ihrer Kunstfertigkeiten oder ihrer Komplimente, und nur zu oft auch Zeugen ihrer Seufzer und Langenweile gewesen waren.

Doch welche Eile, welche Geschäftigkeit! Wie kann man sich so stürmisch der Erholung in die Arme werfen! Ist es die Ruhe, die einer solchen Anstrengung bedarf? Nein, man sieht, daß die Augenblicke Jedem kostbar sind, die er auf die Vorbereitung der nun folgenden Vergnügen verwendet. Man muß sich von den Spuren der Beschäftigung des Tags befreien, man muß die verschobenen Locken wieder in eine modische Lage bringen, hier giebt es eine Manschette, dort einen Tüllstreifen, der noch befestigt werden muß, vielleicht ist gar vom langen Sitzen das Korset zu nachgiebig geworden, man muß es von Neuem schnüren, und wie viel Zeit kostet das nicht!

Ich beschloß daher, meinen Gang in die réunion 74 chantante nicht zu übereilen; denn konnte es mir jetzt noch verborgen bleiben, daß das Institut des Herrn Weber bestimmt war, dem petit monde nach den Aufopferungen des Tages einen süßen Genuß, eine leichte Erholung, eine unschuldige Unterhaltung zu gewähren? Jetzt errieth ich die Ideenverbindung meines hinkenden Freundes, der mich, um die Bekanntschaft einer jungen Dame zu machen, veranlaßt hatte, in eine Gesellschaft zu treten, in der sie ohne Zweifel als das gefeiertste Mitglied glänzte.

Ich hatte falsch gerechnet und kam zu spät. Schon auf dem ersten Hofe hörte ich Diskantstimmen, die eine Fuge einübten, und auf dem zweiten die dazwischen donnernde Stimme des Dirigenten. Ich trat in das matt erleuchtete Zimmer, wurde wie ein Bekannter betrachtet und erhielt von einem jungen Manne ein Notenblatt, von dem ich nur so viel verstand, daß die hochstehenden Noten höhere, die tief stehenden tiefere Töne bedeuten sollten.

Herr Weber ließ sich nicht stören; er arbeitete mit Händen, Füßen, mit den durchbohrenden Augen, mit seiner stentorischen Stimme, um die Diskantstimmen im reinen Tone, im Takte, in gehöriger 75 Beachtung der lang aushaltenden Fermaten, und vor allen Dingen in dem richtigen Zählen der Pausen zu erhalten.

Ich fand dabei Muße, die Anwesenden mit flüchtigem Blick zu mustern.

Von einem Theil der jungen Damen sah ich wohl, hatte ich falsch prognosticirt: es waren verlegne, blutrothe Kinder, schüchterne Töchter der sogenannten Bürger und Eigenthümer allhier, von der Natur jedoch mit ebenso günstiger Aussteuer bedacht, als vielleicht von ihren Eltern. Diesen jungen Wesen steht gewöhnlich an der Stirn geschrieben, so viel bekommst du mit: drei Dutzend Hemden, vier Dutzend Paar Strümpfe, sechszehn Bettüberzüge, mehre Dutzend Tischgedecke und so fort, und wenn die Mutter vielleicht schon todt und der Vater wieder verheirathet ist: das ist dein Mütterliches, das kann man dir nicht nehmen! Und in der That liegen diese Gegenstände schon seit Jahren unter Schloß und Riegel, und werden von den aufblühenden Rosen zuweilen betrachtet, und die Augen fangen ihnen dann an freudiger zu glänzen, ob einer Zukunft, die bis jetzt erst noch in ihren goldnen Träumen lebt. Warum sollten sie 76 nicht auch singen lernen? Sie können stricken, nähen, häkeln, auf Stramine arbeiten, und haben schon für manche vor den Altar getretne Freundinn ein Brautschnupftuch von Musselin mit köstlichen Arabesken und Namenszügen gestickt; sie verstehn unzählige artige Arbeiten, warum sollten sie nicht in den Schacht ihrer Kehle fahren, um das klingende Silber und die Glockenspeise ihrer Stimme zu Tage zu fördern? Aber die Eltern sind geizig, sie drehen einen Groschen viermal um, ehe sie ihn ausgeben, und ich weiß, es hat Tagelange Kämpfe gekostet, ehe sie Röschen und Hannchen erlaubten, eine Kunst zu üben, von der sie selbst nichts verstehen, ohne welche sie wohlhabende Bürger und Meister geworden sind und sogar einen eignen Stuhl in der Kirche haben. Doch Röschen und Hannchen sind ebenso genügsam als schlau. Wollen sie denn bei der theuren Madame Campagnoli Stunde nehmen? Nein, sie sind mit Herrn Weber zufrieden, wo schon ihre Freundinnen singen und mit dem sie einen eignen Plan ausgedacht haben. Herr Weber steckt eine reine, fein gebiegelte Chemisette vor, stäubt seinen einzigen grünen Oberrock ab und macht sich zu den Eltern der jungen 77 Damen auf den Weg. Diese sollten seinen Bitten widerstehen können? Sie sollten gefühllos gegen die artigen Schmeicheleien des gewandten Mannes sein? Sie sollten seiner väterlichen Fürsorge nicht ihre beiden Augäpfel anvertrauen? Nein, in dieser Lage hat dem Manne noch Niemand widerstanden. Dies ist der Weg, auf dem er seine Chöre komplettirt und die Stimmen ausforscht, die einst seine Solosängerinnen werden.

So eben wollten wir aus Haydns Frühling in seinen Sommer treten, die Tenoristen waren tausendmal angerufen worden: scharf eingesetzt! und die Altstimmen eben so oft: ausgehalten, meine Damen, es ist eine ganze Note! als sich die Thür öffnete und eine Nachzüglerin hereintrat. Sie war es, die ich zu finden hoffte. Alles verbeugte sich, sie dankte links und rechts und eilte in das Nebenzimmer, um sich ihres Mantels und Hutes zu entledigen.

Nichts Interessanteres, als die Debatte, die sich jetzt zwischen Herrn Weber und der Säumigen entspann. Ein Stichwort gab das andre, Niemand blieb eine Antwort schuldig, und Einer spitzte den Stachel seiner Entgegnung immer schärfer als der Andre. Das mußte ein gewöhnlicher Auftritt sein, 78 denn Alles lachte, bis auf den Direktor, der Ungehorsam noch eher zu ertragen schien, als Ueberlegenheit an Witz.

Die Zeit war schon so weit vorgerückt, daß wir jetzt den Uebergang zu einigen heitern Liedern machten, meistentheils Chören aus Auber’s, Boyeldieu’s und Rossini’s Opern. Ich erhielt für jeden dieser Gesänge: z. B. „Liebe wohnt in niedern Hütten,“ von Call, oder: „Ertönt ihr Hörner und Schalmeien,“ von Boyeldieu, oder: „Blüthenkränze, Spiel und Tänze,“ von Rossini, regelmäßig ein Notenblatt, verließ mich aber auf meinen Nachbar, einen Schulmeister und Besitzer einer Stimme, die seines Standes würdig war. Ich bat ihn, für mich mitzusingen, und er hat redlich sein Wort gehalten. Herr Weber konnte nicht genug rühmen, wie viel Kraft heute von der Stelle, wo ich stand, ausgegangen sei.

Er machte mich nach dem Schlusse der Uebungen mit einigen der Herren bekannt, in denen er mir Privatsekretäre, Kassenassistenten, junge Beamte auf Wartegeld und einige Andre vorstellte, die er lakonisch die einzigen Söhne ihrer Eltern, d. h. 79 junge Faullenzer und Aspiranten ansehnlicher Erbschaften nannte.

Die Damen hatten sich inzwischen in ihre Wienermäntel und Bibihüte gehüllt, sie passirten sanft erröthend eine zu beiden Seiten von den Herren gezogene Chaine, Herr Weber leuchtete mit einer Laterne über den stockfinstern Hof, und ich bemerkte daß sich nach und nach einige der Abgehenden zu Paaren bildeten, die sich heute nicht zum ersten Male zusammenfinden mochten.

Meine Annäherung an die sarkastische junge Dame, die Trägerin der Opposition gegen den machthaberischen Herrn Weber, gehört nicht hieher. Ich wollte die Singekränzchen schildern, und erlaube mir, aus den Erfahrungen, die ich in ihnen machte, noch dreierlei hervorzuheben: die Ständchen, die Kirchenmusiken, die Landparthien. Seine Zeitgenossen schildern, heißt die Nachwelt über die Sitten ihrer Vorfahren aufklären.

Einem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgangen sein, daß die Sitte der Serenaden seit dem Ende der sentimentalen Restaurationsperiode seltner geworden ist. Noch vor drei Jah­ren waren 80 sie die Mode des Tages, oder vielmehr der Nacht. Die Eisenhoferschen Quartette wetteiferten um eilf Uhr in den großen Städten, mit dem Gesange der Nachtigall und den geschwätzigen, plätschernden Brunnen. Welche junge Schöne hatte nicht wenigstens einmal unter ihrem Fenster das majestätische: „Tochter des Himmels!“ oder das schmelzende: „Schlaf wohl auf weichem Flaum!“ mit klopfendem Herzen vernommen und sich gefragt: ob das ihr gelte? Die Ständchen machten sich meist durch Verabredungen, die in den Singekränzchen getroffen wurden. Wer sich eines huldvollen Blicks zu erfreuen hatte, oder hoffte, ihn durch eine Gefälligkeit zu erlangen, wer auf einem Spaziergange eine verlorne Schleife hatte aufheben und der schönen Besitzerin wieder zustellen können, wem das Ungefähr die Wohnung der Unbekannten oder wohl gar den Tag, da sie die Erde würdigte, geboren zu werden, zugeraunt hatte, oder wer auch nur dieselbe Gestalt dreimal an demselben Fenster zu derselben Stunde hatte sitzen sehn, wie konnte er anders, als seinen Gefühlen durch eine Serenade zu Hülfe kommen?

Ich muß gestehen, in solchen Augenblicken herrschte unter den zur Unterstützung aufgeforderten 81 Mitgliedern des Vereins eine Aufopferung, eine Theilnahme, eine Bereitwilligkeit, die Achtung vor dem Institut einflößte. Man wählte die neuesten Musikstücke, man aß den Tag über kein Fleisch, sondern nur ein stimmelösendes Gemisch von Zucker und Ei, man versäumte die angegebne Stunde um keine Minute, und wie oft war man nicht bereitwillig, den Text und die Noten auswendig zu lernen! Ein freundlicher Dank, ein Händedruck, einige Gläser Wein genügten, um seine Erkenntlichkeit zu beweisen.

Man wird sagen: Jeder gab hier gern, was er zu einer andern Stunde für sich in Anspruch nahm; aber mein Schulmeister war von Blatternarben besäet, seine Nase mißrathen, sein Mund ohne Ende, seine ganze Gestalt war Ausschuß; wem hätte er eine Serenade bringen wollen? Und er war es, der sich einer Aufopferung hingab, die an die Zeiten der Decius und Curtius erinnerte. Er war untröstlich, als die Sitte nachließ, als man ihm keine Anträge mehr machte, als er sich nicht mehr unter die Fenster stellen durfte.

Die Väter fingen nämlich an, sich diese Huldigungen zu verbitten, die Töchter dankten nicht mehr 82 für eine Ehre, die jetzt so wohlfeil geworden war, und die Polizei war seit der Julirevolution immer bereit, jede Nachtmusik eine Störung der öffentlichen Ruhe zu nennen.

Eine zweite Beziehung der Singeinstitute ist die Verbindung, welche die Kirche mit ihnen unterhält. Bei allen Völkern ist die Musik ein wichtiger Hebel des öffentlichen Gottesdienstes; und welcher christliche Kantor wird sich nicht glücklich schätzen, an den hohen Festtagen zwischen dem Altargebet und der Predigt eine Hymne mit Wechselchören und Soloparthien unter obligater Orgelbegleitung zu arrangiren?

Das ist der Grund, warum die Kantoren und Organisten mit den Vorstehern der Singekränzchen auf Du und Du leben, warum sie sich auf der Straße umarmen, zuweilen gemeinschaftlich dejeuniren, und immer bereit sind, ihren Freunden Noten zu leihen, oder ihnen Schulbuben zu schicken, die Fertigkeit genug besitzen, ihnen im Abschreiben derselben beizustehn.

Auch Herr Weber war immer bereit zu helfen, und sich durch Gefälligkeiten verbinden zu lassen, deren Erwiederung ihn nichts kostete. Kurz vor 83 der Marterwoche, wenn die hohen Festtage des Charfreitags und der Ostern allmählig eingeläutet wurden, fing er an, besonders geschmeidig zu werden. Er tadelte das Zuspätkommen nicht mehr, unterließ das lästige Wiederholen einzelner Notensätze und sprach mit besonderer Salbung von den kommenden Festesfreuden. Endlich wagte er, mit seinem Anliegen hervorzutreten.

Und wer hätte einen Dienst versagt, der einer christlichen Gemeinde galt? Wer gab nicht gern eine auf den ersten Oster­feier­tag verabredete Spazierfahrt auf, oder verlegte sie auf einen andern Tag?

Man dringt in Herrn Weber, sich deutlicher zu erklären, Zeit und Ort zu bestimmen, und vor allem die Musikstücke zu nennen, welche er aufführen will. Es ist eine Fuge von Bach, oder ein Chor von Hasse, oder eine Motette von Bernhard Klein.

Aber ist das auch nicht schwer? Haben wir Altisten genug? Sind die Solostimmen komplicirt? Herr Weber weiß für alles Rath. Er verspricht, den zweiten Sopran durch einige Currendisten unterstützen zu lassen, Hülfstruppen, die ihm der 84 Kantor der Sophienkirche stellen muß; er nennt einige junge Cho­ristinnen des königstädtischen Theaters, welche er gebildet und deren sich die ältern Mitglieder noch mit Entzücken erinnern, die nicht abgeneigt wären, die schwierigen Parthien zu übernehmen. Was bedarf es mehr, um einen glänzenden Erfolg zu sichern?

Der Tag rückt heran, die Proben ließen nichts mehr zu wünschen übrig, die jungen Damen haben ihre Eltern, ihre Verwand­te, ihre Pathen zu diesem öffentlichen Debüt eingeladen, das Orgelchor, sonst nur mit flachshaarigen Schulbuben und mit armen Sündern, die sich dem Klingelbeutel entziehen wollen, besetzt, bietet heut wegen der vielen modigen Kostüms und Hüte und der reizenden Antlitze, die unter den letztern versteckt sind, einen bezaubernden Anblick dar; alle Welt hat kleine Zettel in der Hand, die den Text der Musikstücke enthalten, das Amen des Predigers ist verhallt und die Orgel beginnt das Präludium.

Was soll ich noch sagen? Herr Weber kann nichts Unvollkommnes liefern: es wurde pausirt, Takt gehalten, wie nie, und die schwierige Fuge schlug meisterhaft zusammen. Man wünsch­te ihm 85 Glück, er dankte lächelnd und begleitete seine Sängerinnen die staubigen Treppen hinunter. Der Frühling ist gekommen, auf den Straßen werden Veilchen ausgeboten, und die Herren beeilen sich, ihren Begleiterinnen duftende, senti­mentale Sträußchen zu überreichen.

Die Wiederkehr der schönen Jahreszeit ist endlich noch das Signal für eine Unterhaltung, die ich mit diesen letzten Pinselstrichen zeichnen will.

Wer hat nicht in der Stadt, von der ich rede, zuweilen des Sonntags zur Zeit der Mittagswende gesehn, wie mehrere end­lose, unbedeckte, dicht mit einem muntern Mischvölkchen besetzte Wagen zu den Thoren hinaussprengen, um ferne oft über mehrere Dörfer hinausliegende Plätze des Vergnügens aufzu­suchen? Das konnte nur Herr Weber mit seinem Singinstitut gewesen sein.

Diese Spazierfahrten wiederholen sich drei bis viermal im Jahre, und sind die angenehmste Abwechselung, die der Verein gewährt. Die Musik tritt dann in den Hintergrund, es sind nur die Freuden des geselligen Zusammenlebens, die jetzt genossen sein wollen. Und sollte man sich nicht mit ganzem Verlangen dem Scherz und dem Spiele 86 ergeben, da es für viele so heißen Kampfs bedurfte, um die Erlaubniß zu einer unbewachten Ausflucht zu erhalten?

Die jungen Damen sind Töchter guter Eltern; wie flehend und schmeichelnd mußten sie aber nicht ihre Rede stellen, um die Abneigung derselben gegen diese Consequenz der Singekränzchen zu überwinden? Man kannte freilich Herrn Weber, aber nicht sein männliches Personal; wie durfte man also dem Uebermuth der Jugend die Zügel seines Betragens in die eigne Hand geben? Ja, und dennoch sehn wir jetzt die hoffnungsvollen Töchter mit freudestrahlendem Antlitz durch das Brandenburger Thor fahren. Es ist ausgemacht, daß sie über die Bedenklich­keiten den Sieg davon getragen, daß sie versprochen haben, Punkt eilf Uhr wieder an der Hausthür zu klingeln, und diese Erlaubniß dann nie wieder in Anspruch zu nehmen. Ich bedaure, hier abbrechen zu müssen, weil die Darstellung mich in ein andres Gebiet, das ich nicht verfolgen wollte, führen würde. Es ist ein andres die Singekränzchen porträtiren, es ist ein andres, die Spazierfahrten schildern.

87 Ich füge nur hinzu, daß mir bei einem dieser Ausflüge, der seine Richtung nach Köpenik nahm, aus dem Gebüsch mein Freund Asmodi entgegentrat. Er hinkte in meine Arme und drückte mich mit Wärme an seine Brust. Ueber seine diplomatische Mission fand er des Erzählens kein Ende, und in der That waren die Mittheilungen, die er gab, über alles interessant. Er zog mich in den Strudel der Politik, dem ich kaum entronnen, wieder hinein; ich dachte über die Thorheit nach, daß ich ohne Stimme hatte singen lernen wollen, und entschlüpfte den jubelnden Seelen, die auf einem grünen Rasen ihren bunten Reigen aufführten.

Das ist alles schon lange her: ich habe Herrn Weber nie wieder gesehn, zweifle aber keineswegs, daß er noch immer der Mittelpunkt der kleinen musikalischen Bestrebungen und geselligen Freuden ist, an denen ich eine kurze Zeit Antheil nahm, daß er noch immer um die Osterzeit Kantaten einstudirt, und bei seinen Männerstimmen zuweilen anfragt, ob man nicht eine Fahrt unternehmen und die nöthigen Hülfsgelder deshalb zusammenschießen wolle. Möchte dabei auf ihn nie mehr kommen, als daß er die Summen abrundet, möchte es ihm nie an 88 reinen, silberhellen Stimmen fehlen und seinen Worten an der schlagenden Kraft, mit der er so viele altfränkische und zögernde Mütter von dem Sinn und der hohen Bedeutung der Musik zu überzeugen wußte!

89 Der Prinz von Madagaskar.#

91 In dem hintern Zimmer eines Kaffeehauses, welches weder das beste noch das schlechteste von Paris war, schien ein junger Mann die hastigen Schritte zu zählen, mit welchen er den engen Raum durchmaß. Bald eilte er an die Fenster, welche zur Straße führten und warf einen erwartungsvollen Blick auf sie hinunter, bald lief er in die Vorderzimmer, um an der dort aufgehängten Uhr nach der Zeit zu sehen, weil er vermuthlich selbst keinen andern Stundenmesser besaß, als seine Ungeduld. Wollte er die Ouvertüre einer neuen Oper nicht versäumen? Hatte er für einen Ehrenhandel sein Wort gegeben? Galt es den präcisen Augenblick zu treffen, um bei einer Dame oder einem Gönner 92 oder einer geheimen Spielgesellschaft Einlaß zu finden? darüber wagen wir den jungen Mann selbst nicht zu fragen; denn er sieht mürrisch und finster vor sich her, aus seinen sonderbar geformten Gesichtszügen blickt ein Unmuth, welcher durch den auffallend dunkeln Teint nur noch gehoben, und durch den nachlässigen, fast ärmlichen Aufzug im Aeußern gewissermaßen gerechtfertigt wird. Ich rechne keinesweges darauf, daß diese Erzählung von Schneidern gelesen wird, füge aber doch hinzu, daß unser junger Unbekannter einen Rock trug, in welchen sich Taille und Haltung nicht heimisch fühlten; denn läßt sich daraus nicht schließen, daß wir einen Militair in Civilkleidern vor uns haben?

Unterlaßt es, für meinen Euch so ärmlich geschilderten Helden eine Collecte zu sammeln, denn so eben weist sich aus, daß er noch im Stande ist, einen Diener zu unterhalten. Da tritt der alte, aber noch rüstige und muntere Mann durch die ziemlich entvölkerten Zimmer und sieht sich in allen Ecken nach seinem Herrn um, den er jetzt erblickt und freundlich mit seinem Taufnamen Hippolyt begrüßt.

„Da hättʼ ich fast geglaubt, Sie nicht mehr 93 zu finden,“ sagte er mit treuherziger Geschäftigkeit; „unsere Sachen stehen gut und ich hoffe, es wird noch besser werden. Den Professor hab ich im Quartier Latin, im sechsten Stockwerk, glücklich aufgefunden; ein charmanter Mann, voller Gelehrsamkeit, gar kein Stolz, seine Sitten und alle Sprachen der Welt, die sich nur denken lassen. In einigen Augenblicken wird er hier sein.“

Hippolyt schien der Erscheinung des alten Mannes bedurft zu haben, um wieder froh zu werden, und nahm lachend mit freundlichen Verneigungen des Kopfs die Dienste des Alten an, welchen er beim Danke Colas nannte. Colas war aber mit diesem Lächeln, das er in seiner Sprache mit Zweifeln übersetzte, durchaus nicht zufrieden und sagte:

„Was lachen Sie, Hippolyt? Können Sie nicht eine halbe Stunde allein bleiben, ohne daß Sie den Muth verlieren? Himmel, ich habe Sie während Ihres ganzen Lebens nicht aus den Augen gelassen, und nun es zur Entscheidung kommt, sind alle meine Erwartungen nicht eingetroffen. Was giebt es zu lachen? Der Professor ist im Augenblick hier.“

Hippolyt hatte mit jenem Lachen auch gar nicht 94 das ausdrücken wollen, was sein alter Diener und Hofmeister befürchtete, sondern erklärte ihm ganz ernsthaft, daß ihm der Professor recht ein Bedürfniß sei und er nichts sehnlicher als dessen Hülfe wünsche.

„Du kennst nur Mißtrauen gegen mich, Colas,“ fuhr er fort; „unser Vorhaben war der Traum meiner Jugend, der jetzt zur Wirklichkeit gereift ist. Ich habe mich immer nach den Gütern gesehnt, welche mir ein neidisches Schicksal entriß und will sie nicht länger entbehren, da ich die Kraft habe, mich in ihren Besitz zu setzen. Die heimathlichen Wälder rauschen um mein Ohr, die Dämmerung der Vergangenheit hält mich mit festen Banden umschlossen, ja ich fühle es, daß mir die Rechte werden müssen, die mein sind und die sich nur die Schwäche entreißen ließ. Soll ich noch länger in dieser unglücklichen Lage, da ich jetzt lebe, unbekannt, ohne Hülfsmittel, ohne die Vor­theile, auf welche mich meine Geburt hinwies, fort­vegetiren? Soll ich noch in Paris der Gegenstand eines lästigen unnützen Mitleids oder wohl gar des Spottes bleiben? Colas, laß Dich mein Lachen nicht irren: sei versichert, daß ich mein Aben­theuer bestehe.“

95 Colas hatte kaum noch Zeit, seinem jungen Herrn freudig die Hand zu drücken; denn eben wurde er des Professors in den vordern Zimmern ansichtig, und mußte eilen, diesen gelehrten Mann zurechtzuweisen.

Der Professor Polyglotte war ein dünnes, schmächtiges Männlein mit einem großen Kopfe, der, wie es an den französischen Gelehrten so gewöhnlich ist, hinten die Gestalt eines eckigen Würfels zeigte. Die schwachen kleinen Beine schienen gemacht zu sein, den übrigen Körper nicht zu tragen, sondern ihn fortwährend emporzuschnellen und größer zu machen, als er in der That war. Die hektisch geformte Brust, die unruhige Bewegung des Unterkiefers und der Augen, die dürftige, aber doch reinliche und sorgfältig gelegte Kleidung und Wäsche verriethen den armen Gelehrten, welcher nur davon zu leben wußte, daß er sich noch immer manierlich genug hielt, um die Leute, denen er seine Dienste antrug, durch sein Aeußeres nicht zurückzuschrecken. Er näherte sich mit gemessener Höflichkeit und fortwährenden Verbeugungen dem harrenden Hippolyt, welcher ihm mit schweigender Erwartung entgegentrat.

„So viel ich aus den Mittheilungen meines 96 guten Freundes, dieses alten Herren hier,“ begann Polyglotte, auf Colas zeigend; „habe vernehmen können, wünschen Sie, mein Herr, einen Mann zu haben, welcher aus der Kenntniß fast aller gebildeten und ungebildeten Sprachen der Erde ein Studium gemacht hat. Sie sehen in mir einen Solchen, der auf die Erfüllung Ihrer Wünsche fast ein halbes Jahrhundert anwandte. Ich habe das versteckte Treiben der großen Sprachfamilien aufzudecken gesucht, ich habe mein ganzes Leben darauf zugebracht, die zahllosen Verschwägerungen und Verschwisterungen, die Vater- und Gevatterschaften aller Zungen zu vergleichen. Wünschen Sie Aufklärung über die Verzweigungen des indo-germanischen Sprachstammes? Ist Ihnen daran gelegen, die Analogien der semitischen Sprachen kennen zu lernen? Aber – aha, ich merke schon, Sie sind ein junger Heros jener Schule, welche man jetzt die romantische nennt, ein Novellenschreiber, welcher ausländische Wörter zum Aushängeschild seiner Phantasien benutzen will. Mein junger Herr, irre ich mich?“

Der Professor sprach diese letzte Frage mit einer so lang gehaltenen süßen Vertraulichkeit, daß ihm 97 Hippolyt lachend seinen Irrthum benahm und darauf hinzusetzte:

„Nein, Herr Polyglotte, es ist von keiner Fiction die Rede, sondern von einem wirklich romantischen Stoffe, den ich selbst erleben will.“

„Lassen Sie mich,“ fiel Polyglotte ein, „ich verstehe Sie vollkommen. Sie sind ein junger Mann, Sie sind ein Abentheurer, Sie wollen entweder nach Ost- oder Westindien. Was bedarf es da weiter? Ein wenig Englisch, einige praktische Uebungen in Sanskrit, etwas Portugiesisch, wenn Sie nach Brasilien, Spanisch, wenn Sie nach Cuba wollen. Das sind Dinge, welche sich bei mir nur nennen lassen, um sogleich darüber Auskunft zu haben.“

„Auch das nicht,“ sagte Hippolyt verlegen; „weder von Amerika, noch von Asien ist die Rede, obschon Sie Recht haben, wenn Sie von einer transatlantischen Reise sprechen.“

Der junge Mann stockte, als er fortfahren wollte, der Professor setzte schon seine unermüdliche Zunge in Bewegung, um im Rathen seinen Scharfsinn zu zeigen, doch Colas gab nicht zu, daß dies 98 leere Geschwätz, was zu nichts führte, fortgesetzt würde.

„Wozu diese Weitläuftigkeiten!“ nahm er ärgerlich das Wort; „ich will Ihnen unsere Sache ganz kurz sagen. Mein Herr da muß Afrikanisch lernen!“

Polyglotte lachte laut auf und sagte: „Mein lieber alter Freund, wie meinen Sie das? Mein Herzensväterchen, wie soll ich das verstehen? Afrikanisch! Wie groß denkt Ihr Euch wohl Afrika? Haha, wenn Ihr auf Eurem Kirchthurm stehet, so sehet Ihr weiter, als der ganze Umfang von Afrika beträgt. Was ist Afrika gegen Paris? Der Ozean läßt sich entfernt mit der Seine vergleichen. Ach, was Ihr für vortreffliche Späße machen könnt, Alter!“

Colas gerieth über diesen leichtfertigen Spott in den größten Zorn.

„Sie wollen mich Afrika kennen lehren?“ rief er den Professor heftig an; „ich bin unter dem Aequator wie zu Hause, ich war, wenn Sie es wissen wollen, zwanzig Jahre in Afrika, und habe mein linkes Auge nicht am Staube des Bois de Boulogne verloren, sondern an der Sonnenhitze 99 auf der Insel Bourbon, wo ich jeden Strauch kennen will, selbst wenn ich ganz blind wäre. Hippolyt, dieser Professor will uns sagen, was Afrika ist!“ –

Hippolyt beruhigte seinen treuen Diener und erklärte dem erstaunten Polyglotte, daß es sich um die Sprache von Madagaskar handele.

„Madagaskar! das laß ich mir gefallen,“ erwiederte dieser, fuhr aber darauf nachdenklicher fort, während ihn die beiden Andern scharf beobachteten: „Madagaskar! Ei nun, ich will nicht sagen, daß diese größte Insel der Erde, welche von der Natur eben so begünstigt ist, wir Hayti und Cuba, daß sie nämlich keine wilden Thiere hegt, welche zuerst von den Portugiesen – und besonders fruchtbar – ja, was wollt’ ich sagen? oder vielmehr, ich wollte nicht sagen, daß diese Insel auf meinen Sprachtabellen, welche ich Ihnen jeden Augenblick zeigen kann, die zum Druck bereit liegen, die von den größten Linguisten unserer Zeit in Einsicht genommen sind, die eigends – ja, daß die madagassische Sprache auf ihnen fehlt; im Gegentheil, es läßt sich nicht läugnen, daß –“

„Ohne Umschweife, mein Herr,“ fiel der junge 100 Mann ein und ergriff dabei krampfhaft den Arm des Professors, „verstehen Sie Madagassisch?“

Dieser ganz bestürzt, entgegnete mit einem erzwungenen Lächeln: „Ja nun, ich – es käme einmal auf den Versuch an! Obschon ich gestehe, daß das, was man ausschließlich die Sprache von Madagaskar nennen könnte, mir – Nein, mein Herr, beruhigen Sie Sich; ich beende dieß Geständniß nicht, denn es dürfte vielleicht unwahr sein. Ich habe die Reise des Grafen Benjow­sky wohl gelesen, ich weiß, woher die dortigen Völkerschaften ihren Ursprung leiten, daß arabische und abyssinische und überhaupt semitische Elemente in ihrer Sprache vorhanden sind, wie dies Alles in meinen vergleichenden Sprachtabellen nachgewiesen ist, in einem Werke, daß mich unsäglichen Fleiß gekostet hat, und das ich öffentlich werde bekannt machen, wenn meine an den Minister oft gestellte Petition, es drucken zu lassen, genehmigt sein wird. Ist es wahr, daß Arabisch die Grundlage der Sprache von Madagaskar ist, so versteh’ ich sie so gut, wie Herr Sylvestre de Saçy, nur bloß, daß ich billiger bin, wenn ich darin Unterricht gebe!“

Hippolyt und Colas sahen sich beide Beide betroffen 101 an; alle ihre Hoffnungen schienen mit dieser Antwort zerstört zu sein. Der Erstere schlug sich verzweifelnd an die Stirn und rief schmerzlich aus:

„Welchen geringen Gewinn hat doch die Welt von der Achtung, welche sie den Gelehrten zollt! Diese Menschen nennen sich unterrichtet und behaupten, vor keiner Frage zu erröthen! Ach, nicht einmal die Sprache einer Insel zu verstehen, von welcher Sie doch selbst, mein guter Herr, zugeben, daß sie die größte auf der Erde ist! Ihre Unwissenheit vernichtet die Hoffnungen eines unglücklichen jungen Mannes, welcher nahe daran ist, aus seiner Sehnsucht eine fixe Idee zu machen.“

Polyglotte hätte gegen diese Beschuldigungen so viel einzuwenden gehabt, aber er beschränkte sich auf die Wiederholung seiner früheren Vermuthung.

„Sein Sie versichert,“ sagte er; „daß wir mit dem Arabischen überall in Madagaskar auskommen. Im Munde des Wilden verwischt sich der ursprüngliche Laut nicht so bald als in Europa, wo Alles auf den Verfall der alten Ausdrucksweise hinarbeitet. Wir werden noch immer Arabisch genug verstehen, um so viel zu sagen, als etwa nöthig ist, um ein Stück Reißbrei und einen Trunk Wasser 102 zu bekommen, um einer schwarzen Eingebornen einige zärtliche Andeutungen zu geben, und sich im äußersten Fall die Ehre des Skalpirtwerdens zu verbitten.“

„Halten Sie das für hinlänglich,“ fragte Hippolyt mit einer stolzen Miene; „um in Madagaskar König zu werden?“

Der Professor stutzte, blieb mit offenem Munde stehen und folgte dann unwillkührlich der Erklärung, welche Colas dahin gab, daß sie sich den arabischen Plan noch überlegen würden, und er morgen um dieselbe Zeit hier wieder erscheinen möge; er ging unter vielen Verbeugungen; blieb aber noch einmal stehen, schüttelte den Kopf, und war in den Vorzimmern verschwunden.

Es sind historische Thatsachen, welche ich zur Erklärung dieser etwas unverständlichen Scene hier anführen will; ganz Paris hat von ihnen gesprochen, und würde ihnen dieselbe unermüdliche Theilnahme geschenkt haben, wie den Osagen und der Giraffe, wenn sich nicht die Person, welche sie betrafen, den Augen seiner Bewohner kurz nach dem entzogen hätte, als diese Person eben angefangen hatte, jene im besonderen Grade auf sich zu lenken.

103 Hippolyt Berora war in der That unter dem tropischen Himmelsstriche von Madagaskar geboren. Er war der Sprosse einer der vornehmsten Häuptlinge dieser Insel, auf welcher sich die Franzosen da erst anzusiedeln suchten, als die Engländer fast schon von allen ihren Ufern Besitz genommen hatten. Eine noch unter der Kaiserherrschaft von Silvain Roux geleitete Expedition mißglückte völlig, und der Befehlshaber, sei es nun, um für spätere Unternehmungen eine Art Rechtsvorwand zu haben, oder aus einem andern Grunde, nahm die beiden Söhne eines mächtigen Häuptlings mit sich hinüber nach Frankreich. Mandi-Tsara hieß der Aeltere, welcher in Madagaskar starb, als er aus Frankreich, dessen Klima er nicht ertragen konnte, dorthin zurückgekehrt war. Berora aber, der jüngere Bruder, unser Hippolyt, hatte sich vortrefflich an das neue Klima, an die Sitten und Lebensweise eines Landes gewöhnt, was seine Heimath genannt werden konnte, weil er von dem Lande seiner Geburt durchaus keine Erinnerung mehr hatte. Er hatte früher unter dem Schutze des Sylvain Roux gelebt und nachdem dieser auf einer zweiten Expedition gestorben war, unter der Aufsicht des alten Colas, 104 welcher der Dichter Roux’s gewesen war und sich lange Zeit in der Heimath seines Pfleglings aufgehalten hatte. Hippolyt war in die Armee getreten und bekleidete gegenwärtig die tiefste Charge des Avancements für einen Offizier, eine Lieutenantsstelle in einem Linienregimente. Niemals hatte er Paris verlassen: Dieser Wilde schien nur für Paris geboren zu sein. Er bewegte sich mit der geschliffensten Tournüre in den Cirkeln, welche sich dem abentheuerlichen Nimbus seines Daseins bereitwillig öffneten, er wußte sich keines andern Baumes zu entsinnen, als der Buchen und Akazien in der nächsten Umgebung von Paris, die Tagesneuigkeiten der Salons bildeten die Welt von Gedanken, in denen er lebte, und die kleinen Begegnungen unter Freunden und Bekannten, waren bis jetzt immer die Ereignisse gewesen, welche ihn am meisten beschäftigt hatten. Je älter er wurde, je weniger sich sein Einkommen, das er nur aus seiner subalternen Stelle und Colas Aufopferungen bezog, mit dem Werthe, welchen der Ruf und die eigene Eitelkeit auf seine Person legten, zu vertragen schien, desto unangenehmer berührten ihn die Erinnerungen seiner Herkunft, desto unerträglicher 105 wurden ihm die Aufforderungen seines treuen Dieners, welcher Alles von dem Eintritt eines gewissen Alters und der Besitznahme der unveräußerlichen heimathlichen Rechte seines jungen Freundes erwartete. Hippolyt, welcher zwar als Kind den Erzählungen Colas wie Ammenmährchen gelauscht hatte, aber schon als strebender, reifender Jüngling die fixen Ideen seines alten Dieners belachte, konnte jetzt auf das heftigste erzürnt werden, wenn man ihn, den Pariser, den zierlichen Krieger, den Liebling der Damen, den Schmetterling aller Zirkel, den Vertrauten der jungen Literatur des Tages, den Wagehals im Bois de Boulogne, an der Roulette, wenn man ihn an seine finstern, tropischen Wälder und den Thron von geflochtenen Binsen erinnerte, welchen er unten nackten, thierischen Menschen hätte einnehmen können.

Plötzlich aber trat mit dieser Antipathie eine Veränderung ein. Hippolyt wurde nachdenkender, seine Freunde nannten ihn melancholisch, und Colas hoffte, daß er zur Vernunft und Einsicht gekommen sei. In der That widerstand sein Zögling seinen Aufforderungen nicht mehr mit dem früheren Aerger und dem früheren Spotte , sondern er nahm die 106 abgebrochene Kette von Erzählungen über seine Heimath, welche aus dem Munde des Alten so reichlich strömten, wieder auf und ließ sich bald in die Berechnung aller Möglichkeiten, welche bei einer Vindication seiner alten Rechte eintreten könnten, von Colas verwickeln. All das Abentheuerliche der Prätendenz auf einen vielleicht längst verschollenen Thron, schien ihm jetzt nicht mehr einleuchtend zu sein, und was früher wohl seine Phantasie beschäftigt hatte, beschäftigte jetzt einen Ehrgeiz und eine Combination, welche ganz so, wie sie aus Colas Kopf hervorgegangen war, in den seinen überging.

Woher diese plötzliche Aenderung? Sie entstand keineswegs aus einer Uebersättigung an den Genüssen des rauschenden Paris, es war keine Zerstreuung, welche Hippolyt suchte, sondern er hatte bestimmte Zwecke im Auge. Das langsame Fortrücken in seiner militairischen Carriere, die Unzulänglichkeit der Hülfsmittel, welche er bedurfte, um in seinem Auftreten nicht immer entblößt zu erscheinen, die Leidenschaft des Spiels, welche ihm nichts mehr zu gewinnen geben konnte, nachdem er nichts mehr zu verlieren wagen durfte, das Alles bildete die Grundlage eines Entschlusses, welchen ein 107 späteres Ereigniß unwiderruflich machte. Trotz seiner exotischen Gesichtsformen und eines fast bronzenen Teints hatte Hippolyt doch in mancherlei zärtlichen Verhältnissen gestanden, von denen aber keines auf ihn so wirkte, als das geheime Verständniß mit der jungen reizenden Gräfin C**. Man kann vielleicht nicht sagen, daß Hippolyt hier andere Hoffnungen hätte haben sollen, als bei einer früheren Begünstigung; doch schien er sich in den Kopf gesetzt zu haben, gerade den Erwiederungen der Gräfin C** eine feste, treue, volle Neigung unterzulegen. Er sah sich verrathen, als die junge Gräfin in demselben Augenblicke, wo er noch ihren letzten zärtlichen Brief an seine Lippen preßte, mit seinem Chef, dem Obersten D**, zum Altare ging. Was bei Andern den Ueberdruß am Leben geweckt hätte, das stachelte ihn, die Minute zu benutzen und von seiner ganzen Lage jeden nur möglichen Vortheil zu ziehen. An seinem Ehrgeize war er durch die untreue Wahl der Gräfin gekränkt worden. Eine sonderbare Verwirrung seiner Ideen trat ein, er fing an, sich in die Brust zu werfen, und während er Alles um sich her, seine Bekanntschaften, seine Freunde, und das Nächste, sein Aeußeres, 108 vernachlässigte, beschäftigte er sich unablässig mit dem Gedanken, von seiner Tugend jetzt den glänzendsten Gebrauch zu machen. Colas war glücklich; denn Hippolyt lebte nun für ihn, er ging auf seine Plane ein und betrieb eifrigst ihre Verwirklichung.

Der junge Mann hatte sich entschlossen, von seiner Geburt seine Zukunft abhängen zu lassen, und dachte jetzt unwiderruflich daran, um jeden Preis König von Madagaskar zu werden.

Wir sind vielleicht bald bereit, diese Expedition sehr lustig zu finden; allein sie hatte auch ihre tragische Seite. Hippolyt mochte alle Eigenschaften besitzen, welche ihm das Recht des Prätendenten gaben; die vorzüglichste fehlte ihm aber, nämlich die Kenntniß seiner Muttersprache. Er hatte sie vergessen, jene krausen, barocken Laute, welche in seiner Heimath die Gefühle und Bedürfnisse ausdrückten, er wußte nicht mehr, wie seine unbekannte Mutter ihre Freude zu erkennen gab, wenn sie ihn erblickte, oder wie sie die Worte des Flehens stellte, als sie von einem feindlichen Stamme ermordet wurde. Er hatte niemals an diesen Mangel seiner heimathlichen Beglaubigung gedacht, und jetzt erst, da seine Seele mit dem festen Entschlusse umging, 109 die Heimath aufzusuchen und zu erobern, erschrack er vor dem Gedanken, daß er ihre Sprache verlernt hatte.

Selbst Colas sah ein, wie nothwendig diese Kenntniß für ihr Unternehmen sei; er theilte den Schmerz, welcher seinen Freund unnennbar unglücklich machte, und sann auf Mittel und Wege, diesem Mißstande irgendwie abzuhelfen.

Was ließ sich aber dabei thun? Es mußte jemand da sein, welcher Hippolyt’s verschüttetes Gedächtniß aufräumte, der ihn an Laute erinnerte, welche ihm die Natur, da er geboren wurde, auf seiner Zunge schwebend mitgab.

Colas bemühte sich, einen Sprachmeister zu finden, welcher für ihre Kasse nicht zu theuer war. Aber wer verstand in Paris die Sprache von Madagaskar? Hippolyt war der Verzweiflung nahe, seine Schwermuth war zum Gespräch geworden, da hörte Colas von dem Talente des Professors Polyglotte. Er eilte zu ihm und es folgten jetzt die Scenen, die uns schon bekannt sind.

So sonderbar die Vermuthung Polyglotte’s über die Sprache von Madagaskar war, so hatte sie doch 110 etwas Wahres, was sie empfahl, namentlich der Umstand, daß sie von Niemandem widerlegt werden konnte, in den beiden Freunden einige Hoffnung erregte und auf die Länge sogar Glauben fand. Die Vorbereitungen zur Ausführung ihres Vorhabens waren schon mit zu vielem Eifer und Ernst betrieben worden, als daß eine Ungewißheit dieser Art, die noch dazu im Munde eines Gelehrten ein ganz anderes Ansehn erhielt, ihre schon fertigen Pläne hätte rückgängig machen können.

Hippolyt hatte schon den Entschluß gefaßt, Unterricht im Arabischen zu nehmen, als am folgenden Tage Polyglotte ihm an demselben Orte, wie gestern, mit einer scheuen überhöflichen Devotion entgegentrat.

„Ew. Königliche Hoheit,“ begann er sogleich und zeigte, daß er sich über die Persönlichkeit seiner neuen Bekanntschaft erkundigt hatte; „Ew. Königliche Hoheit wollen doch alles das, was ich gestern unartiger Weise aus den Augen setzte, einem Gelehrten zu gute halten, welcher den größten Theil seines Lebens über seinen Büchern zugebracht hat, und wenig mehr von den öffentlichen Charakteren in Paris kennt, als einige Ministerialräthe, welche 111 die Aemter zu vergeben haben. Jetzt weiß ich aber nicht nur, wer Ew. Hoheit sind, sondern auch die Pläne, mit welchen Sie umgehen. In Paris kann man über Jeden Alles erfahren, und ich gestehe, daß ein junger Mann, welcher Madagassisch lernen will, meine Neugierde im höchsten Grade beschäftigte. Die geforderte Sprache selbst anlagend, so hat sich ihr Ursprung seit gestern Nachmittag nicht verändert. Ja, Hoheit, es ist nur zu erwiesen, daß die vorzüglichsten Dialekte Ihrer Heimath semitische Sprachwurzeln haben. Wir werden Arabisch lernen, und wir werden die Sprache von Madagaskar verstehen.“

Colas setzte deshalb alles Vertrauen auf Polyglotte, weil er ein Gelehrter war, Hippolyt aber, weil seinem Ehrgeize die Huldigung des Mannes schmeichelte. Jener fing deshalb an, mit seinen Ersparnissen in der Tasche zu klimpern, dieser hatte die obligate Frage auf dem Munde, wie viel sich der Professor für seine Lektionen zahlen lasse. Polyglotte aber drängte auf beide ein; denn er verstand ihre Bewegungen sehr wohl, wollte sie aber nicht zum Ausbruche kommen lassen. Er schien ganz etwas anderes auf dem Herzen zu haben, 112 als das Bedürfniß des Geldes und gewann endlich nach einigen Vorboten der Verlegenheit Fassung zu folgender Erklärung:

„Nichts von Bezahlung,“ sagte er; „für meine Leistungen würde ich immer zu viel und“ setzte er ironisch hinzu, „für einen König immer zu wenig erhalten. Hoheit, nehmen Sie mich zum zweiten Unterthanen Ihres Reiches; (denn Ihr alter Diener wird sich die Ehre nicht rauben lassen, der erste zu sein), ich folge Ihnen über den Ocean, als ein dictionnaire de poche, als eine Grammaire portative, als eine lebendige Aushülfe. Was hab’ ich in Paris? Nichts, als meine unverkäuflichen Manuscripte, als das lange Nachsehn, wenn Andere mir die Stellen wegschnappen, nichts als diesen grauwerdenden schwarzen Frack, als diese Manschetten, welche ich mir jeden Abend selbst wasche, als diesen kahlen Hut, welcher gleichfalls bald nichts mehr, als eine einzige große Beule sein wird. Die Republik nahm mir Alles, das Consulat gab mir nichts wieder; die Kaiserherrschaft raubte mir meine jungen Verwandten, welche mich unterstützen konnten, und was die Restauration der Bourbonen gegen mich verabsäumte, das können Sie, Prinz, bei der 113 Ihrigen wieder gut machen. Ich rechne seit vier und zwanzig Stunden darauf, daß Sie mich mitnehmen.“

Hippolyt konnte ohne seinen ersten Minister keinen Entschluß fassen, er sah Colas an, es kam ihm Alles so wunderbar, so neu vor, er hätte den Professor umarmen und doch lachen mögen; er hätte gewünscht, daß alle Welt dieser Huldigung beiwohnte und sah sich doch ängstlich um, ob sie ihn vor Niemanden kompromittirt hätte. Colas aber überrechnete still, ob der Preis für die Lektionen den Kosten der Ueberfahrt gleich käme, und beglückte den zitternden harrenden Polyglotte mit dem Resultat, daß sie ihn, wenn er den Unterricht umsonst geben wollte, mitnehmen könnten.

„Behüte der Himmel, wie sollt’ ich mich bezahlen lassen!“ rief Polyglotte aus; „auf dem ganzen Erdball werden zweitausend Sprachen geredet; funfzehn davon kann ich sprechen, sieben und dreißig verstehen, und über vierhundert kann ich allerhand feine Bemerkungen mittheilen. Sie sollen Alles lernen, Alles, was ich weiß, Alles, was zu wissen mir leider in meinem Leben noch nichts genützt hat. Ich kann in Madagaskar Dragoman werden, ich 114 kann die Correspondenz mit auswärtigen Höfen führen, ich kann die neue Literatur unter den Wilden einheimisch machen, und den Herren Balzac und Jacob ein Publikum unter dem Aequator schaffen. Ich übersetze die Bibel mit Voltaire’s Erläuterungen; ich denke, Prinz, Aufklärung, Religion und schöne Wissenschaften werden Ihre erste Regierungssorge sein, und Sie können für alle diese Dinge kein besseres Instrument finden als mich.“

Hippolyt schwamm in Entzücken, Colas hörte aufmerksam zu, und alle Drei beschwuren einen Bund der Treue und Aufopferung.

Der junge Prätendent befand sich zwar in einer ähnlichen Lage, wie in unsern Tagen Don Pedro; doch besaß er nicht die Mittel, wie dieser, von seinem Pariser Aufenthalte Vortheil zu ziehen. Wie gern hätt’ er, als seine Sache zum Stadtgespräch wurde, die Anerbietungen der Glücksritter und proscribirten Abentheurer angenommen, welche seine Rechte verfechten helfen wollten? Wie gern hätt’ er die Werbetrommel in den Straßen von Paris schlagen lassen, und alle Unzufriedenen, die constitutionellen Flüchtlinge aller Nationen unter seine Fahnen versammelt? Allein es fehlte ihm Geld und 115 Polyglotte’s Rath, bei Rothschild eine Anleihe zu nehmen, würde nichts gefruchtet haben. Die Regierung, an welche sich Hippolyt wandte, verwies den Bittsteller zur Ruhe und deutete ihm ernstlich an, die Welt in keine unnütze Kriege zu verwickeln. Alles, was er erlangen konnte, war seine Entlassung, welche er von dem Obersten D**, dem Gatten seiner untreuen Geliebten, mit einer eigenen Mischung von Freude und Aerger annahm.

So blieb denn, um die Ueberfahrt und Landung jenseits des Ozeans zu bewerkstelligen, nichts übrig, als die Ersparnisse Colas, welche er für diesen Zweck seit langen Zeiten aufbewahrt hatte und jetzt mit Freuden hingab. An dem schönsten Frühlingstage riß sich Hippolyt von seinem theuern Paris, Colas von den Hindernissen, welche so lange seinen schönsten Träumen im Wege gestanden hatten, Polyglotte von seiner Dachstube und den Bücherschränken los, aus denen die Bücher längst verkauft waren, und die ihm im nächsten Winter ohne Zweifel zur Feuerung gedient hätten. Alle Drei zogen sie zu Fuß, ohne viel Gepäck zum Thore hinaus und bestiegen in Brest, so leicht und frei, 116 wie sie gekleidet waren, ein Handelsschiff, welches sie nach dem Schauplatze ihrer nächsten Schicksale bringen sollte.

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Nach einer mühseligen Fahrt von vielen Wochen bemerkten endlich die Schiffer, daß nach Nordost ein langer dünner Strich über die unabsehbaren und dunkeln Gewässer lief. Es war die Küste von Madagaskar, welche von den Franzosen niemals selbst betreten wurde, sondern die Fahrt dauerte noch die ganze Ausdehnung der langen Insel entlang, bis sie im Angesicht einer kleinen felsigen Insel, die mit schärferen Umrissen aus dem Meeresspiegel tauchte und sich deshalb als von der großen Insel abgesondert zeigte, ihr Ziel erreicht hatte. Dies hülflose, dem Meere preisgegebene Eiland war die Insel St. Marie, die von den Franzosen zu wiederholten Niederlassungen benutzt und wegen ihrer Lage und Unfruchtbarkeit immer wieder aufgegeben war, sie war es, von welcher die Unternehmungen unsers Prätendenten ihren Anfang nehmen sollten.

117 Niemand konnte beim Anblick der Insel so froh sein, als Colas, der mit seinen beiden Gefährten auf dem Schiffe Angst und Noth hatte ausstehen müssen. Denn es währte nicht eine Viertelstunde nach der Abfahrt von Brest, als Polyglotte in Ohnmacht fiel, ein Zustand, von dem er sich während der ganzen Reise kaum erholte. Der alte Mann, der nur krampfhaft, durch vieles Reden und gezwungene Bewegungen lebte, versank in die ganze Entkräftung seines schwachen Körpers, als er vor Weh schweigen und auf seinem Platze bleiben mußte. Hippolyt war demselben Zustande nah, er dämmerte nur zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie seine Seele, und bedurfte Colas Hülfe für jede Bewegung, die er zum Essen oder Schlafen machte. Ach, dieser junge Wilde war zu sehr Pariser geworden, Tortoni und der Rocher de Cancale hatten ihn civilisirt, und seine Nerven waren durch die französische Literatur auf das empfindsamste gestimmt worden. Hippolyt und Polyglotte hatten sich auf dem Schiffe immer nur mit matten Augen gesehen, jetzt, als sie in das Boot traten, welches die Mannschaft an das Ufer der als Hafen so ungünstigen Insel trug, drückten sie sich schweigend 118 die Hand und Polyglotte seufzte kaum vernehmbar: „Gott sei Dank!“

Selbst das Meer war unter den glühenden Strahlen der Mittagssonne träge geworden, und die Wellen ließen sich ohne Widerspruch bis an das jenseitige Ufer durchrudern.

Der Kauffahrer war für die Isle de Bourbon bestimmt und landete bei St. Marie nur, um einige Passagiere abzusetzen und Königliche Aufträge für die Kolonie zu überbringen. Nur Wenige gingen mit unsern Reisenden an’s Land. Handwerker, welche hier ihr Glück versuchen wollten, ein Commis, der in St. Marie schon bekannt war und der Kapitain des Schiffes, welcher sich seiner Aufträge entledigen sollte.

Da standen keine neugierigen Gaffer am Ufer, einige Eingeborene ausgenommen, welche ein ziemlich verhungertes Ansehen hatten. Da war Niemand, der Euch seine Dienste angeboten hätte, der Euch Euer Gepäck hätte tragen oder einen Gasthof nachweisen wollen! Alles hatte eine todte, felsigte unfruchtbare Physiognomie. Aber dennoch hinderte dies den Professor nicht, sich wieder in seiner trocknen Haut zu fühlen, die nüchterne Vergangenheit 119 streifte sich ihm wie eine Hülle ab, seine Redewerkzeuge kamen wieder in Bewegung, er trat sicher mit dem Fuße auf und wandte sich in seiner ihm wieder geläufigen Art an Hippolyt, der sich dehnte und seine zerschlagenen Glieder zog, mit der Begrüßung:

„Hoheit, ich werde der Erste sein, der Sie bei der Ankunft in Ihren Ländern mit einer unterthänigen Huldigung begrüßt!“

Hippolyt war von den Mühseligkeiten der Reise so eingenommen, daß er dieser Erinnerung an seine Pläne erst bedurft hatte, um wieder in den rechten Zusammenhang derselben zu kommen.

„Ist es möglich,“ fuhr Polyglotte geschwätzig werdend fort: „daß ein so herrliches Land, wie es dort unermeßlich vor uns ausgebreitet liegt, in Kurzem unter die Botmäßigkeit Ew. Hoheit treten wird! Noch ist es mir wie ein Traum, aber wir haben ja die unwiderlegtesten Rechte, daraus eine Wirklichkeit zu machen. Ich muß gestehen, diese Eingebornen sehen zwar wie die Neger aus, aber ich zweifle durchaus nicht, daß sie Arabisch sprechen.“

Man sieht, Polyglotte hatte nicht vergessen, warum er hier war, aber Hippolyt war von dem 120 Gedanken seiner Besitzergreifung so eingenommen, daß er die Bemerkungen seines Begleiters nicht verstand. Die Sprache war für ihn in den Hintergrund getreten; denn die Hülflosigkeit, in der er jetzt hier über die Felsen stieg, beschäftigte seine Zweifel in dem Grade, daß er vor der nächsten Zukunft zitterte, als hätt’ es nicht in seiner Macht gestanden, sie nach seinem Willen einzurichten. Das ist aber die Macht eines früheren Vorsatzes oder eines gegebenen Versprechens, Alles zu besiegen, selbst die Freiheit, unsern Vorsatz oder unser Versprechen wieder zurückzunehmen.

Colas hatte genug an der Bagage des neuen Hofes zu tragen, welche zwar keine Krone und keinen Scepter enthielt, aber doch Wäsche genug, um den König, seinen Finanzminister und den Oberdollmetscher anständig zu kleiden. Er kannte den einzigen Gasthof in Pandekey, der französischen Niederlassung auf St. Marie, wohin er seine Gefährten brachte, nachdem sie sich von dem Capitain, dem Commis und den Handwerkern, die Alle an ihre bestimmten Adressen gingen, verabschiedet hatten.

„Wir werden in diesen Ländern,“ sagte Polyglotte, auf die ärmlichen Hütten des Ortes zeigend, 121 „für die Baukunst nachahmenswerthe Muster aufzustellen haben. Himmel, was sind das für ungeschickte Häuserchen! Aus Lehm, aus Binsen, aus Baumstämmen sind sie aufgeführt! Sollten denn die Ahnen der Eingebornen, die Araber, ihren wunderbar schönen Baustyl hier nicht eingeführt haben? Colas, Freund Colas, wir werden in kurzem mehr zu thun haben, als wir je uns träumen ließen. Aber, Närrchen, was wollt Ihr in dieser schwarzen Lehmhütte, wo man vor Rauch ersticken muß?“

Colas erklärte trocken, dieß sei die Herberge, und schob seine Freunde in ein niedriges dunkles Häuschen, das von zahllosen Kaninchen, welche den Boden ganz unterminirt hatten, bevölkert war. Polyglotte schrie laut auf; er hatte sogleich einem dieser Thierchen das Genick abgetreten, und war beim Aufspringen nahe daran, einem zweiten, wie er sagte, das Dasein zu verkürzen. Aber Hippolyt wollte in ein Zimmer dieses Hauses, wohin ihn Colas wies, erst gar nicht hinein; denn „Du irrst Dich,“ sagte er zu Colas; „was mußt Du nur für eine Vorstellung von einem Gasthofe haben! Ein Gasthof kündigt sich durch irgend eine Firma an, ein Portier steht vor der Thür, und 122 eilt, Dir ein Zimmer anzuweisen. Man fragt Dich, ob Du an der heutigen table d’hôte speisen würdest, ob man die Wäscherin und den Lohnbedienten besorgen soll, ein dienstfertiger Kellner bringt Dir die Affichen der heutigen Theater. Geh, Colas, das ist hier kein Gasthof, das ist eine Lehmbude, die von einem Metzger bewohnt wird.“

Colas lachte, stellte aber nichts destoweniger die Effecten in die Mitte des Zimmers, wo sich Polyglotte noch immer beschäftigte, das Schlachtopfer seiner Ungeschicklichkeit wieder in’s Leben zurückzurufen. Und als selbst Hippolyt die Süßigkeit des Ausruhens auf einer hölzernen Bank gekostet hatte, wär er schwer wieder von ihr aufzutreiben gewesen: ein so verwöhnter, unheroischer Mensch war er.

Eine Frau trat jetzt in das Gemach und schien über diese freiwillige Einquartirung höchst verwundert zu sein. Als Colas zu kommandiren anfing, sagte sie zu ihnen auf gut französisch, daß ihr Mann längst gestorben, daß der Gasthof in Verfall gerathen und von ihr längst aufgegeben sei; Fremde kämen gar nicht mehr nach St. Marie; denn wer hier nichts zu thun habe, bleibe wohl weg; da sie 123 aber doch Franzosen und Landsleute wären, so möchten sie es sich gefallen lassen, ihr aber auch sagen, was die gute Tante am Canal in Toulouse mache und ob sie nicht bald sterben würde, damit ihr Vermögen frei werde.

Colas wollte diese langweilige Rede kurz abstechen, aber Polyglotte, der sich wegen des zertretenen Thierchens in Sicherheit und Gunst setzen wollte, erklärte der starken, rüstigen Frau, daß sich die gute Tante, Barbe heiße sie ja wohl? –

„Nein, Rosine,“ verbesserte die freudige Wirthin. –

„Sie haben recht, Rosine,“ sagte Polyglotte; „nun, wie gesagt, es geht ihr nichts ab, sie ist eine reiche Frau, ihr Haus am Kanal –“

„Was, hat sie das eine verkauft? sie hatte ja deren zwei,“ fiel die Nichte ein.

Polyglotte affektirte den Empfindlichen und sagte:

„Glaubt Ihr mir da etwas Neues zu sagen? Freilich hatte sie, aber sie verkaufte das eine um ein enormes Geld, was sie auf Zinsen gab. Kurz, es geht ihr gut, aber sie kränkelt.“

„Kränkelt sie?“ wiederholte fragend die Erbin 124 mit schlecht verhehlter Freude. „Ach ja, die Gute litt immer schon an der Gicht.“

„An der Kopfgicht,“ ergänzte Polyglotte, „und sie wird es nicht mehr lange machen.“

Die Wirthin konnte nichts Angenehmeres erfahren, sie eilte Colas Wünsche zu erfüllen, und begleitete ihr Hin- und Herkommen mit dem unaufhörlichen Ausdruck ihrer Bereitwilligkeit, den Herren zu dienen, selbst nachdem der Gasthof längst aufgehört habe.

„Sie müssen wissen,“ sagte sie, „daß ich mich nach dem seligen Ende meines Mannes mit einem schmucken stattlichen Eingebornen, der früher bei uns Hausknecht war, verheirathet habe. Seitdem die Herberge nicht mehr existirt, habe wir Alles auf das Beste in unserer Wohnung einrichten lassen, die Fenster sind vergrößert, die Mauern massiver, kurz es ist gar kein Vergleich mehr zwischen Sonst und Jetzt. Mein Mann schlachtet für die Kolonie, und ist jetzt gerade beschäftigt, das Fleisch für unsere Kunden herumzutragen.“

Dabei nahm die Frau das Kaninchen, welches Polyglotte todt getreten hatte, und trug es, ohne 125 dem ganz bleich Gewordenen ein Wort zu sagen, an seinen langen Ohren hinaus.

Hippolyt seufzte tief und sagte mit bittrer Ironie: „Also früher war es noch nicht einmal so gut, wie jetzt!“ was Colas, der hier jeden Weg und Steg kannte, lachend bestätigte. Dieser gute Alte war es, der für Drei zugleich Muth zeigen mußte, er war hie und da beschäftigt und hatte bald von dem Hause so vollständigen Besitz genommen, daß er seine müden Gefährten auf das bequemste unterbringen konnte.

Die drei Helden unserer Geschichte bildeten gegen Abend eine eben so malerische als komische Gruppe. Polyglotte saß in Hemdärmeln, die Schlafmütze tief über seinen grauen Kopf gezogen und flickte an seinem einzigen Fracke, den er schon ein viertel Jahrhundert trug und auf der Reise zum Auseinanderfallen zugerichtet hatte. Er hatte sich von der Wirthin, die ihn wegen der Kopfgicht ihrer Tante in Toulouse liebgewonnen, mehre bunte Lappen von Seiden- oder Wollenzeug erbettelt, und setzte jetzt diese mit dem Gleichmuthe eines Philosophen in die Lücken des schwarzen Frackes ein.

126 Colas saß auf dem Fußboden von Lehm, den er an einer Stelle aufgehöhlt und mit brennenden Holzspänen angefüllt hatte. Ueber der Höhlung stand ein Dreifuß und auf ihm ein irdenes Geschirr, worin er eine Mischung von geröstetem Reise, Honig und Mehl, welche einen feinen Kuchen geben sollte, kochte.

Hippolyt sah diesen beiden Beschäftigungen, lang auf einer Bank ausgestreckt, zu, und schien nichts sehnlicher zu erwarten, als den endlichen Ausgang des feinen Gebäcks, das ihn sehr interessirte.

„Nein, Colas,“ rief er lachend einmal über das andere; „so gut machst Du die Reiskuchen doch nicht, wie man sie in Paris zu fünf Sous kaufen kann.“

„Wir wollen sehen,“ brummte freundlich der gute Colas, und Hippolyt ließ bei dem herrlichen Geruch, der sich ihm näherte, seine Nasenlöcher immer größer werden.

Allein dieser Genuß und die Hoffnung eines noch höheren, wurden bald gestört. Denn nachdem den drei Freunden schon der Mann der Wirthin, ein langer muskulöser Malgasche, mit etwas heimtückischen Mienen, durch seine Neugier zur Last 127 gefallen war, klopfte es heftig draußen an der Thür und die Wirthin gerieth mit dem Manne, der so spät noch Einlaß wünschte, in lauten Wortwechsel.

„Ihr wißt, Matois, daß wir des Abends nicht verkaufen,“ hieß es von ihrer Seite.

Draußen lautete aber die Antwort: „Ich steh’ hier nicht als Euer Kunde und bin auch nie gewohnt, für meine Frau einzukaufen, sondern bin in königlichen Aufträgen hier und verlange Einlaß.“ –

„Wollt Ihr vielleicht wieder untersuchen, ob mein Mann auch mit richtigen Dingen gestorben ist? Der jetzige lebt noch, und wenn meine Tante stirbt, Matois, –“

„So fahr’ Euch ein Stein in Eure Kehle, wollt Ihr mich hereinlassen?“

Als die Wirthin endlich die Riegel von der Hausthür geschoben hatte, erklärte Matois draußen auf der Flur: Er solle die drei Reisenden, welche sich dem Gouverneur nicht gestellt hätten, zu fangen suchen und wenigstens einen lebendig auf das Amt führen.

„Dir, Susanne,“ fügte er hinzu, „wird es auch übel bekommen, daß Du noch Fremde aufnimmst, 128 nachdem Du längst durch den Tod Deines Mannes die Herberge verwirkt hast. Sag mir aber nur, sind die drei Männer stark und bewaffnet? Ich hätte mit mehren kommen können, allein ich war gerade von der ganzen Besatzung ganz allein mobil. Wenn nicht Einer sich gutwillig ergiebt, so soll meine Frau die Lärmtrommel schlagen, sagt der Commandant.“

Mit diesen Worten trat schüchtern und zurückhaltend ein kleines Männchen in kläglichem Aufzuge, aber doch mit dem militairischen Dreieck auf dem Kopfe und mit Ober- und Untergewehr, in das niedere Zimmer. Matois mit seinem dünnen Zöpfchen war gar nicht gemacht, Furcht vor der Besatzung von St. Marie einzuflößen. Selbst Polyglotte zeigte bei seinem Anblick so viel Muth, daß er löwenherzig die Nähnadel wegwarf und auf den Soldaten zutrat, der erschrocken zurückprallte und mit einigen Entschuldigungen die Thür suchen wollte. Hippolyt wälzte sich lachend auf seinem Lager und rief einmal über das andere:

„Ganz wie bei Scribe! Im Vaudeville diese Scene hundertmal gesehen! Köstlich, zum Todtlachen! Der himmlische Scribe!“

129 Colas war der Einzige, der hier Vernunft zeigte, er stand von seiner Casserole auf und hielt zuvörderst den Professor zurück, der sich ganz in kriegerische Positur gestellt hatte und unter dem Ausrufe: „Für Se. Hoheit das Leben! Alles für Se. Hoheit!“ mit einem großen Stück Holz die Muskete parirte. Dann erklärte er sich bereit, allein auf das Amt zu folgen und das Versäumniß bei dem Commandanten nachzuholen. Aber das wollte Hippolyt nicht zugeben, er setzte ihm, von der Bank steigend, die Nothwendigkeit auseinander, warum er selbst sich zum Commandanten begeben müßte, und fügte hinzu, daß ihm in diesem Augenblicke eigentlich Alles auf die Reiskuchen ankäme, zu deren Vollendung Colas zurückbleiben solle. Colas war damit zufrieden, und empfahl seinem jungen Herrn die größte Behutsamkeit. Dieser folgte dem Soldaten, der sich noch immer ängstlich nach dem fürchterlichen Polyglotte, dessen Muth uns noch öfter in Erstaunen setzen wird, umsah.

In einem geräumigen und in so weit freundlich meublirten Zimmer, als der flackernde Schein des Kaminfeuers es sehen ließ, stand der Commandant 130 Culotte, sich auf einen kleinen Tisch herabbeugend, auf welchem Land- und Seekarten ausgebreitet lagen und von der Flamme des Kamins beschienen wurden. So weit man von dem Prospekt seines Rückens auf seine ganze Figur schließen darf, ist Herr Culotte ein Mann von außerordentlichem Umfange, und wie der knackende Tisch verrieth, von eben so großem Gewichte. Er ist wie untergetaucht in den Meeren, über welche die unter seinen schweren Armen seufzenden Karten sichere Auskunft geben, und wie verirrt in den Wäldern, in welche er sich mit dem beringten Zeigefinger seiner schönen weißen Hand hineinwagt. Nur zuweilen richtet er sich auf und wechselt einige Worte mit einer andern Gestalt, welche das Dunkel verhüllt, die aber der Anrede des Commandanten zufolge Niemand anders als sein Adjutant, der Marquis le Poivre, ist. Der Marquis mußte sehr besorgt für seinen Commandanten sein; denn fortwährend streckte er die Hand auf den schon kahlen Scheitel desselben, und sagte: „Die Hitze des Kamins, mein Freund, wird Ihnen schädlich sein!“

Culotte hörte aber darauf nicht, sondern fuhr in einer unendlichen strategischen Exposition fort, die 131 sich endlich mit der stentorischen Aufforderung an Jean, den Bedienten, Licht zu besorgen, endete.

„Sparsamkeit und Combination, Poivre, das wissen Sie! das ist meine Devise;“ und mit diesen Worten nahm Culotte dem Neger Jean den Leuchter ab.

Der Marquis le Poivre war eine lange, hagere Gestalt, mit trockenen Mienen und abgemessenen Bewegungen. Da er wenig sprach, so hatten seine Worte immer die Physiognomie des Sarkasmus, obschon sie selten so beißend gemeint waren, wie sie zum Vorschein kamen.

Culotte, der Alles, was aus seines Adjutanten Munde kam, für baare Münze hielt, hatte in seinem Leben, (und fast so lange kannte er den Marquis), noch nie bemerkt, daß ihn dieser mit seinen Beipflichtungen, gleichen Meinungen und Complimenten eher zu persifliren, als zu ehren schien. Le Poivre’s Satyre war so zahm, daß sie Culotte immer für den wärmsten Ausdruck der Freundschaft hielt. So sagte der Adjutant z. B. jetzt gleich: „Es wäre doch abscheulich, mein Freund, wenn die Ankunft des jungen Mannes, der sich mit seiner ganzen Gesellschaft sogleich in die Wohnungen der 132 Colonisten begeben hat, mit irgend einer Intrigue zusammenhinge, die von Paris aus gegen unsere Pläne gerichtet sein sollte. Mich beunruhigt das sehr.“ –

Diesen Satz hatte le Poivre nur dem Munde des Commandanten entlehnt, der ihn schon mehrere Mal ausgesprochen hatte.

„Meinen Sie das wirklich?“ fiel dieser auch besorgt ein; „Sie sagen da etwas, was ich noch nicht einmal zu denken gewagt habe. In der That ist es sonderbar. Wie kann ein junger Mann, welcher die Interimsuniform eines Offiziers trägt, wie der Schiffskapitain sagte, es unterlassen, mir die Honneurs zu machen? Ich weiß nicht, wo Matois bleibt.“

„Es wäre doch höchst fatal, wenn wir Lärm schlagen müßten,“ wiederholte le Poivre, eine von dem Commandanten schon oft gemachte Aeußerung; worauf dieser einfiel:

„Ja, sagen Sie nur, daran denk’ ich jetzt erst; das würde mir meine Kanarienvögel aufschrecken, daß ich vor ihrem Flattern die ganze Nacht nicht schlafen könnte. Wollen wir nicht Jean schicken, daß er den Matois ausfindig macht?“

133 „Wir würden uns bloß geben, Culotte, wir hätten dann Niemand mehr, der auf uns Acht gäbe.“

„Daß Sie doch immer das Rechte finden, Poivre,“ sagte beunruhigt der Commandant; „Matois kann nicht mehr gut fort, der gute Mensch fängt an, alt zu werden. Ich höre Jemanden, da kommt er.“

Hippolyt und Matois traten ein. Während der Letztere ziemlich linkisch präsentirte, schwankte unser junger Held, bei welchem der beiden Herren er seine Entschuldigung wegen der unterlassenen Aufwartung machen sollte. Der Commandant schwamm in Entzücken, als Hippolyt ihn mit seinem Adjutanten verwechselte und sich mit seiner Anrede an le Poivre wandte. Er hielt es für einen Triumph der Freundschaft, wenn er dieß Mißverständniß mit philosophischem Lachen aufnahm und fuhr höchst freundlich zu Hippolyt, der seinen Irrthum zu entschuldigen bat, mit diesen Worten fort:

„Mein Adjutant und ich, wir sind Seelenfreunde, wir lassen für einander das Leben und ich gönne ihm gern den Vortritt, selbst wenn ich so geizig auf eine Auszeichnung bin, wie Ihre schmei-134chelhafte Begrüßung ist. Lassen Sie, mein Herr, das Vergangene! Wie gefällt es Ihnen bei uns? Nicht wahr, eine großartige Natur, üppige, pittoreske Aussichten, ein behagliches Klima? Sie müssen gestehen, daß St. Marie zu den „glückseligen Inseln“ gerechnet werden sollte.“

Hippolyt schnitt zwar ein saures Gesicht, war aber viel zu gewandt, als daß er dem Lobe des Commandanten nicht beistimmen sollte.

„Sie sind in Begleitung hier angekommen?“ fragte dieser verbindlich, ohne sich den Anschein des Examinators geben zu wollen. Hippolyt bejahte es kurz.

„Naturforscher? Maler? Dichter?“ fiel der Adjutant ein, wurde aber durch einen verweisenden Blick von Culotte für diese unartige Frage bestraft.

Hippolyt hatte sich endlich auf eine lange Erzählung gesammelt, und fing so dunkele und sonderbare Erklärungen an, daß der Commandant dem noch immer präsentirenden Matois auftrug, noch ein zweites Licht zu holen, gleichsam, als wenn er dann heller in der Sache sehen würde.

„Meine Herren,“ begann Hippolyt, „ich trage 135 zwar noch die Uniform Ihres Königs, bin aber selbst bald im Stande, eine solche zu geben. Die Gewässer und Länder, in deren Bereich Sie sich finden, sind ein Erbtheil, das ich in Besitz zu nehmen hierher gekommen bin. Ich bin der unglückliche Sohn eines der ersten madagassischen Fürsten, der Zufall brachte mich nach Frankreich, ich kehre in meine Heimath zurück, im Vertrauen auf die Großmuth und Unterstützung der Kolonie, die Hinterlassenschaft meines ermordeten Vaters zu erobern.“

Culotte wußte nicht, was er zu diesen Worten sagen sollte, und le Poivre, immer nur des Commandanten Gefühle wiedergebend, bemerkte an seiner Statt: „Was soll man zu diesen Worten sagen?“

Hippolyt hätte schon allen Muth verloren gehabt, wenn nicht durch die Zweifel der beiden Männer sein Ehrgeiz wäre beleidigt worden.

„Sie wollen meinen Worten keinen Glauben schenken?“ sagte er empfindlich. „Ganz Paris spricht von den Rechten, welche mir gebühren, und ich würde unfehlbar die Unterstützung des Hofes gefunden haben, wäre dieser nicht gegenwärtig mit 136 Frankreichs inneren Angelegenheiten überhaupt beschäftigt.“

„Wer Sie auch sein mögen,“ fiel Culotte schnell ein; „diese Bemerkung war schlagend. Der Zustand der Kolonien ist zwar nicht schlecht –“

„Wovon Sie St. Marie überzeugen kann,“ schaltete der Adjutant ein.

„Allein er könnte einträglicher sein,“ fuhr der Commandant fort. „Es fehlt in Paris weniger an Geld und Lebensmitteln, als an Aufmerksamkeit für die Vorschläge, welche Frankreichs Ehre und Vortheil auf den fremden Welttheilen befördern wollen.“

„Man darf ja nur an Ihre Pläne denken, Herr Commandant,“ sagte le Poivre; „wie fein durchdacht sind sie! mit wie wenigen Mitteln ließen sie sich in Ausführung bringen! Wie dringend sind sie dem Ministerium nicht empfohlen worden! Und doch –“

„Nein, lieber Freund, stocken Sie nicht!“ sagte der Commandant, und setzte dann die abgebrochene Rede fort: „Und doch fanden sie die Theilnahme nicht, welche sie verdienten. Ich wurde abgewiesen, vertröstet, mein Unternehmungsgeist gelähmt, und ich werde wohl nie wieder nach Frank-137reich zurückkehren dürfen, weil man mich wegen meiner fortwährenden, das Wohl der Kolonie bezweckenden Petitionen wohl gar für einen unruhigen Kopf hält. Aber entschuldigen Sie, mein Herr, daß wir mit unsern eigenen Angelegenheiten Ihre werthvollen Mittheilungen unterbrochen haben.“

Hippolyt war ein sonderbarer junger Mann. Er besaß noch alle die liebenswürdigen Unarten, welche man sich beeilt, den Kindern so bald als möglich abzugewöhnen. Er konnte sich niemals in eine so peinliche Lage versetzt finden, als z. B. die gegenwärtige, wo man ihn als Abentheurer offiziell inquirirt, ohne daß er nicht jedes Mittel versucht hätte, ihr zu entschlüpfen, und auf Dinge überzugehen, die ihn mehr interessirten. Diese Ungeduld, Unaufmerksamkeit, diese Unfähigkeit, sich durch einige Worte in einer Auseinandersetzung nicht stören zu lassen, und immer wieder den Faden der unterbrochenen Rede aufnehmen zu können, waren vielleicht die besten Merkmale, daß er wirklich Königliches Blut in sich spürte und zum Befehlen geboren war. Er hatte nicht sobald im Zimmer einige Verzierungen wahrgenommen, die ihn an Paris erinnerten, als er auch sogleich die beiden sich mit Freund-138schaftsbeweisen überhäufenden Herren stehen ließ und sich diesen Gegenständen zuwandte.

„Welche allerliebste Arabesken!“ rief er, die Zeichnung der bronzenen Gardinenhalter betrachtend; „wo haben Sie diese Rosetten gekauft? Und welch’ artiges Getäfel auf dem niedlichen Spieltisch! Was ist das für Holz? Himmel, so blank bohnt man in Paris die Tische nicht. Sie müssen hier ein ganz eigenes Harz haben. Auch Kupferstiche? Mein Gott, daß ist ja der Prospect von Paris vom Montmartre aus. Nur wenig Städte hab’ ich in meinem Leben gesehen; aber es ist doch wahr, Paris ist die Stadt aller Städte, Paris ist eine Welt. Wo ist denn Licht? Kommen Sie, sehen Sie nur, dort, wo ich mit meinem Ringfinger hinzeige, hab’ ich gewohnt, in der Kapuzinerstraße, im vierten Stock. Muß auch der alte Narr, der Colas, nicht hier sein; der würde Augen machen, wenn ich ihm die Bodenluke zeigte, wo er alle Morgen meine Uniform ausstäubte und mir die Schuhe putzte!“

Der Commandant lief mit seinem schwerfälligen dicken Körper dem jungen Fant immer nach und freute sich über den Eindruck, welchen seine Einrichtung auf diesen unerklärlichen Fremdling machte. 139 Als aber Hippolyt mit seinem Finger auf den Kupferstich an der Wand zeigte, rief er mit seinem Adjutanten fast zu gleicher Zeit aus:

„Bei Gott, diesen Ring sollt’ ich kennen?“ und der Letzte fügte noch energischer hinzu: „Wer sind Sie?“

Hippolyt sah seinen Ring an: es war eine goldene Schlange mit karfunkelnden Augen und er trug ihn schon lange wie einen Talisman; der Commandant konnte aber nicht zurückhalten und rief:

„Diesen Ring, ich lasse meinen Kopf, trug Sylvain Roux, als er zum ersten Male in St. Marie war;“ und der Adjutant setzte hinzu, daß beide Herren damals unter ihm gedient hätten.

„Sie kannten meinen theuren Vater, meinen Schützer und Erzieher?“ rief Hippolyt mit einer Freude, die ihm rührend und schön stand; „diesen Ring, Alles, Alles, was ich habe und bin, (ich bin viel, ich bin ein Pariser, ein Lieutenant von der Garde, ein Prätendent auf den Thron von Madagaskar), Alles verdank’ ich Sylvain Roux. Er zog mich an und aus, er ließ meinen armen Bruder, der in Paris starb, begraben, er hat mich exerciren gelehrt, und schenkte mir, als er wieder 140 in See ging und mich unter Thränen küßte, diesen Ring. Er ist todt, der gute Sylvain Roux!“

Der Commandant schluchzte laut, als er den jungen Mann so reden hörte, er wollte ihn umarmen, weil er ihn in der That für des Verstorbenen Sohn hielt. Aber der Adjutant le Poivre, den Rührungen weniger zugänglich, hatte in der Eile Sylvain Roux’s Verhältnisse überflogen und war auf die ganz richtige Vermuthung gekommen, der junge Unbekannte möchte vielleicht einer der madagassischen Prinzen sein, welche Sylvain Roux vor Jahren aus den Kolonien mit sich nach Frankreich nahm. Er rief deshalb den schluchzenden Commandanten, der im Zimmer herumlief, um sein Taschentuch zu suchen, bei Seite und flüsterte ihm seine Vermuthung zu, über welche Culotte wie aus den Wolken fiel.

„Nun wird es mir klar. Ei, sollte das möglich sein!“ sprach er bald den Adjutanten, bald Hippolyt betrachtend; „der Lichtschein trügt, aber es ist mir fast, als sei die Farbe des Gesichts nicht ganz Europäisch. Aber, junger Mann, so machen Sie doch ein Ende, woher kennen Sie Sylvain Roux?“

141 „Ich sag’ es ja, daß ich ein madagassischer Prinz bin,“ rief Hippolyt fast unwillig: „Sylvain Roux hat mich ja mit meinem Bruder, der das Klima nicht vertragen konnte und gestorben ist, nach Frankreich genommen, wo ich es unter dem Namen Hippolyt Berora bis zum Lieutenant gebracht habe. Sie werden doch davon gehört haben?“

Jetzt fanden sich bei Culotte erst die Gedanken zusammen. „Himmel, was werd’ ich denn nicht?“ sagte er ganz überrascht auf Hippolyt zueilend und ihn in seine Arme schließend. Dann aber fuhr er, zum Adjutanten gewandt fort: „Aber, wer hatte das der Physiognomie auch ansehen sollen? Ein junger Wilder! und doch so manierlich, voll Geschmack, weiß meine Rosetten zu würdigen, schön gebaut, charakteristisches Gepräge in seinen Mienen.“ Und dann wandte er sich dem Ankömmling wieder zu, der die Kupferstiche musterte, und fragte ihn scherzend und convulsivisch lachend: „Durchbohren wir uns auch die Nase, um Ringe hineinzustecken, mein junger Freund? Sprechen wir eine Sprache, wie die Truthähne? Nähren wir uns von Wurzeln und rohem Fleisch?“

„Soll mich Gott bewahren,“ antwortete Hip-142polyt, eine Erwiederung, welche der Commandant so spaßhaft fand, daß er sich den Bauch hielt und dem Adjutant zurief: „Nein, hören Sie nur, Poivre, er sagt: Soll mich Gott bewahren! Glauben wir denn auch an Moses und die Propheten? He, Jean, Matois, wo steckt Ihr? Wirf Dein Gewehr zum Teufel! Deckt den Tisch und richtet für drei Couverts an!“

Der schwarze und der weiße Bediente eilten, die Befehle ihres Herrn zu vollziehen.

Hippolyt fing jetzt an, an dem Commandanten Gefallen zu finden; er sah, daß er Lebensart besaß; denn es wäre doch unartig von dem Manne gewesen, ihn noch in später Nacht freundschaftlich einladen zu lassen und hernach nicht die Rolle des Wirths zu übernehmen. Der Adjutant setzte sich ihm bei Tische zur Linken und Culotte schenkte ihm von der Rechten die herrlichsten Capweine ein. Beide schlossen den jungen Mann in ihre Mitte, um ihn recht lebhaft ihrer Theilnahme zu versichern. Der Commandant konnte kein Ende finden, seine Beziehungen zu Sylvain Roux mitzutheilen, le Poivre mußte zuweilen dem Gedächtnisse nachhelfen, oder die interessantesten Fakta durch seine Aussage be-143kräftigen; es fiel ihm durchaus nicht ein, den jungen Prinzen um seine jetztigen Pläne zu befragen, sondern er hielt sich noch immer in der Zeitsphäre, wo er den kleinen Berora in Kaninchenfellen gesehen hätte, daß er damals schon einen mäßigen Bogen habe spannen können und oft einen Vogel heruntergeschossen hätte. Und als er dann auf die Zeit kam, in welcher Hippolyt in Frankreich war und zum Offizier avancirte, so begann er:

„Nicht wahr? mein kleiner Vetter, es ist ein ander Ding, Offizier des Königs zu sein? Möchte wohl wissen, wie es Euch bekäme, drüben an der Küste Wallfische zu fangen. Ein französischer Lieutenant hat sein Auskommen, eine brillante Uniform, geistreiche Kameraden, Zutritt in den besten Häusern, und was mehr denn Alles sagen will, die Aussicht auf ein glänzendes Avancement. Wann werden wir Capitain werden?“

Hippolyt war zu sehr mit dem Flügel eines Vogels beschäftigt, als daß er sogleich hätte antworten können; statt seiner entgegnete der Adjutant stockend: „Mein Freund, Sie bemerken wohl nicht –“

Der Commandant hatte aber gar keine Antwort 144 erwartet: „Capitain! Capitain vom zweiten Range! Wie alt war ich, als ich dies wurde? Eine schöne Zeit, wie da noch Alles so frisch und jung ist! Man träumt sich an der Spitze einer Armee, man staunt über die reißende Carriere, die man macht, man will seine Epauletts verdienen – doch, wie war mir doch, le Poivre, wollten Sie nicht sprechen? Verzeihen Sie mir, mein Freund, wenn ich Sie unterbrach. Ich weiß, ich bin nichts werth, ich setze fortwährend die Rücksichten der Freundschaft aus den Augen. Sie wollten eine erhabene Idee mittheilen?“

Der Adjutant verneigte lächelnd den Oberleib und sagte: „Nichts von Belang, mein Seelenfreund! Aber sehen Sie doch nur, unser junger Herr hier trägt ja die Uniform eines Verabschiedeten! Haben Sie Ihre Entlassung genommen?“

„Allerdings,“ antwortete Hippolyt; „als Lieutenant hab’ ich nichts zu verlieren, und unter meinen Verhältnissen könnt’ ich es auch nicht ferner bleiben.“

Der Commandant, dessen Lobpreisungen im Nu umgestürzt waren, schien sehr verwundert, legte die Gabel weg und rief: „Ja, um des Himmels 145 Willen, dann haben Sie den Dienst des Königs quittirt? Eine reiche Heirath im Auge? Sonst ein gefundenes Glück? Apropos, Sie kleiner Mann, was thun Sie in Afrika? Darüber sind Sie uns ja alle Aufklärung schuldig geblieben.“

Hippolyt sah bald den Commandanten, bald le Poivre mit großen Augen an und sagte wieder sehr empfindlich: „Ich weiß nicht, meine Herren, die Erklärung meines hiesigen Aufenthalts ist Ihnen von mir schon so oft gegeben worden, daß ich glauben möchte, Sie halten mein Vorhaben für einen Scherz. Sein Sie versichert, daß niemals ein Entschluß unwiderruflicher gefaßt worden ist, als der meinige. Ich will Alles, mein Leben, meine Zukunft, daran setzen und habe den Anfang mit meinen Tressen und Epauletts gemacht!“

Die beiden Offiziere sahen sich voller Verwunderung an, aber wie bereit auch der Adjutant gewesen sein mochte, zu sagen, daß sie nichts gehört hätten, so erschrak doch der Commandant heftig, gegen seinen Gast unartig gewesen zu sein. Er ergriff seine Hand, drückte sie mit Zärtlichkeit und rief, fast ohne es zu wollen: „Verzeihen Sie, Herr Berora, die Vergeßlichkeit spielt dem Alter oft wohl 146 einen Streich. Allein jetzt bin ich wieder ganz in dem Zuge der Mittheilungen, welche Sie die Güte hatten, uns zu machen. Ja, ja, dieser Entschluß ist sehr kühn, allein er macht Ihnen Ehre. Lassen Sie ihn nur erst von einigen glücklichen Erfolgen gekrönt werden, so haben Sie Ihr Spiel gewonnen. Das muß ich sagen, noch so jung, nicht einmal von europäischer Abkunft, ha, ha, und so reife Pläne! Wie gesagt, das ist der große Vorzug Frankreichs vor allen Staaten, daß es so viel Institute hat, wleche durch Legate und Einkünfte mancherlei Art in den Stand gesetzt sind, das Genie zu belohnen. Die Akademie, der Preis des Herrn von Monthyon, die Gesellschaft zur Beförderung der Moral, die christliche Societät für die Beispiele des Guten und Edlen, keine Anstalt wird einmal zurückstehen, Ihnen die schönsten Belohnungen für Ihre Anstrengungen zuzuerkennen!“

Hippolyt konnte diese komischen Widersprüche mit seinen Plänen nicht anhören, ohne in das schrecklichste Gelächter auszubrechen. Er sprang vom Stuhl auf, lief um den Tisch herum und konnte vor Lachen nicht zu Worte kommen. Der Commandant wußte nicht, was er Dummes geredet 147 hatte, sondern wurde von seinem jungen Nachbar angesteckt, fing erst leise an, in das Gelächter einzustimmen, und weil er glaubte, daß Hippolyt nur lache, weil Alles doch in der Welt so närrisch und spaßhaft sei, so setzte sich sein Zwergfell in eine so tremulirende Bewegung, daß er aufstehen mußte und Hippolyt athemlos in die Arme fiel.

Der Marquis le Poivre mußte glauben, diese beiden Menschen seien toll geworden, er verzog keine Miene, trank das eine Glas, woran er den ganzen Abend gekostet hatte, aus und empfahl sich mit einer guten Nacht, die ihm von Culotte noch immer unter unaufhörlichem Lachen hundertmal erwiedert wurde.

Hippolyt war erschöpft auf das Kanapee gesunken und von der Anstrengung der Reise und den Einflüssen des reichlichen Soupers überwältigt, schlief er sogleich ein. Der Commandant befand sich wie in einem großen Saale, wo tausend Stimmen durcheinander sprachen, es summte vor seinen Ohren und er wußte gar nicht, wie ihm geschehen war.

„Großer Gott, wie soll ich aus dem Allen klug werden?“ dachte er bei sich selbst und sprach dies wohl auch laut vor sich hin; „der Adjutant läßt 148 mich kopfschüttelnd im Stiche, ich habe zuviel getrunken und der sonderbare Mensch da ist eingeschlafen. Soll ich Lärm machen? Nein, wozu denn? Fatale Geschichte, wenn ich nur wüßte, was er wollte? Man mag sagen, was man will, ein ächter Europäer ist es nicht, die gezähmten Thiere verlieren nie ihre Wildheit, und es giebt Augenblicke, wo auch ein solcher geborner Kannibale wieder in den Naturzustand zurückfallen kann. Ich will doch sogleich einmal – Wer spricht da?“

Und es war in der That so, als hätte Jemand gesprochen. Der Commandant horchte hoch auf und verstand deutlich, daß Jemand flüsterte: „Königliche Hoheit! Königliche Hoheit!“

Er lief ans Fenster, sah aber Niemanden, von dem diese Worte hätten kommen können. Das Zischen, Flüstern und Rufen dauerte nichts destoweniger fort und Culotte hörte wieder deutlich, daß die versteckte Stimme rief: „Colas ist längst fertig!“ und dann wieder: „Die Kuchen werden ja kalt!“ Der Angstschweiß lief ihm von der Stirn, er wußte nicht, was er davon denken sollte, und als das Rufen noch nicht aufhören wollte, schrie er aus Leibeskräften: „Jean, Jean!“ aber in 149 demselben Augenblicke war es auch draußen unruhig geworden, die Thür wurde aufgerissen und der schwarze Jean brachte Polyglotte herein, der am Schlüsselloch gelauscht und nach der Aussage des Negers Verwünschungen in das Zimmer hineingeblasen hätte.

„Verzeihen Sie,“ begann der Professor in seiner bunten Narrenjacke, die er zu Ende geflickt haben mußte; „ich habe nur an diesen Herren da einen Auftrag auszurichten. Königliche Hoheit, was machen Sie denn? Wo bleiben Sie? Wir ängstigen uns ja zu Tod und Ihre Kuchen werden kalt.“

Hippolyt war von dem Lärm aufgewacht, und bestätigte zu Polyglotte’s großem Leidwesen die Erklärung, welche der todtbleiche Commandant hervorstotterte, daß Herr Berora es vorziehen würde, in seinen bequemen Betten auszuruhen und überhaupt während seines Aufenthalts in St. Marie bei ihm zu wohnen.

„Ja, sehen Sie nur, lieber Polyglotte,“ sagte Hippolyt; „es ist verzweifelt schlecht Unterkommen in dem kleinen Loch, wo wir abgestiegen sind. Ich will – ich möchte einmal versuchen – Colas soll 150 es nur nicht übel nehmen: ich komme morgen zu Euch. Der Herr Commandant ist so zuvorkommend, wir haben so viel Spaß mit einander gehabt, diese Nacht – nun ja, diese Nacht werd’ ich hier bleiben. Polyglotte, nehmen Sie’s nur nicht übel!“

„Du mein Gott,“ rief der Professor begeistert, „wie gnädig sind Ew. Königliche Hoheit gegen mich Unwürdigen. Wolle Ihnen die erste Nacht in Dero Ländern unter den angenehmsten Träumen verfließen. Habe die Ehre, von Ew. Königlichen Hoheit für heut entlassen zu sein.“

Als Polyglotte unter vielen Verbeugungen sich empfohlen hatte, fragte der Commandant, der sich allmählig erholte, auf die Stirn zeigend: „Dieser Mensch ist wohl verrückt?“

„Nein,“ antwortete Hippolyt; „es ist ein Gelehrter.“ Dann nahm er ein Licht und folgte dem Commandanten, der sich die Schlafmütze über die Ohren gezogen hatte und voranging, um unserm Helden ein Zimmer anzuweisen.

Der folgende Morgen fand Hippolyt, als die Sonne schon sein ganzes Zimmer beschien, noch unruhig auf dem Lager sich wälzend. Er mußte 151 sich gestehen, daß ihn von Seiten des Commandanten kein besserer Empfang bereitet werden konnte, obschon ihn die Gleichgültigkeit für sein Unternehmen, ja die Scherze, welche sich beide Herren gestern Abend, ohne es zu wollen, darüber erlaubten, empfindlich kränkten. Eine sonderbare Verirrung seiner Gedanken gab ihm zuletzt sogar den Entschluß ein, von seinen Absichten nicht eher wieder zu sprechen, bis man ihm in Erfüllung derselben entgegen gekommen wäre. Er gebot es sich selbst und nahm sich vor, auch seinen Begleitern es aufzutragen, daß sie kein Wort über den Zweck der Reise und des Aufenthaltes in diesen Gegenden verlören, weder an die Bewohner der Kolonie, noch an einen Vorgesetzten, am wenigsten an den Commandanten. Was konnt’ er mit dieser Zurückhaltung gewinnen? Nichts; aber Hippolyt war ein viel zu natürlicher, unbesonnener, planloser Mensch, als daß er davon die Einsicht gehabt hätte. Der Stolz war bei ihm immer früher da, als der Gegenstand, worauf er es hätte sein können. Wäre seine ganze Zukunft verloren gewesen, so hätt’ er sie preisgegeben, wenn er jetzt ein Augenblick wider sein Gelüst hätte verfahren sollen. Er hatte 152 Sinn für Ehre, war tapfer, liebenswürdig im Umgang, besaß aber keine Eigenschaft, die ihn fähig gemacht hätte, einen Thron zu erobern. Klugheit, Speculation, Calcül, das waren Gaben, mit welchen ihm entweder Andere dienen mußten, oder mit welchen er von ihnen hintergangen wurde. Er wollte jetzt, daß vor dem albernen Commandanten kein Wort mehr von der Expedition gesprochen würde.

„Und warum soll ich selbst noch immer davon hören?“ fragt’ er sinnend und unmuthig. „Ich sehe ein, wie kindisch es ist, sich von den Narrheiten eines alten Dieners bestimmen zu lassen. Wäre ich jetzt in Paris! Warum ich nur meinen Freund Eduard, der mir im Spiel viel Geld abgenommen, warum ich nur den nicht erst um Rath gefragt habe? Und Julius, wie konnt’ ich Julius vergessen! Der muß in diesen Tagen Wechsel bekommen, und hätte mir gewiß vorgeschossen. Gott, auch Heinrich muß jetzt von seiner Reise zurück sein, und wird seine Erbschaft mitgebracht haben. Es ist um rasend zu werden, wenn man einige tausend Meilen von Paris entfernt ist.“

Hippolyt wälzte sich ärgerlich in seinem Bette 153 und dachte nach einigen Minuten: „Was ich nur machen werde, um die Tollheit in Ausführung zu bringen? Ich komme mit leeren Händen, Polyglotte ist die einzige kriegerische Macht, welche ich gegen den Feind führen kann, Colas muß uns den Rücken decken.“

Der Langschläfer mußte hier in seinen Combinationen inne halten, um die Proben von Tapferkeit, welche Polyglotte gestern zweimal gegeben hatte, hinlänglich belachen zu können. Dann fuhr er fort: „Zuletzt muß ich doch die Hülfe der Kolonien ansprechen. Ich muß die Schwarzen bewaffnen.“ –

Das waren aber so lästige, schwierige Gedanken, daß Hippolyt, um sich ihnen zu entziehen, von seinem Lager aufsprang und sich noch zu rechter Zeit in die Kleider geworfen hatte, als Colas und der Professor eintraten.

Colas machte ein sehr böses Gesicht, und sein junger Pflegling, ihn wegen der Trennung ungehalten glaubend, suchte ihn durch Schmeichelreden zu besänftigen.

„Nein, nein,“ sagte der Alte; „Sie haben hier die größte Ehre genossen, welche man spenden kann. 154 Das ist Alles gut. Sonst ist hier aber nichts zu machen. Großer Gott, wie hat sich das Alles verändert! Sonst Wohlhabenheit, Fleiß, Fruchtbarkeit, eine schlagfertige Mannschaft, Alles im Zustande des Krieges, jetzt Armuth, Trägheit, steinigter Boden, ein Heer von einem einzigen Soldaten, Alles nachlässig, wie für den ewigen Frieden. Die Soldaten starben Hungers und wurden nicht ersetzt, die Handwerker wissen nicht, wozu sie hierher gebracht sind und schmachten in Elend. Nein, wenn unser großer Sylvain Roux seine Niederlassung in diesem Zustande wieder erblickte!“

„Wie ist das möglich?“ fragte Hippolyt verwundert; „man ißt doch beim Commandanten vortrefflich!“

„Der Alte wird sich vorgesehen haben,“ erklärte Colas; „die Großen opfern sich selbst erst immer zuletzt auf. Es sollen auf der Insel Familien existiren, welche ein üppiges Leben führen, Reispflanzer, Wallfischfänger, die entweder von Hause aus Vermögen besitzen, oder mit den Oberoffizieren unter einer Decke spielen; diese wohnen aber nicht hier, weil ihnen der Anblick des Elends in Pandekey Migräne macht.“

155 „Nichtsdestoweniger,“ fiel Polyglotte ein; „sollten sich Ew. Hoheit der Menge zeigen, Sie sollten Ihre Absichten laut werden lassen, und Alles wird nicht nur bereit sein, Ihnen die schuldige Ehrfurcht, sondern selbst thätigen Beistand zu leisten. Ich wundre mich, daß noch Niemand von unsern Sachen weiß.“

„Ja, das ist gut, Polyglotte, Sie sprechen gerade davon,“ folgte Hippolyt; „ich wünsche in meinem Inkognito zu bleiben. Der Commandant hat sich – verdient nicht – kurz, es ist besser, wir schweigen und verfolgen für uns selbst unsern Plan.“

Colas fand diesen Befehl völlig angemessen, und ertheilte seinem Gebieter die reichsten Lobsprüche über seine Vorsicht. „Denn,“ sagte er, „wir wollen unsere Mittheilungen nicht an Leute verschwenden, die nichts darauf erwiedern können; wir wollen nicht hülflos scheinen, wo uns Niemand helfen kann. Treten wir überall in der Umgebung unsers Geheimnisses auf! Seid versichert, wir kommen Alle zum Ziele. Dafür werd’ ich schon sorgen.“

Hippolyt fand diese Zustimmung entzückend; denn sie war im höchsten Grade für ihn bequem 156 und Polyglotte ergriff Alles mit Lebhaftigkeit, was die zauberhafte Erscheinung des jungen Prinzen nur erhöhen konnte und seine sprachlichen Forschungen aufschob. Es war eine ausstudirte, verabredete Taktik, mit welcher das abentheuerliche Kleeblatt dem jetzt eintretenden Commandanten die Spitze bot.

Culotte war durch seinen geheimnißvollen Gast nicht wenig beunruhigt. Er hatte sich am Morgen, (aus seinem gesunden Schlafen störte ihn Nichts), alle die Möglichkeiten vorgestellt, welche in der Person Hippolyts liegen konnten. Es blieb ihm von allen, welche er sich vorführte, eine übrig, welche sich seinem Scharfsinn eben so wie seiner Furcht als die gewisseste herausstellte. Diese lag in dem Gedanken, daß Hippolyt von der französischen Regierung mit einer Mission beauftragt sei, um in dem Gewande einer Privatperson den Zustand der Kolonien in der Südsee zu untersuchen. „Ist er nicht der passendste dazu?“ fragte er sich selbst; „er ist mit diesen Gegenden vertraut, wird die Muttersprache noch nicht ganz verlernt haben, hat einen Diener bei sich, der, wie ich von Matois hörte, schon vor mehreren Jahren hier war. Was ist gewisser, als daß ich Alles aufbieten muß, ihm zu gefallen? Je 157 zufälliger ich dies thue, je weniger ich in ihn dringe, mich über seine Reise aufzuklären, desto günstiger wird der Eindruck sein, welchen ich auf ihn mache. Die Regierung soll erfahren, daß ich nicht blos ein Mann bin, der sie mit den scharfsinnigsten Plänen über die Zukunft der Kolonien unterhält, sondern auch in seinem Kreise Alles leistet, was die Billigkeit nur von ihm fordern kann.“ Freilich fiel ihm bei dieser Selbstapotheose doch ein, daß St. Marie sich in einer kläglichen Lage befand, daß der Ruin dieser Kolonie unvermeidlich nahe war, aber er schmeichelte sich, die Schattenseiten seines Wirkungskreises so versteckt als möglich erhalten zu können. Darum überraschte es ihn auch sehr unangenehm, als er von Hippolyt bei seinem Eintritt aufgefordert wurde, ihn mit der Lage der Dinge auf der Insel vertraut, und vor allen Dingen jetzt einen Spaziergang zu machen. Allein er wollte gefällig sein, und folgte der Aufforderung ohne mehr zu erwiedern, als: „Wenn es Ihnen nicht zu heiß sein wird.“

Es war ein kläglicher Anblick, welcher sich in den Gassen und Winkeln der Niederlassung den Spaziergängern darbot. Die schlechten Hütten, 158 welche den unglücklichen, mit trügerischen Vorspiegelungen in diese Gegenden gelockten Handwerkern zum Obdach dienten, waren so schlecht aufgebaut, daß sie überneigten und wie auf eine kurze Dauer, welche zuletzt doch Allem ein Ende machen sollte, von jungen Baumstämmen unterstützt wurden. Ein Schwarm von Kindern und Weibern, welche fast Alle noch in dem schönen Frankreich geboren waren, den Kolonisten angehörten, und doch eine sichtliche Verwilderung verriethen, verfolgte die Fremden, bettelnd, klagend, wahnsinnig von der Heimath redend, und ließ sich durch die Drohungen des Commandanten nicht zurückschrecken. Die Männer sahen mit bleichen, abgezehrten Gesichtern aus den Löchern, welche die Fenster der Häuser vorstellen sollten und verfolgten gierig, welchen Erfolg die Betteleien ihrer Frau und ihrer Kinder haben möchten, oder sie standen vor der Hütte, und brachten über der geringsten Arbeit mit einer Anstrengung zu, als gält’ es, ein unerschwingliches Werk zu Tage zu fördern.

Der Commandant machte zu diesem Elend die lustigste Miene. Er scherzte über diese Vorzeichen eines gewaltsam nahen Unterganges der Kolonie, 159 und schob Alles, was sie Trauriges sahen, auf den bloßen Schein, auf Zufälligkeiten und entblödete sich nicht, das Meiste davon statt schwarz, weiß zu nennen.

„Diese Leutchen,“ erklärte er spaßhaft, „sind noch Alle in ihrem Negligé. Wir haben sie in der frühesten Morgenstunde überrascht. Wie sich das noch die Augen wischt, die Glieder reckt! Wohlleben macht träge. Die Leute haben’s zu gut. Nein, sehen Sie nur, Herr Berora, wie uns das alte Weib anglotzt. Kann die alte Vettel nicht hinterm Spinnrade sitzen? Es ist schon mehr als neun Uhr.“

Das Mütterchen entschuldigte sich damit, daß sie keinen Flachs hätte; was Culotte als einen Witz beklatschte.

„Es ist zum Todtlachen, Herr Berora,“ rief er, sich den Bettelnden entziehend; „sie hat keinen Flachs, und wollte eigentlich sagen, sie hätte keinen Verstand. Nein, diese alten Weiber!“

Man trug aus einer Hütte einen Todten heraus, und die Furcht, als sei eine Ansteckung möglich, trieb die lästige Schaar, welche sich um die Spaziergänger drängte, in einige Entfernung zurück.

160 „Schon wieder ein Opfer,“ sagte der Commandant mit affectirtem Aerger, „diese Menschen sind unverbesserlich. Wovor warn’ ich sie so oft? Vor ihrer übergroßen Unmäßigkeit, den hitzigen Getränken, dem ewigen Fleischessen. Das kommt des Abends zusammen, die Frauen loosen, wer die Küche zu besorgen hat, man scherzt, man lacht, man tanzt; Alles gut, aber dann übernehmen sich die Leute im Essen, legen sich mit vollem Magen zur Ruh, und nichts ist natürlicher, als daß diese corpulenten Leiber des Morgens vom Schlage gerührt sind.“

Dies war die Leichenrede auf einen alten Soldaten, der sein Leben lange damit gefristet hatte, daß er das Riem- und Lederzeug seiner Equipage weich kochte, und der mit dem letzten Ledergurte, den er zu verschlucken hatte, starb.

Man war jetzt am Ende des Dorfes und Hippolyt, der eben so wenig Lust hatte, wie der Commandant, es noch einmal zu betreten, schlugen einen Weg ein, der sich etwas steil aufdachte und die Aussicht auf das Meer geben mußte. Culotte hielt auf diesem Pfade drei Schritte inne, theils um sich aus-161zuruhen, theils um seine Gaste eine Uebersicht der glücklichen Lage der Insel zu geben.

„Früher, mein junger Freund,“ sagte er, „erstreckte sich die Kolonie in weit größerer Ausdehnung, fast bis an den Rand jenes kleinen Baches, den Sie mit Ihren jungen Augen deutlich erblicken werden. Allein, diese Ausdehnung schadete uns unermeßlich; der Luftzug hatte immer dem größten Theile der Niederlassung beikommen können. Ich ließ Alles ins Enge bringen, die Häuser wurden von dort hierher geschafft, und so ist Alles bequemer eingerichtet auf Kosten des äußern Scheins, der früher allerdings mehr versprach. Ich muß darüber oft lachen, wenn ich bedenke, daß es fast aussieht, als sei Pandekey in Verfall. Klein, aber praktisch!“

Man stieg einige Schritte höher und der Commandant zeigte auf einen kümmerlichen grünen Fleck, welcher aus einer öden Verwüstung, aus trockenem Steingrunde hervorsah.

„Ach, dies ist mein liebster Punkt,“ rief er, „hier überseh’ ich meine Schöpfungen am besten. Welche Fruchtbarkeit! Wie sich die Wiesen dort so 162 lachend an dem Rande des Baches entlang ziehen! Wie voll und schwer dort auf den Getreidefeldern sich die Aehren wiegen! Man hat Alles in Paris, Freund; aber diesen Anblick vermissen Sie.“

Hippolyt wollte höher steigen, aber der Commandant fand die weitere Fortsetzung des Weges für seinen beschwerlichen Körper unzuträglich, und deutete athemlos den Hügel hinab.

„Setzen Sie Ihre Wanderung fort! In einigen Augenblicken wird Ihnen das blaue Auge des Meeres entgegen lachen. Sie werden den Weg nirgends verfehlen und meine Wachsamkeit hat die Insel in einen so polizeilichen, gesicherten Zustand versetzt, daß Sie nichts zu befürchten haben.“

Culotte wollte im Grunde nur, daß Hippolyt nicht wieder gezwungen wäre, seinen Weg durch das Dorf zu nehmen. Unter dem Zurufe: „Bei Tische sehen wir uns wieder!“ schied er von seinem Gaste, dem er behutsam hinabsteigend, noch aus langer Entfernung Fingerküsse und andere Zärtlichkeiten nachsandte.

Für Hippolyt hätt’ es der Aufschneidereien und handgreiflichen Lügen des Commandanten gar nicht bedurft. Denn wie weit entfernt er war, densel-163ben einen blinden Glauben zu schenken, so blieb es doch für ihn ausgemacht, daß sich die Armuth immer nur auf dieser Stufe des Elends äußern könne. Er war niemals tiefer von seinem Stande abwärts gegangen. Die niederen Klassen waren für ihn eine Sphäre, die er nur dem Namen nach kannte, und welche er überall für ein Opfer aller Unglücksfälle hielt. Wie oft er wohl in Paris einen großen Mangel gefühlt, und es verwünscht hatte, wenn ihm das Geld zum Spiele, oder zu einer Lustparthie, oder für die Oper fehlte, wie ärgerlich es ihm auch war, kurz vor dem Löhnungstage vergeblich vor einem Lesekabinet umherzulaufen und keinen Sou für das Entrée zu besitzen, so hatte er doch keine Sorge deshalb; denn diese übernahm immer der treue Colas. Er hatte doch seine Nahrung; denn für seinen Tisch zahlte er monatlich. Er hatte doch kein Fieber, keine Verzweiflung, keine Trägheit, keinen Todten. Das, was Hippolyt Armuth nannte, war nichts anderes, als die tiefste Stufe des Elends. In dem Zustande der Kolonie auch eine Vernachlässigung des Gouvernements zu sehen, wie hätt’ ihm das einfallen können? Diese Menschen waren für ihn von der Wiege an bestimmt, 164 zerlumpt, bleich, elend zu sein. Man denke sich, wie widerwärtig dieser Eindruck für ihn war, wie leicht ihm bei der Unberufenheit seiner Absichten, der Uebergang auf den Zustand aller dieser Länder werden mußte. Alles war öde, steinigt, unfruchtbar, drüben in Madagaskar war er fest überzeugt, daß es nicht besser sein konnte.

Colas wollte natürlich keinen seiner Schlüsse wahr haben. Er sagte: „Nichts, als die unverzeihliche Nachlässigkeit der hiesigen Befehlshaber. Großer Gott, wenn Sylvain Roux diesen Zustand seiner Schöpfungen sähe! Es ist wahr, er hatte viel mit dem Boden von St. Marie zu kämpfen, aber wie berechnet für die Zukunft waren seine Anlagen! und diese ganze Zukunft ist verloren gegangen. Der Commandant ist ein Spitzbube, der in Paris vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollte. Wären wir nur erst drüben! da ist Alles schöne und fruchtbar, die Wälder voller duftiger Kräuter ; Flachs, Zuckerrohr, Reis, abwechselnd auf den weiten Feldern; summende Bienenschwärme, welche den köstlichsten Honig bereiten; Hügel und Ebenen, in anmuthiger Aufeinanderfolge und zahlreiche Heerden von Rindern und Schafen in den duftenden Thälern.“

165 Polyglotte hing so aufmerksam an dem wunderverkündenden Munde Colas, daß er jeden Augenblick auf dem schmalen Wege stolperte und dabei immer mechanisch sprach: „Man kann hier sehr leicht fallen; nehmen Sie Sich in Acht!“ Wenn er das kaum gesagt hatte, trat er schon wieder fehl und wiederholte seine Warnung, ohne von der fortgesetzten prächtigen Schilderung Colas seine Aufmerksamkeit wegzuwenden.

Endlich hatten sie den höchsten Gipfel erreicht und der überraschende Anblick des stolzen wogenden Meeres sprang in ihr Auge, das zu klein für die Unermeßlichkeit war. In der Ferne, wo der Horizont sich dem Wasserspeigel zu vermählen schien, tauchten einige dunkele Linien auf, welche die Küste von Madagaskar andeuteten. Hätte sich Hippolyts Seele bei diesem Anblick mit Stolz erfüllt, so würden Polyglotte’s Worte ein ziemlich richtiger Ausdruck derselben gewesen sein. Dieser rief nämlich mit Enthusiasmus: „O, Königliche Hoheit, wenn ich je gezweifelt habe, daß die Könige von der Natur in ihren Anlagen, ihren Gefühlen, ja selbst in ihrem Blute bevorzugt sind, so bin ich jetzt davon am entferntesten. Ich vermag mit meiner unter-166drückten Seele Ihnen nur schwach jede Empfindung nachzufühlen, welche Sie beim Anblick dieser glücklichen, ihres Scepters harrenden Regionen ergreifen muß.“

Aber Hippolyt wurde nur von einem Gedanken ergriffen, dem, wie am sichersten die Fortsetzung dieser Fußwanderung zu bestellen sei? Denn unter ihnen dachte sich der Felsen bis zur Brandung des Meeres schroff ab und bildete in seinem ganzen Umfange eine Bucht, in Gestalt eines Hufeisens.

„Sollt’ es möglich sein, Colas,“ fragte er, „bis dort unten, wo ein gebahnter Steg zu sein scheint, ohne Gefahr hinabzuklimmen?“

„Warum nicht?“ antwortete Polyglotte, und rutschte von dem steilen, eckigen Felsen so unvorsichtig hinunter, daß er zwar noch glücklich den bezeichneten Pfad erreichte, durch gewaltsames Lachen aber seinen Schreck verdecken mußte. Er schlug hie und da an eine Felskante und blutete mit einer leichten Verwundung am Kopfe. Als ihm seine Begleiter, überlegter die Kanten als Stützpunkte auswählend, gefolgt waren, beklagte er, durch sein Lachen nicht auch die Löcher seines Fracks, die er sich aufs neue gerissen hatte, flicken zu können. 167 Der närrische Mann sah in seinem Aufzuge mit halb getrenntem Schoßflügel spaßhaft genug aus, und je unerschrockener er seinen Weg fortsetzte, je tapfrer die Physiognomie war, die er in die ausgetrockneten Mienen seines viereckten Kopfes aufnahm, desto größere Belustigung mußte er Hippolyt gewähren. Mit Polyglotte ließ sich Alles machen.

Eine kleine Grotte, welche noch in der Wölbung der Bucht lag, konnte bei der hohen Mittagshitze nicht einladender kommen. Die Wanderer waren in der besten Laune und ließen sich auf einer Schicht Corallen und allerhand Steinchen, welche die Fluth des Meeres zurückläßt, nieder. Polyglotte hielt diesen Zeitpunkt der Ruhe und des Bedürfnisses einer Unterhaltung für den passendsten, um mit einigen seiner Gedanken über Fürstenweisheit, Staatenwohl, Beförderung der Aufklärung dem jungen Prinzen auf den Leib zu rücken, ja es mag selbst in seiner Absicht gelegen haben, freiwillig über die ganz in Vergessenheit gerathene Aehnlichkeit der arabischen und madagassischen Sprache einige klägliche Geständnisse vorzubringen; aber Hippolyt wollte lachen, er wollte gerade den Professor am wenigsten ernst sehen, kurz er besaß all’ die 168 Capricen, die Lust der Kurzweil, das ganze Bedürfniß, sich über Andere lustig zu machen, in einem Grade, der mehr als etwas bewies, wie er zum Herrscher geboren war. Er hielt Polyglotte den Mund zu und fragte ihn, ob er schwimmen könne?

Polyglotte sah ihn darauf mit gutmüthigen Augen an und meinte, er hab’ es zwar weder gelernt noch versucht, zweifle aber durchaus nicht an seiner Fähigkeit. Wenn er bedenke, wie viel Jahre er gehungert habe, und wie leicht er jetzt sein müsse, so sei ihm gar kein Zweifel mehr und sprang, als Hippolyt grausam lachend ein Stück Brot aus Colas Tasche ins Wasser warf, mit dem ganzen Instinkt eines Pudels ihm nach. Das spiegelklare Wasser war nicht tief, aber doch so bewegt, daß der Professor nicht festen Fuß fühlte, er schlug mit Händen und Füßen, arbeitete wie ein Schwimmer, athmete ängstlich mit seiner schwachen Lunge, erschnappte aber doch glücklich das Brot, welches er siegreich herauftrug. Der eine Flügel seines Rockschoßes riß jetzt wirklich ab, als er den durchnäßten Frack auszog. Er sah dabei Hippolyt mit stieren, ängstlichen Augen an und bat ihn mit kläglicher 169 Stimme: „Königliche Hoheit, nur nicht noch einmal!“

Aber Hippolyt war grausam, das prinzliche Blut regte sich in ihm und lachend warf er ein neues Stück Brot, (das gerettete hatte Polyglotte mit Recht aufgegessen), in die Fluth, und der alte Narr mußte noch einmal das Bad des Schreckens versuchen. Die vorigen Manöver wiederholten sich, Polyglotte schien die Kunst eines Wassertreters nachzuahmen, weil ihm Alles darauf ankam, festen Boden zu fühlen, er setzte alle Anstrengung daran, den Bissen zu haschen und apportirte ihn endlich mit einer sichtbaren Erschöpfung, die mehr für seine Schonung bat, als die Worte: „Ach, Königliche Hoheit, lassen Sie’s jetzt genug sein!“

Hippolyt lachte und hatte Ursache dazu, denn der alte Mann konnte sich nicht enthalten, das Stück Brot trotz dem, daß er am ganzen Körper zitterte, wieder redlich zu verschlucken.

„Hat er noch Lebenslust,“ dachte Hippolyt, „so kann ihm das dritte Mal nicht schaden,“ und ergriff den abgerissenen Rockzipfel, den er viel weiter als zuvor warf. Diesen hätte nun Polyglotte um keinen Preis fahren lassen, er nahm sich nicht ein-170mal Zeit, das Warum hinlänglich auszuführen, sondern sprang mit der unvollendeten Phrase: „Kann ich ihn nicht wieder ansetzen, so läßt er sich doch zum Flicken –“ dem Rockschoße nach, wozu er einen verzweifelten Ansatz nahm. Aber kaum hatt’ er ihn im Wasser erreicht, so stieß er einen fürchterlichen Schrei aus. Er warf sich der Länge nach dem Ufer zu und ehe er’s erreicht hatte, sahen auch Hippolyt und Colas den Gegenstand seines Entsetzens. Es war ein Kopf, der auf dem Wasser schwamm. Er näherte sich, tauchte unter, ein ganzer Körper kam zum Vorschein und in wenig Augenblicken stand ein halb nacktes Weib mit triefenden, langen, grauen Haaren vor ihnen.

Es war der Blick einer Furie, mit welchem die Wilde (denn ihre Farbe verrieth ihre Abkunft), die drei Männer musterte. Sie erwartete, von ihnen angegriffen zu werden, als sie aber den zitternden, friedlichen Polyglotte und die Unentschlossenheit und das Erstaunen der beiden Andern sah, legte sich ihre drohende Stellung, ihre Mienen wurden beruhigter und mit kreuzweis über die Brust zusammen gelegten Armen, entbot sie ihnen demüthig ihren Gruß.

171 Die Pein des wechselseitigen Räthsels würde nicht so lange gedauert haben, wenn Polyglotte von seinen Bädern weniger erschöpft gewesen wäre; vielleicht hätte er dann das stumme Weib, das sich wieder aufgerichtet und unaufhörlich ihr Auge auf Hipployt hatte, durch einige arabische Laute zum Sprechen gebracht. So aber eilte er in die Grotte, seine nassen Kleider schüttelnd, und rief seinen Gefährten zu: „Ich will mich nur erst umkleiden!“ was wiederum für den, welcher den Zustand seiner Garderobe kannte, höchst komisch war, denn worin wollt’ er sich umkleiden? Hippolyt schickte sich auch eben an, darüber zu lachen, als das fremde Weib auf ihn zustürzte, seine Füße umschlang und sie küßte, und einmal über das andere mit gebrochenem Französisch ausrief:

„Mein Sohn, mein Sohn!“

Polyglotte kam, seine Beinkleider heraufziehend, aus der Grotte herausgesprungen und schrie wie ein Besessener: „Was, die Königin Mutter?“

Hippolyt suchte sich betreten den Liebkosungen der Wilden zu entziehen, und Colas trat zwischen beide, um sie zurückzuhalten, in ihrer Verwechselung fortzufahren: denn er wußte wohl, daß Hippolyts 172 Mutter längst todt war. Aber die Fremde ließ sich von ihren Erkennungen nicht abbringen, sondern es ergab sich bald, daß sie für ein anderes Verhältniß nur einen falschen Namen gewählt hatte. Ihre Gesten und ihre vereinzelten französischen Worte kamen nämlich darauf hinaus, daß sie Hippolyt nach dem Tode seiner Mutter gesäugt haben wollte; sie beschwor Colas, den sie ohne Weiteres zu kennen schien, ihre Aussage zu bestätigen und schlang auf’s neue ihr graues langes Haar um Hippolyts Füße. Colas besann sich, er betrachtete das Weib genauer und mußte, jetzt selbst von diesem Wiedersehen betroffen und gerührt, eingestehen, daß die Aussage derselben ihm nicht ohne Grund scheine, ja zuletzt, daß sie über allen Zweifel gewiß sei. Er hatte sich auf die Madagassin besonnen, welche den jungen Berora nach St. Marie begleitete, und ihn, der sehr schwächlich war, noch in seinem zweiten Lebensjahre säugte. Damals war sie noch schöner und blühender, verkehrte viel mit den Umgebungen Sylvain Roux’s und lernte so viel von der Sprache der Fremden, daß sie sich ihnen bald verständlich machen konnte.

Auch jetzt begann sie nach ihren unmäßigen 173 Freudenbezeugungen Hippolyt lange Erzählungen aus seiner Heimath zu berichten, die ihm nur insofern merkwürdig waren, als sie oft die sonderbarsten Ausdrücke wählte und in einem für ihn neuen, aufgeregten lebhaften Style sprach. Dabei setzte sie voraus, Hippolyt müsse mit der früheren Geschichte seiner Schicksale und seines Vaterlandes vertraut sein, und theilte ihm Nachrichten mit, welche ihm höchst unverständlich waren.

„Ach,“ sagte sie, „alle diejenigen, welche werth sind, von Krokodillen verschlungen zu werden, ich meine Deine Feinde, hatten den Thron ihrer Macht bis an die Wolken erhoben. Sie hatten sogar die Götter überwunden und sie gezwungen, dem Unrecht Gehör zu geben. Sie waren wie verheerende Blitze, welche im Gebirge die höchsten Stämme verzehrten, sie hatten große Macht, seitdem sie die ihrige mit der Deinigen, welche sie Dir raubten, vermehrten. Da geschah es aber, daß die Götter sich einst von ihrem Uebermuth befreiten, und die Zeit benutzten, ihre Gedanken in Verwirrung zu bringen. Seitdem wiesen sie sich einander die Zähne, und zerfleischten sich mit der Wuth der Tiger und Hyänen und der andern Ungethüme, welche im 174 Meere wohnen. Der König Rhadama wurde von seiner Gattin Rauavalona erschlagen und mit ihm alle seine Brüder und Vettern, an der Zahl tausend, damit Alles gerochen werde, was sie an Dir und Deinem Hause gesündigt hatten. Und die Kinder und Enkel bis ins vierte Glied wurden in die Knechtschaft geführt, und müssen Sclavendienste verrichten und vor der Königin und ihrem Liebhaber Andremiaja tanzen, wenn sie ihre Feste feiern.“

Hippolyt fragte den trocknenden Polyglotte, ob er je einen solchen pathetischen Styl gehört hätte? und dieser bemerkte, daß es spaßhaft gewesen wäre, als die Wilde gesagt hätte, daß die Tiger und Hyänen im Meere wohnten. Colas aber, dem es gar nicht darum zu thun war, sich über die Mittheilungen der Eingebornen lustig zu machen, fragte sie über den Zustand, der drüben auf der Insel herrschte, aus, und erhielt von ihr darüber Nachrichten, welche sich herrlich für Hippolyts Unternehmen benutzen ließen. Alle ihre Reden kamen aber wieder auf ihr theures Idol, den Prinzen selbst, zurück und er mußte ihren Liebkosungen, so zuwider sie ihm nachgerade wurden, nachgiebig gewähren.

175 „Mein Sohn, die Sonne Deiner Heimath,“ sprach sie zu ihm gewandt; „wird Deinem Antlitz alle jene Farben wiedergeben, welche selbst der kalte Winter des Nordens noch nicht ganz auf Deinen Wangen auszutrocknen vermochte. Ich weiß es mit Prophetenblick, Du wirst wieder grün werden.“

„Soll mich Gott bewahren!“ rief Hippolyt und suchte sich von der Seherin loszureißen.

Sie ließ ihn aber nicht und fuhr begeistert fort: „Wahrlich, wahrlich, es wird eine Zeit kommen, da ich Dich auf dem Stuhle Deiner Erhöhung sitzend erblicke. Meine Träume werden wahr; ich wußte es, daß Du im Lande der Weißen Deine Götter nicht finden konntest, Du kehrst in den Mittelpunkt der Erde zurück und wirst neue Altäre bauen.“

Ein Schuß störte sie aus ihrer Vision, ein zweiter und eine Kugel fiel dicht neben der Gruppe ins Wasser. Hippolyt, der sich eben bekreuzte, und vor der heidnischen Zumuthung, neue Altäre zu bauen, zurückfuhr, trat erschrocken an den Felsen, Polyglotte sprang in die Grotte, Colas wagte kaum, sich umzusehen. Die Wilde wartete noch einen dritten Schuß, der ihr galt, ab, drohte mit furchtbarer 176 Geberde an den Rand des Felsens hinauf, stürzte sich in die Fluth, und wurde erst nach einer beträchtlichen Strecke wieder sichtbar, worauf sie sogleich verschwand und bald ihren Verfolgern entzogen war.

Die Gefährten konnten sich den Zusammenhang dieser Scene nicht erklären, Polyglotte meinte sogar, die eine Kugel hätte auf ein Haar dem Prinzen gegolten, und Hippolyt fühlte einen gewissen natürlichen Beruf, als Beschützer eines Weibes, das ihn so verehrte und dem er Einiges schuldig sei, aufzutreten. Ein eben entstandener Lärm oben auf dem Rande des Felsens, an dessen Fuße sie sich befanden, gab ihnen die Richtung an, wo sie sich zu beklagen hatten. Hippolyt erblickte den Adjutanten, den Marquis le Poivre, mit einem weißen Tuche wehen und in der Luft eine Menge von Gestikulationen machen, welche den Sinn einer Entschuldigung zu enthalten schienen. Dabei theilte le Poivre links und rechts an drei bis vier Leute, welche ihn mit Gewehren umstanden, Ohrfeigen aus, so daß die Genugthuung vollständig schien. Nichts destoweniger schickte sich Hippolyt an, den Felsen zu ersteigen, Polyglotte, behend 177 wie eine Katze, ihm nach, nur Colas verspätete sich, weil er älter war, und ihn die Malgaschin vor Allen interessirte. Er sah ihr noch immer in das todte Meer nach, als seine beiden Gefährten fast ihr Ziel erreicht hatten.

„Verzeihen Sie, meine Herren,“ rief der Marquis den Kletternden entgegen und reichte Hippolyt seine Hand zum letzten Sprunge auf das Plateau. „Verzeihen Sie die Unvorsichtigkeit meiner Leute, die in meiner Abwesenheit Ihnen, weiß Gott! gefährlich hätte werden können. Unglücklicherweise blieb ich beim Verfolgen jener verdammten Hexe etwas zurück, und die Vorschnelligkeit –“

„Aber was haben Sie nur gegen die Frau?“ unterbrach Hippolyt den Adjutanten.

„O, das ist das gefährlichste Weib auf ganz Madagaskar,“ gab der verlegene Marquis zur Antwort; „Sie hat allen Weißen den Tod geschworen, steht im Auftrage der feindlichen Stämme auf der Insel drüben und spionirt fortwährend um unsere Kolonien herum. Durch irgend einen Zufall kennt sie einiges Französisch, sie weiß sich damit desto leichter hie und da bei den vereinzelten Kolonisten einzuschleichen, und zwingt uns, so auf der Hut zu 178 sein, daß ich täglich zwei-, dreimal die Küste recog­nosciren lassen muß. Es ist eine Schande, mit Weibern Krieg zu führen, aber Frankreichs Interesse hat in der That diese Furie zu fürchten.“

In Polyglotte regte sich wieder der Diensteifer und wie er bemerkte, daß freilich in Hippolyts Zügen einiger Unmuth lag, fuhr er mit den Worten heraus: „Wissen Sie wohl, mein Herr, welchen Werth diese Dame für uns hat?“

Mehr zu sagen verhinderte ihn sein Herr, der ihn schweigen hieß, weil ihm die Erinnerungen an seine Geburt in Gegenwart eines so feinen, gebildeten Mannes, wie der Marquis, immer lästig waren. Colas, der inzwischen auch nachgekommen war, fügte hinzu, die vorschnellen Antworten des Professors würden sie noch einmal in Verlegenheit bringen. Der arme Polyglotte! Er blickte gekränkt zu Boden, und sagte leise mit erstickter Stimme: „Se. Königliche Hoheit verkennen mich, bei Gott!“

Hippolyt nahm den Vorschlag an, in Begleitung des Adjutanten jetzt zur Tafel des Commandanten zu gehen. Unterwegs fuhr le Poivre fort, die Gefährlichkeit der verfolgten Insulanerin um-179ständlicher zu berichten. Er sagte, sie sei von jedem Kind auf St. Marie gekannt, und überall als eine Feindin gefürchtet, welche mit Hülfe böser Dämonen den Menschen und dem Vieh, allem Hab und Gut Unheil zufügen könnte. Wer aber wisse, daß sich drüben auf der Insel die feindseligsten Dinge vorbereiteten, würd’ ihr Herumstreifen auf der Kolonie anders erklären. „Ich muß Ihnen gestehen,“ fuhr der Adjutant fort; „daß wir unter solchen Umständen nichts sehnlicher wünschen können, als endlich von dem Ministerium in Frankreich beachtet zu werden. Was man von der Kolonie auch Lobenswerthes sagen möge, soviel ist erwiesen, daß ihre Kriegsverfassung von der Zeit des Friedens sehr gelitten hat.“

Es war für Hippolyt langweilig genug, alle diese Auseinandersetzungen, die wir nur in ihrem Thema angedeutet haben, anhören zu müssen, er hatte den Adjutanten für einen feinen, gebildeten Offizier gehalten, und wunderte sich, daß er ihn jetzt mit Dingen unterhielt, welchen er von keiner Seite Interesse abgewinnen wollte. Er war froh, endlich die Wohnung des Commandanten erreicht zu haben, entließ seine etwas grollend blickenden Ge-180fährten, welche in die Herberge des Metzgers zurückkehren mußten, und gab Polyglotte noch scherzend den Rath, auch den andern Flügel seines Fracks abzutrennen, weil ihn eine kurze Jacke sehr stattlich kleiden würde. Polyglotte erwiederte trocken: „Ew. Königl. Hoheit haben nur zu befehlen.“

Als Hippolyt in die Zimmer des Commandanten trat, meldete ihm Matois, daß Herr Cochon zweimal am Orte gewesen sei, um dem Herrn Lieutenant Berora seine Aufwartung zu machen: „Wer ist Herr Cochon?“ fragte Hippolyt.

„Haben Sie schon gehört,“ antwortete Culotte, der eben aus der Thür trat; „Herr Cochon war zweimal hier. Herr Cochon ist ein reicher Mann, das will auf einer Insel wie St. Marie nicht viel sagen, aber was Sie interessiren wird, ist seine Leutseligkeit, sein zuvorkommendes Betragen, die feinen Sitten, welche in seinem Hause herrschen;“ und indem er an le Poivre heranging, fuhr er, diesen zärtlich in die Backen kneipend, fort: „Und was die Liebenswürdigkeit seiner Schwester betrifft, so wenden Sie sich nur deshalb an meinen Freund, den Marquis.“ Eine Adresse, welche er mit heftigem Lachen gab, und die vom Adjutanten eben so 181 freundlich, obschon etwas gemäßigter aufgenommen wurde.

Hippolyt verstand ungefähr Einiges von dieser Vertraulichkeit und erklärte, als er sich auf einer Karte zum heutigen Abende in der Gesellschaft des Pflanzers eingeladen fand, daß er auf Nichts begieriger sein könne.

Wir unterlassen die detaillirte Ausführung, wie Hippolyt seine Zeit bis zum Beginn der Soirée des Herrn Cochon hinbrachte und erwähnen nur, daß ihm ein Frikassée von Fledermäusen, womit der Commandant seine Tafel geschmückt hatte, so viel Ekel und Unmuth verursachte, daß er bis zur siebenten Stunde der unerträglichste Mensch war. Seine beiden alten Freunde, welche ihn nach Verzehrung ihrer Kaninchenbraten wieder besuchten, vermochten weder einen Gruß, noch irgend ein Wort von ihm zu erhalten. Er streckte sich mit Stiefeln und Sporen auf dem Sopha, das in seinem Zimmer stand, und brummte nur fortwährend in sich hinein, das Alles in der Welt Chimäre und Dummheit sei, daß erst noch eine neue Welt geschaffen werden müßte, daß Gott lange genug regiert und sein Stiefel ein Loch hätte. Mit solchen rhapsodi-182schen Faseleien konnte er Stundenlang zubringen. Welcher meiner jungen Leser erinnert sich nicht zuweilen von ähnlichen Anfällen ergriffen zu sein?

Die Klagen, welche dann Eure Freunde über Euch ausstießen, blieben auch hier nicht aus; denn als sich Hippolyt mit dem Adjutanten in die Soirée des Herrn Cochon begeben hatte, seufzte Polyglotte und sagte: „Da geht er hin und läßt uns im Stich! Wie launisch er ist! Nichts kann man ihm recht machen. Selbst wenn man seine Befehle vollzieht, hat er, ich will nicht sagen keinen Dank, nein, nicht einmal ein Auge dafür. Sah’ er wohl auf die Veränderung, welche mit meinen Rockschößen vor sich gegangen ist? Er befahl mir, wie ein Kellner, Hausknecht, wie ein Boutiquier gekleidet zu sein, und jetzt bemerkt er’s nicht einmal.“

Colas war eben so ungehalten als Polyglotte; doch tröstete er sich leichter.

„Ich gebe noch nicht alle Hoffnung auf,“ sagte er, „ich weiß, der gute Junge ist leichtsinnig, allein man kann ihn lenken, er ist für gute Rathschläge empfänglich, und thut auch Alles, wenn man es gern hat. Wir steuern langsam, das ist wahr, bei Gott, das ist wahr; aber wir kommen 183 doch zum Ziele. Die Begegnung der Amme ist uns in dieser Rücksicht günstiger, als wenn der Commandant verspräche, mit hundert Mann uns beizustehen. – Kommen Sie, Herr Professor, es ist so heiter draußen; die Sonne ist untergegangen; wir wollen uns über unsern Freund zu beruhigen suchen.“

Polyglotte umarmte den alten Diener zärtlich und rief, entzückt auf das Abendroth zeigend: „Lassen Sie uns Freundschaft schließen, Colas, diese Stunde ist dazu geschaffen!“ Und Beide traten hinaus in die kühle Abenddämmerung.

Culotte hatte sich mit seinem Podagra bei Herrn Cochon entschuldigen lassen. Le Poivre begleitete unsern Helden allein dorthin und unterrichtete ihn auf dem Wege von den Personen, welche er dort antreffen würde. Unter Anderm sprach er von des Pflanzers Schwester, Heloise, die er mit den frischesten Farben schilderte und dann lachend hinzusetzte, daß die Kolonie ihn gewöhnlich den Begünstigten dieser Dame nannte.

„Nichts als Verleumdung!“ sagte er mehre Male hintereinander und ließ damit Hippolyt einen 184 Blick in sein Inneres werfen, wo vielleicht gerade das Gegentheil geglaubt wurde.

Herrn Cochons Besitzungen lagen auf einer Seite der Insel, welcher Hippolyt noch nicht ansichtig geworden war. Er fand hier in der That Alles fruchtbarer und besser bestellt und fragte seinen Begleiter, warum die Kolonie gerade in der ödesten Gegend der Insel angelegt sei. Dieser war noch mitten in der Auseinandersetzung der verlangten Gründe begriffen, als Beide des Pflanzers geschmackvoll eingerichtete Wohnung schon betraten und mit einem Luxus empfangen wurden, der dem verwöhnten Pariser sehr wohl that. Zwar waren alle Heiducken und Bedienten schwarz, aber sie waren trefflich uniformirt, gewandt, dienstbeflissen.

Auch Herr Cochon war eine überraschende Erscheinung. Ein Mann von kleiner Statur, feinen Sitten und einer Grazie in seinen Bewegungen, die selbst von seinem ansehnlichen Embonpoint nicht gehindert wurde. Er trug das Haupt gepudert, Schnallen an den Schuhen, kurz er war so liebenswürdig, daß Hippolyt in einem Meere von Entzücken schwamm.

Es waren sechs bis acht Personen, alte Herren 185 und alte Damen, versammelt; doch führte Herr Cochon seinen jungen Gast zuerst seiner Schwester Heloise vor. Heloise war eine jener verblühten Gestalten, welche den Verlust der Jugend eine Zeitlang so bezaubernd durch einen Anstrich von Schwärmerei und poetischer Resignation zu ersetzen wissen. Sie hatte einen hohen, stattlichen Wuchs, die Taille einer Göttin und einen griechisch geformten Kopf, aber das Alles mußte, als sie noch jung war, noch weit schöner gewesen sein. Jetzt war es nur noch der Zauber des Phantastischen, der ihre Reize zusammenhielt, und ihnen auf zwei, drei Stunden, wo ihre höchst sorgfältige Toilette noch nicht verschoben war oder nachgelassen hatte, Einiges von berechneter Wirksamkeit verlieh. Heloise war eines jener Wesen, die der junge Mann zwar nie lieben, aber immer interessant finden wird, und die deshalb, weil sie das Eine vom Andern nicht unterscheiden können, bestimmt scheinen, immer mit den unglücklichsten Leidenschaften zu kämpfen.

Thee, eine Piece auf dem Piano, von Heloisen gespielt, eine zweite von ihr gesungen und vom Adjutanten begleitet, einige Bravissimo’s, vereinzelte Gruppen, und zuletzt Whist oder Boston. Die 186 Parthien bildeten sich instinktmäßig; denn schon seit langen Jahren folgten sie einen Tag auf den andern, ungestört, immer dieselbe Stunde, immer die gleichen Personen. Wenige blieben im Gesellschaftszimmer zurück, unter ihnen Heloise und Hippolyt. Wer nur einigermaßen jene Klasse von Frauenzimmern, zu welchen Herrn Cochons Schwester gehörte, kennt, wird es ohne mich wissen, daß sie diesen Abend nur für Hippolyt lebte. Alle ihre Gedanken zitterten ihm entgegen; da sie so lange schon von seinem Aufenthalte in St. Marie wußte und ihn heute erst sah, so läßt sich denken, wie aus der Neugier eine Steigerung bis zur Sehnsucht geworden war. Jetzt zogen tausend Fragen durch ihre Seele: Wie ist er? Was denkt er? Was empfindet er beim Untergang der Sonne? Wie gefiel ihm mein Spiel? Singt er? Glaubt er, daß ich gut singe? Kann er die Grausamkeit besitzen, meine Jahre zu zählen? Welchen Schriftsteller liebt er am meisten? Ob er auch zärtlich sein kann? Ob er wohn meine weißen Zähne bemerkt hat? Ist er bizarr? Hat er wohl schon einmal geliebt? Glaubt er an die Religion? Wird er mich wohl hassen, wenn ich schlecht tanzte? Ist er für etwas 187 Höheres empfänglich? Ach, sie sind so zahllos diese Zweifel, welche ein liebesieches Herz bestürmen!

Hippolyt war nicht ganz jener gedankenlose Zeitverderber, wie wir ihn geschildert haben. Es ist wahr, er liebte das Reiten, Tanzen, das zwecklose Treiben über Alles, er konnte Stunden lang in den Gewölben der Bijoutiers stehen, um ihre neuesten Fabrikate zu betrachten, er ließ sich in Wind und Wetter schicken, um der Caprice einer jungen Dame zu Gefallen zu leben, er blieb ganze Abende in den langweiligen Cirkeln alter Damen, wenn er nur darauf rechnen konnte, für die Vertraulichkeit mit ihren Töchtern einige Erlaubnisse zu erhalten; allein er interessirte sich auch für das Ideal, und wußte von der Literatur so viel als nöthig war, um nicht darin unbewandert zu erscheinen. Und so war er auch mit Heloisen bald in ein duftiges, zartes Gespräch verwickelt.

„Sie nennen mich unglücklich,“ sagte die Schwärmerin von sechs und dreißig Jahren; „daß ich die Blüthe meiner Tage auf dieser einsamen Insel habe verleben müssen. Dann kennen Sie mich nicht, dann ehren Sie nicht, was meine Seele bewegt.“

188 „Verzeihen Sie,“ fiel Hippolyt ein; „wenn ich durch ein Bedauern, welches jeder andern Dame willkommen gewesen wäre, eine Unart gegen Sie –“

Er stotterte; man sieht, wie schwierig es ihm noch wurde, sich auf den Ton Heloisens zu stimmen. Sie zog ihm lächelnd seinen Ring vom Finger und sagte, damit spielend: „Eine Unart? gewiß nicht; aber eine Verwechslung. Die Natur hauchte den menschlichen Seelen verschiedene Empfindungen ein. Selten wird der Eine sein Glück in dem des Andern finden. Ich pries mein Geschick, als der gute Bruder mich dem geräuschvollen Leben Bordeaux’s entzog, und mit mir in diese fremde Welt zog, und habe noch nie eine Sehnsucht nach der Heimath verspürt. Die Heimath ist nur im irdischen Raume, aber es giebt Dinge, welche höher sind als Raum und Zeit.“

„Und dazu rechnen Sie mit allem Recht die schwesterliche Liebe,“ bemerkte pathetisch Hippolyt, der sich einbildete, jetzt etwas recht in ihre Gedanken Passendes gesagt zu haben.

„Die schwesterliche Liebe? Wie kommen Sie darauf?“ fragte aber Heloise verwundert.

Der gute Hippolyt wollte gar nicht in den Zug 189 kommen, wohin sie steuerte. Er entschuldigte sich, wenn er ihrem Gedankengange nicht recht gefolgt sei, und sagte: „Ich glaubte, daß Sie überall gern sind, wo Sie Ihren Bruder haben. Allein, wenn Sie vielleicht die entgegengesetzte Meinung haben –“

„Ei, so scherzen Sie doch nicht, Herr Berora,“ fiel Heloise ihm in’s Wort und legte den Ring zwischen ihre Lippen, um die weißen Zähne zu zeigen. „Ueber die Liebe zu meinem Bruder geht mir wenig; man braucht nicht immer das Gegentheil einer Meinung zu denken, wenn man eine andre hat.“

Und sogleich fiel sie wieder in ihre schmachtende, zerfließende Rolle zurück, und fuhr fort: „Nein, die Liebe zur Einsamkeit ist es, die mich vor Allem an die Felsen kettet. Hier kann ich mich ungestört in meinen Träumen wiegen. Hier leb’ ich in stiller Vertraulichkeit mit den stummen Umgebungen der Natur, denen sich leichter Geheimnisse anvertrauen lassen, als einem schmeichelnden Freunde.“

„Wie?“ rief Hippolyt; „so jung und schon Mißtrauen in die Freundschaft?“ und bahnte sich mit diesem Complimente einen Weg, der ihn Heloisen 190 näher führte. Sie seufzte, sah ihn mit einem langen fragenden Blicke an und ging, einen Auftrag ihres Bruders zu vollziehen.

Mochte nun Heloise inzwischen in der Küche eine Magd ausgescholten, oder kalte Speisen trenchirt haben, mochte sie ihrem Bruder ein Schnupftuch oder etwas Andres, daß unter ihrem Verschluß stand, haben geben müssen; die Saite, deren Ton in Hippolyts Seele zu widerhallen vermochte, war einmal angeschlagen. Sie knüpften ihr Gespräch von Neuem an, und kamen von der Freundschaft auf die Liebe, von der Liebe zur Treue, von der Treue zur Leidenschaft, von der Leidenschsaft zu ihren Verirrungen und von den Verirrungen auf die neuste französische Literatur, wo sich denn zuletzt die Ueberschwänglichkeit in die einfachen, abkühlenden Fragen: „Haben Sie dies gelesen? Kennen Sie das Buch, was ich meine? Lieben Sie des Autors Styl?“ und ähnliche auflöste. Beide hatten sich vortrefflich unterhalten, und während Heloise Alles von Hippolyts Gefühl hoffte, setzte er alle seine Aussichten auf ihre vortreffliche Aussprache, ihre feine Art zu urtheilen, auf die ganze Genugthuung, welche für ihn in ihren Umgebungen lag: kurz, auf 191 den einzigen Haltpunkt, der ihn seinen schon unfreiwilligen Aufenthalt jenseits des Aequators erträglich machen konnte.

Noch an demselben Abende stellte sich für Hippolyt die Unmöglichkeit, auf seine Eroberungspläne irgend Zeit, Hoffnung oder Anstrengung zu verwenden, noch lebhafter heraus. Eines Theils überraschte es ihn zwar, auch bei Herrn Cochon nichts von seinem Vorhaben zu vernehmen, er gewöhnte aber sich daran, es in so vernünftiger, gebildeter, reeller Gesellschaft für eine Chimäre zu halten, und wünschte, als er mit dem Marquis le Poivre aus der Wohnung ihres Wirths heraustrat, nichts sehnlicher, – als daß sein Fuß über einem Pariser Steine stolpern möchte, daß alles Frühere Täuschung, jeder Baum ein Haus und das Ganze die Straße St. Dominique in Paris wäre.

Ein zweites Begegniß war ihm in diesem Zustande noch unwillkommner. Denn als der Marquis sich an einem Scheidewege, wo er ihm deutlich das Haus des Commandanten zeigte und Hippolyt sich selbst überlassen konnte, von diesem trennte, und der junge Prätendent mit allen seinen gleichgültigen, trägen, überdrüssigen Plänen den einsamen 192 Gebirgsweg allein fortsetzte, sagte ihm eine gewisse Ahnung, die auch bei verschlossenen Augen und Ohren hört und sieht, daß sich ihm eine zweite Person zur Begleitung angeschlossen haben mußte. Man kann unter solchen Umständen ein beklommenes Herz haben, ohne die Furcht eines Schneiders zu kennen. Hippolyt hatte eine Uebersetzung des deutschen Hoffmann gelesen und glaubte an die blauen Weingespenster des preußischen Kammergerichtsraths, er blieb stehen, und fragte den nächsten Baum, ob sich vielleicht Jemand hinter ihm versteckt hätte.

Als er aber nichts hörte und sah, ging er weiter und dachte, da der geheimnißvolle Parallelismus nicht aufhören wollte, neben ihn herzuhuschen, es könnte Colas oder Polyglotte sein, die ihn von seiner Soirée abholen wollten, wie ein junges Mädchen aus einem Kinderball. Deshalb rief er, ohne in der Finsterniß Jemanden zu sehen, mit beherzter Stimme: „Ich bin es ja, Colas,“ und fühlte sich zu seinem Schrecken von einem dunkeln Menschen umhalst, der ihn so heftig und doch so nachgiebig drückte, daß es ihm anfangs schwer wurde, 193 die Gewaltthätigkeit von der Liebkosung zu unterscheiden.

Es war aber Alles nur Ausdruck der Freude, der Unbekannte verwandelte sich in ein Frauenzimmer, und dies selbst konnte nur die Wilde aus der Hafenbucht, Hippolyts Amme, der weibliche und gefürchtete Emissär von Madagaskar sein. Ihre gebrochene Rede quoll in die zärtlichsten Begrüßungen über: „Ich werde nie fern von Dir sein,“ rief sie; „denn Du bist der Apfel meines Auges. Blind war ich, da ich Deinen Fuß an dem Ufer ferner Ströme wandelnd wußte; nun wirst Du die Thäler Deiner Geburt niemals verlassen! Komm hinüber auf den Thron Deiner Väter!“

Hippolyt, dem dieser zärtliche Ueberfall höchst peinlich war, riß sich aus ihren Umarmungen los, und sagte, daß er dazu jetzt gar keine Zeit habe.

Die Wilde, die ihn nicht verstand, setzte ihre Aufforderungen fort. „In allen Königreichen der großen Insel,“ sagte sie; „findest Du keinen Arm, der so kühn die Wogen des Meeres durchschneidet, wie der meinige. Auf meinem Rücken trag ich Dich hinüber, mache alle Seitenbewegungen, welche nö-194thig sind, um die Wallfische zu vermeiden und lege Dich nieder in den Schooß der zahllosen Völker, welche Deiner Erscheinung harren.“

Es dauerte lange, ehe die Wilde ohne Hülfe des Lexikons und der Grammatik sich aus ihren Perioden verständlich herauswickelte, und Hippolyt konnte daher Zeit gewinnen, seine Herberge zu erreichen. Er war in der That besorgt, das Weib könnte des Teufels sein, ihn auf ihre Schultern nehmen, und mit ihm in die Südsee und den atlantischen Ozean hinabspringen. Er sagte ihr daher unaufhörlich, es sei schon spät, und sie möchte nur nach Hause gehen und sich vor den Hunden des Commandanten in Acht nehmen, deren Zähne schärfer wären, als die Augen des Adjutanten, wenn er mit seiner Flinte nach ihr ziele. Das Weib verstand von diesen Dingen nicht viel, glaubte ihn nichts als Ja, und wieder mit Ungeduld Ja sagen zu hören, und trennte sich von dem Gegenstande ihrer Anbetung, nachdem sie ihn durch mancherlei mystische Geberden und Formeln vor den bösen Geistern in Sicherheit gesetzt hatte.

Hippolyts Mißbehagen stieg aufs Höchste, als er erfuhr, daß seine Begleiter sich schon zu ihrem 195 Kaninchenmetzger begeben hatten. Er warf sich unruhig, ohne sich zu entkleiden, auf sein Lager, und monologisirte einen bittern Strom von Verwünschungen, der endlich auf die Zauberin-Amme übertrat, und alle Gedanken an sie unter Galle setzte.

„Ich möchte rasend werden,“ rief er; „wenn ich an Walter Scott denke. Diese Mag Marilis, diese Norne, diese Hexe von Endor, die mir jeden Abend an’s Fenster klopfen kann! Wie hab’ ich das neuliche Urtheil des Globe, welcher den schottischen Erzähler tadelt wegen dieser scheußlichen, fratzenhaften Gestalten, die jeden Augenblick mit ihren widerlichen Hihi an den Felsenecken vorspringen, wie hab’ ich dies gründliche Urtheil gebilligt! Es ist schauderhaft, diese Abgeschmacktheit jetzt selbst erleben zu müssen. Es scheint, als sei ich bestimmt, ein Opfer der Romantik zu werden. Ich schreie mich todt, wenn mir das Frauenzimmer eines Abends wieder so in den Weg springt. Der Angstschweiß steht mir noch auf der Stirn. Und, was sie nur will? Du großer Gott, wär’ ich doch nur bei gesundem Leibe in Paris!“

Unsre Erzählung macht bei diesem Ausrufe ihres 196 Helden einen Ruhepunkt. Wir sind jetzt im Stande die bisher entwickelten Verhältnisse vollständig zu übersehen; wir wissen, unter welchen Bedingungen, Zufällen, Umgebungen man eine Zeit lang auf St. Marie leben kann. Es genügt, daß wir mit den Personen und Lagen vertraut sind, unter denen Hippolyt noch eine geraume Zeit auf dieser Insel zubrachte. Es war diesem jungen Offizier immer einleuchtender geworden, daß der Beruf zum Abentheuerlichen Keinem angeboren wird, ebenso wie es längst erwiesen ist, daß die Geburt Niemanden fähig macht, ein großer Mann, oder auch nur ein König oder Kronprinz zu werden. So wie es Fürsten giebt, welche, wenn ihnen die Wahl ihres Berufs überlassen geblieben wäre, es vorgezogen hätten, als Mäkler sich an der Börse anstellen zu lassen, oder Siegellack zu fabriziren, ebenso giebt es Menschen, welche eine erste Verirrung der Natur in großartige Situationen versetzen wollte, und die an den ersten besten Juden den Wechsel verkaufen, welchen ihnen die Zukunft doppelt bezahlt hätte; Menschen, die ihre natürlichen Privilegien, Schönheit, schlanke Gestalt, Anlage zum Witz, tausend briefliche Berechtigungen gegen Zahlpfennige einsetzen 197 und sie in einem kindischen Spiele verlieren; Menschen, welche ihren Beruf, Helden des Jahrhunderts zu werden, in dem Boudoir einer schönen Frau, oder in einer idyllischen Liebe, vergessen.

Zu ihnen gehörte Hippolyt. Die Gunst des Schicksals, eine romantische Laune des Geistes, welcher die Geschichte geschehen läßt, gab ihm Alles an die Hand, um ihm einen Besitz von Ruhm zu sichern, den er weit eher verdient hätte, als der schwarze Christoph von St. Domingo oder der Doktor Francia in Paraguay, weil er gut und edel war; allein einer andern Fee, welche schon Jahrtausende hindurch in die Rechnungen und Bücher des alten Kronos ihre Späße, Verwirrungen und Karrikaturen zu zeichnen pflegt, gefiel es, aus Hippolyt einen albernen Fant zu machen, der gern Austern aß und in einer Damengesellschaft Stunden lang auf nichts Acht hatte, als auf die herabfallenden Strickbeutel oder Schnupftücher, um sie aufzuheben, einen Lieutenant ohne Aussicht auf Avancement, der in seinem Leben noch keinen einzigen Rekruten gut einexercirt hatte, einen Menschen, wie wir sie auf der Parade, in der Gesellschaft, im Kaffeehause dutzendweise bekommen können.

198 Man verzeihe mir doch diese harten Ausdrücke, welche ich gegen Hippolyt schleudere. Hab’ ich nicht die meiste Ursache, mich über ihn zu ärgern? Bracht’ ich ihn nicht zu Menschen, unter denen groß zu sein eine Kleinigkeit ist? Und selbst das Beste, was ich ihm bot, läßt er stehen. Wie liebenswürdig ist nicht Polglotte, aber Hippolyt lacht ihn aus. Wie rührend die Aufopferung des alten Colas! Aber sein junger Herr weiß selten, wie oft er ihn kränkt. Wie unverkennbar die Verwechslung des Commandanten! Aber der Prinz achtet es unter seiner Würde, ihn über die Wahrheit aufzuklären. Wie deutlich spricht das Schicksal in dem Munde der Wilden! und ihr Milchsohn stößt sie zurück und nennt sie eine widerliche, unschöne Romanen­figur, welche man aus ästhetischen Gründen verbannen müsse. Die trockenen Sitten des Marquis, die Schwärmerei Heloisens, die Austern ihres Bruders wogen für ihn mehr, als jede andre Rücksicht.

Polyglotte und Colas waren in Verzweiflung, da sie ihre Hoffnung so schmählich untergehen sahen. Während Jener alle Anstalten machte, die Sprache des verheißenen vor seinen Augen liegenden Landes kennen zu lernen, unterhandelte dieser 199 mit den Häuptlingen desselben, und that in Gemeinschaft mit der kühnen Wilden Alles, was der abentheuerlichen Expedition einen Schein von sicherm Erfolg hätte geben können. Allein was halfen diese Bemühungen? Der Held des Glückes, auf dessen Energie Alles ankam, blieb hinter den Coulissen. Hippolyt war fast den ganzen Tag in der Wohnung des Herrn Cochon, wo er von seinem Wirthe doppelte Buchhaltung lernte, einen Taubenschlag anlegte, ein Paar Hunde abrichtete, oder mit Heloisen über das Jenseits schwärmte und gemeinschaftlich mit ihr Verse machte.

Es giebt keinen Zufall, es giebt keine blinden Schicksale. Jedes Begegniß hat sein Gesetz, wenn es auch nicht gleich in ihm selbst zu suchen ist, sondern in dem Umstande, der es hätte verhindern können. Das ist meine Lebensansicht. Was Ihr thun wollt, thut ganz und alle Eure Schicksale sind in Eure Hand gegeben! Die Verwegenheit siegt immer, während dem Vorwitz auf die Finger geschlagen wird. Für den Muth ist kein Erfolg neu, während der halbe Entschluß von jedem Erfolge überrascht wird. Seid Ihr Philosophen in Eurem Lebenswandel, so tödtet die Hyder der Sinnlich-200keit bis auf das letzte Zucken, oder noch ihr abgeschlagener Kopf wird Euch verwunden! Seid Ihr umsichtig in den Kämpfen unsrer Zeit, so begnügt Euch nicht, den mannigfachen Tyranneien nur den Scepter zu nehmen; denn sie behalten dann immer noch Kraft, Euch mit ihren Kronen zu zerschmettern! Der Mechanismus des Schicksals ist der einfachste. Wer es herausfordert und dann davor flieht, auf den werden immer seine ersten Schläge fallen.

Hippolyt war der Göttin Ate verfallen. Wir schicken uns an, die Katastrophe zu berichten, welche seinem Lebensschicksale eine plötzliche Wendung gab, ihn aus seiner schlummernden Gleichgiltigkeit herausriß, und in Lagen warf, welche uns vor seiner Zukunft besorgt machen.

Eines Abends hatte er länger als gewöhnlich in dem Cirkel des Herrn Cochon zugebracht. Heloise las die ersten Gesänge eines großen epischen Gedichts vor, das von ihr und Hippolyt gemeinschaftlich verfaßt wurde. Die Zuhörer waren genöthigt, bis tief in die Nacht auszudauern, ebenso Hippolyt, der sich bescheidenerweise von den Lorbeern, welche dem Dichterpaar dargebracht wurden, nur die 201 Stiele aneignete. Dennoch von den Erfolgen seines Talents trunken, schiffte er sich unter Heloisens Fenster, welches die Aussicht auf die See hatte, zur Rückkehr ein. Er zog der Verspätung wegen, nach dem Rath der übrigen Gäste, das Ruder dem gebirgigen Landwege vor. Ein geschickter Eingeborner führte den Kahn über den stillen, schlummernden Spiegel. Es war eine herrliche, magische Mondnacht, Hippolyt konnte noch in weiter Ferne das weiße Tuch unterscheiden, das aus Heloisens Fenster ihm nachwinkte.

Unser Held war für die Einsamkeit nicht geschaffen. Es genirte ihn, wenn er sich einmal selbst überlassen blieb, und mit seinem Schiffer konnte er nicht sprechen. Der Nachen hielt sich nicht immer in der nächsten Entfernung vom Ufer, sondern um seinen Weg in kürzerer Zeit zu vollenden, durchschnitt er oft eine ansehnliche Fläche, die von einem Vorsprunge des Ufers an den andern führte. Es fiel Hippolyt, als sie weit hinein auf dem Meere waren und sich das Ufer nur in matten Umrissen vom Nordlichte des Horizontes löste, es fiel ihm auf, daß der Eingeborne zuweilen stehen blieb, sein Ruder heraufzog, und unverwandt in die meerblaue 202 Fläche des Ozeans hineinsah. Verrath schien er von ihm nicht zu fürchten brauchen; denn es beruhigte ihn, daß Jener, je länger er in die Ferne geblickt hatte, desto schneller weiter fuhr.

Zuerst dachte er nun auch, daß dies Hinausschauen, dies ängstliche Aufhorchen nur die Sehnsucht des Wilden nach seiner Heimath sein könne, als ihn aber dieser eiligst durch eifrige Mienen aufforderte, das zweite im Kahne liegende Ruder zu ergreifen, und ihn zu unterstützen, stieg seine Besorgniß, und dem Anschein nach nicht ohne Grund. Ein dunkler Punkt rang sich aus dem blauen Mondschimmer in der Ferne hervor, trat den bedrängten Seglern immer näher, und entwickelte sich zuletzt als ein langes Kanot, dessen Gestalt schon verrieth, daß es von Wilden besetzt war. Einige Pfeile schwirrten durch die Luft her, und als die Fremden nahe genug waren, um das verlorne kleine Fahrzeug zu erreichen, flog eine lange Harpune in den Boden desselben, die auf der Stelle anwurzelte und das Entrinnen ferner unmöglich machte. Die Wilden zogen den eroberten Kahn an ihren Bord, und bald befand sich Hippolyt in der Mitte halb-203nackter Menschen, welche bis an die Zähne mit Beilen, langen Speeren und Dolchen bewaffnet waren. An eine Vertheidigung war hier nicht zu denken. Sein Führer und er, Beide wurden ergriffen, in das größere Schiff gebracht und gefesselt auf den Boden niedergeworfen.

Hippolyt konnte zwar nicht zweifeln, daß ihm der trockne Bast, mit dem er geschnürt war, Hände und Füße wund rieb, aber dennoch befand er sich noch immer in einer Illusion, die ihm das eben Erlebte wie eine Scene aus der Romanenwelt vorkommen ließ. Er ging von seiner eigenen Lage ganz ab, und fragte sich, ob er die Flibustier der Kinderschriften oder die Naturwilden Cooper’s oder die Kannibalen Eugen Sue’s oder wohl gar die frommen katholischen Indianer Chateaubriand’s vor sich habe? Sie waren zwar von Marterwerkzeugen umgeben, doch schienen ihm diese für Menschen zu riesenhaft, und es stellte sich ihm als erwiesen heraus, daß diese Wilden auf den Wallfischfang ausgegangen seien, sich verspätet und eine so gefundene Beute, wie ihn, nicht verschmäht hätten, mitzunehmen. Was werden sie aber mit Dir 204 anstellen? fragte er sich; und die Besorgniß vor einem Unfall ergriff ihn doch mit mehr als poetischer Furcht.

Die Männer sprachen wild über ihn weg, und die zuweilen aus der Brust seines Leidensgefährten ächzende Klage schien ihm den Inhalt dieses leidenschaftlichen Gezänks zu errathen. Großer Gott, dachte er, an welchen Autor soll ich mich nun halten, um über die Absichten dieser Ungethüme im Reinen zu sein? Ich fürchte, daß die Wahrheit auf Seiten der einfachen Geschichte Robinson Crusoe’s liegen wird, und ich von diesen Menschen mehr zu erwarten habe, als die Karaiben jemals an ihren Gefangenen ausübten. Und wenn nun diese Menschen wüßten, daß ich ihr legitimer König bin, wenn ich’s ihnen nur sagen, oder durch Zeichen ausdrücken könnte! Wo nur meine Amme stecken mag! Das extravagante Frauenzimmer könnte mir jetzt ungemein behülflich sein. Ach, Gott, was werden Colas und Polyglotte meinetwegen für Thränen vergießen! –

Hippolyt versank in völlige Erschöpfung, die Bande preßten ihn, daß das Blut stockte, und ein klägliches Winseln war der Ausdruck, in welchen 205 das Gefühl seiner unglücklichen Lage ausbrach. – Wir werden ihn nicht lange so klagen hören können, ohne das tiefste Mitleid mit dem Armen zu empfinden.

Der Mond verzog sich hinter die Sterne, und auch die Sterne schwanden mit dem erwachenden Morgen. Das reizende Ufer der großen Insel dehnte sich unabsehbar im Angesichte des anlandenden Fahrzeuges.

Ein sanfter Schlaf hatte sich Hippolyts bemächtigt, und ihm den Schmerz seiner Fesseln tragen helfen. Er erwachte und hatte Mühe, sich sogleich wieder in den Zusammenhang seiner Begegnisse zu finden. Man lös’te die Bande, welche ihn am Gehen verhinderten. Hippolyt stand auf und erblickte das Ufer eines Landes, welches er einst unter ganz andern Umständen zu erreichen gehofft hatte. Die riesenhohen Bäume, die duftigen Wiesenteppiche, die buntgefiederten Vögel, die am Wege wuchernden Pflanzen, welche von den Botanikern in dem jardin des plantes sorgfältig gepflegt wurden, Alles traf ein, auch die Menschen, welche zahlreich am Ufer versammelt standen, entsprachen den Beschreibungen, die ihm Colas von seinem 206 Vaterlande gemacht hatte; aber seine eigene Lage, seine Umstände waren so gar verschieden von den Erwartungen, die er in St. Marie selbst schon aufzugeben anfing!

Er folgte seinen Räubern in ein großes Dorf, das sich am Ufer entlang zog, und wurde von einem zuströmenden Gewühl neugieriger und scheinbar gutmüthiger Wilden fortgetragen. Vor einer Hütte, welche gegen die übrigen durch einige Vorzüge abstach, hielt der Zug inne, ein großer, alter Mann von ehrwürdigem Ansehen trat aus ihr heraus, und wurde von den Umstehenden mit sichtbaren Zeichen der Verehrung empfangen. Der Kazik, dachte Hippolyt, oder der Priester, der bei den Menschen­opfern den Vorsitz hat. In der That brachte man einen großen hohen Klotz und eine noch höhere Stange herbei, entkleidete den todtbleichen Hippolyt, der sich vergebens sträubte, und zwang ihn, jene Erhöhung zu besteigen.

Alle diese Manipulationen waren für den armen Pariser um so peinlicher, als sie von einem Wildendurcheinander aus tausend Kehlen begleitet wurden. Er verstand kein Wort von diesem Sprachgewoge und fühlte sich mit seiner nächsten finstern 207 Aussicht um so einsamer und hoffnungsloser. Inzwischen war er an den Pfahl festgebunden, und sah erwartungsvoll auf die herumwogende Menge, aus der einzelne Stücke seiner ihm genommenen Uniform wieder zum Vorschein kamen.

Wie weit muß nicht das Gefäß des menschlichen Gemüths sein, daß es oft so verschiedenartige Eindrücke zu gleicher Zeit fassen, ja, daß dem ungeheuersten Schmerze zuweilen noch eine kleine, wohl gar lächerliche Rücksicht zufließen kann! Man steht am Sterbebette seines Vaters und eine Fliege zwingt Dich, nach einer andern Seite zu sehen, um nicht zu lachen, wenn sie in ein Glas Milch fallen sollte. So sind nicht alle Menschen, sondern nur jene, die sich entweder durch eine Art stoischer Philosophie an eine gewisse Empfindungslosigkeit gewöhnten, oder deren natürlicher Hang den Zerstreuungen fortwährend hingegeben ist. Hippolyt gehörte zur letzten Art: er bemerkte, wie ungefüge sich diese Menschen seiner Lieutenantsuniform bedienten, wie der Eine den Rock so anzog, daß die Schöße nach vorn kamen, der Andre die Epauletts an die Ohren band und andre Mißgriffe, übersah dies Alles nicht mit stierem, gläsernem Auge, 208 sondern fand es zum Lachen spaßhaft, obschon er der Erwartung lebte, im nächsten Augenblick Alles, diese Menschen, dies schöne Land, das Meer, St. Marie, Colas, Polyglotte, Heloisen, den Pudel seiner Hauswirthin in Paris, Alles zum letzten Male gesehen zu haben.

So grausam schien aber doch Hippolyts Schicksal nicht werden zu wollen; er überzeugte sich bald selbst, daß seine Ausstellung nur dazu diente, für ihn einen Käufer zu finden. Er überlegter, daß er kein Schwarzer wäre, daß Madagaskar nicht zu den Barbaresken gehörte, und schloß daraus, daß hier das Geschick eines Sklaven nicht so fürchterlich sein könne. Dann fuhr er in seinen Ueberlegungen fort, „wenn ich mich so recht in meine Lage hineindenke, so ist es einmal gewiß, daß sie kein Traum ist. Sodann gewöhn’ ich mich daran, die Wahrheit der Wirklichkeit an die Stelle des Scheins in der Poesie zu stellen. Alles wird anders, wenn man es selbst erlebt. Diese Wilden gehören weder Cooper noch Chateaubriand an, es ist eine ganz neue Race, Menschen, welche, wie ich aus den rauchenden Essen und den Geräthschaften mancherlei Art vor den Hütten sehe, welche Lust zu den schönen 209 Künsten und Wissenschaften haben. Den Romanenschreibern verdanken wir die fürchterlichen Schilderungen des Sklavenstandes, weil diese Leute gigantischer Motive bedürfen. Ich glaube an Nichts mehr, und will mich daran gewöhnen, alle Dinge für besser als ihren Ruf zu halten. Die Poesie wird hier zur Fabel und das Wahrscheinliche ist gerade das, was sich am wenigsten bewährt.“

Während dieses Selbstgespräches war ein Mann, dessen Gestalt und Tracht sich von denen der Uebrigen unterschied, und der hier fremd zu sein schien, zu Hippolyt hinaufgestiegen, hatte ihn von allen Seiten untersucht und handelte ihn gegen zwei Ochsen von seinen Räubern ein. Hippolyt verstand diese wechselseitige Auslieferung, und fand sie so drollig, daß er seines Zustandes vergessend und in den alten Leichtsinn zurückfallend, in unmäßiges Lachen ausbrach, wofür er von seinem Herrn leicht hätte gezüchtigt werden können, wäre dieser nicht mit dem Verkäufer in lebhaftem Wortwechsel begriffen gewesen.

Hippolyts Herr wollte es nur einstweilen bleiben, denn er war ein reisender Sklavenhändler und trachtete darnach, seinen jungen Einkauf sobald wie 210 möglich wieder abzusetzen. Hippolyt wurde in der Herberge untergebracht, nothdürftig gekleidet, gut unterhalten, was die Nahrung, schlecht, was die Gesellschaft anbelangt.

Kriegsgefangene, unvorsichtige Wanderer, welche sich von der Landstraße verirrt hatten, heruntergekommene Arbeiter, jüngere Söhne, theilten mit ihm dasselbe Schicksal, entfernten sich aber Einer mehr als der Andre vor seinem Aussehen, das ihnen Allen fabelhaft erscheinen mochte. Alle Farben, die sich merkwürdigerweise in allen Nüancirungen auf Madagaskar finden, schattirten sich auf ihren nackten Körper ab von Hippolyts verdächtigem Weiß, der Bronzefarbe der Ureinwohner, bis zur Negerfarbe der späteren Einwanderer. Schon diese Sonderbarkeit zu verfolgen, machte Hippolyt Vergnügen, er wurde ungewöhnlich heiter, und machte so viel stumme Scherze mit seinen Gefährten, daß sie ihn überaus liebgewannen und ihm dieselben lustigen Gesellen in seinen Eroberungsplänen gewiß beigesprungen wären, wenn sie nur darum gewußt hätten.

Aber mit dem Abende kehrte auch in Hippolyts Seele das Gefühl seines Mißgeschicks zurück. Er 211 hatte sich vielleicht eingebildet, diese ganze, mit ihm gespielte Farce werde nicht länger dauern, als bis Sonnenuntergang. Er hatte das Meer nicht aus den Augen verloren, und immer noch auf die endliche Ankunft der ganzen Bevölkerung von St. Marie gehofft, aber es wurde Nacht und er mußte zum zweiten Male in seinem Leben sich bequemen, außer dem Bette zu schlafen. Noch peinlicher war es ihm, als ihn ein dicker Neger, der Sklavenwächter, aus den süßesten Träumen weckte, und ihn nicht ohne beleidigende Peitschenwinke antrieb, vom Maisstroh aufzustehen. Hippolyt machte Lärm und rief seinem Störenfried auf das beste Französisch zu, daß er nicht gewohnt sei, vor acht Uhr aufzustehen, aber es was Alles um ihn her fürchterliche Wahrheit, der kaum ergrauende Morgen, das Ausbleiben Colas zum Ankleiden, der fistirte Kaffee, die Riemen an den Füßen, die Prügel, der Abmarsch. Das von Nebeln bedeckte Meer schwand allmählig gänzlich und die Wanderung nahm unmittelbar ihre Richtung in’s Land hinein.

Hippolyt hatte von der Natur ein so heiteres Temperament bekommen, daß trotz seiner unheilvollen Lage noch viele Tage anbrechen können, ehe 212 er mit der Wiederkehr der Sonne nicht auch den verlornen Muth wieder erhielte. Die Hügel mit ihren freien Blick in die lachende Ferne, die Flüsse mit ihren blumenreichen Gestaden, alle Wunder dieser großartigen, noch immer tropischen Natur, flößten neues Leben seinen ermattenden Hoffnungen ein. Er wurde froh, wie Alles um ihn her, und dachte sich mit verführerischer Täuschung in die Illusion einer pittoresken Reise hinein. Er überredete sich, daß Hunderte an seiner Stelle sich glücklich schätzen würden, in diesen Umgebungen zu weilen, und er rechnete im Geiste alle die Fehler, welche er an den Naturschilderungen der neuern Romantik, gegen welche ihn Heloise einzunehmen gesucht hatte, aufdecken wollte.

Doch dauerte diese Freude nur so lange, als die Kraft des Körpers aushielt. Als sie von dem angestrengten Wege überwunden wurde, als der Abend, mit seinen ungewissen Schatten, die Herberge mit ihren plebejischen Unbequemlichkeiten herankam, ließen die Schwingungen seiner Seele nach und ein einziger dumpfer Laut der Trauer tönte in seinem zerrissenen Innern wieder. Er fühlte sich so verlassen, wie er es wirklich war.

213 Diese Märsche wiederholten sich noch zwei Tage, ehe der Sklavenhändler seinen Markt erreichte. Obschon er sie in der letzten Zeit kürzer einrichtete, um seine Waare nicht zu ermatten, so fanden sich bei Hippolyt doch immer weniger Hülfs­quellen vor, welche ihn sein Loos hätten ertragen helfen. Wenn er auch am ersten Tage durch die Zerstreuungen der Natur unterhalten wurde, wenn ihn am Zweiten ein Heldengedicht, das er in Gedanken entwarf, beschäftigte, wenn er am Vormittage des letzten Tages auch in der völligen Gedankenlosigkeit einige Beruhigung fand, so schwand doch in den letzten Stunden alle Kraft, alle Hoffnung, er mußte gestehen, daß er sehr übel dran war.

Die Gegenden blieben an Fruchtbarkeit und Schönheit fast immer dieselben, aber die Menschen wurden andere. Ihre Farbe gelblich, ihr Ansehen kriegerisch, das Haar struppig über die Stirn herabhängend. Sie wohnten aber zahlreicher zusammen, ihre Dörfer waren gefällig eingerichtet, und Alles schien von dem Stolz der Unabhängigkeit, den die Küstenbewohner, dem Regimente der Engländer und Franzosen fortwährend erreichbar, nicht in diesem Grade kannten, getragen zu sein. Die ver-214käufliche Karavane kam mit heranbrechender Nacht in die große Hauptstadt der Hovas, dieses kriegerischen Stammes, dessen früherer König Rhadama durch alle Reisenden bekannt geworden und von den Europäern öfters vergeblich angegriffen ist.

Dies war dieselbe Völkerschaft, welche auch Hippolyts Erbschaft zerstört, seine Eltern getödtet und ihn den abentheuerlichen Schwankungen eines ungewissen Schicksals preisgegeben hatte. Von diesen Kriegern hatte ihm Colas viel Fabelhaftes erzählt, von ihren Reichthümern, ihren künstlichen Handthierungen, von ihrer polirten Lebensweise, und seine Amme in St. Marie hatte noch Alles hinzugefügt, was der Alte nicht wußte, da es sich später zutrug. Vor Allem war die Königin Ranavalona interessant, die ihren Gemahl Rhadama ermordet hatte, und jetzt mit beispielloser Kraft und Ueppigkeit, von ihrem Liebhaber Andremiaja unterstützt, über die Hovas herrschte. Hieher wollte einst Hippolyt an der Spitze der siegreichen, für sein Recht Alles in die Schanze schlagenden Schaaren seine Waffen wenden, und es war die gemeine Tracht eines Sklaven, in der er die berühmte Residenz der Meuchelmörderin betrat.

215 Die Scene seiner ersten Versteigerung wiederholte sich am Morgen des folgenden Tages, auf dem großen Markte der wunderbaren Stadt, die in einem phantastischen, religiösen Styl gebaut war, nur daß ihn jetzt seine übrigen Leidensgefährten umstanden, alle an Pfähle gebunden, über denen Name, Vaterland und Alter der Ausgebotenen bemerkt war.

Aus Hippolyts Antworten konnten die Händler eben so wenig klug werden, wie er aus ihren Fragen, und so blieb die Tafel über ihm leer. Das war vielleicht das Auffallende, was die Käufer grade zu ihm zog.

Hippolyt schimpfte wie eine Dame der Halle, als er von allen Seiten betastet, gemessen, befragt wurde. Man brach ihm sogar, wie einem Pferde, den Mund auf, um seine Zähne zu zählen, eine Inpertinenz, die er durch lautes Schreien und Stoßen zurückwehren wollte. Allein einige verdächtige Drohungen des alten Negers, der die Verkäuflinge beaufsichtigte, während der Herr mit den Lusttragenden unterhandelte, brachten ihn zur Besinnung und er ließ die gelben Herrn aus der Residenz gern nach Zähnen sehen, die durchaus nicht 216 so empfehlenswerth weiß, sondern hie und da hohl und stockig waren, woran sich Paris, Tortoni und die Eisbaisers des Letztern erkennen ließen.

Der Sklavenhändler schien mit den Frühkäufern nicht abschließen zu wollen: er erwartete augenscheinlich die reichern Leute, welche später aufstehen und länger brauchen, um in die Kleider zu kommen, vor Allen aber einen Mann, welcher, als die Sonne schon hoch stand, wirklich erschien. Ein kleiner, unansehnlicher Hängebauch, in dem Aufzuge eines orientalischen Haremsinspektoren, nicht ohne Wahrscheinlichkeit selbst ein Verschnittener, aber in Seide und köstliche Pelze gekleidet, von einer Schaar Bedienten begleitet, von allen Umstehenden durch tiefe Verneigungen begrüßt. Dieser fand an den schwärmerischen Gesichtszügen Hippolyts ein großes Wohlgefallen, er untersuchte ihn mit lächelnden Blicken, rief seinen Zahlmeister und gab, was für den Armen gefordert wurde.

Als Hippolyt darauf seinem neuen Herrn folgte, warf er noch einen freundschaftlichen Blick auf seine übrigen Mitangepfählten; denn er war so gutmüthiger Natur, daß er selbst seine Feinde liebgewonnen hätte, wäre er gezwungen gewesen, länger als drei 217 Tage mit ihnen umzugehen. Als er aber diese aus den Augen verlor und die Pracht seiner Bewachung und die Ehre, die man ihm erwies, sah, spannte sich seine Neugier und der Reiz der Erwartung ließ ihn das Mißliche, was ihn treffen konnte, im glänzendsten Lichte erscheinen.

Besinnen wir uns! Es steht eine Königin an der Spitze dieses Staates, welche einen Liebhaber, einen jungen Offizier der Leibgarde, zu gleichem Range mit ihr erhoben hatte; woher soll also der Harem kommen? Nein, wir können um Hippolyt beruhigt sein, es ist kein Grund vorhanden, daß seine Depravation zu einem Eunuchen zu fürchten hätte. Freilich ließ der weichliche Aufzug seines Herrn, die Ueppigkeit seiner Umgebungen auf einen ganz andern Stand schließen, als den er wirklich bekleidete; denn wer hätte unter dieser sybaritischen Hülle der Genußsucht einen Lord Oberscharfrichter vermuthet?

Aber es war so, Hippolyt betrat die Wohnung dieses Mannes, die dem prachtvollen, auf buntgemaltem Holze aufgeführten Pallaste der Königin nahe lag, und erkannte bald aus den Geräthschaften und den Manipulationen in den neuen Kreisen seiner Thätigkeit wider Willen, in wessen Diensten 218 er sich befand. Hippolyt empfand bei dieser Entdeckung eine seltsame Mischung von Schrecken und Ekel, von Horror und Dégout, einen Schauder vor der unleugbaren Wahrheit und ein Mißbehagen, das sich nur aus seiner ästhetischen Ansicht der Dinge erklären ließ.

Hippolyt war nicht der Mann, der über die kritischen Fragen der Schönheit eigne Grundsätze hätte aufstellen können; aber er hatte sich um fremde Urtheile bekümmert, und einige Antipathien gefaßt, die er überall durchzuführen suchte. Zu ihnen gehörte die Scheu vor dem Melodrama, vor den Leichenräubern, den Scharfrichtern, den Spielern und ähnlichen haarsträubenden Gegenständen, welche allerdings nur durch eine gräuliche Verirrung zu Staffagen der Schönheit erhoben worden sind. Er stampfte mit den Beinen vor Aerger auf, und geberdete sich wie ein poetischer Enthusiast, der zum ersten Male seinen Lieblingsschriftsteller einüben sieht. Er wollte Genugthuung haben für die Dummheit, in den Roman seines Lebens einen Scharfrichter hineintreten zu lassen, und hätte sie bald von dem Aufseher der Gärten seines neuen Herrn durch einige körperliche Erinnerungen erhalten können.

219 Das Drolligste in Hippolyts neuer Lage waren aber die Wiedersprüche in dem Lord Oberscharfrichter selbst. Dies war keineswegs ein bluttriefender Samson, kein Persischer Fettah, der nur in rother Mütze und mit einem Bund Stricke vor dem Publikum erscheinen darf, sondern er näherte sich eher den deutschen Scharfrichtern, die nur vier Menschen in ihrem Leben köpfen dürfen, um sich nicht einer gefährlichen Grausamkeit zu überlassen. Eben so wenig blutdürstig schien Hippolyts Herr, obschon er täglich in der Uebung seines Amtes blieb, und keineswegs dasselbe etwa nur in Pacht genommen hatte. Es war ein heitrer, die stillen Freuden der Unschuld liebender Herr, der nichts lieber that, als Tabak rauchen, und in seinem duftenden Garten die Blumenbeete anordnen. Hippolyt wurde im Garten des sentimentalen Scharfrichters angestellt und hatte die Aufgabe, die Blumen des entsetzlichen Mannes zu begießen.

Einige Tage, nachdem unser Held in seinen zarten, aber nichts desto weniger höchst beschwerlichen Funktionen eingewiesen war, trat an einem frühen Morgen der Lord Oberscharf­richter in seinem schwerfälligen Gange, auf seidenen Pantoffeln und in dem 220 gemächlichsten orientalischen Negligée zu ihm, pflückte sich eine Schmetterlingsblüthe der zarten Pflanze Anduranga, klopfte seinem Knechte auf die Schulter und sagte:

„Alles in der Welt hat sein Amt und sein Ziel. Was Du säest, mein Sohn, ernte ich, was Du pflanzest, mähe ich ab. Der Eine steht an des Menschen Wiege, der Andre an seinem Sarge. Man kann aber nur auf eine Weise geboren werden, und auf mannigfache Weise diese irdische Hülle, das Leben, ablegen. Den Einen erschlägt die Ceder, den Andern das gelbe Fieber, den Dritten eine melancholische Stimmung seines Gemüths, den Vierten der Zufall, welches der mächtigste König der Erde ist; alle Uebrigen tödtet der Arm der Gerechtigkeit: und dieser Arm bin ich, durch Gottes und unsrer Königin und des Prinzen Mitregenten Gnade. Ich bin zwar nur ein Stiefbruder des Todes, und muß mit eigner Anstrengung mein Erbtheil, das den Uebrigen von selbst zufällt, erwerben, dafür genieße ich aber auch große Ehre und bin bei den Fürsten und Göttern der Erde in einem unverweslichen Ansehen. Ich halte mir Schaafe und treibe die Heerden der Rinder auf meine Berges-221triften, ich kann die Fische in meinen Teichen nicht zählen, und besitze Sklaven, die mir gehorchen müssen, weil ich sie mit Zärtlichkeit behandele. Ich bin ein Feind der Sklaverei, ich liebe es nicht, wenn einer den Andern auf den Nacken tritt, aber was hilft’s? meine Zeitgenossen sind noch nicht reif für die Humanität, die Menschenrechte werden erst in funfzig Jahren begriffen werden. Bis dahin begeuß meine Blumen und tröste Dich, wenn des Lebens Stürme brausen, mit Glauben, Liebe und Hoffnung!“

Hippolyt verstand von dieser Anrede kein Wort, aber neben ihm war Jemand, der Alles begriffen hatte und es ihm zu erklären anfing, als der Oberscharfrichter lächelnd mit seiner Blume und seinen Pantoffeln weiter schlarrte.

Dieser Dollmetscher war Araxata, eine Sklavin des Hauses, welche ein gleiches Geschick und eine dämmernde Neigung zu Hippolyt hinzog. Aber die Sprache, in welche sie übersetzte, war unserm Pariser eben so unbekannt, als vorher die des menschenfreundlichen Scharfrichters. Er hörte an den gleichen, gequetschten, gezogenen, zerstampften, sich kollernden Lauten, daß sie vermuthlich in dieselbe 222 Sprache und nur aus dem Munde des Herrn in den ihren übersetzte. Allein sie merkte sein Mißverständniß und gab ihm durch die feinsten Gesten zu begreifen, daß sie eine Sprache von daher, wohin sie mit den Fingern zeigte, spräche, und bewies sich sogar als eine feine Beobachterin der Sprachunterschiede, daß sie, um den einen Dialekt zu bezeichnen, wie eine Schlange zischte, und um den andern, wie ein Puter gurgelte. Hippolyt verstand ihre Andeutungen vollkommen, und hätte wieder, was er so gern zu thun pflegte, gelacht, wenn er nicht durch die Ankunft des Aufsehers unwillkührlich zum Ernst getrieben wäre.

Ach, es ist nur zu gewiß, daß Hippolyt immer mehr anfing, ein freudenloses Leben zu führen. Seine Heiterkeit war verloren, sein Schicksal war kein Scherz, und er unterlag ihm bald; in seine freie, stolze Seele zog die Furcht ein, und die Furcht legt allen höhern Eigenschaften des Gemüths und des Geistes die Sordine an. Der Kreis seiner Anschauungen verengerte sich, er vegetirte fort in einer Beschäftigung, welche täglich dieselbe blieb, und seine Wünsche streckten sich kaum noch weiter, als bis zu der Stunde, wo er seine 223 Nahrung erhielt, oder eine Stunde ruhen durfte. Man kann sich mitten im civilisirten Europa davon überzeugen, wie Gefängniß, Armuth, Krankheit den stolzesten Geist lähmt und an die Stelle der erhabensten Eigenschaften eine unglückliche Schwäche, Aengstlichkeit, Unterdrückung treten läßt. Die Schauer des Hauses, in dem Hippolyt lebte, vermehrten noch die Eindrücke, welche zerstörend auf sein Inneres wirken mußten.

Diese Seelenstimmung war ganz dazu geeignet, die Annäherung Araxata’s zu erleichtern. Ja es wurde für Hippolyt, der immer an dienende Umgebung und an Aufmerksamkeit gewöhnt war, sogar Bedürfniß, sich unter den tröstenden, erquickenden Einfluß dieser Wilden zu stellen. Araxata war kaum dem Kindesalter entrückt, von olivenfarbenem Teint, dunklem, langem Haar, und in ihrer ganzen schönen Körperbildung bei weitem verschieden von den kleinen, schwerfälligen, gelben Hova‘s, zu deren Stamme sie nicht gehörte. Hippolyt war allmählig mit ihrem Schicksal vertraut geworden; denn obgleich ihm die Laute ihrer Zunge fremd waren, so blieben sie es doch nicht immer; die Einsamkeit, die Hingebung, das gleiche Loos erleichterte die Ver-224ständigung; an die Stelle der Zeichen und sprechenden Blicke traten allmählig artikulirte Laute, deren Sinn für Hippolyt nicht länger zweifelhaft blieb, und so bildete sich aus Mienen und einzelnen Tönen eine Sprache, die zwischen ihnen Beiden ein vollständiges Einverständniß aufrecht erhalten konnte.

Auf diesem Wege hatte Hippolyt Araxata’s Schicksal ersehen. Sie war eine nahe Verwandte der grausamen Königin. Ranavalona tödtete nicht nur ihren Gemahl, sondern suchte dessen ganze Verwandtschaft auszurotten. Araxata’s Vater war des Ermordeten Bruder, er fiel unter dem Messer des Scharfrichters, der jetzt ihr Herr war. Sie schien dem menschenfreundlichen Mann entweder noch zu jung, oder er hatte Mitleid mit ihr, oder sie hatte sich unter den zahllosen Schlachtopfern der Megäre auf dem Throne verlaufen, und blieb durch einen Rechnungsfehler bei der Abzählung der Eingelieferten und an die Guillotine Abgehenden am Leben. Der Aufseher des Gartens hatte sie erzogen und würde sie wahrscheinlich als sein Kind adoptirt haben, wenn seine Frau ihn nicht plötzlich reich mit Kindern gesegnet hätte. Diese Fruchtbarkeit stieß Araxaten in den Sklavenstand herab; und so kam es, daß sie 225 sich mit Hippolyt auf gleicher Stufe fand. Beide waren königlichen Geblüts, sie eine Prinzessin, er ein Kronprinz, Beide mußten sie jetzt die Blumen des Oberscharfrichters ihrer Feindin begießen.

Mit der Möglichkeit, sich verständlich zu machen, kehrte aber auch für Hippolyt eine freudigere Stimmung zurück; er durfte sich wieder einigen Erinnerungen hingeben, seitdem sie in seiner Lage nicht mehr störend wirkten, und er damit die Neugier und Einbildungskraft Araxatens reizen konnte. Er erzählte ihr von Paris und den kleinen Beziehungen, welche sein früheres Leben dort gehabt hätte, und erfüllte die Seele seiner Freundin mit einer zauberhaften Wunderwelt, in welcher sie um jeden Preis zu leben wünschte. Heftiger als je regte sie aber bei Hippolyt wieder die Sehnsucht nach Europa, und die Freiheitslust beschäftigte seinen Scharfsinn, um ein Mittel zur Flucht ausfindig zu machen. Er hatte sich dabei gewöhnt, nichts mehr allein für sich zu thun, sondern in allen Fällen Araxata’s Schicksal an das seinige zu knüpfen. Man konnte die Neigung, welche er zu der jungen Wilden hegte, nicht Liebe nennen, sie war nichts mehr als die Folge ihres besondern Zusammentreffens, ihrer bei-226derseitigen Anweisung auf sich selbst, und der aufrichtigen Zärtlichkeit, mit welcher Araxata in der That an ihm hing. Schon ihre reizende Gestalt, die Verführung der nackten Tracht, mußte ihn zwingen, ihrer entschiedenen Hingebung mit ähnlichem Gefühle zu begegnen. Er wäre ohne sie nicht geflohen, und machte sie mit allen Plänen vertraut, welche er zu ihrer Befreiung entworfen hatte.

Es währte eine geraume Zeit, ehe sie sprachlich über ihr Vorhaben, noch länger, ehe sie über die Tauglichkeit desselben sich verständigt hatten. Nichts war leichter, als das Haus zu verlassen, aber schwierig, eine Abwesenheit von mehr als zehn Minuten zu verbergen. Beide sahen ein, daß vor allen Dingen eine Gelegenheit eintreten müsse, welche die Flucht begünstigte und diese trat nach langem Harren und Forschen endlich in der That ein. Die Königin hatte eine Verschwörung entdeckt, welche gegen das Leben ihres Liebhabers gerichtet war; sie war so zärtlich um ihn besorgt, daß ihre Strafen so zahlreich über die Verbrecher verhängt wurden, als hätten deren Anschläge ihr selbst gegolten. Sie richtete unter den unglücklichen Opfern ihrer Königlichen Macht und ihrer verliebten Leidenschaft ein 227 grausames Blutbad an, so daß es dem Lord Oberscharfrichter an Beilen und Händen zu mangeln anfing. Sein ganzes Haus sah ihn Tage lang nur mit entblößten Armen, vom großen Richtplatz aus flossen durch ableitende Kanäle so viel Blutströme durch das Gebiet des Henkers in den nahen Fluß, daß auf einige Zeit alle Arbeiten im Garten eingestellt werden mußten. Dabei war die Verwirrung des Hauses groß, selbst die hatten den Kopf verloren, welche nur gewohnt waren, ihn Andern abzuschlagen, und Hippolyt, obschon von den Schauern dieser Gräuel in einen fortwährend fieberhaften Zustand geworfen, besann sich jetzt, wählte Zeit und Stunde, und machte sich mit der muthigen Araxata auf den Weg. Allein wenn man sie nur Beide zehn Schritte vom Hause entfernt noch sahe, so wußte man, daß ihr Vorhaben nicht gelingen konnte. Da treten sie nun Beide in eine Wüste, in eine ausgestorbene Stadt hinaus, kein Mensch auf den Straßen, alle Thüren und Fenster verriegelt, Furcht und Schrecken aus den Ritzen der Häuser blickend. Sie konnten eine Viertelstunde nach ihrer Flucht vermißt, und noch immer am Ende der Straße ihren Verfolgern ins Auge fallen, 228 weil es keinen Menschen gab, hinter welchen sie sich hätten verbergen können. Aber sie wurden schon früher als nach einer Viertelstunde vermißt: der hinterlassene Gärtner schrie das ganze Haus zusammen, die Knechte des Scharfrichters ließen die Beile sinken, wenn auch nur erst halbgeköpfte Schlachtopfer auf dem Klotze zuckten, und liefen den beiden Flüchtlingen nach, welche auch im Nu ergriffen und einstweilen, bis auf weitere Befehle des im Hofe kommandirenden Herrn, in ein finstres Gefängniß geworfen wurden.

Hätte noch Hippolyt seine alte Laune und so viel Lust zum Scherz wie früher gehabt, so würde er zu Araxata über ihre Flucht Späße gemacht, so würd’ er gesagt haben: War es nicht lächerlich zu fliehen, und dabei eine Miene anzunehmen, als sollten wir vom Bäcker oder Krämer etwas für die Küche einholen? Es fehlte nur noch, daß Du ein Körbchen und ich einen Eimer in die Hand genommen hätte. Allein die Zeit der Illusionen, des Unglaubens, der Faseleien war vorüber, und Hippolyt mußte sich in dem finstern Kerker wohl gestehen, daß er recht unglücklich sei.

Araxata schien vor der Zukunft wenig Besorg-229nisse zu haben. Ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, hatte sie in ihrem Gefühl eine Ahnung von dem Glücke, zum ersten Male ihr Geschick fest an das ihres fabelhaften Freundes gekettet zu sehen. Sie umschlang Hippolyt mit ihren schwellenden Armen, und preßte ihn mit all’ der Gluth, welche unter diesem Himmelsstriche die Liebe begleiten muß, an ihren nackten Leib, so daß der unglückliche Gefährte seines Schmerzes vergaß, das Stöhnen und Aechzen der im Hofe zum Tode Geführten und den Lärm der fallenden Beile nicht mehr hörte, sondern von seinem eisigen Schrecken in Araxatens warmen Lebenshauchen, in ihren Umarmungen und dem Flüstern einer für ihn nicht mehr barbarischen und hieroglyphischen Sprache aufthaute. Ein sanfter Schlaf brachte zuletzt alle Besorgnisse ins Gleichgewicht und löste alle Berechnungen der ungewissesten Zukunft in süße, bewußtlose Vergessenheit auf.

Nach einigen Stunden erwachte Hippolyt von seinen Träumen, die ihn im schnellsten Fluge bald nach Paris, bald nach St. Marie versetzt hatten. Alles war dunkel um ihn her, und nur von Araxatens leisem Athmen wurde die nächtliche Stille un-230terbrochen. Sie schlief in seinen Armen, und ihr Anblick rief ihm das jüngste Ereigniß, daß sie Beide in diese Lage gebracht hatte, in seiner ganzen Frische wieder vor die Seele. Es fiel ihm ein, daß er einen Umstand derselben vergessen hatte. Denn als er in einiger Entfernung von dem Hause des Scharf­richters war, und er zu seinem Schrecken rings Niemanden sah, sondern wie sich Alles verschlossen und versteckt hatte, da bemerkte er hinter einer hölzernen Säule des dicht anstoßenden Portals der Königlichen Residenz, eine weibliche Gestalt, welche er sich erinnerte, einst schon gesehen zu haben, auf welche er sich aber um so weniger besinnen konnte, als er in demselben Augenblicke von seinen Verfolgern ergriffen und zurückgeführt wurde. Jetzt fielen ihm die unbekannten Züge wieder in’s Gedächtniß, und er zweifelte keinen Augenblick, die auf St. Marie so gefürchtete Wilde, welche sich seine Amme nannte, gesehen zu haben.

Hatte sie ihn erkannt, war sie darauf ausgegangen, seine verlorne Spur zu entdecken, so schien ihm die Rettung so gewiß, als er in seiner gegenwärtigen Lage alle Hoffnung darauf verloren haben mußte. Er wollte Araxaten wecken und ihr seine 231 freudige Botschaft mittheilen, aber so gebrochen war schon die Kraft seiner Seele, so sehr hatte sich die Furcht in die geheimsten Winkel seines Gemüths, wo früher nur Sorglosigkeit und Vertrauen herrschte, eingenistet, daß er überlegte, ob jenem Weibe zu trauen sei, ob sie ihn nicht in diese Gegenden habe verlocken wollen, um den letzten Sprößling eines gefährlichen Stammes der Königin auszuliefern. Diese Annahme schien ihm einige Augenblicke wahrscheinlich; dann aber, als ihm Colas und die offene mütterliche Sorgfalt des Weibes einfiel, verstummten die sich kreuzenden Gedanken seines Innern und er sank in neue Ermattung und Traurigkeit zurück.

Nach einer traumhaften Dämmerung, welche Hippolyts Bewußtsein einige Momente hindurch gefangen nahm, schreckte ihn ein Geräusch an der Thür des Gewahrsams auf. Er hörte, daß sich draußen Jemand bemühte, sie zu öffnen und doch dabei alles Geräusch zu vermeiden suchte. Sie war von außen nur durch einen hölzernen Riegel gesichert, und ging ohne alle Schwierigkeit auf. Hippolyt sprang erschrocken vom Fußboden, und staunte, Niemanden eintreten zu sehen. Er ging beherzter auf 232 den Eingang zu, aber zu gleicher Zeit trat ihm auch eine Gestalt entgegen, welche das Dunkel zu erkennen verhinderte. Der flüsternde Anruf: „Berora! mein Sohn!“ klärte nach einigen Momenten peinlicher Stille den erwartungsvollen Prinzen über die Person des Ankömmlings auf. Es konnte Niemand anders, als seine Amme sein, die sich zu seiner Rettung nahte. Er trat ihr näher und sie, ihn erkennend, umfaßte ihn mit den sichtbarsten, schwer unterdrückten Zeichen der Freude. Sie winkte ihm zu folgen, aber Hippolyt nahm Anstand, Araxaten nicht einem zweifelhaften Schicksale zu überlassen. Obschon er in diesem Augenblicke so viel Vertrauen auf seine Rettung gefaßt hatte, obschon ihm der Muth und die ganze Anschauung seiner frühern Verhältnisse mit der Hülfe des genannten Weibes wiedergekehrt war, obschon er sich wieder in den Straßen von Paris sah, und sich nicht vorstellen konnte, was er dort mit seiner exotischen Liebe beginnen sollte, so war die Macht der Zuneigung zu Araxaten doch so heftig in ihm erstarkt, daß er ohne sie schwerlich den dringenden Winken seiner Retterin gefolgt wäre. Er weckte seine Leidensgefährtin, riß sie mit sich fort, und da sie, obschon unfähig, sich 233 sogleich in den Zusammenhang dieser Dinge zu versetzen, sich doch ohne Schwierigkeit in seinen Willen und sein Beispiel ergab, so ging die Flucht ohne Hinderniß von Statten.

Die Vorsicht der Amme hatte schon überall den Weg gebahnt, und nach einer kurzen Wanderung über den blutigen, rauchenden Schlachthof, nach einem dreisten Sprunge über einige niedrige Mauern, war das Freie erreicht und der Ort des grausamsten Schreckens lag in beruhigendem, ungestörtem Frieden hinter ihnen.

Noch graute nicht einmal der Morgen, als die Flüchtlinge mit eiligem Schritte die hölzerne Stadt mit ihren noch in festem Schlaf befangenen Bewohnern verließen.

Ein siegreiches Volk umgiebt sich nicht mit Wällen und Pallisaden; die Hauptstadt der Hovas war offen, ohne Mauern und Thore, und Hippolyt erreichte glücklich mit seinen Begleiterinnen den nächsten Wald, dessen Schatten den Dienst der eben verschwindenden Nacht ablösten. Hier ließen sie zum ersten Male den eilenden Füßen einige Rast, die um so nöthiger war, da Araxata einen heftigen Schmerz an dem Schenkel verspürte, der sie fast 234 verhinderte, ohne Weiteres den Weg fortzusetzen. Das Blut floß aus einer Wunde, die sie sich vermuthlich bei dem Uebersteigen der Mauern in der Wohnung des Scharfrichters zugezogen und jetzt erst bemerkt hatte.

Die Amme wollte von einer längern Verzögerung nichts hören, sie drang in Hippolyt, seine arme Freundin im Stich zu lassen, und sein Leben, worauf Alles ankäme, in Sicherheit zu bringen. Doch Hippolyt war, ich will nicht sagen, zu sehr Liebhaber, sondern auch zu edel, als daß er eine Rettung ohne Araxaten gewollt hätte. Er riß Blätter von einem Baume, wo er sie am breitesten fand, und suchte sie trotz der eben über die Zinnen des Königlichen Pallastes aufblitzenden Sonnenstrahlen auf der brennenden Wunde zu befestigen.

Araxata lag erschöpft im Grase und die Amme zerraufte sich das Haar, denn sie schwur, daß der Wächter von der Burg der Königin schon gerufen hätte, und die ganze Stadt jetzt belebt würde. Sie ergriff Hippolyt bei den Armen und suchte den zärtlichen Wundarzt wider Willen zu entführen, aber er wand sich von ihr los, und betheuerte, eher keinen Schritt zu weichen, bis er nicht wüßte, daß 235 Araxata sein eignes Loos theilte. Die Amme, seinen festen Willen zu beugen verweifelnd, stürzte auf seine mißglückenden ärztlichen Versuche zu, riß den Laubverband von der Wunde, und beschied sie Beide, einige Augenblicke zu harren. Sie eilte ins Gebüsch, um irgendwo den Baum Sondifasat aufzusuchen, dessen Blätter die Malgaschen mit vielem Erfolg auf frische Wunden legen.

Inzwischen schien der lichte, sonnenhelle Tag zwischen die Bäume des Waldes hindurch, und die Räume, welche oben deren Wipfel offen ließen, füllten sich mit dem Blau des Himmels. Hippolyt wagte es, dem Rande des waldigen Gebiets näher zu treten, und täuschte sich nicht, wenn er seine Flucht für das Ziel einer eifrigen Verfolgung ansah, welche in Staubwolken gehüllt die Fußtapfen der Flüchtlinge aufzusuchen schien.

Er lief zu Araxaten, die sich zum Theil erholt hatte, zurück, er führte sie in voller Bestürzung an den Saum ihrer Schutzwehr, die sie nur einige Augenblicke noch unsichtbar machte, und Beide erkannten die Knechte ihres Herrn, die kaum noch tausend Schritte von dem Walde entfernt waren. Die äußerste Noth zwang sie jetzt zur schleunigsten Fortsetzung 236 ihrer Flucht. An die Rückkunft ihrer Führerin war kein Gedanke mehr; in hastiger Eil bahnten sie sich durch das niedre Gesträuch einen Weg, und strengten sich auf das Aeußerste an, ihren Vorsprung wenigstens zu verdoppeln.

Vielleicht gelang ihnen das; denn das Geschrei ihrer Verfolger entzog sich bald ihrem Ohre, und sie rechneten schon in einer beträchtlichen Hörweite von ihnen entfernt zu sein. Ihre von dem zurückgebogenen Gesträuch blutig geritzten Körper athmeten tiefer, sie glaubten ihre Schritte mäßigen zu dürfen; und entsetzten sich daher um so mehr, plötzlich ein herannahendes Geräusch im Gebüsche zu vernehmen. Noch hatten sie keinen Entschluß gefaßt, als in stürmischer Eile ein dichter Strauch sich öffnete, und die Wilde, der sie Alles verdankten, athemlos auf sie zustürzte, ihnen die nächsten Bäume zeigte und sie zwang, diese augenblicklich zu erklettern.

Nichts konnte von beiden Seiten mit größerer Gewandtheit, nichts aber auch so zu rechter Zeit geschehen. Denn fast noch auf derselben Stelle, wo sich die Wilde von dem Gelingen ihres Rathes überzeugte, hätten sie die Verfolger der Entflohenen 237 ergriffen. Sie stürzte fort, und sank, da aus allen Gebüschen die bewaffneten Knechte des Scharfrichters hervorbrachen, von einem Pfeile tödtlich getroffen, nieder. Die Herrliche hatte sich ihrem jugendlichen Freunde zum Opfer gegeben, Hippolyt mußte sich fest an die Zweige des erstiegenen Baumes klammern, als er sie sinken sah.

Die Getödtete hatte auf jeden Fall der Verfolgung eine für Hippolyt und Araxaten glückliche Wendung gegeben. Die Dränger verzogen sich in Richtungen, die immer die falschen blieben, sie mochten sie nach allen Seiten hin einschlagen. Der Lärm verhallte immer mehr, und zuletzt war Alles still, auch die Todte unter den nahen Gebüschen hatte zu ächzen aufgehört. Araxata, behend und muthig, schwang sich wie ein Affe von einem Aste zum andern; sie traute dem dünnsten Reise, ergriff die vordersten Zweige des Baumes, auf dem sich Hippolyt nistete, und saß bald neben ihrem todtbleichen Gefährten, dem die schreckhaftesten Abwechselungen seines Schicksals die Zunge lähmten. Erst nach den zärtlichsten Liebkosungen und dem fast scherzenden Gekose Araxatens gewann er so viel Kraft, zu seufzen, und seine krampfhaft auf einen 238 trockenen Ast gestützte Hand zu erheben, um sie von seiner dunkelfarbigen Freundin erwärmen zu lassen.

Vor Anbruch des Abends wagten die beiden Flüchtlinge nicht, ihren Versteck zu verlassen. Als ihnen die scheidende Sonne zum letzten Male die deutliche Vorschrift des Weges, den sie ferner einschlagen mußten, gegeben hatte, stiegen sie von dem hohen Baume herab, traten zuerst zu der Leiche, über welcher Araxata einen leisen Trauergesang anstimmte, sie dann mit einer Handvoll Erde bestreute, und setzten ihre Reise unter dem Schutze der Nacht und des waldigen Dunkels fort. Hippolyt nahm zum Andenken an die theure Frau, welche sein Leben mit ihrem eigenen erkauft hatte, eine ihrer grauen Locken mit sich, und gelobte sich, ewig die Erinnerung an sie, wie an seinen Schutzgeist, heilig zu halten. Der Götzendienst, welchen er früher mit solchen Dingen getrieben, störte ihn in der tiefen Empfindung nicht, welche seine Seele beherrschte. Die furchtbare Wirklichkeit aller seiner Erlebnisse hatte ihn zuerst mit Furcht erfüllt, die Furcht warf alle stolzen Eigenschaften seines Geistes zu Boden, erst die spätern Schicksale richteten sie wieder auf, und 239 er hatte ihnen den Ernst und die Illusion der Wahrheit, welche keine Illusion mehr ist, zugestellt. Er hörte auf, über seine Begegnisse zu reflektiren, sondern war ganz bei ihnen gegenwärtig, weil sie seinen ganzen Menschen in Anspruch nahmen. So dachte er bei der fortgesetzten Wanderung nur an die Gefahr, an die Vorsicht, an den nächsten Strauch, den er zurückzubeugen hatte, an eine menschliche Wohnung, der sie sorgfältig aus dem Wege gingen, an Araxata, der er jede Schwierigkeit zu erleichtern suchte. Hippolyt schien uns früher nur liebenswürdig, wir werden bald bereit sein, ihn eben so achtungswerth zu finden.

Diese nächtliche Flucht wurde mehre Male wiederholt; am Tage gaben die höchsten Bäume Schutz und die Nacht räumte alle Hindernisse aus dem Wege. Wilde Muskaten, Feigen, Nüsse von dem Riesenbaume Havama, Takoreben, die ohne Zucht und Pflege wachsen, und vor allen die berühmten madagassischen Erdbeeren waren die Nahrung, mit welcher sie ihren Hunger stillten: an Quellen fehlte es in diesen gebirgigen Gegenden an keinem Orte. Die Sonne zeigte ihnen am Tage die Richtung, welche sie entweder verfehlt, oder einzuschlagen hatten, 240 um dem Meeresufer nahe zu kommen, und in der Nacht konnten sie sich an der Stellung der Gestirne, an den Morgen- und Abendstern halten. Sie rechneten, ihrem Ziele schon so nahe zu sein, daß sie anfingen, bereits über das weitre Fortkommen nachzudenken, wenn endlich wirklich hinter einer Anhöhe der Meeresspiegel ihnen entgegen blitzte.

Eines Morgens hatten sie Beide eine sanfte Anhöhe erstiegen. Die Sonne stand schon auf dem halben Wege, zwischen ihrem Aufgang und ihrem Zenith, das belebte Rauschen und Wehen der Natur war auch in dieser abgeschlossenen Einsamkeit hörbar. Hippolyt staunte bewundernd die üppige Wunderfülle dieser Gegend an, seine Blicke schweiften trunken über die blühenden Flächen, welche sich an dem Fuße des Berges, auf welchem er stand, bis weit in die Ferne dehnten, und er täuschte sich nicht, wenn er in dem weißen Silberpunkte am Horizonte den ersten Gruß des Meeres zu entdecken glaubte. Rings um ihn her drängten sich in freier Naturungebundenheit die zahllosen wunderbaren Bäume dieser Gegenden und Gewächse aller Art. In der grünen Blätterkrone des Vohanfilan girrten negerfarbene Holztauben, goldne Quittenäpfel winkten durch 241 das dunklere Grün des Hintergrundes, wo sich die Schirapalme streckt, wo von den verworrenen, vielästigen wilden Muskatbäumen die blauen Raben die Nüsse stehlen, wo die Hunits ihre gelben Schatten werfen und von der Sonnenhitze einen wunderbaren korallenrothen Schweiß treiben. Zwischen durch die niedern Gesträuche und ein Gewirr von tausendfach verschlungenen Schmarotzerpflanzen, Blüthen aller Farben und Gestalten, die Arduranga mit ihren schmetterlingsfarbenen Blumen, Gentia­nellen mit violettnem Schmuck, blaß veilchenblaue Tulpen, Alles duftend und den Sinnen schmeichelnd. Hippolyt wurde von diesem Zauber überwältigt, er zog Araxaten in das thauige Gras und blickte in stummem Entzücken durch die fast künstlichen Gänge und Terrassen dieses Paradieses.

Allein was nahmen seine Augen wahr? Welcher Freudenschrei schlägt in sein Ohr? Was besinnt sich Hippolyt noch lange, ehe er an zu lachen fängt? Es ist Niemand anders, er ist es selbst, der Professor Polyglotte, der in bloßem Kopfe, in seinem gestutzten Fracke, mit einem selbst verfertigten Regenschirm und einem langen Tubus, durch diese Tropenwunder rennt. Er war mit Colas aus einem 242 Bosket im Thale getreten, und hatte nicht sobald das oben auf dem Hügel sitzende Paar bemerkt, und sein Fernrohr angelegt, als er Hippolyt erkannte, einen Freudenschrei ausstieß und spornstreichs den Berg hinauf lief. Jetzt stand der trollige Mann vor seinem halbnackten, den Eingebornen durchaus nicht verläugnenden jungen Freunde; der Athem war ihm ausgegangen, er keuchte und war wie immer, wenn ihn die unwillkührliche Angst seines eingetrockneten Blutes ergriff, leichenblaß.

„Wenn ich nur erst Seitenstiche habe,“ ächzte er; „dann wird es besser. Aber mein Gott, Prinz, wo haben Sie so lange gesteckt? Ich habe mit diesem Tubus, das doch an das Aufsuchen von Sternen gewöhnt ist –“

Colas Ankunft verhinderte ihn, seine Schmeichelei zu beendigen. Das Wiedersehen des alten Dieners und Hippolyts war ein Akt der stummen Rührung. Sie umarmten sich mit herzlicher Freude, und es währte lange, ehe sie Worte fanden, um diese auszusprechen. Hippolyt, sichtlich mehr ergriffen, als seine Freunde, konnte nicht sogleich die Fassung gewinnen, um Colas und des Professors Fragen zu beantworten. Als aber diese sogleich über seine 243 weibliche Begleitung zu forschen anfingen, da sagte er zu ihnen:

„Ach, meine Guten, mein Herz ist so voll von Freude, und zugleich von einem süßen Schmerze, wie Ihr es gar nicht begreifen könnt. Ich bin jetzt, da ich Euch wiedersehe, so reich, so glücklich, daß ich meine Empfindung gar nicht mit Worten zu fassen vermag. Ich habe Alles gebüßt, meine Thorheiten, meine Unarten gegen Euch, die Ihr so treu waret, meine Unachtsamkeit, meine Trägheit, meine Gefühlskälte, Alles ist mir durch das Schrecklichste vergolten worden. Ich wurde auf dem Meere geraubt, in Bande geschlagen, an grausame Neger verkauft, wur­de Sklave eines Wütherichs, mußte mich unter dem Stocke eines Aufsehers demüthigen, ich mußte Wasser tragen, hungern, ich mußte täglich den fürchterlichsten Hinrichtungen beiwohnen, meine Amme, die ich Elender früher von mir stieß, rettete mich, sie hielt ihren Leib hin, um mich zu schützen, ich begrub sie in der Einsamkeit des Waldes, und irre jetzt seit drei Tagen und drei Nächten flüchtigen Fußes, um meinen Verfolgern zu entrinnen. Nun ich Euch wiedersehe, ist es mir, als hätte ich meine Prüfung überstanden, als dürft’ ich 244 vor guten edlen Menschen nicht mehr erröthen, und ich gebe Euch das Versprechen, mich meiner Jugend, meiner Kraft, meiner Talente endlich würdig zu beweisen!“

Dies Geständniß in dem Munde des einst so hoffärtigen jungen Mannes hatte etwas unendlich Rührendes: Colas fühlte diese Stimmung viel zu sehr, als daß er seinen Herrn jetzt mit vielen Fragen hätte überhäufen sollen; aber Polyglotte’s Neugier kann­te diesen feinen Takt nicht, obschon er bei Hippolyts Worten die Thränen aus den Augen wischte. Seinen unverschämten dreisten Blick auf die mit sichtlicher Unruhe im Hintergrunde harrende Araxata werfend, fragte er ohne Weiteres: „Aber Königliche Hoheit, so geruhen Sie doch, Ihren treuesten Diener Dero Vermählung nicht länger zu verschweigen. Ich brenne vor Begier, meiner hohen Gebieterin die Huldigung darzubringen, welche ihr gebührt!“

„Nein, Sie Guter,“ sagte Hippolyt, des Professors kalte knochige Hand ergreifend; „kein Wort mehr von jener Thorheit, die nur Schaam in mein Antlitz treibt. Wollte ich die Pläne, wozu Du mich, mein Colas, antriebst, in Ausführung bringen, so hätt’ ich das Werk anders anfangen müssen. Das Schicksal hat mich in eine andre Stellung gebracht, die mir angemessen war: es war nur die Langmuth des Himmels, mich noch bis St. Marie in meinen sinnlosen Entwürfen gewähren zu lassen. Alle Erinnerungen meiner Kindheit waren erstorben, die 245 Laute der Muttersprache von meiner Zunge verschwunden, woher sollte ich die Berechtigung nehmen, in meiner Heimath mit vermoderten Ansprüchen aufzutreten? Wo ich König sein wollte, dahin ließ das Geschick mich als Sklaven kommen. Noch fühl’ ich einiges Mitleid mit mir, daß ich die Thorheit in diesem Grade Meister werden ließ; kommt, Ihr sollt mich lehren, einst darüber zu lachen!“

Colas triumphirte, Hippolyts Person gerettet zu sehen, und gab dafür gern die imaginäre Krone desselben hin. Polyglotte wiegte den ernsten Kopf, besann sich auf eine neue Phraseologie, um selbst bei Aufopferung der Königlichen Hoheit den Respekt nicht aus den Augen oder aus dem Munde zu lassen, Hippolyt aber umarmte die ängstliche Araxata, welche sich vor den Fremden hinter ihrem Freunde zu verbergen suchte. Er sah ein, daß er über sie seinen Freunden noch eine Aufklärung schuldig sei, und versprach sie auf dem Wege zu geben.

Als sie den Hügel hinabstiegen, begann Hippolyt: „Meine Begleiterin ist meine Freundin, die ich nicht verlassen darf. Ich verdanke Araxaten Unschätzbares. Sie war mein Trost in der Sklaverei, sie richtete mich durch ihre Liebe auf, sie erleichterte mir das Ertragen des harten Looses, das ihr gleichfalls seit frühster Kindheit beschieden war, sie opferte ihr Leben, als sie mit mir zu fliehen suchte, und als dieser erster Versuch mißlang, theilte sie die 246 Gefahren der neuen, glücklicheren Flucht. Ich verdank’ ihr noch einen andern Schatz. Sie war es, die mich wieder mit den Lauten meiner Muttersprache bekannt machte, nur so konnte es uns gelingen, alle Verabredungen, welche jetzt zu meinem Heile ausgeschlagen sind, zu treffen. Schon aus Dankbarkeit dürft’ ich sie nicht verlassen.“

Araxata schien alle Worte ihres Freundes zu verstehen, sie blickte ihn mit ihren dunklen Augen an, und schmiegte sich in zärtlicher Scheu an seinen Körper. Aber auf Polyglotte machten diese Worte noch größern Eindruck.

„Himmel,“ rief er, „Sie können Madagassisch? Und Ihnen hat es der Herr Lieutenant zu verdanken? Madame, ich hoffte immer, daß auch ich diese Sprache verstände. Ich werde Sie Arabisch anreden und Sie werden mir in Ihrer Muttersprache antworten.“

Und darauf setzte er mühsam einige Worte aus dem Koran zusammen, welche ungefähr so viel heißen sollten, als: „Wie befinden Sie sich?“ Araxata fühlte, daß der Alte mit ihr sprach, sie sah ihn mit großen Augen an, lächelte dann und blickte zu Hippolyt hinauf, um ihn zu fragen, was der Mann wolle; denn sie verstand ihn nicht. Polyglotte aber, in der festen Meinung, sie hätte ihn verstanden, sprang einen Fuß hoch vor Freude und rief: „Welche feine Antwort! Madame sieht Herrn Hippolyt an; denn wie kann sie sich in seiner Nähe 247 anders als gut befinden?“ Dann fragte er wieder mit zusammengeflicktem Arabisch: „Sind Sie eine Liebhaberin von schönen Gegenden?“ Und da Araxata zufällig einen Blick auf den Hügel zurückwarf, so schwur er, daß er Madagassisch spräche, und beklagte nur, sein arabisches Wörterbuch in Tamatave gelassen zu haben; sonst würde er davon noch glänzendere Beispiele geben.

„Wohin gehen wir? Nach Tamatave? Ist Tamatave in der Nähe?“ fragte Hippolyt, den die Narrheiten des Professors belustigten.

Colas bestätigte dies. Er sagte: „Als wir an jenem ersten Abende, mit welchem unsre Leiden anbrachen, Ihre Rückkunft aus der Soirée des Herrn Cochon vermißten, gingen wir Ihnen zuerst auf halbem Wege entgegen, dann wieder zurück, dann, als Sie noch nicht da waren, in die Wohnung des Pflanzers. Wir erfuhren zu unserm Schrecken, daß Sie zu Wasser heimgekehrt wären. Genug, Sie blieben aus, und hundert Vermuthungen durchkreuzten sich in unsern besorgten Köpfen. Wir untersuchten die Insel an allen Ecken und Orten, der Commandant bot alles Lebendige, oder besser alles Halbtodte der Kolonie auf, um zu entdecken, wo Sie ein Ende genommen hätten. Aber Alles fruchtlos, keine Spur. Da besuchte mich eines Abends unsre alte Freundin, Ihre Amme, und theilte uns eine Nachricht mit, die zwar schrecklich war, aber 248 doch so lautete, daß Sie noch am Leben sein mußten. Sie erzählte, daß sie Ihre Kleider am Ufer des Meeres in Madagaskar unter den Wilden vertheilt gesehen hätte, die schöne Uniform! Darauf habe sie weiter nachgeforscht und entdeckt, daß Sie in das Innre des Landes als Sklave verkauft sein müßten. Das war hinreichend, uns zu dem Entschluß, der Frau bei Ihrer Rettung behülflich zu sein, zu waffnen. Während Ihre Amme uns verließ, rüsteten wir eine kleine Expedition nach Tamatave, wo die französischen Verbindungen noch nicht völlig abgebrochen waren. Es währte etwas lange, ehe wir den Commandanten zu einiger Energie vermögen konnten; aber er willigte zuletzt in Alles ein, und so gelangten wir mit fünf oder sechs tauglichen Menschen aus der Kolonie auf einer etwas schadhaften, aber für eine so kleine Fahrt nur brauchbaren Pirogue in Tamatave an. Seitdem irren wir am Ufer des Meeres entlang, und versuchten zuweilen in’s Dickicht des innern Landes einzudringen. Die arme Frau dauert mich! Das Schicksal schien ein Opfer gewollt zu haben.“

Polyglotte benutzte den noch übrigen Weg, um zu dieser kurzen Erzählung Colas noch alle Details anzugeben, welche dieser vergessen haben sollte. Seine Zunge war in ununterbrochener Bewegung, bis die kleine Karavane endlich die Niederlassung Tamatave erreichte, welche von friedlichen Eingebornen, die sich 249 mit dem Wallfischfang beschäftigten, bewohnt wurde. Die Freude unter den Leuten von St. Marie, die um Hippolyt aufzusuchen mit herüber gekommen, war groß; nur beklagten sie, sobald wieder in ihr hungriges, nacktes Eiland zurückkehren zu müssen. Sie verwünschten die Trägheit Culotte’s, der die französische Regierung zwar mit hundert unglücklichen Plänen belästigte, aber nicht einmal den Muth besäße, diese Niederlassung auf der großen Insel gegen die Hovas zu behaupten. Sodann baten sie aber Polyglotte, mit seinem Fernrohr einmal die Richtung von St. Marie zu fixiren, weil Einige von ihnen schwören wollten, daß sie am frühen Morgen ein Segel dorthin bemerkt hätten.

„Ich werde sogleich den Ausschlag geben,“ sagte dieser und legte seinen Tubus an; „in der That, wenn am Glase des Rohrs mir keiner ein Stück Papier befestigt hat, so ist das, was ich sehe, eine Spanne weißer Leinewand.“

Als die Uebrigen herantraten, erwies sich die Vermuthung als vollkommen richtig. Ein Schiff kreuzte in der Bucht von St. Marie und die Erwartung bestimmte die Mannschaft, sogleich in See zu stechen. Vor Sonnenuntergang ließ sich die Insel vielleicht noch erreichen.

Aus den Verkleidungen der Uebrigen setzte sich bald eine civilisirte Tracht für Hippolyt zusammen: selbst Polyglotte war so reich an Kleidern und Groß-250muth, daß er die einzige Manschette, welche er trug, seinem Freunde anbot. Desgleichen wurden für Araxaten Umhüllungen geschafft, die ihr Auftreten weniger auffallend machten. Polyglotte, gegen das schöne Geschlecht immer zuvorkommend, löste sein Halstuch und überreichte es mit dem Anstande eines Kavaliers dem armen Mädchen, das nichts damit anzufangen wußte. Es war unartig von den Uebrigen, zu lachen, als sie es um den Fuß wand. Hippolyt erklärte, daß sie dort verwundet sei, und ermahnte seine Gefährten, Alles theuer zu halten, was es ihm sei. Araxata setzte sich zu seinen Füßen in dem Fahrzeuge, und senkte ihr Haupt in seinen Schooß.

Der weiße Punkt in der Ferne trat immer deutlicher aus den verschwimmenden, zitternden Farbenmassen hervor. Es waren die eingerefften Segel eines Schiffes, das sich bald als ein Königliches erkennen ließ. Die Bewohner der Kolonien jubelten, weil sie ein aus Isle de France mit Lebensunterhalt oder dem Auftrage, sie nach Frankreich zurückzubringen, gekommenes Schiff vermutheten. Hippolyt wünschte, das Fahrzeug möchte für Europa bestimmt sein, und hätte es in diesem Falle lieber sogleich betreten, als daß er zuerst noch in die Einöde von St. Marie zurückkehren sollte. Die Pirogue fuhr dicht am Spiegel des ansehnlichen Seglers vorbei, und rief die oben aufgestellten Wachen 251 an, wohin sie bestimmt wären. „Nach Brest!“ hieß es, und Hippolyts Herz schlug laut vor Freuden.

„Wenn lichtet Ihr die Anker?“ – „Morgen in aller Frühe.“ Colas, die Absicht seines Herrn errathend, billigte diese, Polyglotte konnte es nicht, denn er war eingeschlafen.

Hippolyt schied, nachdem sie das Ufer erreicht hatten, dankend von den Kolonisten, die sich um ihn so wacker verdient gemacht hatten. Er schlug einen kürzeren Weg ein, um des Commandanten Wohnung zu erreichen. Es war schon dunkel geworden, im Hause Culotte’s brannte kein Licht, und an der Thür erklärte Matois, wie man glauben könne, daß der Commandant an solch’ einem Festtage zu Hause sein könnte. Er sei schon den halben Tag hinüber zu des Pflanzers Cochon Wohnung. „Und der Kapitain vom Schiffe im Hafen?“ fragte Hippolyt. „Alle, Alle!“ hieß es, und Hippolyt sah ein, daß er gleichfalls diesen Weg noch zu machen hätte. Er brachte Araxaten und seine Gefährten im Hause unter, befahl ihnen, am nächsten Morgen Alles in Bereitschaft zu haben, sie würden mit dem Schiffe nach Frankreich zurücksegeln. Colas kleidete seinen Herrn froh und aus vollem Herzen beistimmend, in die zweite Uniform, die er noch als Reserve besaß, und bat ihn, bald zurückzukehren. Polyglotte war zu schläfrig, etwas zu antworten, und Araxate schlief schon fest auf Hippolyts weichem Lager.

252 Es war in der Ordnung, daß sich Hippolyt unterwegs am eifrigsten mit dem Gedanken an des Pflanzers Cochon Schwester beschäftigte. Wie sie ihn interessirte, sah man daraus, daß er erröthet wäre, wenn sie um Araxaten gewußt hätte. Er fragte sich, was sie zu seinem Wiederfinden sagen würde, ob sie ihn wohl vermißt, beweint hätte, ja er rechnete sogar, wie er ihr die Rückkunft so wenig als möglich überraschend machen sollte.

Mit diesem Plane war er aber noch nicht im Reinen, als er schon im Hofe der Meierei stand, nicht bemerkt von geschäftigen Dienern, welche an ihm vorüberflogen, und ihm erst auf seinen ausdrücklichen Anruf Rede standen. Man erkannte Hippolyt und führte ihn in den hellerleuchteten Saal, in welchem die rauschende Verwirrung einer großen heitern Gesellschaft herrschte.

Er hatte alle diese Personen schon einmal gesehen, aber er wußte nicht sogleich, wo er sie hinbringen sollte. Seine Augen suchten den Wirth und dessen Schwester. Da stürzt Herr Cochon herbei, jetzt entdeckten den Wiedergefundenen erst Alle und ein lautes Staunen löste sich von ihren Lippen.

„Sind Sie von den Todten auferstanden?“ rief der Pflanzer; „Herr Berora, was haben Sie uns für Schrecken verursacht. Wir schwuren, daß Sie irgendwo an der Küste zerschellt sein mochten, und beklagten nichts so sehr, als Sie bei dem heu-253tigen Feste unsers Hauses vermissen zu sollen. Wissen Sie schon, was hier vorgeht?“

„Nein,“ antwortete Hippolyt; „ich finde, daß Ihre Soirée, die mir wohl noch erinnerlich ist, heut ein stärkeres Colorit als gewöhnlich trägt. Wem zu Ehren diese großartigen Festlichkeiten?“

Herr Cochon konnte nicht sogleich die Antwort geben; denn der Commandant Culotte hatte kaum von der Rückkehr Hippolyts gehört, als er von seinem Spieltisch aufsprang und mit offnen Armen auf ihn zueilte.

„Sie Herzensfreund,“ rief er; „wo haben Sie gesteckt? Kommen Sie von Madagaskar? Großer Gott, wären Sie heut nicht erschienen, morgen wär’ ich mit einer vollständigen Expedition hinübergesegelt, um die Spur, welche man von Ihnen entdeckt haben wollte, zu verfolgen. Jetzt sind Sie da und ich höre auf zu reden, weil meine Freude zu groß ist.“

Auch der Adjutant in höchstfestlichem Aufzuge trat jetzt hinzu, und, wie Hippolyt zu seinem Erstaunen sah, Heloise hing, wie eine Braut geschmückt, an seinem Arme. Es war auch nicht anders: Beide feierten ihre Vermählung. Hippolyt war darüber bald belehrt, er stotterte einige Glückwünsche für die erblassende Freundin, die mit ihm im Mondschein gewandelt war und Verse gemacht hatte, und bat darauf, ihn dem Kapitain des im Hafen stehenden 254 Schiffes vorstellen zu wollen. Mit diesem Manne allein zu sprechen gelang Hippolyt um so eher, als Alles auf Heloisen zustürzte, die bleich und ohnmächtig in die Arme le Poivre’s gefallen war. Unser junger Freund war bald mit dem Kapitain einig, die Abfahrt war auf den Ablauf einiger Stunden festgesetzt, und die strengste Verschwiegenheit gegen die Gesellschaft zur Bedingung gemacht. Hippolyt benutzte die Verwirrung, um unbemerkt das Haus zu verlassen. Die Sehnsucht, zu seinen Freunden zurückzukehren, füllte bald wieder die Leere aus, welche Heloisens Untreue auf einige Augenblicke in seiner Seele hatte entstehen lassen. Es erwachte in ihm eine Leidenschaft für Araxaten, wie er sie nie gekannt und immer vermieden hatte. Aber sie drängte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt.

Als Hippolyt am andern Morgen seine Freundin zum Aufbruche ermahnte, fragte sie ihn, wohin er sie führen wolle?

„In ein Land,“ sagte er, „das mir eine zweite Heimath geworden ist, und das ich ohne Dich nicht wiedersehen mag. Du sollst die Theilnehmerin meines Schicksals sein, die einzige Eroberung, die ich zurückbringe; alle meine Freunde sollen Dich gleich meiner Schwester ehren; Du wirst die süße Sprache Frankreichs auf Deiner Zunge heimisch machen, und Dich den Gewohnheiten seiner trefflichen Bewohner anbequemen. Ich werde Dich niemals verlassen.“

255 Araxata drückte ihr Angesicht an seine Brust, die sie mit Thränen benetzte: sie kannte nichts von Treulosigkeit, von dem, was wir abentheuerlich nennen, nichts von Besorgnissen, keine übertriebene Anhänglichkeit an Gegenden, in welchen sie nur zum Dulden bestimmt war, und dennoch zitterte sie und schmiegte sich ängstlich an ihren Freund, der nicht minder von Ahnungen, die er selbst nicht verstand, gequält wurde. Sein Herz mochte ihm brechen, als sie, unfähig, ihm mit Worten ihre Liebe deutlich zu machen, zu seinen Füßen niederfiel und seine Knie mit der Verehrung einer nur den Göttern gebührenden Andacht umschlang. Hundert Versprechungen schwebten auf ihren Lippen; sie wollte ihm Alles sagen, was sie für ihn thun würde, daß sie ihm auf der Jagd die verschossenen Pfeile holen, daß sie jeden Morgen sein Bad mit Blumen würzen, daß sie ihm mit ihren Gebeten den siebenten Himmel erflehen und keine Freude genießen wolle, deren größern Theil sie ihm nicht zu kosten gebe. Aber alle diese Worte erstarben in ihrem Munde, Hippolyt zog sie zu sich herauf, ein Kanonenschuß fiel im Hafen, und Polyglotte stürzte herein, zum Aufbruch zu mahnen.

Colas folgte ihm mit vertrauenden, leuchtenden Augen, Alle umarmten sich noch einmal innig, und Polyglotte führte, den Hut schwenkend, den Reisezug an. Alle seine Habe trug er auf dem Tubus, den er dem Commandanten einzig aus dem Grunde 256 stahl, weil er seinen Gönner damit entdeckt hatte. – Ein Boot harrte an der Brandung, man betrat das schwankende Element, und stieg bald auf der herabgelassenen Strickleiter in den Kiel des Seglers.

Die Anker rollen herauf, der Wind erfaßte die Segel, im Nu schwankt das Schiff mit majestätischer Bewegung über die Fläche des trügerischen Elements. Unterlaßt nicht, ihm Eure besten Wünsche nachzuschicken!

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Hippolyt nahm in Frankreich wieder Dienste. Er trägt jetzt die Epaulettes Louis Philipps; Colas ist noch immer sein treuer Freund und Diener; Polyglotte hat die Anwartschaft auf einen Sitz in der Akademie; sein ausgezeichnetes Werk über die Verwandschaft der arabischen und madagassischen Sprache befindet sich unter der Presse.

Noch immer liegt derselbe Schleier der Melancholie auf dem jungen Manne, welcher in ganz Paris als der Prinz von Madagaskar bekannt ist. Jetzt besäß’ er die Eigenschaften, seine Eroberung zu machen, vielleicht mehr als früher, er kennt seine Muttersprache; aber er lächelt, wenn ihm Jemand dazu rathet. Seine liebste Freude ist die, mit Colas und Polyglotte gemeinschaftlich einige Stunden traulich zu verleben und dem Andenken Araxatens seine Worte und Thränen zu weihen. Die Unglückliche ertrug die Mühseligkeit der Reise nicht, und fand tief in den Wellen des Ozeans ihr kühles Grab.