Berliner Eindrücke.#

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  1. Wolfgang Rasch
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1.2: Stellenkommentar hinzugefuegt
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23.11.2021
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Berliner Eindrücke.#

Berlin ist eine Weltstadt geworden. Früher war Berlin nur eine große Stadt. Berlin hat an Bewohnerzahl und Umfang unglaublich zugenommen, aber in dieser äußern Vergrößerung liegt der auffallende Fortschritt nicht allein. Er liegt im erweiterten Anschauungs-Horizont, im Durchbruch nicht allein von Straßen und neuen Thoren, sondern im Durchbruch alter Vorurtheile und Gewohnheiten, im vermehrten geistigen Betriebscapital, in der Zunahme eines Selbstbewußtseins, das sich mit einem großen sittlichen Nationalleben in Zusammenhang zu setzen verstanden hat. Es ist überraschend, wie sich die schlummernden Kräfte allmählich entwickelt haben. Von unten fängt das an und hört oben, in idealster Höhe, auf. Der Eisenbahnverkehr hat Berlin endlich in jenen unmittelbaren Zusammenhang mit andern großen Städte-Entwickelungen gebracht, der ihm früher fehlte. Früher bezogen sich nur Potsdam, Brandenburg, Treuenbrietzen, Bernau auf Berlin, jetzt Leipzig, Magdeburg, die Ostsee und bald Hamburg und Schlesien. Der frühere kleinstädtische Geist ist gewichen, große Gasthöfe sind entstanden, die Basis aller gemeinschaftlichen Unternehmungen beruht auf breiteren Dimensionen. Man sieht das, bewundert es, oder muß wenigstens seine Freude daran haben.

Was man in auswärtigen Zeitungen als die laufende Tagesordnung von Berlin besprochen findet, das ist alles keineswegs Erfindung, sondern Thatsache, durchgesprochene, lebendige Thatsache. Es stehen sich hier wirklich Parteien und Parteien, Menschen und Menschen gegenüber. Es hat sich hier wirklich ein Geist der Oeffentlichkeit entwickelt, dem bis zur Stunde zwar edle und würdige sowohl, wie dauernde und belebende Organe fehlen, ich meine die Organe factischer Institutionen, dessen Ringen und Drängen aber so mächtig ist, daß es Augenblicke geben kann, wo wir uns im Anschauen dieser Strebungen nach Paris versetzt glauben. So wie jetzt in Berlin muß es zur Zeit der Restauration in Paris gewesen sein. Der Katheder ist die vorläufige Volkstribune, die Wissenschaft die vorläufige Politik. Wie das wogt und treibt! Keine Meinung will mehr allein stehen, eine Bestrebung lehnt sich an die andere. In Berlin wohnen und nichts wirken, nichts vorstellen, nichts vertreten, ist der geistige Tod, ist Nullität, heißt wenigstens Nullität, und Jeder fürchtet sie. Man hat angefangen, die Bedeutung eines öffentlichen Charakters zu fühlen. Die ruhmvollsten Namen aus der alten Schule sieht man im Verkehr mit den erst sich machenden aus der jungen. Unpopulär zu sein, wagt Niemand. Jeder muß einen Kreis von Gleichgesinnten um sich haben, er muß sich nach Anlehnungen umsehen. Kann er nicht selbst einen Mittelpunct bilden, so ordnet er sich unter und wird Stammgast im Salon eines Andern. Berlin hat seine Salons, in der That Salons im französischen Wortsinne. Ich muß sogar so weit gehen, zu behaupten, daß es mit Geldkosten verknüpft ist, in Berlin eine eigene Meinung zu haben. Man muß seinen offenen Mittwoch, seinen offenen Freitag, seinen Dinstag haben, um hier ein durchgreifender, öffentlicher Charakter zu sein. Das ist kostspielig, hier mit Tieck, mit den Grimms, mit Herrn von Savigny zu rivalisiren. Man muß wünschen, daß sich diesen Gasströmungen von Ehrgeiz, Tendenz, Zorn, Begeisterung, Rache, ehe es eine Explosion gibt, bald ein luftreiner Cylinder darbieten möchte, ein Abzug ins öffentliche, große Volksleben, durch irgend eine Thatsache, durch irgend ein Ereigniß, durch irgend einen Schritt weiter auf der betretenen Bahn besonders des Ausbaues der ständischen Institutionen. Dies oder irgend etwas Anderes muß erfunden werden, um diesem Wettkampf von Meinungen und Leidenschaften eine schöne höhere Wahrheit zu geben und solchen Zerrüttungen vorzubeugen, wie sie z. B. jetzt in Folge der traurigen grimm’schen Erklärung, durch welche sich zwei berühmte Namen um alte Liebe und Hingebung gebracht haben, schon eingetreten sind. - Einige der auf der Reise empfangenen Eindrücke mögen in bunter Reihe hier wiedergegeben werden.

Am 29. März beschloß D. Mundt seine vor einem gemischten Publicum gehaltenen Vorlesungen über die Gesellschaftsfrage unserer Zeit. Es war fünf Uhr. Im Saale des jagor’schen Hauses, unter den Linden, versammelte sich so ziemlich der größte Theil des ästhetisch-productiven Berlins, Dichter, Gelehrte, Musiker, Gläubige und Prüfende, Hingegebene und Zweifelnde, wie dies um so mehr bei einem Gegenstande der Fall sein mußte, dessen öffentliche Behandlung in gewissen Regionen bedenklich erschienen war. Als sich etwa 150 Personen eingefunden hatten, erschien der Redner. Ich fühlte mich an die Vorträge von Edgar Quinet im College de France erinnert. Nur Schade, daß sich Mundt zu sehr auf sein Heft verließ und einen Gegenstand, der so tief in Herz und Nieren greift, nicht mit freier Rede um so überzeugender darstellte. Die Wärme der Begeisterung fehlte dem Redner nicht, eine jeweilige Handbewegung verrieth selbst seine Absicht, das, was er vorlas, als entquollen seinem innersten Gefühle darzustellen; doch kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ein selbst ungeregelter Vortrag mit Anakoluthen, Wiederholungen und allen Klippen eines ungewohnten oratorischen Versuches dennoch eindringlicher spricht, als ein geschriebenes Heft.

Der Inhalt der Rede erweckte die wärmste Theilnahme. Bot ihr Anfang demjenigen, der sich mit der Socialwissenschaft unserer Tage beschäftigt hat, auch nichts Neues, so erhob sie sich doch in ihrem weitern Verlauf zu einem höheren Aufschwunge, in welchem sich zum ernsten Denker der sinnige Dichter gesellte. Der Redner sprach von den Rechten der Armen und den Pflichten der Reichen. Er behandelte jenen ergreifenden Gegenstand des Pauperismus, der jetzt nur noch alle Federn, bald aber auch hoffentlich alle Herzen in Bewegung setzen wird. Jene rührende Humanität, welche sich in den Schriften derjenigen Franzosen findet, die sich mit socialistischen Fragen beschäftigten, hatte, man sah es, in des Redners Herzen ein Echo gefunden. Er sprach mild und sanft von den Proletariern der Gesellschaft, und ein gewisses kaltes Phlegma, eine gewisse doctrinäre Selbstzufriedenheit hinderte doch nicht, daß in einigen weihevollen Momenten ein schöner Abglanz von Gemüth und Wehmuth auf seinen Gesichtszügen hervorbrach. Besonders war die Bemerkung, daß jetzt bei den Fortschritten der Volksbildung der Vater beschämt von seinem aus der Schule heimkehrenden unterrichteteren Kinde lernen könne, eben so geistreich aufgegriffen, wie zart und innig durchgeführt.

Ueber Manches theile ich nicht des Redners Meinung. Er sprach von Owen und würdigte ihn nicht genug, trotzdem, daß er mit Achtung von ihm sprach. Er kam zu oft auf den Mangel an Poesie in Owen’s System zurück. Poesie ist in der Socialfrage ein gefährliches Wort. Braucht man es zu oft, so kann man dahin kommen, daß am Ende nichts poetischer als die Armuth ist, und der Armuth soll doch abgeholfen werden. Wer vom Leben zu viel bunten Effect verlangt, dem wird freilich das Ziel einer allgemeinen Glückseligkeit unpoetisch erscheinen. So manches Andere in des ehrenwerthen Redners Aeußerungen ließ mich fast besorgen, er hätte das Thema der materiellen Gesellschaftsfrage nur zum Canevas von allerhand auf anderm Gebiet spielenden Anmerkungen gemacht, von Anmerkungen, die ich sehr treffend, sehr zeitgemäß, ja, sehr freimüthig und gegebenen Umständen gegenüber kühn fand, die aber doch nur mehr dem idealen Gebiet angehörten und die Ansicht vorauszusetzen schienen, man könne Hungernde mit Sonnenlicht sättigen und Dürstende mit den Farben der Blumen tränken. Der Redner kannte die praktischen Schäden, wollte sie heilen und wich wiederum dem praktischen materiellen Gebiete aus. Doch abgesehen von diesem Einwurf, der ohnehin auf einem Mißverständniß beruhen kann, hat sich Mundt ein großes Verdienst erworben, daß er in jener unmittelbaren Form, in der Form der Rede, einen Gegenstand zur Sprache brachte, der immer mehr in den Vordergrund der Debatten treten und jene welt- und gottweise Philosophie beschämen wird, die im Webstuhl ihrer Abstractionen nur Leichentücher für das Leben spinnt.

In die Vorstellungen der königlichen Hofbühne zieht mich das Gastspiel Theodor Döring’s. Dieser ausgezeichnete Schauspieler ist veranlaßt worden, drei Monate lang in Berlin zu spielen. Ein Beweis, wie viel Theilnahme er bei seinem vorjährigen kürzeren Auftreten geweckt hat.

Die günstigen Voraussagungen, die schon vor Jahren das Talent dieses Künstlers in engeren Kreisen begleiteten, haben sich seither in größeren bestätigt. Döring ist ein Schauspieler von seltener Begabung. Er wurde für seinen Beruf geboren, er konnte nichts Anderes werden, als Schauspieler. Schon früh entschied sich seine Neigung, nachzuahmen und fremde Eigenthümlichkeiten wiederzugeben; den Drang zur Bühne konnte die Wahl eines anderen Lebensberufes, den er bald verließ, nicht zurückhalten: Döring wurde Schauspieler und widmete sich sogleich dem Charakterfach. Die großen Erfolge, die er schon früh bei kleinen Bühnen in komischen Rollen ärntete, mochten ihn zu lange bei grotesken Figuren, Chargen und niedrig komischen Charakteren aufgehalten haben; erst vor zehn Jahren in Mannheim erweiterte sich ihm das Feld seiner Bestrebungen, er vertiefte sich in ideale Charaktere und gab in Mannheim, Hamburg, Stuttgart neben den ihm nie versagenden und genial dastehenden komischen und gemüthlichen Charakteren auch Figuren aus dem tragischen Kreise und dem Kreise der höheren Conversation. In dieser letzten Sphäre ist sein großes schauspielerisches Genie noch in der Entwickelung begriffen. Es kann ihm da, wo er sich nicht komischer und gemüthvoller Aufgaben allein zu entledigen hat, noch manche Leistung versagen, es kann seinen immer groß gedachten und originel angelegten tragischen Charakteren noch in der Durchführung an Consequenz und einer auch in dieser Sphäre nie versagenden, ganz sichern Virtuosität fehlen, aber nach einigen Jahren ist Döring auch auf diesem Gebiet derselbe große Meister, wie im Fache der Komik.

Die Grundlage, auf welche Döring seine Gebilde baut, ist das Verwandlungstalent. Er besitzt dies Urmaterial der Schauspielkunst in einem Grade, der eine Klippe seiner Correctheit werden könnte, wenn die Phantasie nicht als regelnde Vermittlerin einträte. Döring ist ein Intuitions-Schauspieler, wie es L. Devrient war. Er denkt mit der Phantasie. Der Verstand trägt der Phantasie bei ihm nicht die Fackel voran, sondern nur das Schleppkleid der Phantasie hinten nach. In einer so verstandeskühlen Stadt wie Berlin ist darum sein Stand schwieriger als anderswo. Das sinnige Vertheilen der Kräfte, der harmonische Ausbau einer Rolle nach ihrem Fundament und ihren Stockwerken war bei Seydelmann frappanter und befriedigender; denn der Verstand will immer eher bei kalten Naturen befriedigt sein, als die Phantasie. Wie die Kenner bei Seydelmann oftmals jene Ursprünglichkeit der schauspielerischen Individualität vermissen wollten, so vermissen sie bei Döring einen Theil jener Vorzüge, durch welche Seydelmann aus der Fülle seiner geistreichen Verständigkeit seine theilweisen Mängel zu ersetzen wußte. Allein gerade nach der Seite hin, wo Döring zur Zeit noch nicht völlig genügen mag, ist reifere Ausbildung mit den Jahren eher möglich, als nach jener Seite des ursprünglichen Berufes hin, wo es Lücken geben kann, die sich nie ersetzen, Lücken, die sich bei Döring nicht finden.

Durch keine Kritik in der Welt kann diesem Schauspieler genommen werden, daß er ein gebornes Bühnengenie ist. Ein überwiegender Theil seiner Rollen, insonders die komischen und bürgerlich gemüthlichen, steht vollendet da. Diejenigen Charaktere, in welchen er noch nicht zu völliger Sicherheit gelangt ist, verläugnen dennoch niemals ihren edlen Ursprung; sie mögen nicht immer ganz befriedigen, aber sie hören darum nie auf, interessant zu erscheinen. Frisch und frei ist alles, was Döring spielt. Inspiration fehlt ihm für keine Rolle, nur muß er sich freilich hüten, in seinem Streben nach Charakteristik zu weit zu gehen. Er muß seinen unaufhaltsamen Drang, in Gehen, Stehen, Sprechen, Mienenspiel einen Charakter bis auf die Neige zu erschöpfen, nicht so weit treiben, daß darüber aus dem Charakter ein Daguerreotyp-Bild wird, wo uns auch jedes Muttermal auf der Wange sichtbar wird. Das Streben nach Charakteristik muß durch Geschmack und Schönheitssinn geregelt werden; denn sonst kommen wir auf Hogarth’s Theorie, der den Heiland nicht anders malen wollte, als mit Schwielen an den Füßen, die Apostel nicht anders, als mit Schwielen an den Händen; denn allerdings, Christus wanderte viel, und die Apostel arbeiteten. Ueber das Geschmackvolle und Ideale darf die Charakteristik in keiner Kunst hinausgehen. Hogarth wollte Charon malen, der die Todten über den Acheron fährt. Sein in die Caricatur führendes Streben nach Charakteristik verleitete ihn, diesem Charon dünne Beine zu malen; denn, sagte er, es ist eine Beobachtung, die ich an Fährleuten gemacht habe, daß sie durch ihr immerwährendes Stehen dünne Beine bekommen. In diesem Sinne soll nie ein Schauspieler charakteristisch werden. Ist nur die Contour und der Grundton seiner Zeichnung richtig, dann muß die Phantasie des Zuschauers das Uebrige hinzudichten; denn sonst bleibt ihm in der Fülle der Details, die er einen ganzen Abend hindurch festzuhalten hat, keine Zeit und Kraft mehr übrig, nebenbei den ganzen rhetorischen und idealen Theil seiner Rolle wiederzugeben.

Es ist das Eigene bei bedeutenden Erscheinungen, daß man in ihrer Erörterung kein Ende finden kann. Döring könnte Veranlassung zu einer Reihe von Abhandlungen geben, denn jede seiner Rollen ist anregend und zieht uns in die Weite der Betrachtungen. Man würde sich in Hannover ein großes Verdienst um die deutsche Schaubühne erwerben, wenn man Döring seiner dortigen Verpflichtung entbände und ihn dauernd einer Bühne angehören ließe, wo seine großen Gaben Sporn und Stachel genug fänden, sich immer umfassender auszubilden und einer Reife nachzustreben, die dem Künstler nicht mit in die Wiege gelegt wird, sondern die er sich selbst erwerben muß. Döring befindet sich jetzt in seiner vollsten Mannesblüthe. Jetzt, in dieser Periode seines noch ruhelosen Ehrgeizes, in diesem Drange nach allseitiger Vollendung, in diesem unverwüstlichen Verlangen, mit jeder neuen Rolle das Urtheil der deutschen Intelligenz-Hauptstadt kühn herauszufordern, jetzt gerade müßte er hieher verpflanzt werden. Vielleicht bringt Hannover das Opfer und tritt den seltenen Künstler an Berlin und das Interesse der deutschen Schaubühne ab.

II.#

Das ist gewiß charakteristisch! Mein erster Blick auf eine der hiesigen Zeitungen fiel auf den Vorschlag eines Frühgottesdienstes für Droschkenfuhrleute. Wahrlich, dieser Vorschlag verläugnet seinen Ursprung nicht! Zwar ist derjenige, der ihn zunächst machte, ein Jude (der Besitzer der Haupt-Droschkenanstalt), aber auch das ist bezeichnend; die speculativen Juden, die Juden, die den Geist der Zeit verstehen, bestreben sich hier, dem Ueberchristenthum in die Hände zu arbeiten. Ein Frühgottesdienst für Droschkenfuhrleute! Man mache sich recht klar, was darunter zu verstehen ist. Man hat nämlich gefunden, daß die Droschkenführer von früh bis Mitternacht ihrem Herrn und Lohngeber dienen müssen. Auch den Sonntag heiligen sie nicht. Um sie nun der Kirche nicht gänzlich verloren zu geben, läßt man ihnen jetzt Morgens, wenn sie ihre Wagen reinigen, wenn sie ihre Pferde anschirren, rasch von einem eigens bestellten „Droschkenprediger“ eine kurze geistliche Rede halten. Man glaubt, wenn man so etwas erfährt, in England oder Pennsylvanien zu sein. Diesem Frühgottesdienst für Droschkenfuhrleute müssen, wenn man consequent sein will, noch diese zwei Einrichtungen folgen:

1) Ein Frühgottesdienst für Briefträger.

2) Ein Nachmittagsgottesdienst für Milchkarrenschieber; denn auch diese Fuhrleute bringen ja jeden Sonntag die Milch zur Stadt.

Gut, ich glaube, daß es wünschenswerth ist, auch die Droschkenfuhrleute an die Kirche zu gewöhnen; aber hätte die gesunde Vernunft und die Billigkeit jenes überchristlichen Juden, wahrscheinlich eines Commercienrathes, nicht einen andern Ausweg finden können? Wie nun, wenn man bei den Droschkenställen keinen Gottesdienst errichtet, wohl aber jedem Droschkenführer es möglich gemacht hätte, alle vierzehn Tage oder wenigstens alle vier Wochen einen halben Sonntag frei zu haben, einen halben Sonntag, wo er die Kirche besuchen kann? Erlaubte das die Dividende des Commercienrathes nicht? Ihr habt ein so großes Mitleid mit der Seele des Droschkenfuhrmanns und sorgt für seinen Kirchgang, schenkt ihr ihm denn auch, dem geplagten, an seine Karre gebundenen Menschen, einen Erholungstag? Spannt ihr ihn einmal aus seinem Joche aus und errichtet einen Actienverein zu einer Mittagsfreude, zu einer Nachmittags-Belustigung? Statt daß also die hiesigen Ueberchristen den Commercienrath zwingen sollten, jedem Droschkenfuhrmann alle vierzehn Tage oder alle drei Wochen, die Reihe herum, einen freien Sonntag zu geben, den er als freier Mensch, Christ und Staatsbürger anwenden kann, wie er will, schlüpfen sie über den Mißbrauch des privilegirten Droschkenregenten hinweg, sanctioniren die Thatsache, daß kein Droschkenfuhrmann einen freien Sonntag hat, und sorgen nur einzig dafür, daß ihm Morgens vor Ausfahren aus dem Stall das Evangelium gepredigt wird! O über den frommen Commercienrath!

Wenn dem religiösen Fanatismus keine Gränzen gesteckt werden, so erleben wir noch die krankhaftesten Erscheinungen. Die übertriebene Heiligung des Sonntags kann förmlich alttestamentarisch werden. Wenn sich z. B. Jemand in den Gedanken vertieft, daß die Eisenbahnen auf Sonntagen befahren werden und das Bahnpersonal und die Locomotivführer deßhalb nicht die Kirche besuchen können, würde man einem solchen Gemüth nicht zurufen müssen: Behüte dich der Himmel vor Wahnsinn! Der religiöse Fanatismus, der sich ferner der Armen und Kranken annimmt, hat Ansprüche auf unsere vollkommenste Hochachtung, er steht den Geboten der reinen Humanität so nahe, daß man nicht untersuchen mag, welches die Quelle seiner Hingebung, Aufopferung und Liebe ist; wenn aber die Pflege der Armen strafend, die Wartung der Kranken lästig und beängstigend wird, dann muß man selbst gegen so an sich ehrenwerthe Aeußerungen des überchristlichen Sinnes kalt werden. Strafend aber ist die Armenpflege, welche nur dem gibt, den sie als rechten Glaubens erkennt; lästig und beängstigend ist die Krankenwartung, die uns zwischen den Schmerzen des Körpers von der Verworfenheit unserer Seele redet.

Es bereitet sich hier eine Menge praktischer Anwendungen des mildthätigen Christenthums vor. Die meisten davon stehen noch auf dem Papiere, einige sind schon ins Leben getreten, z. B. ein Magdalenenstift zur Rettung gefallener Mädchen. Was man von letzterem hört, läßt auf eine gesunde und thatkräftige Ausführung dieser an sich löblichen Absicht nicht schließen. Schon daß diese unglücklichen Personen durch eine eigene Tracht kenntlich gemacht werden, ist einer jener finstern Nebengedanken, die wir strafende Armenpflege nannten. Wenn es einen Weg geben kann, um solche Personen einer sichern Besserung entgegen zu führen, so kann es nur der sein, sie auf eine möglichst geräuschlose, stillschweigend liebevolle Weise der Gesellschaft wiederzugeben. Eine schwarze Tracht mag allerdings bewirken, daß der, der sich dem Magdalenenstift in die Arme wirft, gleichsam die Thür hinter sich auf immer zuwirft und eine fast carthäuserartige Resignation zeigen muß, aber wie wenig Gemüther werden einer solchen Abtödtung des letzten Restes von Stolz fähig sein! Gerade das, was Ihr zuerst brechen wollt, diesen letzten Rest von Stolz, gerade das ist nur das Samenkorn, aus dem sich eine neue Blüthe des sittlichen Menschen erheben kann. Was wird das Ende dieses Beginnens sein? Daß eine solche Anstalt hinter ihrer guten Absicht zurückbleibt und, statt gebesserter, dem Leben wieder gewonnener Verirrten, Heuchlerinnen erzeugt, die, wie es der Fall ist, beim geringsten verführenden Anlaß wieder in ihre alten Lasterwege zurückfallen.

Nach allem, was sich hier beobachten läßt, sieht man, daß man die Uebel, an welchen die heutige Gesellschaft krankt, hier mehr als irgendwo erkannt hat. Man hat sie erkannt, weil man sie fühlt, weil sie sich zu unabweislich von selbst aufdrängen. Aber in den Mitteln, den gesellschaftlichen Schäden abzuhelfen, vergreift man sich. Man will den Schäden unmittelbar begegnen, statt daß sie nur da wahrhaft zu heilen sind, wo man ihrem ersten Grunde auf die Spur gekommen ist. Die Wurzel muß man entdecken und den Wurm tödten, der an der Wurzel nagt. Das Begießen des welken Blattes an dem verkrüppelten Stamme fristet ihm eine Weile das frische Ansehen des Lebens, dann aber fällt es ersterbend ab, weil der aus der Wurzel quellende Balsam des Lebens, der Saft der Gesundheit ihm stärkend nicht zuströmt.

Theodor Mundt sprach in seiner kürzlich erwähnten Vorlesung von dem durchgreifenden Streben unserer Zeit nach „Glückseligkeit und Vergnügen“. Ich erschrak, wie er diese Thatsache so ohne Weiteres als einen feststehenden Satz, wahrscheinlich als die Prämisse seiner frühern Entwickelungen, einwerfen und voraussetzen konnte. Und doch stellt sich diesem Satze, um ihn zu widerlegen, wenig gegenüber. Er ist wahr, er ist bewiesen; bewiesen nicht nur durch den Luxus der Reichen, sondern auch durch die brennende Sehnsucht und Entsagungsunfähigkeit der Armen. Am unersättlichsten aber in Zerstreuungen ist der Mittelstand. Glückseligkeit und Vergnügen ist mehr denn je die Devise des Berliners geworden. Die öffentlichen und Privatgelegenheiten zu Erholungen aller Art haben sich reißend vermehrt. Die Straßenecken sind täglich mit mehr als einem Dutzend Zettel beklebt, um zu Zerstreuungen einzuladen. Dabei ist der Zudrang zu solchen Nahrungszweigen, welche wenig Anstrengung erfordern, unverhältnißmäßig. Wer früher nicht wußte, welches Gewerbe er treiben sollte, eröffnete einen Tabakshandel. Jetzt haben sich dazu Anlagen von Kaffeehäusern, Vergnügungsgärten, Conditoreien gesellt, die mit derselben Schnelligkeit aufschießen, wie hier Mode-, Schnittwaaren-, Kleiderhandlungen und Gewerbeläden von solchen eröffnet werden, die diese Gewerbe nicht selber treiben, sondern nur von Andern treiben lassen. Und mitten in diesem Sausen und Brausen von Vergnügungen dann jene Zustände der Noth und des Elends, die Bettina jenen menschenfreundlichen Schweizer im Anhange ihres Königsbuches hat schildern lassen - der Gegensatz ist schneidend.

Auswärts fühlt man diesen Gegensatz fast noch mehr als hier. Auswärts hat man sich verwundert, wie mitten in diesen Thatsachen des dringendsten Bedürfens, mitten in diesen beredten Schilderungen der hiesigen Verarmung plötzlich das krollsche Etablissement hat auftauchen können. Ich gestehe, als ich diesen von allen Zeitungen für einen Feenpalast ausgegebenen Ort besuchte, konnte ich den störenden Gedanken, daß diese Schöpfung sehr mal à propos gekommen, nicht unterdrücken. Zum Glück bleibt auch dieser „Feenpalast“ hinter seinem Rufe zurück. Schon in der Ferne, wenn man durch Staubwolken durchzudringen vermag, sieht das Ganze wie eine große Ziegelhütte aus. Man sieht ein Conglomerat von Schornsteinen und hervorspringenden Hausecken und fühlt sich durch den ersten Eindruck eher abgestoßen als angezogen. Dabei ärgert man sich über die Idee, ein solches von allen Fremden zu besuchendes Local auf die Achillesferse Berlins, die Sandwüste Sahara, auf den Exercirplatz zu bauen. Der berliner Staub, vergessen gemacht durch die freundlichen Anlagen des Thiergartens, tritt wieder beizend, augenverderbend, unausstehlich in den Vordergrund; denn recht in den Mutterschooß dieses Staubes ist das neue Gebäude gelegt worden. Man betritt es. Alles erscheint daran lückenhaft, hölzern, durchsichtig, leichte Waare, berechnet auf einen kurzen Effect. Mit Einem Blick übersieht man die gewaltige Reitbahn des Vergnügens. Keine Abwechselung, kein lauschiger Versteck, keine Möglichkeit des Alleinseins. Die nackten weißen Holzwände, mit Goldleisten zwar verziert und hier und da bemalt, aber keine Draperieen, keine Vorhänge, das ganze Local auf Einen Blick in die flache Hand gegeben. Das Unterhaltende an den Maskenbällen in der großen Oper zu Paris ist nicht der große Tanzraum, sondern das bunte Gewühl auf den Treppen, Corridoren, in den Foyers, in Einrichtungen, die hier, bis auf einige wenige Logen, nicht getroffen sind. Man kann allerdings sagen, Paris besitzt ein solches Etablissement nicht; aber man muß hinzufügen: wenn man in Paris so oberflächlich wäre, zum bloßen Dasitzen, Gaffen und Begafftwerden eine solche Unterhaltungsanstalt zu begründen, so würde sie großartiger, geschmackvoller, charakteristischer sein. Im Kellergeschoß dieses Tempels der Langenweile befindet sich ein so genannter „Tunnel“ , eine Localität zum Rauchen, wie sie finsterer, schmutziger, erstickender kaum in London gefunden werden kann. Man glaubt, daß die Mystères de Paris hier ihren Anfang hätten nehmen können. Man glaubt den Tapis Franc zu betreten, und sieht sich unwillkürlich nach der Ogresse um.

Aber auch die Mystères de Berlin könnten hier anfangen. Gibt es solche? Gedruckt schon eine große Anzahl, und die zuerst kamen, von Schubar, schon in dritter Auflage. Doch sollen es nur Criminal-Geschichten sein, zusammengesetzt aus Merker’s Beiträgen zum Gelingen der praktischen Policei und Thiele’s Schlüsseln zum Verständnis des jüdischen Gaunerwesens. Schade, daß sich originelle Köpfe nicht leicht entschließen werden, in die Fußstapfen eines Andern zu treten; wohl aber bliebe es wünschenswerth, daß sich Jemand der deutschen Zustände so bemächtigen könnte, wie Eugene Sue der französischen. Hat nicht am Ende auch Sue dem Boz nachgeahmt, und Boz wieder die alten humoristischen Romane der vorigen Jahrhunderte? Mysterien von Berlin müßten grelle Schlaglichter auf Deutschlands sittliche, gesellschaftliche und intellectuelle Zustände fallen lassen, müßten die Fackel der Aufklärung nicht nur in die Kellergewölbe der Armuth und des Verbrechens tragen, sondern auch in die trübe Dämmersphäre der Schein- und Ueberbildung, der Lüge und der Heuchelei. Gehört nicht jener Heuchler, der kürzlich um die Erlaubniß, eine Zeitschrift herausgeben zu dürfen, einkam und zur Bescheinigung seiner guten Gesinnung das Attest eines Predigers beibrachte, daß er drei Jahre das Abendmahl genossen, gehört dieser edle Charakter nicht in die Mystères de Berlin? Gehört unser jüdischer Commercienrath, der den christlichen Frühgottesdienst für Droschkenfuhrleute errichtete, nicht in die Mystères de Berlin? Auf diesem Felde kann man trotz Eugene Sue noch sehr neu und selbstständig sein. Vielleicht macht sich ein talentvoller Kopf an eine Aufgabe, die schwer, aber dankbar ist.

Apparat#

Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J Karl Gutzkow: Berliner Eindrücke. [I.]-II. In: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 104, 13. April 1844; Nr. 111, 20. April 1844. (Rasch 3.44.04.13)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

2.1.1. Texteingriffe#

4,18 ließ mich ließen mich

11,18 einwerfen inwerfen ausgefallene Letter

4. Entstehung#

4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#

Es sind keine Dokumente zur Entstehungsgeschichte bekannt.

4.2. Entstehungsgeschichte#

Im März 1844 unternahm Gutzkow eine Reise, die ihn zunächst von Frankfurt am Main nach Dresden führte, dann über Leipzig nach Berlin und anschließend nach Hamburg. Von Hamburg kehrte er Anfang Mai nach Frankfurt am Main zurück (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 548).

Am 28. März kam Gutzkow in Berlin an und bezog ein zentral gelegenes Quartier: Das erst im Jahr zuvor eröffnete Hotel du Nord, Unter den Linden 32 (an der Ecke Charlottenstraße), schräg gegenüber dem alten Akademiegebäude (heute Standort der Staatsbibliothek zu Berlin). Zuletzt hatte Gutzkow im Frühling und Frühsommer 1841 Berlin gesehen (Rasch, Gutzkow-Doku., S. 546). Gutzkow besuchte in Berlin seine Eltern und andere Verwandte, verkehrte mit Theaterleuten, mit Feodor Wehl, Eduard und Therese Devrient und Theodor Mundt, mit dem er sich nach gravierenden Differenzen in den späten 1830er Jahren inzwischen ausgesöhnt hatte. Am 12. April reiste er von Berlin weiter nach Hamburg.

Gutzkow hatte im November 1843 mit dem Kölner Zeitungsverleger Joseph Dumont-Schauberg einen Vertrag geschlossen, demzufolge er regelmäßig größere Beiträge für das Feuilleton der "Kölnischen Zeitung" zu liefern hatte. In diesem Zusammenhang schrieb Gutzkow im April 1844 für die "Kölnische Zeitung" einen Artikel, in dem er einige Impressionen seines vierzehntägigen Berlin-Aufenthalts verarbeitet. Mit Sicherheit wurde der erste Teil der Berliner Eindrücke in Berlin geschrieben, denn dieser erschien schon am 13. April 1844 in der "Kölnischen Zeitung", vermutlich auch der zweite, die eine Woche später am 20. April herauskam.

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Stellenerläuterungen#