Diese Kritik gehört Bettinen#
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- Herausgeber
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.1
- Letzte Bearbeitung
- 27.12.2019
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Text#
657 Diese Kritik gehört Bettinen.#
Nil divini a me alienum puto.
Wie man nach einem Mittagsmahle, wo man beizende Speisen zu sich genommen hat, die uns austrocknen und einen brennenden, kaum zu ertragenden Durst erzeugen, einen Trunk des reinsten, erquickendsten Quellwassers die verschmachtende Kehle hinunterschüttet und mit Wollust die benetzte Lunge zum Athmen ausdehnt, so erquickt, so erfrischt das neue Buch Bettinens. Im Krystallglase ihrer stylistischen Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffenen Blumen ihrer gewohnten Darstellungsweise kredenzt die anmuthige Zauberin uns diesmal nicht etwa berauschenden Schaumreiz, der uns die Welt im phantastischen Rosenlichte zeigen soll, nicht südliches Rebenblut, durchduftet von den Blüthen des Orients oder gewürzt von zerstoßenen Perlen der Mährchenwelt, sondern diesmal nur reine, frische Quellfluth, reines krystallhelles Naß vom Borne der Natur, aus der Cisterne der gesunden Vernunft. O welche Labung, dies herrliche, gedankenklare, gesinnungsfrische Buch! Nach so viel tausend gewürzten Speisen, die uns die Philosophie dieser Tage aufgetischt hat, nach dieser täglichen salzigen Häringskost unserer modernen Literatur, nach diesem ewigen Sauerkohl unserer philisterhaften Denk-, Schreib-, Lese- und Lebensmethode ein solches Buch! Ein solcher Trunk aus den Bergen, ein volles Glas, wo die Felsen-Kühle mit tausend Tropfen die innere Wand beschlägt! All ihr modernen Rheinweinpoeten und knallenden Champagnersänger, das konntet ihr nicht geben, was Bettina giebt, Labung und Kühlung, Erquickung und Stärkung, Trost für das Vergangene und Muth für das Werdende!
Das neue Königsbuch dieser merkwürdigen Frau ist kein Buch in dem Sinne, daß es wie herbstliches Geblätter eine Weile raschele und unterm Winterschnee vergessen seyn wird, sondern es ist ein Ereigniß, eine That, die weit über den Begriff eines Buches hinausfliegt. Dies Buch gehört dem König, es gehört der Welt. Es gehört der Geschichte an, wie Dante’s Komödie, Macchiavelli’s Fürst, wie Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Es sagt Dinge, die noch Niemand gesagt hat, die aber, weil sie von Millionen gefühlt werden, gesagt werden mußten. Man wird diese Dinge bestreiten, man wird des Frauenmundes, der sie ausspricht, spotten und man bestreitet und spottet schon lustig in den Allgemeinen und gemeinen Zeitungen unserer Tage. Aber bei Erscheinungen dieser Art heißt es, das starke Ende kommt nach. Mit des kühnen Strauß’ Leben Jesu ging es ebenso. Vor dem wahrhaft Bedeutenden erschrickt man erst, ehe man vor ihm niederfällt.
Wer noch nicht nach den beiden kleinen Bänden gegriffen hat, wer noch schwankt, ob man ein Buch interessant finden soll, das man nicht wie einen Roman in einem Zuge, sondern in den „bekannten sieben Zügen,“ wie die Studenten sagen, trinken und allmälig in sich aufnehmen muß, dem diene Folgendes als Erläuterung: Das merkwürdige Buch trägt seinen persischen Titel wirklich mit vollem Recht. Es ist keine Affektation in diesem Titel. Dies Buch gehört wirklich dem König und mußte so heißen, durfte nicht anders. Es ist ein Brief, ein offener Brief, an den König geschrieben 658 und geradezu an Friedrich Wilhelm IV. Es ist eine Adresse der Zeit, von einem Weibe, einer muthigen Prophetin verfaßt und deshalb von Tausenden von Männerunterschriften bedeckt, weil Bettina hier nur das Organ einer allgemeinen Ansicht, die kühne Vorrednerin ist, die Jeanne-d’Arc, die nicht mit ihrem Arme, sondern mit ihrer Begeisterung, mit ihrem Glauben das Vaterland retten will. Traurig genug, daß nur ein Weib das sagen durfte, was jeden Mann würde hinter Schloß und Riegel gebracht haben. In diesem wunderbaren Zusammentreffen von Umständen, in diesem Zufall, daß eine Frau, der man die „Wunderlichkeit“ ihres Genies und ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen nachsieht, aufsteht und eine Kritik unserer heutigen Politik, eine Kritik der Religion und der Gesellschaft veröffentlicht, wie sie vor ihr Tausende gedacht, aber nicht Einer so resolut, so heroisch, so reformatorisch-großartig ausgesprochen hat, darin liegt etwas, was göttliche Vorsehung ist. Dem bedrängten Kampfe der Zeit ist ein Engel mit feurigem Schwerte zum Entsatz gekommen. Windet Euch, baut Bücher auf Bücher auf, sprecht Anathema über Anathema, die Macht einer Inspiration, die Macht einer Offenbarung, ausgesprochen in einem Weibe, das keine Professur, keine Ehre und irdische Anerkennung haben will, diese Gluth einer Überzeugung, die sich wie ein feuriger Strom durch die Lande wälzen wird, ist nicht zu dämpfen, nicht auszulöschen. Den Handschuh für die Freiheit wirft hier die Poesie hin; die Poesie ist immer ein Ritter, gegen den alle Streiche in die Luft fahren.
Bettina gehört zu denen, die ohne Falsch wie die Tauben, aber auch klug wie Schlangen sind. Sie redet zunächst nicht zum König von Preußen. Sie malt zwar seine Politik, die Politik seiner Rathgeber, sie malt einen Minister nach dem Leben, aber, ihrer Poesie und dem „Anstand“ gemäß, kleidet sie ihre Polemik in das Gewand der Allegorie. Sie spricht scheinbar von anno 7, scheinbar von Frankfurt am Main, scheinbar von Napoleon, und läßt die Frau Rath, Goethe’s Mutter, statt ihrer reden. Sentimentale und Tartüffe-Gemüther, die immer wollen, daß man die Sachen von den Personen scheidet und deren steter Jammer die „Indiscretionen“ sind, werden es schreckhaft finden, wie man der in geweihter christlicher Erde auf dem Frankfurter Friedhof schlummernden Frau Rath die Verantwortung so himmelstürmender Gedanken, wie Bettina ihr in den Mund legt, andichten kann. Wer aber zu Schleiermacher’s Füßen gesessen, weiß, welche Rolle Sokrates in Platon’s Dialogen spielt. Xenophon, der auch vom Sokrates berichtet, mag den anregenden Lehrer nur die Dinge reden lassen, die er wirklich gesprochen hat, Plato aber machte aus Sokrates einen Begriff, eine poetische Individualität, wie sie der Dramatiker schafft. Sokrates spricht beim Plato, was Plato will. Und Sokrates wird dafür im Jenseits nicht mit Plato zürnen. Der Vater ist verantwortlich für den Sohn, der Staat für den Bürger (Bettina führt diese Pflicht mit besonderer Vorliebe aus,) der Lehrer für den Schüler. Von großen Menschen bleiben die Genien nachwirkend und leben fort in dem, was aus ihrem Geist geboren wird. Und so ist auch jenes Dämonion, jene höhere Weihe und plötzliche Offenbarung, was der Frau Rath innewohnte, wie dem Sokrates, nicht mit ihr verweht und verflogen, sondern hat mit geisterhaften Fittichen auch ihren Sohn Wolfgang umrauscht und umrauscht noch jetzt Bettinen, die es wagen darf, den kühnen Heldengeist jener Frau mitten unter den Truggespenstern des Tages zu zitiren und sie von den Grimm’s, von Ranke und Humbold reden zu lassen, als wenn sie vom Pfarrer Stein und dem Bürgermeister von Holzhausen redete.
Der erste Band des Königsbuches ist der Religion, der zweite dem Staate gewidmet. Die Beweisführung in beiden ist die des ursprünglichsten Radikalismus. Ein Geist, gefesselt seit Jahrhunderten an Vorurtheil, Lug und Trug, ein Genius, niedergehalten von tausend Rücksichten der Selbsttäuschung und Denkohnmacht, scheint sich hier zu erheben, wie Pegasus aus dem Joche auffliegt mit seinen geflügelten Hufen, der Bahn der Sonnenrosse zu. Wie die rosenfingrige Eos streut Bettina Morgenröthe aus. Sie hat die Tafeln eines neuen Gesetzes in ihren kühnen Händen, noch sind sie leer, aber nicht ein Wort der Lügen, die darauf standen und die sie mit dem Hauche ihres Mundes von ihnen tilgte, wird wieder auf ihnen stehen dürfen. Sie giebt Negation, aber in der Negation die vollste Positivität des freien Menschengeistes. Diese Freiheit ist keine indische. Sie ist kein Behagen, keine träumerische Wollust in sich selbst, sondern ringende, kämpfende Freiheit, griechische Freiheit, wie sie sich in der Palästra, in der Akademie, auf den olympischen Spielen erprobte. Auch diese Freiheit baut, aber nicht lichtscheue Kapellen im Waldesdunkel, sondern freischwebende Warten und Tempel auf den luftigen Bergeshöhen. Die blinkende Art bahnt den Weg durch Gestrüpp und Genist nicht in’s blinde, wilde Ungefähr hinein, sondern nach einem erhabenen, edlen Plane, nach einem Grundrisse, der das All umfaßt, Gotteswürde und Menschenwohl. Sie ist conservativ diese Polemik im höchsten, im majestätischen Styl; denn was verdiente mehr con-659servirt zu werden, als die Natur, die Vernunft und der freie Geist!
Die übliche, salarirte, verdammende und seligsprechende Theologie unserer Zeit wird über den ersten Band ihr schwarzes Kleid zerreißen und siebenmal Wehe! rufen. Dieser erste Band steht vom christlichen Standpunkte auf dem Fundament einer absoluten Glaubensunfähigkeit. Bettina weis’t hier jede Vermittlung zwischen der Vernunft und dem Dogma ab. Kein mystisches Blinzeln mehr mit den geheimnißvollen Möglichkeiten der Nachtseite des Lebens, keine Deutung mehr, keine Allegorie, sondern die einfache Frage: Kann Wein Wasser, kann Wasser Wein werden? Man sage nicht, daß sich Bettina durch diese absolute Negation des Christenthums ganz aus den Voraussetzungen der modernen Welt hinauseskamotirt. Ein Blick auf unsere Zeit und ihre wissenschaftlichen Kämpfe lehrt, daß für die Freiheit schon unendlich viel gewonnen wäre, könnten wir nur auf der Hälfte des Weges, den Bettina schon zurücklegte, Hütten und Zelte bauen, geschweige Kirchen im Sinne dieser Hälfte. Der Erfolg dieses Buches, wie weit er dem der freisinnigen Theologie unserer Tage zu Hülfe kommen wird, läßt sich noch nicht ermessen. Erst muß die wilde Jagd der Gegner kommen. Warten wir die Gespenster der Wolfsschlucht ab!
661 Eingreifender aber noch und unmittelbarer wirkend ist der zweite Band. Man hat diese Parthie des Buches communistisch genannt. Man höre, was er enthält und erstaune über dies sonderbare Neuwort: Communismus. Ist die heißeste, glühendste Menschenliebe Communismus, dann steht zu erwarten, daß der Communismus viele Anhänger finden wird.
Dieser zweite Band ist den Verbrechern und den Armen gewidmet. Man hat schon drucken lassen, Bettina wolle die Verbrecher zu Märtyrern stempeln und zöge die Diebe den ehrlichen Leuten vor. Das Letzte ist kindisch, das Erste ist wahr. Man schreibt so viel Bände über die Gefängnisse, über die Verbrecher, über die Straftheorieen, man stiftet auch Besserungsanstalten, und doch bleibt es unwiderleglich, daß die wahre Politik, die Politik im Lichte unserer Zeit, die seyn sollte, den Verbrechen zuvorzukommen. Mögen wir nun an die ursprünglich gute oder ursprünglich böse Menschennatur glauben, so haben wir doch wenigstens von unserer Erziehung und Bildung einen so hohen Begriff, daß wir von ihrer Anwendung auf die Menschennatur Wunder voraussetzen. Warum verrichten wir diese Wunder so selten? Warum mißlingen sie so oft? Unsere gewöhnlichen Quacksalbereien müssen doch wohl nicht ausreichen, um die immer garstiger werdenden Schäden der Gesellschaft zu heilen. Die alte Leier von den Volksschulen u. s. w. ist ganz verstimmt, sie lockt keinen Hund mehr vom Ofen, geschweige daß sie bezauberte und Menschen zu Menschen machte. Der Cholera gegenüber war es mit aller Medizin aus. Da schuf man neue Spitäler, neue Quarantänen, neue Gesundheitsdistrikte und behielt vom Alten nichts mehr, als höchstens die sonst so verachteten Hausmittel. Nun, die moralische Cholera ist da: jeder Winter z. B. in Berlin bringt die sittliche Brechruhr, nicht etwa sporadisch, sondern so allgemein, daß die Gefängnisse keinen Platz haben. Guter Gott, man vermehrt die Zahl der Nachtwächter und Gensd’armen, die Bürger treten zusammen und bilden unter sich eine Sicherheitsgarde. Einer sperrt sich ab gegen den Andern und der Störer dieses atomistischen Staates wird unschädlich gemacht. Wenn eine solche Politik von der Noth des nächsten Augenblicks geboten wird, so muß man sie gelten lassen; erhebt man aber ihren praktischen Werth zu einer theoretischen, dauernden Bedeutung, so frägt man billig, ist die christliche Welt darum achtzehnhundert Jahre alt geworden? Giebt es keinen Ausweg, die Verbrechen schon im Keime zu ersticken? Ist der Staat immer und ewig nur ein Conglomerat von Egoismus, in dem sich nur Der lauter, rein und glücklich erhält, den gleich bei der Wiege die holde Gunst des Zufalls angelächelt hat?
Neulich hat ein Geistlicher an einem vielbesprochenen Grabe ein herrliches Wort gesagt. Die Leiche des im Duell gefallenen Herrn von Göler in Carlsruhe wurde bestattet und der Geistliche, der keinen Beruf hatte, dieser Leiche so zu schmeicheln, wie es die Zeitungen gethan hatten, äußerte in seiner würdigen Rede, als er vom Duell sprach: Er müßte für das Christenthum erröthen, wenn er bedächte, daß 662 der milde Geist der Christuslehre noch so wenig in die Menschheit eingedrungen wäre, um nicht Vorkommnisse, wie jenen Streit, für immer unmöglich zu machen. Er sagte: Erröthen! Der Geistliche, ein frommer Diener des Wortes, erröthete für die geringe Wirkung seiner Lehre. Erröthet wohl ein Beamter für den Staat, der ihn besoldet, ein Minister für die Lappalien, die er in seinem Portefeuille einschließt, erröthen unsere Richter für die Verbrecher? Nein. Höchstens der arme Knecht zittert, der die Delinquenten abthun muß. Was nennen sie denn noch im neunzehnten Jahrhundert Politik? Was conserviren denn unsere großen Staatsmänner nur als sich? Wie ist es möglich, daß durch diese Politik der Bureaukratie, der Edikte, der Verbote, der Allianzen, Paraden, Gleichgewichtsinteressen u. s. w. ein Lichtstrahl jener wahrhaft conservativen Politik dringen kann, die vor allen Dingen den Menschen dem Menschen bewahrt? Bettina erhebt sich, wenn sie auf dieses Gebiet kommt, zur Seherin, zur Prophetin. Sie richtet an den König, dem sie ihr Buch gewidmet hat, so hinreißende, so feurige Apostrophen, daß es rührend ist, wenn man sich sagen müßte, der Brief ist unsterblich, aber er wird seine irdische Adresse verfehlen.
Wer im zweiten Bande jede Behauptung der Frau Rath wörtlich verstehen wollte, bewiese nur, daß er zu den Langweiligen gehört. Kein Langweiliger hat Sinn für den Humor. Humoristisch ist aber ein großer Theil der sittlichen Revolutionen zu verstehen, die die kühne Opponentin mit den Verbrechern zu stiften vorschlägt. Es ist ihr wahrhaftig nicht darum zu thun, einen Räuberhauptmann zum Feldherrn, einen Schinderhannes zum Kriegsminister zu machen, sondern sie beklagt in greller, ihr eigenthümlicher Ausdrucksweise, daß das Capital von Muth, Schlauheit und Standhaftigkeit, was von den Verbrechern consumirt wird, nicht auf edlere und dem Gesammtwohl nützliche Zwecke verwandt wird. Die Dialektik dieser Beweisführungen ist theils Überzeugung, theils Neckerei. Es ist durchaus ein Platonisch-Sokratischer Geist, der die kunstvollen Gespräche belebt, mit dem Scharfsinn und dem hohen Fluge der Divination zugleich gepaart, jene Sokratische Ironie, die scherzend die schon gefangenen Vögel der Gegenparthei wieder flattern läßt, um sie nach kurzer Freiheit wieder auf’s Neue einzufangen. Fast im schäumenden Übermaaß dieser Ironie sind die „Gespräche mit einer französischen Atzel“ geschrieben. Hier ist selbst die Frau Rath die überflügelte. Der schwarze Vogel auf dem Ofen mit seinen klugen Augen, seiner kecken Federhaube auf dem Kopfe, scheint ein verzauberter Höllenbote zu seyn. Der kleine Spitzbube wettert und schimpft, wie ein Kapuziner, der nicht dem Himmel, sondern dem Teufel dient. Er möchte, daß die ganze Welt des Teufels wäre und schwätzt die Dinge, die oben stehen, kopfüber nach unten und umgekehrt. Es wird nicht an Leuten fehlen, die die Elster beim Wort nehmen und ihre wilden Plaudereien als baare Blasphemie an die geistlich-weltliche Hermandad denunziren werden. Bettina wäre mit der phantastischen Lyrik ihrer Seele humoristisch genug, für die Atzel aufzutreten und sie zu vertheidigen, wie einst auf einem Conzil sogar die Heuschrecken ihren Anwald fanden. Verschluckte einst eine Ratte eine Hostie und verrichtete Wunder, warum soll der Teufel nicht in eine Atzel fahren? Die Polemik, die nächstens die evangelische Kirchenzeitung gegen diese Atzel eröffnen wird, wird sehr komisch seyn.
Das ausgezeichnete Werk behandelt aber zu ernste Fragen, als daß es komisch schließen dürfte. Es schließt mit dem Septimenaccord des tiefsten Schmerzes, es schließt erschütternd, herzzerreißend, tragisch. Wessen Auge über dieser Schilderung des Elends im Berliner Voigtlande verweilen kann, ohne in Thränen zu schwimmen, der muß ein Herz von Marmelstein haben. Bettina theilt die Aufzeichnungen eines edlen Menschen mit, der in dem sogenannten Berliner Voigtlande die von der Armuth bewohnten Häuser durchwanderte, an die Thüren pochte, eintrat und sich nach den bittern Lebensumständen, die hier zusammengepfercht sind, gründlich erkundigte. Die Namen sind genannt, die Thüren bezeichnet, hier hört jede Fiktion auf. Tausende von Menschen leben hier in Hunger und Kummer, schlafen auf Stroh, stündlich gewärtig, ausgepfändet und auf die Straße geworfen zu werden mit Greisen und Säuglingen, im ewigen Kampf, entweder zu hungern oder zu betteln oder aus Verzweiflung zu stehlen, gehetzt von der Polizei und verlassen von jener Behörde, die ihr nächster Schutz und Schirm seyn sollte, der städtischen Armendirektion. Für die Mittheilung dieses Gemäldes verdient Bettina den Dank jedes fühlenden Herzens. Jede Thräne dieses Bildes wiegt die kostbarsten Brillanten einer stylistischen Phantasie auf; dieser ächte, lebenswahre Murillo steht höher als jede idealische Transfiguration. Es kriecht Ungeziefer durch diese Farben, aber die Farben sind ächt und der Fürst, dem sie ihr Buch widmete, hat in dem Augenblick, als er diese Schilderung las, sicher einen Hofball abbestellt, sicher die Zurüstungen eines glänzenden, nur Staub aufwühlenden Manoeuvres auf die Hälfte des 663 angesetzten Etats reduzirt. Denn nicht die Armuth allein durchschneidet hier unser Herz, nein, auch die Schilderung der Tugenden, die noch in der Verzweiflung dieser Menschen nicht erstorben sind, die Schilderung einer hochherzigen Anhänglichkeit an das Vaterland und den Fürsten, die sich selbst in diesen Lumpen noch erhalten hat. Eine arme Bettlerin überbrachte der Ordenscommission fünf Orden, die ihr gestorbener Mann im Freiheitskriege erworben. Die Ordenscommission gab ihr ein für alle Mal fünf Thaler (kaum den äußern Werth der Dekorationen) und nun hungert sie. Wenn auch die hohen freisinnigen Philosopheme der kühnen Frau, die dieses Werk geschrieben, von den Menschen, die sie in dem Pfarrer und dem Bürgermeister treffend charakterisirt hat, verworfen werden, von diesem Anhang kann man nicht glauben, daß er spurlos vorübergehen wird. Nicht nur, daß die Berliner Armendirektion, eines der unpopulärsten Institute der Residenz, einer gründlichen Reorganisation unterworfen werden muß, auch die höhere, den ganzen Staat umfassende, ja ich nenne sie die communistische Frage: was soll geschehen, um den Menschen dem Menschen zu retten, das Band der Bruderliebe wieder anzuknüpfen und einer unheilschwangern, furchtbar drohenden Zukunft vorzubeugen? diese Frage wird um Antwort drängen und die Antwort wird nicht in Phrasen, nicht in Almosen, sondern in durchgreifenden Schöpfungen bestehen müssen. Und der edlen Frau, die diese Frage dicht an den Stufen des Throns aufwirft, auf dem Parkett der eximirten Gesellschaft, unter Luxus, sybaritischer Indolenz und transcendentaler, nichtsnütziger Nasen- und Bonzenweisheit, dieser edlen Frau steht der bescheidene Feldblumenkranz eines solchen Verdienstes prangender, als weiland ihre schönsten Blumenkronen aus der Periode ihrer romantischen Naturmystik.
Mit beklommener Erwartung sehen Alle Die, welche von dem Buche ergriffen wurden, nun auf Den, dem es gewidmet ist. Numa Pompilius hatte seine Egeria, eine geheimnißvolle Sybille, die ihm die Weisheit lehrte, mit der er Rom aus einem Räuberstaate zu einem geordneten Gemeinwesen erhob. Der König von Preußen wird Bettinen nicht zu seinem ersten Minister machen, aber er hat ihr Buch in der Handschrift durchblättert, er hat die Widmung gestattet und es mit seinen tausend censurwidrigen Freiheiten vorweg gegen die Verfolgung der Polizei in Schutz genommen. So darf Deutschland und Preußen insbesondere hoffen, daß von der mächtigen Beredsamkeit einer Feuerseele, die hier im Namen der Zeit wie eine Prophetin am Wege, ihn angesprochen, wenn nicht ein begeisternder Funke, der zur That zündet, doch eine warme Erregung, die Schonung und Duldung übt, in ihm zurückgeblieben ist.
Frankfurt a. M. den 1. October 1843.
Apparat#
Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Gutzkows Rezension von Bettina von Arnims "Dies Buch gehört dem König" erschien zuerst 1843 im "Telegraph für Deutschland". Schon wenig später nahm Gutzkow den Text fast unverändert in seinen Sammelband Aus der Zeit und dem Leben auf. Diese Buchausgabe benutzte er später als Textgrundlage für den dritten Druck seines Beitrages: Unter dem Titel Bettinens Königsbuch wurde dieser - wieder nur mit minimalen Änderungen - 1875 in die erweiterte Neuausgabe der Oeffentlichen Charaktere integriert, Band 9 der zweiten Ausgabe der Gesammelten Werke. Hier fügt Gutzkow als Titelzusatz das Jahr der Erstveröffentlichung 1843 hinzu.
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
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2.1.1. Texteingriffe#
4,18 ursprünglichsten ursprüglichsten
5,25 dem der freisinnigen der der freisinnigen
8,13 Divination Devination
Kommentar#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.