Studien über das Negligé#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Martina Lauster
Fassung
1.1: Überführung nach TEI
Letzte Bearbeitung
13.06.2021

Text#

17 Studien über das Negligé.#

„Viel Glück in Rom und Griechenland!“ sagte so eben das kleine Wesen, das mich nun doch so weit gebracht hat, mit ihm den ersten Versuch in den Flitterwochen zu machen. Jezt sind es gerade zwei Tage und drei Nächte, seit sie den ersten schüchternen Tritt über meine Schwelle sezte, da sie bittend und lächelnd an mir aufsah und die ganze Herrlichkeit ihrer neuen Lage nur in dem gewohnten Spiegel meines Auges sehen wollte. Du Gute! wie bald hast du dich mit deinen neuen Sphären vertraut gemacht, wie sicher ist deine Kenntniß aller Ecken und Winkel, deren Räthsel sich dir bald aufschlossen, mit welcher Zuversicht blickt dein ordnendes Auge, waltet deine schöpferische Hand durch die kleinen Räume, von denen ich früher nie geglaubt hätte, daß es nur chaotische Anarchie sey, die da einen Stuhl, hier einen runden, dort einen langen Tisch hinstellte! Und hätten meine staubigen, schweinsledernen Civilisten, dieses dintengesprenkelte Schreibepult, diese zusammengebundenen Hunderte von Schreibfedern jemals geahnt, daß an die Stelle ihres mürrischen Herrn eine weibliche Hand treten könnte, die die ersten von ihrem gelehrten Puderstaube reinigen, das zweite zu einem erträglichen Möbel umschaffen und die lezten endlich der Fahnen berauben würde, von denen sie erfahren hat, daß sie mir beim Schreiben immer so hinderlich sind? Ich selbst werde Zeit brauchen, mich an diese Neuerungen zu gewöhnen. Ist es mir doch, als hätten meine Perioden, ja selbst meine Gedanken an Schwung verloren, seitdem meine Schreibfedern ihrer Flügel beraubt sind. O, wie ironisch klang dieses: viel Glück in Rom und Griechenland! Die Theure hat mir selbst den Kiel zugespizt, noch einmal einen zärtlichen Abschiedsblick zugeworfen, ich kehre ihr meinen halben Rücken zu und erstaune, daß selbst mein vor mir liegender Papierbogen, dessen weiße, öde Leere mich zur Eile mahnt, von ihrer geschäftigen Hand schon zusammengelegt ist. Jezt denkt sie mich hundert Meilen von hier entfernt. Sie glaubt sicher, ich steige allmählig heraus aus der Gegenwart, eile durch den sieben-, durch den dreißigjährigen Krieg, es thun sich mir die hohen Portale des Mittelalters auf, ich ziehe meine Landstraße durch das Interregnum, hier einem Wegelagerer, dort dem verführerischen Saitenspiel eines Minnesängers ausgesezt; vielleicht glaubt sie mich jezt schon an Artus Tafelrunde oder turnierend vor Karl dem Großen, begierig nach dem schönen Preise ihrer Lieblingsfarben. Wie seufzt sie, daß ich noch nicht inne halte! Die Pforten des Alterthums rauschen auf, im eroberten, von wilden Völkern zertretenen Italien wird es heller und lichter, die zertrümmerten Statuen richten sich empor, die Tempel steigen mit ihren Säulen in die blaue, freundliche Luft, die von dem Rufe siegreicher Römer wiederhallt. Sie weiß es, daß man mich auf dem Forum erwartet, daß ich die Edikte der Prätoren erklären soll und mit bündigen Schlüssen darlegen will, wie sich Spuren zu der später gegebenen Lex 18 Papia Poppäa schon um die Zeiten der Scipionen und Gracchen finden. Die Quellen fließen rings um mich her, sämmtliche Historiker der Griechen und Römer und alle römischen Juristen mit ihren langen, häßlichen Namen, ihrer Weisheit und ihren kleinen Albernheiten liegen um mich ausgebreitet, die Beweisstellen sind mit rother Dinte unterstrichen und auf kleine weiße Zettelchen von ihrer eigenen Hand, dieser weichen, runden Hand so sauber und elegant kopirt, daß schon vor diesem Argumente die, wie jeder andre, menschlichschwachen Ritter, Hugo und Mackeldey, erröthen müßten. Wenn sie aber wüßte, welcher Gedanke mich in diesem Augenblicke beschäftigt! Warum mußte sie nur heute ihr Haar in diese reizende Form bringen? warum die Schleife ihres blauen und goldnen Perlennetzes in jene verfängliche Gegend zwischen dem Scheitelstriche der Locken und der linken Schläfe verlegen? warum gerade dieses Juste Milieu der Schnallenlöcher ihres Leibgürtels wählen, daß ich zweifeln muß, ob sich ihr Kleid eng oder nur lose an die plastische Fülle ihres Leibes schmiegt? Mit einem Wort, ich werde den Gajus und den Tribonian an den Nagel hängen, wenn ich nicht bald von dem Zauber dieses Negligés befreit bin.

Die Kunst hatte alle ihre Epochen durchgemacht, ehe ein Winkelmann und Lessing die Grundsätze, nach denen die ausgezeichnetsten Geister aller Zeiten verfahren sind, zusammenstellten und in eine Art System brachten. Die Kunst der weiblichen Toilette hat sich bis jezt noch vergeblich nach ihrem Theoretiker umgesehen. Welch reiche Materialien liegen nicht vor uns! Wie viel Erfahrungen sind in dieser Hinsicht nicht gemacht worden! wie viel neue Seiten könnte ein feiner Blick für diesen Gegenstand auffinden, welch räthselhafte Wege des menschlichen Geistes ein lauschender Blick hinter einer Gardine nachzeichnen! Man hat die Kunst, dem menschlichen Angesichte durch weiße und alle Nüancen rother Farben einen täuschenden Schein der Schönheit und Jugend zu geben, für die darstellende Kunst des Mimen benuzt. Man hat die Beine der Menschen und ihre Bewegungen in ein System gebracht, die Schritte nach einigen abstrakten Schönheitsregeln auf Zolle und Linien ausgemessen, die Sprünge nach dem Takte einer gewissen Methodik auf Intervallen und Distancen berechnet und die Bühne mit einer Kunst bereichert, die so bedeutsame Folgen für die Theorien der Aesthetiker, für die Leidenschaften der Großen, für die Kassen des Staats und die Tendenzen unsrer Zeit nach sich gezogen hat. Dieß ist für die Kunst aber noch immer erst eine sehr tiefe Stufe. Die Wissenschaft und das Herz gewinnen dabei wenig. Die unmittelbare Richtung auf das Praktische der Anwendung störte die Tiefe der Untersuchung. Man machte aus der Theorie eine Technik und würdigte die Lehrsätze jener zu Handgriffen dieser herab. Wo ist hier das alte Räthsel gelöst worden, dessen Ahnung nur selten einer erleuchteten Stunde gelang, das Räthsel des Zusammenhanges zwischen den todten Gesetzen der Kunst und dem lebendigen Hauche der Natur? das Räthsel des Uebergangs aus einem Reiche des Ideals in das andere? das göttliche Räthsel des ersten Anfangs und des lezten Zweckes? Hier geht der Weg nach Rhodus! Hier tanze man!

22 Will man die große Aufgabe erreichen, zwischen den einzelnen Musen die vollkommene Harmonie einer Idee der Schönheit herzustellen, so darf man vor allen Dingen diese nicht länger als Sklavinnen behandeln. Die Eine darf nicht die Magd der Andern seyn, die Dichtkunst z. B. nicht dazu dienen, nur den Effekt der Mimik zu erhöhen. Ja, so lange dieses System einer wechselseitigen Assekuranz unter den Künsten bestehen wird, vermag sich keine derselben zu einer großartigen Selbstständigkeit, keine zu jener Vollkommenheit, die man den Mikrokosmus des Ideals nennen dürfte, zu verklären. Hier ist der Ort, wo eine als System so bescheidene, in ihrer Anwendung aber allerdings gigantische Kunst aus ihrer bisherigen Vernachläßigung hervortritt. Das ganze Lehrgebäude der weiblichen Toilette, wie es sich aus den einleitenden Vorbemerkungen über die Geschichte der Moden und Trachten, aus den einzelnen Kapiteln der Frisur, des Kleiderschnitts, aus den Unterabtheilungen über Locken, Touren, Taillen, endlich aus den Korollarien und andeutenden Winken über silberne oder goldene Haarnadeln, über Form der Ohrringe, Verknüpfung der Schuhbänder zusammensetzen ließe, vermag die meisten der hier einschlagenden Fragen sehr einleuchtend zu beantworten. Wie entsteht die Kunst? Was dachte man an der Wiege der Menschheit von ihr? Was meinte Hegel darüber? Die Menschen, sagte er, wollten heraus aus ihrer thierischen Haut, sie hatten eine abstrakte Idee des Außersichseyns; unstreitig gerieth der erste Künstler außer sich. Was lehrte Plato daüber? Er nannte die Kunst den Ausfluß der göttlichen Liebe, er war es, der dem Entzücken des Künstlers die ersten Worte lieh, er zeigte die Erde in ihrer süßen Umarmung mit dem Himmel. Was sagte Aristoteles? Er nannte die Künstler die Vollender der Schöpfung, er wies nach, daß der siebente 23 Tag der Schöpfung das Entzücken Gottes, das ewige Entzücken der Kunst war. So urtheilten die Weisen. Ihre Erklärer verstanden niemals ihren Sinn, wenn sie die Antiquitäten für die ausreichenden Belege dieser Ansichten hielten. Die symbolischen Nachbildungen der Natur, welche die religiöse Scheu zur Beruhigung ihres geängsteten Gewissens versuchte, sind eine unendlich spätere Stufe der Kunst, obschon sie Jedermann für die älteste hält. Der erste Blick, den die gute Großmutter des Menschengeschlechts in den Spiegel eines paradiesischen Sees warf, ließ sie das süße Gift der Schmeichelei kosten. Wie entzückt mag sie nach ihrem zitternden Busen gegriffen haben! Wie sehnsüchtig mußten ihre Arme sich öffnen, um das reizende Abbild ihrer Schönheit zu umfangen! Jezt sieht sie eine Rose; warum erröthet sie, als der Gatte eilt, sie zu brechen, und sie in ihre zögernde Hand legt? Sie ist noch kindisch, sie will das Geschenk immer vor Augen haben, und heftet es vor ihren Busen. Jezt vergleicht sie die Farbe der glänzenden Haut mit dem dunkeln Haare, das ihr auf die Schultern wallt, sie zittert bei der Ahnung des schönen Verhältnisses, das wir jezt Folie nennen, und bringt das schwellende Roth der Blume auf den glänzendschwarzen Grund ihres Haares. So hat die Toilette angefangen; so ist die Kunst an der Hand der Natur groß geworden, so hat ihre Harmonie in Jahrtausenden Erstaunliches geleistet.

Aber ich vergesse, daß ich von der Lex Papia Poppäa, ich meine vom Negligé meiner Frau sprechen wollte. In jeder Wissenschaft finden sich Begriffe und Verhältnisse, die der Ordnung des Systems Hohn zu sprechen scheinen. Wie vortrefflich man die verschiedenen Gattungen der Pflanzen ihren Merkmalen nach geordnet hat, so hat doch selbst Jussieu für manche Erscheinungen keinen allgemeinen Begriff aufstellen können. Ueber denselben Mangel beklagen sich die Mineralogen, die Physiologen und vor Allen die Theoretiker der Kunst. Dieselbe Schwierigkeit scheint das Negligé in seinem Verhältnisse zu den allgemeinen Gesetzen der weiblichen Toilette zu veranlassen. Welche Stellung soll eine Tracht, die man regellos nennt, unter den Gesetzen der Bekleidung einnehmen? kann man die Gesetzlosigkeit zur Regel erheben? kann man die Anarchie zu einer Nothwendigkeit machen? Ich will die Sonderbarkeit dieser Fragen zu mildern suchen.

Eine der merkwürdigsten Erscheinungen des achtzehnten Jahrhunderts ist die Reaktion des englischen Geschmacks auf den französischen. Während Montesquieu den Geist der Gesetze entfesselte und die Verfassung des englischen Reichs zur Grundlage seiner politischen Ideale machte, während die großen Rechenkünstler Albions auf die Verlegenheiten der französischen Finanzen und die Finsterniß der Unwissenheit, wie man ihnen abhelfen sollte, ein aufklärendes Licht warfen, nahm auch die Sitte des Lebens und die Regel der Bekleidung die Veranlassungen zum Nachdenken über ihre Vervollkommnung aus England. Die Stelle des Festkleides Ludwigs XIV., das erst kurz vorher durch die Idee der langen Westen auffallende Beschränkungen erlitten hatte, vertrat der lange englische Oberrock; man fand die Stülpen an den Stiefeln schön, und befolgte den Vorgang, den der Herzog von Orleans mit vieler Kühnheit in den Neuerungen gemacht hatte. Die Frauen blieben hinter diesem Beispiele nicht zurück. Die Stunde der Emanzipation von ihrer alten Garderobe hatte geschlagen. Jezt warfen sie die lästigen, tausendfaltigen, bleigestüzten Röcke ab, zerstörten mit muthwilliger Laune die Klassizität ihrer alten Coiffüren, und die entfesselten, schönen Leiber athmeten bei der Nähe der spielenden Luft freier und ungebundener. Zur Grazie gesellte sich die Melancholie. Man fing an, von dem interessanten Ausdruck des Gesichts zu sprechen, fand einen leidenden, blassen Anhauch desselben reizender als jene rosenfarbnen Wangen, deren Mangel so lange der Schminktopf, die Schönheitspflästerchen und die Maske verdeckt hatten. Den alten Regeln der Toilette drohte eine fürchterliche Vergessenheit. Die Mittel zur Schönheit vereinfachten sich, man suchte sich mit einer gewissen Oekonomie zu behelfen und fing an, darüber nachzudenken, ob die Quellen der Reize auf dem Grund und Boden des eigenen Körpers nicht ergiebiger flössen, als in fremden Hülfsmitteln. Seitdem ist man aufmerksamer geworden auf die geheime Sprache, die in den menschlichen Formen liegt, man hat auf die Bewegungen des Körpers gelauscht, ihn unter tausend Beleuchtungen gestellt, und alle die Entdeckungen an ihm gemacht, die nur der Scharfblick des weiblichen Auges und ihr natürlicher Geschmack auffinden konnte. Die scheinbare Unordnung der neuen Kostüme mußte die Männer bezaubern, die Männer, die seitdem nicht mehr aus der schönen Illusion gerissen wurden, ihre Begegnung mit dem zweiten Geschlechte sey eine ewige Ueberraschung bei den heimlichen Anfängen der Toilette. Wie die damals so viel Aufsehen erregende Verschwörung von Cellamare nur ein blinder Lärm war, ich weiß nicht, um welche Zwecke zu erreichen, so rief man im Gebiet der Toilette den Zustand einer künstlichen Anarchie hervor. In einem scheinbar regellosen Aufzuge nahmen die Schönen ihre Morgenbesuche an; dieselbe Leichtigkeit auf ihren Spazierfahrten, dieselbe Nachlässigkeit in den Logen des Theaters. Die Locken, der durchsichtige Flor, der kurze Schleier, das Busentuch sind die Erfindungen, die wir diesem Zeitraume verdanken. Der Zauber des Versteckten, die Willkühr des Faltenwurfs, die Beherrschung der körperlichen Form durch die Lage des Gürtels, das sind die ästhetischen Ruhepunkte, die für die Untersuchun-24gen des denkenden Künstlers seitdem so entscheidend geworden sind.

26 Es kann zweifelhaft scheinen, ob das Negligé die Erfindung der Koketterie, oder Folge einer Begeisterung für die Natur ist. Die Gründe für beide Behauptungen richten wenig aus, weil zulezt immer die Aufnahme des Negligés, die Einführung dieser Idee in die Wirklichkeit der Gesellschaft, von der Ueberzeugung muß abgehangen haben, ihre Adoption könne den frühern Wirkungen keinen Abbruch thun, müsse ihnen vielmehr eine größere Wahrscheinlichkeit geben. Dennoch bleibt die Hauptfrage übrig: welches ist der Grundsatz des Negligés? und die noch wichtigere: was hat durch diesen die Idee der Kunst gewonnen? Ich begnüge mich, zur Lösung dieser Fragen einige Winke zu geben.

Zuerst ist es merkwürdig, daß die Erfindung des Negligés, wie die der Buchdruckerkunst und des Schießpulvers, der neuen Zeit vorbehalten war. Man lese Hartmanns Hebräerin am Putztische, Böttigers Sabina, und man wird die Schönheiten des Alterthums (von denen des Mittelalters kann in Hinsicht auf Schönheit der Tracht keine Rede seyn) überall nur ängstlich bemüht finden, sich mit Zierrathen zu überladen, niemals, ihre natürlichen Reize mit den künstlichen auszugleichen. Ja, man mußte erst so weit gekommen seyn, alle möglichen Trachten versucht, man mußte die Unnatur bis zu diesem Gipfel getrieben haben, daß sich der Wulst der Bekleidung gleichsam als ein zweites Ich an den Körper anlegte, ehe man die Sprache Rousseaus und des Jahrhunderts verstehen lernte, ehe man die Vorzüge des Nackten zu schätzen wußte. Das Negligé ist gleichsam die zum Bewußtseyn gekommene Tracht, das Negligé ist die konkrete Tracht. Das Negligé hat uns gelehrt, daß es eine Philosophie des Kostüms geben muß. Es wird keine Mode mehr den Lauf um die Welt machen, wenn ihre Grundlage nicht das Negligé ist. Man wird sich nie spanisch, nicht italienisch, schottisch, 27 polnisch kleiden, wenn alle diese Kostüms mehr zu seyn vorgeben wollten, als eine interessante Modifikation des Negligés. Eine Wienerin wird nie so sehr Türkin werden, daß man an dem Turban, an dem langen Faltengewande, dem kostbaren Schleier nicht merken müßte, sie wolle damit nur gewisse Schönheitslinien ihres Negligés schärfer bestimmen und hervorheben. Alle Moden müssen zu den unbestimmten zehn Geboten des Katechismus für das Negligé gleichsam das erklärende: Was ist das? seyn. Das ist die weltgeschichtliche Bedeutung des Negligés.

Manche Theoretiker, das heißt einige unliebenswürdige Pedanten und Ehemänner, wollen sich zu der neuen Lehre des Negligés noch nicht bekennen. Ich will gegen sie gerecht seyn und darin noch keinen Beweis eines mangelnden Sinnes für das Schöne finden. Ich will glauben, daß sie für die mürrischen Anforderungen, die sie an die Toilette ihrer Frauen machen, nur moralische Gründe haben. Ich will jene kompakten, zugeknöpften, unausstehlichen Bekleidungen einer falschen Schlußfolge zu Gute halten. Sie berufen sich nämlich auf die erste Anwendung, die man vom Negligé gemacht hat: sie reden von der französischen Revolution. Allerdings gingen die tollen Weiber jener Zeit in paradiesischer Naktheit vor den Augen aller Welt einher, der Sanscülottismus hatte sich der Unter- und Oberröcke bemächtigt, man mußte gestehen, daß das Negligé hier über die Grenzen eines gewissen Anstandes hinaus getrieben wurde. Es war die falsche Anwendung einer Wahrheit, die dem richtigen Gebrauch derselben immer vorangeht. Ja, man kann sagen, daß jene unverschämte Nacktheit nicht einmal in der Sittenlosigkeit, sondern allerdings in der Consequenz eines Systems ihren Grund hatte. Warum entblößte man die Schultern? warum zog die Ehrbarkeit den Vorhang von ihren Mysterien? Um ein lüsternes Auge auf sich zu ziehen? um eine Eroberung zu machen? Keineswegs; man wollte offenherzig seyn, und löste das Gürtelband. Man wollte der Wahrheit die Ehre geben, und warf die Lüge der Unterröcke von sich. Man wollte Republikanerin, Griechin und Römerin seyn, und bediente sich nur eines einzigen Gewandes, das zum Schutze gegen die Luft hinreichend schien. Darin erkennt man eine Ahnung jenes Grundsatzes, den ich vorhin für das Negligé aufgestellt habe. Die Klassizität des antiken Republikanismus war an der Tagesordnung. Man wollte in dem Palais d’Egalité nur Erinnerungen an die Freiheit, auf dem Revolutionsplatze nur römische Tugenden, in den Theatern für griechische Schauspiele auch griechische Zuhörer. Die Männer bekleideten sich mit der römischen Toga, sie trugen römische Schuhe, warfen römische Mäntel um ihre stolzen Nacken; die Frauen nicht anders. Es war Begeisterung für die Freiheit, nicht Schamlosigkeit, die hier den Ton angab. Ja, es war der erste große Triumph, den das Negligé feierte, und das erste schlagende Beispiel, das ich für meinen Satz brauchte. Wann werden sich also die Männer belehren lassen? Wann werden sie einsehen, daß ihr Widerwille gegen eine so reizende Tendenz unserer Zeit, gegen das Negligé, nur ein unbegründetes Vorurtheil ist?

Wie froh bin ich aber, daß ich mich in der That wieder den Römern genähert habe! Mein Ehegemahl fragt mich so eben, ob ich denn meine Gegner noch nicht bald vernichtet habe? Ich kann sie jezt dessen mit bestem Gewissen versichern und ihr sorglos meine Heimkehr aus Rom ankündigen. Sie will mich dafür küssen, daß ich die Lex Papia Poppäa aufgeklärt habe. Habe ich diese Belohnung nicht verdient?

Apparat#

Bearbeitung: Martina Lauster, Exeter#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J. [Anon.:] Studien über das Negligé. In: Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart und Tübingen. Nr. 5, 5. Januar 1833, S. 17-18; Nr. 6, 7. Januar 1833, S. 22-24; Nr. 7, 8. Januar 1833, S. 26-27. (Rasch 3.33.01.05)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
2.1.1. Texteingriffe#

9,12 ihren Grund seinen Grund

Kommentar#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Stellenerläuterungen#