Illustration und Volksverdummung#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Christine Haug
  2. Ute Schneider
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
07.2020

Text#

846 Illustration und Volksverdummung.#

Keinem Zweifel ist es unterworfen, daß die seit einer Reihe von Jahren eingeführte Sitte der Illustrationen, bildlicher Erläuterungen zu einem gedruckten Texte, nützliche Kenntnisse, klare Anschauungen und sogar einen ästhetischen Sinn im Volke verbreitet hat. Vorzugsweise erleichterte sich dem größern Lesepublikum das Begreifen fremder Sitten, das Hineinleben in ferne Gegenden.

Die in „Illustrirten Zeitungen“ vorgeführten Scenen von Kämpfen, Repräsentations- und Ceremonialacten mögen viel willkürlich Erfundenes enthalten, regen aber die Phantasie an. Sie haben Unbekanntes und in der Regel in übernatürliche Schleier Gehülltes uns menschlich näher gerückt. Manche kühne That, manches schmerzliche Dulden hat durch die bildliche Anschauung den Sinn der Nacheiferung oder des ergebenen Ausharrens gestählt. Man kann sagen, daß die größere Steigerung des persönlichen Muthes, die eine Zugabe unserer rückgekehrten traurigen Kriegsverwilderung ist, unleugbar mit dem Anschauen so leicht vervielfältigter Kampfscenen in Tausenden von größern oder kleinern Holzschnitten zusammenhängt.

Ob sich nicht aber auch dieser Fülle von bildlichen Darstellungen, mit denen wir seit Jahr und Tag überflutet werden, manche Benachtheiligung der Bildung nachsagen läßt?

Oft schon haben wir uns von den liebedienerischen Illustrationen abgewandt, die über fürstliche Reisen, Heirathen, Kindtaufen, Bälle, Paraden u. s. w. kein Ende nehmen wollen. Oft schon haben wir mit Widerwillen Scenen des Aberglaubens, gewisse kirchliche Acte, Processionen, Fahnenweihen, Reliquienaussetzungen in 847 einer Weise von Künstlern fixirt gesehen, wo die Illustration jedem Vorurtheil die Schleppe trägt und mit einer gewissen, in den Malerkreisen nur allzu bekannten Licht- und Aufklärungsscheu dem dumpf Gedankenlosen einen verklärenden Ausdruck gibt. Die vielen Trinkgelage, die Zweckessen, die massenhaften Lustbarkeiten, mit deren Conterfei die Griffel der Künstler gerade dann beschäftigt sind, wenn sie von deutschen Vorkommnissen in „Illustrirten Zeitungen“ Kunde geben sollen, betrachtet wol schon lange jeder Patriot mit Beschämung. Dennoch ist es damit bei uns noch nicht so schlimm wie in Frankreich, wo jede Badereise, jeder Ball des kaiserlichen Hofs ein Gegenstand der Verherrlichung durch die bildliche Darstellung des Holzschnitts geworden ist.

Daß ein übermäßiges Beschäftigen der Phantasie dem Verstand eine zu lange Ruhepause gönnt, daß die vielen Bilder, mit denen zur Erkenntniß des Volks gesprochen wird, von dem Text, der sie begleitet, die Beschäftigung abziehen, ist eine erwiesene Thatsache. Wenige verweilen in „Illustrirten Zeitungen“ beim Text. Die größere Mehrzahl der Interessenten läßt sich das Anschauen der Bilder genügen. Einen Nachtheil für die Bildung der Massen, die sich durch ein Uebermaß an Illustration innerhalb dieser leichten und flüchtigen Zeitungswelt ergäbe, nachweisen oder beklagen zu wollen, dürfte grämliche Auffassung genannt werden. Anders aber ist es mit jener Literatur, die sich vorzugsweise den Zweck der Belehrung, Bildung und höhern Anregung des Volks gestellt hat.

Hier muß man zunächst der Jugend gegenüber die Ueberwucherung der Illustration verwerfen. Der Jugendunterricht ist vorzugsweise auf Anschauung begründet. Allein wie schon eine vernünftige Erziehung die Beschäftigung mit der Märchenwelt beim Kinde einzuschränken sucht, so ist auch das Uebermaß an bildlicher Darstellung mehr verderblich als die geistige Entwickelung fördernd. Ein Bilderbuch, das wie ein Orbis pictus nur einzelne Thatsachen, einzelne Begriffe erläutert, mag statt des Wortes dem Kinde in Figuren reden. Werden aber die Unterhaltungsbücher reiferer Kinder mit scenirten Darstellungen überladen, so erschlafft dadurch die Neigung des Kindes, sich um den Text zu bekümmern. Die alte Methode, Bilderbücher mit sechs bis acht Kupfern zu geben und den wahren Reiz für das jugendliche Gemüth in die Darstellung durch das Wort zu legen, ist bei weitem vorzuziehen. Wir haben die Spamer’schen Jugendschriften, die die Specialität einer einzigen Buchhandlung geworden sind, mannichfach gerühmt und empfohlen, müssen aber doch bekennen, daß das Bestreben derselben, fast auf jeder Seite ein Bild zu bringen, unpädagogisch ist. Hier überwuchert der Holzschnitt. Die Kinder finden den Reiz dieser Geschenke nur noch in der Ausstattung.

Es gibt eine große Anzahl von Zeitschriften und Kalendern, in welchen die Masse des Volks durch das Medium des Holzschnitts und einer mehr oder weniger belletristischen Darstellung für Gegenstände der Kunst und Wissenschaft gewonnen werden soll. Hier sind wir durch den Industrialismus nahezu an die Grenze des Blödsinns gekommen. Gegenstände, die im Wort und durch das Wort vollkommen für sich selbst sprechen, werden vom Zeichner wiederholt, ohne daß sich dafür irgendein Motiv anführen läßt. Wenn uns bedeutende Dichtwerke von Künstlerhand in einzelnen Scenen zerlegt werden, so wird irgendein eigenthümlicher Reiz derselben in besondern Zügen getroffen werden können. Ein Künstler wie Ludwig Richter thut soviel Selbständiges vom Seinigen zum Dichtwerk hinzu, daß man seine Freude hat, z. B. Hebel’s „Allemannische Lieder“ auch durch die Illustration des Zeichners noch einmal auf sich wirken zu lassen. Mit unserer Industrie ist es aber schon so weit gekommen, daß die gedankenloseste Bilderfabrikation nur noch als ein Zugmittel zum bessern Absatz der Schriften überhaupt benutzt wird! So steht man oft und begreift nicht, warum zum Trivialsten so viel Kapital an Zeit, Mühe und Geld verschwendet wurde.

Verdummung befördernd nennen wir jede Incongruenz zwischen Inhalt und Form, Gedanken und Ausdruck. Wird das Unbedeutende, Leere, Nichtsnutzige mit einem Aufwand behandelt, der nur dem Bedeutenden, Inhaltreichen und Tiefeingreifenden gebührt, so erzeugt dies Misverhältniß in den Köpfen der Masse jenen Horror vacui, jene After- und Misbildung des Volks, die zuweilen in treffenden Zügen Bogumil Goltz geschildert hat. Die Illustration ist an sich eine Verherrlichung. Sie setzt Leben und reichen Inhalt voraus. Die Industrie misbraucht sie aber, wenn sie auch Lebloses und Inhaltleeres schmückt. Wir sehen alljährlich hunderttausend Volkskalender verbreitet, die sich in dieser Weise in geleckter Form mit dem Nichtigsten an die Masse wenden. Ihr Inhalt würde wie Spreu verwehen, wenn nicht die Künstler in Sold genommen würden, diesen Dingen einen glänzenden Schein von Bedeutung zu geben. In solchem Falle wirkt die Illustration verdummend.

Wir könnten, um unsere Meinung zu beweisen, eine Reihe neuerschienener Volkskalender durchgehen und die so unendlich trist und ernüchternd wirkende Incongruenz zwischen Inhalt und Schmuck durch Beispiele belegen. Wir wollen beispielsweise nur den empfohlensten dieser Kalender nehmen, den von Berthold Auerbach herausgegebenen. Der nächstjährige enthält vortreffliche Beiträge von Sigismund, Andree, Virchow, auch eine vorzügliche Novelle von Gottfried Keller. Wir müssen aber an Auerbach's eigenen Mittheilungen, zwei Anekdoten, belegen, welchen Horror vacui die Illustration zurücklassen kann.

Es ist ein Fürst gestorben, heißt es, Karl August von Weimar, und die Glocken verkünden seinen Tod - Der Künstler zeichnet dazu einen Thurm mit einer Glocke! - Bauern sitzen in der Schenke und 848 besprechen den Vorfall. Der Müller Luzner erzählt ein Begegniß mit dem Herzog - Der Künstler macht einen Tisch mit Bauern und einen Alten, der ihnen erzählt - Er hätte als Müllerbursche, erzählt Luzner, eine Nacht aus seiner Mühle sehen müssen, weil es so heftig stürmte; da hätte er Feuer erblickt - Ein Müllerbursche sieht aus seiner Mühle und erblickt Feuer - Halloh! Die Feuerreiter müssen durch die Dörfer reiten und Hülfe rufen - Ein Bursche sitzt auf einem Pferd und reitet durch ein Dorf - Inzwischen zurückgekehrt, ist der Brand in vollem Gange und der Herzog selbst nebst seinem Freunde Goethe sind beim Löschen - Ein Brand und zwei Männer, die ihm vom Pferde zusehen - „Reißt die Scheune ein, damit die Kirche gerettet wird!“ ruft der Herzog - Der Herzog hilft die Scheune einreißen - Dem Brand ist gewehrt, der Herzog wäscht sich die Hände - Der Herzog wäscht sich in einem Feuereimer die Hände - Der Herzog ist müde und ruht sich in der Kirche - Ein Mann mit einem Stern sitzt auf einer Kirchenbank und schläft - Man weckt ihn, er besteigt sein Pferd und reitet mit Goethe wieder nach Weimar zurück, das ostwärts liegt - Zwei Reiter reiten ins Feld hinaus - hinten geht die Sonne auf.

Neun Bilder wiederholen hier in absoluter Identität den Text!

Ist das volkserziehend, erhebend, mannhaft? Oder ist es nicht vielmehr kindisch?

Franklin, erzählt die andere Anekdote, hat den Blitzableiter erfunden und ein Professor in Wittenberg will ihn auf sein Haus stellen. Er bestellt eine solche Stange bei einem wittenberger jungen Schlosser - Das Bild stellt dar: Ein Professor und ein Schlosser unterhalten sich - Der Schlossermeister geht gedankenvoll nach Hause, begegnet seinem Liebchen und neckt sich mit ihm hinter einem Thorwege - Das Bild: Ein Thorweg, hinter dem zwei junge Leute kosen - Der Schlossermeister wird vor der Anfertigung des Blitzableiters als einer Erfindung des Teufels gewarnt; er kann darüber nicht schlafen - Bild: Ein Mann liegt im Bett und hat die Augen nicht zu - Dennoch geht er an die Arbeit - Bild: Ein Schlosser bearbeitet mit dem Hammer eine Stange - Der Vater seines Mädchens, ein Bäckermeister, macht ihm die bittersten Vorwürfe und versagt ihm, wenn er den Blitzableiter mache, die Hand seiner Tochter - Bild: Ein alter Mann droht einem Mädchen mit dem Stock, die Mutter weint, der Schlosser hält den Bäcker zurück - Der Schlosser macht den Blitzableiter fertig, obgleich ihn die Schuljugend aushöhnt, die er durch einen in schmuziges Wasser getauchten Strohwisch verjagt - Bild: Schulbuben im Charakter vom „Struwwelpeter“ werden von einem aus einem Hause kommenden Wasserstrahl bespritzt - Der Blitzableiter wird aufgesetzt; ein Feind vom Schlossermeister schießt, während er zu dem Ende auf dem Dache sitzt, unter Tauben, die ihn umschwärmen; er erschrickt und fällt vom Dache - Zwei Bilder: Ein Haus, von dem man einen Herunterfallenden an zwei Beinen erkennt, und der glücklich Herabgekommene, den die Tochter des Bäckers umhalst - Der Schlosser heirathet sie, hat Kinder und denkt oft an den ersten Anlaß seines Glücks, die Erfindung des Blitzableiters durch Franklin - Bild: Ein Mann hält auf dem Arm ein Kind und zeigt ihm ein Porträt, das Franklin vorstellen soll.

Wir glauben, es bedarf keines Beweises für das bis zum Ohnmächtigen deprimirende, durch und durch negativ wirkende Misverhältniß, das hier zwischen zwei Künsten, Poesie und Malerei, obwaltet. Das „Volk“ ist nicht reif genug, die kindische Wirkung eines solchen Misverhältnisses nur als die Folge eines zufälligen Misgriffs in der Wahl des zu Illustrirenden zu erkennen. Von bedeutenden Namen, Dichtern ersten Ranges, Künstlern wie Ramberg und Menzel, Verlegern, wie dem gesinnungsvollen Keil, ist es gewohnt, solche Gaben gläubig und mit einer gewissen Erhebung hinzunehmen. Demnach ist der Zwiespalt, der hier in der Seele des Empfangenden zurückbleiben muß, ein Deficit, wofür ihm der Ausdruck fehlt. Wir sagen ihn statt seiner: Solche literarische Gaben machen dumm!

Wir brauchen aber ein mannhaftes Geschlecht! Wir brauchen eine gesunde Volksthümlichkeit ohne die ihren Schatten „erörternde“ prätentiöse Reflexion! Wir brauchen eine Rede, die nicht mit sich selber schönthut, nicht vor dem Spiegel jedes Wort in eine Attitude verwandelt! Die Zeit der Volksbücher „Gedruckt in diesem Jahr“ ist vorüber.

Wenn wir durch unsere Darstellung bewiesen haben, daß dem Wort unter Umständen die Illustration nur hinderlich, die Wirkung desselben abstumpfend, ja zum Lächerlichen herabdrückend sein kann, so erreichten wir unsern nächsten Zweck - der Warnung vor dem Uebermaß der Illustration.

Apparat#

Bearbeitung: Christine Haug, München, und Ute Schneider, Mainz#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#
J [Anon.:] Illustration und Volksverdummung. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. N. F. Bd. 5, Nr. 53, [1. Oktober] 1860, S. 846-848. (Rasch 3.60.10.01)

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert der Vorlage. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Schriften zum Buchhandel und zur literarischen Praxis. Hg. von Christine Haug u. Ute Schneider. Münster: Oktober Verlag, 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 7.)

2.1.1. Texteingriffe#

147,24-25 „erörternde“ erörternde“

Errata#

Zur Buchausgabe (GWB IV, Bd. 7) sind folgende Textkorrekturen zu vermerken:

144,9 Zahl lies: Anzahl

144,22 Hebel’s lies: Hebel’s

145,2 Golz lies: Goltz

147,4-5 erkennt; lies: erkennt,

147,12 daß lies: das

147,32 unseren lies: unsern

147,33 der Warnung lies: der Warnung

147,33 Übermaß lies: Uebermaß

In der Buchausgabe (S. 282) ist folgender Texteingriff vermerkt:

147,24-25 erörternde erörternde“

Dieser Eingriff (siehe oben unter 2.1.1.) ist geändert zu:

147,24-25 „erörternde“ erörternde“

Kommentierung#

Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht veröffentlicht.