Der deutsche Gänsekiel.#
Metadaten#
- Herausgeber
- Christine Haug
- Ute Schneider
- Fassung
- 1.0
- Letzte Bearbeitung
- 07.2013
Text#
734 Der deutsche Gänsekiel.#
In Bd. II, Nr. 37 der „Unterhaltungen“ wurde im Allgemeinen darauf hingewiesen, daß in Deutschland die Bücherproduction größer sei als im Auslande und daraus natürlich folge, daß die einzelnen Bücher bei uns weniger Absatz als z. B. in Frankreich und England finden, obgleich man im Verhältniß bei uns mehr Bücher kaufe als in jenen Ländern. Ein nur flüchtiger und oberflächlicher Blick in die Statistik des Buchhandels gibt dafür die thatsächlichen Belege.
Frankreich liefert an Büchern von nur einiger Bedeutung - also mit Ausnahme der Zeitschriften, Jahresberichte, Sitzungsprotokolle, Flugschriften, Kataloge, Tractätchen u. s. w. - monatlich nicht mehr als im Durchschnitt 100 Werke auf den Markt. Im ersten Quartal dieses Jahres erschienen z. B. nur 302 Bücher, welche im „Catalogue Mensuel des nouveautés“ von Renouard aufgenommen wurden. Darunter sind aber auch nur 16 Uebersetzungen (aus dem Lateinischen, Italienischen, Englischen, Schwedischen und Deutschen), das Uebrige sind Originalwerke.
England liefert ungefähr das Doppelte, d. h. monatlich ungefähr 200 Werke von Bedeutung. Im ersten Quartal dieses Jahres erschienen z. B. nach Longman’s „Monthly list of new books“ 615 Bücher, darunter nur 14 Uebersetzungen. Hierbei ist jedoch zu bemerken, daß der englische Katalog im Verhältniß ziemlich viel Bücher aufzählt, welche ursprünglich in Nordamerika erschienen, also streng genommen nicht zur Literatur Englands gezählt werden können, wodurch die Bücheranzahl sich theilweise reducirt und das Verhältniß zwischen dem englischen und französischen Büchermarkt sich um so mehr ausgleicht, als auch umgekehrt viele in England gedruckte Bücher theilweise für Amerika berechnet sind und ihren Absatz dahin finden.
Betrachten wir aber den deutschen Büchermarkt, so stellt sich für den ersten Anblick ein wahrhaft erschreckendes Plus heraus. Der erste Vierteljahrskatalog von 1854 zeigt nicht weniger als - 2100 Nummern, also das Viertehalbfache von England, das Siebenfache von Frankreich. Im ganzen vorigen Jahre gab der deutsche Katalog 9600 Nummern an. Diese Zahl reducirt sich allerdings und immerhin auf die Hälfte, wenn man alle die Zeitschriften, Adreßbücher, Sitzungsberichte, Kataloge, Flugschriften, Separatabdrücke, Landkarten u. s. w. in Abzug bringt, welche der deutsche Katalog von Hinrichs mit sorgsamster Genauigkeit sämmt-735lich mit aufzählt. Nehmen wir zur größten Sicherheit anstatt 9600 nur 4800 wirkliche bedeutendere Verlagswerke an, so gibt diese Zahl noch immer das Doppelte der englischen und das Vierfache der französischen Verlagswerke. Allerdings reducirte sich auch diese Zahl wiederum ziemlich auf die Hälfte, wenn wir alle Uebersetzungen ins Deutsche in Abzug bringen wollten, sodaß in der That Deutschland nicht mehr Originalwerke liefert als England. Doch müssen bei der Statistik des Büchermarktes die Uebersetzungen (leider oft die gangbarsten Artikel) natürlich mitgerechnet werden. Hierbei ist noch in Anschlag zu bringen, daß in Deutschland außer den Originalwerken und Uebersetzungen auch viele ausländische Werke in der Originalsprache gelesen und gekauft werden - namentlich französische und englische Bücher -, ein Schicksal, welches die deutschen Bücher im Auslande weit weniger trifft, sodaß der Absatz deutscher Bücher nach dem Auslande (mit Ausnahme des Exports nach Amerika) kaum in Anschlag zu bringen ist, während die Einfuhr der fremden Literatur nach Deutschland sehr bedeutend in die Wagschale fällt. Eine genaue Statistik würde hierüber Aufschlüsse geben können.
Soviel ist gewiß, daß die Berücksichtigung, welche die ausländische Literatur in Deutschland findet, unverhältnißmäßig groß gegen die Theilnahme ist, welche das Ausland an der deutschen Literatur nimmt. Die Uebersetzungsfabrik wird in Deutschland ebenso großartig betrieben, als der Nachdruck in Belgien bisjetzt betrieben wurde, und diese Fabrikation von Uebertragungen von Romanen u. s. w. auf die möglichst wohlfeilste Weise schadet dem Absatz guter Werke außerordentlich. Wenn sich auch unser ästhetisches Gefühl dagegen sträubt, müssen wir dennoch die Thatsache zugeben, daß ein großer Theil des deutschen Publicums die Unterhaltungslectüre entweder nach der Wohlfeilheit - wie Materialwaaren - oder nach der Ausstattung - wie Buchbinderwaaren - einkauft und daher die Speculation mit Uebersetzungen auf Löschpapier oder mit Lyrik auf Velinpapier, mit Randzeichnungen und Goldschnitt, gegenwärtig die beste ist. Das Letztere scheint paradox, da die Ausstattung solcher Werkchen zuweilen sehr kostspielig ist; doch finden wir den Schlüssel zur Lösung dieses Räthsels in der Thatsache, daß nicht nur die Honorarzahlung an junge Lyriker u. s. w. für manche Buchhändler ein längst überwundener Standpunkt ist, sondern daß in vielen Fällen solche Werkchen sogar auf Kosten des Verfassers gedruckt und dem betreffenden Buchhändler nur scheinbar in Verlag, factisch aber in Commission gegeben sind. Es stellt sich hier ein ganz ähnliches Verhältniß wie bei dem Notenverlag heraus. Unter den vielen Opus 1 und 2 - sechs Lieder, drei Klavierstücke, eine Phantasie, einen Walzer oder dergl. enthaltend -, welche jährlich erscheinen, dürfte selten eins gefunden werden, welches honorirt wurde, dürften sich aber sehr viele finden, welche auf Kosten des Componisten durch alle Sortimentshandlungen Deutschlands den Krebsgang unternahmen.
Bei dieser Ueberproduction in einigen Fächern - namentlich in Lyrik, Novellen, Kinderschriften, populär-wissenschaftlichen Werken, Schulbüchern, Reiseliteratur, Dramen und Erbauungsschriften - ist es natürlich, daß das einzelne Buch verhältnißmäßig geringen Absatz findet. Es gibt sehr viel Bücher, welche in nicht mehr als 4-500 Exemplaren gedruckt werden und dennoch niemals eine zweite Auflage erleben können. Nehmen wir in runder Summe 5000 jährlich erscheinende Werke und im Mittel an, daß jedes Buch eine Auflage von 1000 Exemplaren zähle, so würden in Deutschland jährlich fünf Millionen Bücher producirt, ein Satz, der offenbar zu klein ist und durch aufrichtige Angaben der Verleger und Drucker - die übrigens nicht immer zu erwarten sind - sich bedeutend steigern dürfte. Hierzu rechne man die oben ausgeschiedenen Artikel, Flugschriften, Journale u. s. w., die mindestens ebenfalls auf fünf Millionen Exemplare anzuschlagen sind, schlage dazu die eingeführten ausländischen Bücher, Journale u. s. w., und dann behaupte man noch, daß der Deutsche nichts kaufe! Schon bei diesem geringen Anschlag kommt auf jeden vierten Deutschen ein Buch oder Journal, wenn wir 40 Millionen Deutsche annehmen. Wie viele Deutsche gibt es nun aber, die thatsächlich kein Buch kaufen können! Daraus folgt natürlich, daß die bücherkaufenden Deutschen im Verhältniß eine ganz respectable Quantität consumiren müssen.
Daß einzelne Werke, zufolge ihres wirklichen Gehalts oder infolge des Modegeschmacks, sehr bedeutende Auflagen erleben und demnach eine außerordentliche Verbreitung finden, ist bekannt. Wir rechnen dahin einige unserer Classiker, namentlich Schiller und Goethe, Humboldt’s „Kosmos“ u. s. w. Andererseits einige Lyriker, namentlich Heine, Geibel und Redwitz. Geibel’s Gedichte werden jetzt ungefähr in 20-25,000 Exemplaren in Deutschland verbreitet sein - aber „Onkel Tom“ in nicht viel weniger. Ein solcher verhältnißmäßig großer Absatz einzelner Werke hindert natürlich den Absatz von mindestens zehn andern im gleichen Genre.
Interessant ist es, zu beobachten, wie in letzterer Zeit das Ausland die bessern Werke der deutschen Feder mehr und mehr berücksichtigt und wie namentlich England es sich angelegen 736 sein läßt, durch Uebersetzungen auf eine größere Verbreitung hinzuwirken. Die Auswahl deutscher Werke, welche England übersetzt, ist oft bunt genug. So erschienen in den letzten Monaten z. B. folgende deutsche Bücher in englischer Sprache: Hildebrandt’s „Winter in Spitzbergen“, eine Kinderschrift; „Das Leben Luther’s“, von G. König; Krummacher’s „Parabeln“; das düsseldorfer „Künstleralbum“; Gerstäcker’s „Reisen“; Oehlenschläger's „Correggio“; von Schmid’s „Jugendschriften“; Schlesinger’s „Spaziergänge in und um London“. Sehr viele englische Uebersetzungen werden auch schon von der deutschen Autoreneitelkeit von Deutschland aus höchst geflissentlich angeregt, wie wiederum eine große Anzahl Recensionen, die in englischen Blättern über deutsche Bücher erscheinen, von englisch schreibenden Deutschen verfaßt und aus Deutschland hinüber vermittelt sind. Die Art, wie unsere Poeten bei St.-René Tailandier sich für die „Revue des deux mondes“ einzuführen wissen, ist bekannt genug. Frankreich nimmt weit weniger Antheil an der deutschen Literatur; es berücksichtigt weit mehr die Erscheinungen der romanischen Sprachen, namentlich die englischen und italienischen Werke. Wir finden hierin einen neuen Beweis, daß England uns in Beziehung auf Cultur und Nationalität verwandter ist als Frankreich, welches trotz seines Elsaß die deutschen Bildungselemente vielfach ignorirt und das exclusiv Romanische möglichst festzuhalten sucht. Im ersten Quartal dieses Jahres erschienen z. B. in Frankreich nur fünf Uebersetzungen deutscher Werke, und zwar: Ranke’s „Französische Geschichte“; ein medicinisches Werk von Skoda in Wien; Kant’s „Metaphysik der Sitten“; Brentano’s „Leben der Heiligen Jungfrau“ und - „Von Babylon nach Jerusalem“, von Gräfin Hahn-Hahn. Solche Thatsachen sind charakteristisch für den Geschmack von Frankreich und nicht schmeichelhaft für die deutsche Literatur. Desto angelegener lassen es sich unsere deutschen Verleger sein, der französischen Literatur nach allen Richtungen hin zu schmeicheln.
Apparat#
Bearbeitung: Christine Haug, München, und Ute Schneider, Mainz#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
J. Der Text folgt unverändert in Orthographie und Interpunktion dem Erstdruck. Textsperrungen im Erstdruck wurden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung des Erstdrucks ist mit Klammern [ ] in den Text an den betreffenden Stellen eingefügt. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Schriften zum Buchhandel und zur literarischen Praxis. Hg. von Christine Haug u. Ute Schneider. Münster: Oktober Verlag, 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 7.)
3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte, Bezugstexte#
3.1. Quellen#
Antoine Augustin Renouard: Catalogue mensuel des nouveautés de la librairie parisienne. Paris: Renouard, Januar - März 1854.
Messrs. Longman, Brown, Green, Longmans: Roberts’ Monthly List of New Books Published in Great Britain. London: Longman’s, Januar - März 1854.
Hinrichs’ Bücher-Catalog. Leipzig: Hinrichs, 1854.
3.2. Bezugstext#
[Anon.:] Das Kaufen von Büchern. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 2, Nr. 37, [10. Juni] 1854, S. 592. (Rasch 3.54.06.10.1)
Kommentierung#
Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.