Eisenbahn-Bibliotheken.#

Metadaten#

Herausgeber
  1. Christine Haug
  2. Ute Schneider
Fassung
1.0
Letzte Bearbeitung
08.2020

Text#

815 Eisenbahn-Bibliotheken.#

Wenn man in unsere Buchläden tritt, findet man jetzt auf den Tischen massenhaft ausgebreitet kleine Bücher liegen, die um einen Preis von 5 - 10 Groschen per Stück sich als unterhaltende Reisebegleiter ankündigen.

Da liegen kleine weiße Hefte, Criminalgeschichten enthaltend. Sie gehören einer Otto Wigand’schen Eisenbahn-Bibliothek an. Sie sind jedenfalls, um im Waggon gelesen zu werden, zu klein gedruckt. Wer mag ferner im einsamen Bergwirthshause, vom Regen überrascht, einen Abend sich allein überlassen, während tobend ein Wasser-816sturz durch die Schlucht am Wirthshause donnert, rings nächtliches Dunkel sich breitet und für die im Zugwind klappernde Thür eines engen Zimmers sich nirgends im Hause ein Schlüssel findet, Raub- und Mordgeschichten lesen!

Zweckmäßiger für den Reisehumor berechnet sind jene rothen Bücher, die zur zur Lorck’schen Eisenbahnbibliothek gehören. Sie enthalten in Uebersetzungen allerlei nützliche Unterhaltung aus französischen und englischen Quellen. Um sie im Waggon zu lesen, sind sie zu ernst und nehmen zu sehr das Nachdenken in Anspruch. Zweckmäßiger sind sie für längern Aufenthalt. Wer am Genfersee acht Tage ruhen will und sich, wie es zu gehen pflegt, auf Alles, nur nicht auf Bücher vorbereitete, wähle noch in Bern oder Zürich einige dieser rothen Bücher: es befinden sich recht nützliche und lehrreiche unter ihnen.

Grüne Bände einer Eisenbahn- und Reisebibliothek versendet die Buchhandlung von J. J. Weber in Leipzig. Sie gibt, wie immer, sehr geschmackvolle Ausstattungen. Ihre Reisehandbücher sind mit Holzschnitten illustrirt.

Es gibt auch noch eine gelbe Auswahl. Sie gehört der Brockhaus’schen Eisenbahn-Bibliothek an. Hier ist die schriftstellerische deutsche Originalproduction mit ins Interesse gezogen und der touristische Charakter vorzugsweise hervorgehoben. Namen ersten Rangs werden als künftig Beitragende genannt. Vorläufig liegen nur erst sechs dieser Büchlein vor, empfehlen sich aber ganz besonders Jedem, der nach Wien, nach Westfalen, Lübeck, Hamburg und nach dem Harze reisen will. Eins lehrt auch poetisch reisen, d. h. Josef Rank hat Reiselieder gesammelt, Gruß und Abschied und Willkommen und Andenken, Klänge unserer besten Poeten. Ob sich diese Arbeiten noch neben den großen Reisehandbüchern und Städteführern halten können, muß der Erfolg zeigen. Uns scheint die französische und englische Form dieser Eisenbahn-Bibliotheken, nämlich in wohlfeilstem Neudruck gute ältere Lectüre und nebenbei gelungenes Neues, aber nur aus dem Bereiche der allgemeinen Unterhaltung zu geben, die lohnendere. Möge daher die zweite Serie der Brockhaus’schen Reisebibliothek, die diesen Anforderungen entsprechen wird, die nach unserer Ueberzeugung wichtigere und umfassendere Partie des Unternehmens werden.

Ein neuer „Passagier auf Reisen“ ist der L. Lenz’sche „Reisekalender“ (Leipzig, Volkmar, 1855). Er erstreckt sich in seinen, wie man wenigstens für Deutschland, England und Frankreich sich bald überzeugt, eingesammelten Originalerkundigungen auf die besuchtesten Gegenden Europas, bringt in bündiger Form die Zusammenstellung aller neuesten Fahrpläne, für welche die laufenden Ergänzungen durch das leipziger Postamt bürgen, und fügt sogar ein Reisevocabularium in vier Sprachen bei. Recht originell sind an diesem nicht zu theuern Buche die Nachweise über die besten Gelegenheiten, für des Leibes Nahrung und Nothdurft zu sorgen. Bekanntlich geht diese Nothdurft auf Reisen noch etwas weiter als zu Hause und wird Gourmandise und Luxus. So findet man denn auch hier praktische Winke über die Orte, wo man am besten und doch möglichst wohlfeil in halb Europa ißt, wo man in Paris gute Cigarren kauft, wo man in London eine unverfälschte Tasse Kaffee trinkt, und ähnliche Nachweise, die sich selbst auf die besten Handwerker und Fabrikanten, ja sogar auf die gesuchtesten Aerzte und Advocaten erstrecken.

Apparat#

Bearbeitung: Christine Haug, München, und Ute Schneider, Mainz#

1. Textüberlieferung#

1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#

Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

1.2. Drucke#

Aufgrund einer vorläufigen Mitteilung des Verlags Brockhaus über die geplante Herausgabe einer „Eisenbahnbibliothek“ erschien im April 1855 anonym in den von Brockhaus verlegten „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ ein Artikel Gutzkows (→ Eine Eisenbahn-Bibliothek) über diese neue Publikationsform und ihre besonderen Verkaufskriterien. Abschließend versprach der Autor den Lesern, sobald er mehr Informationen über die neue Reihe habe, diese der literarischen Öffentlichkeit bekannt zu machen. In dem im September 1855 erschienenen Artikel Eisenbahn-Bibliotheken löste er diese Zusage offenbar ein, indem er außer der Brockhaus’schen Eisenbahn-Bibliothek auch die neuen Reiselektüre-Serien anderer Verlage besprach.

J [Anon.; Verfasser unges.:] Eisenbahn-Bibliotheken. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 3, Nr. 51, [22. September] 1855, S. 815-816. (Rasch *3.55.09.22.1) - Die Autorschaft Gutzkows ist nicht hundertprozentig gesichert.

2. Textdarbietung#

2.1. Edierter Text#

J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung ist mit Klammern [] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck werden stillschweigend berichtigt.

Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Beitrags im Band: Schriften zum Buchhandel und zur literarischen Praxis. Hg. von Christine Haug u. Ute Schneider. Münster: Oktober Verlag, 2013. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. IV: Schriften zur Literatur und zum Theater, Bd. 7.)

6. Kommentierung#

6.1. Globalkommentar#

Mit der zunehmenden Verbreitung der Eisenbahn als Personenbeförderungsmittel und dem zügigen Ausbau des Eisenbahnnetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der europäische Buchmarkt auf dem Sektor der Reiselektüre einen enormen Aufschwung. In Deutschland reagierten innovative Verleger, Buchhändler und Leihbibliothekare auf die neuen Reisemöglichkeiten mit verschiedenen literarischen Serviceangeboten. Seit den 1850er/60er Jahren entstanden zahlreiche Reise-, Eisenbahn- und Dampfschiffbibliotheken, die das lesende Reisepublikum mit einem breiten Angebot an zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur versorgten. Die verlegerische Konzeption sollte den speziellen Erwartungen an die Reiselektüre gerecht werden. Umschreibt der Begriff ‚Reiselektüre‛ jede Art von Literatur, die sich nach den genannten Kriterien für die Überbrückung der Fahrtzeit eignete, so sind die ‚Reisebibliotheken‛ als buchgeschichtliche Gattung nur schwer einzugrenzen. Ihre Produzenten verstanden unter dieser Kategorie eine organisierte, vom Verleger gesteuerte Form der Reiselektüre, die durch einen Serientitel zum Ausdruck brachte, dass sie als periodisch erscheinende Buchreihe konzipiert war. Der Reihencharakter wurde durch eine einheitliche äußere Ausstattung sowie die Preisgestaltung unterstrichen. Die Reisebibliotheken boten ein breites Spektrum an unterhaltenden und populärwissenschaftlichen Schriften, z. B. Romane, Novellen, Reisebeschreibungen oder auch völker- und kulturgeschichtliche Abhandlungen. Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten noch zahlreiche Eisenbahnbibliotheken, die vor allem Romane, Novellen und Übersetzungsliteratur boten.

Es erscheint nur konsequent, dass politisch progressive Verleger wie Otto Wigand oder Albert Heinrich Hofmann zu den frühesten gehörten, die sich dem neuen Medium der Eisenbahnlektüre zuwandten, zumal die repressive Pressepolitik seit den 1850er Jahren die Herausgabe gerade von politischen Verlagsartikeln erschwerte. Das schnelle Umschwenken auf eine politisch noch unverdächtige Publikationsform lag deshalb auf der Hand. Insofern hatte die Reiselektüre als ein sehr lesernahes Medium zumindest in ihrer Entstehungsphase eine nicht zu unterschätzende politische Tragweite; nicht zuletzt implizierte schon das Attribut „humoristisch“ im Reihentitel der Hofmannschen Reisebibliothek eine auf die satirischen Blätter des Vormärz zurückgehende politische Intention.

Die ersten Reisebibliotheken entstanden bereits Anfang der 1850er Jahre in England und in Frankreich. Der britische Verleger Thomas Longman brachte 1851 die Buchserie „Travellers Library“ auf den Markt. Der Einzelband kostete 1 Shilling. Die Reihe umfasste Kurzgeschichten, Essays und Reisebeschreibungen sowie technikhistorische Abhandlungen, z. B. über die Geschichte der Telegraphie. 1854 konzipierte das Verlagshaus Louis Hachette, Frankreichs bedeutendster Verlag von Schulbüchern und Lexika, unter dem Titel „Bibliothèque des chemins de fer“ eine gleichfalls einheitlich gestaltete Buchreihe mit unterhaltender und belehrender Intention. Im Gegensatz zu den deutschen Verlagen präsentierte die englische und französische Konkurrenz Nachdrucke erfolgreicher, mehrheitlich von amerikanischen Autoren geschriebener Unterhaltungsliteratur.

Als eine der frühesten und langlebigsten Reihen erschien in Deutschland die „Humoristische Reise- und Eisenbahnbibliothek“ (1853-96) des Berliner Verlegers Hofmann (1814-80). In seinem Hause erschien seit 1848 die ungewöhnlich erfolgreiche politisch-satirische Zeitschrift „Kladderadatsch“, deren Mitarbeiter auch die Beiträge für die neu gegründete Reisebibliothek lieferten. Die kleinformatigen Broschüren mit einem durchschnittlichen Umfang von 50 bis maximal 100 Seiten waren für zehn Silbergroschen erhältlich. Jedes Bändchen enthielt zahlreiche Holzstiche (→ Lexikon: Illustrierte Periodika) vor allem von dem Berliner Karikaturisten Wilhelm Scholz (1824-93; → Bilder und Quellen: Bilder. Zeitgenossen Gutzkows: Die Gelehrten des Kladderadatsch), aber auch von anderen bekannten Illustratoren, u. a. Carl Reinhardt (1818-77). Das leicht kolorierte Titelblatt blieb ebenso unverändert wie die Titelhelden Schultze und Müller. Diese beiden Berliner ‚Weißbier-Philister‛, die als Duo seit 1848 im „Kladderadatsch“ eine feste Rubrik hatten, gehörten zu den populärsten und langlebigsten stehenden Figuren in der satirischen Publizistik Deutschlands; ihnen zur Seite stand das Paar Eisele und Beisele der seit 1844 erscheinenden Münchner „Fliegenden Blätter“, das ebenfalls durch seine satirisch gezeichneten Deutschlandreisen Popularität erlangte. Schultze und Müller als Beobachter mit witzelnd-beschränkter Perspektive waren daher für eine humoristische Kommerzialisierung der Idee ‚gebildeten' Reisens, wie sie auf ernsthafte Weise Brockhaus betrieb (→ Erl. zu 171,20-21), besonders gut geeignet. Schon um die Jahrhundertmitte erschienen die ersten Reiseabenteuer der beiden Protagonisten in der Reihe „Humoristische Reisebilder“; das handliche Format und die leuchtendgelbe Umschlaggestaltung wiesen sie als Reiselektüre aus. Ergänzend zu den „Humoristischen Reisebildern“ gab Hofmann seit 1853 die Reihe „Humoristische Eisenbahn- und Reise-Bibliothek“ heraus; auch hier wurden Schultze und Müller zum Markenzeichen; zahlreiche, zuerst in den „Humoristischen Reisebildern“ erschienene Geschichten wurden in der neuen Reihe erneut gedruckt. Die Neugründung war wirtschaftliches Kalkül, denn der ausdrückliche Hinweis auf das neue Verkehrsmittel Eisenbahn im Reihentitel stimulierte den Absatz der Reihe.

Schultze und Müller bereisten nicht nur alle wichtigen touristischen Ziele Europas und Amerikas, sondern nahmen auch an besonderen Ereignissen wie Weltausstellungen teil und suchten sogar 1866 und 1870 den Kriegsschauplatz auf. Sie waren nicht nur als Individualreisende unterwegs, sondern nahmen auch an den frühen organisierten Pauschalreisen in ferne Länder oder „um die Welt“ teil (Schultze und Müller auf einer Vergnügungs-Extrafahrt um die Welt à la Louis Stangen. Berlin: Hofmann, 1869).

In kurzen Zeitabständen erschienen die „Conversations- und Reisebibliothek“ (Verlag Carl Berendt Lorck, 1855-57), „Lorck's Eisenbahnbibliothek“ (1858-60), „Bergson's Eisenbahnbücher“ (Verlag Bergson und Soneberg, Leipzig, 1861-66) sowie Friedrich August Brockhaus’ „Reisebibliothek für Eisenbahnen und Dampfschiffe“ (1856-61). Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten noch zahlreiche Eisenbahnbibliotheken, die vor allem Romane und Novellen boten.

Die Entstehung von Reisebibliotheken sowie die enorme Nachfrage nach Reiselektüre seit den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts lassen sich aber nicht nur mit der zunehmenden Expansion der Eisenbahnverbindungen und einem vermehrten Reiseaufkommen erklären. Die inflationäre Verbreitung von Reiselektüre korrelierte mit der Ausbildung einer modernen Unterhaltungsindustrie unter dem Eindruck einer fortschreitenden Industrialisierung und Verstädterung in Deutschland. Mit der Entstehung einer industriellen Massenkultur veränderte sich der Charakter der Lektüre. Die massenhafte Produktion von Literatur förderte ein extensives, flüchtiges Leseverhalten, das vor allem dem Zweck des Zeitvertreibs und der Unterhaltung diente. Die Lektürebedürfnisse des Lesepublikums wurden durch ein vielfältiges Angebot an Novellen, Fortsetzungs- und Feuilletonromanen sowie Kolportage- und Heftromanen befriedigt, die als preisgünstige Taschenbücher oder als Vorabdrucke in Familienblättern einem Massenpublikum zugänglich waren. Zur Erzielung optimaler Verkaufsumsätze verfolgten die Verleger von Reisebibliotheken innovative und teilweise aggressive Absatz- und Werbestrategien. Erfolgsgaranten einer Reisebibliothek waren die Reihenkonzeption, verlegergelenkte Auswahl der Buchtitel und Autoren sowie die äußere Ausstattung der einzelnen Bände und eine verbraucherfreundliche Preisgestaltung.

Im Hinblick auf die generell äußerst kritische Einstellung, die Gutzkow der markt- und verlagsgesteuerten Buchproduktion entgegenbrachte (davon zeugt in zeitlicher Nähe zum vorliegenden Beitrag z. B. sein Artikel → Illustration und Volksverdummung von 1860), ist seine aufgeschlossene Haltung gegenüber den Eisenbahn-Bibliotheken bemerkenswert. Ohne Zweifel spielt hier vor allem Brockhaus’ Absicht, die neue, billige Reiselektüre mit Originalwerken zeitgenössischer deutscher Schriftsteller zu bestücken, eine wichtige Rolle. Die besonders positive Bewertung der Brockhausschen Eisenbahnbibliothek mag auch damit zusammenhängen, dass Gutzkow bei diesem Verlag Hausautor war und bei Brockhaus ja auch die „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ verlegt wurden.

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