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Studien über das Negligé

Auszug

Die Kunst hatte alle ihre Epochen durchgemacht, ehe ein Winkelmann und Lessing die Grundsätze, nach denen die ausgezeichnetsten Geister aller Zeiten verfahren sind, zusammenstellten und in eine Art System brachten. Die Kunst der weiblichen Toilette hat sich bis jezt noch vergeblich nach ihrem Theoretiker umgesehen. Welch reiche Materialien liegen nicht vor uns! Wie viel Erfahrungen sind in dieser Hinsicht nicht gemacht worden! wie viel neue Seiten könnte ein feiner Blick für diesen Gegenstand auffinden, welch räthselhafte Wege des menschlichen Geistes ein lauschender Blick hinter einer Gardine nachzeichnen! Man hat die Kunst, dem menschlichen Angesichte durch weiße und alle Nüancen rother Farben einen täuschenden Schein der Schönheit und Jugend zu geben, für die darstellende Kunst des Mimen benuzt. Man hat die Beine der Menschen und ihre Bewegungen in ein System gebracht, die Schritte nach einigen abstrakten Schönheitsregeln auf Zolle und Linien ausgemessen, die Sprünge nach dem Takte einer gewissen Methodik auf Intervallen und Distancen berechnet und die Bühne mit einer Kunst bereichert, die so bedeutsame Folgen für die Theorien der Aesthetiker, für die Leidenschaften der Großen, für die Kassen des Staats und die Tendenzen unsrer Zeit nach sich gezogen hat. Dieß ist für die Kunst aber noch immer erst eine sehr tiefe Stufe. Die Wissenschaft und das Herz gewinnen dabei wenig. Die unmittelbare Richtung auf das Praktische der Anwendung störte die Tiefe der Untersuchung. Man machte aus der Theorie eine Technik und würdigte die Lehrsätze jener zu Handgriffen dieser herab. Wo ist hier das alte Räthsel gelöst worden, dessen Ahnung nur selten einer erleuchteten Stunde gelang, das Räthsel des Zusammenhanges zwischen den todten Gesetzen der Kunst und dem lebendigen Hauche der Natur? das Räthsel des Uebergangs aus einem Reiche des Ideals in das andere? das göttliche Räthsel des ersten Anfangs und des lezten Zweckes? Hier geht der Weg nach Rhodus! Hier tanze man!