Menu

Deutsche Classiker-Philologie

Auszug

Gewiß mit großer Berechtigung, falls die Behauptung erwiesen, beklagt Heinrich Düntzer in Nr. 91 der „Allg. Ztg.,“ Beilage, das Abnehmen des Interesses für unsere Classiker. Der verdienstvolle Literar-Historiker führt mancherlei zur Erklärung dieser Erscheinung an. Ein Moment seiner Darstellung ist aber ganz aus der Luft gegriffen. Wie paßt der Satz: „Als gar das junge Deutschland sich erhob, war an eine vorurtheilsfreie Würdigung Goethe’s noch weniger zu denken, da man sich gegen ihn zur Wehr setzen zu müssen glaubte; das Ansehen der Classiker schien der neuesten Dichtung hinderlich, und so ließ man die Vergangenheit „ihre Todten begraben““ - wie paßt, frage ich, diese Aeußerung zu dem so eben durch das Erscheinen des 12. Bandes meiner „Gesammelten Schriften“ constatirten Factum daß der Unterzeichnete, bekanntlich in allen Literaturgeschichtslehrbüchern „Mitglied des j. D.,“ 1835 im Gegentheil eine Schrift herausgab: „Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte?!“ Die Parole eines „jungen Deutschland“ war kaum ausgegeben (1835) und doch ein Buch voll Bewunderung vor Goethe, und noch dazu im Gefängniß, rein aus dem Gemüth und der Stimmung herausgeschrieben! Aber auch Heinrich Laube, hierin ganz von Varnhagens, des Goethe Enthusiasten, Inspirationen bestimmt, gab in seiner „Zeitung für die elegante Welt“ fast alle 4 Wochen einen Leit-Dithyrambus für Goethe! Und Theodor Mundt schrieb ebenfalls gleichzeitig ein Buch: „Die Kunst der deutschen Prosa,“ das sich überall auf Goethe bezog; er und Gustav Kühne bahnten gerade vorzugsweise mit Varnhagen v. Ense das Durchforschen und Ergründen weimarischer Zustände an! Die hier also geradezu mit einem interdum dormitat dargestellte Wahrheit ist eben eine vollständig andere, nämlich die: Die damalige „junge Literatur“ bekämpfte die Literatur der romantischen Zeit und der Restaurationsperiode, also der Literatur von Tiecks späterer Periode an bis zu den matten Ausläufern in Steffens u. a., zu Gunsten der Classiker. Verschlafen das alles unsere Töchterschulen-Literarhistoriker! Für die Düntzer’sche Behauptung daß die Beschäftigung mit den deutschen Classikern bedeutend abnehme, fehlen, wenn sie wahr ist, die rechten Beweise. Die Sache wird ohne Zweifel die sein daß die Wissenschaft (Historie, Naturkunde, Philosophie) so maßgebend für die Bildung unserer Zeit geworden ist, daß diese fast den ganzen Menschen ausschließlich einnehmen muß. Und sie thut dieß um so nachdrücklicher, als es vielen Meistern der genannten Disciplinen gelungen ist in einem anziehenden, sogar künstlerischen Styl zu schreiben. So sind seit Humboldt, Liebig, Ranke, Lotze, Strauß, selbst Gervinus u. a. gewissermaßen neue Classiker entstanden, von denen die Zeitgenossenschaft vollauf in Anspruch genommen wird, und wobei die Düntzer’sche classische Zeit mit ihrer engen Einfriedigung immer mehr zurücktreten muß. Daher dürften denn auch unsere Ministerien ganz auf dem richtigen Wege sein wenn sie die in jenem Artikel so dringend empfohlene Classiker-Philologie nicht begünstigen. Schiller und Goethe gehören der Schule an und der Selbstbildung. Anziehend ist es gewiß für jeden Gebildeten Details und Controversen und verschiedene Lesarten über den jungen Goethe in einem Buche von drei Bänden zu lesen. Bei dem Antrage jedoch: auf diese Gretchen-Lilli-Friederiken-Jagd und die etwaigen Anspielungen darauf in Goethe’s Werken Lehrstühle an unseren Universitäten zu errichten, geht die auf große Gesichtspunkte angewiesene Zeit mit Recht zur Tagesordnung über.