Was sollen wir lesen?
Auszug
Des Abends, zwischen vier und fünf, besonders am Ende der Woche, gewährt es mir einen eigenen Genuß, einige Augenblicke in der vielbesuchten hiesigen Leihbibliothek von Gustav Oehler zu verweilen. Es ist die Zeit, wo die Wißbegier oder die Langeweile für die nun immer träger hinschleichenden Abende sich mit Unterhaltungsstoff versieht. Der Bediente bringt die letzte Lecture seiner Herrschaft. Darin liegt ein Zettel mit denjenigen Nummern, welche die gnädige Gebieterin demnächst verlangt. Wollte man sich die Mühe geben, diese Nummern im Cataloge nachzuschlagen, man würde oft erstaunen, welches der Lieblingsschriftsteller einer Bundestagsgesandtin oder die vormittägige Sonntags-Lecture eines millionenschweren Nabobs ist. Die eine Rubrik enthält die Bücher des Vaters, die andere die der Mutter, die dritte die der beiden Töchter. Links Spindler, in der Mitte Friederike Bremer, rechts Georg Sand und die Gräfin Hahn. Der Sohn des Hauses hat seine eigenen Liebhabereien und sucht sich die Bücher, die er lesen will, erst im Laden selbst aus dem Catalog aus.
Die harrenden Buchempfänger lassen sich in Gruppen eintheilen, je nachdem ihnen die Frage: Was sollen wir lesen? an der Stirn geschrieben steht. Die gewiegten, routinirten Leser, welche ein Buch nach dem andern verschlingen, kommen nicht in die geringste Verlegenheit; denn sie wissen sich schnell zu helfen. Vorn oder hinten im Catalog, romantisch oder classisch, fashionabel à la Bulwer oder demokratisch à la Boz, ihnen ist Alles einerlei. Dies sind gefährliche Kunden, sie stehen unter specieller Aufsicht; denn sie kommen des Tages zweimal und wechseln oft zwei Bücher statt eines, was nach den Statuten des Catalogs verboten ist. Diese Abonnenten gleichen jenem berühmten Journal-Tiger bei Stehely in Berlin, der sämmtliche disponible Zeitungen hinter seinem Stuhle in einer Ecke des Zimmers zu verstecken pflegte, damit er sie ganz allein verschlingen konnte. Andere lesen nicht so stark, aber dafür mit Plan und Consequenz. Diese lieben die Literatur, streichen sich hübsche Stellen an, tragen sie in ihre Gedenkbücher ein und werden nie in Verlegenheit kommen, welches Buch sie, wenn sie das eine bringen, dafür wieder mitnehmen sollen. Die Meisten aber setzen die Bibliothecare fortwährend durch ihre Unentschlossenheit in Verlegenheit. Nicht von jenen guten Seelen spreche ich, die fröhlich und rothwangig in den Laden treten, schnell ein Buch abgeben und nichts verlangen, als ein schönes anderes . O, diese Menschen möchte ich umarmen, wenn es nicht meist Bäcker, Schornsteinfeger, d. h. Menschen wären, die in diesem Falle Spuren auf unsern Kleidern zurücklassen würden. Es sind die edelsten, offensten, harmlosesten Charaktere, die Duldung und Liebe selbst, entzückt über alles, was sie lesen, hingerissen von jeder Geschichte, die nur entschieden mit etwas endet, ob nun mit Thränen und einem Dolche, oder mit Lachen oder einer Hochzeit. O, ein Parterre voll solcher Kritiker, und wir wollten den Parnaß erstürmen. „Ein anderes Buch, welches Sie wollen, aber nur ein schönes!“ Was ist hier Schönheit? Nichts nach den Begriffen der Schule, nichts, was Aristoteles, nichts, was Trahndorf und Griepenkerl für schön ausgegeben haben, nichts, dem die hochweise Kritik mit gnädiger Herablassung zu existiren gestattet hat; schön ist hier alles, was nicht langweilig ist, ganz wie Voltaire gesagt hat, jedes Genre wäre gut, das ennuyante ausgenommen. Auch diese Leser, die jeder Titel entzückt, welche immer gutmüthig, immer neugierig sind, gar kein Urtheil, aber den gesundesten Geschmack von der Welt haben, auch diese sind nicht die Plage der Leihbibliotheken.