Menu

Vorwort zum "Literatur-Blatt" des "Phönix"

Auszug

Gute Kritik ist nichts, als der Ausdruck der Mittelmäßigkeit: gute Kritik ist die Durchschnittsmeinung der Denkenden unter einer Nation; sie soll nicht über und nicht unter dem Niveau stehen. Ein ächter Kritiker ist ein etwas ängstlicher Mann, welcher zu viel Geist hat, um das Ordinäre zu lieben, aber auch zu sehr Skeptiker ist, um dem Genie in allen seinen Himmel- und Höllenfahrten zu folgen. Ein ächter Kritiker ist der beste Hausvater bis auf einige kleine geniale Anflüge, welche seine Frau seufzen machen, aber den Kindern zu Gute kommen, weil sie auf ihre Phantasie wirken; er ist gewissenhaft, streng, pedantisch, obgleich er zuweilen den Muth hat, über sich selbst zu lachen. Ein guter Kritiker hat Studien gemacht, voll Gründlichkeit; die Fächer, in denen er nicht zu Hause ist, hält er sich vom Leibe; ja selbst seine eignen, die ihm nichts versagen, stehen ihm doch immer so fern, daß er unterläßt, sich selbst in ihnen zu versuchen. Ein guter Kritiker verachtet die Alltäglichkeit, aber er verschließt sich in sein Studierzimmer. Er zieht die Menschen bei weitem den Büchern vor, aber jenen weicht er aus, und diese häufen sich bei ihm zu Bibliotheken. Er greift mit Hast nach jeder neuen Erscheinung; und ist sie ihm unter den Händen, so macht sie ihn kalt. Ein guter Kritiker produzirt nicht, obschon er zuweilen ein treffliches Gedicht macht. Er liebt das freie Feld, den Wald, Alles, was Dichter lieben; und lächelt dazu, wenn er denkt, wie es nun Dichter in seiner Lage machen würden. Er hat ganze Pakete von Ideen und Material liegen, er verarbeitet auch Einiges, was brav gelingt, ihm aber kein Vergnügen macht. Ein guter Kritiker ist phlegmatisch, nicht ohne Witz, oft sarkastisch, immer ein vortrefflicher Mann, mit dem man eine Stunde reden und für ein halbes Jahr genug hat, darüber nachzudenken. Kurz ein guter Kritiker ist Etwas, was wir in Deutschland nur in einzelnen Exemplaren haben. Das Vaterland der ächten Kritik ist England.