Goethe's Lilli
Auszug
Goethe hat zweierlei Gattungen von Frauen vorzugsweise kennen gelernt und nach seiner Theorie schmerzstillend und geistig nutzentragend zu poetischen Gebilden verwandt: solche, die gewissermaßen unter, und solche, die gleichsam über seiner Leidenschaft standen. Jenen Beziehungen verdankt die Welt seine naiven Frauencharaktere, von der (wol in Friederike von Sesenheim vorgezeichneten) Dorothea (in „Hermann und Dorothea“) an, zu Klärchen, Gretchen bis zu Philinen hin, diesen seine Idealgestalten, Iphigenie, die Leonoren, die mehrern Charaktere seiner Romane, die sich sämmtlich zwar ein praktisch reales Air zu geben pflegen, mehr oder weniger aber doch nur der verschiedenartig nuancirte Ausdruck der weimarischen Hofdame sind.
Zwischen diesen beiden Gegensätzen fehlt bei Goethe jene Repräsentation des Frauenthums, die wir bei Jean Paul, Schiller, Voß und der neuern deutschen Literatur suchen müssen, die Frau der Begeisterung (Iphigenie ist nicht thatbegeistert, sie ist nur rücksichtsvoll und vermittelnd), der Pflicht, der Sorge, der Mühe, der Gleichberechtigung und Ergänzung zum Manne, mit Einem Wort die Heroine ihres Geschlechts.