Die Leute von Seldwyla
Auszug
Gottfried Keller ist ein Schweizer und gibt sich schon seit geraumer Zeit in unserer Literatur mit einer gewissen Sonderthümlichkeit. Er gehört zu den neuern Autoren, die von der fast ausschließlichen Wendung unserer Literatur zur Erzählung und zum provinzialen Colorit derselben den Vortheil gezogen haben, daß sie nur im Tone ihrer Heimat zu reden und ihre Jugendeindrücke auszubeuten brauchten, um sogleich am Parnaß eine zuvorkommende Begrüßung zu erleben. Auch er besitzt ein reichgefülltes Gedächtniß mit allerhand Schnurren und Schnacken und Schwänken, von seltsamen Abenteuern und Menschen und Erlebnissen aus seiner Gegend her. Er sieht sein heimatliches Wesen mit einer Klarheit vor sich wie ein Maler und hat z. B. in den Kommodenschubladen eines sentimentalen Dienstmädchens mit einem solchen Scharfblick gestöbert, daß man seine innigste Freude haben muß an den Prachtstücken von gemalten Stillleben dieser Sphäre, wie sie kein Wilhelm Kalf, kein Melchior Hondekoeter naturtreuer geschildert haben. Sowie aber der Autor seine Sphäre, d. h. die Erinnerung, verläßt, wandelt ihn denn doch ein auffallendes Ungeschick an, daß man sagen möchte, er gibt Opferschalen in der Gestalt von Butterbüchsen und läßt Menschen vor uns wandeln, denen die ledernen Hosen am Halse zugeknöpft sind. So erzählt in der ersten Geschichte ein schweizerischer Oberst Dinge, die er in Indien erlebt haben will und die ebenso gut in einem Puppenspiel sich ereignet haben könnten. Der vernünftige Mann, der in Frankreich ein Regiment commandirt, erzählt sie zwei schlafenden Personen, ja in der Manier des Verfassers hätte er sie ebenso gut seinem Stiefelknecht können erzählen lassen.